Taxis und Taktik: Die advokatische Dispositionskunst in Ciceros Gerichtsreden [Reprint 2011 ed.] 9783110951318, 9783598774065

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Taxis und Taktik: Die  advokatische Dispositionskunst in Ciceros Gerichtsreden [Reprint 2011 ed.]
 9783110951318, 9783598774065

Table of contents :
1 Einleitung: Zu Gegenstand und Methode der Untersuchung
2 Exkurs: Zur These von Jules Humbert und dem Problem der schriftlichen Redaktion von Ciceros Gerichtsreden
3 Die Rede für Sex. Roscius aus Ameria (80 v.Chr.)
4 Die Rede für A. Caecina (72 v. Chr.?)
5 Die Rede für den Schauspieler Q. Roscius (66 v. Chr.?)
6 Exkurs: Zur Datierung der Rede
7 Exkurs: Ein attisches Vorbild der Rede?
8 Die Rede für M. Tullius (71 v. Chr.)
9 Die Rede gegen Q. Caecilius Niger (70 v. Chr.)
10 Exkurs: Zur Technik der antizipierten richterlichen Entscheidung
11 Die Rede für A. Cluentius Habitus (66 v. Chr.)
12 Exkurs: Zum juristischen Problem der Rede
13 Die Rede für M. Caelius Rufus (56 v. Chr.)
14 Exkurs: Nachträge zum angeblichen Liebesverhältnis von Caelius und Clodia
15 Exkurs: Zur Reihenfolge der Reden im Caelius-Prozeß
Abkürzungs- und Literaturverzeichnis
Anhang
Register

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Taxis und Taktik Die advokatische Dispositionskunst in Ciceros Gerichtsreden Von Wilfried Stroh 1975

SS

B. G. Teubner Stuttgart

Dr. phil. Wilfried Stroh Geboren 1939 in Stuttgart. Studium der Klassischen Philologie in Tübingen, Wien und München. Promotion 1967 in Heidelberg. Habilitation 1972 ebendort mit der vorliegenden Arbeit. Universitätsdozent an der Universität Heidelberg.

C I P - K u r z t i t e l a u f n a h m e der Deutschen Bibliothek Stroh , Wilfried Taxis und Taktik : die advokat. Dispositionskunst in Ciceros Gerichtsreden. (Teubner-Studienbüdier : Philologie) ISBN 3-519-07405-2 kart. ISBN 3-519-07406-0 geb. Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, besonders die der Übersetzung, des Nadidrucks, der Bildentnahme, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege, der Speicherung und Auswertung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei Verwertung von Teilen des Werkes, dem Verlag vorbehalten. Bei gewerblichen Zwecken dienender Vervielfältigung ist an den Verlag gemäß § 54 UrhG eine Vergütung zu zahlen, deren H ö h e mit dem Verlag zu vereinbaren ist. © B. G . Teubner, Stuttgart 1975 Printed in Germany Satz: £ . Eisele, Stuttgart Druck: J . Beltz, Hemsbach/Bergstraße Binderei: G. Gebhardt, Ansbach Umschlaggestaltung: W. Koch, Sindelfingen

Wichtige Impulse zu dieser Arbeit verdanke ich meinem Lehrer, Michael von Albrecht, der mich auch durch seine Kritik gefördert hat. Neben ihm danke ich besonders Franz Dirlmeier als freundlichem und vielfach hilfreichem Mentor. Juristische Hinweise gab mir Karlheinz Misera. Viele Anregungen gewann ich aus Gesprächen mit Alfons Weische. Schließlich gebührt mein Dank auch der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die mich durch ein großzügiges Stipendium unterstützt hat. Gewidmet ist das Buch meiner Frau, der Lateinlehrerin, mit dem Wunsch, sie möge auch ihren Schülern begreiflich machen, warum Quintilian sagt: ille se profecisse sciat cui Cicero valde placebit.

Inhaltsverzeichnis 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14

Einleitung: Zu Gegenstand und Methode der Untersuchung . Exkurs: Zur These von Jules Humbert und dem Problem der schriftlichen Redaktion von Ciceros Gerichtsreden . . . Die Rede für Sex. Roscius aus Ameria (80 v.Chr.) . . Die Rede für A. Caecina (72 v. Chr.?) Die Rede für den Schauspieler Q. Roscius (66 v. Chr.?) . . . Exkurs: Zur Datierung der Rede Exkurs: Ein attisches Vorbild der Rede? Die Rede für M. Tullius (71 v. Chr.) Die Rede gegen Q. Caecilius Niger (70 v. Chr.) Exkurs: Zur Technik der antizipierten richterlichen Entscheidung Die Rede für A. Cluentius Habitus (66 v. Chr.) Exkurs: Zum juristischen Problem der Rede Die Rede für M. Caelius Rufus (56 v. Chr.) Exkurs: Nachträge zum angeblichen Liebesverhältnis von Caelius und Clodia

296-298

Exkurs: Zur Reihenfolge der Reden im Caelius-Prozeß .

299-303

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.

7-30 31-54 55-79 80-103 104-148 149-156 157-159 160-173 174-187 188-193 194-227 228-242 243-295

Abkürzungs- und Literaturverzeichnis

304-307

Anhang

309-313

Register

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Einleitung: Zu Gegenstand und Methode

Eine Untersuchung der advokatischen Dispositionskunst Ciceros bedarf heute zunächst k a u m einer Rechtfertigung. G e r a d e in neuerer Zeit hat m a n öfter gefordert, die „ F o r m k u n s t der ciceronischen Reden in einer umfassenden vergleichenden A n a l y s e " sichtbar zu machen 1 ; und diese A u f g a b e scheint umso dankbarer, als sich j a die Probleme von R e d e und R h e t o r i k in der G e g e n w a r t wieder eines großen, wenn auch nicht vorwiegend philologischen Interesses erfreuen dürfen 2 . Was ist hier f ü r Cicero schon geleistet? N u n , v o r h a n d e n sind zweifellos geistvolle Interpretationen einzelner R e d e n — ich denke v o r allem an die des Juristen Friedrich L . K E L L E R (1842 ff.) und R i c h a r d H E I N Z E s (1925) 3 - , Interpretationen, in denen auch die A n a l y s e des A u f b a u s energisch gefördert ist; zumeist aber sieht m a n sich noch verwiesen auf jene „Dispositionen" älteren Stils, wie sie etwa M a r t i n D U C Y G N E in seiner „ E x p l a n a t i o rhetorica et analysis orationum Ciceronis" (1670) vorgelegt hat 4 und wie man sie dann in den Vorreden der K o m m e n t a r e und zahlreichen A b h a n d l u n g e n R A H N 7, vgl. B Ü C H N E R 82 u. F. K L I N G N E R , Rom. Geisteswelt, München 5 1965, 118. 2 Neben dem unmittelbar praktisch ausgerichteten Interesse an Rhetorik (Lit. bei H. WELLER, Die besten Regeln der Rhetorik aus zwei Jahrtausenden, Düsseldorf & Wien 1969 mit einl. Essay) sind hier besonders folgende Richtungen zu nennen: Versuche, die klassische Rhetorik für die Literaturwissenschaft fruchtbar zu machen, entweder durch Aufbereitung der Terminologie für die Interpretation (so H. L A U S B E R G in dem bekannten Handbuch von 1960 u. späteren Publikationen, bes.: Rhetorik und Dichtung, in: Der Deutschuntericht 18, 1966, H. 6, 47-93) oder durch Verwendung des rhetorischen Modells für eine allgemeine Theorie der Textherstellung (so D. BREUER, Pragmatische Textanalyse, in: Literaturwissenschaft, Frankfurt a. M. usw. 1973, 213-340; was das System der Rhetorik angeht, fehlerhaft). Dann: die Wiederentdeckung der rhetorischen Topik für eine juristische Wissenschaftstheorie (Th. VIEHWEG, Topik und Jurisprudenz, München 1953) bzw. eine allgemeine Argumentationslehre (Ch. P E R E L M A N / L . O L B R E C H T S - T Y T E C A , La nouvelle rhetorique, 1

2 Bde, Paris 1958; vgl. auch die Beiträge von H. G. G A D A M E R u. J . H A B E R M A S in dem Sammelband „Hermeneutik und Ideologiekritik", Frankfurt a. M. 1971). Ganz anders: die „new rhetoric" der amerikanischen Kommunikationswissenschaft (s. unten S. 20). Den besten Überblick gibt der „Rhetorik"-Artikel von W . J E N S (1971); vgl. jetzt bes. auch den von H. G E I S S N E R hrsg. Sammelband „Rhetorik", München 1973 u. J. K O P P E R S C H M I D T (s. unten Anm. 80). 3 S. das Literaturverz. u. vgl. unten Anm. 8. 4 Einsehen konnte ich die 2. Aufl., beigegeben zu: D U C Y G N E , Fons eloquentiae . . ., Coloniae Agr. 1706.

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Zu Gegenstand und Methode

besonders des 19. Jahrhunderts findet, Schriften mit Titeln wie „Disponierende Übersicht der ciceronischen Miloniana und Sestiana", „Zwölf Reden Ciceros disponiert" usw 5 . Es ist heute wohl die allgemeine Ansicht der Gelehrten, daß diese schematischen Beschreibungen, auch wenn sie genau und mit Kenntnis gewisser rhetorischer Einteilungsprinzipien verfaßt sind, die eigentliche Dispositionskunst Ciceros nur sehr unvollkommen erkennen lassen®, und diese Ansicht ist richtig. Eine solche Gliederung gibt uns ja selten mehr als ein äußeres Gerüst der Gedankenführung, das Erstens und Zweitens mit seinen Unterteilungen, aber die Funktion der Glieder und die Notwendigkeit ihres Zusammenhangs im Hinblick auf den Zweck des Ganzen bleibt unerklärt 7 . Um es in einem Bild zu sagen: Es ist, als hätten wir jemanden über das Haus befragt, das sich ein uns sonst unbekannter Mann von einem berühmten Architekten hätte bauen lassen, und der Befragte würde uns nun einfach einen Grundriß des betreffenden Gebäudes vorlegen, statt, von Beruf und Lebensart des Bauherrn ausgehend, die Bestimmung der einzelnen Räume und die Zweckmäßigkeit ihrer Anordnung zu erläutern. So wüßten wir freilich genügend, um uns bei einem Besuch des Hauses notdürftig zurechtzufinden; aber das Eigentliche der Struktur und die Geschicklichkeit, mit der der Architekt seine Aufgabe gelöst hätte, bliebe fürs erste verborgen. Wir haben damit bereits das - selbstverständliche - Ziel unsrer der architektonischen Kunst Ciceros gewidmeten Untersuchung genannt. Es muß darum gehn, das Nacheinander der Gedanken im Hinblick auf die Redeabsicht zu verstehen 8 . Denn wie der Architekt im Räume, so ordnet der Redner in der Verschiedene Titel bei S C H A N Z / H O S I U S I 4 0 7 ; genannt sei außerdem noch die anonym erschienene: Analysis rhetorica orationum M. T. Ciceronis, Vicnnae & Tergesti 1824. 8 Vgl. C L A R K E 85, NEUMEISTER 82, 99 und andere. 7 Vgl. J. M. E R I C S O N , Rhetorical criticism: H o w to evaluate a speech, in: J. J. M U R P H Y (Hrsg.), Demosthenes' on the crown, N e w Y o r k 1 9 6 7 , 1 2 7 - 1 3 6 (dort S. 1 3 4 ) : „The description of the arrangement should . . . provide perspective by representing the speech in its functional parts." 8 In der hier u n d im folgenden versuchten Skizze eines Teilgebiets dessen, was man eine rhetorische Auslegungslehre nennen könnte, v e r d a n k e ich vieles den „Grundsätzen der forensischen Rhetorik" v o n Chr. N E U M E I S T E R . A b e r auch sonst finden sich in klassisch-philologischen A r b e i t e n einzelne Bemerkungen zur Redeinterpretation, bes. in den Aufsätzen SOLMSENs (1938), C L A S S E N s ( 1 9 6 5 ; 1973) und v o r allem HEINZEs ( 1 9 2 5 ) ; an Älterem scheint mir v o r allem lesenswert das V o r w o r t zu W . F O X , Die K r a n z r e d e des D e m o s t h e n e s . . ., Leipzig 1 8 8 0 , S. I I I - X I I und das - kaum auszuschöpfende - Handbuch der katholischen Kanzelberedsamkeit v o n W . LUTZ (Tübingen 1 8 5 1 , bes. S. 786 ff.). Weniger hilfreich w a r mir das einschlägige neuere W e r k v o n H . GEISSNER (Rede in der Ö f f e n t l i c h k e i t : Eine Einführung in die Rhetorik, Stuttgart 1 9 6 9 ; vgl. auch in dem v o n ihm herausgegebenen Sammelband [oben Anm. 2] die Arbeiten auf S. 1 4 3 ff.), der in seiner Interpretationslehre gerade auf Dispositionsprobleme kaum eingeht. Sie scheinen z. Z. auch in der praktischen Interpretation zeitgenössischer Reden (einige Titel bei Th. PELSTER, in: Der Deutschunters

Zu Gegenstand und Methode

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Zeit; und wie jener nach den Bedürfnissen eines Auftraggebers disponiert, so baut dieser mit Rücksicht auf das, was den Z w e c k seiner Rede ausmacht: die Uberzeugung des Hörers®. D i e antike Redetheorie hat dies Zweckhafte, Zielgerichtete der rednerischen dispositio (τάξις), das v o n dem nur Wohlgefälligen eines schön proportionierten Kunstwerks ebenso scharf zu scheiden ist 10 w i e v o n der Klarheit einer logisch gegliederten Abhandlung 1 1 , durch ein weniger friedfertiges Gleichnis verdeutlicht: Wie es für einen Feldherrn, sagt sie, nicht allein darauf ankommt, welche Stärke und welche B e w a f f n u n g seine Truppen haben, sondern vor allem darauf, daß er sie in der rechten Anordnung aufzustellen und einzusetzen weiß, so zählen auch beim Redner nicht nur die Gedanken als solche: Sein Erfolg hängt wesentlich d a v o n ab, daß er sie wirkungsvoll gruppiert und einen jeden zu der Zeit ins Treffen führt, w o er in der Seele des Hörers, dem K a m p f p l a t z der Rede, am meisten auszurichten vermag 1 2 .

rieht 24, 1972, H . 2, 76) nur eine geringe Rolle zu spielen; ganz enttäuschend in dieser Hinsicht ist etwa das vielzitierte Buch von H . Z I M M E R M A N N , Die politische Rede, Stuttgart usw. 1969, vgl. S. 48 ff., 77 ff., 129 ff. Leider nur ungenügend befaßt habe ich mich mit der in den Vereinigten Staaten offenbar vorhandenen Methodendiskussion (die einschlägigen Zeitschriften sind hier so gut wie unzugänglich); einem Buch von Edwin BLACK (Rhetorical criticism, New York 1965) konnte ich entnehmen, daß meine Arbeit der (von BLACK vorsichtig bekämpften) „neuaristotelischen" Richtung angehören dürfte. Andere amerikanische Literatur findet man bei E R I C S O N (s. oben Anm. 7), JENS, Rhetorik 448 und unten in Anm. 82. • Seit ihren Anfängen begreift sich die Redekunst als δημιουργός πειθούς (s. RAD E R M A C H E R Β II 13, V O L K M A N N 2 ff., KOWALSKI 81-93). Vgl. unten Anm. 89. 10 Vgl. NEUMEISTER 11 f., R. H . W A G N E R , The meaning of dispositio, in: Studies in speech and drama in hon. of A. D R U M M O N D , Ithaca, Ν . Υ. 1944, 285-294 (bes. S. 293 f.). Zuweilen wird allerdings auch die schöne Ordnung an sich von den Rhetorikern als erstrebenswert genannt. Cassiod. p. 495 H A L M : dispositio est rerum inventarum in ordinem pulchra distributio; Julius Victor 19 (p. 431 HALM) nennt als bestimmende Faktoren der dispositio: utilitas, decor und necessitas. D a ß Schönheit und Wirksamkeit gerne zusammengehen, betont Quintilian (inst. 8, 3, 10 f.; 9, 4, 7 ff.); er selbst definiert die Disposition nur als: u til is rerum ac partium in locos distributio (7, 1, 1). 11 Eindrucksvoll formuliert von Friedrich Th. V I S C H E R (Ästhetik, 3. Theil, Stuttgart 1857, 1437 f.): „ . . . die Anordnung der Rede [ist] keine Aufgabe des prosaischen Denkens, nicht rein logisch, sondern die bestimmte Energie seines Zwecks gebietet es dem Redner, die Oberzeugungsgründe . . . so zu disponiren, daß diese sämmtlichen Kräfte steigend zu einem Strom anwachsen, der endlich reif ist, durch die Schleusen zu brechen, d. h. als Entschluß der Versammelten, als That in die Welt hinauszufluthen." Neuere Rhetoriken sprechen gern von einem „psychologischen" Aufbau, im Gegensatz zum „logischen". 12 Vgl. bes. Cie. Brut. 139: omnia veniebant Antonio in mentem eaque suo quaeque loco, ubi plurimum projicere et valere possent, ut ab imperatore equites, pedites, levis armatura, sie ab illo in maxime opportunis orationis partibus conlocabantur. Sonst:

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Zu Gegenstand und Methode

Es versteht sich schon nach dem Gesagten, daß die antike Redetheorie, auch k u r z „Rhetorik" genannt 1 3 , ein wichtiges H i l f s m i t t e l zur Beschreibung und Erkenntnis des R e d e n a u f b a u s sein muß. Seit ihren A n f ä n g e n hat sie der D i s p o sition besonderes Interesse g e w i d m e t , ja sie beginnt ihr eigentliches Dasein damit, d a ß sie die überzeugende R e d e - dies heißt zunächst die Gerichtsrede in Glieder disponiert. Wahrscheinlich haben schon die Väter der Rhetorik, K o r a x u n d Teisias, jene vier Redeteile unterschieden, w e l c h e dann die ganze A n t i k e hindurch das Fundament der rhetorischen Dispositionslehre bilden sollten 1 4 . I m K e r n der R e d e stehen — ich gebrauche hier w i e im folgenden die latei-

Rhet. Her. 3, 18, Quint, inst. 7, prooem. 2; 7, 10, 13; vgl. auch J E N S 446. Ein anderes beliebtes Gleichnis, in dem jedoch gerade dies zweckhaft Proportionierte der Rede weniger hervortritt, ist das vom lebendigen Körper: Plat. Phaedr. 264 C . . . δεΐν πάντα λόγο ν ωσπερ ζωον συνεστάναι σώμά τι έχοντα αύτόν αύτοΰ . . . (dazu C. Μ. J. SIKK I N G , Mnemosyne Ser. IV, 16, 1963, 225-242). Vgl. Aristot. rhet. 1415 Β 8 f., Cie. de or. 2,325; Cie. Brut. 208 f.; Quint, inst. 7 prooem. 2; inst. 7,10,16; Iul. Vict. p. 373, 30 H A L M ; R h G r 6, p. 511, 15 ff. W A L Z ; ähnlich auch Dion. H a l . ad Pomp. Gem. 3,14 (p. 238 U . / R . ) ; Dion. H a l . rhet. 10,6 (p. 364 U . / R . ) ; N E U M E I S T E R 79 f. 13 Eine vollständige Darstellung der rhetorischen Dispositionslehre ist im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich; und gewisse Grundkenntnisse der rhetorischen Terminologie muß ich beim Leser voraussetzen. H i e r f ü r sei besonders hingewiesen auf den sehr inhaltsreichen und verständlichen Artikel „Rhetorik" von H . H O M M E L (LexAW 2611-2626), auch auf CLARKE 36 ff.; für detaillierte Information natürlich auf das H a n d b u c h LAUSBERGs (in die Darstellung der dispositio in den §§ 443 ff. sind allerdings Dinge aufgenommen, die in die elocutio gehören; wieder anders in: ders., Elemente der literarischen Rhetorik, München 2 1963, §§ 46 ff.) und die auch heute noch wertvollen Lexika von J. Chr. Th. E R N E S T I (Lexicon technologiae Graecorum rhetoricae, Leipzig 1795; Lex techn. Latinorum rhet., Lpz. 1797). Die beste historische Darstellung der antiken Rhetorik gibt K R O L L im einschlägigen RE-Artikel (Suppl. 7); dazu kommen jetzt die Bücher von K E N N E D Y . Ein unentbehrliches Hilfsmittel bleibt, nach wie vor, V O L K M A N N s Rhetorik ( 2 1885), schon wegen der Berücksichtigung der rednerischen Praxis und der selbständigen geistigen Auseinandersetzung mit dem tradierten Stoff. Nützlich als Repertorien waren mir außerdem besonders C. L. KAYSERs Kommentar zum Auetor ad Herennium (Lpz. 1854) und der Forschungsbericht von M A T T H E S über Hermagoras von Temnos (in Lustrum 3, 1958). - Die neueren praktischen Rhetoriken sagen meist wenig zur Disposition; relativ ergiebig: E. GEISSLER, Rhetorik, Teil 2, Leipzig & Berlin 1914, 73-89; zuletzt U. STÖTZER, in: H . G E I S S N E R (Hrsg.), Rhetorik, München 1973, 29-35. 14 Die Überlieferung hierfür ist allerdings spät und nicht ganz einheitlich (Zeugnisse: R A D E R M A C H E R A V 16, Β II 8, Β II 23); und so möchte K R O L L (Rhetorik 1046) die Unterscheidung der Redeteile erst Theodoros von Byzanz zuschreiben. Wenn aber dieser bereits drei oder fünf Arten von narrationes angesetzt hat ( R A D E R M A C H E R Β X I I 8-10), so wird man doch meinen, daß die narratio als solche schon vor ihm als Redeteil von der argumentatio getrennt war. Sicher bezeugt ist gerade das Viererschema allerdings erst für die Isokrateer (Dion. H a l . Lys. 16, p. 27 U . / R . ) ; aber auch Aristoteles setzt es bekanntlich voraus (rhet. 3, 13-19). Vgl. jetzt K E N N E D Y , Art of persuasion 32 f., 40 f. (Lit. auf S. 58 A. 5).

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nische Terminologie, wie sie vor allem durch Quintilian traditionell geworden ist - die beiden vorwiegend auf Belehrung des Hörers gerichteten Teile 15 : die narratio, d. h. die erzählende Vorstellung des Sachverhalts („Dies und das ist geschehen"), und die argumentatio, d. h. die Diskussion dieses Sachverhalts, welcher entweder hinsichtlich seiner Faktizität zur Debatte steht („Aus diesen Gründen muß die Sache so geschehen sein"), oder aber, wenn er an sich unumstritten ist, hinsichtlich seiner Qualifikation („Aus diesen Gründen ist die Sache so zu beurteilen"). Um diesen inneren Kern der Rede gruppieren sich dann die beiden Redeteile, die mehr auf Stimmung und Gefühle des Hörers berechnet sind: das prooemium, d. h. die Einleitung, durch welche der Hörer willens und fähig gemacht wird, dem Redner zu folgen, und die peroratio, d. h. der Redeschluß, in welchem mit einer zusammenfassenden Vergegenwärtigung des Gesagten der entscheidende Appell an den Willen des Hörers gerichtet wird: „So mußt du entscheiden." Dieses einfachste Schema der zweckmäßigen Rede, das, wie Cicero einmal sagt, von der Natur selbst gegeben zu sein scheint", wird dann bereits im Laufe des fünften Jahrhunderts v. Chr. in mannigfacher Weise bereichert, ja so künstlich verfeinert, daß sich Piaton in seinem Phaidros über die von Rhetoren ausgetüftelten Redeteile wie den „Hinterdreinbeweis" und das „Nebenlob" lustig machen konnte (267 A). Dieses wie die nachfolgende Entwicklung braucht uns hier nicht zu beschäftigen17. In Ciceros Jugendzeit jedenfalls, also zu Beginn des ersten Jahrhunderts, kennt das in Rom herrschende System, über das wir aus Ciceros Schrift De inventione und durch den sogenannten Auetor ad Herennium informiert sind18, außer den genannten noch die folgenden Redeteile: die propositio1', d. h. die an die narratio sich anschließende genaue Bezeichnung des Streitpunktes („Darum geht es"), Dies nach Cie. part. 4 ; vgl. Cie. de or. 2, 3 1 1 ; Quint, inst. 8 prooem. 7 ; Mart. Cap. p. 485, 9 ff. H A L M ; Apsin. RhGr I p. 297, 2 ff. S P . / H A M M E R . 16 Cie. de or. 2, 307 . . . hoc dicendi natura ipsa praescribit; vgl. Quint, inst. 2, 17, 6 . . . cuius sententiae [sc. rhetoricam non esse artem] talis defensio est, quod indocti et barbari et servi, pro se cum locuntur, aliquid dicant simile prineipio, narrent, probent, rejutent et, quod vim habeat epilogi, deprecentur. 17 Einen Überblick über die Redeteile der verschiedenen Systeme gibt L A U S B E R G in § 262. Dort ist nachzutragen bes. das fünfteilige Schema des (von L A U S B E R G auch sonst kaum berücksichtigten) Anaximenes (Rhet. ad Alex.): argumentatio aufgeteilt in confirmatio und refutatio (bzw. antieipatio). Vgl. sonst zur Ergänzung V O L K M A N N 123-127. Ciceros verschiedene Einteilungen der Rede sind zusammengestellt bei G. (W.) H E I N I C K E , De Ciceronis doctrina quae pertinet ad materiam artis rhetoricae et ad inventionem, Diss. Königsberg 1891, 6 2 - 6 4 . 18 Zur Frage ihres Zusammenhangs ist die neuere Literatur verzeichnet bei K E N N E D Y . Art of rhetoric 126 Α. 32. 19 Ich halte mich auch hier der Bequemlichkeit halber nicht an die originale Terminologie, sondern an die später gebräuchliche. 15

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Zu Gegenstand und Methode

und die mit dieser verbundene partitio, d. h. die Angabe der der argumentatio zugrundeliegenden Gliederung („Zuerst beweise ich dieses, dann jenes"). Außerdem wird die argumentatio zerlegt in eine positiv beweisende confirmatio und eine negativ widerlegende refutatio, wobei auch für die Anordnung im Inneren gewisse Vorschriften gegeben werden. Die peroratio schließlich soll enthalten: enumeratio (Rekapitulation des Gesagten), indignatio (Erregung von Antipathie gegen den Gegner)20, conquestio (Erregung von Mitleid für die eigene Sache). Obwohl sich nun dieses Grundschema, das im wesentlichen noch dem Lehrbuch Quintilians zugrundeliegt, in einer mehrhundertjährigen Tradition als das zweckmäßigste erwiesen zu haben scheint, läßt es sich doch auf Ciceros Gerichtsreden, mit denen wir uns hier befassen wollen, nur sehr bedingt anwenden. Besonders Jules HUMBERT (1925), Wilhelm KROLL (1940) und Christoff NEUMEISTER (1964) haben auf die Unterschiede zwischen Theorie und Praxis hingewiesen. HUMBERT nahm sie zum Ausgangspunkt für eine gewagte Theorie über die schriftliche Redaktion von Ciceros Reden - über diese These, die mir unhaltbar scheint, muß noch ausführlicher in einem Exkurs gesprochen werden (S. 31 ff.) - , KROLL und besonders NEUMEISTER haben die Erscheinung einfacher und, wie ich meine, richtiger erklärt, indem sie auf den überhaupt nur relativen Wert der rhetorischen Vorschriften hinwiesen21. Die rhetorische Theorie ist ja - dies betonen auch Cicero und Quintilian22 nur eine Systematisierung des in der rednerischen Praxis für nützlich Erkannten; die Rhetorik stammt selbst erst von der Beredsamkeit ab und nicht umgekehrt: Kann es also wundernehmen, wenn sich die Mutter von der Tochter nicht beliebig maßregeln läßt? Freilich verlangt auch die Rhetorik gar keinen so unbedingten Gehorsam. Gerade bezüglich der Disposition hat sie fast immer auch die Abweichung von der Lehre in die Lehre selbst aufgenommen: Es gibt, so heißt es, neben der „natürlichen" Anordnung, wie sie vor allem dem angegebenen Schema entspricht, auch eine „künstliche" Disposition, bei welcher, wo es zweckmäßig ist, einzelne Redeteile umgestellt, miteinander vermengt oder auch ganz weggelassen werden können23. Diese Lehre blieb zwar nicht Der „Auetor" verlangt hier eine amplificatio. K R O L L 1065 f., 1101 f., N E U M E I S T E R 7 ff. und passim. 22 Cie. de or. 1, 145: verum ego banc vim intellego esse in praeceptis omnibus, non ut ea secuti oratores eloquentiae laudem sint adepti, sed quae sua sponte homines eloquentes facerent, ea quosdam observasse atque collegisse; sic esse non eloquentiam ex artificio, sed artificium ex eloquentia natum. (Will dies J . K O P P E R S C H M I D T , Allgem. Rhetorik, Stuttgart usw. 1973, 14, bestreiten?) Vgl. de or. 1, 109; 2, 2 3 2 ; Quint, inst. 2, 17, 5 ff., 5, 10, 120; 7, 10, 10; 8 prooem. 12; K O W A L S K I 4. Darum sind die rhetorischen praeeepta für den Ungeschickten unnütz (Quint, inst. 6, 5, 11), wo nicht gar schädlich (Iul. Sever, p. 370, 6 H A L M ) . 2:1 L A U S B E R G §§ 447-452, N E U M E I S T E R 71 f. Belege: Rhet. Her. 3, 16 f. (wo allerdings gerade die später als ordo naturalis bezeichnete Anordnung als [genus] ab institutione artis profectum genannt wird \ars = .normale' ars~\; der „ordo artifteiosus" 20

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Zu Gegenstand und Methode

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immer ganz unbestritten - im ersten Jahrhundert nach Christus gab es darüber eine heftige Auseinandersetzung zwischen den Schulen der Apollodoreer und Theodoreer 2 4 - , aber jedenfalls in der Zeit von Ciceros rednerischer Ausbildung scheint sie in R o m anerkannt gewesen zu sein 25 , und die rednerische Praxis hat sich wohl in sämtlichen Epochen daran gehalten: D i e allgemeinste Regel, daß die Rede im Hinblick auf die Überzeugung zweckmäßig aufgebaut sein müsse, hat jederzeit den Vorrang v o r allen einzelnen praecepta, und so d a r f sie auch das rhetorische Grundschema beliebig modifizieren 2 6 . W i r können es auch im Gleichnis vom Feldherrn sagen: D i e Strategie lehrt zwar sozusagen eine N o r malaufstellung der Truppen für die Schlacht, welche für gewöhnlich den E r folg verspricht; aber der E r f o l g selbst ist das Wichtigste, und so wird der Feldherr, wo es z. B . durch die N a t u r des Geländes oder des feindlichen Heeres gefordert ist, seine Truppen gegen die gewöhnliche Lehre aufstellen und so zum Siege führen. Wie kommt nun etwa eine solche „künstliche" Disposition, ein ordo artificiosus, zustande? Ich will ein Beispiel wählen, das dank seiner Einfachheit besonders geeignet ist und eine geradezu ideale Vorschule für das Studium der meist verwickelten Fälle von Ciceros Prozeßreden darstellt. In der ersten R e d e des athenischen Redners Antiphon — sie dürfte vielleicht die früheste P r o z e ß rede sein, die wir überhaupt besitzen - wird eine Frau von ihrem Stiefsohn beschuldigt, ihren Gatten, den leiblichen V a t e r des Anklägers, vergiftet zu

heißt dann: [genus] ad casum temporis accommodatum); Mart. Cap. p. 472, 1 f. ( a u t . . . naturalis est ordo aut oratoris artijicio comparatur); Sulp. Vict. p. 320, 11 ff. HALM (naturalis/artificiosus); vgl. ferner Cie. inv. 1, 30; Fortunat, p. 120, 22 ff. HALM; RhGr X I V (ed. RABE) p. 176, p. 201, p. 236: ähnliche Unterscheidung von τάξις („natürlich") und οικονομία („künstlich"), ebenso RhGr VI p. 35 und VII p. 16 f. WALZ, τέχνη und ο'ικονομία sind geschieden: RhGrV p. 391 f. WALZ; vgl. auch RhGr VI p. 575 WALZ („künstliche" Anordnung = δεινότητος μέθοδος). Ziemlich anders gefaßt ist der Unterschied bei Cie. de or. 2, 307 (ungenau BARWICK 9): cuius [sc. ordinis] ratio est duplex: altera quam adfert natura causarum, altera quae oratorum iudicio et prudentia comparatur. Mit dem zweiten meint Cicero nicht eine veränderte Anordnung der Redeteile - diese scheint vielmehr als fix vorgestellt zu sein - , sondern die Anordnung der Überredungsmittel innerhalb der Redeteile, vor allem innerhalb der argumentatio (§ 308): ut vero statuamus ea, quae probandi et docendi causa dicenda sunt, quem ad modum componamus, id est vel maxime proprium oratoris prudentiae. 24 Vgl. M. SCHANZ, Hermes 25, 1890, 36-54 und die von J. AD AMIETZ (Kommentar 1966, 77) zu Quint, inst. 3, 1, 18 angeführte Literatur. Vgl. auch unten Anm. 103 zu S. 224. 25 Dies ergibt sich aus der Übereinstimmung von Rhet. Her. 3, 16 f. mit Cie. inv. 1, 30. Zum Alter der Lehre: BARWICK 28. 26 Zur utilitas (bzw. ratio) causae als Grund für eine Abweichung vom Normalen vgl. bes. Quint, inst. 4, 2, 85: amentis est enim superstitione praeeeptorum contra rationem causae trahi; außerdem inst. 2, 13; 4, 1, 70; 7, 1, 12; 7, 1, 63; 7, 2, 40; RhGr II p. 669 WALZ und einige der oben in Anm. 23 aufgeführten Belege. Zuweilen wird

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Zu Gegenstand und Methode

haben. Diese Rede enthält an sich alle vier Grundteile der Theorie (prooem., narr., arg., per.), sie enthält sie aber in einer besonderen Weise: Der im engeren Sinn beweisende Teil der argumentatio, die confirmatio also, ist schon vor die narratio gesetzt; dieser folgt nur noch ein ungefähr der refutatio entsprechender Teil, in dem hauptsächlich die zu erwartenden Gegenbehauptungen vorweggenommen und entkräftet werden 27 . Wir haben also: prooemium argumentatio I

(§§ 1—4) (§§ 5-13)

narratio

(§§ 14-20)

argumentatio II per oratio

(§§ 2 1 - 3 0 )

(§31)

Oder, um dasselbe weniger technisch zu sagen, der strittige Sachverhalt (num maritum noverca occiderit) wird zunächst bewiesen28, dann erst wirklich vorgestellt. Ein so sonderbares, naturwidriges Vorgehen in dieser frühen Rede hat bei den Geschichtsschreibern der griechischen Beredsamkeit berechtigtes Erstaunen erregt. Doch ist die Erklärung nicht schwierig, wenn man nur die sachliche Fragwürdigkeit dieses vorangestellten Beweises beachtet. Zwar war es an sich offenkundig, daß der Vater des Anklägers vergiftet wurde: Eine Sklavin 29 , die Geliebte eines Freundes des Ermordeten, hatte bei einer früheren Vernehmung zugegeben, daß sie bei einem Abendessen der beiden Männer deren Wein mit Chemikalien (φάρμακα) behandelt hatte; jedoch war diese Frau seinerzeit auf ihre Aussage hin sofort hingerichtet worden, und jetzt konnte es durchaus strittig sein, ob sie das „Gift" in der Absicht der Tötung verabreicht hatte und ob ihr Handeln - dies ist das Entscheidende - überhaupt im Einverständnis mit der Angeklagten geschehen war: Darüber hatte sie jedenfalls

betont, daß in der Übungsrede der Schule die übliche Disposition genauer eingehalten werden kann als in der wirklich forensischen Rede: Quint, inst. 4, 2, 28 (vgl. dazu S. 300 f. mit Anm. 11), Fortunat, p. 113, 6 ff. H A L M . Wenn die Schuldeklamation in der Weise auf die praktische Beredsamkeit einwirkt, daß aus dieser die Rücksicht auf die utilitas schwindet, so gilt dies Quintilian als ein Zeichen für den Verfall der Beredsamkeit: inst. 4, 2, 122; 4, 3, 2 (vgl. N E U M E I S T E R 146-148). 27 Etwas anders J. H . T H I E L (Mnemosyne 56, 1928, 81), der die §§ 2 1 - 2 7 „amplificatio quaedam" nennt; F. S O L M S E N (Antiphonstudien, Berlin 1931, 8) spricht von einem „epilogartigen Appell" (ähnlich schon BLASS I 189). Für das Hauptproblem der Disposition ist dies ganz gleichgültig. 28 BLASS (I 188, 192) und einige andere (genannt bei S. W I J N B E R G , Antiphon's erste R e d e m e t vert, en comm., Amsterdam 1938, 5 ) w o l l t e n die §§ 5 - 1 3 προκατασκευή nennen; aber der Ausdruck ist nicht treffend (vgl. V O L K M A N N 169, 175), und jedenfalls wird dadurch die Tatsache verdeckt, daß in diesem Redeteil das einzige positive Argument gebracht wird (vgl. auch JEBB I 67). 2 » Anders E. W. B U S H A L A , A J P h 90, 1969, 6 5 - 7 2 : Metökin oder Nichtbürgerin.

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nichts ausgesagt 30 . In dieser mißlichen Beweislage stützt sich der Ankläger auf ein einziges Argument: Die Gegenseite, d.h. die echtbürtigen Söhne der Angeklagten, deren einer die Verteidigung führt, hat sich geweigert, die Sklaven der Familie dem peinlichen Verhör zu unterwerfen. An sich ist nun natürlich der Protest gegen eine solche Vereitelung möglicher Evidenz ein übliches und durchaus berechtigtes Mittel, um den Prozeßgegner zu diskreditieren 31 . Nicht so in unserem Fall: Aus Antiphons narratio ergibt sich mit Bestimmtheit, daß die Sklaven von dem betreffenden Vorgang überhaupt nichts wußten und wissen konnten 34 . Ihre Befragung hätte allenfalls etwaige frühere Mordversuche der Stiefmutter ans Licht bringen können 33 , unmittelbar für unsere Sache war sie durchaus unnötig. Damit ist die „künstliche" Disposition der Rede bereits erklärt: Hätte Antiphon den einen Scheinbeweis für seine Behauptung an seinem natürlichen Ort, d. h. nach der narratio vorgelegt, so wäre die Täuschung offenkundig geworden. Vor der narratio dagegen, bevor also die Richter noch wissen, daß einzig die schon getötete Sklavin Zeugin und Werkzeug des angeblichen Gattenmords gewesen sein kann, vermag das Argument zu wirken. Hier und nur hier kann der Ankläger, obschon er den Worten nach nichts eigentlich Unrichtiges sagt, den Richtern suggerieren, daß die Sklaven über den strittigen Mord unterrichtet sein müßten 34 . Nach der narratio wird das Argument wohlweislich auch nicht in einer Andeutung wiederaufgenommen 35 . 30

So richtig J. H. THIEL (Mnemosyne 55, 1927, 321-334, bes. 327), der die verkehrte Ansicht von U. v. WILAMOWITZ-MOELLENDORFF (Hermes 22, 1887, 194-210) sicher widerlegt hat; wie THIEL auch A. BARIGAZZI in seiner kommentierten Ausgabe (Firenze 1955, 18 f.) und WIJNBERG (s. oben Anm. 28) 15. 31 Vgl. etwa Antiph. 6, 22 ff.; 5, 38; [Demosth.] 59, 125 (andere griech. Beispiele bei KOWALSKI 157 f.); bei Cicero: S. Rose. 119-123, Cael. 68, vgl. Mil. 57 f. 32 So schon WILAMOWITZ a. O. (s. oben Anm. 30) und THIEL (Mnemosyne 56, 1928, 82; ihm folgend BARIGAZZI a. O. [s. oben Anm. 30] 21), der daraus merkwürdigerweise keinen Schluß für die Komposition zieht (vgl. a. O. 84). 33 Vgl. unten Anm. 34. 34 Vgl. BARIGAZZI a. O. (s. oben Anm. 30) S. 23. Die entscheidende Formulierung ist von einem doppeldeutigen Raffinement, wie man es Antiphon kaum zuzutrauen pflegt: § 9 τοϋτο μεν γάρ ηθέλησα μέν τά τούτων άνδράποδα βασανίσαι, α συνήδει καΐ (!) πρότερον την γυναίκα ταύτην, μητέρα δέ τούτων, τφ πατρι τφ ήμετέρφ θάνατον μηχανωμένην. . . Die Richter können kaum anders verstehen, als daß die Sklaven nicht nur von dem jetzigen, sondern „auch" von früheren Mordanschlägen wüßten; man kann aber an sich den Satz auch so auffassen: Die Sklaven wissen, daß die Frau „auch" früher schon . . . („auch" im Sinne des Redners, nicht der Sklaven; so BARIGAZZI im Komm. z. St., der die Doppeldeutigkeit verkennt). 35 Und dies, obwohl sich Antiphon hier (in § 28) wiederum (wie in § 8) gegen den Eid des Bruders wendet, der versichert hatte, er wisse wohl, daß die Mutter unschuldig sei. F. SOLMSEN (Antiphonstudien, Berlin 1931, 22-24) erkennt das sachlich Zusammengehörige der beiden Beweisabschnitte (in den §§ 28-31 fehle „das stärkste Argument"), erklärt aber die Trennung im Sinne seiner These über die frühe attische Pro-

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Dieses einfache Beispiel für den ordo artificiosus in der antiken Gerichtsrede bestätigt uns zunächst, was wir schon anfangs aus allgemeinsten Überlegungen erkannt haben: Argumente, so zeigt es sich, sind nicht nur an sich stark oder schwach, sie sind es vor allem nach Maßgabe ihres Ortes, d. h. sie besitzen das, w a s m a n heute einen Stellenwert zu nennen pflegt 3 6 . Zugleich lernen wir auch, w i e dieser Stellenwert richtig z u bestimmen ist: Vor allem ist - dies wäre eine Selbstverständlichkeit, w e n n es nicht o f t versäumt würde - der jeweilige Proz e ß f a l l (die causa) zu untersuchen 37 ; je genauer uns dieser bekannt ist, um so

zeßrede ganz formalistisch: βάσανος und δρκος, die im alten Prozeß noch einzig entscheidenden unkünstlichen Beweismittel, hätten quasi als Gravitationszentren der Beweisführung gewirkt (vgl. S. 26) und die logische Ordnung zerstört. Mit dem Nachweis der sachlichen Notwendigkeit der Trennung fällt eine wichtige Stütze von SOLMSENs Hauptthese, die mir auch sonst fragwürdig scheint. 30 Am nachdrücklichsten Sulp. Vict. p. 320 H A L M : . . . haec οικονομία . . . tantum valebit, ut etiam quae, (si) aliter posita atque prolata essent, fortasse contraria operentur ad causam, ea plurimum prosint. Vgl. auch E R I C S O N (s. oben Anm. 7) 134. 37 Das heißt zugleich: Die dispositio kann nicht ohne Berücksichtigung der inventio verstanden werden. Der innere Zusammenhang dieser beiden ersten partes rhetoricae (etwa = „Inhalt und Form") tritt schon daran sinnfällig hervor, daß die antike Theorie immer Mühe hatte, beides in der Darstellung voneinander zu unterscheiden (vgl. V O L K M A N N 362 f., BARWICK 10 f., LAUSBERG § 444, CLARKE 48). Die ältesten Handbücher scheinen selbst nach den Redeteilen aufgebaut gewesen zu sein (BARW I C K 11 ff., M. F U H R M A N N , Das systematische Lehrbuch, Göttingen 1960, 124 mit Lit., K E N N E D Y , Art of persuasion 56), so offenbar auch noch die der Isokrateer (BARWICK a. O.): Hier wurde also die inventio gewissermaßen im Hinblick auf die vorgegebene dispositio vorgetragen. Erst Aristoteles sondert die dispositio (wie auch die elocutio) energisch von der Beweislehre, dringt aber damit nur zum Schein durch (wichtigste Ausnahme: die .aristotelische' Anlage von De oratore; vgl. F. SOLMSEN, A J P h 62, 1941, 50 A. 58, vgl. auch S. 37 ff.). Beim „Auetor" und Cie. inv. bilden zwar die (mittlerweile auf die kanonischen fünf angewachsenen) partes rhetoricae die Grundlage der Gliederung; aber die inventio selbst wird wieder nach den partes orationis gegliedert, hat also gewissermaßen den größten Teil der dispositio in sich aufgesogen, so daß f ü r diese äußerlich nur ein kleiner Anhang übrigbleibt (Rhet. Her. 3, 16-18). D a ß dies logisch ebenso unbefriedigend wie praktisch nützlich ist, weiß der „Auetor" (1, 4): . . . quoniam ..., quo res cognitu facilior esset, produeti sumus, ut de orationis partibus loqueremur et eas ad inventionis rationem accommodaremus . . . So hält es dann auch Quintilian (über den Zusammenhang von dispositio und inventio explizit in inst. 6, 4, 1): Sein Buch De dispositione (lib. 7) ist eine Mischung verschiedener Materien, die dem Titel kaum entspricht: An eigentlichen Dispositionsregeln enthält es neben den allgemeinsten Prinzipien (prooem. und 10, 5-17) nur einiges Wenige, was sich in den Büchern De inventione (4-6) nicht hatte unterbringen lassen; das Übrige betrifft die Beweistopik der einzelnen status, würde also sachlich zur inventio gehören, ohne daß es doch dort hätte vorgetragen werden können, da diese nach partes orationis, nicht nach status gegliedert war. Kurz gesagt, die Bereiche dispositio und inventio sind in den beiden einschlägigen Teilen von Quintilians Werk gleichermaßen vermischt. (Vgl. auch V O L K M A N N 366, KOWALSKI 30 mit Anm. 2.)

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eher können wir hoffen, die Rededisposition auch in ihrem Verhältnis zur rhetorischen Theorie zu erfassen39. Dieses Studium der causa ist ein wesentlich historisches und muß natürlich unter Heranziehung aller die Realien erschließenden Hilfsmittel durchgeführt werden 3 '. Hier scheint zwar, wo nur die Rede selbst Quelle sein kann, die Gefahr eines Zirkels nahezuliegen; aber gerade das angeführte Beispiel hat uns gelehrt, daß dieser doch bis zu einem gewissen Grade und wenigstens in bestimmten Fällen durchbrochen werden kann. Wir sind als nachgeborene Leser einer antiken Gerichtsrede dem zeitgenössischen Hörer freilich in hundert Dingen an Kenntnis der Fakten und Personen unterlegen; und dennoch haben wir einen entscheidenden Vorteil, den es mit Energie auszunutzen gilt: Allein darum, weil wir lesen und nicht hören, sind wir der in der Dimension der Zeit stattfindenden Rededisposition nicht so hilflos ausgeliefert wie jener; wir können im Buch zurückschlagen40, wir können das in kunstvoller, „künstlicher" Disposition Zusammengefügte, wo nicht gar Verwirrte, mühelos und in beliebiger Zeit vereinzeln und wieder neu anordnen, und es müßte doch sonderbar zugehen, wenn wir dabei nicht zuletzt doch zu einer richtigeren Beurteilung auch vieler Fakten kämen als ein Richter, der in gedrungenem Zeitraum die Disposition des Advokaten nur erleben, nicht ermessen kann 41 . Diese Kenntnis der causa aber - und dies ist das Zweite, was wir aus Antiphon wohl lernen können - macht die Kenntnis der rhetorischen Einteilungen nicht überflüssig. Die Schultheorie hat durchaus ihren Wert auch für unsere Interpretation, und man muß daran heute mindestens ebenso nachdrücklich erinnern wie an das andere. Wenn etwa Wilhelm K R O L L in berechtigtem In der sehr nützlichen, aber rein systematisch von den praecepta der Rhetorik ausgehenden Arbeit von R O H D E (1903: über das Verhältnis von Ciceros Reden zu ,seiner' Theorie) erfährt man fast nirgends etwas darüber, warum etwa ein bestimmter Redeteil ausgelassen ist; wo doch eine Vermutung gewagt wird, ist sie wegen oberflächlicher Sachkenntnis unrichtig (besonders kraß S. 30 f. über narratiol). 39 Hübsch sagt E R I C S O N (s. oben Anm. 7) 129: „As with the speaker, so it is with the critic; there is no substitute for knowledge." Quint, inst. 10, 1, 2 2 (über das richtige Studium von Reden): illud vero utilissimum nosse eas causas, quarum orationes in manus sumpserimus, et quotiens continget, utrimque habitas legere actiones. Das letztgenannte ist für uns nur noch bei den beiden Redepaaren des Aischines und Demosthenes (Gesandtschaftsprozeß und Ktesiphonprozeß) möglich; diese sind dafür, gerade was das Studium der (jeweils ganz verschiedenen) Dispositionen angeht, äußerst lehrreich. 38

Quint, inst. 10, 1, 20: . . . perlectus Uber utique ex integro resumendus, praecipueque oratio, cuius virtutes frequenter ex industria quoque occultantur. saepe enim praeparat, dissimulat, insidiatur orator, eaque in prima parte actionis dicit, quae sunt in summa profutura. 41 Dieser Vorteil ist als selbstverständlich vorausgesetzt in Quintilians Äußerung (inst. 4, 2, 59): . . . quo modo iudicem fefellerit, quod vix a lectore deprenditur. Im übrigen ist klar, daß vom Standpunkt des kritischen Lesers aus der frühere Hörer selbst gewissermaßen zur causa gehört und mitbedacht sein will. Vgl. unten S. 53. 40

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U n m u t über einige ältere Erklärer einen E i n f l u ß der rhetorischen Theorie auf die attischen Redner wie auf Cicero so gut w i e leugnen wollte 4 2 , indem er die Redner als die schöpferisch Gebenden, die Rhetoriker als die v o n diesen nur nehmenden Stubengelehrten hinstellte, dann ist die n o t w e n d i g e Wechselwirkung v o n Theorie und Praxis entschieden verkannt 4 3 , und es hat sich an die Stelle des Rhetorikers, der doch den Redner ex professo unterrichtet, unvermerkt das eigene Bild des in der Tat nur observierenden und registrierenden Redephilologen geschoben. Oder hätte A n t i p h o n so geschickt disponieren können, w e n n ihm die Theorie nicht wenigstens die Bausteine und die gewöhnliche Weise ihrer Fügung vermittelt hätte 44 ? Könnten wir die Struktur seiner Rede sachgemäßer erfassen und beschreiben, w e n n wir nichts w ü ß t e n v o n narratio und argumentation Sicherlich ist mit einer rhetorischen Etikettierung v o n Redeteilen für die Interpretation noch wenig geleistet; aber w e n n man darum etwa glaubt, es müsse Cicero ein Blatt aus dem rednerischen Lorbeer fallen, sofern sich nicht gegen allen Augenschein nachweisen ließe, daß im Meisterwerk der Miloniana der Kernteil der argumentatio ohne genaue Berücksichtigung der rhetorischen Regeln angelegt sei 45 , dann ist doch - fast möchte man sagen: 42

KROLL, Rhetorik 1066 ff., 1093 f. Zum Verhältnis von rhetorischer Theorie und ciceronischer Praxis vgl. außer R O H D E (s. oben Anm. 38) und den oben (S. 12) genannten Autoren SOLMSEN 542 ff., CLARKE 89 ff., B O N N E R 424-427, B Ü C H N E R 50 f. und jetzt die Arbeit KÖHLERs über Ciceros Redeprooemien. 43 KROLL, Rhetorik 1094 (über die Stasislehre des Hermagoras): „Das System war im Grunde nur für die Schule da . . C i c e r o urteilt ganz anders (vgl. bes. Brut. 271), und man muß wirklich die Augen verschließen, um nichts von der Stasislehre und ihrer Topik in Ciceros Gerichtsreden zu finden. Vgl. bes. S. 71, 96, 163 Anm. 20, 200 ff. Die Berufung auf Tacitus (KROLL a. O.: dial. 19, 4 . . . ipsorttm quoque oratorum paucissimi praecepta rhetorum aut philosophorum placita cognoverant) ist m. E. verfehlt; denn von Tacitus (Aper) wird, wie aus dem Zusammenhang ersichtlich, gerade der Wert der rhetorischen (hermagoreischen) praecepta für eine Zeit hervorgehoben, in der diese noch nicht bei allen bekannt waren. 44 K R O L L würde dies in der Tat leugnen (Rhetorik 1046). 45 So B Ü C H N E R (S. 266-271) in Polemik gegen HALMs Kommentar (Berlin '»1899, bearb. von G. L A U B M A N N ; vgl. auch die Ausg. v. A . C . CLARK, Oxford 1895, LIV ff., V O L K M A N N 373, R O H D E 146 f. und viele andere), wobei er sich beruft auf Ciceros nach dem Konsulat errungene „völlige Freiheit der Form, ja [?] der Selbstdarstellung" (S. 267). Die Polemik beruht zum größten Teil - über einiges läßt sich streiten - auf einem Mißverständnis entweder HALMs oder der rhetorischen Theorie. Ich nenne nur die ersten drei Punkte ( B Ü C H N E R 267 f.). B Ü C H N E R möchte leugnen, daß in der Miloniana ein eigentlicher status coniecturalis vorliege: „Die Tat wird ja zugegeben . . u n d nur die möglichen Motive würden verglichen. Dagegen genügt es, auf Quint, inst. 3, 11, 7 (vgl. Anm. 10 zu S. 18) und H A L M zu § 31 zu verweisen: Cicero gibt nur die Tötung als solche zu; die Frage aber, ob sie zu Recht d. h. in diesem Fall in Notwehr geschehen sei (fecit, sed iure fecit; dies ist übrigens ein status qualitatis, anders B Ü C H N E R 253), führt notwendig auf einen status coniecturalis, der hier (da mit Gegenangriff verbunden) in der Form der anticategoria behandelt wird: uter utri insidias fecerit. (Allerdings behauptet Cicero einmal, in § 57, auf Tat-

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undankbar - jene H i l f e ausgeschlagen, die uns das großartige, durch lange Jahrhunderte in stetiger Fühlung mit der Praxis gewachsene Gebäude der rhetorischen Theorie bieten kann. D a z u kommt, daß sich die Theorie auch bezüglich des ordo artificiosus nicht e t w a damit begnügt hat, den Redner nur an sein eigenes Urteil, den a d v o k a tischen Instinkt zu verweisen 4 ®: Sie hat sich redlich bemüht, auch hier die U n endlichkeit der möglichen Fälle 47 , soweit es anging, in einem System z u begrenzen, nicht allein die Redeteile anzugeben, die ausgespart werden können, sondern auch die Bedingungen, unter denen dies ratsam ist 48 ; sie hat die M ö g l i c h keiten der Vermischung 4 " und der Umstellung 5 0 erwogen, sie hat endlich sogar

fragen komme es gar nicht an; aber das ist ein auf den Augenblick berechneter Trick, der am status causae nichts ändert.) Dann bestreitet B Ü C H N E R , daß das Argument Cui bono? zum probabile e causa (nach H A L M : Mil. 32-35) gehöre: Es müsse, da auf die Zukunft bezogen, eher zur consecutio gerechnet werden. Aber dies widerspricht der Definition m. W. sämtlicher Rhetoren; vgl. nur etwa Rhet. Her. 2, 3 causa . . ., cum quaeritur, num quod commodum maleficio appetierit (und Cie. inv. 2, 17 ff.): consecutio ist etwas ganz anderes (Rhet. Her. 2, 8). Wenn schließlich H A L M richtig erkannt hatte, daß das probabile e causa bei Cicero mit der collatio verbunden ist (zu § 32), so meint B Ü C H N E R irrtümlich, H A L M spreche vom probabile e vita, und in der Polemik gegen die von niemand vertretene Ansicht gibt er das Wesen der collatio unrichtig als „Darstellung des Lebens und Vergleich von Tat und Leben" an (das Richtige bei HALM a. O. nach Rhet. Her. 2, 6, vgl. auch Cie. inv. 2, 24). Das Gezeigte mag genügen, um einen Zweifel daran zu erwecken, ob „die Sucht rhetorische Gliederungen zu finden" das 19. Jhdt. wirklich so „blind macht", wie B Ü C H N E R glaubt (S. 268 f.); es bleibt jedenfalls dabei, daß die Argumentation der Miloniana (in einer für Cicero geradezu auffallenden Weise) nach der schulmäßigen Dihairesis des Konjekturalstatus (Rhet. Her. 2, 3 ff.; Cie. inv. 2, 16 ff.) gegliedert ist. 46 Z. B. Quint, inst. 7, 10, 10 quare plurima petamus a nobis et cum causis deliberemus . . .; vgl. 5, 13, 59; 6, 5, 5. 47 Quint, inst. 7 prooem. 4. 48 Weglassen des prooemium: Aristot. rhet. 1415 Β 7 ff.; rhet. Her. 1, 6; 3, 17; Cie. de or. 2, 320; Quint, inst. 2, 13, 5; 4, 1, 72; 6, 5, 5; 7, 10, 11; Fortunat, p. 113, 6 ff. H A L M ; Dion. Hal., Lys. 17; Anon. Seguer. R h G r I p. 357 S P E N G E L / H A M M E R ; vgl. auch Augustin. p. 148, 30 ff. H A L M (über Hermagoras). - Weglassen der narratio: Arist. rhet. 1417 A 8 ff.; Cie. inv. 1, 30; Cie. de or. 2, 330; Cie. part. 15; Quint, inst. 4, 2, 4; 6, 5, 5; 7, 10, 12; Iul. Sev. p. 358, 14 ff. H . ; Iul. Vict. p. 425, 22 ff. H . ; Fortunat, p. 110, 29 ff. H . ; Dion. Hal. rhet. 10, 14 (p. 369 U . / R . ) ; Apsin. RhGr I p. 250 SP./ H A M M E R ; Anon. Seguer. RhGr I p. 372 S P . / H A M M E R . - Weglassen von propositio und/oder partitio: Quint, inst. 4, 4, 2; 4, 5, 1 ff.; Iul. Vict. p. 416 H . ; Fortunat, p. 113 H . - Weglassen der peroratio: Aristot. rhet. 1414 Β 4 ff. 40 Besonders von argumentatio und narratio·, dazu S. 213 mit Anm. 65-67. 50 Nachstellung des prooemium: Quint, inst. 7, 10, 12; Iul. Vict. p. 421, 26 ff. H . Vertauschung von narratio und partitio: Fortunat, p. 112, 30 ff. H . ; RhGr V p. 391 f. WALZ. - Vertauschung von narratio und argumentatio: Quint, inst. 4, 2, 24-26; Victorin. p. 208, 11 f. H . ; Sulp. Vict. p. 320, 24 f. H . ; Iul. Sev. p. 358, 24 f. H . ; Mart. Cap. p. 472, 5 ff. Η . ; RhGr V p. 390 WALZ.

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innerhalb einzelner Teile selbst eine „künstliche" Anordnung von einer „natürlichen" geschieden51 und in ihrer Verwendbarkeit überprüft 52 . Daß auch damit die Vielgestaltigkeit der möglichen Praxis nicht vollkommen erfaßt wird, ist einem Theoretiker wie Quintilian durchaus bewußt 53 und wird sich uns bestätigen 54 ; aber wenigstens soweit diese rhetorische Dispositionslehre für den Redner nützlich ist, müßte sices auch für den Rednerinterpreten sein können. Geringeren Gewinn als diese antike Theorie verspricht uns, wenigstens noch im Augenblick, die sogenannte „Moderne Rhetorik", wie sie in Amerika vor allem von dem Psychologen C. I. H O V L A N D und seinen Mitarbeitern unter Anwendung empirischer Methoden entwickelt worden ist 55 . Zwar hat sich dieser Zweig der Forschung, der natürlich für Wirtschaft und Politik von praktischem Interesse ist, auch mit Fragen der Disposition von Argumenten (im weitesten Sinn) befaßt - ein Hauptwerk der Gruppe heißt „The order of presentation of persuasion" (1957) 5 ' - , und es ist wohl grundsätzlich zu vermuten, daß ein einfühlsamer antiker Redner durch Beobachtung viel von den psychologischen Gesetzmäßigkeiten erahnt hätte, die heute durch Versuche nachweisbar wären 57 ; nur sind gerade in den uns interessierenden Problemen hier noch keine recht sicheren Ergebnisse erzielt: Ob es etwa besser sei, mit den starken oder den schwächeren Argumenten zu beginnen 59 , ob der zuerst vertretene Standpunkt eher akzeptiert werde als der entgegengesetzte, wenn er danach präsentiert wird 59 - über dergleichen scheint es vorläufig nur begründete Hypothesen zu geben, und die meisten der für die Disposition gerade einer Gerichtsrede wichtigen Fragen sind hier noch gar nicht aufgeworfen. Immerhin wird man auch diese Untersuchungen mit Vorteil im Auge behalten.

Dies gilt besonders von der narratio (s. S. 2 2 4 mit Anm. 1 0 3 - 1 0 6 ) , in der gegen den Zeitsinn erzählt werden kann; zu Ähnlichem in der argumentatio vgl. Mart. Cap. p. 472, 8 ff. Η . 52 Eine Zusammenstellung aller Arten „natürlicher" (und damit implizit auch „künstlicher") Ordnung bei Fortunat, p. 121, 1 ff. H . 53 Vgl. bes. inst. 7, 10, 11. 54 Ich habe etwa kein praeceptum gefunden, das dem aus Antiphon angeführten Fall genau entspräche. 55 Eine knappe und verständliche Einführung gibt: N . M A C C O B Y , Die neue „wissenschaftliche Rhetorik", in: W . S C H R A M M (Hrsg.), Grundlagen der Kommunikationsforschung, München 4 1 9 7 1 (zuerst engl. 1963), 5 5 - 8 3 . 56 Benutzt im 3. Nachdruck, N e w H a v e n & London 1966. 57 Bestätigt zu haben scheint sich etwa die Zweckmäßigkeit der Abfolge von confirmatio und refutatio ( H O V L A N D a. O. 137 f.); zum Glück (für den skeptischen Philologen) berücksichtigen diese Forscher die antike Rhetorik fast gar nicht. 58 Die einschlägigen Untersuchungen bei F. D R Ö G E u. a., Wirkungen der Massenkommunikation, Münster 1969, 105 f. (das Buch gibt überhaupt eine Zusammenfassung der wichtigsten Forschungsresultate). 59 Vgl. H O V L A N D a. O . 1 3 - 2 2 , 130 f . ; M A C C O B Y (s. oben Anm. 5 5 ) 6 3 ff. 51

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Haben wir somit zwei Dinge bestimmt, auf die wir bei der Analyse einer Rede unsere Aufmerksamkeit zu richten haben, den speziellen Fall (causa) und die generelle Theorie (praecepta), so muß nun dazu ein Drittes, kaum weniger Wichtiges, kommen; ich meine: die rednerische Tradition. Selbstverständlich kann die Art, in der ein Redner einen gegebenen Fall angreift, nicht nur durch das Individuelle dieses Falls und die erlernten Regeln seiner Bewältigung bestimmt sein, sie wird sich - dies darf man zunächst einfach postulieren - auch nach dem Vorbild anderer richten. Zahlreiche Zeugnisse bestätigen und veranschaulichen dies gerade für die römische Beredsamkeit. Der angehende Redner, so erfahren wir, erlernt sein Fach nicht so sehr in der Schule als auf dem Forum: Er beobachtet die dort tätigen Redner, er schließt sich dem an, den er für den besten oder ihm selbst gemäßesten erkannt hat' 0 , und strebt danach, das bewunderte Vorbild zu erreichen' 1 . Aber auch wo der Unterricht ein mehr theoretischer ist, gilt neben dem selbstverständlichen praecepta docent das ebenso wichtige exempla trahunt. In dem großen Lehrgespräch von De oratore gibt der Redner Antonius einen kommentierten Abriß seiner eigenen Rede pro Norbano (2,197 ff.); und der junge Sulpicius ist hiervon so entzückt, daß er eine solche Vorführung aus der Praxis für ebenso wertvoll wie jeden theoretischen Unterricht erklärt 62 . Nach demselben Prinzip möchte auch Quintilian in den Mittelpunkt der rhetorischen Erziehung die Lektüre und Erläuterung von Musterreden gestellt wissen: Gerade das, meint er, was sich von der allgemeinen Theorie nur schwer erfassen lasse, lerne man am besten aus Beispielen, so wie es ja auch für den angehenden Militär - hier erscheint wieder einmal unser Feldherrngleichnis - nützlicher sein möge, einzelne Schlachten berühmter Strategen im Sandkasten nachzuspielen und die konkrete Taktik in der konkreten Situation zu studieren, als die allgemeinen Vorschriften der Strategie zu erlernen' 3 . Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß Cicero, der auch seine eigenen Reden ausdrücklich zum Nutzen der lernenden Jugend herausgab' 4 , in dieser Weise die literarischen und die gegenwärtig lebendigen Vorbilder der Redekunst studiert hat, und dieses Studium müßte auch in der Disposition der Reden seine Spuren hinterlassen haben. 60

Quint, inst. 10, 5, 19, Tac. dial. 34. Bezeugt ist ein solches Lehrer-Schüler-Verhältnis etwa für Crassus-Sulpicius (Cie. de or. 2, 89), Cicero-Caelius (Cie. Cael. 9), A p e r / Secundus-Tacitus (Tac. dial. 2). Cicero über seine eigenen forensischen Lehrjahre: Brut. 317. Vgl. auch P O I R E T 145-147, H O M M E L 2622. 61 Cie. de or. 2, 90. 62 D e or. 2, 204. Ähnlich schon vorher Antonius selbst (§ 198): quid jecerim narrabo; si placuerit, vos meam defensionem in aliquo artis loco reponetis. W. S T E I D L E in seinem für diese Fragen wichtigen A u f s a t z über „Einflüsse römischen Lebens und D e n kens auf Ciceros Schrift D e oratore" ( M H 9, 1952, 10-41) verweist hierzu treffend (S. 20 A. 51) auf Quint, inst. 12, 2, 30: quantum enim Graeci praeeeptis valent, tantum Romani, quod est maius, exemplis. 03 Quint, inst. 2, 5, 1 4 - 1 7 ; vgl. Iul. Vict. p. 430, 29 ff. H A L M . Zur Theorie der imitatio und zur Rednerlektüre im Unterricht: K R O L L , Rhetorik 1113-1117. «4 Vgl. unten S. 52 f f .

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Und doch sind wir hier als Interpreten in einer weit ungünstigeren Lage als etwa gegenüber der rhetorischen Theorie. Die römischen Vorbilder Ciceros sind für uns so gut wie verloren, d. h. aus den zur Verfügung stehenden Quellen und Zeugnissen läßt sich, von geringsten Ausnahmen abgesehen65, gerade für die Disposition der Reden nichts mehr gewinnen. Aber auch was die klassischen griechischen Redner angeht, die wir noch fast im selben Maße studieren können wie einst Cicero86, ist es sehr schwierig, eine über die Nachahmung einzelner Formulierungen und Gedanken47 hinausgreifende Nachbildung ganzer Strukturen zu erkennen. Analogien in der rednerischen Taktik kann man allerdings beobachten - schon Quintilian hat festgestellt, daß Cicero (wie überhaupt die Römer) in den Künsten der inventio und dispositio den Griechen ebenso ähnlich sei, wie er sich in der elocutio von ihnen unterscheide68, und dies gilt zumal von den meines Erachtens gerissensten der griechischen Dispositionstaktiker, Isaios und Demosthenes - , ob jedoch diese Analogien auf einem unmittelbaren Einfluß oder nicht eher auf einer natürlichen Konvergenz beruhen, wie sie sich daraus ergeben mag, daß einem ähnlichen Geiste ähnliche Probleme zur Bewältigung aufgegeben sind, dies ist am einzelnen Beispiel kaum zu entscheiden. Es gibt zu denken, daß gerade in dem einen Fall, wo eine ganze Rede von Cicero offenkundig nachgeahmt ist - ich meine die von Alfons WEISCHE beobachtete Imitation der demosthenischen Kranzrede in Ciceros zweiter Phi-

Wie zum Beispiel der Nachricht, daß Hortensius straffe und in der partitio genau angekündigte Dispositionen liebte (Cie. Quinct. 35 u. ö.). Sonst ist am ergiebigsten die genannte Beschreibung der Rede pro Norbano. Wir lernen aus ihr z. B., daß es nichts speziell Ciceronisches ist, wenn er sich am Beginn einer Prozeßrede über die Gründe äußert, die ihn zur Übernahme des Mandats bewogen haben (de or. 2, 202; vgl. div. Caec., Rab. perd., Mur., Sull. u. ö., THIERFELDER 387; vgl. unten S. 189 mit Anm. 3. ·" Wirklich zu bedauern ist nur der fast völlige Verlust des von Cicero hochgeschätzten und benutzten (s. WEISCHE 59-62, 140 f.) Hypereides, der nach Dionys von Halikarnass (de imit. 5, p. 213 U . / R . ) rfj . . . της ευρέσεως πανουργίςι alle Redner übertroffen haben soll. - Zur Disposition bei den attischen Rednern M. DELAUNOIS, Le plan rhetorique dans l'eloquence grecque d'Hom^re a Demosthene, Bruxelles 1959 (kommt kaum über äußerliche Beschreibung hinaus); vieles in den einschlägigen Werken von JEBB, BLASS, K E N N E D Y (mit Lit.). Zur ciceronischen Dispositionstechnik in den Philippiken verglichen mit Depiosthenes u. a.: M. DELAUNOIS, LEC 34, 1966, 3 - 1 5 ; 27-34 (dt. in: KYTZLER [Sammelbd. 1973] 345-371). 65

Hiermit befaßt sich die Arbeit von Alfons WEISCHE (1972). Unzugänglich war mir: D. J. TADDEO, Signs of Demosthenes in Cicero's Philippics, Diss. Stanford Univ. 1971. 68 Quint, inst. 12, 10, 27 Latina mihi facundia, ut inventione, dispositione, consilio, ceteris huius generis artibus similis Graecae ac prosus discipula eius videtur, ita circa rationem eloquendi vix habere imitationis locum. 10, 1, 106 (über Demosthenes und Cicero): quorum ego virtutes plerasque arbitror similes, consilium, ordinem, dividendi, praeparandi, probandi rationem, omnia denique quae sunt inventionis. in eloquendo est aliqua diversitas . .. 67

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lippica®9 daß gerade hier die Nachbildung eine rein äußerliche, gewissermaßen ästhetische ist, indem nur zur Freude f ü r den Kenner die Proportionen der äußeren Form und einzelne markante Stellen wiedergegeben sind, wogegen der taktische Plan des Demosthenes, der diese Form ursprünglich bedingt hat, bei Cicero keine wirkliche Entsprechung findet 70 . Offenbar will Cicero - und dies scheint ja auch ganz natürlich - die Nachahmung nur dort deutlich machen, wo er in eine offene, der poetisch-künstlerischen Imitation vergleichbare Nachfolge seines Vorbildes eintritt - die zweite Philippica soll ihn wohl im Streit mit den sogenannten Attizisten als d e n römischen Demosthenes ausweisen (neben anderen Absichten, versteht sich) wo dagegen das Vorbild nur Waffen für die praktische Auseinandersetzung liefert, wird man nicht erwarten dürfen, seine individuellen Spuren markiert zu finden. Deutlicher fassen wir diese nicht-theoretische Tradition auf einem anderen Gebiet. Aus Ciceros Reden selbst ergibt sich, daß, unabhängig von der Vorbildhaftigkeit einzelner Redner, gewisse übliche Dispositionsschemata wenigstens f ü r bestimmte spezifisch römische Prozeßtypen bestanden haben müssen 71 . Im Arabitus-Prozeß etwa, wo dem Angeklagten verschiedene unerlaubte Praktiken der Wählerbeeinflussung vorgeworfen werden, hätte eine kontinuierliche, von der argumentatio abgesetzte narratio weder f ü r diesen noch für den Ankläger einen eigentlichen Gegenstand. Hier disponiert nun Cicero die (außer Einleitung und Schluß) alles umfassende argumentatio in der Weise, daß auf einen Teil, in dem das vor allem private Vorleben des Klienten behandelt wird, ein anderer folgt, in dem auf Grund von dessen glänzender Amtskarriere und Popularität die Möglichkeit, ja Notwendigkeit seines Wahlsiegs über den minder beliebten oder rührigen Gegenkandidaten gezeigt wird 72 , so daß die dann endlich anschließende Behandlung der crimina fast schon überflüssig scheint: „Wie hätte ein solcher Mann noch bestechen müssen?" Und wenn Cicero in den beiden einschlägigen Reden, pro Murena und pro Plancio, seinen Beweis in dieser A r t aufbaut (und dabei wenigstens in der ersten zu erkennen gibt, daß dem auch

ea

WEISCHE 193 f., der die Dinge im einzelnen etwas anders sieht. Bei Demosthenes verhüllt der vorgebliche Redeplan (1. Vorwürfe εξω της γραφής [§S 9-52], 2. Behandlung der γραφή [SS 53-125], 3. angreifender Teil [S§ 126 ff.] die wirkliche Absicht, die darin besteht, die Behandlung der gesetzlichen Punkte der γραφή (die für Demosthenes sehr ungünstig war) in einer kontinuierlichen Darstellung der Auseinandersetzung Athens mit Philipp gewissermaßen untergehen zu lassen. Cicero disponiert analog, übrigens auch, was die Maßverhältnisse angeht (1. crimen violatae amicitiae [SS 3-10], vgl. Cie. 3 mit Dem. 9; 2. die hauptsächlichen crimina [SS 10-43]; 3. angreifender Teil [SS 43 ff.], vgl. Cie. 43 mit Dem. 126: in den §§ 50 ff. die auffallendsten Imitationen, einiges bei WEISCHE 102-104), aber ohne Hinterlist. 71 Auf solche Dinge hat zuerst Rudolf PREISWERK in seiner wertvollen Dissertation (1905) hingewiesen. Vgl. auch den Aufsatz SOLMSENs (dazu Anm. 82 zu S. 78) und WEISCHE 186. 72 Vgl. S. 252 mit Anm. 50. 70

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die Disposition des Anklägers entsprochen habe [§ 11]), dann wird man annehmen dürfen, daß hier ein fest in der Prozeßgewohnheit verwurzeltes Muster vorliegt. Ähnliches gilt für die Repetundenverteidigungen, wo freilich die Teile in ihrer Stellung variabler zu sein scheinen. Auch hier findet man einen Redeteil, in dem Vorleben und Amtskarriere des Angeklagten dargestellt werden73 Leitsatz: „Ist einem Mann, der sich stets so integer erwiesen hat, jetzt das Repetundenvergehen zuzutrauen?" zu der Behandlung der technischen crimina, die hier (eher als im Ambitus-Prozeß) einzelne kleinere narrationes enthalten können, tritt dann noch ein letzter, offenbar ganz obligater Redeteil, der sich etwa „Volksbeschimpfung" nennen ließe: eine generelle Invektive gegen den Nationalcharakter der jeweiligen Provinzbevölkerung, die sowohl das Gewicht der Zeugenaussagen verringern als auch gegebenenfalls die Notwendigkeit eines - innerhalb der Grenzen des Legalen - harten Regiments in der Provinz dartun soll74. Natürlich kann man diese ,römischen' Redeteile zur Not unter die Teile subsumieren, welche die rhetorische Theorie (seit Hermagoras) für die argumentatio im sogenannten Konjekturalstatus (Tatfrage) entwickelt hat der erste Teil der afn&ztws-Verteidigung enthielte das probabile e vita, der zweite das probabile e causa, die „Volksbeschimpfung" wäre die refutatio eines unkünstlichen Beweises - ; man sieht aber leicht, daß die wirkliche Funktion der Teile über diese Bedeutung hinausgeht, die sie im Sinne der Theorie hätten: In ihrer strukturbildenden Kraft sind sie dort jedenfalls nicht erfaßt 75 , und selbst in einer Schrift wie Ciceros De oratore, wo so gern und fast peinlich betont die lebendige römische Praxis gegen die graue Theorie der Griechen ausgespielt wird, sucht man vergebens nach einer Würdigung dieser ,echt römischen' Dispositionen. Offenbar meint der römische Rhetoriker, daß sich solche Dinge von allein lernen, und er wird damit recht haben. Wir haben so die verschiedenen Faktoren gesondert, die für die Disposition einer ciceronischen Gerichtsrede bestimmend sein mögen: causa, praecepta, exempla. Da nun hierüber so ausführlich gesprochen ist, bleibt nur noch übrig zu betonen, daß diese Dinge zwar von uns intensiv studiert sein wollen, daß aber keines von ihnen das eigentliche Ziel der Untersuchung darstellt. Soviel auch im folgenden von rechtlichen und geschichtlichen Fragen die Rede wird sein müssen - hier ist noch mehr zu tun, als man zunächst glauben möchte - , es kommt uns zuletzt doch nicht auf die historische Kenntnis der einzelnen Prozeßfälle an; es geht auch weniger um das Verhältnis von Theorie und Tradition, Theorie und Praxis, nicht einmal so sehr um jene allgemeinsten „Grund-

Vgl. S. 252. In dieser Reihenfolge (der, wie es scheint, natürlichsten) erscheinen die drei Teile in P r o Fonteio. In P r o F l a c c o ist die ,Volksbeschimpfung' vor die crimina gezogen, ebenso in P r o Scauro, wo die zerteilte Behandlung der crimina das Ganze rahmt (Reihenfolge: 2 a, 3, 1, 2 b). Diese Differenzen bedürfen noch der genauen Interpretation.

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75 Vgl. immerhin die in den Anmerkungen 49 und 50 zu S. 2 5 2 zitierten Äußerungen Quintilians.

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sätze der forensischen Rhetorik", wie sie Christoff N E U M E I S T E R „ a n Gerichtsreden Ciceros" gezeigt h a t " : Es soll vor allem um diese Reden selbst gehen, um die Erkenntnis Ciceros u n d s e i n e r advokatischen Dispositionstechnik. Freilich sind dieser Erkenntnis ihre Grenzen dadurch gesetzt, d a ß aus äußeren Gründen nicht sämtliche Gerichtsreden behandelt werden können, ein Mangel, dem sich auch durch gelegentliche Exkurse und Verweise auf A n a l o gien nur in der notdürftigsten Weise abhelfen läßt. Denn die Disposition jeder Rede hat ihr Besonderes, und das Beste m ü ß t e jeweils im Zusammenhang einer ausführlicheren Erörterung der Sachlage behandelt werden. Diese notwendige Beschränkung bringt es auch mit sich, d a ß gerade das in unserer Untersuchung nur unvollkommen dargestellt werden kann, was einigen vielleicht die interessanteste Seite des Themas scheinen könnte: die rednerische E n t w i c k l u n g C i ceros 77 . Immerhin läßt auch unser begrenztes Material hierüber wenigstens einige Aussagen zu: Wir werden sehen, wie Cicero in den J a h r e n von seinem ersten rednerischen A u f t r e t e n bis zur Prätur 7 8 immer gründlicher die Möglichkeiten ausnutzt, die ihm der ordo artificiosus bietet, wie er zunächst in einer frühen Privatprozeßrede damit beginnt, die argumentatio in einer „widernatürlichen", aber um so effektvolleren Weise anzulegen, und wie sich d a n n diese „künstliche" O r d n u n g sowohl auf die innere Struktur anderer Redeteile als auch auf die Stellung der Redeteile unter sich ausweitet. Wir werden schließlich an der besonders fein disponierten Caeliana, dem einzigen aus späteren Jahren genommenen Beispiel, erkennen, wie traditionelle Teile der Theorie und der römischen Tradition in ihrem Zweck vieldeutig werden können, wie hinter vorgegebenen Einteilungen ein ganz anderer .wirklicher' Redeplan derart verborgen ist, d a ß der H ö r e r des K u n s t p r o d u k t s nicht einmal mehr weiß, w a s ihm der Redner eigentlich einredet. Vielleicht mag das Ziel im Verhältnis zum A u f w a n d der Mittel bescheiden scheinen, zumal wenn man sich fragt, ob es an Cicero nicht Wertvolleres, Bleibenderes zu studieren gäbe als nun gerade die K n i f f e seiner advokatischen Dispositionskunst. Vielleicht mag man es überhaupt befremdlich finden, d a ß aus 78

Vgl. bes. NEUMEISTER 10, wo er zwischen einer auf den χαρακτήρ des jeweiligen Redners (so Dionysios v. Hai.) und einer auf das allgemein Mustergültige (so Quintilian) gerichteten Redeninterpretation unterscheidet. Natürlich lassen sich beide Betrachtungsweisen in concreto nicht scharf voneinander trennen. 77 Daß eine solche nicht nur bezüglich der elocutio, sondern auch der inventio/dispositio besteht, hat schon Tacitus (bzw. Aper in dial. 22) beobachtet und ist wohl unbestritten. Man setzt sie gewöhnlich in eine fortschreitende Emanzipation von den Schulregeln (CLARKE 89 f., KÖHLER passim), was in einem bestimmten Sinn auch sicherlich richtig ist. Vgl. auch den Aufsatz METTEs und F U H R M A N N I 37 f., 40. 78 Ich behandle sämtliche Reden dieser Zeit, mit Ausnahme der Verrinen und der Rede pro Fonteio (die im Zusammenhang der Repetundenreden dargestellt werden müßten) sowie der Rede pro Quinctio (aus dem einzigen Grunde, weil ich über die Natur dieses schwierigen Rechtsfalls mit mir selbst noch nicht völlig ins klare gekommen bin).

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dieser Arbeit der moralische Gesichtspunkt ausgeschlossen bleibt, daß, v o n Ciceros Absichten ganz zu schweigen, auch nicht einmal die Methoden seiner Redekunst kritisch gewertet werden: O b er eigentlich „überredet" oder „überzeugt", ob er (im Sinne des Rhetorikverächters K A N T ) mit „einer hinterlistigen Kunst" den Menschen die Freiheit des Urteils raubt 79 oder ob er (nach der Forderung neuer Rhetorikbewunderer) sie als Partner herrschaftsfreier Verständigung ansieht 80 und der Rhetorik eigentliches „Geschäft betreibt, die H u m a n i t ä t zu befördern" (Walter JENS) 8 1 . Ich weiß, daß sich die pädago79

Diese berühmte Ablehnung der Rhetorik (Krit. d. Urteilskraft, 1. Teil, §53, in: Werke, hrsg. v. W. WEISCHEDEL, Darmstadt 1957, Bd. 8, 431) darf nicht leichtfertig mit der anders motivierten Piatons gleichgesetzt werden (wie sich überhaupt Freunde und Feinde der Rhetorik hinsichtlich ihres Gegenstandes untereinander wenig einig sind). Vergleichbares ist gesammelt bei: H . GAUGER, Die Kunst der politischen Rede in England, Tübingen 1952, 200 f.; H . LEMMERMANN, Lehrbuch der Rhetorik, München o. J. (Goldmann TB 1443) 30 f.; G. STORZ, in: Der Deutschunterricht 18, 1966, 5 ff.; W. BARNER, Barockrhetorik, Tübingen 1970, 12 ff.; J. G O T H , Nietzsche und die Rhetorik, Tübingen 1970, 4 ff. (mit guter Trennung zweier Grundtendenzen der Rhetorikfeindschaft); JENS, Rhetorik 433 f. 80 Eine Rhetorik in diesem Sinn skizziert jetzt J. K O P P E R S C H M I D T , Allgemeine Rhetorik, Stuttgart usw. 1973 (vgl. auch ders., „Kritische Rhetorik" statt „Moderner wissenschaftlicher Rhetorik", in: Sprache im techn. Zeitalter 45, 1973, 18-58). Die gewöhnliche Auffassung als „Uberzeugungsstrategie" lehnt er als „reduktionistisches Rhetorikverständnis" ab (Vorrede S. 9 und passim), um stattdessen „Bedingungen einer intersubjektiven Verständigung zu buchstabieren, die weder theoretisch zwingend ist noch bloß arbiträr zufällt, sondern durch überzeugende Argumentation motiviert ist" (a. O.; die Formulierung ist übrigens mit geringer Veränderung übernommen aus J . H A B E R M A S , in: Hermeneutik und Ideologiekritik [s. oben Anm. 2] 123: HABERMAS neigt dazu, wie andere neue Philosophen, in der Rhetorik eine Art des Erkennens zu sehen). Das läuft weithin darauf hinaus, daß dasjenige, was in der Tradition moralische Postulate an den Redner waren („sagen, was man auch wirklich denkt" etc.), nun in die praecepta der Rhetorik im eigentlichen Sinn aufgenommen wird (S. 84 ff.: „Regeln des Persuasiven Sprechakts", das Kernstück des Buchs; die dispositio etwa bekommt nur eine halbe Seite: 161 f.). Ganz problematisch scheint mir die gelegentliche Berufung auf das Rhetorikverständnis von Piaton, Aristoteles, Cicero und Quintilian; aber das - wie überhaupt die wissenschaftstheoretische Bestimmung der Rhetorik in der Antike - bedürfte einer gesonderten Erörterung. Vgl. einstweilen die temperamentvollen Darlegungen von NEUMEISTER 17 ff. (problematisch zu Aristoteles!). 81 Von deutscher Rede, München (dtv) 1972, 32 (Schluß der Einleitungsrede, zuerst veröffentlicht 1969); zitiert von K O P P E R S C H M I D T a. O. (s. oben Anm. 80) 10, mit bezeichnender Auslassung. Die Konzeption des einzigen deutschen Rhetorikprofessors (vgl. besonders seinen glänzenden Artikel „Rhetorik" von 1971) schwankt zwischen der klassischen Ansicht von Gorgias und Cicero („Meisterin der Überredung", Rhetorik 433) und einer „eigentlichen" (S. 447), die etwa der von HABERMAS und (JENS' Schüler) K O P P E R S C H M I D T entspricht. Sonderbar, daß Isokrates, der doch dieser Auffassung von den antiken Rhetoren am nächsten käme, in diesem Zusammenhang fast nie zitiert wird.

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gische Zuversicht mancher Redeinterpreten heute oft gerade von einer s ο unterscheidenden Kritik einen Nutzen für die politische Erziehung verspricht. Aber weder können die Beispiele zur Nachahmung verlocken 8 2 , noch dürfte überhaupt die Zweiteilung der rednerischen Sprache in Herrschaftsinstrument oder Kommunikationsmittel objektiv recht faßbar sein, es sei denn, man meine damit nichts anderes als es mit der altehrwürdigen Einteilung der officia oratoris in das movere und docere gegeben ist, moderner geredet: in ein mehr emotionales und ein mehr rationales Argumentieren 8 3 . Denn im übrigen i s t Redekunst ihrem Wesen nach Herrschaft, und als Herrschaft wird sie von Cicero selbst gesehen und bewundert, als die flexanima atque omnium rerum reginaSi (Pacuvius ap. Cie. de or. 2 , 1 8 7 ) ;

oratio

sie ist die paradoxe Fähigkeit des Menschen, mit Hilfe nur des schwachen körperlosen Wortes andere zu lenken und zu zwingen. U n d wenn also eine rhetorische Erziehung im Sprachunterricht, wie sie heute - angesichts der zunehmenden Wichtigkeit gerade der mündlichen Rede - vielfach und sicherlich zu

Besonders abschreckend scheint mir jetzt: R. G Ü N T H E R , Die politische Rede (Sprache als Herrschaftsinstrument), in: H. THIEL, Reflexion über Sprache im Deutschunterricht, Frankfurt a. M. usw. 2 1973 ('1972), 143-163. Da soll den Schülern des 12. und 13. Schuljahrs ad oculos demonstriert werden, daß „eine Kontinuität zwischen NS-Reden und Politikerreden in der B R D " (S. 149) besteht; aber das Ergebnis der wenig tief dringenden Beobachtungen an Hitler und Helmut Schmidt ist, soweit es auf das genannte Beweisziel ankommt, nur das Selbstverständliche: daß hier wie dort zum Zweck der „Herrschaft" an die Gefühle appelliert wird; von Argumenten, die gerade ihm nicht einleuchten, sagt G Ü N T H E R , es seien keine. Der anspruchsvollere Rhetoriker H. GEISSNER (s. oben Anm. 8) weist die etwaige Entlarvung der „Rede als autoritäres Instrument" einer „rhetorische(n) Kritik" (S. 68 ff.) zu und trennt diese von der „rhetorische(n) Analytik" (S. 59 ff.), die ihrerseits in eine „Hermeneutik der Rede" (S. 45 ff.) eingeschlossen sein müsse. Die vorgelegten Musterinterpretationen zweier Reden von Kurt G. Kiesinger (S. 71 ff.) gehören bezeichnenderweise der „Analytik" an (S. 87: nur zaghafter Ansatz zur „Kritik"); auf diesem - gut philologischen Weg läßt sich eben zu einigermaßen brauchbaren Ergebnissen kommen. 83 Um das Selbstverständliche zu sagen: Da jedes Wort der Sprache seine Gefühlswerte hat - gerade auch ,ungefühlige' Vokabeln wie „nüchtern", „rational", „kritisch" können bei entsprechendem Publikum Rauschzustände erzeugen - , gibt es keine emotionsfreie Beweisführung. Sogar Aristoteles wagt das von ihm entdeckte Enthymem nur σώμα (Kernstück) της πίστεως zu nennen (rhet. 1354 A 1 5 ) ; πάθος und ήθος stehn daneben. 84 Vgl. Gorgias, VS 82 Β 11, 8 (Bd. 2, S. 290 D I E L S / K R A N Z ) λόγος δυνάστης μέγας εστίν; Eur. Hec. 816 Πειθώ . . . τύραννον; Cie. orator 128 παθητικόν . . . , in quo uno regnat oratio ... usw.

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R e c h t gefordert wird 8 5 , nicht nur der Einübung bestimmter politischer Ansichten, sondern, w i e es heißt, der Erkenntnis v o n „Ursachen, Mittel und Wirkung sprachlicher Prozesse" 8 6 dienen soll, d a n n müßten, meine ich, ausgehend v o n dieser unverschleierten Tatsache die verschiedenen M e t h o d e n rhetorischer Seelenlenkung gleichmäßig erläutert werden. U m es m i t einem ganz krassen u n d schon fast peinlichen Beispiel zu sagen: Es gibt z w i s c h e n einer ,Durchhalterede' des Konsulars Cicero ( w i e den späteren Philippiken) u n d einer entsprechenden R e d e des gewesenen deutschen Propagandaministers z w a r g e w i ß ungeheure Unterschiede hinsichtlich des persönlichen Ernstes w i e des publikumbedingten Stils, Unterschiede, deren Studium sich w a h r h a f t i g lohnt 8 7 ; mit einer Trennung jedoch w i e der v o n „Rhetorik u n d Propaganda" 8 8 , „Überzeugen und Uber-

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Vgl. besonders die nützlichen Arbeiten von Th. PELSTER, Deutschunterricht 24, 1972, H e f t 2, 46-76; Wirkendes Wort 21, 1971, 373-389; Rede und Rhetorik, Düsseldorf 1973; U. GAIER, Deutschunterricht 24, 1972, H e f t 5, 64-93; einiges Ältere bei K O P P E R S C H M I D T (s. oben Anm. 80) 200 A. 9. In der Didaktik des Lateinischen scheint die Aufgabe noch wenig erfaßt zu sein; vgl. bes. die beiden Rhetorikhefte des A U (10, 1967, H e f t 2; 11, 1968, H e f t 4), die viel Wertvolles bieten, nur kaum eine Hilfe f ü r die wirklich rhetorische Interpretation. Bezeichnend für die Situation ist etwa, daß die Schullektüre der - f ü r Cicero recht untypischen - Pompeiana in der neueren fachdidaktischen Literatur damit begründet wird, daß sie „vorbildlich klar gegliedert" sei, die „altrömischen virtutes" oder das zeitlose Wesen der „Autorität" erschließe; wogegen dann auch eingewendet wird, sie entbehre doch „des verpflichtenden Gedankens". Die vordringliche Aufgabe ist m. E. richtig gesehen in: M. v. A L B R E C H T / H . VETTER, Ciceros Rede pro Archia, Heidelberg 1970, 6; indirekt auch f ü r das Rhetorische sehr nützlich ist jetzt der Aufsatz von R. V I S C H E R , Ciceros In Verrem actio prima als problembezogene Lektüre A U 17, 1974, H . 2, 26-49. 8 " So die Hessischen Rahmenrichtlinien f ü r das Fach Deutsch (S. 65, zitiert nach D . C. K O C H A N , in: Praxis Deutsch 1, N o v . 1973, 12). 87 Den Abstand zur klassischen Rhetorik betont H . H E I B E R (Hrsg.), Goebbels-Reden, Bd. 1, Düsseldorf 1971, S. X V I I I ff., wobei er von dieser allerdings ein eindeutiges Bild gibt. 88 So der Titel eines Aufsatzes des Germanisten Hans MAYER, in: Festschr. G. LUKÄCS, Neuwied/Berlin 1965, 119-131 (verfaßt schon 1955, s. S. 619; davon angeregt: F. K A R S C H , Die Sprache der politischen Propaganda, Gesch. in Wiss. u. Unterr. 19, 1968, 218-229; vgl. auch L. W I N C K L E R , Studie zur gesellschaftl. Funktion faschistischer Sprache, F r a n k f u r t a. M. 1970, 40 f., mit Lit. in den Anm.). Summarisch formuliert ist f ü r MAYER die antike Rede „Rhetorik" (= „Rede als Argument"), die moderne Massenrede „Propaganda" (= „Herstellung emotionaler Zustände"); die Extreme: Cicero und Goebbels, dazwischen Mark Anton bei Shakespeare. (Der abwertende Gebrauch von „Propaganda" scheint übrigens z. Z. nur bundesdeutsch zu sein; vgl. die DDR-Rhetorik von G . K L A U S , Die Macht des Wortes, Berlin »1972, 31.) Dabei macht MAYER gute Beobachtungen zur Eigenart der Redekunst in totalitären Staaten; er übersieht aber doch, daß fast alles davon im Ansatz schon in der Antike vorhanden ist (Wichtigkeit der optischen „Inszenierung", Provokation bestimmter Äußerungen des gesteuerten Massenwillens, periodische Entspannung durch Gelächter): Ciceros erste Catilinaria, die er (feiner als meist die klassischen Philologen) in-

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reden" - die antike R h e t o r i k hat ja für beides nur ein Wort 8 9 - w ä r e hier w o h l nicht viel erhellt. In der T a t sind auch die Selbstzeugnisse der beiden so verschiedenen Redner, w a s die E i n s c h ä t z u n g ihrer seelenlenkenden K u n s t angeht, nicht gar so unähnlich: cedant arma togae, concedat laurea linguael „Es m a g vielleicht schön sein, über die Bajonette zu gebieten, aber schöner ist es, über die H e r z e n zu gebieten!"* 0 Ist also unter einem rhetorischen — u n d das k a n n zugleich auch h e i ß e n : einem pädagogisch-politischen Gesichtspunkt - das S t u d i u m gerade v o n Ciceros R e d e n nützlich, dann darum, w e i l er so besonders reich u n d v i e l f ä l t i g ist an Überredungsmitteln, weil ihn die W e i t e seiner Persönlichkeit, B i l d u n g u n d -

terpretiert, ist doch nicht recht repräsentativ - schon die zweite oder dritte gäbe ein anderes Bild - ; und vor allem lassen sich natürlich Ciceros Äußerungen über die ausschlaggebende Wichtigkeit des emotionalen Appells (orator 69 u. ö.) nicht aus der Welt schaffen. Will man zwischen Rhetorik und Propaganda (in Art der NS-Zeit) einen Unterschied machen, sollte dieser m. E. außerhalb der Rede im engeren Sinn liegen: darin, daß der Propagandist allein zu Wort kommt, während .demokratische Rhetorik' stets das audiatur et altera pars des athenischen Richtereids (Dem. cor. 2) gelten läßt (vgl. M A Y E R selbst S. 123 f.). Aber alles Emotionale als „Sprache der Propaganda" zu verteufeln, die „an einem autoritär hierarchischen und daher antidemokratischen Gesellschaftsmodell von Elite und Masse orientiert" wäre (so K A R S C H a. O. 228, die Ludwig Erhard interpretiert), scheint mir untunlich: Nicht Sprache als Herrschaft sollte man bekämpfen, sondern Sprache als Alleinherrschaft. 89 Πείθειν bzw. persuadere; die uns geläufige Unterscheidung geht nicht zuerst auf K A N T (zu ihm K O P P E R S C H M I D T [s. oben Anm. 8] 150), sondern o f f e n b a r schon auf H A L L B A U E R (1736) zurück (U. S T Ö T Z E R , Deutsche Redekunst im 17. und 18. Jahrhundert, Halle 1962, 103; vgl. auch J . / W . G R I M M , D t . Wörterbuch X I 2 [1913], 677); dahinter steckt F f i N f i L O N s Gegenüberstellung von „conviction de la philosophie" und „persuasion de l'eloquence" (in Dialogues 2, vgl. J E N S , Rhetorik 446). Der letzte mir bekannte Versuch einer synonymischen Unterscheidung (GEISSN E R [s. oben Anm. 8] 54 f.) l ä u f t im Grunde wieder auf docere und movere hinaus (mit einer gewissen Einschränkung). - Ein sprachlicher Sinn der Antithese liegt übrigens in der aristotelischen Trennung von ατεχνοι und εντεχνοι πίστεις (Zeugen Argumente des Redners selbst); klar, daß sich der Hausmannsverstand lieber von Zeugen als von ausgetüftelten Überlegungen „überzeugen" läßt. 90 Cie. ap. Quint, inst. 11, 1, 24; Goebbels-Reden (s. oben Anm. 87) Bd. 1, 232 (vgl. auch S. 106); diese Rede vor den G a u - und Kreispropagandaleitern in N ü r n b e r g (16. 9. 1935) ist neben dem berühmten einschlägigen Kapitel von „Mein K a m p f " (Bd. 2, Kap. 6, München 25 1933, 518 ff.) vielleicht die wichtigste ars rhetorica der NS-Zeit, übrigens viel mehr als dieses an klassischen praeeepta orientiert (vgl. etwa S. 238 f. über „begeistern" und „belehren" als officia oratoris; sehr bezeichnend, daß das delectare, f ü r Cicero doch auch ein Uberzeugungsmittel, fehlt). Goebbels hat bekanntlich auch Latein studiert, und das angeführte Zitat mag vielleicht sogar eine Reminiszenz sein. Im Stil der Reden selber ist der Einfluß Ciceros gering (anders o f f e n b a r beim Agitator Lenin, vgl. die interessante Bemerkung von B. E I C H E N B A U M , in: F. M I E R A U [Hrsg.], Sprache und Stil Lenins, München 1970, 56).

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Zu Gegenstand und Methode

hier darf man es sagen - Humanität®1 befähigt, auch schwierigste Beweisgänge faßlich zu machen"2, vielschichtige Charaktere und Handlungen plausibel zu gestalten93, verschiedenste Gefühle mit feinem Instinkt wachzurufen 94 und dabei - worum es uns hier gehen soll - dies Ganze der Rede so zu organisieren, daß sie mit sanfter, aber unwiderstehlicher Gewalt die Hörer an das gewünschte Ziel bringt. Es ist diese Fülle — copia im weitesten Sinn genommen - , die Cicero wohl vor allen Rednern, nicht nur des Altertums, auszeichnet. Wie immer man aber über den Nutzen dieser Untersuchung denken will, zu einem guten Stück hat sie ihren Lohn auch in sich selber. Ich jedenfalls wäre es zufrieden, wenn ich meinem Leser nur ein weniges von dem Vergnügen mitteilen könnte, das ich selbst gehabt habe, als ich den taktischen Überlegungen des so geistvoll disponierenden Advokaten Cicero nachging.

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humanitas meint auch das menschliche Einfühlungsvermögen des Redners (Cie. S. Rose. 46) und Richters (Cie. Cael. 75). 92 Bewundernswert bes. die nationalökonomischen Ausführungen in Verr. II 3, die philologischen Sprachanalysen in P r o Caecina und Pro Tullio u. ö. Cicero als Didaktiker verdient noch eine Würdigung. 9:1 Schon in Pro Quinctio ist die Gestalt des scurra Naevius meisterlich, wie überhaupt Cicero in den Charakterbildern seiner Gegner das Beste gibt. N u r die bösen Drei: Catilina (vgl. aber auch Cael. 12 f.!), Clodius und Mark Anton sind vollkommene Schurken (wie stets die Widersacher des Demosthenes, die aber nicht diese pralle Fülle des Bösen haben); in der Regel wird auch das verurteilte Handeln aus einer individuellen und z . T . sogar sympathischen Persönlichkeit hergeleitet; das Großartigste ist C a t o in Pro Murena, aber auch Schufte wie Piso und Gabinius sind herrliche Individuen. Eine Untersuchung hätte besonders auf den Einfluß der Komödie zu achten. 94 D a ß Cicero im Wechsel von Rührung zu H u m o r (Brut. 290 risus cum velit, cum velit fletus) dem Demosthenes überlegen ist, weiß schon die antike Kritik ( W E I S C H E 187); sonst dürfte der Grieche freilich der noch Affekt-Mächtigere sein.

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Exkurs: Zur These von Jules HUMBERT und dem Problem der schriftlichen Redaktion von Ciceros Gerichtsreden

Jules HUMBERTs Buch mit dem programmatischen Titel „Les plaidoyers ecrits et les plaidoiries reelles de Ciciron" hat in dem halben Jahrhundert seit seinem Erscheinen (1925) ein seltsames Schicksal gehabt. Einerseits kann man heute feststellen, daß die von HUMBERT vertretene These in der praktischen Erforschung von Ciceros Reden nur eine relativ bescheidene Rolle gespielt hat, und oft muß man zweifeln, ob die Autoren, die HUMBERT zitieren, ihn überhaupt genau gelesen haben 1 . Andererseits aber - und dies ist das Erstaunliche haben wenigstens die Hauptgedanken HUMBERTs bei denen, die sie kennen oder kennen sollten, fast uneingeschränkten Beifall gefunden. Schon die (wenigen) Rezensenten äußerten vorwiegend Zustimmung 2 ; bei S C H A N Z / H O S I U S liest man, daß das Verhältnis von geschriebener und gesprochener Rede von HUMBERT richtig beurteilt sei 3 ; Rhetorik- und Cicerospezialisten wie Wilhelm KROLL, M. L. C L A R K E und Alain MICHEL haben in wichtigen Punkten zugestimmt 4 ; und so wird denn in den beiden jüngsten Forschungsberichten zu Ciceros Reden HUMBERTs Buch als fast unumstrittenes Fundament behandelt.

Vgl. C.HÖEG, in: Dragma, Festschr. M. P. NILSSON, Lund 1939, 264: „the excellent monography by Jules HUMBERT . . ., a book which seems however to be more praised than read." Oft gilt HUMBERT einfach als Vater der Erkenntnis, daß Cicero seine „Reden mehr oder weniger stark umarbeitete, bevor er sie dem Urteil der Nachwelt übergab" (M. DELAUNOIS, in: KYTZLER 353) - in bestimmter Weise das Gegenteil von dem, was HUMBERT gewollt hat. 2 Vorbehaltlos einverstanden: A. KLOTZ, PhW 46, 1926, 1267-1270 (das Referat nicht ganz zuverlässig); fast vorbehaltlos: P. SHOREY, CPh 21, 1926, 93. Skeptisch war A . C . C L A R K (CR 41, 1927, 75 f.), der schon gute Einwände zu einzelnen Punkten (leider nicht zur Hauptfrage der „tours de parole") vorgebracht hat. 3 Bd. 1, 453. 4 KROLL, Rhetorik 1104; RhM 86, 1937, 136 f. (mit Vorbehalten); CLARKE 84-86; MICHEL 386-389 (kritisch zu HUMBERTs Analyse von Pro Murena). Als das zum Problem einschlägige Standardwerk erscheint HUMBERTs Buch etwa bei NISBET 79 A. 6; R. TILL, LexAW 2568; THIERFELDER 389 A. 6; in den Literaturgeschichten von E.BICKEL (Heidelberg 2 1961, 344), A. ROSTAGNI (Bd. 1, Torino 1954, 456); Ε. BIGNONE in der seinen nennt ihn allerdings „alquanto audace (Bd. 3, Firenze o. J. [1950] 515); skeptisch auch KENNEDY, Art of rhetoric 277. Merkwürdig ist, daß L. LAURAND zu HUMBERT nie Stellung genommen hat; wenn ich recht sehe, erwähnt er ihn nicht einmal bibliographisch. [Zusatz: Nachträglich wird mir bekannt: 1

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Zur These von Jules Humbert

S . F . B O N N E R : „ A s a whole, H U M B E R T ' S thesis has remained uncontroverte d . " A . E . D O U G L A S : „ H U M B E R T . . . argued that Cicero's speeches c o u l d not h a v e been delivered in the published form. H i s arguments, so f a r as I know, h a v e not been r e f u t e d . " 5 D a ich nun diese unwiderlegte These H U M B E R T S im wesentlichen für falsch halte und d a eine G r u n d v o r a u s s e t z u n g meiner A r beit hinfällig wäre, wenn er recht hätte, so kann ich auf eine Auseinandersetzung mit dem Wichtigsten" nicht verzichten". D a s ist freilich ein mühseliges G e s c h ä f t , aber einmal sollte es nun doch getan werden. Im Buch H U M B E R T s wird der Versuch gemacht, f ü r die Interpretation v o n Ciceros Gerichtsreden in verstärktem M a ß e das heranzuziehen, was wir über den äußeren Verlauf des römischen Prozesses, v o r allem des Strafprozesses, wissen b z w . erschließen können. N u r von hier aus, meint H U M B E R T , lasse sich das (schon in der Antike aufgeworfene) Problem des Verhältnisses von publizierter und tatsächlich gehaltener R e d e f ü r Cicero zu einer befriedigenden L ö s u n g bringen 7 . H U M B E R T konstatiert zunächst die Widersprüche, die zwischen den rhetorischen Dispositionsregeln und der wirklichen Disposition von Ciceros Reden bestehen 8 . Seine allgemeinste E r k l ä r u n g d a f ü r ist die, d a ß die rhetorische Theorie, wie in Griechenland entstanden, so auch eigentlich nur auf griechische Prozeßverhältnisse a n w e n d b a r sei, nicht auf die römischen. Diese Verschiedenartigkeit von griechischer Theorie u n d römischer P r a x i s hätten nun freilich, meint er, schon die R ö m e r selbst nicht richtig erkannt, und so

J . N . S E T T L E , The publication of Cicero's orations, Diss. Univ. of North Carolina 1962. S E T T L E beschränkt seine allgemeine Kritik an H U M B E R T auf ein Zitat aus C L A R K (s. oben Anm. 2; S E T T L E S . 6 2 ) ; auch auf H U M B E R T s Einzelanalysen geht er k a u m ein. s B O N N E R 423; D O U G L A S 14 (an die einzelnen Analysen H U M B E R T s scheint er allerdings nicht zu glauben, vgl. S. 15); vgl. auch seine N o t e zu Cie. Brut. 91, Z. 7 ( H U M B E R T s Hauptthese als bewiesen). β Ich gehe also nicht ein auf die ersten Kapitel (S. 23-60), wo H U M B E R T ζ. T. siegreiche Feldzüge gegen Ansichten von Z U M P T , P O I R E T und J . Η . A. E S C H E R (De testium ratione quae Romae Ciceronis aetate obtinuit, Diss. Turici 1842) führt, Ansichten, die aber schon i. J . 1925 eine Widerlegung kaum mehr verdienten. H U M B E R T berücksichtigt nicht die Behandlung des römischen Strafprozesses durch G R E E N I D G E , er erwähnt kaum M O M M S E N s Strafrecht; unbekannt scheint ihm auch M O M M S E N s wichtige Rezension zu E S C H E R , in: Juristische Schriften, Bd. 3, Berlin 1907, 500-512 (zuerst 1844). 7 Die wichtigsten älteren Bearbeitungen der Frage sind - abgesehen von Quintilian (inst. 12, 10, 49-57), Plinius d. J . (epist. 1, 20, 7 ff.) - : J . M A R T H A , R C C 13, 1, 1904/ 1905, 301-305, D R U M A N N / G R O E B E V I 546-548, L A U R A N D I 1-23 (vortrefflich), die Diss, von O P P E R S K A L S K I . Daneben gibt es natürlich viele Literatur, wo nur einzelne Reden unter diesem Aspekt behandelt sind; einen guten Forschungsbericht gibt B O N N E R 421 f f . 8 H U M B E R T 11 f., bes. 82 f.

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hätten sie - von wenigen Ausnahmen abgesehen - in der Theorie die griechische Tradition konserviert, sich aber in der rednerischen Praxis kaum darum gekümmert®. Worin sollen also diese Besonderheiten der römischen Prozesse liegen? (1) Während im griechischen Prozeß - dies glaubt H U M B E R T - das Zeugenverhör den Reden von Anklage und Verteidigung vorhergehe10, hat es bei den Römern seinen Platz nach diesen Reden. (2) Im Strafprozeß können (vor allem in der Zeit der späten Republik) mehrere Redner zugleich auftreten, und zwar sowohl für die Anklage wie für die Verteidigung. (3) Die Reden der Anwälte würden nach römischem Usus durch ausführliche Repliken der Gegenseite unterbrochen. Der Redner halte also für gewöhnlich gar nicht eigentlich ,eine' Rede, er spreche in mehreren „Redegängen" („tours de parole"), die jeweils verschiedene Situationen innerhalb des einen Prozesses voraussetzten11. (Dies ist der für die Disposition der geschriebenen Reden entscheidende Punkt.) Daraus sollen sich nun drei Eigenheiten der römischen Gerichtsrede bzw. der uns vorliegenden Reden Ciceros herleiten lassen. (1) Da der Verteidiger das von der Anklage bereitgestellte Beweismaterial (d. h. praktisch die klägerischen Zeugen) nur ungenügend kenne, sei er gezwungen, sich in seinem Plädoyer weniger mit dem eigentlichen Streitpunkt (dem crimen ipsum) als mit Dingen extra causam zu befassen. Daher die bei Cicero gewöhnliche Ausführlichkeit in der Behandlung der vita anteacta sowie die zahlreichen Digressionen12. (2) Wenn mehrere Redner in derselben Sache auftreten, könne die einzelne Rede nicht mehr das einheitliche Produkt sein, das die Theorie fordere. Die rhetorischen Dispositionsregeln hätten vielmehr eher - wie von Cicero selbst in De oratore II dargelegt — für den Gesamtkomplex der Plädoyers zu gelten, die in einer Sache gehalten wurden13. (3) Die uns vorliegenden Reden Ciceros („les plaidoyers ecrits") müßten als eine durch nachträgliche Redaktion entstandene Summa der in mehreren Etappen gehaltenen wirklichen Reden („les plaidoiries reelles") begriffen werden.

H U M B E R T 83 (mit einer m. E. abwegigen Theorie über den Streit der Schulen des Apollodoros und Theodoros). H U M B E R T berücksichtigt nicht, daß die Disposition der griechischen Redner kaum stärker mit der Theorie übereinstimmt als die Ciceros; vgl. M I C H E L 389, N E U M E I S T E R 109 A. 183 (mit Verweis auf K R O L L , Rhetorik 1069). 10 H U M B E R T 68 (nachgesprochen von C L A R K E 85). In Griechenland treten die Zeugen bekanntlich erst während der Parteireden auf (Genaueres bei LIPSIUS III 881-884). 11 H U M B E R T 91 ff. 12 HUMBERT 69-73. 13 H U M B E R T 84-91.

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Daher vor allem rühre die „bizarrerie du plan": Ciceros Reden seien eben keine ,Einheit' in dem Sinne, daß sie die rednerische Bewältigung e i n e r Situation darstellten. U n d so müsse es denn die Aufgabe des Interpreten sein, dasjenige, was Cicero bei der schriftlichen Ausarbeitung zusammengefügt habe, wiederum z u scheiden, also hinter dem vorliegenden „plaidoyer ecrit" die Geschichte der „plaidoiries reelles" aufzuspüren 1 4 . (In diesem Versuch besteht der zweite Teil v o n H U M B E R T S Buch.) Wir werden sehen, daß diese Thesen sämtlich nicht stichhaltig sind; unser besonderes Interesse muß natürlich der dritten gelten. Zu (1): Wäre die ausführliche Behandlung der vita anteacta wirklich auf die Uninformiertheit des verteidigenden A n w a l t s zurückzuführen, so stünde zu erwarten, daß der Ankläger, der ja unter keiner solchen N o t w e n d i g k e i t steht, auf die entsprechende Erörterung verzichten würde. D a s Gegenteil ist der Fall, was auch H U M B E R T bemerkt. Er nimmt darum an, der Ankläger selbst habe gewöhnlich in seiner Rede die eigentlichen Klagepunkte nur ungenügend entwickelt b z w . wichtiges Beweismaterial zurückgehalten, um damit die Verteidigung im zweiten Teil des Prozesses zu überrumpeln 15 . Aber einmal finden wir in Ciceros Verteidigungsreden kaum einen H i n w e i s darauf, daß eine solche Taktik angewandt wurde 1 6 ; und erst recht fragwürdig erscheint H U M B E R T s 14

H U M B E R T 97 f., 253 ff., s. bes. 5-12, 253 f., wo sich H U M B E R T von der bisherigen analytischen Forschung zu Ciceros Reden abgrenzt. Er verschweigt dort allerdings, daß er bereits in Z U M P T (den er vielfach bekämpft) einen Vorläufer gehabt hat. Dieser schreibt (Criminalprocess [1871] 211 f.) über die Verfahrensordnung vor dem Schwurgericht: „Der zweite Grund für die Schwierigkeit des Erkenntnisses liegt darin, dass die Ciceronischen Reden . . . nicht so geschrieben, wie gehalten wurden. Sie geben uns kein genaues Bild der Processe, über welche sie handeln. Absichtlich wird dasselbe zurückgedrängt: zum Theil sind sie aus verschiedenen kleineren Reden, die gehalten wurden, zusammengefügt." (In der Anm. beruft sich ZUMPT auf Ascon. p. 62 = p. 50, 11 ff. STANGL, was unberechtigt ist, s. unten S. 38). ZUMPTs Ansicht, welche an Ciceros Reden zu verifizieren ihm nicht gelungen war - vgl. S. 222 zur Cluentiana, S. 224 zu Pro Sulla: Z U M P T glaubt jeweils an zwei actiones, in denen Cicero gesprochen hätte, gibt aber keine Beweise - , wurde, wenn auch in vorsichtigerer Formulierung, anerkannt von S T R A C H A N - D A V I D S O N (II 114); ebenso jetzt auch K U N K E L , Quaestio 763, 3 ff. Auf die Erforschung der einzelnen Reden Ciceros ist sie m. W. ohne Einfluß geblieben. 15 H U M B E R T 69. 18 H U M B E R T setzt sie an für alle Repetundenprozesse, an denen Cicero mitgewirkt hat (s. dazu unten S. 45 ff.), außerdem für den Plancius-Prozeß (HUMBERT 181 f.), wo Cicero ausdrücklich gegen dieses Verfahren protestiere. Aber die zur Stützung dieser Ansicht angeführten §§ 47, 48, 54 sind nicht beweiskräftig. In § 47 protestiert zwar Cicero in der Tat dagegen, daß der Ankläger Laterensis das Sodalizienvergehen bezüglich der tribus Teretina nicht nachgewiesen habe. Aber wenn er ihn auffordert, dies zu tun (.. . doce sequestrem fuisse, largitum esse etc.), so doch offenbar, weil er sicher annimmt, daß Laterensis nicht dazu in der Lage ist, nicht weil er ohnehin mit einem überraschenden Schuldnachweis beim locus testium rechnen würde. (Tatsächlich mußte hier f ü r Laterensis ein Zeugenbeweis schwierig sein, da die tribus Teretina Heimat-

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These, wenn wir die attischen Redner vergleichen 17 . Die Verhältnisse sind dort dieselben wie bei Cicero: Zumal wenn ein Prozeß einigermaßen politisches Gewicht hat, verwendet der Redner einen großen Teil der ihm zur Verfügung stehenden Zeit darauf, den Angeklagten bezüglich vita et mores anzuschwärzen bzw. reinzuwaschen 18 . Wenn hier also ein Widerspruch zwischen Theorie und Praxis besteht - und dies ist in gewissem Maße allerdings richtig - , dann handelt es sich jedenfalls nicht um einen Widerspruch von griechischer Theorie und römischer Praxis. Zu (2): Ähnliches gilt für den Brauch, mehrere Redner in derselben Sache auftreten zu lassen. Es ist H U M B E R T entgangen, daß wir dies - w e n n auch nicht ganz im selben Maße - schon im attischen Prozeß finden. So sind etwa die berühmten Reden des Demosthenes gegen Leptines, gegen Androtion und gegen Aristogeiton sogenannte δευτερολογία»,; und auch sein Meisterwerk, die Kranzrede, stellt wenigstens streng formal nur eine zweite, unterstützende Rede für den beklagten Ktesiphon dar". Es ist in der Tat ein Mangel der rhetotribus des Plancius, diesem also besonders wohlgesonnen war.) Ähnliches gilt für § 48, wo Cicero genauere Personenangaben der sequestres und divisores verlangt, auch hier, ohne irgendwie anzudeuten, daß der Ankläger diese absichtlich zurückgehalten habe. (Man muß beachten, daß es sich dabei um gewöhnliche crimina ambitus, nicht crimina sodalicii handelt; die ersteren sind in unserem nach der lex Licinia d. J. 55 geführten Prozeß juristisch nicht relevant, und so dürften sie von Laterensis mehr summarisch behandelt worden sein.) Bleibt nur § 54: nam quod questus es pluris te testis habere de Voltinia quam quot in ea tribu puncta tuleris .. . Ich sehe keinen Grund für H U M BERTS Annahme, daß diese Zeugen ohne „charge precise" vom Ankläger eingeführt worden wären: Laterensis wird wohl gesagt haben, daß die Leute der tribus Voltinia eben das bezeugen können, was Cicero bezüglich der tribus Teretina in § 47 gefordert hat: . . . sequestrem fuisse, largitum esse etc. Und wenn Cicero diese Zeugen hier so rasch abtut, so nicht aus Mangel an Konkretheit der crimina, sondern einfach darum, weil gegen sie schlechterdings nichts Schlagendes vorzubringen ist. Da sie nämlich, worauf Laterensis in dem zitierten Satz hinweist, diesen bei der Aedilenwahl - wenigstens zu einem Teil - nicht gewählt haben, sind sie nachweislich unparteiisch (was von etwaigen Entlastungszeugen aus der tribus Teretina [vgl. zu § 47 oben] nicht gelten kann!). - Daß gelegentlich einmal Dinge für den locus testium reserviert wurden, ergibt sich allerdings aus S. Rose. 82: si quid est quod ad testis reservet. . .; Cael. 63 atque equidem vehementer exspectabam quinam isti viri boni testes huius manifesto deprehensi veneni dicerentur; nulli enim sunt adhuc nominati (vgl. auch Anm. 77 zu S. 261); Quint, inst. 7, 10, 13 (diese Stellen übrigens nicht bei HUMBERT). Vgl. auch zum Roscius-Prozeß S. 64 f. 17 HUMBERT zieht sie so gut wie nirgends heran und kommt so zu vielen Irrtümern. 18 Genaueres auf den Seiten 253-255. Den locus de vita anteacta bei den Griechen kennt übrigens HUMBERT selbst im zweiten Teil seiner Arbeit (S. 151 f. [vgl. unten Anm. 59 zu S. 255], wo er durch HALMs Note zu Cie. Sull. 69 darauf aufmerksam gemacht sein dürfte); im ersten ignoriert er ihn. 19 LIPSIUS 3, 906-910; K. LATTE, „Synegoros", RE IV A 2 (1932) 1353 f.; vgl. auch G. KENNEDY, The rhetoric of advocacy in Greece and Rome, AJPh 89, 1968, 419-436.

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rischen Theorie, daß sie diese Praxis der δευτερολογία so wenig oder gar nicht berücksichtigt 20 ; und man kann also einen gewissen Fortschritt darin sehen, wenn Cicero an einer Stelle in De oratore (2,313 f.) ein f ü r die Anordnung der Argumente innerhalb e i n e r oratio traditionelles praeceptum analogisch auf die Anordnung mehrerer Reden untereinander überträgt 21 . Die Schlüsse aber, die H U M B E R T hieraus zieht: daß der ganze Abschnitt de dispositione (§§ 307 bis 332) über die Anordnung des Redenkomplexes gehe, daß hier principium und peroratio so viel bedeute wie „Anfangs- und Schlußrede", daß schließlich Cicero - das ist das Kühnste - in all den Prozessen, wo er die Verteidigung leitete, sowohl am Anfang wie am Ende gesprochen habe, dies alles steht nicht nur in keiner Beziehung zum interpretierten Text, sondern, wenigstens was die ersten Punkte angeht, geradewegs im Widerspruch dazu. Das haben übrigens schon K R O L L und CLARK gesehen22. Zu (3): Wir kommen nun zur wichtigsten Frage. Wären Ciceros Gerichtsreden tatsächlich das Ergebnis von H U M B E R T s „refonte totale" verschiedener Reden aus verschiedenen Situationen, so könnten wir sie allerdings nicht mehr als Einheit, d. h. als in sich geschlossenen „Oberredungsprozeß" 2 3 begreifen. Dies fordert denn auch H U M B E R T : In Cicero habe der Advokat über den Künstler gesiegt; es sei ihm wichtiger gewesen, die Chronik des historischen

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HUMBERT übersieht immerhin Hermog. η. μεϋ. δειν. 27 (p. 444 RABE), wo über drei spezielle Aufgaben der δευτερολογία gehandelt ist. 21 atque etiam in illo reprehendo eos, qui, quae minime firma sunt, ea prima collocant. in quo illos quoque errare arbitror, qui, si quando - id quod mihi numquam placuit pluris adhibent patronos, ut in quoque eorum minimum putant esse, ita eum primum volunt dicere: res enim hoc postulat, ut eorum exspectationi, qui audiunt, quam celerrime succurratur. . . ergo ut in oratore optimus quisque, sie in oratione firmissimum quodque sit primum; dum illud tarnen in utroque teneatur, ut ea, quae excellent, serventur etiam ad perorandum; si quae erunt medioeria - nam vitiosis nusquam oportet esse locum, in mediam turbam atque in gregem coicientur. - Ganz unrichtig meint MICHEL (S. 388 f., angeregt durch HUMBERT), dieses Prinzip („Schwaches in die Mitte", auch genannt ordo Homericus, vgl. Δ 299) sei aus der römischen Praxis der Redneranordnung auf die Anordnung der Argumente übertragen worden. Die zitierte Stelle würde schon allein das Gegenteil nahelegen; dazu kommt die griechische' Parallele Rhet. Her. 3, 18. (Sonstige Nachweise zu dem praeceptum, auch aus späteren griechischen Rhetoren, bei V O L K M A N N 367 f. und KROLL zu Cie. orat. 50, wozu ich nachtrage: Quint, inst. 6, 4, 22, Iul. Sever, p. 357, 5 ff. und 359, 19 ff. HALM, Schol. Bob. ad Mil. 8, p. 114, 5 ST.) 22 KROLL, RhM 86, 1937, 137 Anm., CLARK, CR 41, 1927, 75. Ganz verfehlt ist auch die Auslegung von Cie. Brut. 208 f. (HUMBERT 90 A. 4 mit zu knappem Zitat): Cicero sagt hier nicht, daß die einzelnen Reden ,organisch' zu verbinden wären; er meint vielmehr, die Anordnung mehrerer Reden in derselben Sache habe notwendig etwas .Unorganisches', da jede Rede in sich selbst schon ein vollständiger Organismus sei. Dies widerspricht also geradezu der These HUMBERTs. (Ciceros Gedanke hat übrigens kaum etwas gemein mit der Lehre des Apollodoros; unrichtig z. St. KROLL.) 2 » NEUMEISTER 71 ff.

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Prozeßverlaufs nachzuzeichnen, als einheitlich organisierte Kunstreden zu hinterlassen24. Aber worauf gründet sich überhaupt diese Theorie der verschiedenen „tours de parole" 25 ? H U M B E R T beruft sich auf verschiedene Dinge: zunächst auf die enorme Dauer der römischen Prozeßreden, dann auf die Zeugnisse Quintilians für den Prozeßverlauf, schließlich - das scheint das Gewichtigste auf Hinweise in Ciceros Reden selber. Was das erste anlangt 26 , so ist es allerdings wahr, daß sich jedenfalls in Repetundenprozessen die Reden der Anwälte oft über Tage erstreckt haben müssen; und H U M B E R T - auch wenn man seinen Berechnungen im einzelnen nicht trauen kann 27 - hat dies mit Recht nachdrücklich ins Bewußtsein gerufen.

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Vgl. besonders HUMBERT S. 262 ff., wo Cicero auf dieser Grundlage gegen die Kritiker seiner Reden verteidigt wird. 25 Natürlich leugne ich nicht, daß es in der antiken Prozeßrede Zwischenrufe gegeben hat, die etwa zu einer Rüge (vgl. Cie. orat. 138), zu einem Witzwort (Cie. de or. 2, 217 ff. passim) oder auch zu einem improvisierten Exkurs (Cie. part. 30, Quint. 4, 3, 16 f., vgl. auch schon Anaxim. rhet. 18) Anlaß gaben. Für die Senatsrede vgl. Cie. Catil. 1, 13 (richtig GELZER 87) und 1, 20. (Von Cassius Severus wird erzählt, daß er erst durch Zwischenrufe richtig in Fahrt kam: Sen. contr. 3, praef. 4.) Aber das hat so gut wie nichts zu tun mit den ausführlichen Repliken, wie sie HUMBERT für den römischen Prozeß ansetzt (anders bei den Griechen [S. 92]: „La legislation grecque avait prevu la replique [?], mais eile ne lui laissait qu'un temps tr£s court, quelques minutes [!].") 26 Von den beiden kaiserzeitlichen Zeugnissen (S. 74 f.), die HUMBERT für die Rededauer in republikanischer Zeit anführt, scheidet Plin. epist. 6, 2, 6 aus, da die dort erwähnten maiores nicht, wie HUMBERT offenbar meint, die republikanischen Vorfahren, sondern die Schöpfer der zur Zeit des Plinius geltenden Prozeßgesetze sind. Einschlägig ist dagegen in der Tat Tac. dial. 38; aber die dort gegebene Beschreibung der republikanischen Zustände ist nicht ohne handgreifliche Übertreibungen (modttm dicendo sibi quisque sumebat - aus Cie. Verr. act. pr. 32, Verr. II 1, 25 und Flacc. 82 ergibt sich, daß die Redezeiten zumindest im Strafprozeß der späten Republik gesetzlicher Regelung unterliegen, vgl. die folgende Anm.). 27 HUMBERT stützt sich besonders auf Cie. Flacc. 82: quid enim fuit quod ab eo [sc. Deciano, dem subscriptor des Anklägers] redimeretur? ut duceret indicium? cui sex horas omnino lex dedit, quantum tandem ex his horis detraheret, si tibi morem gerere voluisset? HUMBERT hat wohl recht, wenn er (gegen ZUMPT236, POIRET 208 und DU MESNIL z. St.) diese sechs Stunden nicht auf das Ganze der der Anklage zur Verfügung stehenden Zeit, sondern nur auf die Redezeit des subscriptor bezieht (so jetzt auch KUNKEL, Quaestio 764). Da nun im zufälligerweise erhaltenen Stadtrecht der Colonia Iulia Genitiva (Spanien) dem Ankläger vier und dem subscriptor zwei Stunden als Redezeit zugestanden sind, der Verteidigung wiederum das Doppelte von der Zeit der Anklage (K. G. BRUNS/O. GRADENWITZ, Fontes iuris Rom. antiqui, Tübingen 71909, 133; unrichtig MOMMSEN, Strafrecht 429 A. 1), glaubt HUMBERT eine sichere Grundlage für eine Berechnung zu haben. Er überträgt diese Zahlenverhältnisse analogisch auf die Prozesse gegen Flaccus und Scaurus und kommt so bei jenem (wo zwei subscriptores vorhanden sind) auf 48 Stunden für die Verteidigung, bei diesem (drei subscriptores) auf ganze 60 Stunden (S. 79-81). Es ist jedoch sehr

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Aber zum einen macht auch die längste Rededauer noch nicht unbedingt Unterbrechungen durch Repliken notwendig; zum andern ist es mehr als fraglich, ob sich diese Verhältnisse von den ganz ungewöhnlich stoffreichen Repetundenfällen auf andere, normale Kriminalverfahren übertragen lassen. HUMBERTs Paradestück, auf das er seine Beweisführung gründet, ist hier der Majestätsprozeß des Cornelius im Jahre 65. Wir erfahren nämlich vom jüngeren Plinius, daß Cicero (nach eigener Angabe) in diesem Prozeß vier Tage verteidigt habe (so auch Asconius in seinem Kommentar), und daß diese Verteidigung in „e i η Buch (Uber), ein großes zwar, aber doch eines" zusammengefaßt worden sei28. Da uns nun durch Asconius z w e i Reden pro Cornelio bezeugt sind, folgert H U M B E R T , daß Plinius offenbar nur die erste davon als wirkliche Rede anerkenne; bei der zweiten müsse es sich dann um eine zusammenfassende Redaktion der Zeugenbefragung handeln 29 . Fazit: eine viertägige oratio continua Ciceros, wahrscheinlich von Repliken unterbrochen. Aber diese Kombination ist von Grund auf verkehrt. Plinius spricht nicht von einer Rede (oratio), sondern von einem Buch (Uber)·, wie aber eine Rede vom Umfang der actio secunda in Verrem mehrere Bücher in Anspruch nehmen kann, so könnte doch wohl auch ein Buch, zumal „ein großes", zwei Reden (oder mehr) in sich aufnehmen. Und damit stimmt genau überein, was uns der notorisch gewissenhafte Asconius bezeugt - das ist zwar korrupt überliefert, soweit aber doch eindeutig (p. 50,11 ff. STANGL): Cicero, (ut) ipse significat, quadriduo Cornelium defendit: f duas [quas ST.] actiones contulisse cum [eum ST.] in duas orationes appareat [apparet ST.] f - Es gibt keinen Grund, warum Asconius hier irren sollte (wie H U M B E R T glaubt 30 ): Cicero hat aus einer viertägigen Verteidigung zwei Reden (in einem Buch) gemacht. Aber warum gerade zwei Reden? Die Lösung ist so einfach, daß sie längst gefunden sein müßte: weil es

fraglich, ob jedem subscriptor im Repetundenprozeß volle sechs Stunden zugestanden waren; eher möchte man doch meinen, daß sie sich in eine insgesamt zugemessene Zeit zu teilen hatten. Wir wissen ja auch nicht, ob in jeder actio alle subscriptores als Redner aufzutreten pflegten. (Auf den in Schol. Bob. p. 93, 28 ST. bezeugten subcriptor Baibus nimmt Cicero in Pro Flacco keinen Bezug.) Schließlich scheint das Verhältnis von 1 : 2 für die Redezeiten von Anklage und Verteidigung im römischen Strafprozeß nicht das übliche zu sein: Für die lex Pompeia de vi ist ein Verhältnis von 2 : 3 bezeugt (Ascon. p. 34, 6 f. ST.) und ebenso für zwei Prozesse der Kaiserzeit (Plin. epist. 4, 9, 9; Tac. ann. 3, 13). Dennoch sind die Redezeiten auch nach dieser Rechnung sehr groß: Cicero, der sich im Flaccus-Prozeß mit Hortensius in die Verteidigung teilt, müßte in der zweiten actio immer noch etwa zwölf Stunden gesprochen haben. 28 Plin. epist. 1, 20, 8: . . . ait se (sc. Cicero) ... pro Cornelio quadriduo egisse, ne dubitare possimus, quae per plures dies, ut necesse erat, latius dixerit, postea recisa ac repurgata in unum librum, grandem quidem, unum tarnen coartasse. 29 HUMBERT 43, 46 f.; zustimmend jetzt K. KUMANIECKI, Les discours egares de Ciceron Pro Cornelio, Brüssel 1970, 33, vgl. 29 f. 30 HUMBERT hat dies ausführlicher dargestellt in seiner (mir unbekannten) Arbeit: Contribution a l'etude des sources d'Asconius, Paris 1925.

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eben im Cornelius-Prozeß (wie auch sonst öfter) zwei actiones, d. h. zwei vollständige, in sich geschlossene Verhandlungsgänge mit je einer Anklage- und Verteidigungsrede und einem Zeugenverhör, gegeben hat 3 1 . Dies wird allein schon durch das erste Fragment der zweiten Rede bewiesen (Ascon. p. 62, 2 - 8 ST.), wo vorausgesetzt ist, daß drei Konsulare bereits Zeugnis abgelegt haben, das Zeugnis von zwei weiteren noch aussteht. Außerdem spricht Asconius j a auch ausdrücklich von duas actiones - daß die landläufige Verbesserung zu quas nicht richtig ist, hat H U M B E R T scharfsichtig erkannt 3 2 - ; und wie immer man den Text emendieren will 3 3 , klar ist jedenfalls, daß die bezeugten vier Tage nicht auf eine einzige oratio continua, sondern auf das Ganze der Verteidigung zu beziehen sind. Wenn man defend.it streng im Sinn der Verteidigungs r e d e verstehen wollte, müßte Cicero zweimal je zwei Tage gesprochen haben; wahrscheinlich aber bezeichnet es die Tätigkeit des Verteidigens im gesamten Prozeß 3 4 , so daß dann Cicero nur je an einem Tag eine Rede gehalten hat. Dies mag überhaupt die normale Redezeit gewesen sein. Wenn H U M B E R T etwa dem Verteidigungsplädoyer eines gewöhnlichen Mordprozesses wie dem des Roscius aus Ameria ganze vier Tage geben will 3 5 , so ist das von vorneherein kaum glaublich. Für die angeblichen „tours de parole" braucht es jedenfalls andere Beweise. H U M B E R T findet sie vor allem bei Quintilian. D a ist in inst. 12,3,2 von juristischen Problemen die Rede, quae subito inter ipsas actiones nasci solent3e. Aber natürlich muß man unter diesen actiones - das Wort ist bekanntlich vieldeutig - nicht die orationes continuae von Ankläger bzw. Verteidiger verstehen; gemeint sein können nach rhetorisch-juristischem Sprachgebrauch eben31 Das heißt, es hat comperendinatio bzw. ampliatio (MOMMSEN, Strafrecht 422424, KUNKEL, Quaestio 764 f.) stattgefunden, vielleicht vorgeschrieben durch die lex de maiestate. HUMBERT hat diese Möglichkeit immerhin erwogen (S. 41), sie aber abgelehnt, weil quadriduo defendit eine kontinuierliche Rede bezeichnen müsse. Vgl. im übrigen J. H. A. ESCHER, De testium ratione . . ., Diss. Zürich 1842, 128; ZUMPT 229, 506 f.; R. G. BECK, Quaestionum in Cie. pro Corn, orationes cap. IV, Diss. Leipzig 18 77. 32 HUMBERT 44 A. 2: actio müßte, was unmöglich ist (richtig MOMMSEN, Strafrecht 424 A. 3), den einzelnen „Verhandlungstag" bezeichnen; vgl. HUMBERT 54 ff. (gegen ZUMPT u. a.). 33 Richtig scheint mir: . . . defendit, (ut) duas actiones contulisse eum in duas orationes appareat. Das heißt: Asconius schließt schon aus der bezeugten Länge von Ciceros Verteidigung (quadriduo defendit), daß die beiden Reden verschiedenen actiones entstammen (Ton also auf duas actiones). Aber auf die Richtigkeit gerade dieser Verbesserung kommt es natürlich nicht an; und jedenfalls kann das Uberlieferte nicht, wie HUMBERT will (44 A. 2), in Ordnung sein: Allein schon das nachgestellte cum wäre unerträglich. 34 Auch beim locus testium und überhaupt durch seine Anteilnahme ,verteidigt' ja der Anwalt. 35 Siehe unten S. 42. 38 HUMBERT 91 f.

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Zur These v o n Jules H u m b e r t

sowohl die ganzen „Prozesse" bzw. „Prozeßgänge" (actio im technischen Sinn wie oben bei Asconius 37 ). Eine andere Stütze seiner Ansicht sieht H U M B E R T darin, d a ß Quintilian als erster Redetheoretiker die refutatio in einem besonderen Kapitel abhandle; mit dieser refutatio müsse die Widerlegung gegnerischer Repliken während der eigenen Rede bezeichnet sein38. Dies beruht jedoch auf einer evident unrichtigen Interpretation von inst. 5,13,1: refutatio dupliciter accipi potest: nam et pars defensoris tota est posita in refutatione [A], et quae dicta sunt ex diverso, debent utrimque dissolvi [B]. et hoc [B] est proprie, cui in causis quartus adsignatur locus, sed utriusque similis condicio est. Mit der zweiten Bedeutung [B] des Worts refutatio ist selbstverständlich nichts anderes als die Widerlegung der vom Gegner in seiner Rede vorgebrachten Argumente gemeint (bzw. der in Aussicht stehenden = anticipatio); refutatio ist hier dasselbe wie stets in der Rhetorik: der zweite Teil der argumentatio. N u n soll es aber in Ciceros Reden selbst verschiedene Bezugnahmen auf Repliken geben, „ou le doute n'est pas permis". An den Stellen, die H U M B E R T anführt, i s t der Zweifel erlaubt. Es sind die folgenden drei: S. Rose. 46: ,quid ad istas ineptias abist', inquies3". Es ist nicht einzusehen, warum dies nicht ein Einwand sein sollte, den Cicero sich selbst macht. An eine Zwischenrede des Anklägers Erucius zu denken, verbietet schon das Futurum. Cluent. 65 (Anrede an den formellen Ankläger Attius und den jüngeren Oppianicus): audete negare ab Oppianico Staieno iudici pecuniam datam,.. quid tacetis? § 84 ,at enim pecuniam Staieno dedit Oppianicus non ad corrumpendum iudicium, sed ad conciliattonem gratiae.' tene hoc, Atti, dicere...! minus... stultus est is cui nihil in mentem venit quam ille qui quod stulte alteri venit in mentem comprobat. Aus dem vermeintlichen Widerspruch dieser beiden Paragraphen gewinnt H U M B E R T folgende Prozeßgeschichte 40 . § 65 müsse einen Tag vor § 84 gesprochen worden sein. Attius habe nämlich zunächst keine Antwort auf Ciceros Frage gewußt; er habe aber (in der Nacht) einen advocatus konsultiert und rücke dann am nächsten Tag mit seiner Replik heraus, auf die Cicero wiederum in § 84 antworte. Ganz verkehrt! Der Mann, von dem die in § 84 referierte Version des Attius stammt, kann kein advocatus des Anklägers sein; es ist Staienus selbst, wie aus dem folgenden Satz (den H U M B E R T übersieht) zu erfahren ist: ita Staienus tum recenti re... istam dedit conciliationis et gratiae fabulam... (§86) verum alia causa tum Staieni fuit, alia nunc, Atti, tua est. Aber warum läßt Cicero den Attius nicht gleich in § 65 seine Version vortragen? Weil Cicero gar nicht danach gefragt hat. Attius hatte 37

M O M M S E N , Strafrecht 424. Zu actio = „Prozeß": K L O T Z , Th. 1. L. I 441, 49 f f . ; = „Prozeßgang": a. O. 443, 25 ff.; = „Prozeßrede": a. O. 443, 75 ff. (an manchen der angeführten Stellen ist etwas allgemeiner das rednerische Auftreten im Prozeß überhaupt bezeichnet). 38 H U M B E R T 84, 92. Übrigens hat schon Anaximenes wenigstens die προκατάληψις (anticipatio = refutatio des Anklägers) gesondert behandelt (rhet. 36, 19-28). 39 H U M B E R T 93 (angeregt wohl durch den Scholiasten z. St., s. unten S. 43). 40 H U M B E R T 94 mit Anm. 2, ausführlicher S. 116 f.

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(in seiner Rede) behauptet: „Staienus hat zwar in der Tat von Oppianicus Geld erhalten, aber nur zum Zwecke der Versöhnung'." Jetzt kann ihn Cicero gefahrlos auffordern: audete negare ...! (denn daß überhaupt Geld geflossen war, hat ja Attius schon zugegeben). Erst in § 84 setzt er sich genauer mit der positiven Behauptung des Attius auseinander. Etwas schwieriger ist Sull. 40. Cicero hat durch sorgfältige Interpretation des Senatsprotokolls vom 3. Dezember 63 nachgewiesen, daß sein der Teilnahme an der Verschwörung beschuldigter Klient durch die damalige Aussage der Allobroger nicht belastet wird. Jetzt heißt es: exclusus hac criminatione Torquatus [der Ankläger] rursus in me inruit, me accusat: ait me aliter ac dictum sit in tabulas publicas rettulisse. Klare Sache für H U M B E R T 4 1 : Torquatus habe sich (in der oratio continua) auf das Protokoll berufen, um daraus die Schuld Sullas nachzuweisen. Cicero widerlege dies, und jetzt (nach § 39) repliziere (rursusX) Torquatus mit der Behauptung, Cicero habe das Dokument gefälscht: „c'est a une altercation prolongee, que nous avons affaire." Man m u ß in diesem Fall zugeben, daß sich H U M B E R T s Auslegung mit dem Wortlaut wenigstens verträgt. Aber sie ist keineswegs wahrscheinlich. Torquatus mußte doch wohl sehen, daß sich auf dem Wortlaut des Protokolls kein Schuldbeweis gegen Sulla aufbauen ließ. (Dort war nur von einer Äußerung des L. Cassius berichtet, der gesagt habe, er wisse nicht, ob Sulla zu den Verschworenen gehöre). Es ist rein von der Sache her plausibel, daß er sich sofort auf die angebliche Ungenauigkeit des Protokolls berufen hat: Immerhin, konnte er dann sagen, sei ja sogar in diesem entstellten Dokument Sulla im Zusammenhang der Verschwörung wenigstens genannt. Sieht man nun genauer zu, so behauptet Cicero auch gar nicht, Torquatus habe aus den Worten des Protokolls die Schuld Sullas nachweisen wollen. Er verteidigt zwar Sulla tatsächlich so, als ob dies der Fall wäre (in den §§ 36-39); er referiert aber nur (§ 36): ab Allobrogibus Sullam nominatum esse diets. - quis negat? Wir haben es hier mit einer für Cicero ganz typischen Methode der Widerlegung zu tun: Er verabsolutiert (und verfälscht dadurch) einen logisch nur untergeordneten Teil des gegnerischen Arguments, der f ü r sich genommen leicht zu widerlegen ist, um dadurch den eigentlichen Hauptgedanken des Gegners als eine sekundäre Ausflucht (δευτέρα φροντίς) erscheinen zu lassen. Es wird sich in dieser Arbeit zeigen, daß ganze Reden Ciceros nach diesem Prinzip des logischen Hysteron proteron aufgebaut sind 42 . Vorläufig sei nur ein Beispiel f ü r einen partiellen Gebrauch genannt, der dem von Sull. 36 ff. etwa entspricht. Cael. 52 f.: Herennius Baibus, der Ankläger, hatte behauptet, Caelius habe von Clodia Gold genommen, vorgeblich zum Zweck von Spielen, in Wirklichkeit aber, um damit die Mörder des Philosophen Dio zu dingen. Cicero widerlegt dies, auf eine gewisse Vergeßlichkeit seiner Zuhörer rechnend, zunächst so, daß er von dem behaupteten Vorwand ganz absieht: quo quidem in crimine 41

HUMBERT 94, 146 f. Wie HUMBERT auch A. BOULANGER in der Einl. seiner Budi-Ausg. (1943), S. 102; anders HALM im Komm, zur Stelle. 42 Vgl. S. 91 ff., 136 ff., 165 ff.

42 Zur These von Jules Humbert primum illud requiro, dixeritne Clodiae quam ob rem aurum sumeret, an non dixerit. si non dixit, cur dedit? si dixit, eodem se conscientiae scelere devinxit N a c h großer αΰξησις zum zweiten Punkt heißt es dann: vidit hoc Baibus (!), celatam esse Clodiam dixit.. Ich sehe keinen Grund, warum Sull. 40 nicht ebenso zu interpretieren wäre: exclusus hac criminatione heißt dann: „weil er sah, daß er diese criminatio nicht bringen konnte"". Denn was rursns angeht, das H U M B E R T zu seiner Auslegung wohl inspiriert hat (Torquatos rursus in me irruit = „Le voilä de nouveau qui fonce sur moi"), so muß darin durchaus nicht die Andeutung einer zweiten Rede des Torquatus liegen. Dieser hatte in seiner Rede nicht nur Sulla angegriffen, sondern besonders auch Cicero, weil er einen solchen Fall übernommen habe; darauf hat Cicero schon vorher geantwortet (§§ 2 ff.), jetzt heißt es: „Nachdem er diesen Vorwurf (gegen Sulla) nicht erheben kann, geht er schon wieder auf m i c h los." 46 Dies sind alle Beweise, die H U M B E R T im ersten, allgemeinen Teil seiner Arbeit für seine Redaktionsthese vorlegen kann. Im zweiten versucht er, durch eine Interpretation der Reden die Probe aufs Exempel zu liefern. Da diese Untersuchungen indirekt auch zum Beweis beitragen, müssen wir sie wenigstens kurz durchmustern 47 . Ich beschränke mich dabei natürlich auf das f ü r die Frage der „tours de parole" Wichtige. Wo schon andere gegen H U M B E R T begründeten Widerspruch erhoben haben, kann auf die nähere Auseinandersetzung verzichtet werden. P r o S. R o s c i o A m e r i n o 4 8 : H U M B E R T unterscheidet hier vier „prises de parole" Ciceros, die sich mit den Tagen (bzw. „audiences") seiner Rede decken sollen und vor deren letzter der Ankläger Erucius das Wort ergriffen 43

D e r Satz, w e n n richtig überliefert (vgl. A U S T I N z. St.), ist zu erklären als Kontamination von (1) eodem se scelere devinxit, (2) je conscientiae scelere devinxit. 44 Bis in die Einzelformulierung hinein geht die Übereinstimmung dieser refutatio mit der von § § 6 1 f. Sehr ähnlich in der Technik der Widerlegung ist auch etwa Flacc. 27-33. 45 Besonders ähnlich nach Wortlaut und Sinn: Caec. 90 . . . exoritur hic iam obrutis rebus omnibus et perditis ilia defensio, eum deici posse qui tum possideat . . . (dazu S. 98). 49 H U M B E R T stützt sich im übrigen darauf, daß sich Cicero in § 4 auf die Autorität derselben consulares berufe, die er in den § § 8 1 f. gegen Angriffe des Torquatus verteidigen müsse: Offenbar müßten diese Angriffe in der Replik des Torquatus enthalten gewesen sein. Aber ganz abgesehen davon, daß nur in den § § 8 1 f. gerade von consulares die Rede ist - in § 4 erwähnt Cicero a l l e diejenigen, die sich für Sulla einsetzen - , wie sollte sich denn ausgerechnet an der Frage der Auslegung des Senatsprotokolls eine Auseinandersetzung über die Autorität der consulares entzünden? H U M B E R T S Konstruktion (S. 149) ist ganz künstlich. 47 B O N N E R 423: „ . . . a true balance of judgment can only be reached when H U M BERT'S arguments have been carefully weighed for all the speeches individually." 48 H U M B E R T 100-111 (im Hauptpunkt zustimmend zu seiner Analyse B A R D O N I 232).

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habe: (a) §§ 1-34, (b) §§ 35-82, (c) §§ 83-124, (d) §§ 124 ff. (b) könne nicht in derselben „audience" gesprochen sein wie (a), da in den §§ 59 f. das Verhalten des Erucius am Anfang der Rede beschrieben sei49. Damit wäre Cicero das Improvisationsvermögen abgesprochen. Die Selbständigkeit von (c) beweist HUMBERT daraus, daß Cicero in § 123 mit dixi initio auf § 83 Bezug nimmt*0. Aber initio kann doch wohl ebenso gut heißen „am Anfang dieses Teils" wie „am Anfang dieses Tages": Die §§ 83—123 sind allerdings kompositorisch deutlich als Einheit abgesetzt51. Schließlich zur Replik. HUMBERT meint, in (d) seien Äußerungen des Erucius vorausgesetzt, die in dessen erster Rede nicht hätten vorkommen können52. Während nämlich Cicero uns zunächst mitteilt, daß Erucius die Angelegenheit des Güterverkaufs nicht erwähnt habe (§§5 f., 60, vgl. § 28) und bei Ciceros erster Nennung des Namens Chrysogonus zusammengezuckt sei (§ 60), müsse er nach dem Zeugnis der §§ 124 ff. doch bereits sowohl vom Güterverkauf wie von Chrysogonus gesprochen haben. Die erste einschlägige Stelle findet sich unglücklicherweise in einer Lücke der Überlieferung, die nur aus dem Kommentar des Gronov-Scholiasten ergänzt werden kann. Dieser paraphrasiert unter dem aus Cicero genommenen Lemma „derivat tarnen et ait se" eine angebliche Äußerung des Chrysogonus über die dissipatio bonorum (welche allerdings die venditio voraussetzt): hoc enim dicebat Chrysogonus etc. (p. 314,26 ff. ST.). Aber könnte es sich hier nicht um eine Absicherung Ciceros gegenüber einem nur gedachten Einwand des Gegners bzw. seines Hintermannes Chrysogonus handeln? „Wenn Chrysogonus dies behaupten sollte..., dann sage i c h . . . " Das scheint angesichts des bestimmten hoc dicebat eine kühne Annahme; aber man vergleiche nur, wie derselbe Scholiast mit § 47 verfährt! Während Cicero, um sich abzusichern, sagt: ,quid ad istas ineptias abis?, inquies (Futur!), paraphrasiert sein Erklärer (p. 307, 13 f. ST.) coepit{\) dicere adversarius ,quam diu me', inquit, ,ad fabulas vocas?' Ob das Mißverständnis oder, wie man eher meinen möchte, sprachliche Lässigkeit ist, bleibt gleichgültig; jedenfalls sind wir berechtigt, das umstrittene Lemma ex. gr. so zu ergänzen: (quod si Chrysogonus hoc tantum crimen) derivat tarnen et ait se (non ideo praedia dissipavisse etc.) Aber natürlich nicht auf diese positive Ergänzung kommt es an, sondern nur auf den negativen Beweis, daß Chrysogonus vor Ciceros § 124 von Erucius nicht genannt worden zu sein braucht. Beweiskräftiger für HUMBERTs These scheint zunächst § 132: ... Chrysogonum qui Sex. Rosci nomen deferendum curavit, cuius honoris causa accusare se dixit Erucius (.. .Beginn der Textlücke). Doch leider ist es H U M BERT entgangen, daß dies nicht der Text der Handschriften ist, sondern eine Konjektur MADVIGs. Und diese Konjektur ist falsch53. 49

HUMBERT 107, vgl. G. K E N N E D Y , AJPh 89, 1968, 431 und schon OPPERSKALSKI 11 f. 50 HUMBERT 108. 51 Vgl. die propositio der §§ 35 f. und § 83 venio nunc eo .. § 124 venio nunc ad . . . 52 HUMBERT 108-110. 53 S. Anm. 32 zu S. 62.

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P r o C l u e n t i o 5 4 : Dazu s. oben (S. 40). P r o M u r e n a 5 5 : Hier setzt H U M B E R T keine Repliken der Gegenseite an. Cicero soll bei der schriftlichen Redaktion zwei vollständige Reden verschmolzen haben: eine, die zur Einleitung der Verteidigung vor den Reden des H o r tensius und Crassus gehalten wurde, und eine Abschlußrede vor dem locus testium. Diese Annahme beruht auf der angeblichen „theorie de la disposition du de Oratore" (dazu oben S. 36); und da H U M B E R T keine handfesten Indizien beibringen konnte - er beruft sich vor allem auf die Verschiedenartigkeit des Tons: H u m o r im Hauptteil, Ernst in der peroratio - , wurde seine Auffassung schon von A. C. CLARK, Alain M I C H E L und Andre B O U L A N G E R abgelehnt 5 ". P r o P l a n c i o 5 7 : In dieser Rede glaubt H U M B E R T die Spuren einer ausführlichen Replik des Anklägers erkennen zu können: Mehrere Äußerungen in den §§ 72 ff. könnten sich nicht auf dessen oratio continua beziehen 58 . Für zwei davon (§§ 72, 95) lohnt sich die Widerlegung nicht, da dort ganz offenkundig auf anticipationes von Ciceros zu erwartenden Argumenten angespielt ist 59 ; auffallend dagegen ist in der Tat § 85: admonuisti etiam, quod in Creta fuisses, dictum aliquod in petitionem tuam dici potuisse; me id perdidisse. Wenn diese Äußerung auf eine Rede Ciceros im Plancius-Prozeß geht, wenn sich Cicero also hier das Wortspiel mit „Kreta" und der Kandidaten-„Kreide" soll haben entgehen lassen, dann müssen allerdings Laterensis und Cicero je zweimal gesprochen haben 80 . Aber zumal die §§ 24-26 zeigen, daß diese Annahme unnötig ist. Cicero hatte sich bereits im Wahlkampf um die Aedilität energisch für Plancius (und damit gegen Laterensis) eingesetzt (§ 24): appellavi populum tributim, submisi me et supplicavi... „Bei dieser Gelegenheit", konnte jetzt

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H U M B E R T 111-119. Über H U M B E R T s aus den Erwähnungen der Sassia gezogenes Argument s. unten S. 206 mit Anm. 45. 55 H U M B E R T 119-142. 56 C L A R K , CR 41, 1927, 76, M I C H E L 387 f., B O U L A N G E R , Bude-Ausg. (1943), Einl. 19 mit Anm. 2. 57 H U M B E R T 176-189; abgelehnt von B A R D O N I 242, mit Vorbehalt gebilligt von C I A C E R I II 131. 58 Insgesamt kommt H U M B E R T auf folgende Anlage der Verteidigung: (1) einleitende Rede Ciceros, (2) une serie de discours secondaires: Rede Ciceros zu den Klagepunkten, Rede des Hortensius, Antwort Ciceros an Cassius, Replik des Laterensis, (3) Schlußrede Ciceros (S. 187). Übrigens setzt H U M B E R T auf S. 183 noch eine frühere Replik des Laterensis an (seine Analyse gerade dieser Rede ist ein wenig verworren) : D a s in § 54 referierte Argument des Laterensis (nam quod questus es . . .) stamme aus einer Antwort auf § 43 (quid diceret.. .). Aber nichts beweist, daß es nicht schon in der Anklagerede vorgekommen sein könnte. 59 § 72 nam primum juit illud asperius me, quae de Plancio dicerem, mentiri et temporis causa fingere . . .; § 95 . . . in quo dixisti, dum Planci in me meritum verbis extollerem, me arcem facere e cloaca lapidemque e sepulcro venerari pro deo. 60 Vgl. schon O P P E R S K A L S K I (S. 69), der an späteren Einschub denkt.

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Laterensis sagen, „hat der witzige Konsular übrigens gegen seine Gewohnheit noch ein Bonmot zu wenig gemacht." P r o F o n t e i o " : HUMBERT erkennt richtig, daß die uns vorliegende Rede (wie alle Repetundenverteidigungen Ciceros) in die zweite actio gehört92. Für diese actio ersinnt er nun aber eine ganz merkwürdige Prozeßgeschichte, die in der Rede ihren Niederschlag gefunden haben soll. Der Ankläger des Fonteius, Plaetorius, habe — wie bekanntlich Cicero in der ersten actio in Verrem — auf eine zusammenhängende Rede verzichtet, und darum dürfe nun Cicero in der zweiten actio die erste Rede halten. Er spreche zunächst vor dem Zeugenverhör (§§ 1-20), sodann danach (§§ 21 ff.). Die in der Uberlieferung nur durch tituli bezeichneten crimina (§ 20 Ende: DE CRIMINE VINARIO etc.) seien auch von Cicero nicht in der oratio continua, sondern nur gelegentlich des locus testium behandelt worden. Aber an dieser Konstruktion ist nun wirklich alles falsch. Weder haben wir das geringste Indiz dafür, daß Plaetorius seine oratio continua in der ersten actio weggelassen hätte®3, noch ist es wahrscheinlich, daß ein solches Verfahren - wenn es wirklich stattgefunden hätte - eine Umkehr in der Verfahrensordnung der zweiten actio nach sich zöge'4. Und die Indizien, aus denen HUMBERT beweisen will, daß nach § 20 ein Zeugenverhör stattgefunden habe65, sind, wie schon Andre BOULANGER gezeigt hat"1, vollends nichtig. Denn wenn Cicero in den §§21 ff. auf Zeugenaussagen anspielt, die schon gemacht sind, so können dies ja Zeugenaussagen der ersten actio sein. Nichts hindert uns an der Annahme, daß es im Fonteiusprozeß zwei vollständige actiones, jeweils mit orationes continuae von Anklage und Verteidigung sowie einem anschließenden Zeugenverhör gegeben hat und daß Ciceros Rede als Ganzes vor dem Zeugenverhör der zweiten actio gehalten worden ist®7. «'

HUMBERT 215-221. Vgl. HUMBERT 23-37 und schon GREENIDGE 477 f. (verfehlt J. LEFZIUS, Philologus 60, 1901, 593-600). Die Reden in Privatprozessen lassen vermuten, daß Cicero überhaupt jeweils die (prozeßentscheidende) Rede der letzten actio publiziert hat. Pro Cornelio (und in ihrer Weise die sec. actio in Verrem) macht die Ausnahme. 93 HUMBERT will dies daraus beweisen, daß Cicero in seiner Rede auf keine Vorwürfe de vita anteacta eingehe. Dies ist unrichtig (s. A. BOULANGER, Bude-Ausg. 1961, S. 11 mit Anm. 4), und selbst wenn es richtig wäre, würde es nichts beweisen. Denn warum könnte nicht Plaetorius, wie Laelius gegen Flaccus (vgl. Cie. Flacc. 5), den locus de vita anteacta unbehandelt gelassen haben? 94 HUMBERT (S. 199-203) stützt sich auf das bekanntermaßen unsinnige Zeugnis von Ps.-Asc. zu Verr. II 1, 26 (p. 230, 25 f. ST.), wonach in der zweiten actio grundsätzlich der Verteidiger zuerst gesprochen habe: Ps.-Asc. müsse hier seine Quelle, in der die richtige (HUMBERTs) Lehre dargestellt war, mißverstanden haben! Die Verwirrung erreicht einen komischen Höhepunkt, wenn jetzt K E N N E D Y (The art of rhetoric 162 Α. 16) der Ansicht HUMBERTs zustimmt, diese aber falsch (d. h. wieder im Sinne des Ps.-Asconius) referiert. 65 HUMBERT 216. «· Bude-Ausg. 1961, Einl. 13-15. 67 Die tituli sind (mit BOULANGER) nach Plin. epist. 1, 20, 7 zu erklären. 62

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P r o F 1 a c c ο 6 8 : HUMBERT findet hier eine ähnliche Prozeßgeschichte wie in Pro Fonteio. Wieder soll der Ankläger auf die oratio continua in der ersten actio verzichtet haben - Beweis: Cicero beschwere sich, daß man das Vorleben seines Klienten (vita anteacta) nicht behandelt habe (§ 5)! wieder dürfe Cicero in der zweiten actio als erster spiechen. Sein „discours d'ouverture" liege vor in den §§ 1-26: Hier weigere sich nämlich Cicero noch, die griechischen Zeugen zu befragen; in den folgenden Paragraphen (27-69) dagegen zeige sich, daß er sie doch befragt habe. Die §§ 27-69 seien also Relikte des auf den „discours d'ouverture" folgenden Zeugenverhörs, in dem Cicero die ursprünglich gewählte Taktik wieder aufgegeben habe. Bis zu diesem Punkt beruht die Analyse auf einer unrichtigen Interpretation der §§ 5 und 18. An beiden Stellen ist von der interrogatio testium durch den Anwalt keine Rede: In § 5 heißt es nur, daß das Leben des Flaccus für ihn gewichtigeres Zeugnis ablege als alle Graeculi"; in § 18, daß eine Kritik der einzelnen Zeugen für ihn, Cicero, unnötig sei, da die Richter selbst sähen, daß diese Zeugnisse nicht als solche gelten könnten. In der Tat erweckt Cicero in den §§ 9-26 den Anschein, als wolle und könne er sich mit den Zeugen gegen Flaccus nicht einzeln herumschlagen (besonders deutlich in § 23) 70 ; wenn er dann aber später doch die Einzelpersonen angreift - § 50 satisne vobis, iudices, videor, ad singulos testes accedere neque, ut primo constitueram, cum universo genere confligeref - , so muß dies durchaus nicht als Kurswechsel zwischen Rede und Zeugenverhör gedeutet werden; die fingierte Änderung der Taktik hat auch innerhalb der oratio continua ihren Sinn. Denn indem Cicero zunächst vorgibt, gegen die einzelnen Zeugen nichts vorbringen zu wollen (in der Rede, versteht sich), erhöht er den Eindruck seiner generellen vexatio testium („Einer Einzelkritik bedarf es bei solchen Zeugen nicht"); § 50 kann dann eine Steigerung bringen: Sogar das habe ich noch zu allem Überfluß geleistet. Ein weiteres Indiz für die Selbständigkeit der §§ 1-26 gewinnt HUMBERT aus Ciceros Behandlung des schriftlichen Beweismaterials71. In den §§ 37 ff. kenne und diskutiere Cicero Dokumente, die Flaccus belasten sollen; in § 2 1 aber habe er sich noch darüber beklagt, daß diese Dokumente erst in diesem Augenblick dem Gericht vorgelegt würden. Wenn auch nur ein Wort davon in § 21 stünde72! Schließlich will HUMBERT noch eine zweite bzw. dritte HUMBERT 222-235. cum adulescentiam notaris, cum reliquum tempus aetatis turpitudinis maculis consperseris . . ., tum denique quid Tmolitae et Dorylenses de L. Flacco existiment audiemus (audire = „zur Kenntnis nehmen", wie häufig). Zum Gegensatz „Leben" gegen „Zeugen" vgl. Sull. 78: quaestiones nobis servorum accusator et tormenta minitatur. . . . vita P. Sullae torqueatur . . . 70 Wahrscheinlich ein fester Topos der Repetundenverteidigung, vgl. Scaur. 18-20. 71 HUMBERT 225 f. 72 sed fuerint incorruptae litterae dornt; nunc vero quam habere auctoritatem aut quam fidem possunt? triduo lex ad praetorem deferri [triduo muß heißen „drei Tage nach Ankunft des Überbringers", so auch DU MESNIL im Komm.], iudicum signis 68

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„prise de parole" (nach dem Zeugenverhör) ansetzen. Indiz: In § 5 1 ist Lysanias der „spezielle Zeuge" des subscriptor Decianus, noch nicht befragt; in § 94 seien dagegen bereits alle Zeugen vernommen. Woher H U M B E R T das letztere weiß, bleibt unerfindlich; denn aus den §§ 7 0 - 9 3 ergibt sich nur, daß Decianus ü b e r h a u p t schon Zeugen vorgeführt hat - und das werden eben Zeugen der ersten actio gewesen sein 73 . Wieder haben wir also eine einheitliche Rede Ciceros vor uns, die in der zweiten actio nach der Rede der Anklage (und nach einer Verteidigungsrede des Hortensius) gehalten ist. Wieder steht ein zweiter locus testium noch bevor 7 4 . Wieder keine Spur von Kontamination. obsignari iubet: tricesimo die vix deferuntur. (Dies versteht H U M B E R T unrichtig als „dreißig Tage nach Beginn des Prozesses", was er dann noch willkürlich mit dem Tag von Ciceros „discours d'ouverture" gleichsetzt.) Cicero protestiert nicht dagegen, daß ihm jetzt erst die Dokumente bekannt gemacht würden, sondern daß sie nicht zur rechten Zeit gerichtlich versiegelt und deponiert worden sind; sie könnten also, meint er, in der Zwischenzeit gefälscht worden sein. 73 Wenn ich recht sehe, können wir den §§ 82 f. entnehmen, daß der der praevaricatio verdächtige Decianus in der zweiten actio übehaupt nicht mehr auftreten durfte (§ 82 . . . Decianum usque ad coronam applicavisti; vgl. auch DU MESNIL, Einl. d. Komm. [1883] 44). Cicero attackiert ihn dennoch oder gerade darum, um eben diesen Vorwurf, daß Decianus von Flaccus bestochen worden sei, implizit zu bekämpfen (und zwar, geschickterweise, bevor der Vorwurf überhaupt ausdrücklich zur Sprache kommt). 74 Die Rede pro Scauro, die dritte Repetundenverteidigung Ciceros, die wir besitzen, kann allerdings schwerlich an dieser Stelle gehalten worden sein. Während nämlich aus § 29 hervorgeht, daß in der ersten actio nur ein einziger Zeuge der Anklage produziert worden war, heißt es in § 21, Triarius, der Ankläger, habe sämtliche Sarden zum crimen frumentarium befragt. (Die Beobachtung ist übrigens schon von ESCHER [s. oben Anm. 6] gemacht worden, vgl. Th. MOMMSEN, Jur. Sehr. 3, 511, ZUMPT 228 mit Anm. 2, J . LEFZIUS, Philologus 60, 1901, 595 f., G R E E N I D G E 477 A. 7). Demnach muß, wenn wir nicht (mit MOMMSEN) den Text ändern wollen, bereits vor Ciceros Rede ein zweites Zeugenverhör stattgefunden haben; die übliche Reihenfolge kann also nicht bewahrt worden sein. Mit verschiedenen „tours de parole" ließe sich hier nichts erklären, und H U M B E R T (zur Scauriana: S. 235-244) versucht dies auch nicht. Seine Hypothese ist, daß man sich Ciceros Rede als während des locus testium gehalten vorzustellen habe: Dieser habe in der zweiten actio die orationes continuae völlig ersetzt. Aber der Ausdruck ο mnis Sardos - H U M B E R T übersetzt (S. 237): „rien que des Sardes"! - deutet darauf, daß ein vorhergegangenes Zeugenverhör bereits abgeschlossen ist. Ich vermute (ζ. T. im Anschluß an H U M B E R T anders die oben genannten Autoren) folgenden Gang des Prozesses. Der Anklage kam es (vgl. H. GAUMITZ, Leipz. Stud. 2, 1879, 255-257) darauf an, den Prozeß rasch zu Ende zu bringen. Sie beschränkte sich darum in der actio prima auf die orationes continuae und deutete den locus testium durch Vorführung eines einzigen Zeugen nur gewissermaßen symbolisch an (s. § 29). Nach so kümmerlichem Beweisverfahren wäre es natürlich lächerlich gewesen, in der zweiten actio sofort wieder große Reden zu halten. Hier wählte Triarius das summarische Verfahren, das Cicero selbst gegen Verres (aber in der actio primal) angewandt hatte (so auch H U M B E R T 237): Er verzichtete auf die orationes continuae und begann sofort mit der Vorführung seiner Zeu-

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"Wir sind damit am Ende unseres mühsamen Weges angekommen und haben, w e n n ich nicht irre, sämtliche Argumente, die H U M B E R T zum Beweis seiner These v o n den „tours de parole" vorgebracht hat, als nichtig erkannt. Weder äußere Zeugnisse noch innere analytische Indizien sprechen dafür, daß sich Ciceros Gerichtsreden als eine Art Resümee seiner anwaltlichen Tätigkeit w ä h rend der jeweiligen Prozesse ansehen ließen; es sind stets in sich geschlossene Reden, die auf eine bestimmte Situation des Prozesses bezogen sind. Der Redaktor Cicero ist, so gesehen, eine Chimäre. Dies gilt sogar - und man verzeihe noch diese kleine Abschweifung — für die eigenartige interrogatio in Vatinium testem. Z w a r sind sich die Gelehrten weithin darüber einig geworden (auch unabhängig v o n H U M B E R T ) , daß es sich bei dieser „Befragung" ursprünglich um ein echtes aus Frage und A n t w o r t bestehendes Zeugenverhör gehandelt habe, das nur erst zum Z w e c k e der Publikation in eine oratio continua kondensiert worden sei 75 ; allein diese Ansicht hält einer Prüfung nicht stand. Aus den §§ 3 und 41 der Rede ergibt sich 76 , daß es am Vortage unserer „interrogatio" zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen dem Belastungszeugen Vatinius und dem Verteidiger Cicero gekommen war 7 7 und daß auf diesen

gen. (Darum kann Cicero mit einem gewissen Recht sagen [§ 30]: priorem actionem totam sustulisti; denn nimmt man den einen Zeugen der ersten actio mit denen am Beginn der zweiten zusammen, so ergibt sich praktisch e i n e actio, bestehend aus orationes continuae und locus testium.) Damit hatte der Ankläger nur auf ein ihm zustehendes Recht verzichtet (vgl. Cie. Verr. II 1, 25); er konnte damit sicherlich nicht (wie H U M B E R T offenbar annimmt) die Verteidigung zwingen, auch ihrerseits keine orationes continuae mehr zu halten. Denn auch in der a. pr. in Verr. hätte der Verteidiger (Hortensius) durchaus das Recht gehabt, nach dem Zeugenverhör ausführlich das Wort zu ergreifen; Cicero selbst setzt dies m. E. voraus, wenn er sich rühmt (orator 129): nobis pro familiari reo .. . non respondit Hortensius. (HUMBERTs Auslegung der Stelle ist k ü n s t l i c h e s . 206 A. 2.) Die sechs patroni des Scaurus werden sich die Gelegenheit nicht haben entgehen lassen, den schlechten Eindruck, der beim Zeugenverhör offenbar entstanden war, wieder auszugleichen; und Cicero dürfte (trotz H U M B E R T 238-241) die entscheidende Schlußrede gehalten haben (so neben anderen auch G A U M I T Z a. O. 265-267). 75 So H U M B E R T 43, 175 f. (seine Kritik an Quint, inst. 5, 7, 6 [S. 49] ist vielleicht berechtigt); ähnlich schon L A U R A N D I 8, OPPERSKALSKI 8, vgl. auch J. C O U S I N in seiner Bude-Ausgabe, 1965, 234 ff.; an eine wirkliche Rede Ciceros denken aber GELZER 163, L. G. P O C O C K in seinem Kommentar zur Rede, London 1926, 4, 135 f., U. ALBINI, P P 14, 1959, 173 A. 3; unentschieden jetzt K E N N E D Y , Art of rhetoric 198 Α. 75. 76 Vgl. zur Rekonstruktion der Ereignisse P O C O C K (s. oben Anm. 75) 134 ff., mit dem ich allerdings nur im Wichtigsten einig bin; falsch H . G U N D E L , RE VIII A 1 (1955) 505, unklar C O U S I N (s. oben Anm. 75). 77 Vatinius suchte bei seinem testimonium, zu dem er formell von der Anklage genötigt war, Sestius zu belasten (§ 41), wobei er sogar Milo auf dessen Kosten lobte, leugnete aber, mit dem Ankläger abgesprochen zu sein ( § 3 . . . cum adfirmares nullum tibi omnino cum Albinovano sermonem ... de Sestio accusando .. . fuisse; auf dieses

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W o r t w e c h s e l eine z u s a m m e n h ä n g e n d e R e d e des V a t i n i u s folgte 7 8 , in der dieser seinen Standpunkt wechselte, den A n k l ä g e r ( w e g e n praevaricatio) beschimpfte 7 ' 80 u n d auch Cicero persönlich angriff . K a n n m a n ernstlich a n n e h m e n , d a ß C i cero auf eine solche ,oratio continua' mit einem neuerlichen V e r h ö r in Form echter Fragen g e a n t w o r t e t hätte? Weder ließe sich die g r o ß e Partie der Selbstverteidigung (§§ 5 ff. mit L ü c k e in der Überlieferung) hier unterbringen, noch k ö n n t e auf v i e l e Fragen Ciceros überhaupt eine eigentliche A n t w o r t gegeben werden 8 1 . W e n n also Cicero i m H a u p t t e i l der Rede, der I n v e k t i v e (§§ 10 ff.), die äußere Form der B e f r a g u n g w ä h l t (§ 10 de te ipso . . . quaero ... usw.), so darf man darin sicherlich nicht mit H U M B E R T u n d anderen d i e R e l i k t e eines Frage- und A n t w o r t s p i e l s sehen. M ö g l i c h , d a ß ( w i e § 33 n a h e z u l e g e n scheint 8 2 ) Sitte oder Gesetz es verbot, den Zeugen unmittelbar z u b e s c h i m p f e n ; auf jeden Fall hindert nichts an der A n n a h m e , d a ß Cicero die R e d e , so z u s a m m e n h ä n gend, w i e sie dasteht, auch gesprochen hat. Aber ist m i t d e m allem auch schon bewiesen, daß Ciceros überlieferte Gerichtsreden m i t den (in der jeweiligen

erste Auftreten als Zeuge, das nach dem Verhör des Gellius stattfand, m u ß sich auch § 4 beziehen - anders P O C O C K [s. oben Anm. 75] 137). Das letztere bezweifelte Cicero (vgl. § 2 Ende: etenim debuisti..., richtig verstanden von P O C O C K a. O.), nachdem er schon in der früheren Verteidigungsrede den Vatinius als die eigentliche Seele der Anklage hatte hinstellen wollen (Sest. 132). Auf diese Auseinandersetzung zwischen patronus und Zeuge gehen die §§ 1 und 2 der interrogatio. 78 Wohl erst am Tag unserer „interrogatio", vgl. § 3 paulo ante. 79 Er erklärte jetzt, er habe von A n f a n g an geahnt, daß der Prozeß ein abgekartetes Spiel sei (§ 3 quem praevaricatorem esse ab initio iudicasses - P O C O C K s Auffassung [S. 136, s. oben Anm. 75] ist schon sprachlich nicht angängig - ; § 41 cum multa in Albinovanum de praevaricatione diceres), obschon ihn Albinovanus hinters Licht zu führen gesucht habe, als er belastende Dokumente gegen Sestius erbat (§ 3). Wäre es der Anklage ernstlich um eine Verurteilung des Sestius zu tun, so hätte sie wegen ganz anderer crimina und nicht gerade wegen vis geklagt (§ 41). Diese Vorwürfe mögen übrigens richtig gewesen sein; vgl. P O C O C K 143-145, dessen Darlegungen von den Historikern leider kaum beachtet werden. (Der Sestius-Prozeß verdiente eine gründliche neue Erörterung.) 80 Der Tenor dieser Ausführungen wird wegen der Lücke nach § 4 nicht mehr recht klar; nur zum Teil überzeugend P O C O C K (s. oben Anm. 75) 137 f. - Der Unterschied von eigentlichem „Zeugnis" (am Vortag) und dieser „Rede" ergibt sich aus den folgenden Äußerungen Ciceros mit völliger Sicherheit: § 4 1 non coarguo inconstantiam orationis actestimoni tut- quas enim huius actiones probatas bonis esse dicis [Rede], in eas plurimis verbis testimonium dixisti [Zeugnis]; quicum autem eius causam periculumque coniungis [Rede: gemeint ist Milo], eum summis laudibus extulisti [Zeugnis], § 3 (te} hesterno (die) pro testimonio [Zeugnis] esse mentitum . .paulo ante imprudens indicasti [Rede], qui... Albinovanum, quem antea vix tibi notum esse dixisses [Zeugnis], domum tuam venisse . . . dixeris [ R e d e ] . . . (anders zu § 3 : P O C O C K 136 f.). 81 So schon Z U M P T , Criminalprocess 336. 82 . . . ne quid a me dictum in te potius putes quam abs te esse quaesitum ...;... teque non arguam, sed, ut in ceteris rebus feci, rogabo .. .

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Prozeßsituation) gehaltenen wirklich übereinstimmen? Das allerdings nicht. Denn wenn auch HUMBERTs These als solche verkehrt ist, so könnte in ihr doch vielleicht e i n richtiger Gedanke stecken. Es ließe sich ja vorstellen, daß Cicero besonders geistreiche Einfälle und Formulierungen, die ihm außerhalb der betreffenden oratio (also vor allem beim locus testium) gelungen waren, in die schriftlich fixierte Rede aufgenommen hätte83. Diese Annahme ist keineswegs identisch mit der These HUMBERTs, der ja meinte, daß Cicero bewußt darauf verzichtet hätte, verschiedene „tours de parole" zu einem eigentlichen simplex et unum zu verschmelzen, das heißt sie im Hinblick auf die Situation des Prozesses, in dem die oratio continua ihren Platz hat, neu zu organisieren. Hätte Cicero dies aber gemacht, so müßte freilich alle analytische Mühe vergebens sein. Allenfalls auf die Möglichkeit, daß dies oder jenes aus dieser oder jener Situation ursprünglich genommen sei, ließe sich hinweisen; aber eine ,klassische', an Widersprüchen und Unausgeglichenheiten orientierte Analyse, wie H U M B E R T sie versucht hat, wäre nicht mehr möglich84. Im übrigen haben wir bekanntlich eine Reihe von Zeugnissen, die auf eine faktische Diskrepanz von geschriebener und gesprochener Rede hinweisen. Ganze Reden sind nie gehalten worden85; Cicero selbst bezeugt in seinen Briefen Zufügungen bei der schriftlichen Redaktion; von der Rede für Milo besitzen noch Asconius und Quintilian ein Originalstenogramm, das von ,unserer* Miloniana erheblich abgewichen sein muß86. Die einschlägigen Zeugnisse sind Es sei immerhin bemerkt, daß wir kein äußeres Zeugnis für dergleichen haben. Ich kann mich in der Tat nicht entsinnen, beim Studium von Ciceros Reden eine einzige Stelle gefunden zu haben, die man sich nicht in der für die Gesamtrede vorzustellenden Situation gesprochen denken könnte. 85 Die zweite Philippica und die actio secunda in Verrem (letzteres bestritten von C. H Ö E G [s. oben Anm. 1] 264-279, vgl. dagegen M. GELZER, Kl. Sehr. II, Wiesbaden 1963, 168 f. A. 124). 88 Allerdings hat jetzt J. N. SETTLE nachzuweisen gesucht, daß es sich bei der ,anderen' Rede pro Milone um eine Fälschung handle (TAPhA 94, 1963, 268-280). Ich bin nicht überzeugt. Sicher ist zumindest, daß Quintilian an die Echtheit glaubt (inst. 4, 3, 17 unde Ciceroni quoque in prooemio, cum diceret pro Milone, degredi fuit necesse, ut ipsa oratiuneula, qua usus est, patet - der ganze Zusatz ut. . . patet wäre doch sinnlos, wenn es sich um die bekannte, von Quintilian an tausend Stellen zitierte Rede pro Milone handeln würde; gegen SETTLE 279 mit Anm. 25) und daß er an einer Stelle sogar aus ihr zitiert (inst. 9, 2, 54: Die Übereinstimmung mit Schol. Bob. p. 173, 7 f. ST. zeigt, daß das Zitat überhaupt aus einer Rede Ciceros für Milo stammt - dies gibt auch SETTLE zu - ; dann kann es sich aber nur um die beim Prozeß des Jahres 52 gehaltene Rede handeln, wie aus dem ersten Satz hervorgeht [den SETTLE nicht anführt] : an huius ille legis, quam Clodius a se inventam gloriatur, mentionem facere ausus esset vivo Milone, non dicam consulef Was soll vivo Milone für einen Sinn haben, wenn nicht den zu zeigen, daß Clodius ein Interesse an Milos Tod haben mußte? Das Zitat gehört also wohl in eine Partie, die § 32 in unserer Miloniana entspricht; gegen SETTLE 275 f.). Zum Problem der ursprünglichen Miloniana vgl. LAURAND 114, H U M B E R T 189-197, NEUMEISTER 87, 107 f. A. 152, R A H N 18. 83

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so oft gesammelt und kommentiert worden, daß wir auf eine nähere Erörterung verzichten können87. Nur eben ein Kardinalfehler der meisten Redaktionsanalysen, die von diesen Zeugnissen ausgehen, muß hervorgehoben werden. Es ist heute ein fast allgemeiner Glaube - HUMBERT macht hier eine bemerkenswerte Ausnahme daß eine etwaige Divergenz der aufgezeichneten von der gesprochenen Rede vor allem auf der Verschiedenartigkeit des Publikums beruhe: „Un plaidoyer n'est pas un pamphlet. Le premier s'adresse aux juges, et doit les menager. Le second vise le grand public, et cherche plus ou moins a exciter ses passions" (A. MICHEL) 88 . In der geschriebenen Rede, so meint man, gehe es Cicero vor allem darum, seine eigene politische Haltung zu rechtfertigen bzw. für bestimmte Gedanken und Grundsätze in einer Weise zu werben, die über das in der jeweiligen Redesituation Erforderte hinausgehe. So soll etwa - ich zitiere nur wenige, ganz beliebige Beispiele - das Optimatenkapitel der Sestiana (wenn nicht gleich ihr Hauptteil) erst bei der schriftlichen Redaktion als eine Art politisches Credo eingefügt worden sein89; die Catilinarien möchte man im Hinblick auf die Verteidigung des umstrittenen Konsulatsjahres bearbeitet sein lassen"; Digressionen wie der berühmte ,humanistische' Exkurs in Pro Archia sollen in den ursprünglichen Plädoyers gefehlt haben91. Nun, wenn solche Analysen auch nirgends zu gesicherten Ergebnissen geführt haben, kann das doch nichts grundsätzlich gegen ihre Berechtigung sagen. Ciceros Reden müssen auch in ihrer schriftlichen Fassung politische Wirkung gehabt haben - die zweite Philippica hat man schon geradezu eine Flugschrift genannt und ohne Zweifel hat Cicero diese bei der Niederschrift bedacht. Aber das eine ist mit Entschiedenheit zu bestreiten: Der Einfluß auf die (politische) Meinungsbildung ist nicht das Hauptmotiv der Redenpublikation. Dem widersprechen alle Zeugnisse Ciceros.

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L A U R A N D I 3 ff., OPPERSKALSKI 3-10, HUMBERT 1 ff. MICHEL 386. Vgl. etwa NISBET 47, F U H R M A N N I 30. 89 Vgl. MEYER 135, F. M Ü N Z E R RE II A 2 (1923) 1888, OPPERSKALSKI 55 f f , NISBET 66, DOUGLAS 15 (dagegen HUMBERT 9, 172 f.). 90 Dieses Dogma der bisherigen Cicero-Forschung ist jetzt erschüttert worden durch einen Aufsatz von W. C. Mc DERMOTT (Philologus 116, 1972, 277-284, mit Verz. eines Teils der älteren Lit.), der wahrscheinlich macht, daß Cicero seine Konsulatsreden nicht erst im Jahre 60 (so zuletzt J. von U N G E R N - S T E R N B E R G , Gymnasium 78, 1971, 47-54; K E N N E D Y , Art of rhetoric 176 ff.), sondern schon im Jahr 63 sukzessive veröffentlicht hat. Mc DERMOTT dürfte allerdings über das Ziel hinausschießen, wenn er auch eine spätere Zweitveröffentlichung als Corpus (Att. 2, 1, 3 σώμα) leugnet; und seine Auseinandersetzung mit den Analytikern ist allzu summarisch. Aber ich bin davon überzeugt, daß sich die Reden ohne die Annahme späterer Überarbeitung verstehen lassen und daß sie dann überhaupt erst auch als historische Quellen voll erschlossen sein werden. 91 Nachweise bei v. ALBRECHT (1969) 426 A. 18 (v. ALBRECHT widerspricht dieser Auffassung). 88

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Man schlage nur den Brutus auf! Nirgends werden dort die publizierten Reden, seien es nun die Ciceros selbst, seien es die der älteren römischen Redner, als Pamphlete, Grundsatzerklärungen oder überhaupt als Instrumente politischer oder geistiger Auseinandersetzung betrachtet. Sie gelten überall nur als eines: als exempla, Musterstücke der Redekunst, weniger für das allgemeine Publikum bestimmt, als vielmehr ganz speziell für die studierende Jugend, mit anderen Worten: für die Zwecke der rhetorischen Bildung92. Die schriftlichen Reden, so könnten wir zugespitzt sagen, sind Schulbücher93. Und dies ergibt sich nicht etwa nur aus dem besonderen Gesichtspunkt, unter dem im Brutus die Redenliteratur betrachtet wird: Ciceros Atticusbriefe - gewiß die unverdächtigsten Zeugnisse - bestätigen, daß der Zweck der Redenpublikation vor allem ein didaktischer ist: „Die Begeisterung der jungen Leute", sagt Cicero einmal, treibe ihn dazu, das Corpus der Konsularischen Reden zu veröffentlichen94; von der Rede de domo sua heißt es, man dürfe sie „der Jugend nicht länger schuldig bleiben"95. Freilich überschreitet die publizierte Rede auch durch eine solche pädagogische Zielgebung ihren ursprünglichen Zweck: den Senat zu einem Beschluß zu veranlassen, dem Volk ein Gesetz auszureden, die Geschworenen zu einem Freispruch zu bewegen. Aber - und dies scheint mir nun das Entscheidende gerade die oratio scripta kann ihren neuen Zweck, den Zweck der Belehrung S. bes. § 122 (von einer Rede des Curio): nobis quidem pueris haec omnium optuma putabatur, quae vix iam comparet in hac turba novorum voluminum. praeclare, inquit Brutus, teneo, qui istam turbam voluminum effecerit. et ego, inquam, intellego, Brute, quem dicas. certe enim . .. boni aliquid attulimus inventuti... § 127 (zu G. Galba) exstat eius peroratio, qui epilogus dicitur. qui tanto in honore pueris nobis erat, ut eum etiam edisceremus. § 164 mihi quidem a pueritia quasi magistra fuit, inquam, illa in legem Caepionis oratio • .. Vgl. oben S. 21 f. 93 Vgl. Iul. Sever. 7 (p. 358 Η.): edebat enim ille non solum patrocinia causarum, sed et exempla dicendi. Hinweis auf diese Funktion der veröffentlichten Reden schon bei LAURAND I 2; PETERSSON 87; O. PLASBERG, Cicero in seinen Werken und Briefen, Leipzig 1926, 4; D. MACK, Senatsreden und Volksreden bei Cicero, Würzburg 1937, 11; FUHRMANN I 32; NEUMEISTER 106 A. 117. (Der im folgenden vorgetragene Gedanke ist, mit einer gewissen Modifikation, derselbe, den NEUMEISTER a. O. angedeutet hat [unrichtig aber zu Ed. NORDEN]; ähnlich jetzt auch CLASSEN 1973, 86 f.) Zur Frage nach den Motiven der Redenpublikation vgl. außer den Genannten (die neben dem politischen und pädagogischen Zweck auch anderes wie advokatische Reklame oder literarischen Ruhm [vgl. Cie. Brut. 92 f.!] geltend machen): HEINZE, Vom Geist3 98, HUMBERT 265 f. [Zusatz: Das Problem ist ausführlich behandelt in der Diss, von SETTLE, s. oben zu Anm. 4.] 94 Att. 2, 1, 3: . . . quae nos scribimus adulescentulorum studiis excitati . . . 95 Att. 4, 2, 2: . . . oratio iuventuti nostrae deberi non potest. Besonders hübsch ist Cie. Q. fr. 3, 1, 11, wo sich Cicero seinen künftigen Erfolg als Schulautor genußreich ausmalt: alterum est de Calventi Mari [= Pisonis] oratione quod scribis; miror tibi placere me ad eam rescribere, praesertim cum illam nemo lecturus sit, si ego nihil rescripsero, meam in illum [unsere Rede in Pisonem] pueri omnes tamquam dictata perdiscant. 92

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durch das Musterhafte, nur dann erreichen, wenn sie ihrem Wesen nach m ü n d l i c h e R e d e i n h i s t o r i s c h e r S i t u a t i o n bleibt, anders gesagt: wenn sie dem Schüler zeigt, wie unter bestimmten Umständen, vor bestimmten Zuhörern, in bestimmter Angelegenheit zu reden ist. D a r u m hat sich Cicero auch nicht gescheut, selbst eklatante Widersprüche, was das Politisch-Grundsätzliche angeht, in seinen Reden stehen zu lassen. Auf zwei besonders schöne Beispiele hat schon L. L A U R A N D hingewiesen. In denselben orationes consulares lobt und tadelt Cicero die Gracchen, je nachdem ob er vor dem Volk oder dem Senat spricht; und ebenso differenziert er im Hinblick auf das Publikum seine Stellungnahme zur damaligen ägyptischen Frage". In politischen Pamphleten wäre dergleichen absurd, in ,Lehrbüchern' ist es notwendig: Ciceros Schüler hat eben zu lernen, wie man vor dem Volk und wie man vor dem Senat ein Ackergesetz behandelt. Also sind die jeweiligen indices, Quirites und patres conscripti, an die sich Ciceros Reden richten, ein fiktives zugleich und ein reales Publikum: fiktiv insofern, als der reale Adressat der lernende Schüler ist; real dadurch, daß dieser Schüler nur dann lernen kann, wenn der fiktive Adressat f ü r real genommen wird 97 . Natürlich darf man auch hieraus wiederum nicht schließen, daß sich gesprochene und geschriebene Rede decken müßten. Man hat zu unterscheiden: Nicht die wirklich gehaltene Rede muß publiziert werden, sondern die Rede, wie sie wirklich gehalten sein k ö n n t e . Es ist ja wohl möglich, daß unsere Rede pro Murena wesentlich von der im November 63 gehaltenen abweicht: Plutarch berichtet, daß Cicero damals einen schlechten Tag gehabt habe", und davon merkt der Leser wahrhaftig nichts mehr. Aber wenn dies der Fall ist, dann beruht es nicht auf der Schriftlichkeit an sich oder dem Wechsel des Publikums, sondern nur darauf, daß Cicero bei der schriftlichen Ausarbeitung mehr Zeit und Energie hatte; wir könnten auch sagen: daß die schriftliche Rede eine bessere mündliche Rede ist. Das meint im übrigen schon Quintilian (inst. 12,10,54): an Demosthenes male sie egisset ut scripsit an Cicero? aut eos praestantissimos oratores alia re quam scriptis cognoscimus? melius egerunt igitur an peiusf nam si peius, sic potius oportuit dici ut scripserunt; st melius, sie potius oportuit scribi ut dixerunt. Es erübrigt sich fast zu sagen, daß auch in dieser Hinsicht die analytische Philologie an eine Grenze ihrer Möglichkeiten kommt. Denn wenn eine eventuelle schriftliche Redaktion im Hinblick auf die rhetorische Unterweisung und nicht so sehr auf die politische Propaganda erfolgt war, so kann es, wo äußere Zeugnisse fehlen, kaum mehr möglich sein, 96

L A U R A N D I 15 f. (grundsätzlich S. 15: „les discours publies ne semblent pas faits pour des lecteurs, mais pour les auditeurs devant lesquels ils ont ete reellement prononces"). 97 Quintilian allerdings rät, die Anpassung an den Hörer in der schriftlichen Gerichtsrede zurücktreten zu lassen (inst. 12, 10, 55): quaedam secundum naturam iudicantium dicta sunt: non ita posteris tradentur, ne videantur propositi fuisse, non temporis. Man hat nicht den Eindruck, daß Cicero einer solchen Regel gefolgt wäre. Plut. Cie. 35.

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die Umrisse der wirklichen Rede hinter der geschriebenen zu erkennen. Das könnte auch allenfalls der Historiker bedauern. Der Freund der Beredsamkeit jedenfalls erlebt gerade im Geschriebenen „Cicero at his best". Fassen wir zusammen! Obwohl wir wissen, daß zumindest einige Reden Ciceros sich mit den wirklich gehaltenen nicht decken, obwohl wir eine .politische' Interpolation grundsätzlich nicht sicher ausschließen können, obwohl schließlich auch die Möglichkeit erwogen sein will, daß Cicero in seinen Prozeßreden Äußerungen verwendet hat, die außerhalb der jeweiligen oratio continua gefallen waren - dies ist der kümmerliche Rest, der von HUMBERTs These noch übrig bleibt - , wäre es dennoch ganz unsachgemäß, diese Reden als Kontaminationen irgendeiner Art zu betrachten. Allein aus dem H a u p t zweck, f ü r den sie geschrieben sind, ergibt sich, daß man sie als einheitliche Werke zu betrachten hat, wobei hier „Einheit" in dem Sinn zu verstehen ist, daß sie auf eine konkrete Situation und ein konkretes Publikum bezogen sind. Die Ubereinstimmung der gesprochenen mit der geschriebenen Rede mag in einem gewissen Maß Fiktion sein; aber wenn wir rhetorisch richtig interpretieren wollen, dann haben wir - so paradox es klingt - diese Fiktion als Wirklichkeit zu nehmen.

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Die Rede für Sex. Roscius aus Ameria (80 v. Chr.)1

Wir vergegenwärtigen uns zunächst die Tatsachen in ihrer Darstellung durch Cicero, also vor allem auf der Grundlage seiner narratio (§§ 15-29). Der alte Roscius, ein wohlhabender Bürger aus Ameria, so hören wir, war von je ein Freund zahlreicher nobiles (§§ 15 f., 21), welche sich auch jetzt für seinen des Vatermords angeklagten Sohn einsetzen (§§ 1 - 4 , 27, 77, 119, 147149). So konnte er sich z. Zt. der sullanischen Proskriptionen unbesorgt in Rom aufhalten (§ 16). Gefahr drohte ihm aus anderer Richtung. Zwei seit alters mit ihm verfeindete Verwandte 2 , T. Roscius Capito und T. Roscius Magnus (§§ 17, 87 f.), beschließen nämlich, ihn zu ermorden. Wie das im einzelnen geplant ist, bleibt (auch in Ciceros Darstellung) offen 3 ; jedenfalls wird der alte Roscius eines Abends (etwa im Herbst des Jahres 814) auf dem Heimweg von einem Abendessen umgebracht (§§ 18, 126). Die Nachricht davon kommt noch in derselben Nacht nach Ameria, aber nicht etwa in das H a u s des Sohnes, sondern in eben das des Capito, wobei ein Freund des Magnus, ein gewisser Mallius Glaucia, den Boten macht (§§ 19, 95-99, 102). Die folgenden Ereignisse zeigen, was die Absichten der Mörder gewesen waren: Es ging ihnen um die Güter des Erschlagenen. Sie bringen nämlich alsbald ihre Tat zur Kenntnis des L. Cornelius Chrysogonus, eines einflußreichen Freigelassenen und Günstlings Sullas, der sich zu dieser Zeit gerade bei seinem Meister vor Volaterrae befindet (§§ 20, 1

Zur Datierung der Rede (gegen C A R C O P I N O : 79 v. Chr.): T. E. KINSEY, Mnemosyne, ser. 4, 20, 1967, 61-67; weitere Lit. bei G R U E N (s. unten) 265 A. 47. Textausgaben und Literatur siehe S. 309. Zur Zitierweise vgl. das Abkürzungs- und Literaturverzeichnis. 2 Von einer über die Geschlechtsgenossenschaft hinausgehenden Verwandtschaft spricht Cicero zwar nicht ausdrücklich; daß aber wenigstens Capito mit dem alten Sex. Roscius verwandt sein muß, ergibt sich mit hoher Sicherheit aus § 96: cum Ameriae Sex. Rosci domus uxor liberique essent, cum tot propinqui cognatique optime convenientes, qua ratione factum est ut iste . . . T. Roscio Capitoni potissimum nuntiaret? Cicero würde es hier im Interesse seines Arguments hervorheben, wenn Capito kein Verwandter wäre; somit rechnet er ihn implizit zu den cognati η on optime convenientes. (Warum Cicero die Verwandtschaft, soweit möglich, unter den Tisch fallen läßt, liegt auf der Hand.) 3 In der ύποτύπωσις von § 98 wird ein gemeinsamer Uberfall von Magnus und Mallius Glaucia suggeriert. Aber auf die technischen' Einzelheiten des Mords legt Cicero selbst ausdrücklich keinen Wert (§ 97). 4 Zu Ciceros Behandlung der Datierung (die sich erst aus § 128 ergibt) s. unten Anm. 13.

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105-108). Man macht ihm klar, wieviel der Ermordete besessen habe und wie leicht man mit seinem Sohn fertig werden könne: Chrysogonus ist rasch für die böse Sache gewonnen, und obwohl die gesetzliche Endfrist f ü r die Proskriptionen bereits um Monate überschritten ist, setzt man den alten Roscius noch auf die Proskriptionsliste (§§ 20 f., 32) 5 . So werden seine Güter konfisziert, und Chrysogonus erwirbt sie' um den Spottpreis von 2000 Sesterzen (§§ 6, 21; wirklicher Wert: 6 Millionen); für seine Hilfe wird Roscius Magnus zum procurator eingesetzt (§§ 21, 23 f., 108), wodurch er Gelegenheit erhält, sich selbst kräftig zu bereichern (§ 23); Roscius Capito erhält drei von dreizehn Gütern zu eigenem Besitz (§§ 17, 21, 99, 103, 108, 115, 117). Der Sohn des Ermordeten dagegen, Sex. Roscius, wird aus dem väterlichen Hause schmachvoll vertrieben (§§ 23 f.). Darüber herrscht nun große Empörung in Ameria (§24); der Gemeinderat (decuriones) tritt zusammen, und man beschließt, eine Gesandtschaft an Sulla zu entsenden, um diesen über die politische Gesinnung des alten Roscius und das seinem Sohn widerfahrene Unrecht aufzuklären (§ 25). So geschieht es auch — aber die braven Ameriner sind der Gerissenheit eines Chrysogonus nicht gewachsen. Dieser weiß es nämlich zu verhindern, daß die Gesandten überhaupt eine Audienz beim Diktator erhalten; er setzt sich selbst mit ihnen auseinander und verspricht ihnen dabei, die nachträgliche Proskription rückgängig zu machen und dem Sohn des Ermordeten die Güter zu übergeben (§ 26). Zu allem Unglück ist auch noch Roscius Capito selbst unter den Gesandten, der natürlich das Seine tut, um die Kollegen hinters Licht zu führen (§§ 26, 109117). So kehrt man denn unverrichteter Dinge nach Hause zurück. Chrysogonus und seine Komplizen denken nicht daran, ihre Versprechungen wahr zu machen. Erst ziehen sie die Sache in die Länge, und schließlich planen sie sogar einen zweiten Mord: Wenn sie ihren Raub in Ruhe genießen wollen, so muß der junge Sex. Roscius ebenfalls umgebracht werden (§§ 13, 26). Dieser jedoch entzieht sich ihren Anschlägen, flieht nach Rom und findet Schutz bei den Freunden seines Vaters (§ 27). N u n bleibt nur noch ein Weg, den jungen Roscius zu beseitigen: der Justizmord! Man stellt den Sohn des Erschlagenen vor Gericht, und zwar mit der wahnwitzigen Behauptung, er selbst habe seinen Vater getötet (§ 28). Die „Rollenverteilung" (§ 35) bei dem parricidium-l>Toze& ist folgende. Ein alter ,Berufskläger' Erucius (§§ 28, 61, 89 f., vgl. auch § 5 5 ) übernimmt die Anklage, beraten von Roscius Magnus, dem Verwalter des Chrysogonus 7 . Sein Komplize 5

Genaueres zu dieser proscriptio s. unten S. 61 f. So nach der narratio, in der sich Cicero an die Version des Chrysogonus selbst hält (§ 6 sese dicit emisse ...). In der argumentatio (§§ 127 f.) äußert Cicero Zweifel, ob ein wirklicher Güterverkauf überhaupt stattgefunden hat. 7 F. V O N D E R M Ü H L L (RE I A 1, 1126, vgl. auch Z U M P T , Criminalprocess 519 und H U S B A N D , C W 8 , 1915, 93) hält Magnus für einen förmlichen Nebenkläger (subscriptor). Aber dagegen gilt das argumentum e silentio: Cicero würde nicht versäumen, so etwas ausdrücklich zu sagen, um die „Unverschämtheit" des Magnus zu 6

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Roscius Capito soll Zeugnis ablegen (§§ 84, 101-103) 8 ; im übrigen glaubt Chrysogonus, der eigentliche Drahtzieher, durch seine Macht d a f ü r bürgen zu können, daß niemand es wagen werde, über die wahren Hintergründe des Prozesses zu sprechen (§§ 5 f., 28, 58, 60 f.). Der Mord erscheint in der Darstellung der Anklage als das Ergebnis privater Familienzwistigkeiten: Der junge Roscius sei seinem Vater von jeher zuwider gewesen (§§40 ff.); und als dieser schließlich daran gedacht habe, ihn zu enterben (§§ 52-54, 58), sei der Sohn der Ausführung dieser Absicht durch Mord zuvorgekommen. Erst Cicero - so sagt er selbst - zerreißt in seinem Plädoyer den Schleier, den die Anklage über die Sache gebreitet hat: Es geht nur darum, daß Chrysogonus die Güter des alten Roscius in Ruhe behalten darf, und seine Komplizen sind selbst die Mörder! Können wir dieser Darstellung Ciceros Glauben schenken? Man hat es f ü r gewöhnlich getan. Der hohe persönliche Mut, den Cicero hier zeigt, der Ernst seines Appells an die H u m a n i t ä t und die geradezu heilige Empörung, mit der er die schrecklichen Ereignisse jener Zeit teils versteckt, teils offen geißelt, dies alles hat nicht allein den Glauben an die Gerechtigkeit der causa insgesamt begründet, es hat zugleich auch im einzelnen der Rede Ciceros einen Kredit verschafft, den sie bei näherem Zusehen nicht haben kann: „Cicero", so sagt einer seiner Erklärer, erscheine hier „noch ganz im Gewände der Unschuld" 9 . Wir werden seine rednerische Leistung - neben der sittlichen - erst dann voll würdigen können, wenn wir diese „Unschuld" wenigstens an einigen Punkten in Frage stellen 10 . Schon öfter ist aufgefallen, daß die Anklage gegen die beiden Roscii von Cicero nicht ausreichend begründet werden k a n n " . Ein Motiv f ü r die Tat s c h e i n t freilich vorhanden zu sein: Beide profitieren letztlich von dem Mord (§§ 17, 84-88, 99, 107 f., 152), der eine als Besitzer von drei Grundstücken 1 2 , geißeln; es heißt aber gewöhnlich nur, er „sitze beim Ankläger" (§§ 17, 87, 95, 104). Wenn er also in der leidenschaftlichen peroratio einmal selber accusator genannt wird (§ 152), so ist dies sicherlich nicht im technischen Sinn zu verstehen (zu untechnischem accusare vgl. Anm. 70 zu S. 257). Gegen die Annahme von H A L M / L A U B M A N N (Komm. S. 6, Anm. 53, so auch L A N D G R A F zu § 17), Magnus sei Z e u g e der Anklage, spricht entschieden die Tatsache, daß Cicero jedenfalls davon nichts weiß, vgl. bes. §102! Keinesfalls kann ihn also Erucius als Zeugen angekündigt haben. 8 Cicero weiß das von seinem Klienten, wie es scheint (§ 101). » H A L M / L A U B M A N N Komm. S. 13. 10 Wichtig sind hierfür besonders die Arbeit von LINCKE und die RE-Artikel von Fritz V O N DER MÜHLL. 11 KLOTZ zu § 86, H E I N Z E 101, V O N DER MÜHLL, RE I A 1, 1121, L A N D GRAF, Komm. S. 170, B Ü C H N E R 85; vgl. bes. LINCKE 193 ff. 12 Fraglich bleibt, ob Capito Eigentümer der Grundstücke ist (bzw. sich als solcher geriert) oder ob sie ihm bloß als Besitzer zur Nutzung überlassen sind. In § 17 spricht Cicero nur von Besitz (possidere), ebenso in § 99; etwas anders § 21: tria praedia . .. Capitoni propria traduntur, quae hodie possidet; § 103 . . . qui . . . illorum ipsorum bonorum de quibus agitur emptor atque possesor est...

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der andere wenigstens als procurator; dabei ist jedoch nicht beachtet, daß sich die beiden Roscii zumindest im Augenblick der T a t ihres Erfolges noch durchaus nicht sicher sein können. Die Zeit der Proskriptionen und Güterverkäufe war ja damals schon vorbei, und man hatte Chrysogonus, den entscheidenden Mann, für den Plan noch gar nicht gewonnen. Wäre es denn nicht klüger gewesen, sich in so riskanter Sache wenigstens die Unterstützung des mächtigen Freigelassenen von Anfang an zu sichern 13 ? Dazu kommt eine zweite, noch viel gröbere Unwahrscheinlichkeit. Roscius Capito erhält nach Ciceros D a r stellung (§ 21) seine drei Güter zur selben Zeit, wo Chrysogonus von den seinen durch Roscius Magnus Besitz ergreifen läßt. Dennoch finden wir später eben diesen Capito als Teilnehmer der Gesandtschaft, die bei Sulla die Rückerstattung der Güter an Sex. Roscius durchsetzen soll. U n d nicht genug damit, daß der (nach Cicero) notorische „Feind" des alten Roscius überhaupt mit einer solchen Mission betraut wird, die doch offenbar seinen Interessen widerstreitet 1 4 ; er soll es auch noch verstanden haben, die arglosen Bürger von Ameria im Verein mit Chrysogonus zu betrügen! Was Cicero auch über die „altvaterische N a i v i t ä t " 1 5 der Ameriner sagen mag, ein solches Verhalten ist weder ihnen noch sonst vernünftigen Menschen zuzutrauen. Die Wahrheit ist hier wirklich einmal mit Händen zu greifen. Wenn Capito nach Volaterrae geschickt wurde, so hat er ohne Zweifel die drei Güter erst später, d. h. n a c h der Gesandtschaftsreise erhalten 16 . Dies aber darf Cicero nicht sagen, denn sonst käme der Zuhörer fast unweigerlich auf diejenige Vermutung, die in der T a t

Cicero mildert das Unglaubwürdige seiner Version ein wenig dadurch, daß er zunächst (in der narratio) den genauen Zeitpunkt des Mordes unbestimmt läßt, ja sogar den Eindruck erweckt, als falle dieser noch in die Zeit der Proskriptionen (s. § 16!: Nur von der Proskribierung des Roscius wird ausdrücklich gesagt, daß sie nach Ende des Proskriptionstermins stattgefunden habe: § 21). In diesem Augenblick hätten die beiden Roscii noch mit größerer Wahrscheinlichkeit darauf hoffen können, sich am Vermögen des Ermordeten zu bereichern. Später (in der argumentatio) braucht Cicero keine Hemmungen mehr zu haben, die Zeit des Mords genauer anzugeben: § 128. 14 Auch CIACERIs Erklärung ( 1 2 2 Anm. 4) hilft hier wenig: Über Capito, den Freund des Chrysogonus (§ 106, der Wahrheitsgehalt dieser Stelle ist sehr zweifelhaft!), hätten die Ameriner am ehesten etwas zu erreichen gehofft. 15 § 26 homines antiqui, qui ex sua natura ceteros fingerent.. . 16 So nachdrücklich schon H A L M / L A U B M A N N Komm. S. 4 Anm. 31. Ja, Cicero sagt dies fast schon selber, freilich nicht in der narratio, sondern erst später in der argumentatio (§ 115): ipse tria praedia sibi depectus est [bei der Gesandtschaft!]. Vgl. hierzu auch L I N C K E (S. 196), der aber ganz anders urteilt. Bemerkenswert ist übrigens, daß Cicero dem genauen Wortlaut nach auch gar nicht behauptet, Capito habe die Güter schon sofort bei der venditio bonorum erhalten; andererseits ordnet er aber die Dinge in der narratio so an, daß der Hörer gar keinen anderen Eindruck erhalten kann. - Wenn CARCOPINO (S. 154) und LONGI (S. 136) auch noch den Kauf des Chrysogonus auf die Zeit nach der Gesandtschaft datieren (beide ohne Begründung), so beruht dies offenbar auf einem Versehen. 13

Rede f ü r Sex. Roscius aus Ameria

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auch alle Wahrscheinlichkeit für sich h a t : d a ß nämlich C a p i t o w ä h r e n d der Gesandtschaft v o n C h r y s o g o n u s bestochen wurde 1 7 , mit i h m also nicht schon vorher i m Bunde war. Ciceros Absicht ist o f f e n k u n d i g : Er w i l l C a p i t o m ö g lichst früh ins Spiel bringen, u m das K o m p l o t t C a p i t o - M a g n u s b e h a u p t e n zu können. D i e Tatsachen aber sprechen gegen dieses K o m p l o t t . Wir müssen an dieser Stelle innehalten und uns überlegen, w a s C i c e r o überhaupt b e w o g e n haben kann, eine so w e n i g plausible K o n s t r u k t i o n für die W a h r heit auszugeben. D a ß er überhaupt eine Alternativversion bezüglich des Mords vorlegen muß, ist klar. W o sich ein sicherer U n s c h u l d s b e w e i s nicht führen läßt, gilt für den Strafverteidiger die Regel, d a ß eine Leiche ihren M ö r d e r braucht 1 8 ; im Falle des Roscius aber ließ sich o f f e n b a r weder nachweisen, d a ß der A n g e klagte zur Zeit der T a t in A m e r i a gewesen wäre 1 ', noch w a r das immerhin mögliche M o t i v „ H a b s u c h t " aus der W e l t z u schaffen. D e n n w e n n auch R o s cius v o m T o d seines Vaters tatsächlich nicht profitiert hat, so h e i ß t das ja noch lange nicht, daß er nicht i m M o m e n t der Tat entsprechende H o f f n u n g e n hätte haben können 2 0 . Cicero braucht also eine Gegenversion. U n d hier zeigt sich nun das Erstaunliche: Er w ä h l t gerade nicht diejenige Version, die auf G r u n d

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Das hat schon V O N D E R M Ü H L L (RE I A 1, 1121) vermutet, ohne damit Beachtung zu finden. 18 Eine Ausnahme macht die Herodes-Rede des Antiphon, vgl. aber auch §§ 64 ff. 19 Jedenfalls hat Cicero keine Zeugen d a f ü r , und der einzige .Beweis' liegt darin, daß Sex. Roscius ü b e r h a u p t auf dem Lande und nicht in der Stadt gelebt habe (vgl. L I N C K E 192 f.). Als offenes Argument kann dies Cicero natürlich nicht bringen, und so führt er es denn versteckt ein, indem er die beiden Sätze „Roscius lebte in Ameria" und „Roscius w a r zum Zeitpunkt des Mords in Ameria", gleich als wären sie tautologisch, nebeneinander stellt (§ 18), bzw. den ersten als eine Art Steigerung des zweiten verwendet: „Roscius war nicht nur damals, sondern überhaupt (!) nicht in Rom" (§§ 81 und 94 omnino, vgl. auch § 92). Entschieden gegen das Alibi spricht § 96: cum Ameriae Sex. Rosci domus uxor liberique essent. . . (Cicero wagt offenbar nicht zu sagen: Sex. Roscius!) Im übrigen meine ich, daß Cicero diesen P u n k t nicht so obenhin behandeln könnte, wenn Erucius energischer auf dem fehlenden Alibi insistiert hätte. Vgl. dazu unten S. 63 f. 20 Er wäre ja ohne das Dazwischentreten des Chrysogonus Erbe eines Millionenvermögens geworden. Leider können wir auf G r u n d der von Cicero gegebenen Daten nicht ganz sicher von der Unschuld des jungen Roscius überzeugt sein. Immerhin scheint sich aus der Tatsache der Gesandtschaft zu ergeben, daß er wenigstens von seinen amerinischen Mitbürgern nicht f ü r den Mörder gehalten w u r d e ; und man kann sich auch, wenn dieses argumentum e moribus erlaubt ist, schwer vorstellen, daß Cicero seine Laufbahn als Strafverteidiger mit der Verteidigung eines wirklichen Vatermörders hätte beginnen wollen (vgl. seine Grundsätze in off. 2, 51). Abzulehnen ist jedenfalls eine von Z U M P T (S. 520) und L I N C K E (S. 194) erwogene Vermutung: Roscius könne eventuell einer drohenden Ächtung seines Vaters zuvorgekommen sein, um sich so die Güter zu erhalten. Der Proskriptionstermin war ja zum Zeitpunkt des Mords schon überschritten. (Nicht stichhaltig ist dagegen Ciceros Argument aus dem verweigerten Sklavenverhör, s. unten Anm. 70.)

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der Indizien am nächsten läge. Wahrscheinlich wäre doch, daß Chrysogonus selbst f ü r die Beseitigung des alten Roscius gesorgt hätte: Er ist es schließlich, der aus dem Mord den weitaus größten Nutzen zieht; er ist es auch, der das entscheidende Stück der Beweisaufnahme, das peinliche Verhör der RosciusSklaven (der einzigen Tatzeugen!), verhindert (§§ 77 f., 119-123) 21 . Warum sagt Cicero nicht: „Chrysogonus läßt - eventuell im Bunde mit Roscius Magnus - den alten Roscius ermorden und proskribieren. Capito, der als Verwandter des Ermordeten sofort von dem Mord in Kenntnis gesetzt wird 22 , empört sich zunächst und versucht auch (im Verein mit den Amerinern), die Rückgabe der Güter an den Sohn durchzusetzen. Chrysogonus aber erkauft sich sein Wohlwollen, indem er ihm drei von dreizehn Grundstücken überläßt." Ich sehe nur eine Erklärung dafür, daß Cicero diese Version nicht wählt: Er will offenbar Chrysogonus schonen. Und er kann sich seine Unwahrscheinlichkeiten gewissermaßen ,leisten', indem ja auch der Ankläger seinerseits darauf bedacht sein muß, allen Verdacht von Chrysogonus fernzuhalten. Sehen wir nur, wie Cicero seinen Beweis bezüglich der Gesandtschaftsreise f ü h r t ! Statt daß er selber für den behaupteten Betrug des Capito die Gesandten als Zeugen vorführt, sagt er (§ 106): ιquod ex ipsis cognoscere poteritis, si accusator voluerit testimonium eis denuntiare23. Da kaum ein Grund denkbar ist, warum die Gesandten nicht als Zeugen der Verteidigung aussagen wollten 24 , müssen wir annehmen, daß Cicero ihr Zeugnis gar nicht haben will. Warum? Die Gesandten, vermute ich, würden aussagen, Capito sei seinerzeit von Chrysogonus gekauft worden; damit aber zerfiele die Konstruktion des Komplotts Capito-Magnus. Andererseits ist aber auch nicht zu erwarten, daß Erucius der Anregung Ciceros nachkommt und die Gesandten zum Zeugnis nötigt. Denn abgesehen von allem, was die Gesandten eventuell sonst noch sagen könnten davon wird noch zu reden sein - , wenn auf Grund ihrer Aussage auch nur Ciceros Version bezüglich des Mords diskreditiert würde, so bliebe nach dem radikal auf das Cui bono? abgestellten Plädoyer der Verteidigung nur noch Chrysogonus als der mutmaßliche Mörder übrig. Erucius würde seinem Auftraggeber wenig Freude machen. 21

Die Annahme, daß Chrysogonus selbst Urheber des Verbrechens ist, hat auch für uns die größte Wahrscheinlichkeit. Vgl. dazu unten S. 74. 22 Als führendes Mitglied des Gemeinderats (§§ 25 f.) dürfte Capito wohl der einflußreichste Vertreter der Familie nach dem Tod des alten Roscius gewesen sein (vgl. oben Anm. 2). Anders LINCKE 195. 23 Nur der Ankläger hat das Recht, zum Zeugnis zu nötigen. Siehe MOMMSEN, Strafrecht 408. 24 ZUMPT (der einzige, dem dies aufgefallen ist) vermutet, die Gesandten wollten „in einem gefährlichen Processe nicht als Zeugen auftreten" (S. 273). Aber sie waren doch auch bereit, für Roscius zu Sulla zu gehen, und außerdem setzen sich mehrere nobiles für Roscius ein. Auch wäre, falls ZUMPT recht hätte, nicht einzusehen, wieso Cicero über das Faktum einer verweigerten Aussage nicht bewegte Klage führen würde: „So groß ist die potentia des Chrysogonus etc."

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Wir haben so ein wichtiges Stück von Ciceros Taktik in dieser Rede erkannt. Er attackiert zwar Chrysogonus, den unsympathischen Günstling Sullas; er entlastet ihn aber doch auch zugleich, indem er bei der retorsio criminis den größten Teil der Verantwortung auf andere abwälzt. Um nun aber die Gesamttaktik von Ciceros Rede verstehen zu können, müssen wir zunächst die Motive und Überlegungen der Anklage studieren. Die Mordklage gegen Sex. Roscius, wie Cicero sie darstellt, wirkt bei näherem Zusehen paradox. Es war spätestens Friedrich RICHTER, der in seinem Kommentar auf die Sonderbarkeit der Sache aufmerksam machte®5: Wie konnte eigentlich Chrysogonus hoffen, eine Verurteilung zu erreichen, wo doch nach seiner eigenen Behauptung der alte Roscius proskribiert war, wo er selber doch nur unter Voraussetzung dieser Proskription die Güter des Erschlagenen hatte aufkaufen können? Und man hat sich oft darüber gewundert, daß Cicero nicht die Tatsache der venditio bonorum dazu benutze, um darzutun, daß sein Klient unter allen Umständen unschuldig sein müsse. Die Lösung des hier statuierten Problems verdanken wir zum größten Teil dem Scharfsinn Richard HEINZEs 26 . Man müsse annehmen, so meint er, daß es Chrysogonus gar nicht so unlieb gewesen wäre, wenn sich Roscius durch Hinweis auf die Proskription und die mit ihr gegebene Straffreiheit verteidigt hätte. Er hätte ja dadurch implizit die Legalität der venditio bonorum und so auch die Unrechtmäßigkeit seines eigenen Anspruchs auf das väterliche Vermögen anerkannt. Ein Freispruch auf dieser Grundlage wäre also geradezu im Interesse des Chrysogonus gewesen. An dieser Ansicht HEINZEs 2 7 ist nur ein nicht ganz unwichtiges Detail richtigzustellen. Im Proskriptionsgesetz Sullas, das Cicero an einer Stelle zitiert (§ 126)28, ist ausdrücklich unterschieden zwischen zwei Klassen von Personen, deren Güter konfisziert und von Staats wegen verkauft werden sollen: VT AVT

EORVM

BONA

VENEANT

QVI

PROSCRIPTI

SVNT

- das sind

die Geächteten im engeren Sinn, für deren Mörder Belohnungen ausgesetzt sind - . . . AVT

EORVM

QVI

IN ADVERSARIORVM

PRAESIDIIS

OCCISI

SVNT - das sind Leute, die bereits im bewaffneten Kampf gegen die Sullaner gefallen sind. Nun scheint es zwar auf Grund von Ciceros Darstellung zunächst so, als habe Chrysogonus die Güter des alten Roscius unter dem ersten Rechtstitel gekauft 29 - und dies ist offenbar auch die Meinung fast aller Ciceroerklä23

RICHTER/FLECKEISEN zu § 126. HEINZE 99. 27 Sie ist merkwürdigerweise fast unberücksichtigt geblieben, selbst bei denen, die HEINZEs Arbeit zitieren. Andere (ganz unbefriedigende) Lösungsversuche in den Arbeiten von SEDGWICK (ähnlich C A R C O P I N O 154 A. 3) und KINSEY, Mnem. 1966 (s. oben Anm. 1): Diese Autoren kennen H E I N Z E nicht. 28 Zu diesem Gesetz (lex Cornelia oder lex Valeria) vgl. jetzt T. E. KINSEY, Mnemosyne ser. 4, 21, 1968, 290-292. 29 § 32 patrem meum, cum proscriptus non esset, iugulastis, occisum in proscriptorum numerum rettulistis ... Die Konjunktion cum wird hier vom Hörer konzessiv ver28

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rer - ; allein hier bedient sich Cicero einer absichtlich unpräzisen Ausdrucksweise 3 0 , d e n n an der Stelle, w o er das juristische P r o b l e m der angeblichen venditio bonorum behandelt, heißt es u n z w e i d e u t i g (§ 127): ego haec omnia Chrysogonum fecisse dico, ut malum civem Roscium fuisse fingeret, ut eum apud adversaries occisum esse diceret31... D a m i t entfiel nun freilich für Roscius v o n vornherein die Möglichkeit, sich in d e r Weise zu verteidigen, daß er - w e n i g stens hypothetisch - den M o r d zugegeben und sich auf die Ä c h t u n g des Vaters berufen hätte (im Sinne des „si feci, iure feci"), i m übrigen jedoch kann H E I N ZEs H y p o t h e s e in modifizierter Form beibehalten werden, ja sie w i r d jetzt sogar n o c h um einiges plausibler: Roscius m u ß t e ja nun gar nicht das O d i u m des Vatermords auf sich nehmen, w e n n er sich zu seiner Verteidigung die Version des Chrysogonus z u eigen machte; er m u ß t e nur behaupten, sein Vater sei in adversariorum praesidiis gefallen, u n d w e n n es ihm gelang, dies glaublich z u machen, so mußte m a n ihn freisprechen. Ich meine in der Tat, d a ß dies die Absichten des Chrysogonus waren. Durchmustern w i r in G e d a n k e n die verschiedenen Möglichkeiten des Proz e ß v e r l a u f s ! In der R e d e des Erucius wurde, w i e Cicero berichtet - und hier k a n n er schlechterdings nicht die U n w a h r h e i t sagen - , w e d e r die venditio bonorum noch überhaupt der N a m e Chrysogonus erwähnt 3 2 . D a m i t ergaben sich

standen; ,richtig' wäre temporale Auffassung. Zu beachten ist, daß proscribere nie ein fester Terminus f ü r die „Ächtung" geworden ist; es kann immer auch nur das öffentliche „Anschreiben" bezeichnen (s. M O M M S E N , Strafrecht 938, Anm. 1). 30 Das Verhalten des Chrysogonus wirkt noch empörender, wenn man von ihm glaubt, er habe den Roscius nachträglich „geächtet". Die „Proskribierten" der zweiten Klasse kamen ja naturgemäß alle erst nachträglich auf die „Liste" (tabulae: §§ 21 und 28). Übrigens hat schon Plutarch (Cie. 3, 4) bzw. sein Gewährsmann aus Ciceros Rede die Version des Chrysogonus falsch erschlossen. 31 Richtig beachtet schon von V O N D E R M Ü H L L (RE I A 1, 1116 f.); unabhängig von ihm noch einmal von K I N S E Y , Mnemosyne 1966, 270. Man hat daran zu denken, daß die bewaffneten Auseinandersetzungen in Italien im Jahr 81 noch nicht abgeschlossen waren; Chrysogonus wird (anders als Erucius) den Tod des alten Roscius nicht nach Rom verlegt haben. 32 Ausdrücklich sagt Cicero nur das erste, aber das zweite ergibt sich sowohl aus dem sachlichen Zusammenhang - wie sollte Chrysogonus hereinkommen, ohne daß die venditio bonorum erwähnt würde? - als auch aus § 60, w o Cicero erzählt, Erucius sei bei der Erwähnung des Namens Chrysogonus in seinem (Ciceros) Plädoyer zusammengezuckt: Unmöglich kann also Erucius selbst schon von Chrysogonus gesprochen haben. Die gegenteilige Ansicht der Erklärer beruht auf nichts anderem als einer unglücklichen Konjektur MADVIGs (Opuscula academica, Hauniae 2 1887, 113), die wunderbarerweise in alle Editionen aufgenommen worden ist: § 132 . . . nonne quivis potest intellegere omnium architectum et machinatorem unum esse Chrysogonumf qui Sex. Rosci nomen deferendum curavit [hoc iudicium (secl. M A D V I G ) ] , cuius honoris causa accusare se dixit Erucius {... Beginn einer großen Textlücke). Durch die Athetese von hoc iudicium wird Erucius der gänzlich unsinnige Satz in den Mund gelegt, er klage „zu Ehren des Chrysogonus" - wie soll er denn das erläutert haben! Dabei ist

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nun für die Verteidigung zunächst zwei Möglichkeiten: Entweder (I) sie sagte ebenfalls nichts von der venditio bonorum etc., oder aber (II) sie gründete eben hierauf ihre Beweisführung: Die venditio bonorum zeige, daß der Vater in adversariorum praesidiis (und nicht etwa von seinem Sohn) getötet worden sei (Zeuge: Chrysogonus!). Würde nun Roscius im ersten Fall verurteilt, so wäre dies nur zum Teil günstig für Chrysogonus; eine Verurteilung wegen Vatermords würde ja stillschweigend implizieren, daß Chrysogonus kein Recht auf die Güter hätte, d. h. dieser hätte zwar seinen Hauptgegner beseitigt, stünde jedoch eventuell später erhobenen Ansprüchen der Roscius-Familie rechtlich hilflos gegenüber. Im zweiten Fall dagegen wäre eine Verurteilung geradezu ein Unglück für Chrysogonus. Denn sollte das Gericht den Roscius zum Vatermörder erklären, o b w o h l sich dieser auf die Version des Chrysogonus stützt, so wäre mit dem Schuldspruch zugleich ein ausdrückliches Urteil darüber abgegeben, daß die venditio bonorum unrechtmäßig war. Ein Freispruch jedoch in diesem zweiten Fall wäre das Günstigste, was sich Chrysogonus wünschen könnte: Roscius hätte so ein für allemal den Anspruch auf das Eigentum seines Vaters aufgegeben, und Chrysogonus könnte sich seines Raubs in Frieden erfreuen. Wenn dies die Überlegungen waren, die Chrysogonus angestellt hat33, so erklärt sich damit ein Umstand, der sonst recht rätselhaft scheint; die Tatsache nämlich, daß die Rede des Erucius so ungewöhnlich schlecht war. Cicero berichtet uns seine Argumente: Sie scheinen schwach und nichtig 34 ; er berichtet uns auch von seinem Verhalten während der Rede: Es war das eines Mannes, das Überlieferte durchaus nicht sinnlos, wenn man nur die folgende große Textlücke in Rechnung stellt und nicht von der Voraussetzung ausgeht, mit dem Ende des tradierten Textes müsse auch der Satz geendet haben. Ich möchte unter indicium den „Gerichtshof" verstehen und ergänze e. g.: . . . hoc iudicium, cuius honoris causa accusare se dixit Erucius (summa infamia afficere voluit. . .). Erucius mag sein A u f treten als Ankläger damit motiviert haben, daß er sagte, er klage nicht etwa aus persönlicher Feindschaft (vgl. § 55), sondern zur Ehre des Gerichtshofes, der nun nach langer Pause wieder zusammengetreten sei (vgl. § 28): Durch eine mutige Verurteilung des Roscius möge dieser nämlich zeigen, daß er nicht gewillt sei, die durch die Proskriptionen eingerissenen gesetzlosen Zustände länger zu dulden etc. Dagegen Cicero: Chrysogonus, der Drahtzieher des Prozesses, will diesen Gerichtshof, zu dessen Ehre Erucius angeblich klagt, mit Schande bedecken. (Es versteht sich, daß die Bewahrung des Überlieferten an dieser Stelle nicht von der Richtigkeit der vorgeschlagenen Erklärung bzw. Ergänzung abhängt.) 33 Wir haben gewissermaßen per petitionem principii die Ansicht (Ciceros) zugrunde gelegt, daß überhaupt Chrysogonus die treibende K r a f t der Anklage ist. D a dies in der Forschung nie bestritten wurde, erübrigt es sich darzulegen, zu welchen Schwierigkeiten andere (an sich denkbare) Auffassungen führen würden. 34 Für den angeblichen Enterbungsplan des alten Roscius brachte er überhaupt keine Beweise (§§ 52-54); auf das fehlende Alibi scheint er nicht mit dem gehörigen N a c h druck hingewiesen zu haben (s. oben Anm. 19). - Zusammenstellung der Zeugnisse Ciceros f ü r die Rede des Erucius bei: B A R D O N I 232-234; M A L C O V A T I , O r a t . Rom. Fr. 2 I 285 f. (unvollständig).

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der sich keine sonderliche Mühe gibt, die Verurteilung des Angeklagten zu erreichen®5. Woher diese Nachlässigkeit? Nach Ciceros Erklärung hätte Erucius angenommen, es werde ohnehin kein halbwegs fähiger Redner wagen, gegen die Interessen des Chrysogonus aufzutreten. Aber wahrscheinlicher ist doch, daß es eben Chrysogonus gar nicht wirklich auf eine Verurteilung abgesehen hatte. H ä t t e eine überzeugende und brillante Rede des Erucius die Gemüter der Richter allzusehr erhitzt, so stand zu befürchten - man wußte ja nicht, wer entgegnen würde 3 ' daß es t r o t z einer Berufung auf die Version des Chrysogonus (pater in adversariorum praesidiis occisus) zu einem Schuldspruch käme. Klüger war es, das beste Beweismaterial zunächst einmal zurückzuhalten und vorsichtig abzuwarten, welchen Weg die Verteidigung einschlagen würde". Akzeptierte sie den ausgelegten Köder, so war alles in O r d n u n g : Erucius konnte sich f ü r schlecht informiert erklären 38 , und der Prozeß durfte mit Anstand verloren gehen. Akzeptierte sie ihn dagegen nicht oder n o c h nicht, so konnte man sie im späteren Verlauf des Prozesses, d. h. beim Zeugenverhör immer noch unter Druck setzen. Auch und gerade eine schlechte Rede kann in besonderen Fällen ihren Zweck erfüllen. Dazu kommt ein zweites. Cicero berichtet (in § 101), Capito habe dem Sex. Roscius mit seiner Zeugenaussage gedroht, ja ihm sogar Einzelheiten daraus vorgehalten. Damit dürfte Cicero die Wahrheit sagen, schon aus dem Grunde, weil es streng genommen gar nicht zu seiner Version stimmt. Welcher parteiische Zeuge würde denn normalerweise seinen Prozeßgegner in dieser Weise vorher informieren! Alles wird klar durch unsere Hypothese. Capito unterrichtet den Roscius von vornherein über alles, was er - falsch oder richtig - gegen ihn vorbringen kann, um ihm nämlich Angst zu machen und ihn so zu nötigen, den von der Anklage gewünschten Weg der Verteidigung einzuschlagen. Erucius und Capito scheinen genau aufeinander eingespielt zu sein. Was der eine vor den Richtern zunächst zurückhält, um nicht zu überzeugen, das bringt der andere dem Angeklagten zur Kenntnis, damit dieser nicht aus der schlechten Rede falsche Hoffnungen schöpft. Wir können es aber ruhig dahingestellt sein lassen, ob wir mit diesen letzten beiden Vermutungen das Richtige treffen. Auf jeden Fall ist mit H E I N Z E anzunehmen, daß Cicero nur sehr bedingt die Wahrheit sagt, wenn er behauptet, die Anklage habe damit gerechnet, daß die venditio bonorum überhaupt nicht zur Sprache kommen werde. Sie hat an sich sehr wohl damit gerechnet, ja sie hat sogar darauf gehofft - die Art freilich, w i e Cicero die Sache behandelt, mußte für Erucius überraschend sein. Und damit kommen wir zur eigentlichen

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§ 59. Die Beschreibung ist sicherlich satirisch übertrieben; aber im Kern muß sie richtig sein, denn die Richter haben ja Erucius selbst gehört. 36 Dies sagt Cicero ausdrücklich (§ 58), und die ersten Paragraphen der Rede beweisen implizit die Richtigkeit der Behauptung. 37 Zum Zurückhalten von Beweismaterial vgl. Anm. 16 (Ende) zu S. 34. 38 Er hatte ja von der venditio bonorum nichts gesagt.

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Erfindung von Ciceros Rede. Der A n w a l t des jungen Roscius sah sich in einer merkwürdigen, ja verzwickten Lage. Ging er auf das M a n ö v e r der Gegenseite ein, so rettete er seinem M a n d a n t e n z w a r die bürgerliche Existenz, aber nicht das Vermögen. Ging er auf das M a n ö v e r nicht ein (d. h. ließ er die venditio bonorum ebenfalls aus dem Spiel), so behielt Sex. Roscius z w a r seine Vermögensansprüche, d a f ü r konnte er jedoch bezüglich des Vatermords in ernste Schwierigkeiten kommen: Wer weiß, was C a p i t o und andere - bestochene oder ehrliche - Zeugen noch an belastendem Material in Reserve hatten? U n d die Zeitstimmung - das d ü r f e n wir Cicero glauben - w a r einer Verurteilung günstig (§ 28). Natürlich gab es noch eine dritte Möglichkeit, und Chrysogonus m u ß auch an sie gedacht haben. Der A n w a l t des Roscius k ö n n t e ja schließlich auch die Wahrheit sagen, er könnte auf die Widersprüchlichkeit im V e r f a h r e n der Gegner aufmerksam machen und daraus den Richtern beweisen, d a ß es in diesem Prozeß überhaupt nicht auf die Verurteilung des Angeklagten abgesehen sei, sondern d a r a u f , dem Chrysogonus sein unrechtmäßig erworbenes Eigentum zu sichern. Aber wohl aus verschiedenen G r ü n d e n glaubte Chrysogonus diese Möglichkeit ausschließen zu können. Die Behauptung, der Güterverkauf sei illegal, m u ß t e Sulla belasten, unter dessen N a m e n sie erfolgt w a r (vgl. §§ 6, 143). Außerdem wären eventuelle Proskriptionsgewinnler unter den richtenden Senatoren sicherlich darüber verärgert, wenn ü b e r h a u p t venditiones bonorum angefochten würden. Schließlich: Wenn Roscius senior weder von seinem Sohn ermordet noch in adversariorum praesidiis gefallen w a r — wer sollte der Mörder sein? Die Tatsachen, das m u ß t e Chrysogonus sehen, wiesen auf ihn selbst als Anstifter des Verbrechens, wenn nur einmal die Illegalität der venditio bonorum dargelegt w a r . Aber w ü r d e man es wagen, zu behaupten, Sulla habe einen Meuchelmörder mit den Gütern des alten Roscius beschenkt? Mit einer solchen Frechheit der Argumentation glaubte Chrysogonus nicht rechnen zu müssen. U n d er hat sich damit, wie wir sehen, nicht völlig geirrt. Cicero nämlich ergreift z w a r in der T a t diese dritte Möglichkeit der Verteidigung, aber er f ü h r t sie nicht konsequent durch, sondern in einer modifizierten und gewissermaßen entschärften Weise. Er deckt z w a r auf, d a ß es in diesem Prozeß nicht um die Rache f ü r die E r m o r d u n g des alten Roscius geht, sondern um dessen Güter, aber er verdeckt doch auch wieder die Tatsache, d a ß die Anklage eine Verurteilung des Roscius gar nicht wollte. Kein W o r t sagt er darum von dem Widerspruch im Vorgehen seiner Gegner, ja er zeigt sich sogar bemüht, diesen aus dem Bewußtsein der Richter fernzuhalten 8 9 . N a c h seiner Version will Chrysogonus tatsächlich den Roscius beseitigen, um sich s ο seinen unrechtmäßig erworbenen Besitz zu sichern. Diese Version h a t einen großen Vorzug gegenüber der W a h r h e i t : N a c h ihr k ä m p f t Roscius nicht um sein Vermögen, sondern um seine nackte Existenz! Das ist zunächst einmal sehr viel rührender und pathetischer - man sehe nur, wie Cicero allerorts das M i t leid seiner Zuhörer durch die Vorstellung erregt, d a ß man dem schon beraubten 39

Vgl. unten Anm. 53 zum prooemium.

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Roscius nun auch noch das Leben nehmen wolle 4 0 - ; es dürfte aber zugleich auch den Richtern senatorischen Standes lieber sein, einen Unschuldigen des Vatermords freizusprechen, als einem Proskriptionsgeschädigten sein Vermögen z u restituieren. So verschleiert Cicero sowohl die eigentliche Absicht seiner Gegner w i e die Absicht seiner eigenen Rede, die ja darin besteht, die Verteidigung so z u führen, daß die Vermögensansprüche des Roscius erhalten bleiben 41 . Diese halbe Enthüllung der gegnerischen Pläne macht nun freilich immer noch den Angriff auf Chrysogonus, den Günstling Sullas, notwendig 4 2 . Er soll 40

§ 7 primum a Chrysogono peto ut pecunia jortunisque nostris contentus sit, sanguinem et vitam ne petat... Vgl. §§ 32, 49, 128, 143-145, 150. Darum behauptet Cicero auch, Roscius sei aus Angst vor Mordanschlägen nach Rom geflohen (was man ihm — obwohl nicht die Spur eines Beweises vorliegt - geglaubt hat). In Wirklichkeit ist er natürlich nach Rom gegangen, weil er nur dort noch etwas in seiner Vermögensangelegenheit erreichen zu können glaubte: Die Gesandtschaft war ja erfolglos gewesen, und mittlerweile war wenigstens ein Teil der Verwandtschaft des Roscius mit Chrysogonus im Bunde. 41 Diese Absicht Ciceros, welche H E I N Z E richtig erkannt hat (S. 102, vgl. immerhin auch schon KLOTZ zu § 128) - die übrigen Forscher haben stets an § 7 geglaubt (zuletzt KINSEY, Mnemosyne 1966, 271) - , wird an einer einzigen Stelle wenigstens im Vorübergehen angedeutet. In § 127 sagt Cicero: denique etiam illud suspicor omnino haec bona non venisse; id quod postea, si per vos, indices, licitum exit, aperietur. Was ist gemeint mit postea? Sämtliche Erklärer (mit der Ausnahme von OSENBRÜGGEN. wie ich jetzt nachträglich sehe) beziehen dies auf die Textlücke in § 132: Dort müsse Cicero seine Vermutung näher begründet haben. Dagegen spricht aber folgendes: (1) Der Text des für die Lücke erhaltenen Gronov-Scholiasten gibt keinen Anhaltspunkt f ü r die Annahme (vgl. unten Anm. 75). (2) Cicero begründet den „Verdacht" wenigstens kurz an Ort und Stelle (opinor enim . . . ) ; wenn er mehr zu sagen hat, warum sagt er es nicht sofort? Auch macht § 130 den Eindruck einer Zusammenfassung des zum Thema „Güterverkauf" Vorgebrachten. Mit § 132 geht Cicero zu Neuem über. (3) Dem postea von § 127 entspricht genau ante tempus in § 128: intellego me ante tempus, iudices, haec scrutari et propemodum errare, qui, cum capiti Sex. Rosci mederi debeam, reduviam eurem. Dieses ante tempus kann unmöglich mit der Textlücke in Zusammenhang gebracht werden, denn wenn es jetzt, in § 128, „verfrüht" ist, auf die venditio bonorum näher einzugehen, so ist es nach § 132 noch genauso „verfrüht"! (Die Erklärer z. St. schweigen denn auch, mit Ausnahme von KLOTZ.) Cicero spricht also gar nicht von einem späteren Teil der Rede, er deutet vielmehr an, daß die Sache in einem späteren Zivilprozeß geklärt werden könnte. Und si per vos, iudices, licitum erit heißt: „Wenn ihr, Richter, durch einen Freispruch die Möglichkeit dazu gebt". Man beachte indes, daß Cicero auch hier nicht etwa die Anfrechtung einer venditio bonorum ankündigt - das wäre zu riskant - , sondern nur die Feststellung, ob eine solche stattgefunden habe. - Vgl. unten S. 75 zu dem ganzen mit § 124 beginnenden Abschnitt. 42 D a ß Chrysogonus wirklich so einflußreich gewesen sei, wie Cicero es darstellt, wurde in neuerer Zeit bestritten bes. von AFZELIUS. Aber ich sehe nicht, wieso Cicero hier übertreiben müßte; und wenn er Chrysogonus mit den Worten einführt: adulescens vel potentissimus hoc tempore nostrae civitatis (§ 6), so kann das doch von der Ansicht der Richter nicht vollkommen abweichen.

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sich ja - auf diesen Punkt kann Cicero nicht verzichten - das Vermögen des Roscius widerrechtlich angeeignet und darum den Prozeß gegen ihn in Gang gebracht haben. Die Gefährlichkeit dieses Angriffs mildert Cicero zunächst dadurch, daß er Chrysogonus mit Entschiedenheit von Sulla trennt. Jede Attacke auf den einen ist begleitet von einem Bückling vor dem andern. Was Chrysogonus auch getan hat, Sulla weiß von nichts43. Weder hat er etwas von der venditio bonorum gehört, noch sind die Gesandten von Ameria zu ihm durchgedrungen. Man muß sich klarmachen, daß Cicero hier ganz dreist lügen könnte, wenn wir auch nicht die Möglichkeit haben, dies nachzuweisen. Es mag sehr wohl sein, daß die Gesandten dem Dekret ihres Gemeinderats entsprechend mit Sulla selbst verhandelt haben44 und daß dieser ihr Gesuch abschlägig beschieden hat, mit Rücksicht auf seinen Günstling. Cicero präsentiert die Gesandten nicht als Zeugen, und wenn unsere Vermutung richtig sein sollte, so könnte er sich darauf verlassen, daß auch weder der Ankläger sie vorführen noch Capito ihm widersprechen würde. Wer könnte es wagen, ihm entgegenzutreten, wenn er Sulla exkulpiert45! Die Trennung des Chrysogonus von Sulla ist künstlich und trotz aller verbaler Beteuerungen Ciceros wenig überzeugend48. So muß die Attacke auf Chrysogonus noch in anderer Weise abgesichert werden. Es empfiehlt sich, die gegen ihn erhobenen Vorwürfe auf das für die Sache Notwendige zu beschränken. Wenigstens von dem Vorwurf des Meuchelmords kann er entlastet werden, sofern es nur gelingt, einen anderen Mörder zu finden. Und hier bieten sich nun die beiden Roscii an. Zwar ,genügt' keiner der beiden für sich als Mörder: Capito hat nur die erforderliche schlechte Vergangenheit (probabile e vita)47 und den nötigen persönlichen Profit (drei Güter - probabile e causa), sein späteres Verhalten jedoch (Gesandtschaft!) spricht entschieden gegen den

§§ 6, 21 f., 25, 91, 127, 1 3 0 f. Es ist m. E . ebenso verkehrt, in diesen Äußerungen über Sulla Ciceros wahre politische Ansicht zu sehen, wie es falsch ist, sie als ironisch oder gar bitter ironisch zu deuten (so zuletzt G R U E N S. 2 6 8 - der dann konsequenterweise das über Sulla Gesagte einer späteren Rezension der Rede zuschreiben m u ß ! ) . C i cero will Sulla die Möglichkeit geben, sich von Chrysogonus zu distanzieren; und er will es den Richtern möglich machen, einen Freispruch des Angeklagten nicht als gegen Sulla gerichtet aufzufassen. Dies hofft er, durch bedenkenlose Panegyrik - mit R e c h t verweist B Ü C H N E R (S. 84) auf Ähnliches im späteren Kaiserkult - am ehesten zu erreichen. 44 Cicero läßt das Dekret verlesen (übrigens das einzige „unkünstliche" Beweisstück, das er vorlegt): H i e r haben wir einmal sicheren Boden unter den Füßen. 45 Vgl. oben S. 60. 40 Cicero selbst bezeugt (off. 2, 51), daß seine Rede als contra L. Sullae dominantis opes gehalten empfunden wurde, ein Zeugnis, dessen Gewicht A F Z E L I U S (vgl. oben Anm. 4 2 ) vergebens bestreitet (vgl. zur F r a g e auch G R U E N 2 7 1 ) . Vgl. auch Sen. suas. 7, 2 ; Plut. Cie. 3, 3 - 6 , Anon, de vir. illustr. 81, 2. 43

§§ 17, 84, 100. Allzuschlecht kann sein R u f aber auch nicht gewesen sein, w o er sich doch unter den decern primi des Gemeinderats von A m e r i a befindet (§S 25 f.).

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V o r w u r f . Umgekehrt ist bei Magnus z w a r das Verhalten verdächtig - er lebt in R o m und wird bald nach dem Mord v o n Chrysogonus mit der Verwaltung der Güter beauftragt - , dafür scheint aber sein Leumund gut zu sein 48 , und einen unmittelbaren Profit hat er v o n der Ermordung kaum 4 9 . So sind die beiden für Ciceros Zwecke z w a r einzeln ungeeignet, gemeinsam stellen sie aber doch ein recht brauchbares Paar dar. Was dem einen fehlt, hat der andere, und es m u ß nur gelingen, die Unwahrscheinlichkeiten der Erzählung irgendwie zu vertuschen. Dies erreicht nun Cicero vor allem durch einen Kunstgriff der Disposition. N a c h dem durch die rhetorische Faustregel nahegelegten Schema müßte er nach dem prooemium — zunächst seine eigene Version der Ereignisse in einer narratio vortragen und sie dann in einer argumentatio beweisen. Aber diese natürliche' Folge der Redeteile w a r hier ungünstig, da eben die narratio für sich genommen (wenigstens bezüglich des Mordes) kaum überzeugen konnte. So verwendet Cicero in diesem einen Punkt den ordo artificiosus, w i e die Theorie sagt 50 ; er läßt zwar die Hauptmasse der argumentatio (37 ff.) an ihrem Ort, nimmt aber ihr Herzstück heraus und setzt es vor die narratio in das prooemium (6 ff.) 5 1 . Dieses Herzstück ist das Cui-bono-Argument, welches Cicero nach einer sorgfältig auf die Spannung der Richter berechneten Einleitung 5 2 mit vernichtender Wucht gegen die A n k l a g e ausspielt: N i c h t dem Angeklagten ist der M o r d zugute gekommen, sondern dem Chrysogonus; es geht in diesem Prozeß

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Dies ergibt sich implizit aus den §§ 17 und 86 f., vgl. LINCKE 194. D a ß er sich auch persönlich bereichert haben soll, bleibt eine unbewiesene Behauptung (§ 23 - man achte besonders auf das verräterische ut fit\ Auch in der narratio der Miloniana dienen diese zwei Wörtchen dazu, ein unbeweisbares Detail vor Verdacht zu schützen: Mil. 28). 50 Zu „künstlicher" und „natürlicher" Disposition s. S. 12 mit Anm. 23. 51 Die Besonderheit des prooemium ist schon in der Antike aufgefallen. Fortunatian spricht von einer proecthesis: cum ante narrationem aliquid causa docilitatis [aber dies ist mehr!] adferimus, ut fecit Cicero pro Roscio (p. 110, 20 HALM). Vgl. auch den Aufbau der Tulliana (s. S. 166). 52 Der Eingangstopos („Entschuldigung des Redners für die eigene Jugend") dient im Sinne der Tradition (Anaxim. rhet. 29, 17-20, Isoer. Arch. 1 f., Dem. Phil. 1, 1, vgl. BLASS III 1, 301 und WEISCHE 21 f.) dazu, dem Redner die benevolentia iudicum zu sichern. Cicero aber verwendet ihn sehr ingeniös, um die Aufmerksamkeit zu erregen (iudicem attentum parare, s. LAUSBERG §§ 269-271): Aus der Jugendlichkeit Ciceros ergibt sich nämlich, daß die Sache politisch brisant sein muß; und so wird aus dem „Staunen" über die Person des Redners (§1) die Verwunderung über die N a tur der Sache (§ 5 forsitan quaeratis . . ., wobei dieses forsitan das höchst elegante understatement eines Redners ist, der weiß, daß er die neugierige Erwartung seiner Hörer aufs äußerste gespannt hat). Vgl. zum prooemium auch K Ö H L E R 54-58 (wenig glücklich), R A H N 8-11 und unten Anm. 71 zu S. 258. - Der Beginn mit: credo ego vos mirari dürfte dazu verführt haben, unsere Rede als Beispiel des genus admirabile (Cie. inv. 1, 20 f.) anzusehen (so Schol. Gronov. p. 302 ST., Grillius p. 84, 22 ff. M A R T I N und L A N D G R A F zu § 1). Das ist wohl ganz irrig. Vgl. unten Anm. 43 zu S. 250. 49

Rede für Sex. Roscius aus Ameria 69 um nichts anderes als darum, daß Chrysogonus die Güter des alten Roscius behalten kann 53 , und eben diesen Punkt hat der Ankläger mit Vorbedacht verschwiegen: „Cicero wird in seiner ganzen langen Anwaltslaufbahn später selten wieder eine Wirkung erzielt haben wie damals . . a l s er, ohne noch des angeblichen Verbrechens mit einem Worte gedacht zu haben, den wahren Kern der Anklage enthüllte und die Aufforderung des Erucius zur Verurteilung des Roscius, die soeben verklungen war, in die Sprache der geheimen Gedanken des Chrysogonus54 übersetzte" (Richard HEINZE) 5 5 . Die Gewalt dieses Arguments, mit dem Erucius in der Tat nicht gerechnet hatte und das plötzlich, wie Cicero sagt, aus Verteidigern Kläger und aus Klägern Beklagte macht 5 ', gibt allen folgenden Darlegungen eine Überzeugungskraft, die sie anders nicht haben könnten. Der Richter, wie der moderne Leser, steht die ganze Rede hindurch unter dem bezaubernden Bann dieser Enthüllung: Nachdem er einmal glaubt, daß ihm die Augen geöffnet sind, ist er gerne bereit, sie vor kleineren Unstimmigkeiten willig zu verschließen. Wir kommen zur narratio (§§ 15-29). Die Frage nach dem wirklichen Mörder des alten Roscius war im prooemium noch ausgespart worden. Es wäre zwar durchaus möglich gewesen, das Cui-bono-Argument sogleich auch in diese Richtung zu lenken und der Gegenseite schon den Mord anzulasten, aber davon hat Cicero wohlweislich abgesehen. Denn auf dieser Stufe der ,Enthüllung' hätte ja der Mordverdacht notwendig auf Chrysogonus selbst zurückfallen müssen, und eben dies galt es zu vermeiden57. So muß nun die narratio vor allem Ciceros Alternativversion zum eigentlichen Mord glaublich machen. Nach einer recht ausführlichen Exposition des alten Roscius, der als Freund der Nobilität und der Sullaner erscheint (§§ 15 f.), treten die beiden Roscii auf: erant ei veteres inimicitiae cum duobus Rosciis Amerinis... Sie erscheinen sogleich als Paar, sie werden auch sogleich mit Chrysogonus verknüpft und damit unter das Cui-bono-Argument subsumiert: . . . quorum alterum sedere in accusatorum subselliis video [Verbindung mit Chrysogonus], alterum tria huiusce praedia possidere audio [Cui bono!]; quas inimicitias si tarn cavere potuisset quam metuere solebat, ν iv er e t. Mit dem letzten Wort ist der Mordverdacht nun zum ersten Mal ausgesprochen; sogleich folgt das probabile e vita: Capito ist ein alter gladiator - hierfür kündigt Cicero spätere Beweise an —, und auch Magnus hat sich neuerdings in seine Schule begeben: nam (!) cum hic 53

Man beachte, daß Cicero in dem ganzen prooemium mit keinem Wort der angeblichen Proskription gedenkt. (W i e sich Chrysogonus der Güter bemächtigt hat, bleibt offen.) Dadurch wird es den Richtern fast unmöglich gemacht, den Widerspruch im Vorgehen des Chrysogonus und so die eigentlichen Absichten der Anklage zu erkennen. Vgl oben S. 65. 54 HEINZE denkt an § 6. 55 HEINZE 101; vgl. B Ü C H N E R 83. 5e Die §§ 12 f. bringen ausdrücklich „Anklagetopik". 57 Chrysogonus erscheint nur metaphorisch als Mörder, insofern als er dem jungen Roscius nach dem Leben trachtet.

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Sex. Roscius esset Ameriae, T. autem iste Romae..., occiditur ad balneas Pallacinas rediens a cena Sex. Roscius. D a s probabile e vita, das die Tat wahrscheinlich machen sollte, wird hier seinerseits a u s der Tat wahrscheinlich! Cicero kann seinen Zuhörern schon an dieser Stelle seiner Rede Erstaunliches zumuten. Zum Rest der narratio ist eingangs schon das N ö t i g s t e bemerkt worden. Im wesentlichen f o l g t sie der Chronologie (mit einer freilich suggestiven Auswahl der Begebenheiten) 5 8 ; nur an einem Punkt wird, w i e wir gesehen haben, die Zeitenfolge verwirrt 5 9 : C a p i t o bekommt seine Güter schon v o r der Gesandtschaftsreise; so scheint es unzweifelhaft, daß er v o n A n f a n g an im Bunde war 6 0 . D e n Abschluß der narratio bildet eine digressio epilogartigen Charakters (§§ 2 9 - 3 4 ) ' 1 , die ihre Gedanken im wesentlichen aus dem prooemium bezieht, erweitert nur u m den Mord. Der A u f b a u der nun folgenden argumentatio (§§ 3 7 - 1 4 2 ) , die durch eine partitio (§§ 35 f.) angekündigt wird 6 2 , ist einfach und, w e n n man Ciceros Erfindung einmal zugrunde legt, vollkommen natürlich. Zunächst beweist Cicero die Unschuld des Sex. Roscius (I: §§ 3 7 - 8 2 ) , sodann wird der Gegenangriff gegen die beiden Roscii geführt (II: §§ 8 3 - 1 2 3 ) ; das letzte Stück bringt den Nachweis, daß Chrysogonus die Güter unrechtmäßig erworben hat und daß er die eigentliche Seele des Prozesses ist ( I I I : §§ 1 2 4 - 1 4 2 mit größerer Textlücke in der Uberlieferung). D i e Reihenfolge der ersten beiden Teile entspricht der N a t u r w i e der rhetorischen Regel für die anticategoria63: erst Verteidigung, dann Angriff' 4 ; der Ort des dritten Teils ergibt sich aus der Logik der Sache:

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Was das Auffallendste ist: Wir hören kein Wort darüber, wie die Nachricht von der Ermordung zum jungen Roscius kommt, in welchem Zustand die Leiche nach Ameria transportiert wird (Art der Verwundung?), ob die beim Mord anwesenden Sklaven mitkommen bzw. was sie erzählen (vgl. auch L I N C K E 191 f.). Der Hörer darf nur e i n e Verbindung zwischen Rom und Ameria vor Augen haben: Mallius Glaucia. 59 Quintilian nennt diese Technik mos Homericus, vgl. dazu S. 224 mit Anm. 99. S. oben S. 58 mit Anm. 16. 61 Cicero befindet sich hier in Einklang mit bestimmten Theoretikern, die gerade für diese Stelle der Rede eine παρέκβασις fordern: Quint, inst. 4, 3, 5. Doch wäre nach Quintilian diese Übung erst aus der ostentatio declamatoria - die es so zu Ciceros Zeiten in Rom noch nicht gibt - auf das Forum übertragen worden. (Cicero selbst zur digressio: inv. 1, 97, vgl. bes. auch de or. 2, 312; LAUSBERG § 345). 62 Zur partitio s. unten Anm. 76; ihre Dreiteilung wie in der Quinctiana. E. N O R D E N (Aus Ciceros Werkstatt, Berlin 1913, 29) spricht von der „pedantischen Dispositionsmanier (die er dem Hortensius abgelernt hatte)". • 3 Die Rosciana als Muster der anticategoria bei Quint, inst. 7, 2, 23, Iul. Vict. p. 377 H., Schol. Gronov. p. 301 ST. 64 Quint. 7, 2, 21 quo in genere semper prior debebit esse defensio . . ., vgl. Iul. Vict. p. 377 H . ; allgemein zur anticategoria: LAUSBERG §§ 153, 197. Der verteidigende Teil hat naturgemäß vor allem den Charakter der refutatio/reprehensio (irrig SOLMSEN 543), der angreifende den der confirmatio. Vgl. auch R O H D E 8. Weitere Beispiele für die anticategoria bei Cicero sind: die verlorene Rede pro Vareno (Quint.

Rede f ü r Sex. Roscius aus Ameria

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Durch Ciceros positive Version bezüglich des Mordes (II) ist implizit schon bewiesen, daß die venditio bonorum nicht legal sein konnte. In dem Gesamtaufbau der argumentatio versinnbildlicht sich zugleich das doppelte Ziel v o n Ciceros Rede: den Freispruch seines Mandanten zu erreichen ( I / I I ) und dessen Anspruch auf das väterliche Vermögen zu erhalten (III). Wie die anticategoria ( I / I I : §§ 37—123) in der Anordnung ihrer einzelnen Stücke nach den in De inventione für den status coniecturalis niedergelegten Schulregeln gearbeitet ist 65 , das ist o f t dargestellt worden 6 ". Wir brauchen hier nur zu rekapitulieren und w o l l e n im übrigen unser Augenmerk auf einige, w i e es scheint, noch nicht bemerkte ,außerordentliche' Kunstgriffe lenken. I. Verteidigender Teil (§§ 3 7 - 8 2 ) : Cicero beginnt mit dem argumentum e vita (§§ 3 7 - 3 9 , vgl. inv. 2, 2 8 - 3 7 : ex persona): D e r Ankläger habe gegen den Charakter des Roscius nichts vorbringen können. D a s ist nicht ganz richtig. Erucius hatte auch das Vorleben des Angeklagten behandelt und ihm unter anderem Unterschlagung öffentlicher Gelder ( p e c u l a t u s ) v o r g e w o r f e n (§ 82) 67 , ohne dafür allerdings nähere Beweise zu bringen. Cicero benutzt den U m s t a n d ,

inst. 7, 2, 22, vgl. 7, 2, 10), pro Cluentio (§§ 9 ff.), pro Milone (§§ 31 ff.), pro Scauro im verlorenen Teil (Quint, inst. 7, 2, 10: Auf diese Rede und nicht, wie allgemein angenommen, auf pro Vareno dürfte sich auch die durch eine Textlücke - insoweit richtig WINTERBOTTOMs Ausg. - entstellte Äußerung Quintilians inst. 7, 2, 22 beziehen: ( . . . ) enim persona alieni cum persona matris temere compararetur. Wie wir wissen, hatte Cicero die dem Scaurus vorgeworfene Ermordung des Bostaris auf dessen Mutter geschoben [fr. m CLARK]. Dabei ließ sich wohl nur mit dem fehlenden Motiv des Scaurus, also e causa, argumentieren [vgl. fr. k C L A R K ] : Die Mutter war Erbin. Die übrigen Argumente, so dürfte Quintilian sagen, ließen keine Gegenüberstellung zu: „Bei einer argumentatio e persona etwa wäre es gefährlich, die Person eines Fremden mit der der eigenen Mutter zu vergleichen.") In einem weiteren Sinn gehört hierher auch die zweite Philippica, in der wie in der Rosciana (und der Kranzrede, vgl. oben Anm. 70 zu S. 23) der angreifende Teil vom verteidigenden getrennt ist; in pro Milone und pro Cluentio läßt Cicero beide ineinander übergehen. 65 Cie. inv. 2, 14-51. Vgl. zur dispositio des Konjekturalstatus auch rhet. Her. 2, 3-12, Quint, inst. 7, 2; V O L K M A N N 369-378; M A T T H E S 141-145 (LAUSBERG §§ 373 ff. stellt die Beweistopik leider nicht nach Status geordnet dar). 66 Vgl. PREISWERK 36-38, R O H D E 146, L A N D G R A F (Komm, passim), SOLMSEN 545 f. mit Anm. 12. 97 Die Kommentare (und auch V O N DER MÜHLL, RE I A 1, 1117, L I N C K E 191; richtiger O S E N B R Ü G G E N , Einl. S. 37) führen hier gänzlich in die Irre. Unmöglich kann Erucius den Roscius „des Peculats an den konfiszierten Gütern" ( V O N D E R MÜHLL a. O.) bezichtigt haben, denn - ganz abgesehen von der sprachlichen Schwierigkeit (zum Wortgebrauch von peculatus vgl. Chr. B R E C H T , RE Suppl. VII [1940], 818 f.) - Erucius hat doch nach Ciceros sicherem Zeugnis überhaupt nichts von der Proskription und der venditio bonorum gesagt! (§ 144, auf den verwiesen wird, hilft nichts zur Erklärung.) Es dürfte sich wohl um eine Bereicherung auf Kosten der Gemeindekasse gehandelt haben („municipaler Peculat", vgl. MOMMSEN, Strafrecht 767). Mehr können wir nicht erraten.

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daß dieser Vorwurf von dem eigentlichen crimen etwas abliegt - immerhin wies die Sache doch auf avaritial —, um ihn gar nicht an seinem Ort zu behandeln, sondern auf das Ende des ersten Teils abzuschieben, wo er dann in der Tat ,deplaciert* wirkt: quae mihi iste visus est ex alia oratione declamare quam in alium reum commentaretur (§ 82). Wir werden diesen ,Umstellungstrick' in Ciceros späteren Reden häufig verwendet finden. Das argumentum e causa ( § § 4 0 - 7 3 , vgl. inv. 2, 17—28) wird mit größerer Brillanz durchgeführt, als es der in der Tat dürftigen Argumentation des Erucius angemessen wäre. Hier bewegt sich Cicero frei auf rasch gewonnenem Terrain, und die üppigen Exkurse über loci communes - „Bauerntum hat Rom groß gemacht", „die Macht des bösen Gewissens" etc. - dienen sicherlich nicht dazu, Schwächen der Beweisführung zu vertuschen, sondern einem Publikum zu schmeicheln, das offenbar noch in dieser Zeit an solcherlei Dingen Freude hatte®8. Bemerkenswerter für uns ist der Aufbau des argumentum e facto (§§ 7 3 81, vgl. inv. 2, 38-44). Nach der Behauptung des Erucius hätte sich Roscius der Sklaven als Werkzeuge des Mords bedient (§ 79). Cicero stellt dies zurück und tut zunächst so, als habe sich der Ankläger gar nicht auf eine bestimmte Ansicht bezüglich der Ausführung des Verbrechens festgelegt. Durch eine dichotomische Dihärese werden dann die sämtlichen an sich denkbaren Möglichkeiten entwickelt: Roscius ermordet seinen Vater

(6) durch Sklaven (4) durch Ameriner

(5) durch Römer

Indem nun Cicero die sich jeweils ergebenden Alternativen der Reihe nach widerlegt, erscheint das, was der Ankläger tatsächlich behauptet hatte, als die letzte Ausflucht eines Verzweifelten, dem alle anderen Möglichkeiten des Entschlüpfens genommen sind (§ 79): restare tibi videbatur servorum nomen, quo quasi in portum reiectus a ceteris suspicionibus confugere posses . . . Diese ,AufTacitus (dial. 22, 3) nennt den jungen Cicero otiosus circa excessus. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Nachricht, daß in Ciceros Jugend eine Rede des Curio pro Ser. Fulvio als das Meisterwerk der Eloquenz gegolten habe: Brut. 122-124 nobis quidem pueris haec omnium optima putabatur . .. atqui. .. puerilis est locis multis: de amore, de tormentis, de rumore loci sane inanes, verum tarnen nondum tritis nostrorum hominum auribus nec erudita civitate tolerabiles. Das könnte noch von der Rosciana gesagt sein. Zu Ciceros Digressionen im allgemeinen: Η . V. C A N T E R , AJPh 52, 1931, 3 5 1 - 3 6 1 ; J . C. DA VIES, Latomus 27, 1968, 8 9 4 - 9 0 3 ; F U H R M A N N I 37 f. 68

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schiebetechnik' (deren sich Cicero auch später noch in ähnlicher Weise bedient) 69 ist hier allerdings ohne Not, ja fast spielerisch angewendet; Cicero hat ja ein durchaus plausibel scheinendes Argument gegen die gegnerische Behauptung: Sex. Roscius hat die Sklaven zum peinlichen Verhör verlangt, Roscius Magnus aber wollte sie nicht herausgeben70. Mit diesem Gedanken leitet dann der Schluß des ersten Teils geschickt zum zweiten über, der gegen die beiden Roscii gerichtet ist. Auch das angehängte argumentum e tempore (§§ 80 f.) dient in ähnlicher Weise der Vorbereitung des Gegenangriffs. II. Angreifender Teil (§§ 83-123): Im zweiten Teil der argumentatio wird das schulmäßige Einteilungsprinzip nicht rein durchgeführt, sondern mit einem chronologischen Prinzip ausgeglichen. Wir erhalten zunächst die argumenta e causa und e vita für T. Roscius Magnus, den Mörder im ,engeren' Sinn (§§ 84— 91), wobei das stärkere der beiden vorangestellt ist71. (Das argumentum e vita beruht auf reiner petitio principii, ähnlich wie oben in der narratio.) Das argumentum e facto (§§ 92-98, davon § 92 e loco, 93 e tempore, 93—98 e tempore consequently8 bezieht sich in der Hauptsache auf ein Ereignis n a c h dem Mord: die Botschaft des Mallius Glaucia an Capito. So kommt - dem Ort wie dem Zeitsinn nach - der zweite der Komplizen ins Spiel; auch gegen ihn wird dann sofort e causa (§ 99) und e vita (§§ 100 f.) argumentiert, dann schließt eine Attacke gegen beide (§§ 102^104) den ersten Abschnitt des zweiten Teils ab. Die Behandlung der nachfolgenden Ereignisse läßt sich nur noch mit Mühe im Sinne einer Argumentation e facto für den Mord verwenden. Aus der behaupteten Benachrichtigung des Chrysogonus (§§ 105-107), die ihrerseits selbst erst bewiesen werden muß, wagt auch Cicero nicht das Quod erat demonstrandum abzuleiten; die Höhe der Belohnung jedoch scheint dafür zu sprechen, daß es in der Tat ein Mörderlohn war (§ 108). Die Darstellung der ,Truggesandtschaft' (§§ 109-118) dient dann praktisch nur noch dazu, gegen Capito Stimmung zu machen, obwohl - gewissermaßen als Pflichtübung - auch aus ihr noch ein argumentum e vita gewonnen wird (§ 117). Merkwürdig ist der Schluß der Beweisführung in diesem zweiten Teil (§§119 f.), wo Cicero noch einmal, wie am Schluß des ersten Teils, auf die Verweigerung des Sklavenverhörs zu sprechen kommt. Denn dieses Thema ist 69

Caec. 90 (s. S. 98), Q. Rose. 52 (s. S. 145), Tull. 55 (s. S. 170). Plausibel ist das Argument allerdings nur, wenn man die wirklichen Absichten der Anklage nicht durchschaut; sonst beweist es für die Unschuld des Roscius nichts. Chrysogonus nämlich, der ja letztlich die Entscheidung darüber hat, ob die Sklaven ausgeliefert werden (s. unten S. 74), müßte ein Sklavenverhör auch dann verhindern, wenn Roscius in der Tat der Mörder wäre. Er will doch Roscius die Möglichkeit lassen zu behaupten: pater in adversariorum praesidiis occisus. (Dies gegen LINCKE 193 und 197.) 71 Oben (§§ 37 ff.) stand das argumentum e vita voran. Vgl. Quint, inst. 7, 2, 39 de causa prius an de persona dicendum sit, quaeritur, varieque est ab oratoribus factum, α Cicerone etiam praelatae frequenter causae, mihi. . . secundum naturam videtur ineipere α persona .. . potest tarnen id ipsum, sicut pleraque, vertere utilitas. 72 rhet. Her. 2, 8, vgl. Cie. inv. 2, 43, Quint, inst. 7, 2, 46.

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zwar recht brauchbar, um damit abschließend die Unschuld des Sex. Roscius zu beweisen (§ 123) 73 ; gegen die angeblichen Mörder kann es dagegen nur wenig besagen: Schließlich ist kein anderer als Chrysogonus der angebliche Eigentümer der Sklaven, der darüber entscheidet, ob sie ausgeliefert werden oder nicht. Cicero versucht denn auch nach einigem H i n und H e r gar nicht richtig, dies in Abrede zu stellen, und er rettet sich schließlich zu folgendem sonderbaren Argument (§ 122): quid igitur? Chrysogonus suine malefici occultandi causa quaestionem de eis haberi non volt? minime, indices; non in omnis arbitror omnia convenire. ego in Chrysogono, quod ad me attinet, nihil eius modi suspicor; neque hoc mihi nunc primum in mentem venit dicere. meministis me ita distribuisse initio causam: in crimen, cuius tota argumentatio permissa Erucio est, et in audaciam, cuius partes Rosciis impositae sunt [s. § 35], quicquid malefici, sceleris, caedis erit, proprium id Rosciorum esse debebit. Vergebens sucht man in diesen Worten nach einem Gedanken, der auch nur zum Schein die Unschuld des Chrysogonus an der Ermordung beweisen würde. Cicero behauptet diese Unschuld einfach kecklich und beruft sich im übrigen darauf, daß er ja schon bei der partitio causae die ,Rollen' so verteilt habe: Roscii - audacia; Chrysogonus - potentia. Man würde sich wohl täuschen, wenn man meinte, mit dieser lahmen Auskunft wolle Cicero die Richter ernstlich überzeugen und er habe nur eben kein besseres Argument zur H a n d gehabt: Warum bringt er dann den Gedanken, daß Chrysogonus an dem Mord Schuld tragen könne, überhaupt in die Rede herein? Nein, ganz im Gegenteil: Hier macht Cicero wenigstens die Aufmerksameren unter seinen Zuhörern - ganz absichtlich auf die Schwäche seiner eigenen Konstruktion aufmerksam. Er mußte ja wohl damit rechnen, daß auch ein Teil der Richter die Künstlichkeit seines Gegenangriffs durchschaut hätte; und so galt es, darauf hinzuweisen, daß, wenn schon die beiden Roscii nicht die eigentlichen Urheber des Mordes seien, dann eben derjenige, auf den auch das Cui-bono-Argument letztlich deutet: Chrysogonus (und jedenfalls nicht Sex. Roscius). Offen kann dies Cicero freilich nicht sagen, ohne das Ganze seiner vorsichtigen Erfindung zu zerstören; und so behilft er sich denn mit einer Andeutung, die zumindest einigen Hörern zeigen soll, daß der Redner anders denkt, als er spricht. Gerade die Nichtigkeit der Argumentation stößt hier den Gedanken auf das Richtige: „Mag es auch so aussehen, als sei Chrysogonus selbst an dem Mord beteiligt gewesen; i c h (wie ausdrucksvoll dieses gedehnte: ego quod ad me attinetl) kann nicht daran glauben, und ich habe mich auch schon zu Beginn anders festgelegt." Mit anderen Worten: Die Richter sollen glauben, was sie wollen; Cicero hat nichts gesagt. Das ist beileibe keine Ironie, sondern nichts anderes als die Technik des λόγο; έσχηματισμένος, wie sie in der rednerischen Ausbildung geübt und speziell für politisch heikle Themen empfohlen wird 74 . Wenn Diktaturen, wie man

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Vgl. aber auch oben Anm. 70. Eine moderne Gesamtdarstellung der einschlägigen Theorie (und Praxis) scheint zu fehlen (vgl. immerhin V O L K M A N N 113-123, nur wenig bei LAUSBERG §906).

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glaubt, für N u a n c e n der Rede hellhörig machen, so k o n n t e Cicero w o h l damit rechnen, daß ihn mancher Richter verstehen würde. Diesem durfte der z w e i t e Teil der argumentatio ruhig in etwas fragwürdigem Lichte erscheinen. III. Gegen Chrysogonus (§§ 1 2 4 - 1 4 2 mit Textlücke): Das dritte Stück der Beweisführung ist in bestimmter Hinsicht das schwierigste. Wenn Cicero zeigt, daß (1) der Güterverkauf rechtswidrig war (§§ 1 2 4 - 1 3 1 ) und d a ß (2) Chrysogonus darum den P r o z e ß gegen Roscius angestiftet hat (§ 132, Rest in der Lücke) 75 , so macht z w a r der sachliche Beweis an sich wenig Mühe; um so schwieriger ist es dafür, ihn so zu führen, daß die richtenden nobiles keinen A n stoß nehmen können. Bisher hat ja Cicero seine Verteidigung in der Weise angelegt, daß er Roscius auf sein Eigtentum zu Gunsten des Chrysogonus verzichten ließ; hier aber müssen nun notwendigerweise die Vermögensansprüche zur Sprache kommen 7 ', und da könnten denn die Richter befürchten, d a ß etwa durch einen den Interessen des Chrysogonus zuwiderlaufenden Freispruch die Rechtlichkeit der Proskriptionsverkäufe überhaupt in Frage gestellt würde. Müssen nicht alle Sullaner (und Proskriptionsgewinnler) zusammenstehen? Cicero begegnet dieser Schwierigkeit zunächst, indem er die Sache des Chrysogonus energisch v o n der der übrigen sectores bonorum scheidet (§ 124) und das Proskriptionsgesetz gelten läßt (§ 125 f.). Darüber hinaus versucht er in einem Gemeinsames Kennzeichen aller Typen des λόγος έσχημα-ασμένος (schema, figura, controversia figurata, orationem inflectere u. ä.) ist, daß man etwas anderes suggeriert als man sagt, wobei der Widerspruch jedoch nicht wie in der Ironie ein offener ist. Schon unser ältester Quellenautor, Demetrios (de interpr. 287-298: übersehen von V O L K M A N N ) , rät, die „figurierte Rede" zur Behandlung der Mächtigen zu verwenden, und dies gilt immer als eine ihrer Hauptaufgaben (Quint, inst. 9, 2, 68 ... cum personae potentes obstant, sine quarum reprehensione teneri causa non possit). Weitere Quellen der Theorie (soweit mir bekannt): ,Dion. Hai.' de or. figurata (Opuscula Bd. 2, S. 295 ff. U./R.), Quint, inst. 9, 2, 65-99, Hermog. de inv. 4, 13 (p. 204 ff. R.), Apsines de quaest. fig. (RhGr I 330 ff. S P . / H A M M E R ) , Iul. Vict. p. 435 f. H . (im wesentlichen nach Quintilian), Mart. Cap. p. 463 f. Η., Fortunatian. p. 84 ff. Η . Gegen übermäßigen Gebrauch der figura in der Schule polemisiert Porcius Latro (bei Sen. contr. 1 praef. 23 f.). Vgl. auch unten S. 287 f. (zur Caeliana). 75 Dazu dürfte noch das dritte Lemma des Scholiasten gehören: derivat tarnen et ait se . . . (vgl. zur Ergänzung des Lemmas oben S. 43). Die dissipatio der Güter, so scheint Cicero zu argumentieren, zeigt, daß Chrysogonus um ihren Besitz Angst hatte; eben darum hat er ja auch den Prozeß gegen Roscius in Gang gebracht. Anders erklären H A L M / L A U B M A N N und L A N D G R A F : Die dissipatio der Güter solle beweisen, daß eine venditio bonorum nicht stattgefunden habe (vgl. oben Anm. 41 zu § 127). Mir scheint diejenige Erklärung vorzuziehen, die das im Scholion Gesagte mit dem in § 132 eingeführten Thema in Einklang bringt. 78 In der partitio (§ 35) ist Cicero dem Problem geschickt ausgewichen, indem er nicht - schulmäßig - die zu behandelnden Beweispunkte, sondern die zu behandelnden Personen (Erucius, Roscii, Chrysogonus) ankündigt. Das ist natürlich eine ganz äußerliche Verkleidung, die nicht zu der Ansicht verleiten darf, Ciceros argumentatio sei ohne Berücksichtigung der Schulregeln angelegt. Irrig insofern SOLMSEN (S. 543 und 548 f.), der die Eigentümlichkeit der partitio richtig beobachtet, aber unrichtig erklärt.

76 Rede für Sex. Roscius aus Ameria zweiten Abschnitt extra causam (in der Textlücke beginnend bis § 135) den Unwillen gegen Chrysogonus zu erregen, wobei er kaum verhohlen an den Neid seiner H ö r e r appelliert: Soll gerade dieser Parvenu von den Proskriptionen am meisten profitieren? Das Ende der Invektive ist dann freilich hochmoralisch (136 ff.): Wenn man der Niedertracht eines Chrysogonus wehrt, dann wird die Sache der Nobilität nur um so herrlicher erstrahlen. So will Cicero die Hemmungen der Richter gegenüber Chrysogonus beseitigen. Es bleibt jedoch die Unstimmigkeit, daß Roscius auf der einen Seite sein Vermögen aufgibt, um sein Leben zu retten, auf der andern Seite nun aber doch seine diesbezüglichen Rechtsansprüche begründet. Hier hilft sich Cicero mit einem Kunstgriff, den man wohl ohne Scheu genial nennen darf: Er trennt nämlich seine eigene Aufgabe von dem Anliegen seines Klienten 77 . Dem armen Roscius ist es nur um den Freispruch zu tun (§ 128): non enim labor at de pecunia...; facile egestatem suam se laturum putat, si hac indigna suspicione et ficto crimine liberatus sit. Cicero dagegen hat Höheres im Sinn, er führt die Sache der Allgemeinheit (§ 129): quae... mihi ipsi indigna et intolerabilia videntur quaeque ad omnis, nisi providemus, arbitror pertinere, ea pro me ipso ex animi mei sensu ac dolore pronuntio... Und dementsprechend disponiert Cicero den Rest seiner Rede zum Schein in einen Teil pro se ipso (rückwirkend von § 124 bis § 142), der sich mit dem angekündigten dritten Teil der argumentatio deckt, und einen Teil pro Roscio (§§ 143-154), der die peroratio bildet. Wo es gegen Chrysogonus um das Geld des Roscius geht, da spricht Cicero im Namen des Staates; wo es um das Leben geht, im Namen des Roscius selbst. So wird der Anspruch auf das Vermögen des Roscius erhalten, ohne daß der Rührungseffekt f ü r den Schluß der Rede verloren ginge: Es sind wahrhaft erschütternde Wirkungen, die Cicero hier aus dem vorgeblichen Verzicht seines Klienten zu ziehen weiß. § 144: rogat oratque te, Chrysogone, si nihil de patris fortunis amplissimis in suam rem convertit, ... si vestitum quo ipse tectus erat 77

Gerne wüßte man, ob Cicero selbst der Erfinder dieses Tricks ist, den er später noch o f t mit viel Effekt anwendet (vgl. die Bemerkungen v o n T H I E R F E L D E R 388 f.: nur zu Caec. 25 nicht ganz genau): Cluent. 144 ff. (dazu unten S. 200), Mur. 54: N u r wegen der Bitten des Angeklagten spreche Cicero noch über die crimina ambitus, die an sich durch die Vorredner erledigt seien. Mil. 92 f f . : Gegen den Willen des Angeklagten rufe Cicero das Mitleid der Richter an. (Wenn Milo der Überlieferung nach die üblichen Mittel der Rührung, wie squalor, lacrimae, verschmäht hat, so beruhte das schwerlich auf seinem Charakter; es war vielmehr ein Teil von Ciceros Inszenierung: Er stilisiert Milo zum T y p des philosophischen H e l d e n vor Gericht', wie Sokrates, Rutilius [de or. 1, 231], und übernimmt selbst in vorgeblichem Widerspruch zum Klienten die partes misericordiae. So erreicht er Bewunderung u n d Rührung für den Mörder des Clodius.) Vgl. schließlich auch die Bemerkung Verr. II 2, 11. In griechischer Praxis und Theorie, w o Personalunion von A n w a l t und Prozeßpartei besteht (wichtig hierzu P R E I S W E R K 8 f.) hat dergleichen naturgemäß keinen Ort. Erst Quintilian kennt bzw. formuliert die Regel (inst. 4, 5, 20): quaedam interim nos et invitis litigatoribus simulandum est dicere . ..; nonnumquam, quasi interpellemur ab its, subsistere; saepe avertenda ad ipsos oratio, hortandi, ut sinant nos uti nostro consilio.

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anulumque de digito suum tibi tradidit, ... ut sibi per te liceat innocenti amicorum opibus vitam in egestate degere78. Und der leidenschaftliche Appell an Menschlichkeit und Milde, in den diese vielleicht rührendste unter allen perorationes Ciceros ausklingt 79 , läßt Hörer und Leser völlig vergessen, daß es eben nicht nur für Chrysogonus, sondern auch für den Angeklagten letztlich zu tun ist um runde sechs Millionen (§ 6). Schon allein diese schlechtweg ingeniöse Anlage der Schlußpartie zeigt, daß unsere Rede, die Rede des sechsundzwanzigjährigen Cicero, die er selbst als sein Gesellenstück angesehen hat 90 , den Ruhm zu Recht genießt, der ihr seit je zuteil wurde. Wenn wir auf das Ganze zurückblicken, so muß vor allem die Energie der Erfindung unsere Bewunderung erregen, die geistige Kraft, mit der der Redner den vorgegebenen Tatsachen und Beweisstücken s e i n e Version der Ereignisse abzwingt, mit der er die Absichten der Anklage zugleich enthüllt und verschleiert, das Millionenerbe beansprucht und aufgibt, mit der er schließlich zu seiner eigenen Absicherung jene künstliche ,Hierarchie der Bosheit' ersinnt, die von dem Mörderpaar der beiden Roscii als den eigentlichen Schurken über den ,nur noch' habgierigen und unsympathischen Chrysogonus hinaufführt zu der vollkommenen Unschuld und Güte des Diktators Sulla, der von all dem Bösen nichts geahnt hat 81 . Dies alles ist staunenswert, und man wird in Ciceros ganzem rednerischen Lebenswerk wohl nicht mehr ein zweites Stück finden, wo er für eine wahrscheinlich so gute Sache so mutig und vorsichtig zugleich gelogen hätte. " Nebenbei weiß Cicero aus diesem Verzicht noch ein Argument zu gewinnen, das in einer geradezu diabolischen Weise auf die Gemüter der Proskriptionsgewinnler berechnet ist. § 145: „Wenn Chrysogonus den Roscius anklagen läßt, obwohl dieser ihm doch sein Vermögen widerstandslos überlassen hat, . . . nonne ostendis id te vereri quod praeter ceteros tu metuere non debeas, ne quartdo liberis proscriptorum bona patria reddantur?" Das heißt, wenn man es entschlüsselt: Durch eine Verurteilung des Roscius würden die bonorum emptores nur ihre Furcht um den erworbenen Besitz verraten! In einem Atemzug fast appelliert Cicero an das Mitleid und an die Habgier seiner Zuhörer. 78 Sie ist im wesentlichen auf den loci indignationis et conquestionis (Cie. in ν. 1, 100-109) aufgebaut, enthält aber in § 152 auch eine knappe und sehr geschickt figurierte enumeratio (Cie. inv. 1, 98-100) des in der argumentatio Vorgetragenen, wobei zum letzten Mal das Cui-bono-Argument erscheint. (Die Reihenfolge der einzelnen Punkte ist gegenüber der argumentatio etwas verändert: 1. Roscius Magnus, 2. Sex. Roscius, 3. Chrysogonus.) 80 ... prima causa publica ... tantum commendationis habuit, ut non ulla esset quae non digna nostro patrocinio videretur (Brut. 312). 81 Diese .Hierarchie', um es zusammenfassend zu sagen, ist so strukturiert, daß jeweils die übergeordnete Person durch die untergeordnete entlastet wird: Sulla durch Chrysogonus (für proscriptio und venditio bonorum), Chrysogonus wiederum durch die Roscii (für den Mord). Trotz der sachlichen Schwächen dieser Konstruktion ist eine Widerlegung für den Ankläger darum nicht möglich, weil dann Chrysogonus statt der Roscii (S. 60), Sulla statt Chrysogonus (S. 67) belastet würde.

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Rede für Sex. Roscius aus Ameria

Indes kann diese Bewunderung in erster Linie doch nur der Erfindung gelten, weit weniger der Disposition. In ihr zeigt sich Cicero, wie leicht zu sehen, in fast völliger Abhängigkeit von den Regeln der hellenistischen Rhetorik; nicht allein daß die Rede insgesamt genau nach den partes orationis der Theorie gegliedert ist, auch die Disposition im einzelnen entspricht, soweit als nur möglich, den rhetorischen Vorschriften 82 . Das ist an sich natürlich nichts Schlechtes oder auch nur Unvollkommenes. Die praecepta rhetorum sind dazu da, um angewandt zu werden, und alles, was einsichtige Lehrer (wie Quintilian) über ihre nur relative Gültigkeit sagen83, setzt doch voraus, daß in der Regel wenigstens die Regel recht hat. Hier aber im Falle der Rosciana ergeben sich aus einer gewissen superstitio praeceptorum (Quint, inst. 4, 2, 85) doch einige Unschönheiten, ja Ungeschicklichkeiten. Das Störendste, wie mir scheint, ist die strenge Trennung von Erzählung und Beweis. Wo hätte etwa einer der großen attischen Redner eine so stoffreiche narratio von ihrer argumentatio abgesondert, zumindest im status coniecturalis, wo ja die narratio notwendig rekonstruktiv und das heißt selbst schon in gewissem Maße beweisend sein muß? So kommt es, daß Cicero in dem Teil seiner argumentatio, der den positiven Beweis enthält (Teil I I : confirmatio der eigenen Behauptung) nicht viel mehr tun kann, als die eigene narratio amplifizierend nachzuerzählen 84 . Im Grunde hat er sozusagen sein Pulver schon verschossen, und so wird das Interesse der Zuhörer mehr durch eine gewisse leere Brillanz der Einzelausführung als durch den gedanklichen Inhalt erregt. Freilich h a t die Trennung von Erzählung und Beweis auch immer ihre Vorteile; aber gerade diese weiß Cicero nicht völlig zu nutzen. Er versteht es zwar, zur Erhöhung der Glaubwürdigkeit gewisse nebensächliche Behauptungen in der narratio aufzustellen, die er später zu be82

Vgl. CLARKE 90. Anders SOLMSEN (S. 553, zustimmend B O N N E R 427): „Whatever there is of plan, purpose, unity in Cicero's Pro Sexto Roscio can never be understood on the basis of the scholastic distinctions and the casuistry of Hellenistic systems of rhetoric but only on the basis of the Roman tradition of political oratory." Dieses „Römische" findet SOLMSEN vor allem in „the . . . shrewd calculation of the judges' emotional reactions" (a. O. 551): Jeder der drei Teile der argumentatio bereite das folgende psychologisch vor, wobei die emotionelle Erregung steige, bis sie in der pathetischen peroratio ihren Höhepunkt erreiche. „By studying the precepts and rules embodied in the De inventione . . . an orator might learn how to prove a point but not how to turn a iudicium into an incendium" (a. O. 553). Aber wie sollte nach SOLMSEN die Rede angelegt sein, wenn sie wirklich nach den Regeln von De inventione gearbeitet wäre? Daß dort von einem emotionellen Crescendo' nichts steht, ist freilich richtig; aber ich kann das auch in der Rosciana nicht eigentlich finden: Das Proömium z. B. ist doch ,schon' viel pathetischer als der dritte Teil der argumentatio. Im ganzen scheint es mir eine etwas unglückliche Idee, von den officia oratoris der „hellenistischen Theorie" das docere, der „römisch-politischen Praxis" das movere zuzuteilen. 83 Vgl. oben S. 12. 84 Es korrespondieren: §§ 17 f. ~ 84-94. 19 ~ 95-104. 20-23 ~ 105-108. 24-26 ~ 109-118. 28 f. ~ 132 mit Lücke. Vgl. zum Verhältnis von narratio und argumentatio überhaupt S. 212 mit Anm. 67.

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weisen gar nicht versucht (als vorläufige Stützen gewissermaßen, die wegfallen können, wenn das Gebäude einmal steht): die persönliche Bereicherung des Roscius Magnus aus dem von ihm verwalteten Vermögen (§ 23), der Mordanschlag auf den jungen Roscius, der ihn zur Flucht nötigt (§ 26); umgekehrt benutzt er aber nicht die Möglichkeit, Störendes aus der narratio wegzulassen, wenn er es später in der argumentatio bringen will. So war es doch ganz unnötig, die Teilnahme des Capito an der Gesandtschaftsreise auch nur in Form eines schüchternen Nebensätzchens (§26) in der narratio zu erwähnen: Die Deklamation über den Betrug des Capito konnte genauso ihre Wirkung tun, wenn die Zuhörer erst später, an weniger störender Stelle, über diesen Punkt informiert worden wären. Wenn wir es wagen, Ciceros Rede in dieser Hinsicht zu bekritteln, so haben wir dabei in Bescheidenheit der Mahnung zu gedenken, die Quintilian an die kritischen Leser der klassischen Redner und besonders des Cicero gerichtet hat (inst. 10, 1, 26): modesto tarnen et circumspecto iudicio de tantis viris pronuntiandum est, ne, quod plerisque accidit, damnent quae non intellegunt. In dem einen Punkt jedenfalls, wo Cicero so auffallend von dem rhetorischen Grundschema abweicht, glauben wir seine Absichten verstanden zu haben. Wie er den Angelpunkt seiner Beweisführung, die von der Anklage verschwiegene venditio bonorum und das damit verbundene Cui-bono-Argument, mit sicherem Instinkt an den Beginn seiner Rede setzt und damit ein für allemal die Augen der Richter weg von dem Zeitpunkt der Tat auf den gegenwärtigen Zustand lenkt, so daß man die ganze Rede hindurch das eine Bild vor Augen hat: wie die drei „Ankläger" im Reichtum des Ermordeten schwelgen, dessen Erbe dagegen, der angebliche Mörder, von fremdem Mitleid ausgehalten sein Leben fristen muß wie es ihm gelingt, in jedem Abschnitt seiner Rede dies suggestive Bild hervorzurufen und dadurch (bis heute) seiner Version der Dinge Glauben zu verschaffen, darin zumindest zeigt dieses Gesellenstück der Beredsamkeit schon die Dispositionskunst des Meisters.

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Die Rede für A. Caecina (72 ν. Chr.?)1

Der Fall ist folgender: Die vermögende Witwe Caesennia hat den A. Caecina geheiratet und stirbt nach kurzer Ehe. Erben sind: ihr Mann (Caecina) zu 69/72 des Vermögens, ein M. Fulcinius (Freigelassener ihres ersten Gatten) zu 2/72, Sex. Aebutius, ihr Geschäftsberater, zu 1/72 (§ 17). Sogleich gibt es Streit. Zunächst behauptet Aebutius, Caecina könne nach einem Gesetz Sullas als Bürger von Volaterrae überhaupt nicht erben (§18, vgl. §§ 95 ff.). Caecina antwortet, indem er die Erbteilungsklage erhebt (actio familiae herciscundae). Jetzt meldet Aebutius Ansprüche an auf ein bestimmtes Grundstück, das nach der Ansicht Caecinas zur Erbmasse der Caesennia gehört: Das Grundstück sei sein Eigentum, Caesennia habe daran nur kraft des (von ihrem früheren Mann legierten) Nießbrauchrechts die possessio gehabt (§§ 19, 94). In der Tat kann er nachweisen, daß bei der früheren audio hereditaria, wo das Grundstück versteigert worden war, er selbst den Zuschlag bekommen und den Preis bezahlt hatte. Caecina dagegen behauptet, seine verstorbene Gattin habe Aebutius das Geld gegeben, um es für sie zu kaufen - Dokumente fehlen (§§ 15-17, vgl. § 27). Nach Ciceros Darstellung wird jetzt zwischen Aebutius und Caecina vereinbart, auf dem betreffenden Grundstück eine symbolische Gewalthandlung, die sogenannte vis ac deductio moribus2 vorzunehmen (§§ 20, 95). Über den genauen Sinn dieses offenbar prozeßeinleitenden Verfahrens sind wir leider nicht unterrichtet; wir können nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob es zu einem Besitz- oder Eigentumsstreit gehört3. Für das rechtliche Hauptproblem unserer Rede ist dies glücklicherweise nicht entscheidend, denn die vis ac deductio moribus hat überhaupt nicht stattgefunden4. Als Caecina nämlich in Begleitung einiger Freunde an Ort und Stelle erschien, hatte Aebutius den Platz bereits mit

Zur Datierung S. 100 mit Anm. 60. Textausgaben und Literatur siehe S. 309. Dies der korrekte Terminus: N I C O S I A 35 mit Anm. 78. 3 Einen Überblick über die verschiedenen Theorien gibt N I C O S I A 3 4 - 3 8 ; er selbst glaubt an einen Eigentumsstreit, aber vgl. § 2 der Rede und B Ö G L I 38 f. 4 D a ß sie wirklich vereinbart war, steht fest, da dies auch die Gegenseite zugab (s. § 3 2 ) ; zu fragen aber scheint mir, wie sie vereinbart w a r . N i m m t man mit Cicero an (§ 20), d a ß über die Rollenverteilung Einigkeit bestand (Aebutius deduziert C a e cina) - das tun, soweit ich sehe, alle E r k l ä r e r - , dann ist das Verhalten des Aebutius kaum verständlich: Wieso besinnt er sich um, bzw. wieso w a r er je einverstanden? (Cicero bietet hierfür keine Erklärung an, und er protestiert auch auffallenderweise 1

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verschiedenen Freunden und Sklaven besetzt, die zum (kleineren) Teil bewaffnet waren. Vergebens forderte Caecina, zur deductio auf das Grundstück gelassen zu werden. Aebutius erklärte, er werde niemand hereinlassen, vielmehr den Eintritt notfalls mit Waffengewalt verhindern. So geschieht es. Als Caecina sich doch noch Zutritt auf das Grundstück verschaffen will, schlagen ihn die Bewaffneten zurück. Zu Tätlichkeiten im engeren Sinn kommt es zwar nicht, aber doch - ob mit Grund? - zu einer spektakulären Flucht (§§ 2 0 - 2 2 , 2 4 - 3 0 ) . Jetzt verlangt Caecina beim Prätor, auf Grund des Interdikts de vi armata in den Besitz des Grundstücks eingewiesen zu werden. Der Prätor erteilt das Interdikt nach der im Edikt verheißenen Formel: VNDE TV AVT FAM1LIA AVT PROCVRATOR TVVS ILLVM AVT FAMILIAM AVT PROCVRATOREM ILLIVS VI HOMINIBVS COACTIS ARMAT1SVE DEIECIST1 EO REST1TVASAebutius erklärt „restitui", d. h. die im Interdikt genannte Voraussetzung treffe auf ihn nicht zu, da er den Caecina gar nicht „mit Waffengewalt vertrieben" habe. Es kommt zur Prozeßwette (sponsio·), und die Sache geht an die Rekuperatoren (§ 23). Frage: Handelte es sich um eine Dejektion im Sinne der Formel? Da Aebutius, von C. Calpurnius Piso 7 vertreten, die Tat als solche zugab, kam es nur auf das Rechtsproblem an, m. a. W. auf die Frage, wie das Interdikt zu interpretieren sei. Der Prozeß wurde zweimal ampliiert. Ciceros Rede liegt am Beginn der dritten actio; er kann also auf Pisos bisherige Argumentation eingehen, dieser wird aber noch einmal die Gelegenheit haben zu antworten 8 . nicht gegen einen Entschlußwechsel des Aebutius; vgl. KELLER 391-393, IORDAN 35 f., ROBY II 516, deren Ansicht mir nicht einleuchtet.) Sieht man genau hin, so entdeckt man, daß Cicero durch Zeugen nur das eine beweisen kann, daß am betreffenden Tag Caecina v e r l a n g t hatte, deduziert zu werden (§ 27, vgl. § 95), nicht aber daß dies s o vereinbart war. Wahrscheinlich gab es also Streit um die Rollen: Der Deduzierte muß irgendwie taktisch im Vorteil gewesen sein. Erklären könnte man sich das, wenn man die alte (schon von HOTMANN vertretene) Theorie zugrunde legt (aufgenommen von BÖGLI, CHABRUN, BOULANGER), wonach diese symbolische Gewaltanwendung ein gewöhnliches Interdikt de vi (zur Formel s. unten) auslösen und so zu gerichtlicher Klärung der Besitzverhältnisse führen sollte. Hierbei hätte der Deduzierte gewissermaßen die Rolle des possessor übernommen, insofern als dem Deduzierenden die Aufgabe zufiel nachzuweisen, daß er (der Deduzierte) „fehlerhaft" besitze (nach der exceptio im Interdikt: QVOD NEC CLAM NEC VI NEC PRECARIO POSSIDERET). Aebutius sagte dann: „Entweder werde i c h deduziert oder du kommst gar nicht auf das Grundstück." 5 Zur Rekonstruktion des Interdikts: NICOSIA 87 ff. (mit Lit.); vgl. KÄSER, Privatrecht I 2 399: In dem für uns Wichtigen besteht Einigkeit. * Rekonstruktion der dabei verwendeten Formeln: F. SCHULZ, Classical Roman law, Oxford 1951, 446. 7 Konsul 67, im Jahre 63 von Cicero selbst in einem Kriminalprozeß verteidigt (F. MÜNZER, RE III 1 [1897] 1376 f.). GELZER (Kl. Sehr. I 308) erschließt (offenbar aus § 35) einen zweiten Verteidiger des Aebutius: L. Calpurnius Piso. 8 Zur genaueren Rekonstruktion des Prozeßverlaufs s. unten S. 90.

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Das juristische Problem des Prozesses kann seit mehr als hundert Jahren im wesentlichen für gelöst gelten. Das Entscheidende hat schon S A V I G N Y gesehen, und die Ergebnisse praktisch der gesamten Forschungsarbeit sind von Giovanni N I C O S I A in seinem Buch „Studi sulla deiectio" (1965) so vorzüglich referiert und im einzelnen kritisiert worden, daß wir uns hier auf eine knappe Darstellung des für unsere Absicht Wichtigsten beschränken können. Caecinas Klage war nur dann berechtigt, wenn er wirklich possessor des betreffenden Grundstücks war. Cicero behauptet zwar, diese Frage sei nebensächlich (und er behandelt sie dementsprechend nur extra causam und, wie fast allgemein zugegeben, völlig ungenügend) 9 , allein die genaue Betrachtung der beiden Interdikte de vi (cotidiana) und de vi armata ergibt, daß bereits zur Zeit Ciceros nur bezüglich eines possessor eine deiectio im technischen Sinn stattfinden konnte, wie dies in den späteren juristischen Quellen auch ausdrücklich gesagt wird 10 . Die kritische Analyse von Ciceros Beweisführung an diesem fatalen Punkt ist für das Verständnis der Rede unerläßlich. Cicero referiert die Verteidigung (§ 90): exoritur.. . ilia defensio eum deici posse qui tum possideat; qui non possideat nullo modo posse; itaque, si ego sim a tuis aedibus deiectus, restitui non oportere, si ipse sis, oportere. Dagegen Cicero (§91): cur ergo aut in illud cotidianum interdictum [sc. de vi non armata] VNDE ILLE ME VI DEIECIT additur CVM EGO POSSIDEREM, si deici nemo potest qui non possidet, aut in hoc interdictum DE HOMINIBUS ARMATIS non additur, si oportet quaeri possederit necne? N u r im Falle des gewöhnlichen Interdikts de vi sei also die possessio für die deiectio erforderlich, nicht dagegen im Falle des Interdikts de vi armata, was sich daran zeige, daß die entsprechende Exceptionsklausel im zweiten Interdikt fehle. N u n ist letzteres dem Wortlaut nach richtig und auch von der Sache her scheint es zunächst billig, daß „bewaffnete Gewalt" vorbehaltloser geahndet wird als Gewalt ohne Waffen (§ 93): Ciceros Beweis ist aber dennoch exakt zu widerlegen. Er beruht nämlich, wie von N I C O S I A gezeigt 11 , auf einer falschen Worttrennung: Die betreffende Klausel im gewöhnlichen Gewaltinterdikt heißt nicht eigentlich, wie Cicero an der zitierten Stelle suggeriert, CVM EGO POSSIDEREM, sondern sie b e g i n n t nur so, als Ganzes heißt sie: CVM EGO POSSIDEREM QUOD NEC VI NEC CLAM NEC PRECARIO POSSIDEREM, womit die sogenannte vitiosa possessio12 beschrieben ist. Also gibt die Exceptionsklausel des Interdikts nicht für den Besitzer schlechtweg eine Ausnahme, sondern für d e n Besitzer, qui non vitiose possidet; daß die possessio überhaupt geschützt wird, liegt demnach nicht, wie Cicero behauptet, in der Exceptionsklausel, sondern, wenn man dies 8

In den §§ 94 f.: Die Argumente hätten nur dann einen Wert, wenn sich nachweisen ließe, daß das Grundstück Eigentum der Caesennia gewesen wäre; vgl. bes. R U H S T R A T 141-147. Lit. bei N I C O S I A 51 Anm. 125. Vgl. auch unten Anm. 58. 10 N I C O S I A 5-10. N I C O S I A betont allerdings vorsichtigerweise, daß dies nicht gerade in Bezug auf das Interdikt de vi armata explizit ausgesprochen wird. 11 N I C O S I A 45 ff., vgl. schon R O B Y II 523 f. 12 KÄSER, Privatrecht I 2 397 f.

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ausgedrückt sein lassen will, in dem Wort deicere. Dieses Wort begegnet nun aber auch in dem Interdikt de vi armata, und wenn sich dort keine Exceptionsklausel findet, so bedeutet das nur, daß im Falle von vis armata a u c h der vitiose possidens geschützt wird, es heißt nicht, daß überhaupt keine possessio notwendig wäre, um das Interdikt in Anspruch nehmen zu können. So muß Cicero, wenn er schließlich doch noch die ganze Exceptionsklausel des gewöhnlichen Gewaltinterdikts zitiert, aus einer Exception zweie machen. § 92: in illa vi cotidiana non satis est posse docere se deiectum, nisi ostendere potest, cum possideret, tum deiectum. ne id quidem satis (!), nisi docet ita se possedisse ut nec vi nec clam nec precario possederit. Kurz gesagt: Cicero interpretiert, als ob dastände: CVM 1LLE POSSIDERET (1) ET ITA POSSIDERET VT NEC VI NEC CLAM NEC PRECARIO POSSIDERET (2). Aber eben nur die zweite Exception liegt im Wortlaut, und Cicero legt durch stückweises Zitieren" die erste selbst hinein, um aus ihrem Fehlen im Interdikt de vi armata den für seine Sache günstigen Schluß ziehen zu können14. Es ist offenkundig: Cicero verfälscht den Sinn des Interdikts de vi armata, um von der Frage, ob Caecina possessor gewesen sei, abzulenken. Bei dieser Feststellung muß man nun jedoch eines bedenken: In gewisser Weise hat Cicero den sozusagen nackten W o r t l a u t des Interdikts durchaus für sich. Ausdrücklich steht es nicht da, daß man possessor sein müsse, um dejiziert werden zu können, und das Wort deicere läßt sich im Lateinischen natürlich auch in einem weiteren, untechnischen Sinn für jegliche Art von Vertreibung gebrauchen, einem Sinn, der sich hier um so leichter unterschieben läßt, als eine gewissermaßen amtliche Definition nicht vorliegt. Wir haben also, um es in der Sprache der Rhetorik zu sagen, einen geradezu schulmäßigen Fall der Diskrepanz von scriptum et voluntas (ρητόν και διάνοια)15. Während Piso, der gegnerische 1S

Eine entsprechende rhetorische Regel findet man bei Sextus Empiricus (adv. math. 2, 38): κελεύουσι δέ ενίοτε (sc. die Rhetoriker) καΐ κατά άποκοπήν άναγινώσκειν τούς νόμους καΐ έκ των λειπομένων Ετερον τι νόημα συντιθέναι. 14 Denkt man seine Auslegung folgerichtig zu Ende, so müßte jeder, der in fremden Besitz einzudringen versucht, sofern nur dieser Besitz irgendwie mit Waffen verteidigt wird, eine Einweisung nach dem Interdikt de vi armata verlangen können. - Generell gilt, daß heute die meisten Juristen (z.B. LENEL, SCHMIDLIN, N I C O S I A , WESEL, vgl. auch G. BROGGINI, ZRG 94, 1966, 453; V. A R A N G I O - R U I Z , in: M. Tullio Cicerone [Sammelbd.], Firenze 1961, 203), Ciceros Argumentation ablehnen, wogegen die Historiker und Philologen, sofern sie nicht wie B O U L A N G E R und F U H R M A N N (in der Einl. seiner Obers.; in: Studi VOLTERRA II 65 rechnet er aber seltsamerweise die §§ 90 ff. zu „Materien von geringerem Gewicht") die juristische Diskussion kennen, von seiner Auslegung der Interdikte überzeugt scheinen. 15 Wobei allerdings in diesem Fall das Recht entschieden auf der Seite der voluntas liegt. Zur einschlägigen Topik, deren schulmäßige Bearbeitung auf Hermagoras zurückgeht (zu Früherem in Theorie und Praxis: KAYSER zu Rhet. Her. 2, 14; KENNEDY, Art of persuasion 89 Α. 80; METTE 25), s. Μ. VOIGT, Das jus naturale, Bd. 4, Leipzig 1875, 350-355 (mit fast erschöpfendem Verzeichnis der Quellen), den Aufsatz von STROUX, MATTHES 183-185, LAUSBERG §§ 214-217, und jetzt die Ar-

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Anwalt, sich auf den Sinn des Interdikts berufen und darlegen muß, daß es absurd wäre, jemand in einen Besitz zu r e stituieren, den er nie gehabt hätte, und daß darum das W o r t deicere nur als deicere possidentem verstanden werden könne, muß Cicero umgekehrt auf dem Wortlaut insistieren und betonen, daß das Interdikt sine ulla exceptione (§ 2 3 ) erteilt worden sei. Ist also Cicero der Advokat des W o r t l a u t s gegen den S i n n ? Die A n sicht wirkt zunächst paradox, ja fast unsinnig, denn Cicero bekämpft doch, wie man weiß, in zwei Dritteilen seiner Rede eine allzu wörtliche Interpretation des Interdikts durch seinen Gegner; z . B . : quae lex... non infirmari ac convelli potest, si ad verba rem deflectere velimus, consilium autem eorum qui scripserunt et rationem et auctoritatem relinquamus? ( § 5 1 ) ; und so gilt denn auch unsere Rede gerade als ein Triumph der sinngemäßen Ausle-

beiten von WESEL, VONGLIS und F U H R M A N N (in: Studi VOLTERRA II). WESEL hat die These aufgestellt, daß es in dieser controversia e scripto et sententia überhaupt nicht um „den Widerstreit von strikter und sinngemäßer Auslegung" gehe, sondern um eine Auseinandersetzung, bei der sich die eine Partei nur auf das scriptum, die andere unter völliger Zurückdrängung des scriptum nur auf eine „hypothetische(n) oder tatsächliche(n) sententia" stütze (Statuslehre 41). Ich kann daran gerade nur so viel Richtiges sehen, daß es in einem Teil der in den rhetorischen Schriften angeführten Fälle tatsächlich schwer scheint, von eigentlicher Auslegung zu sprechen: so wenn man sagt, dieses oder jenes Gesetz könne nicht für diesen oder jenen Fall gelten, obwohl dem scriptum nach die Voraussetzung erfüllt wäre (ζ. B. Quint, inst. 7, 6, 6 Gesetz: Todesstrafe für den Fremden, der auf die Mauer steigt; Fall: Ein Fremder steigt auf die Mauer, um die Feinde der Stadt zu vertreiben). Aber es leidet keinen Zweifel, daß die Rhetoren meinen, auch in diesen Fällen „lege" man „aus" (interpretari, vgl. etwa Cie. inv. 2, 128 und 139, Sex. Emp. adv. math. 2, 36), was eben WESEL bestreitet. Den anders gearteten Fall der causa Curiana (vgl. unten Anm. 19 und 21), den Cicero in De inv. 2, 122 f. behandelt, hat WESEL mißverstanden: Cicero meint gerade nicht - obschon diese Auffassung an sich vertretbar wäre (WIEACKER [s. Anm. 19] S. 159) - , daß es hier keine sententia des Erblassers gegeben habe (so WESEL, Statuslehre 32); und wenn er sagt, in manchen Fällen müsse der Verteidiger der sententia das Angeordnete „den veränderten Umständen entsprechend umdeuten", so gilt eben dies nicht von Fällen wie der ,causa Curiana (worauf es WESEL bezieht: Statuslehre 33). non posse fieri (rhet. Her. 2, 14) gehört nicht hierher: Selbstverständlich ließe sich das scriptum ausführen. In seinem neueren Aufsatz ( R H D 38, 343 ff., dort zur causa Curiana S. 350-354) sucht WESEL seine (wenn ich recht sehe, ein wenig modifizierte) Ansicht durch Verweis auf Quint. 7, 6, 9 zu stützen: .. . ut voluntas manifesta sit, scriptum nihil sit, ut in iudicio Curiano. Aber die entscheidenden Worte bedeuten nicht, wie WESEL meint (S. 353): „Das scriptum ist ein Nichts; es ist gegenstandslos, unbeachtlich", sondern, wie aus den folgenden Paragraphen (quis dubitaret. ..?) zwingend hervorgeht: „Geschrieben ist nichts (von dieser offenkundigen voluntas)." Die Voranstellung von scriptum hebt das Wort hervor, sie macht es nicht zum Subjekt.

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gung über die rein wörtliche 16 , ja man hat sie wohl sogar schon als eine Art Meilenstein in der Entwicklung der römischen Rechtshermeneutik ansehen wollen17. Daß dies jedoch zu einfach geurteilt ist, zeigt nicht allein unsere im Anschluß an die juristischen Interpreten gegebene Analyse des Rechtsproblems, sondern vor allem die Tatsache, daß sich bereits Piso, der Anwalt des Aebutius, mit ausdrücklichen Worten zum Anwalt einer sinngemäßen Auslegung gemacht hatte18. Den Beweis dafür geben mehrere Passagen in Ciceros Rede. Wir behandeln sie, indem wir vom Einfachen zum Schwierigeren fortschreiten. 1) § 67 et hoc loco Scaevolam dixisti causam apud centumviros non tenuisse. Gemeint ist, wie bekannt, die causa Curiana, ein Erbschaftsprozeß (nach 95 v. Chr.), in dem L. Licinius Crassus erfolgreich gegen Q. Mucius Scaevola plädiert hatte19. Der Prozeß und sein Rechtsproblem ist von Johannes S T R O U X klassisch gewürdigt worden: In ihm siegte - von den Rechtswissenschaftlern ζ. T. noch heute beklagt20 - nicht allein der berühmteste Redner über den berühmtesten Juristen der Zeit, sondern zugleich das Prinzip einer freieren (in diesem Fall: auf die voluntas des Erblassers gerichteten) Auslegung gegenüber einer enger am Wortlaut (des betreffenden Testaments) haftenden Interpretation. Was kann Piso gewollt haben, wenn er sich auf diesen Musterfall eines

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Vgl. etwa die Arbeiten von S T R O U X , N 0 B R E G A , M E T T E , G E L Z E R (um nur das Neuere zu nennen). Wenn wir im folgenden diese Ansicht gewissermaßen auf den Kopf stellen, so hat dies nichts zu tun mit der von B Ü C H N E R an S T R O U X geübten Kritik: Was Pro Caecina angeht, so scheint mir S T R O U X gegen B Ü C H N E R Recht zu behalten; vgl. auch F U H R M A N N , in: Studi V O L T E R R A II 66-69. 17 GELZER, Kl. Sehr. I 311: „Die Bedeutung von Ciceros Rede f ü r die Rechtsgeschichte liegt darin, daß sie gegenüber den altmodischen iurisconsulti mit ihren T i f t e leien über Buchstaben und Wörter die moderne Lehre von der aequitas entfaltete." Gegen GELZER jetzt WESEL, R H D 38, 354. 18 Vgl. zum Folgenden I O R D A N in der Einl. zur Rede, S. 52-54. Er beurteilt zwar (im Anschluß an KELLER) die Rechtslage etwas anders als wir; ist aber, was die Rede Pisos angeht, zu ähnlichen Ergebnissen gekommen. Ich werte diese Ubereinstimmung, auf die ich erst nachträglich aufmerksam geworden bin, als willkommene Bestätigung meiner Ansicht. Vgl. jetzt auch WESEL, R H D 38, 356. "> F. M Ü N Z E R , RE X V I 1 (1933), 439 f. („Mucius" 22). Ders., RE IV 2 (1901), 1839 („Curius" 5). M A L C O V A T I , O R F 2 245-248 und 260-262. KÄSER, Privatrecht I 2 236, 690. B. P E R R I N , La substitution pupillaire a l'epoque de Ciceron, Rev. hist. dr. fr. et etr. 27, 1949, 335-376, 518-542. S T R O U X 28-33. B Ü C H N E R , H u m a n i t a s 87 ff. (vgl. unten Anm. 21). G. G A N D O L F I , Studi sull* interpretazione degli atti negoziali in diritto romano, Milano 1966, 288-294. F. W I E A C K E R , The causa Curiana and contemporary Roman jurisprudence, The Irish Jurist 2, 1967, 151-164. V O N G L I S 126-128. A. W A T S O N , The law of succession in the later Roman republic, O x f o r d 1971, 53 ff. F U H R M A N N , in: Studi V O L T E R R A II 57 ff. 20 F. S C H U L Z , Gesch. der römischen Rechtswissenschaft, Weimar 1961, 95. Ähnlich W I E A C K E R (s. Anm. 19), der darauf hinweist, daß in der spätrepublikanischen J u risprudenz die Rechtsauffassung Scaevolas die vorherrschende war.

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Siegs der voluntas über das scriptum21 berief? „Gar nichts", sagt Cicero, „er hat in seiner Naivität gegen die eigene Sache argumentiert." Wunderbarerweise hat man das Cicero geglaubt 22 . 21

BUCHNER hat gegen die gewöhnliche Ansicht, d. h. vor allem gegen STROUX, zu beweisen gesucht, daß es sich in der causa Curiana (wie im Caecina-Prozeß) n i c h t um eine eigentliche controversia ex scripto et sententia gehandelt habe. (In ähnlichem Sinn, aber vorsichtiger WIEACKER a. O. [s. Anm. 19] 161 mit Anm. 31.) Dem scheint natürlich zu widersprechen, daß Cicero in De inventione (2, 122) - und übrigens auch Quintilian: inst. 7, 6, 9 f. - das Rechtsproblem des Prozesses hier einordnet. Dagegen möchte BÜCHNER zeigen, daß Cicero die causa Curiana nur mit Mühe in dem einschlägigen Kapitel habe unterbringen können, ja daß er ihretwegen gezwungen gewesen sei, die herkömmliche Theorie zu ändern bzw. zu erweitern. Erst Cicero habe nämlich eben der causa Curiana zuliebe - zwei Arten von controversiae ex scripto et sententia unterschieden; einmal solche, wo das auszulegende Schriftstück einen schlechtweg gültigen (vom Wortlaut verschiedenen) Sinn hat; zum andern solche, in denen ein Ausnahmefall eingetreten ist, auf Grund dessen (nach Meinung der einen Partei) das Gesetz nicht nach dem Wortlaut angewendet werden dürfe. (Ein Beispiel oben in Anm. 15; unrichtig PERRIN a. O. [s. Anm. 19] 355.) In der Tat ist die Unterscheidung vor Cicero nicht bezeugt. Gegen die Annahme einer Erfindung Ciceros scheint mir aber vor allem folgende Überlegung zu sprechen (vgl. im übrigen jetzt auch FUHRMANN, in: Studi VOLTERRA II 61-64). Wir haben für die genannte controversia (grob genommen) zwei Bezeichnungen, eine ältere (für Hermagoras bezeugt von Quintil. 3, 6, 61): ρητόν και ύπε|αίρεσις (exceptio), die sich nicht durchgesetzt hat, und eine jüngere ρητόν και διάνοια (sententia, bzw. voluntas), die die übliche geworden ist. Da nun die ältere Bezeichnung vor allem auf Fälle der zweiten ciceronischen Kategorie paßt (insoweit richtig WESEL, Statuslehre 36 f.), die jüngere dagegen auf Fälle der ersten und da sich aus der Konkordanz von Cie. De inv. und dem auet. Her. ergibt, daß die jüngere Bezeichnung jedenfalls schon vorciceronisch ist, so müssen auch die Fälle der ersten Kategorie schon v o r Cicero unter unsere controversia subsumiert worden sein. Die Änderung der Bezeichnung wäre sonst unerklärlich. Aber selbst w e n n Cicero die Theorie hier erweitert hätte, so doch bestimmt nicht, weil sich die causa Curiana in der vorliegenden Topik nicht hätte unterbringen lassen. Alle Argumente, die der Autor ad Her. (der Ciceros Unterscheidung nicht kennt) pro scripto und contra scriptum anführt, passen, wie man leicht sieht, auch auf den Fall der causa Curiana. BÜCHNER möchte deren Spezifikum darin sehen, daß in ihr nach Cicero „Billigkeitsgründe" keinen Platz fänden; aber in de inv. 2, 122, worauf BÜCHNER sich stützt, ist von „Billigkeit" nichts gesagt; und es wäre eine widersinnige Sprachregelung, diesen Begriff nur auf solche Fälle anzuwenden, wo gegen das scriptum mit einem Ausnahmefall operiert wird. (Treffend M. FUHRMANN, in: Studi VOLTERRA II 69-72.) Schließlich steht aus der Überlieferung fest, daß in der causa Curiana tatsächlich mit den Topoi der controversia ex scripto et sententia gekämpft wurde; und es geht nicht an, dies als bloß äußerliche Ähnlichkeit abzutun, weil dort nicht die „Billigkeit" der Interpretationsmethode, sondern die „Gerechtigkeit" gesiegt habe. Was die Gerechtigkeit betrifft, so wollen für sie - betrüblicherweise - immer beide Parteien kämpfen; im Fall des Curius steht da noch heute etwa Fritz SCHULZ (s. oben Anm. 20) gegen Crassus und Karl BÜCHNER. 24 Mit der Ausnahme IORDANs (Einl. S. 54).

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2) § 65 atque illud in tota (!) defensione tua mihi maxime mirum videbatur te dicere iuris consultorum auctoritati obtemperari non oportere. D a s ist im Z u s a m m e n h a n g mit der n a c h f o l g e n d e n (§ 6 7 hoc loco) E r w ä h nung der causa Curiana zu sehen. D e r römische Jurist u n d w o h l der Jurist überhaupt m u ß im Interesse der Rechtssicherheit naturgemäß z u einer w ö r t l i cheren Auslegung neigen 2 3 . So spricht denn Cicero an anderer Stelle v o m schlechten Juristen als einem „Silbenjäger" 2 4 , und in seiner berühmten Juristenkarikatur (Mur. 23 f f . ) heißt es sogar, solche Leute seien nur mit Buchstaben u n d Interpunktionen beschäftigt 2 5 . M a n w i r d also Ciceros vorgebliche Verw u n d e r u n g nicht teilen können 2 ®. Pisos A r g u m e n t w a r : „ D i e Wortfuchserei gewisser Juristen macht mir nicht bange: A u c h der alte S c a e v o l a hat seinen P r o z e ß verloren." 3) § 79 quare permagnam initis a nobis gratiam, cum eum [sc. Aquilium Galium] auctorem defensionis nostrae esse dicitis. illud autem miror, cur vos aliquid contra me sentire dicatis, cum eum auctorem vos pro me appelletis, f nostrum nominetis. H i e r w i r d es schwieriger. M a n p f l e g t den z w e i t e n Satz so z u verstehen, als w o l l e Cicero sagen, er w u n d e r e sich darüber, w i e die Gegenpartei es überhaupt noch w a g e , anderer A n s i c h t zu sein als er, w o sie doch andererseits selber sage, d a ß er eine Autorität w i e Aquilius Gallus auf seiner Seite habe 2 7 . Eine solche 2:1

F. WIE A C K E R , Gnomon 22, 1950, 257: „Es ist daran zu erinnern, daß der Jurist von G e b l ü t . . . den Glauben der allgemein Gebildeten nicht teilen wird, d a ß aller ethische Fortschritt im Recht von der Gebundenheit der Formen und Ausdruckssymbole zu einer rationalistischen Billigkeit zu führen habe . . . " KÄSER (Privatrecht I 2 236) spricht in diesem Zusammenhang von „der erzieherischen K r a f t des Formzwanges". (Allgemein zum „ H a f t e n am W o r t " : R. v. J H E R I N G , Geist d. röm. R e c h t s . . ., 2. Th., 2. Abth., Leipzig 4 1883, 441-470.) Der Fortgang von § 6 5 in unserer Rede ( t u m illud quod dicitur . ..) zeigt, daß die Verspottung juristischer Formelkrämerei bereits zur festen Topik von Reden gehören muß, in denen das Billigkeitsprinzip gegen strengere Wortinterpretation verfochten wird. Die römische Tradition dieser Juristenschelte, durch welche die einschlägige griechische Topik variiert und erweitert wird - die griechisch orientierten Lehrbücher De inventione und Ad Herennium wissen nichts davon! - , ist natürlich zu bedenken bei der Interpretation von P r o Murena. 24 de orat. 1, 236: praeco actionum, cantor formularum, auceps syllabarum (im Munde des Redners Antonius). Ähnliches bei v. J H E R I N G (s. Anm. 23) 442 Anm. 610. 25 Mur. 25 res enim sunt parvae, prope in singulis litteris atque interpunctionibus verborum occupatae. § 27 in omni denique iure civili aequitatem reliquerunt, verba ipsa tenuerunt. . . Der Streit zwischen Sulpicius Rufus und Cicero setzt sich bis in unsere Tage fort. Während manche Juristen hier Ciceros völliges Unverständnis in Sachen des Rechts zu fassen glauben, haben umgekehrt Philologen schon allen Ernstes geglaubt, Cicero wolle den verbohrten und verkrampften Juristen Sulpicius auf den P f a d des sensus communis zurückführen. Vgl. oben Anm. 23. 28 Die Erklärer haben ihm, soweit sie sich geäußert haben, zugestimmt: Piso sei sehr, sehr ungeschickt gewesen. 27 So MOMMSEN, Jur. Sehr. III 565 und neuerdings etwa B O U L A N G E R (ähnlich auch GROSE H O D G E ) .

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Auslegung vertrüge sich allerdings schlecht mit dem von uns angenommenen Duktus der vorhergegangenen Rede Pisos: Schon als Schöpfer der exceptio doli müßte Aquilius eher als ein Anwalt der aequitas gegenüber einer auf falscher Wörtlichkeit beruhenden nimis callida, sed malitiosa iuris interpretatio (Cie. off. 1, 33) erscheinen, und in eben diesem Sinne preist ihn ja auch Cicero im vorhergehenden Abschnitt* 8 . Allein diese Auffassung ist schon rein sprachlich nicht möglich oder doch fragwürdig. Welchen Sinn soll denn dicatis haben? Und kann pro me appellare heißen: „zu meinen Gunsten anrufen"? Ich sehe keine Parallelen für einen solchen Gebrauch und betrachte folgendes als die natürliche Auslegung des c«m-Satzes, die auch dem betonten vos sein Recht gibt: „da (indem) i h r statt m e i η e r an Aquilius als Gewährsmann appelliert". Wäre das folgende nostrum nominetis richtig überliefert, so müßte man es adversativ verstehen („und ihn doch zugleich den unseren nennt"), daß hier jedoch etwas verderbt bzw. ausgefallen sein muß, ergibt sich - gänzlich unabhängig von unserer Auslegung - daraus, daß der nachfolgende Satz verum tarnen quid ait vester is t e auetor? etc. notwendig die vorhergehende Erwähnung eines solchen auetor voraussetzt 29 . Wir können dies dahingestellt sein lassen. Der Satz ordnet sich jedenfalls zwanglos in den von uns angenommenen Zusammenhang ein. Piso hatte offenbar nicht ohne Ironie den Rechtsberater seines Gegners - ob er das wirklich war, ist übrigens nicht ganz klar 30 - als den notorischen Anwalt der aequitas und damit als den natürlichen Beistand s e i n e r Sache angerufen. Da muß sich Cicero, der in seiner Rede ja für die aequitas und gegen den Buchstaben kämpfen will, natürlich wundern: „Schönen Dank, daß ihr Aquilius zu meinem Gewährsmann macht! Aber merkwürdig, daß gerade ihr (auch dieses vos betont = ,ihr, die Wortfuchser') sagt, er sei anderer Meinung als ich (zu sentire ergänzt man in Gedanken leicht Aquilium31), indem i h r ihn statt meiner anruft." Dem widerspricht freilich scheinbar das in § 77 Gesagte: cuius [sc. Aquilii] auetoritati dictum est ab illa causa concedi nimium non oportere. Aber Ciceros Taktik korrespondiert genau der in den

28

Vgl. bes. B. KÜBLER, ZRG 14, 1893, 54 ff. (Aquilius und aequitas). Daher die Konjektur vestrum statt nostrum in einigen codd. recc. (sie hilft nichts) und der seit H O T M A N N immer wieder auflebende Irrglaube, unter dem im Folgenden erwähnten Juristen sei Aquilius Gallus zu verstehen (so zuletzt CIULEI61). Das ergäbe sich zwar in der Tat aus dem überlieferten Wortlaut, ist aber sachlich vollkommen ausgeschlossen (vgl. I O R D A N z. St.): Der Mann ist die Karikatur eines Juristen. — Ergänzen ließe sich etwa: cum eum auetorem vos pro me appelletis, nostrum nominetis {quasi vester sit — quamquam neminem nescire puto, cuius generis sit iuris consultus ille, quem vos adhibetis nee tarnen η ο min a t i s). Dies nur ex. gr. Ältere Konjekturen bei KELLER 507 f. 30 Sonst würde sich doch Cicero auch in der ironischen Äußerung von § 79 kaum bedanken, daß Piso ihn dafür erkläre. Ganz offenkundig kann das jedenfalls nicht gewesen sein. - Wenn übrigens Aquilius bei Ciceros Rede nicht dabei sein wollte (§ 77), so kann man sich darüber seine Gedanken machen. " So schon H O T M A N N ; vgl. H O F M A N N / S Z A N T Y R 362. 29

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§§ 65 ff. angewandten: Wie er dort Pisos Argument so hindreht, als habe dieser gegen die Juristen polemisiert, weil sie der aequitas allzu großen Raum gönnten, so setzt er hier an die Stelle der „Juristen", die Piso attackiert hatte, den einen Aquilius, den Mann der aequitas. Die nachher behandelte Berufung auf Aquilius scheint so betrachtet töricht und von vorneherein widersprüchlich. Ciceros Fälschung wird dadurch erleichtert, daß die Gegenseite in der Tat Aquilius als Beistand oder Berater des Caecina apostrophiert hatte. Insofern ist die (oben zitierte) Äußerung in § 77 sachlich nicht einmal ganz unrichtig. 4) § 10 et si forte videbor altius initium rei demonitrandae petisse quam me ratio iuris eius de quo iudicium est et natura causae coegerit, quaeso ut ignoscatis. non enim minus laborat A. Caecina ne summo iure egisse quam ne certum ius non obtinuisse videatur. Es ist wohl evident, daß der Ausdruck summo iure egisse einen Vorwurf Pisos widerspiegelt. Aber was heißt das? Seit H O T M A N N versteht man es durchweg im Sinne eines Ausschöpfens der äußersten durch das Recht gegebenen Verfahrensmöglichkeiten: „summo autem egisset jure Caecina, si cum actione leviore confligere potuisset, uti tarnen odio et malivolentia animi inductus ista actione voluisset." Ich halte diese Erklärung, was C i c e r o s Äußerung angeht, für richtig. Denn einmal ist der sprichwörtliche Ausdruck summum ius in dieser Bedeutung auch anderswo nachweisbar32, zum anderen hatte Piso tatsächlich Caecina wegen seiner Verfahrensweise angegriffen, und gerade im Vorhergehenden war davon die Rede gewesen (§§ 8 f., vgl. §§ 35, 103). Mußte aber auch Piso summum ius in genau diesem Sinne verstanden haben? Überblickt man die (von Hildegardt K O R N H A R D T gesammelten) Belegstellen®', so zeigt sich, daß das fast durchweg abwertend gebrauchte summum ius zwischen zwei sachlich verwandten Bedeutungen schwankt: (1) „rücksichtsloses Durchsetzen eines Rechtsanspruchs" (betont von Karl BÜCHNER 3 4 ); (2) „böswillige Buchstäblichkeit in der Rechtsauslegung" (einseitig betont von Johannes STROUX' 5 ). Die Grenzen sind fließend, und an einigen Belegstellen ist ,dop-

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S. Anm. 34. Summum ius, Hermes 81, 1953, 77-85 (ein Nachtrag bei F U H R M A N N , in: Studi VOLTERRA II 78-81). Zum Sprichwort Summum ius summa iniuria reiche Literaturangaben bei G. KISCH, in: Aequitas und bona fides, Festg. A. SIMONIUS, Basel 1955, 195-211; G. EISSER, in: Summum ius summa iniuria, Ringvorlesung (WS 1962/ 1963), Tübingen 1963, 1-21; F U H R M A N N a. O. 53 ff.; A. CARCATERRA, Ius summum saepe summast malitia, in: Studi in on. Ε. VOLTERRA, Milano 1971, Bd. 4, 627-666. Ein genaues griechisches Äquivalent fehlt (vgl. B Ü C H N E R , Humanitas 339 A. 64); aber recht nahe kommt, worauf m. W. noch nicht hingewiesen wurde, das Sprichwort δίκης δικαιότερος (erläutert als: έπΐ των αγαν δικαίων, Diog. II 35, Corp. Paroem. Gr. II p. 23). 34 BÜCHNER, Humanitas 99 ff.; eindeutig diesen Sinn hat summum ius etwa in Cie. Quinct. 38. 35 STROUX hat immerhin selbst gesehen, daß diese Bedeutung (wegen Ter. Haut. 796) nicht die ursprüngliche sein kann (S. 9). 33

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pelte' Auslegung möglich 36 . So dürfte auch der Vorwurf des Piso zu verstehen gewesen sein. Wenn er gegen das bösartige Verfahren des Caecina protestierte {summum ins 1), so protestierte er damit ja zugleich auch gegen die falsche Buchstäblichkeit in der Auslegung des Interdikts (summum ius 2), denn das erste war nur durch das zweite ermöglicht. Es versteht sich, daß die zuletzt besprochene Äußerung Ciceros f ü r sich genommen nichts beweisen könnte. Sie ordnet sich aber in den von uns aufgewiesenen Zusammenhang vortrefflich ein. Entgegen allem Anschein, so dürfen wir resümieren, war unser Prozeß so verlaufen, daß gar nicht zuerst Cicero, sondern P i s o den Vorwurf des summum ius im Sinne einer böswilligen Buchstäblichkeit erhoben hatte (Cicero dann § 65: verbis ac litteris et, ut dici solet, summo iure contenditur - mit offensichtlicher Aufnahme des gegnerischen Stichworts); e r hatte gegen juristischen Formalismus polemisiert, e r hatte sich auf das Billigkeitsprinzip des Aquilius Gallus und auf den Ausgang der berühmten causa Curiana berufen. Und dies alles, wie wir meinen, mit Recht: Der Sinn des Interdikts war auf seiner Seite. Gelegentliche Äußerungen Ciceros geben uns die Möglichkeit, den Verlauf des Prozesses ungefähr zu rekonstruieren. In der ersten actio scheint nach dem, was wir hören, die Rechtsfrage noch nicht im Vordergrund gestanden zu haben. Cicero ging hier vor allem darauf aus nachzuweisen, daß tatsächlich „Bewaffnete" bei der deiectio aufgetreten seien; aber Aebutius nahm ihm durch offene confessio und die entsprechenden Zeugenaussagen den Wind aus den Segeln". Die Rekuperatoren mußten ampliieren. Die zweite actio brachte dann wohl die eigentliche Behandlung der Rechtsfrage und damit die erste Auseinandersetzung über Wortlaut und Sinn des Interdikts. Hier gelang es Piso, der den Vorteil der Antwortrede hatte, durch seine Berufung auf die aequitas Cicero ein zweites Unentschieden abzutrotzen. Was mußte Piso nun für die dritte actio 3e

E t w a Verr. II 5, 4 non agam summo iure tecum . . . (mißverständlich z. St. K O R N H A R D T a . O . [s. Anm. 33 oben] 78, unrichtig B Ü C H N E R , Humanitas 101 f.): „Ich will nicht nach dem Buchstaben des Repetundengesetzes gegen dich argumentieren" (vgl. R. G. C. L E V E N S im Komm. [London 1946] z. St.) = „Ich will nicht alle durch das Recht gebotenen Möglichkeiten gegen dich anwenden." Auch B Ü C H N E R läßt (a. O. 102) die zweite Bedeutung v o n summum ius wenigstens als einen Spezialfall der ersten gelten; eine Geschichte der Bedeutungsentwicklung sucht jetzt F U H R M A N N zu geben (in: Studi V O L T E R R A II 73 f f . ; seine Vermutung allerdings, „daß Cicero als erster die Wendung summo iure contendere auf das Billigkeits- und Auslegungsprogramm angewandt hat" [S. 78], scheint mir nicht haltbar angesichts von Caec. 65 ut dici solet). Gar nicht überzeugend zur Geschichte des Sprichworts (trotz unendlicher Gelehrsamkeit) C A R C A T E R R A a. O. (s. oben Anm. 33). 37 Vgl. §§ 3, 23 ff. Aus Ciceros Rede läßt sich nicht entnehmen, daß Aebutius erst in der zweiten actio .gestanden' hätte (so v. B E T H M A N N - H O L L W E G II 833); es steht dies sogar in einem gewissen Widerspruch mit § 4. Die Annahme von B O U L A N G E R (Einl. S. 73 A. 3), daß Cicero in unserer Rede eine Zusammenfassung aller in den drei actiones gehaltenen Reden gebe (vgl. H U M B E R T 251 f.), ist unerweislich. Zur Ausführlichkeit der narratio s. unten S. 92 f.

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erwarten? Schwerlich etwas anderes, als daß Cicero jetzt alle Register ziehen würde, um gegen die „willkürliche Interpretation" der Gegenseite „Heiligkeit und Wert des geschriebenen Rechtssatzes" zu verteidigen. Wir kennen die einschlägige Topik vor allem aus De inventione (2, 125 ff.): „Der Staat ist bedroht, wenn das geschriebene Recht nicht mehr gilt - Die Vorfahren in ihrer Weisheit haben alles eindeutig formuliert - Wo anders soll man den Sinn von Worten finden, als in den Worten selbst? usw."38 Man konnte wirklich nur annehmen, daß der schon fast rituelle Kampf zwischen scriptum und voluntas mit den bereitgestellten Waffen des Hermagoras ausgetragen werden würde. Und der Kampf wurde auch ausgetragen, nur nicht so, wie sich das Piso vorgestellt hatte. Cicero faßte nämlich den verwegenen Beschluß, mit den Waffen der Gegenseite zu kämpfen. Bevor er überhaupt zur Behandlung des Interdikts und damit zu der entscheidenden Rechtsfrage kam, wo er peinlicherweise auf den allzu wörtlichen Wortlaut angewiesen war, galt es zu allererst die Richter gegen den Vorwurf der .Wortklauberei' zu immunisieren. Das Mittel hierfür heißt: retorsio criminis. Nicht Cicero klebt am Buchstaben, sondern Piso! Die Möglichkeit zu diesem Verfahren bietet die Methode der A r g u m e n t Z e r g l i e d e r u n g , die von Cicero in dieser Rede zum ersten Mal angewendet wird. Piso hatte mit der Notwendigkeit der possessio argumentiert: Wenn Caecina nicht possessor war, kann er auch nicht im Sinne des Interdikts dejiziert worden sein. In diesen Zusammenhang gehört, wie schon von MOMMSEN gesehen", jenes Argument, das Cicero dann als die Quintessenz der Verteidigung hinstellt: non deieci, sed obstiti. Caecina, so mußte Piso argumentieren, hatte ja nicht einmal die detentio des Grundstücks gehabt, geschweige denn den juristischen Besitz: Keinen Fuß hatte er auf das Grundstück gesetzt, als er „vertrieben" wurde40. Das Argument ist gut, wenn man es in seinem Kontext sieht. Losgelöst davon wirkt es spitzfindig. Läßt man nämlich die Tatsache außer acht, daß Caecina nach Ansicht der Verteidigung nicht possessor war, dann sieht es so aus, als meine Piso, für die Tatsache der deiectio sei nur entscheidend, ob der Dejizierte das Grundstück schon betreten hatte. Und das Rechtsproblem wird so fast zu einem Problem der Zentimeter. Und ebenso steht es mit einem weiteren Argument Pisos, von dem wir aus Ciceros Rede erfahren: . . . vis Caecinae facta non est (§ 41). Im Sinne des Interdikts konnte Gewalt freilich nur erfolgen, wenn Caecina possessor war. War er das nicht, so hinderte ihn Aebutius nur daran, mit Gewalt in fremden Besitz einzudringen. Hätte Aebutius mehr als das getan, den Caecina etwa mit seinen Vgl. oben Anm. 15. MOMMSEN, Jur. Sehr. III 563. Aber schon K E L L E R hatte (obschon er für die Anwendung des Interdikts de vi armata fälschlicherweise keine possessio voraussetzen zu dürfen glaubte) erkannt, daß Pisos Argument non deieci, sed obstiti seine rechte Kraft erst gewinnt, wenn man den vorgängigen Nachweis voraussetzt, daß Aebutius possessor war (S. 376-380, vgl. bes. Anm. 6 ; ihm folgend I O R D A N 49 ff.). 40 So richtig N I C O S I A 40 f.; vgl. schon etwa de C A Q U E R A Y 252, R O B Y II 518 f.

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Bewaffneten verfolgt und verletzt, dann könnte er zwar immer noch nicht nach dem Interdikt de vi armata, aber doch etwa wegen vis oder mit einer actio iniuriarum verfolgt werden. Aber auch das war nicht geschehen: nemo ... occisus est neque saucius factus (Zitat in § 41). So scheint Piso argumentiert zu haben. Aber auch dieses Argument läßt sich als schikanös hinstellen, wenn man nur einmal die Frage der possessio ausklammert: „Muß denn unbedingt Blut fließen, damit man von .Gewalt' sprechen kann?" Der Begriff vis scheint überinterpretiert, und Piso ist wieder einmal der Wortklauber. Kurz gesagt: Cicero kann seinen Gegner widerlegen, indem er aus dem Organismus von dessen Beweisführung die Seele herausnimmt und mit den Teilen sein Spiel treibt. Was dort sinnvoll und notwendig war, muß jetzt spitzfindig und lächerlich wirken. Und wenn schließlich gegen Ende der Rede Cicero selbst den Anwalt des Buchstabens gegen den Geist machen muß - denn ganz kommt er um die Frage der possessio natürlich nicht herum - , so wird doch an dieser Stelle niemand mehr zweifeln, daß er es ist, der in Wahrheit die aequitas auf seiner Seite hat. Im einzelnen geht Cicero so vor: Nach dem prooemium (§§ 1-10), in dem er den allgemeinen Unmut der Richter über die Tat des Aebutius zu schüren versucht und seiner Verwunderung darüber Ausdruck gibt, daß der Gegner es überhaupt wage, so etwas zuzugeben41, folgt eine auffallend ausführliche narratio (§§ 10-23). Müßte die Sache in der dritten actio den Richtern nicht hinlänglich bekannt sein? Das wohl, aber Cicero hat die Absicht, den Fall diesmal von vorneherein in ein neues Licht zu rücken42. Da er die Gegenseite der Wortklauberei beschuldigen will, gilt es, Aebutius (den Geschäfts- und Rechtsberater der verstorbenen Caesennia) von Anfang an als einen juristischen Wortverdreher hinzustellen. Stichwort ist calliditas. § 13 . . . in earn opinionem Caesenniam adducebat, ut mulier imperita nihil putaret agi c all id e posse, ubi non adesset Aebutius. Natürlich kann diese Gerissenheit nur auf eine unschuldige Witwe Eindruck machen, nicht auf juristisch erfahrene Geschworene: § 14 quam personam iam ex cotidiana vita cognostis... inepti ac stulti inter viros [so soll es auch in diesem Prozeß gehen!], inter mulieres periti iuris et c all i d i, banc personam imponite Aebutio. § 15 . . . sine quo nihil satis caute, nihil satis Nach unserer Rekonstruktion des Prozeßverlaufs dürfte dies eine Reprise aus der zweiten actio sein. Vgl. sonst zum prooemium K Ö H L E R 87-91. Zu den §§ 8 f.: Wenn die Gegenseite gegen Caecinas Verfahren protestiert hatte, so hatte sie damit natürlich nicht gemeint, daß Aebutius in einem anderen Verfahren (§ 9 vel iniuriarum vel capitis) verurteilt werden könnte. Sie meinte nur: Wenn Caecina Unrecht geschehen wäre, dann gäbe es für ihn andere Möglichkeiten, sein Recht durchzusetzen; dieses Interdikt jedenfalls sei gegen Aebutius nicht anwendbar. 42 Die (an sich deplazierte) Ausführlichkeit der narratio wird von vorneherein entschuldigt durch den überleitenden Satz § 10: et si forte videbor altius initium rei demonstrandae petisse . . . Nach K Ö H L E R (S. 90 mit Anm. 4) wäre diese Entschuldigung auf die Länge des prooemium zu beziehen; aber schon wegen des Futurs ( v i d e b o r ) ist an das Folgende zu denken (so auch R O H D E 23). Vgl. Cluent. 11 und S. 214.

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c al Ii d e posset agi. Schon hier werden - in ganz anderem Zusammenhang, denn es soll ja nur das Verhalten der Caesennia erklärt werden - die Fundamente gelegt für den späteren Vorwurf der nimis callida iuris interpretatio: §49... tarn callide verbis controversias, non aequitate diiudicas. §55... omnem utilitatem nos huius interdicti, dum versuti et c alli d i velimus esse, amissuros. - Am Schluß der narratio wird naturgemäß die vis armata des Aebutius gewaltig aufgebauscht43. Eine eigentliche partitio fehlt 44 . Und das ist sehr bezeichnend für den Aufbau unserer Rede. Es kann und darf keine partitio geben, denn würde Cicero seine einzelnen Beweispunkte schon zu Anfang nebeneinander stellen, so müßte wenigstens für Hörer, die sich der Rede Pisos entsinnen - die ganze Widersinnigkeit der Beweisführung von vorneherein klar werden. Die logisch korrekte Beweisführung müßte ja entweder von dem Nachweis, daß Caecina possessor war (I a), ausgehen oder aber von dem Nachweis, daß possessio für die deiectio nicht erforderlich sei ( I b ) ; von da aus erst ließe sich begreiflich machen, daß Aebutius den Caecina dejiziert habe, auch wenn dieser das Grundstück noch nicht betreten hatte (II), und daß demnach, weil mit bewaffneter Gewalt geschehen, vis armata im Sinne des Interdikts vorliege, ob nun Blut geflossen sei oder nicht (III). Cicero aber behandelt die letzten beiden Punkte zuerst (II und III nicht scharf geschieden), um sich so durch retorsio criminis die Grundlage für die Behandlung des ersten Punktes (I b und extra causam I a) zu schaffen. Eine solche Argumentation läßt sich nicht ankündigen, sondern nur durchführen. Zunächst werden die Zeugen der Gegenseite angerufen ( § § 2 3 - 3 1 : eine Art propositio45): Ihrer unerhörten, ja unverschämten Aussage, daß bewaffnete Gewalt tatsächlich angewendet worden sei, wird die klägliche Verteidigung des Piso gegenübergestellt: non deieci, sed obstiti (§ 31). Aus dieser GegenüberstelHübsch ist es, wie Cicero zweimal (in den §§ 21 und 22) die temeritas seines Mandanten entschuldigt. Dadurch soll die schreckliche Gefahr, in der Caecina schwebte, vor den Augen der Richter vergrößert werden (anders I O R D A N 36): Es ist wirkungsvoller, dies indirekt zu machen (durch falsche Apologetik für einen Vorwurf, der gar nicht erhoben wurde), als wenn es in einer Hypotyposis direkt geschieht. Cicero verwendet diesen Trick später noch öfter, vgl. S. 293 f. 44 Sofern man nicht den kurzen und sehr unbestimmten Hinweis auf eine spätere Erörterung de verbo (§ 32 Anfang; gemeint sind die §§ 8 6 - 8 9 ) dafür nehmen will. Diese Besonderheit unserer Rede ist hervorgehoben schon von K E L L E R (S. 409), der auf den Unterschied zur Quinctiana hinweist, aber keine weitere Erklärung gibt. Über solche Fälle, in denen die partitio weggelassen werden muß, handelt geistvoll Quint, inst. 4, 5, 5; vgl. Anm. 48 zu S. 19. Interessant für die Geschichte der römischen Beredsamkeit ist eine Notiz bei Sulp. Vict. p. 324 H . : apud Catonem assidua partitio est, apud M. Tullium rarior. Zur partitio bei Cicero: R O H D E 3 8 - 4 0 . 45 Der Terminus nach Quint, inst. 4, 4 u. a. Cicero nennt (inv. 1, 31) diese Feststellung des Streitpunkts den ersten Teil der partitio:... quae, quid cum adversariis conveniat et quid in controversia relinquatur, ostendit (vgl. rhet. Her. 1, 17; M A T T H E S 2 0 1 , V O L K M A N N 167 ff.). Vgl. dazu bes. § 32: est haec res posita quae ab adversario non 43

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lung erwächst die argumentatio. „Ist das keine deiectio bominibus armatisf W a s soll ein M a n n unternehmen, wenn ihn bewaffnete Leute von seinem H a u s forttreiben?" N o c h hat Cicero seine Zuhörer nicht so weit, d a ß sie das Sophisma nicht spüren und sich fragen würden: W a r fs denn das Grundstück des C a e cina? Cicero muß sie kurz beruhigen (§ 3 4 ) : nondum de Caecinae causa dispute, nondum de iure possessionis nostrae loquor [ m a n erwartet, das werde alsbald k o m m e n ] ; tantum de tua defensione, C. Piso, quaero. In dieser sachwidrigen Trennung liegt die eigentliche partitio der R e d e : die Verteidigung Pisos (SS 3 1 - 8 9 ) , die Frage der possessio ( § S 9 0 - 9 5 ) 4 " . U n t e r Zurückstellung des eigentlichen Kerns der causa w i r d jetzt Piso auf zweideutige Formulierungen festgelegt 4 7 ; auch diese werden noch überspitzt. Aus non deieci, sed obstiti (was offenbar wörtliches Z i t a t w a r ) w i r d : eieci..., non deieci (S 38) 4 8 . Die ganze Verteidigung beruht also auf „einem Buchstaben". Die Stichworte verba und aequitas (bzw. voluntas, sententia usw.) werden erst negatur Caecinam . . . pulsum prohibitumque esse vi coactis bominibus et armatis. Wenn Cicero im folgenden Satz vom gesunden Menschenverstand aus argumentiert und sich dabei homo imperitus iuris, ignarus negotiorum ac litium nennt, so ist diese Apposition natürlich per hypothesin zu verstehen („angenommen, ich bin . . . " , wie die Apposition in § 64 si me bereute mihi, non copioso homini ad dicendum, optio detur . . .), nicht als ein ernsthaftes Eingeständnis mangelnder Rechtskenntnisse (so S C H U L Z a. Ο. [s. oben Anm. 20] 52 A. 3). 40 Wobei allerdings zu bemerken ist, daß der Ausdruck die falsche Erwartung erregt, als werde Cicero später vor allem nachweisen, daß Caecina possessor gewesen sei (was doch nur ganz knapp extra causam geschieht), nicht so sehr, daß possessio für die Anwendung des Interdikts nicht erforderlich sei. So verschafft sich Cicero in seiner Argumentation die Möglichkeit, praktisch von der Voraussetzung auszugehen, daß Caecina possessor wäre. Vortrefflich hierzu I O R D A N 45 f. 47 Eine Bemerkung zu § 35: quoniam ita dicis et ita constituis, si Caecina, cum in jundo esset, inde deiectus esset, tum per hoc interdictum eum restitui oportuisse; nunc •vero deiectum nullo modo esse inde ubi non fuerit; hoc interdicto nihil nos assecutos esse . .. Ciceros Referat ist falsch und korrekt zugleich, je nachdem wie man die Akzente setzt. Während nämlich nullo modo in seinem Munde praktisch gleichbedeutend mit non erscheint, muß es bei Piso sein volles Gewicht gehabt haben: „Aebutius wurde in k e i n e r Weise dejiziert", weder im technischen Sinn des Interdikts (da Caecina nicht possessor war) noch nach außertechnischem Sprachgebrauch (da Caecina nicht auf dem Grundstück war). Wenn wir ferner (mit H O T M A N N , B Ö G L I u. a.) annehmen, daß die rituelle vis ac deduetio moribus ein prätorisches Interdikt de vi (cotidiana) auslösen und so die Besitzverhältnisse klären sollte (s. oben Anm. 4), so gibt auch der erste Satz an sich leidlich korrekt den Gedanken Pisos wieder: „Wäre Caecina auf das Grundstück gekommen, so hätte er nachher behauptet, er sei in der zugestandenen Rolle des possessor rituell deduziert worden, und er hätte dann das Interdikt de vi in Anspruch nehmen können. Eben dies wollte Aebutius verhindern." (Nur in hoc interdictum liegt dann eine gewisse beabsichtigte Ungenauigkeit Ciceros, der die beiden Interdikte de vi als eines betrachtet.) 48 Diese Antithese (eicere - deicere) findet sich noch in den §§ 66 und 84. K E L L E R (S. 393-400, vgl. I O R D A N 56-58) wollte an allen drei Stellen die eindeutige Überlieferung zu r e icere - deicere verbessern (in § 38 schon C A M E R A R I U S ) , und diese

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vorsichtig und nebenbei eingeführt (§ 37), dann immer nachdrücklicher gebraucht. Den Gedankengang im einzelnen zu durchmustern, ist für uns unnötig. Nach der Auseinandersetzung über vis, in der siegreich erwiesen wird, daß schon im bloßen Vorzeigen von Waffen Gewalt bestehen kann (§§ 41-50), kommt es in § 5 1 zur großen Grundsatzbesinnung. Weit überschreitet hier Cicero für einen Augenblick wenigstens die Grenzen der überkommenen Topik: Aus dem Wesen der Sprache selbst wird (vielleicht nach Aristoteles49) die notKonjunktur hat bei den neueren Herausgebern (mit der Ausnahme von d'ORS, vgl. aber auch schon M O M M S E N , Jur. Sehr. I I I 564) allgemeinen Beifall gefunden. Aber R u finian. p. 40 H . zeigt (wie auch K E L L E R nicht entgangen ist), daß in § 38 die Lesart unserer Codices schon auf die Antike zurückgeht; und weitere Gründe sprechen f ü r sie. KELLER irrte nämlich, wenn er f ü r die Präposition ex nur die Bedeutung „aus . . . heraus" gelten lassen wollte; im Thesaurusartikel von B. R E H M (V 2, 1089, 77 ff.) ist gezeigt, daß seit dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert ex zuweilen einem griech. από entsprechen kann. (Lehrreich bes. die Homerübersetzung bei Cie. Cato 31 ex eius lingua .. . fluebat oratio = άπό γλώσσης [A 249]; in Prop. 1, 19, 22 nimmt R E H M zu Recht die Codices gegen die Herausgeber in Schutz, bisher ohne Erfolg.) Was f ü r die Präposition selbst gilt, gilt auch f ü r ihre Komposita; vgl. etwa Lutat. epigr. 1, 3 f. (MOREL) ne illunc fugitivum/mitteret ad se intro, sed magis eiceret („von der Tür wegtreiben", anders jedoch dieselbe Antithese bei O v . trist. 5, 6, 13); Cie. Quinct. 83 . . . α suis dis penatibus praeeeps eiectus (Cie. S. Rose. 23 focis patriis . .. praeeipitem exturbat). Analog zu KELLER konjizierte schon N . H E I N S I U S in Prop. 1, 3, 36: clausis reppulit (expulit codd.) e foribus (richtig O E L L A C H E R , Th. 1. L. V 2, 1631, 18). Selbstverständlich wäre eine Antithese von reicere und deicere noch schärfer; aber einmal ist es für Ciceros advokatische Absicht (nämlich seinen Gegner als möglichst haarspalterisch erscheinen zu lassen) sogar recht vorteilhaft, wenn der Sinn der beiden Verba für gewöhnlich nicht weit auseinanderliegt; zum anderen sind rein von der Klanggestalt her die Verba deicere und eicere ähnlicher, da beide langes e haben: Gerade auf das Minimale des lautlichen Unterschiedes kommt es ja Cicero an: § 38 ,eieci ego te armatis hominibus, non deieci' - ut tantum facinus ... in una littera latuisse videatur! P a ß t dieser Ausdruck nicht besser zur überlieferten Lesart?: „Der eine Buchstabe d soll die ganze U n t a t .verdecken'." Alle Schwierigkeiten mit der Oberlieferung sind behoben, wenn wir nur annehmen, daß Cicero die Antithese eieci, non deieci dem Piso selbst erst in den Mund legt, ohne daß dieser zuvor sie wörtlich schon verwendet hätte. Das Verbum eicere in seiner Bedeutung „forttreiben" mag er freilich (neben probibere, obstare) einmal gebraucht haben; und da er außerdem behauptete, daß ein deicere im eigentlichen Sinn nicht stattgefunden habe, so konnte Cicero daraus sein maliziöses Wortspiel gewinnen. 49 § 51 an hoc dubium est quin neque verborum tanta copia sit non modo in nostra lingua, quae dicitur esse inops, sed ne in alia quidem ulla, res ut omnes suis certis ac propriis vocabulis nominentur, neque vero quiequam opus sit verbis, cum ea res cuius causa verba quaesita sint intellegatur. Arist. soph. el. 165 a 10-13 τά μεν γαρ ονόματα πεπέρανται κα'ι τό τ ω ν λόγων πλήθος, τά δέ π ρ ά γ μ α τ α τον αριθμόν απειρά έστιν. άναγκαϊον ουν πλείω τον αΰτόν λόγον και τοΰνομα τό εν σημαίνειν. (Die Benutzung des Aristoteles ist mir schon wegen des Hinweises auf die „andere Sprache" [zur Armut des Lateinischen gegenüber dem Griechischen vgl. E R N O U T / R O B I N zu Lucr. 1, 139] wahrscheinlich; wir haben hier ein Indiz f ü r eine positive Beant-

96 Rede für A. Caecina wendige Zweideutigkeit der Wörter deduziert. Und aus diesem großartigen Prinzip entfaltet sich dann die scriptum-voluntas-Top'ik5°, die zunächst allgemein (§§ 51-54), dann speziell am Beispiel des Interdikts selbst (§§ 55-63) mit soviel Scharfsinn und Humor51 durchgeführt wird, daß der geneigte Zuhörer ganz vergißt, daß ihm einmal eine Erörterung de iure possessionis nostrae versprochen worden war. Wenn Cicero am Schluß des Abschnitts noch einmal das non deieci, non enim sivi accedere (§ 64) voller Hohn zitiert und sogar nachweist, daß dies die schlimmste aller am Interdikt überhaupt möglichen Wortfuchsereien sei, so ist damit die Wiederlegung des Arguments und die retorsio criminis vollkommen erreicht. Nach dem von uns eingangs gegebenen und gewissermaßen aus dem Kern der gegnerischen Beweisführung abgeleiteten Dispositionsprinzip müßte nun eigentlich die Behandlung des Interdikts folgen, und ohne Zweifel würde sie hier nicht schlecht anschließen. Wenn Cicero dennoch ein größeres Stück einschiebt, so geschieht das wohl aus folgendem Grund. Die scriptum-voluntasTopik hat, wie schon der Name ausweist, zwei Seiten, und für beide läßt sich viel Gutes vorbringen. Muß Cicero nicht fürchten, daß nun auch Piso gewissermaßen mit verkehrten Fronten kämpft und an die Verantwortung gegenüber dem Wortlaut appelliert52? Cicero selbst habe also zugegeben, daß deicere eigentlich nur gesagt werden könne, wenn sich einer auf einem Grundstück befinde. Wo aber käme man hin usw.? Auch diesen Ausweg gilt es zu verbauen: Piso darf sich nicht einmal auf die Seite des juristischen Formalismus schlagen. wortung der vielverhandelten Frage, ob Cicero die aristotelische Topik gekannt hat.) Vgl. aber zum letzten Teil des Satzes auch Lys. or. 10, 10 . . . είπερ μαχεΐ τοις όνόμασιν, άλλα μή τοις εργοις τον νοΰν προσέξεις, ών ενεκα τά ονόματα πάντες τίθενται. 50 WESEL (Statuslehre 40 f.) hat eine Beziehung unserer Rede zur controversia e scripto et sententia leugnen wollen, da Marius Victorinus (p. 193 H.) die Rede zum Status der definitio legalis rechne (vorsichtiger jetzt in R H D 38, 357 f.). Vgl. dagegen VONGLIS (S. 130-133), der nachweist, daß WESEL Quint, inst. 7, 6, 7 falsch interpretiert und vor allem daran erinnert, daß die einzelnen Status nicht immer so scharf voneinander zu trennen sind. Gerade der status definitionis und die controversia e scripto et sententia gehen ineinander über; ich verweise nur auf Cie. part. or. 124 ff. und MATTHES (S. 184) zu Cie. inv. 2, 153 f. Entscheidend ist - und das gilt auch gegen BÜCHNER, der (Humanitas 96 ff.) unsere Rede im selben Sinn wie die CrassusRede in der causa Curiana (s. oben Anm. 21) deuten möchte - , daß Cicero in unserer Rede tatsächlich die einschlägige Topik benutzt. (Die Einzelnachweise findet man bei FUHRMANN, in: Studi VOLTERRA II 66-69 [gegen BÜCHNER] und übrigens schon bei R O H D E 160-164). Wenn sich WESEL dagegen auf die Autorität KROLLs beruft, der Ciceros Redepraxis von der Stasislehre unbeeinflußt sein lassen möchte (s. oben Anm. 43 zu S. 17), so ist das widersinnig: Unsere Rede beweist doch gerade, daß K R O L L Unrecht hat. 51 Köstlich bes. § 54. 52 Die geistige Wendigkeit unseres Piso bezeugt Cicero im Brutus: § 239 minime .. . tardus in exeogitando.

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Zwei Dinge weist Cicero nach: (1) Die Besten unter den Juristen und damit der „Geist des römischen Rechts" sind auf seiner Seite (§§ 65-78). (2) Auch der Wortlaut spricht gegen die Verteidigung non detect, sed obstiti (§§ 79-89). Die §§ 65-67 enthalten die akrobatischsten Verdrehungen, die sich Cicero in dieser Rede leistet. Wenn Piso, wie sich dies aus seiner Berufung auf die causa Curiana unzweideutig ergibt (s. oben), gegen die juristische ,Wörtlichkeit' polemisiert hatte (§ 65), so dreht ihm dies Cicero nach einigem Hin und Her so hin, als habe er damit am Ende gar die großen Juristen wegen ihrer Berücksichtigung der aequitas angreifen wollen (§ 66) 5S . Die Prämissen, aus denen sich das ergibt: (1) Piso sagt, man solle der Autorität der Juristen nicht gehorchen. (2) Piso selbst verteidigt den Buchstaben gegen die aequitas. Die Erwähnung der causa Curiana erscheint dann freilich als völlig töricht (§ 67). So hat denn Cicero das ius civile ganz auf seiner Seite (§§ 67-77), denn wenn Piso sowohl gegen die Juristen als auch gegen die aequitas in der Interpretation ist, dann will er offenbar das römische Recht in seinen Grundfesten erschüttern. So muß denn das ius civile gelobt und dabei gezeigt werden, daß es wertvoller ist als alle Besitztümer und Erbschaften (!, §§ 74 f.). Und der Streit um die Auslegung von non deieci, sed obstiti ist somit nicht nur die Auseinandersetzung zwischen zwei hermeneutischen Prinzipien (voluntas et scriptum), sondern ein Kampf zwischen dem allgemeinen Recht und dem Egoismus des einzelnen, zwischen ius und libido (§ 76). Das ius selber kämpft für sententia et aequitas, die libido will das ius „mit Worten und Buchstaben verdrehen" (§ 77) 54 . Nun will Cicero aber, zur völligen Absicherung, auch nach der wörtlichen Auslegung über Pisos angebliches Hauptargument siegen. Die sprachliche Überlegung, die er dafür ersonnen hat, ist recht spitzfindig: Das Wort VN DE im Interdikt könne nicht nur im Sinne eines e quo, sondern auch im Sinne eines a quo verwendet werden. Wenn also der Prätor befehle VN DE TV DEIECISTI EO RESTITVAS, so müsse Caecina auch dann auf das Grundstück restituiert werden, wenn er im Augenblick der Vertreibung das Grundstück noch gar nicht betreten hatte! Schwerlich ist dieses Interpretationskunststück besser als das - falsch verstandene - non deieci, sed obstiti**. Was also macht man, um ein so geringes Argument bringen zu können, zumal wenn man eben noch gegen Wortklauberei polemisiert hat? Cicero sieht einen Weg: Er erfindet ein noch schlechteres und setzt es davor.

Man beachte, daß Cicero diese Deutung dem Piso doch nicht ausdrücklich zuschreibt! Der entscheidende Satz (in § 66) ist ja als Frage formuliert: in ista defensione accusal eos qui consuluntur, quod aequitatis censeant rationem, non verbi habere oporteref Die Entstellung ist dadurch erleichtert, daß Cicero (wie er auch erwähnt) die causa Curiana vorher als Argument für s e i n e Sache angeführt hatte. 54 In diesem Sinn interpretiert B U C H N E R (Humanitas 9 6 - 9 8 ; vgl. oben Anm. 50) unseren Rechtsfall. 55 Ein r e stituere im wörtlichsten Sinn würde bei dieser Interpretation Ciceros sicherlich nicht stattfinden.

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Das geht so (§§ 79-85). Vom allgemeinen Preis des Rechts (§§ 67-77) kommt Cicero auf den Preis des Aquilius Gallus (§§ 77 f.): Wenn Piso die Juristen angegriffen hat, muß er ihn ja zuerst gemeint haben (§ 77). Gegenbild zu Aquilius Gallus, bei dem ius und aequitas in schönem Bunde erscheinen (§ 78), ist der mutmaßliche Rechtsberater der Gegenseite, der natürlich ein ganz pedantischer Formelkrämer sein muß. Mit solch einem Mann nun - vielleicht gar mit dem Betreffenden selbst? - will Cicero über den vorliegenden Fall gesprochen haben (§§ 79 f.)5e. Der mußte zuerst natürlich meinen, Cicero habe den Wortlaut gegen sich, und da könne er nichts ausrichten. Aber dann kam er auf einen absurden (seiner Geistesart freilich nur allzu angemessenen) Einfall. Wenn der Prätor befohlen hatte, daß Caecina dorthin restituiert werde, wovon er vertrieben worden war, dann mußte ihn Aebutius eben auf das angrenzende Grundstück restituieren! Also: necesse est male fecerit sponsionem. Mit schöner Ironie ergreift Cicero das Argument und behauptet, er setze damit nur den groben Keil auf den groben Klotz: aut tuo, quem ad modum dicitur, gladio aut nostro defensio tua conficiatur necesse est (§ 82). Dieses Sophisma also, von dem Cicero betont, daß e r es nicht erfunden habe - denn wie käme er selbst auf so etwas? (§ 85) - , soll gewissermaßen dem Niveau von Pisos Beweisführung entsprechen. Wie bieder macht sich nun neben einer so schikanösen Verdrehung das Argument mit dem doppeldeutigen VN DE (§§ 86—89)57! Cicero scheut sich nicht, diesen Doppelsinn (entsprechend der Topik pro scriptoss) der großen Weisheit der Vorfahren zuzuschreiben (§ 86), die eben, weitsichtig wie sie waren, auch Fälle in der Art des Caecina durch das Interdikt de vi armata geschützt sein lassen wollten. Was nun folgt, die Behandlung des Interdikts (§§ 90-93), war einmal die Seele von Pisos Argumentation, erscheint jetzt jedoch nur noch als eine letzte, verzweifelte Ausflucht des schon geschlagenen Gegners: ut vero iam, recuperatores, nulla dubitatio sit, sive rem sive verba spectare voltis, quin secundum nos iudicetis, exoritur hic iam obrutis rebus omnibus et perditis ill α defensio eum deici posse qui tum possideat, qui non possideat nullo modo posse. In wenigen Schlägen erfolgt die (von uns schon behandelte) Widerlegung. Auf den Vorwurf der Wortklauberei, des allzu rigorosen Formalismus usw., der ja gerade an diesem Punkt gegen Cicero erhoben worden war, braucht er nun nicht mehr 56

S T R O U X hat diese Geschichte geglaubt (S. 39): Cicero könne hier nicht erfinden, „eine, sonst leichte, Widerlegung wäre peinlich gewesen". Aber Cicero nennt keinen Namen, und so haben wir es sicherlich mit einer Fiktion zu tun (vgl. auch I O R D A N 55), wie an all den Stellen, w o er scheinbar aus der Schule plaudert und von Gesprächen erzählt, die er bei der Vorbereitung der jeweiligen Rede gehabt haben will; vgl. die Unterredung mit Q. Roscius (Quinct. 77-79), mit Cluentius (Cluent. 144 f.), die Bitte des Murena (Mur. 54). 57

Das verschiedene N i v e a u der beiden Argumente ist übersehen von F U H R M A N N , in: Studi V O L T E R R A II 68 f. 58 Cie. inv. 2, 125: . . . is qui scriptum defendet his locis .. . poterit uti: primurn scriptoris conlaudatione ...

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einzugehen, denn einmal glaubt inzwischen jeder zu wissen, daß Cicero die aequitas auf seiner Seite hat, zum anderen sind ja diese V o r w ü r f e bereits behandelt worden - nur eben an der .falschen' Stelle (§§ 65 ff.). Sollte einer der Rekuperatoren aus den Darlegungen Pisos noch eine Erinnerung daran behalten haben, daß hier irgendwie ein Denkfehler vorlag, so müssen ihn die §§ 94 f. beruhigen: Caecina ist auf die Interpretation des Interdikts gar nicht angewiesen, er w a r ja possessor. Das bleibt freilich mehr behauptet als bewiesen 5 ', und so muß Cicero am Schluß der Rede die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer noch einmal auf ein Gebiet lenken, auf dem er sich sicher fühlen kann, die Frage: Konnte Caecina überhaupt erben? (§§ 95—103) Für die Frage des Prozesses ist dies freilich kaum erheblich; indes hat Cicero hier die Möglichkeit, der Sache zum Schluß noch einen kleinen politischen Anstrich zu geben: Gegen Aebutius, der sich auf ein Gesetz Sullas beruft, erscheint Cicero in der Rolle des Fortschrittlichen. Sehr suggestiv ist hier (als ein geheimer Schlußappell an die RichVgl. oben Anm. 9. Allerdings wäre es möglich, daß uns Ciceros Argumentation in diesem Punkt nicht vollständig erhalten ist. Denn wir kommen, wie zuletzt von RAU (S. 177 f.) betont, kaum um die Annahme herum, daß in § 9 5 ein Stück des Textes ausgefallen ist (vgl. schon v. BETHMANN-HOLLWEG II 829, GASQUY 239; gegen Annahme der Lücke RUHSTRAT 138, COSTA, Orazioni 79 A. 1, BOULANGER 73 A. 3, der den Kern der Sache nicht trifft). Der mit dem gegnerischen Einwand at enim Sulla legem tulit beginnende Abschnitt fügt sich an das Vorhergehende nicht an; er bezieht sich offenbar nicht auf die Frage des Besitzes, sondern wohl auf die des Eigentums (anders MOMMSEN, Jur. Sehr. III 564), ohne daß dies doch voneinander abgegrenzt wäre. (Daß man auch in Besitzprozessen extra causam die Eigentumsfrage berühren soll, lehrt Quintilian in inst. 7, 5, 3, verglichen schon von ROBY II 530 A. 1.) Es läßt sich kaum denken, daß Cicero aus irgendeinem Grund daran interessiert wäre, hier die Grenzen zu verwischen, denn in der Rekapitulation am Schluß der Rede unterscheidet er sehr genau ( § 1 0 4 ) : cum... videatis . . . in iudicium non venire, utrum A. Caecina possederit necne (§§ 90-93), tarnen doceri possedisse (§ 94 f.); miilto etiam minus quaen, A. Caecinae fundus sit necne, me tarnen id ipsum doeuisse fundum esse Caecinae. RUHSTRAT und COSTA (a. O.) wollen dies auf § 19 der narratio beziehen, aber dort wird das Eigentum nur behauptet, das Gegenargument Pisos zwar referiert, aber nicht widerlegt. Ich meine, daß sich aus § 104 klar ergibt, wie wir die Lücke zu ergänzen haben. Cicero muß dagegen protestiert haben, daß die Eigentumsfrage von Piso überhaupt in den Prozeß hereingezogen worden sei (vgl. § 27): Wenn schon die possessio nicht zur Debatte stehe, um wieviel weniger die proprietas} Und er muß dann ( e x t r a causam wie in den §§ 94 f.) die Frage doch noch behandelt haben: quid si etiam id doceo fundum esse Caecinae? Den Schluß dieser Auseinandersetzung haben wir in den §§ 95 b ff., wahrscheinlich auch den Hauptteil, denn es liegt in Ciceros Interesse, die Frage nach dem Eigentum in der nach der Erbfähigkeit des Caecina aufgehen zu lassen. (Nur in diesem Punkt ist er stark; was das Eigentumsrecht der Erblasserin angeht, so sieht die Beweislage für Caecina düster aus. Vgl. die §§ 16 f. und besonders § 27!) Wie dem aber auch sei, keinesfalls können wir vermuten, daß uns in § 95 Wesentliches zur umstrittenen possessio des Caecina verlorengegangen ist (gegen GASQUY a. O.): Cicero pflegt seine Argumentationen mit starken Gründen zu beginnen; offenbar hat er hier nicht viel Besseres zur Verfügung.

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100 Rede für A. Caecina ter) die beiläufige Erwähnung eines Prozesses eingeschaltet, in dem Cicero pro libertate mulieris Arretinae gesprochen hatte (§97): Damals - „auch damals" soll man verstehen - hatten die Richter zunächst ampliiert und dann Ciceros Ansicht für die richtige befunden. Die eigentliche peroratio ist knapp, unpathetisch und völlig siegessicher (§ 104). Nach der überzeugenden Neudatierung durch Giovanni NICOSIA ist unsere Rede spätestens im Jahr 71 gehalten worden' 0 , sie ist also der Reihe nach die dritte unter den uns erhaltenen. Der , Fortschritt' ist, was die Komposition betrifft, äußerlich gesehen gering gegenüber Pro Quinctio und Pro Roscio Amerino. Wie dort haben wir die schulmäßigen Redeteile: prooemium, narratio, proposition, argumentatio, peroratio (mit einer enumeratio); noch hat Cicero nicht versucht, in der Art seiner späteren Gerichtsreden, Darstellung (narratio) und Beweis (argumentatio) in eines zu verschmelzen. ,Neu' ist hier äußerlich gesehen nur das eine, daß eine eigentliche partitio fehlt; aber gerade diese Neuerung führt, wie wir gesehen haben, sozusagen in den Kern der kompositorischen Erfindung Ciceros: die ebenso unlogische wie genial-zweckmäßige Anlage der argumentatio. Wir vergegenwärtigen sie uns noch einmal in der Gegenüberstellung mit der erschlossenen Argumentation Pisos62. PISO I. Caecina war nicht possessor. II. a. Possessio aber ist Voraus- x setzung für die passive Dejizierfähigkeit („sinngemäße" Auslegung des Interdikts). b. Protest gegen Ciceros „wörtliche" Auslegung: gegen juristischen Formalismus, Berufung auf die causa Curiana. III. a. Caecina war nicht einmal auf dem Grundstück, also: non, deieci, sed obstiti. / b. Also keine vis armata im ' Sinn des Interdikts.

CICERO ,1. Ν on deieci, sed obstiti (wie die Leugnung von vis) beruht auf „wörtlicher" statt „sinngemäßer" Interpretation. II. Prinzipien der juristischen Hermeneutik. III. Pisos Äußerungen gegen die Juristen erschüttern das Recht: Lob des ius civile. "IV. a. Possessio ist nicht Voraussetzung für die passive Dejizierfähigkeit. "b. Extra causam: Caecina war possessor. V. Anhang: Erbfähigkeit des Caecina.

N I C O S I A 144-153 (zustimmend G. BROGGINI, ZRG 94, 1966, 458). In der philologischen und historischen Literatur sind NICOSIAs Darlegungen m. W. noch immer nicht zur Kenntnis genommen worden. " Vgl. oben Anm. 45. • 2 Die Argumentation Pisos können wir selbstverständlich nur ihrer logischen Struktur nach (nicht nach der tatsächlichen Reihenfolge der Gedanken) rekonstruieren.

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Immerhin können wir doch einen Teil der verwendeten Mittel der Komposition in den beiden früheren Reden nachweisen. Schon die Quinctiana bietet ein Beispiel für den Kunstgriff, einzelne Argumente des Gegners sozusagen an die ,falsche Stelle' zu bringen. Wie dort die gegnerische Behauptung non fuisse Naevio parem certationem cum Alfeno illo tempore (§ 68) statt sachgemäß im dritten Teil der argumentatio (bona possessa non esse) behandelt zu werden, schon in den zweiten Teil (bona ex edicto possideri non potuisse) vorgezogen wurde, weil sie sich dort nicht nur (für den späteren Teil) entschärfen, sondern geradezu als ein Argument f ü r die eigene Sache gebrauchen ließ", so wird in unserer Rede der peinliche Vorwurf des „juristischen Formalismus" nicht im Zusammenhang des Nachweises, daß possessio für die deiectio nicht notwendig sei, behandelt, sondern nach vorne in die Erörterung über non deieci, sed obstiti gezogen, wo sich aus ihm dann freilich die wunderlichsten Konsequenzen ergeben. Ähnliches gilt für das, was wir die „vorgängige retorsio criminis" nennen könnten, das Verfahren nämlich, einen Vorwurf des Gegners auf ihn zurückzuwerfen, b e v o r man überhaupt an die Stelle kommt, wo er gegen einen

63 § 68 quod officium, C. Aquili, commemorari procuratoris potest quod ab Alfeno praeteritum esse videatuH quid adfertur qua re P. Quinctius negetur absens esse defensusf an vero id quod Hortensium, quia nuper iniecit et quia Naevius semper id clamitat, dicturum arbitroi: non fuisse Naevio parem certationem cum Alfeno illo tempore, Ulis dominantibus? Unmöglich kann sich das hier referierte Argument des Naevius bzw. Hortensius auf die Frage bezogen haben: num defensus sit Quinctius? Worauf dann? Nur bei HEINZE (Vom Geist» 96; ebenso BÜCHNER, Cicero 69, GELZER, Kl. Sehr. I 304) finde ich einen Versuch der Erklärung: Naevius habe damit die Verschleppung des Prozesses (vgl. § 67) gegen den Protest des Quinctius erklären wollen. Aber illo tempore bezieht sich doch eindeutig auf die Zeit der Auseinandersetzung zwischen Alfenus und Naevius v o r dem versprochenen vadimonium (§ 67), auf das die zweijährige Verschleppung des Prozesses erst folgte. Das Argument des Naevius gehört in den Zusammenhang der Behauptung des Quinctius: bona possessa non esse. Freilich, konnte Naevius sagen, wurden damals die Güter des Quinctius von mir nur unvollständig possidiert (vgl. §§ 67, 89 f., Iul. Severian. p. 363 H.), aber das war keine Nachlässigkeit meinerseits, sondern nur eine Folge der politischen Zustände: Alfenus war als Popular damals obenauf und konnte die vollständige possessio gewaltsam verhindern (vgl. unter diesem Gesichtspunkt § 27). Dieses politische Argument ist für Cicero an seinem natürlichen Platze fatal, er bringt es darum in einen anderen Zusammenhang: Wenn Naevius sagt, daß er damals Alfenus unterlegen war, so erkennt er damit implizit auch an, daß Quinctius von Alfenus „verteidigt" wurde und daß darum die rechtliche Voraussetzung der missio in bona nicht gegeben war (bona e χ edicto possessa non sunt). § 68 mihi autem ad vincendum satis est fuisse procuratorem quicum experiretur; qualis is fuerit, si modo absentem defendebat per ius et per magistratum, nihil ad rem arbitror pertinere (im selben Sinn § 73). Dies ist der Sinn des sachlich deplazierten Exkurses der §§ 68-73. Im dritten Teil der argumentatio (bona possessa non sunt), der uns allerdings nicht vollständig erhalten ist, scheint Cicero auf das Argument wohlweislich nicht mehr zurückzukommen.

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selbst erhoben wurde. Diese Technik, die uns für die ganze Anlage der argumentatio in Pro Caecina geradezu das leitende Prinzip schien, begegnet ebenfalls schon in Pro Quinctio - H E I N Z E hat das gezeigt 6 4 - , w o bereits im prooemium gratia u n d opes als die Verbündeten der Gegenseite (nicht, wie behauptet, des Quinctius) erscheinen. Ähnlich in Pro S. Roscio: Schon die narratio wirft die invidia des Mordes auf die Ankläger zurück. Während dort jedoch das Mittel noch ganz augenfällig verwendet w i r d - es ist v o n vorneherein klar, daß der A d v o k a t des S. Roscius eine Alternativversion benötigt - , und während auch in Pro Quinctio die Tatsache, d a ß es sich überhaupt um eine retorsio criminis handelt, wenigstens an z w e i Stellen (§§ 71, 87) ausdrücklich in Worte gefaßt wird, besteht die Feinheit unserer Rede darin, daß Cicero die objektiv vorliegende retorsio criminis im subjektiven Bewußtsein der Zuhörer überhaupt nicht mehr auftreten läßt; an keiner Stelle wird die v o n Piso an Cicero gerügte Wortfuchserei mit der umgekehrt v o n Cicero an Piso gerügten konfrontiert' 5 . (Daher der verbreitete Irrtum in der Auslegung der Rede.) Was nun aber den wichtigsten K n i f f der Disposition angeht, der (in unserem Fall) die retorsio criminis überhaupt erst ermöglicht, nämlich jene Zerschlagung des gegnerischen komplexen Arguments, durch die das logisch Primäre an die zweite, das Sekundäre an die erste Stelle gerückt wird ( w o z u in Pro Caecina noch die ganz unverhältnismäßige Ausführlichkeit in der Behandlung der Teile tritt), so entdecken wir diese Technik in unserer Rede bei Cicero das erste Mal. Auch die attischen Redner scheinen wenig Vergleichbares zu bieten 66 , und die rhetorischen Lehrbücher schweigen - w i e häufig in diesen Dingen 6 7 . Cicero 64

H E I N Z E , Vom Geist 3 96 f. Diese feinere Technik ließe sich auch in späteren Reden Ciceros noch nachweisen. u Die genaueste Parallele zur argumentatio unserer Rede finde ich bei Demosthenes in der Rede gegen Konon (or. 54). Der Sprecher behauptet, von Konon und seinen Söhnen verprügelt worden zu sein, und klagt gegen diesen wegen „Körperverletzung" (α'ικεία). Dagegen weist nun der Beklagte durch Zeugen nach, daß er selbst gar nicht geprügelt habe (1); wenn die jungen Leute gerauft hätten, so sei das doch nichts so Ungewöhnliches: Ein Prozeß wegen α'ικεία sei auf jeden Fall ein unangemessenes Verfahren (2). (Vgl. zur Rekonstruktion der wirklichen Ereignisse den scharfsinnigen Aufsatz von E. M E N S C H I N G , RhM 106, 1963, 307-312 mit weiterer Lit.; neuerdings auch H . J. WOLFF, Demosthenes als Advokat, Berlin 1968, 16-18.) Demosthenes erledigt diese Verteidigung in der praemunitio, indem er die Teile widernatürlich umdisponiert. Zu (2) §§ 13-25 „Die Söhne des Konon hätten wegen ihrer Jugend allenfalls eine Entschuldigung, nicht aber der alte Konon (mit großer δείνωσις): Seine Tat ist mit αΐκεία noch mild bezeichnet." Zu (1) §§ 30-37 „Wenn Konon nicht selbst geschlagen hätte, hätte ich doch nicht gerade ihn belangt (!). Die Zeugen sind unglaubwürdig." Man sieht, daß der erste Teil sachlich nur einen Wert hätte, wenn der zweite schon nachgewiesen wäre. Ich füge die Bemerkung bei, daß die Rede gegen Konon im Altertum sehr berühmt war (Nachweise bei BLASS III 1, 459 f.). 67 Für den Aufbau der argumentatio erhält man (soweit nicht, wie in Quint, inst. 7, die Topik der einzelnen Status behandelt ist) gewöhnlich nur die Vorschrift, man solle starke Gründe an den Anfang und an das Ende stellen (s. Anm. 21 zu S. 36). Wenn es

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selbst hat das Mittel noch öfter verwendet, freilich nirgends mehr in so großem Maßstab und mit so glänzendem Erfolg. In unserer Rede gelang ihm damit, was in dem ewigen „Widerstreit zwischen Wort und Wille, Rechtssicherheit und Rechtsrichtigkeit" (Ernst L E V Y ) seit der Erfindung der entsprechenden Topik durch Hermagoras wohl noch keinem geglückt w a r : mit den W a f f e n , die gegen den Buchstaben ersonnen waren, die Sache des Buchstabens selbst zu führen.

Cicero (Antonius) in De oratore 2, 313 f. die Wichtigkeit gerade des ersten Arguments betont - die des letzten versteht sich von selbst - , so steht das im Einklang mit seiner Praxis (die damit freilich für einen Fall wie den von Pro Caecina nur sehr ungenau beschrieben ist): Nie beginnt er mit einem schwachen Punkt; die schwächste Stelle findet sich entweder in der Mitte oder nach der Mitte (natürlich nie am Ende). So hatten es schon Isaios, Lysias und Demosthenes gehalten.

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Die Rede für den Schauspieler Q. Roscius (66 v. Chr.?)1

Kaum eine Rede Ciceros bietet dem sachlichen Verständnis höhere Schwierigkeiten als die für den Schauspieler Roscius. Dies kommt vor allem von dem mangelhaften Erhaltungszustand: Anfang und Ende der Rede sind verloren, wir besitzen nur einen Teil der argumentatio, immerhin, wie es scheint, den größten und wichtigsten. Alle Anstrengung des Interpreten muß zunächst darauf gerichtet sein, den Fall selbst, und das heißt vor allem die klägerische Darstellung des Falls aus Ciceros ganz unsystematischer und sprunghafter Darstellung - man muß schon sagen - herauszubuchstabieren. Wir werden hier um so gründlicher vorzugehen haben, als, wie ich meine, der für das Verständnis der Rede wichtigste Sachverhalt von der bisherigen Forschung durchweg falsch beurteilt wurde. Klar ist zunächst, daß es sich um eine actio certae creditae pecuniae2 handelt. C. Fannius Chaerea verklagt vor dem Richter C. Calpurnius Piso 3 den Schauspieler Roscius auf Zahlung einer Summe von H S 50 000 (§ 11). Er stützt sich dabei auf eine Buchung in seinem Geschäftsjournal (adversaria), die auf H S 100 000 lautet (§§ 4 ff.), außerdem, wie es scheint, auf die Tatsache, daß ihm Roscius bereits H S 50 000 bezahlt hat (§51). Ciceros Verteidigung ist in einen „sachlichen" und einen „außersachlichen" Teil gegliedert, wenigstens vorgeblich (§§ 14 f.). Im „sachlichen" Teil (§§ 1-13) legt er dar, daß sich eine Klage in dieser actio nur entweder auf (a) adnumeratio (Realkontrakt) oder (b) expensilatio (Litteralkontrakt) oder (c) stipulatio (Verbalkontrakt) stützen könne. Ein Realkontrakt werde nicht behauptet. Ein Litteralkontrakt ließe sich allenfalls aus dem ordentlichen Geschäftshauptbuch (codex accepti et expensi) beweisen, aber unmöglich aus den adversaria. Für einen Verbalkontrakt seien keine Zeugen aufgetreten. Das genüge, um Roscius freizusprechen. Erst im zweiten, „außersachlichen" Teil - er soll nur dem guten Ruf des Roscius dienen (§ 15) - erfahren wir etwas von der Vorgeschichte des Prozesses, von den Vorgängen, aus denen Fannius seinen (wie auch immer formell begründeten) Anspruch herleitete. Die sicheren Fakten sind die folgenden: Fannius und Roscius waren einst eine Sozietät eingegangen in bezug auf einen Sklaven Panurgus, der gemeinsam ausgebeutet werden sollte. Der Sklave war Eigentum des Fannius, Roscius übernahm seine Ausbildung zum Schauspieler, die Einnahmen

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Zur Datierung vgl. den Exkurs S. 149 ff. Textausgaben u. Lit. s. S. 10 f. KÄSER, Privatrecht I s 531. Ciceros Gegner im Caecina-Prozeß, s. Anm. 7 zu S. 81.

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sollten geteilt werden (§§ 27—31). Das ging gut bis zu dem Augenblick, wo Panurgus sein erstes Engagement antrat. Er wurde nämlich von einem gewissen Flavius - aus welchem Grund, wissen wir nicht - getötet. Die beiden Gesellschafter klagten nun (nach der lex Aquilia) auf Schadenersatz 4 , und zwar in der Weise, daß Roscius seinen Partner zum Prozeßvertreter (cognitor) bestellte, Fannius also die Ansprüche beider einklagen konnte. Die Litiskontestation hat stattgefunden, der Richter ist eingesetzt, da vergleicht sich plötzlich Roscius auf eigene Faust (und, wie es scheint, hinter dem'Rücken seines Partners) mit Flavius. Er erhält ein Grundstück, das - wenn den Handschriften hier zu trauen ist - H S 100 000 wert sein soll (§§ 32 f.) 5 , wenigstens zur Zeit unseres Prozesses, in dem nun von Seiten des Klägers (Fannius, vertreten durch den Anwalt Saturius) behauptet wird, Roscius hätte seinerzeit den erhaltenen Wert mit seinem Partner teilen müssen (§ 52). Der Vergleich liegt - die Zahl wird kaum mehr bestritten" - fünfzehn Jahre vor unserem Prozeß. Von dem weiteren Verlauf des Fannius-Flavius-Prozesses wissen wir nichts Genaues 7 . Die nächste sichere Tatsache ist, daß es drei Jahre vor unserem jetzigen Prozeß zu einer schiedsgerichtlichen Auseinandersetzung 8 zwischen Roscius und Fannius kam. Schiedsrichter war damals Piso, derselbe, der in unserem jetzigen Prozeß iudex ist. (Wir können also damit rechnen, daß Ciceros Aussagen über das Schiedsgericht relativ verläßlich sind.) Ob es in diesem schiedsgerichtlichen Verfahren zu einem förmlichen Spruch gekommen ist, bleibt unklar und sei vorläufig dahingestellt. Jedenfalls endet es (nach Cicero § 38) mit der „Aufforderung" des Piso an Roscius, er solle dem Fannius (zur Entschädigung f ü r dessen Mühe als Prozeßvertreter) H S 100 000 bezahlen - diese Zahl in den Handschriften wurde schon verdächtigt' - , und Fannius solle seinerseits dem Roscius (durch

4

KÄSER, Privatrecht I 2 161 f. MOMMSEN (Hermes 20, 1885, 317) wollte (in § 32) 600 000 ansetzen auf Grund eines von ihm entdeckten Zahlzeichens (für 500 000). Allein dieses muß auch erst durch Konjektur (aus einem allerdings sinnlosen „que") hergestellt werden. MOMMSENs Verbesserung -wurde begrüßt wegen § 38, aber vgl. dazu Anm. 71. Andere Vorschläge sind: 500 000 (CLARK in der Oxford-Ausg.) oder 200 000 (KÜBLER 672, WIEACKER 10 f.). Die Überlieferung spricht immer noch am ehesten für 100 000. Daß die Zahl nicht schlecht paßt, wird sich zeigen. 9 Die einzige Ausnahme macht heute METTE (S. 17, nach H O T M A N N u. a.), der es für unglaublich hält, daß Fannius zwölf Jahre lang von dem Vergleich des Roscius mit Flavius nichts erfahren haben sollte. Er möchte statt XV lesen: V oder X - im letzteren Fall hätte Fannius doch immerhin erst ganze sieben Jahre nach dem Vergleich davon gehört! Ich sehe in der Annahme überhaupt keine Schwierigkeit - zum mutmaßlichen Verlauf des Fannius-Flavius-Prozesses s. unten S. 131 ff. - und verweise auf B A R O N 118 Anm. 2 (nach SCHMIDT). Vgl. auch Anm. 15 zu S. 151. 7 Vgl. unten S. 131 ff. 8 Daß das Verfahren diesen Charakter hatte, wird heute fast durchweg zugestanden. Vgl. dazu S. 115. * Wir akzeptieren sie vorläufig als richtig. Aber s. S. 123 f.

5

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repromissio) versprechen, alles, was er etwa noch von Flavius erhalten würde, mit Roscius zu teilen. Uber die Ereignisse der Zeit zwischen diesem arbitrium (Schiedsgericht) und dem jetzigen Prozeß wissen wir mit Gewißheit nur das eine, daß Flavius gestorben ist (§ 42). Doch soll nach Ciceros Behauptung ( § § 3 9 - 5 1 ) Fannius von ihm vorher noch H S 100 000 erhalten haben. Cicero kann dies allerdings, wie heute durchweg zugestanden, nur sehr ungenügend beweisen 10 ; und keineswegs könnte er - was er auch gar nicht versucht - die von Fannius eingeklagten H S 50 000 durch die H S 50 000 kompensieren, die dem Roscius angeblich aus dem Fannius-Flavius-Vergleich zustehen: Eine solche Gegenforderung könnte nur in einem bonae fidei indicium verrechnet werden 11 , in unserem Fall müßte sie Roscius gesondert einklagen. Die erste und wichtigste Frage, die wir zu stellen haben, heißt: Worauf gründet sich überhaupt die Forderung des Fannius in unserem Prozeß? Diese Frage w a r in der bisherigen Forschung fast nur in dem Sinne kontrovers, daß man - auf den Spuren des ersten Teils von Ciceros argumentatio - darüber diskutierte, ob Fannius eigentlich Litteralkontrakt oder Stipulation geltend gemacht habe 12 ; einig war und ist man sich dagegen über den sozusagen materiellen Grund der actio13: Fannius klage auf die H ä l f t e der Summe, zu deren Zahlung sich Roscius gelegentlich des arbitrium verpflichtet haben soll. Die in den Handschriften überlieferten Zahlen entsprechen dieser Annahme. H S 100 000 sollte Roscius nach Willen des Piso bezahlen (§ 38). H S 100 000 sind als ausstehend im Geschäftsjournal des Fannius gebucht (§ 4). H S 50 000 hat Roscius dem Fannius schon bezahlt (§51). H S 50 000 fordert jetzt Fannius (§§ 11 f.). So wird denn in den zahlreichen wissenschaftlichen Bearbeitungen unserer Rede diese Annahme nirgends eigentlich bewiesen, sondern als selbstverständlich vorausgesetzt und meist mit einem „offensichtlich" bzw. „ohne Frage" eingeführt. Wir werden gewichtige Gründe finden, die gegen dieses scheinbar evidente Faktum sprechen. Nehmen wir zunächst (nach der üblichen Meinung) an, die eingeklagten H S 50 000 seien wirklich der Restbetrag derjenigen, die Roscius beim arbitrium - sei es nun schriftlich oder mündlich, sei es auf Grund eines Urteils oder, wie gewöhnlich angenommen, eines „Vergleichsvorschlags" — versprochen haben soll (nach Behauptung des Klägers natürlich). Man müßte dann doch erwarten, daß Cicero das Zustandekommen dieser auf Piso zurückgehenden wechselsei10

Vgl. Anm. 130. Gai. 4, 63; KÄSER, Privatrecht I2 485 ff. 12 Für Litteralkontrakt etwa: U N T E R H O L Z N E R 256 f., H U S C H K E 486, v. BETHM A N N - H O L L W E G II 816, B A R O N 135, D U Q U E S N E 215, WIRBEL 42, ROBBE 58, 60 f., zuletzt ARANGIO-RUIZ 287. Für Stipulation: P U C H T A 326, KRÜGER 239, PFLÜGER 101 ff. (mit Lit.; vgl. aber zu PFLÜGERs Ansicht auch unten Anm. 31), WIEACKER 13, METTE 16 f. Zu W A T S O N s. Anm. 65. 13 Die einzige Ausnahme machen - von ganz alten Erklärern der Humanistenzeit abgesehen - KÜBLER (vgl. zu ihm Anm. 76) und KOSCHEMBAHR-LYSKOWSKI (dessen z. T. phantastische Ansichten hier nicht diskutiert werden sollen). 11

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tigen Verpflichtungen beim arbitrium in Abrede stellen werde. Nun, im ersten Teil der argumentatio leugnet er tatsächlich, daß Roscius einen Litterai- oder Verbälkontrakt eingegangen sei. Aber, wohlgemerkt, er sagt kein Wort vom arbitrium. Auch im zweiten Teil wird an einer Stelle das Zustandekommen einer pactio zwischen Roscius und Fannius verneint (§26: die pactionem fecisse ut absolveretur! non pepigit — man bezieht das gewöhnlich auf das arbitrium, obwohl es bei Cicero nicht ausgesprochen ist); aber später redet dann Cicero plötzlich ganz ungeniert von der restipulatio des Roscius bzw. der r e promissio des Fannius, in einer Weise, die wenigstens dieses Gegenversprechen des Fannius ganz unzweifelhaft als wirklich gegeben voraussetzt (§§ 37-39, 51, 56). Dies ist verblüffend: Kann denn Cicero hoffen, dem Richter Piso, der sogar scriptor und testis (!) dieser Restipulation genannt wird (§ 38)14, glaubhaft zu machen, nur Fannius habe sich seinerzeit verpflichtet, Roscius dagegen nicht, und die jetzige Forderung des Fannius sei völlig aus der Luft gegriffen? Und selbst wenn er es könnte, wenn sich eine so wunderliche Behauptung irgendwie plausibel machen ließe, w ο versucht er es denn eigentlich? Diese Schwierigkeit ist in der Forschung zwar oft nicht deutlich genannt, aber doch immer gefühlt worden; und man hat in der verschiedensten Weise versucht, ihr beizukommen. Wir können die Lösungsversuche in vier Gruppen einteilen. (1) „Roscius hat sich überhaupt nicht verpflichtet (obwohl es Fannius jetzt behauptet)." (2) „Roscius hat sich nicht schlechtweg, sondern nur sub condicione der Gegenleistung des Fannius verpflichtet (was jetzt Fannius unterschlägt)." (3) „Roscius hat sich zwar verpflichtet, aber - jedenfalls nach Ciceros Meinung - nicht in einer juristisch bindenden Form." (4) „Roscius hat sich zwar juristisch bindend verpflichtet, aber Cicero profitiert davon, daß Fannius es jetzt nicht beweisen kann." Wir werden zu untersuchen haben, ob diese Hypothesen jeweils in sich glaublich sind und ob sie sich mit Ciceros Vorgehen in der Rede vereinen lassen. Die dabei stets (auch von uns jetzt) gemachte Voraussetzung ist natürlich, daß die eingeklagten HS 50 000 aus dem arbitrium stammen. (1) Die erste Hypothese wurde von v. BETHMANN-HOLLWEG (1865) vertreten. Nach ihm hätte Roscius seinerzeit selbst nicht promittiert, vielmehr: „die Gegenleistung der 100 000 Sesterzen w u r d e . . . jener Repromissio [sc. des Fannius] nur als Bedingung eingerückt." 15 Mit anderen Worten: Fannius hätte versprochen, die Hälfte dessen, was er von Flavius erhalten würde, unter der Bedingung an Roscius zu zahlen, daß ihm dieser die HS 100 000 gebe. Damit wäre freilich erklärt, warum Cicero ohne Scheu von der repromissio reden 14

PFLÜGER (S. 112) hat das wegdisputiert: Nur für den Wortlaut sei Piso „Zeuge", nicht für den Abschluß. Man kann bezweifeln, ob dann Ciceros Argument in § 38 noch schlüssig wäre. Aber darauf soll gar kein Wert gelegt sein. 15 v. BETHMANN-HOLLWEG II 812. Anhänger hat diese Ansicht m. W. nicht gefunden.

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kann; allein die Annahme hat nicht nur keinen Anhalt im Text - in § 51 wird das Versprechen des Fannius als bedingungslos gegeben vorausgesetzt16 - , sie ist auch in sich absurd. Wie wäre denn Roscius zu seiner ersten Zahlung von HS 50 000 gekommen (§ 51)17? Es hätte sich doch für ihn nur dann gelohnt, eine Zahlung an Fannius zu machen, wenn er gehört hätte, daß Fannius von Flavius schon mehr als HS 200 000 erhalten hätte. Und vor allem: Wieso liest Cicero nicht einfach die Repromissionsformel vor, um die Grundlosigkeit der Ansprüche des Fannius darzulegen und zu beweisen, daß die umstrittene Buchung in den adversaria eine Fälschung sei18? (2) Nicht besser ist die zweite Hypothese, die von E. COSTA (1927) und U. ROBBE (1941) vertreten wurde. Nach ihr hängt das Geldversprechen des Roscius an der Bedingung, daß er seinerseits die Hälfte dessen bekommen soll, was Fannius eventuell noch von Flavius erhalten werde19. Grundlage dieser Hypothese ist §38: tu enim Q. Roscium... rogasti ut Fannio daret HS CCCIDDD bac condicione ut, si quid ille exegisset a Flavio, partem eius dimidiam Roscio dissolveret. Dieser Formulierung entnimmt ROBBE offenbar - COSTAs Ansicht wird nicht ebenso deutlich daß die genannte condicio in dem Versprechen des Roscius den Worten nach enthalten gewesen sei, eine Ansicht, deren sprachliche Möglichkeit (wenn nicht sogar Wahrscheinlichkeit) unbedingt zugegeben werden muß20. Leitet man aber die jetzige Geldforderung des Fannius aus der Versprechung beim arbitrium ab, so kommt man mit dieser Interpretation in unauflösbare Schwierigkeiten. Denn es wäre ja dann nicht einzusehen, warum Cicero nicht nachdrücklich auf diesem nur kondizionalen Charakter der Versprechung insistieren würde: „Nur wenn du mir die Hälfte des von Flavius Erhaltenen gegeben hättest, wäre ich jetzt in deiner Schuld."

16

Cicero argumentiert dort so: „Würde Roscius lügen, wenn er behauptet, Fannius habe von Flavius H S 100 000 bekommen, so würde er doch zweifellos eine größere Summe angeben, da er ja nach der Repromission die Hälfte bekommt." Das Argument ist nur möglich, wenn die Repromission ohne die von v. B.-H. angenommene Bedingung war. 17 Hier gibt v. BETHMANN-HOLLWEG seine Ratlosigkeit selber zu. 18 v. BETHMANN-HOLLWEG hilft sich hier damit, daß er eine zweite causa debendi ansetzt (condictio e causa furtiva, vgl. unten Anm. 119). Dennoch hätte Cicero wenigstens im ersten Teil der Rede auf der Formel insistieren können. 19 Die Ansichten COSTAs (Cie. giurecons. I 166 ff., etwas anders noch in: Orazioni 33 f., 45 ff.) und ROBBEs unterscheiden sich insofern, als COSTA insgesamt nur HS 50 000 von Roscius bezahlt werden lassen will (was zur Textänderung in § 38 nötigt), ROBBE dagegen bei 100 000 bleibt, aber eine sofortige Zahlung von 50 000 ansetzt (§ 51) und nur den Rest sub condicione versprochen sein läßt. Damit kommen beide in weitere Aporien: COSTA kann die erste Zahlung von H S 50 000 nicht erklären; ROBBE kommt in Konflikt mit Ciceros Formulierung in § 38, wo die HS 100 000 einheitlich behandelt sind. Beide setzen sich außerdem in eklatanten Widerspruch zu § 4, wo von H S 100 000 in den adversaria des Fannius die Rede ist. 20 S. unten S. 124 f.

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COSTA freilich hat diesen Gedanken aus Cicero herauslesen wollen: „ . . . la difesa di Roscio s'appunta sul mancato adempimento, da parte di Fannio, della condizione da cui dipendeva il suo impegno di prestargli, a sua volta, la meta di quanto avesse ricavato da Flavio" (COSTA liest in § 3 8 : HS IDDD) M . Aber von diesem Gedanken ist bei Cicero auch nicht eine Spur zu finden. Er beweist durch das Zitat der Restipulationsformel (§§ 37-39, § 37 QVOD A FLAVIO ABSTVLERO, PARTEM DIMIDIAM INDE ROSCIO ME SOLVTVRVM SPONDEO) und durch den Hinweis auf die HS 100 000, die Fannius von Flavius noch erhalten haben soll (§§ 39-51), nur das eine: daß Roscius vor fünfzehn Jahren seinen Vergleich nicht „für die Sozietät" abgeschlossen haben kann ( § 5 1 ) : iam intellegis, C.Piso, sibi soli, societati nihil Roscium petisse. Die Hypothese von COSTA und ROBBE ist schließlich auch darum kaum möglich, weil Cicero in den §§ 1-14 jegliche Verpflichtung des Roscius rundweg abstreitet. Von einer implizierten Gegenforderung ist dort keine Rede. (3) Die dritte Hypothese, wonach Cicero eine Verpflichtung des Roscius zwar anerkenne, aber doch leugne, daß sie in einer juristisch bindenden, und das heißt die actio certae creditae pecuniae ermöglichenden Form eingegangen worden sei, wurde mit verschiedenen Modifikationen vertreten. Nach einer älteren Ansicht (C. A. SCHMIDT 1839, H U S C H K E 1840, K A P P E Y N E van de COPPELLO 1882/83, R U H S T R A T 1882, WIRBEL 1911) 22 hätte sich nur Fannius durch ein förmliches Stipulationsversprechen gebunden, Roscius dagegen durch sein bloßes Ehrenwort. Diese Ansicht steht zunächst in einem gewissen Widerspruch zu dem mehrfach gebrauchten technischen Begriff restipulatio: Wie könnte eine restipulatio ohne vorhergehende stipulatio möglich sein23? Und außerdem ergibt sich eine sachliche Unwahrscheinlichkeit: Was sollte denn Fannius veranlaßt haben, sich so ungenügend abzusichern? Die Größe der Summe, meint KAPPEYNE 2 4 , und die Rücksichtnahme auf Roscius, der sich offiziell zu keiner Schuld bekennen wollte. Aber was wird aus § 26? die pactionem fecisse ut absolveretur! non pepigit. K A P P E Y N E erklärt das mit dem Mut der Verzweiflung: Die „Übereinkunft" sei hier nicht geleugnet, „wohl aber die ihr von Saturius zugeschriebene causa"16. Dann müßte aber Cicero statt non pepigit sagen: non ut absolveretur. Und wenn es ein paar Sätze später heißt: perstat in impudentia: ,pactionem enim' ,inquit, ,mecum fecerat', so ist doch wohl evident, daß Cicero die „Übereinkunft" schlechtweg abstreitet.

COSTA, Cicerone giurecons. I 169; anders noch in: Orazioni 45 f. HUSCHKE 486, KAPPEYNE 214, RUHSTRAT 35, WIRBEL 41. 23 Gewürdigt hat diese Schwierigkeit eigentlich nur WIRBEL (S. 41 A. 1). Er glaubt, Cicero ungenauen Sprachgebrauch nachweisen zu können, auf Grund von § 36: cur igitur decidit et non restipulatur. . .? Aber wer sagt, daß bei dieser decisio nicht wirklich stipuliert worden sei? 24 Ebenso schon HUSCHKE 486. 25 KAPPEYNE 217; ebenso AMIRANTE 35, Anm. 58. 21

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In ähnliche Aporien kommen wir mit der Ansicht J . B A R O N s (1880). Nach ihm wäre zwischen Roscius und Fannius ein Litteralkontrakt aufgesetzt worden - trotz der in § 38 erwähnten repromissio, die mündlich war - , aber Fannius soll dann versäumt haben, den Posten aus den adversaria in das H a u p t buch aufzunehmen 2 6 ; und so könne jetzt Cicero nach striktem Recht darauf bestehen, daß eine solche Buchung keinen Litteralkontrakt begründe. Auch B A R O N kann damit nicht erklären, wie Cicero die Behauptung wagen dürfe: non pepigit; und außerdem ist seine Version an sich höchst unwahrscheinlich. Warum hätte denn Fannius den Posten gegen sein Interesse nicht übertragen? B A R O N stellt zur Auswahl: Nachlässigkeit oder Absicht - das erste ist unglaublich, das zweite unerklärlich. Den fatalsten Fehler in BARONs H y p o these hat PFLUGER (1904) gezeigt 27 : Cicero behauptet ja gar nicht, daß eine Buchung in den adversaria den Litteralkontrakt nicht b e g r ü n d e n könne; er sagt nur, sie könne ihn nicht b e w e i s e n . Dies erkennt V. A R A N G I O - R U I Z (1964) 28 , der jüngste Verfechter dieser Hypothese (und er beurteilt darum auch Ciceros Aussichten in diesem Prozeß recht pessimistisch). Dennoch möchte er mit B A R O N den Hauptgedanken des ersten Teils darin sehen, daß die actio certae creditae pecuniae nicht gerechtfertigt sei. Und er paraphrasiert Cicero, als ob dieser die Schuld als solche zugebe und nur das Verfahren bestreite: „Dice R o s c i o : . . . £ vero che io gli debbo 50 mila sesterzi (!), residuo dei 100 mila che tu giudice mi avevi tre anni addietro invitato a versargli, ma ne questo tuo invito puo esser titolo valido per intentare l'actio certae creditae pecuniae, ne tu ordinasti quel pagamento per avermi attribuito l'inadempimento delle mie obbligazioni di socio, ma solo per titoli accessori." 29 Das steht doch wohl in geradem Widerspruch zu Ciceros Behauptung: . . . hanc pecuniam ei non deberi (§ 9). Hier zeigt sich deutlich die gemeinsame Schwäche aller derer, die Cicero nicht die eigentliche Leugnung der Verpflichtung, sondern nur die Leugnung ihrer juristischen Verbindlichkeit in den Mund legen wollen. Cicero sagt eben nicht: „Juristisch gesehen hat Fannius nichts zu fordern, obwohl sich Roscius ihm verpflichtet hat; aber auch diese moralische Forderung ist jetzt hinfällig, da inzwischen ja auch Fannius etwas von Flavius bekommen hat." Den zweiten Teil des Gedankens postuliert A R A N G I O - R U I Z für das Verlorene 30 - und das kann ihm nicht verwehrt sein - , wäre nur eben der erste bei Cicero ausgesprochen!

2

«

B A R O N 143 f. PFLOGER 108 f. Vgl. dazu unten S. 119 f. mit Anm. 61. 28 ARANGIO-RUIZ 288 f. Vgl. unten Anm. 61. 29 A R A N G I O - R U I Z 300. Der Schwierigkeit mit § 26 kann ARANGIO-RUIZ entkommen, s. unten S. 118. Eine Erklärung, wieso Fannius den Posten nicht ins Hauptbuch aufgenommen habe, versucht er nicht. 30 A R A N G I O - R U I Z 300: „Ove il mio avversario creda di promuovere un nuovo giudizio arbitrale, lo faccia: ma l'arbitro non poträ che riconoscere liquidata la faccenda, dovendomi F a n n i o . . . gli stessi 50 mila che ancora io debba a lui." - In dieser 27

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(4) Die vierte Hypothese kann heute, das heißt seit den Untersuchungen PFLÜGERs (1904), als die herrschende Meinung gelten (vertreten schon von P . K R Ü G E R 1868, dann von F . S C H W A R Z 1952, G . B R O G G I N I 1957, F. WIEACKER 1965, H. J . METTE 1965) 31 . Nach ihr ist es ausgemacht, was wegen der restipulatio auch plausibel scheint, daß eine Stipulation wirklich stattgefunden hat. Wenn Cicero sie dennoch leugne, so könne er dies darum tun, weil Fannius keine Zeugen zur Verfügung habe32. Aber wieso sollte denn Fannius bei der feierlichen Versprechung einer so hohen Summe keine Zeugen herangezogen haben? Nur PFLÜGER hat eine Erklärung versucht: weil Fannius so erfreut gewesen sei über das viele Geld, das er bekommen sollte, daß er im Eifer alle Vorsichtsmaßnahmen vergaß! Sehr wahrscheinlich klingt das nicht - , aber geben wir die Möglichkeit einmal zu: Wie kann dann Cicero jetzt hoffen, dem Piso einzureden, nur Fannius habe promittiert? Und auch diese verwegene Hoffnung zugestanden: Wieso erwähnt dann Cicero überhaupt die repromissio in den §§ 37-39 (und öfter) 33 ? Dies versucht SCHWARZ zu erklären: „Es ist Cicero sichtlich (!) unangenehm, dieses Versprechen überhaupt zu berühren. Er tut es, weil er auf die Erwähnung der restipulatio von Seiten des Fannius nicht verzichten kann." 34 Aber das ist schlicht unrichtig. Cicero erwähnt die restipulatio, wie wir schon einmal betont haben, nur, um zu beweisen, daß Roscius vor fünfzehn Jahren „für sich und nicht für die Sozietät" den Vergleich mit Fannius abgeschlossen habe. Zum Beweis dieser Behauptung hat er aber schon im Vorhergehenden (§§ 35-37) ein schlagendes Argument vorgebracht. Und wenn er dieselbe Behauptung im Folgenden (§§ 39 ff.) noch ein drittes Mal beweist (nämlich aus der Tatsache, daß Fannius von Flavius noch etwas erhalten habe), so ist auch dieses Argument unabhängig von

Kurzparaphrase der Rede bei A R A N G I O - R U I Z stammen eigentlich nur die stofflichen Materialien aus Cicero, die Gedanken oder wenigstens ihre Verknüpfung sind Schöpfung des geistvollen Gelehrten. 31 P F L Ü G E R 102 (er meint aber doch, daß Fannius Litteralkontrakt behaupte: S. 113), S C H W A R Z 288 (folgt im wesentlichen P F L Ü G E R ) , B R O G G I N I 216, Anm. 45, W I E A C K E R 11, 13, M E T T E 16. ( M E T T E gibt ehrlicherweise zu, daß der Prozeß für Roscius aussichtslos sei.) Ganz ähnlich übrigens schon P U C H T A 326-328. 32 § 13 stipulatus es - ubi, quo die, quo tempore, quo praesente? quis spopondisse me dicitf nemo. § 14 stipulatam non esse [sc. pecuniam] taciturnitas testium concedit. 33 Ich stütze mich um der methodischen Sicherheit willen nicht darauf, daß in § 38 nach dem Zeugnis der Handschriften nicht nur die restipulatio, sondern auch die stipulatio selbst ausdrücklich zugegeben wird; s. dazu unten S. 125. — In § 41 ist aber dem Gedankenzusammenhang nach mit harte recentem stipulationem Rosci wohl nicht das Versprechen des Roscius gemeint (so versteht offenbar M E T T E 16), sondern die an Fannius gerichtete Aufforderung zum Gegenversprechen, also sachlich dasselbe wie § 39 repromissionem recentem hanc Fartni (stipulari in der Regel = „zum Versprechen auffordern", vgl. H E U M A N N / S E C K E L 9 S. 555 f.; stipulatio mit Gen. der Person finde ich sonst nicht belegt). Richtig übersetzt A R A N G I O - R U I Z . 34 S C H W A R Z 289.

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der Erwähnung der restipulatio. Es wäre also für Cicero ein leichtes gewesen, die restipulatio hier überhaupt nicht zu berühren, was, wie leicht zu sehen, auch für die beiden späteren (ganz beiläufigen) Erwähnungen gilt 35 . So versucht denn auch Franz W I E A C K E R , der unsere Rede zuletzt ausführlicher behandelt hat, keine eigentliche Erklärung mehr f ü r Ciceros Vorgehen. Die Leugnung der Stipulation in § 13 ist für ihn eine „ersichtlich lügnerische Behauptung", in Ansehung dessen, daß der Richter Piso Urheber der Stipulation war, geradezu eine „Unverfrorenheit" 3 6 . So etwas lasse sich nur aus der N a t u r der antiken Rhetorik verstehen: Hier komme es nicht auf Überzeugung, sondern nur auf Überredung an. Aber wie Cicero hoffen könne, mit seiner Leugnung den Piso auch nur zu über r e d e n , dafür weiß W I E A C K E R keine Erklärung, und es gibt auch keine. Wir können zusammenfassen. Es besteht kaum ein Zweifel daran, daß sich Roscius gelegentlich des arbitrium wirklich verpflichtet hat. Wenn Cicero diese Verpflichtung (wenigstens implizit) zugibt und trotzdem leugnet, daß Roscius dem Fannius etwas schuldig sei, und wenn er dies nicht etwa darum leugnet, weil die Schuld des Roscius durch eine Gegenforderung kompensiert würde, sondern allein darum, weil Roscius weder mündlich noch schriftlich etwas versprochen habe, dann ergibt sich mit Notwendigkeit der Schluß: Die Forderung des Fannius beruht überhaupt nicht auf dem gelegentlich des arbitrium geschlossenen Kontrakt, sondern auf einem anderen. Welchem? Darüber wird sofort zu reden sein. Zunächst aber können wir nach der reductio ad absurdum der üblichen Anschauung auch noch einen positiven Beweis f ü r unsere These vorlegen. In den §§ 9 - 1 3 will Cicero zeigen, daß Roscius schon allein darum keine H S 50 000 schulden könne, weil dies ja bereits die Streitsumme im arbitrium des Piso gewesen sei. Dort war nämlich das compromissum auf H S 50 000 abgeschlossen worden. Man fordere aber beim arbiter (anders als im iudicium certae pecuniae) immer mehr, als einem wirklich zustehe. Wir können es vorläufig dahingestellt sein lassen, ob dieses Argument zwingend ist37. Uns interessiert daran nur ein Punkt: Cicero behauptet, das compromissum sei auf Grund der tabulae des 35

PFLÜGER meinte darum (S. 130 ff.), im Grunde wolle Cicero den Richter gar nicht überzeugen, sondern ihm nur die Möglichkeit geben, die Schuld des Roscius durch seine Gegenforderung aus der repromissio zu kompensieren. (Ähnlich BROGGINI 216, Anm. 45 und schon KRUGER 242 f.) Diese kühne Interpretation scheitert aber schon allein daran, daß Cicero die Sache mit dem Flavius-Fannius-Vergleich erst in der Mitte der Rede bringt (§ 39 läßt keinen Zweifel daran, daß es sich um etwas Neues handelt): Wenn Cicero das von PFLÜGER postulierte augenzwinkernde Einverständnis mit dem Richter erreichen wollte, müßte er notwendigerweise den Fannius-FlaviusVergleich an den Anfang setzen, wenigstens vor die Leugnung der Stipulation in § 13! Im übrigen kann nicht genug betont werden, daß Cicero den Gedanken an eine Kompensation auch nicht einmal andeutet. M WIEACKER 22 und 13. 37 Dazu unten S. 122 f.

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Fannius in dieser Höhe abgeschlossen worden. § 1 2 : . . . quaero abs te quid, ita de hac pecunia, de his ipsis HS IDDD [=50 000], de tuarum tabularum fide compromissum feceris, arbitrum sumpseris... § 13: qui cum de hac pecunia tabularum fide arbitrum sumpsit, iudicavit sibi pecuniam non deberi. Ob das richtig ist oder nicht, es setzt doch auf jeden Fall voraus, daß die umstrittene Buchung schon v o r dem Schiedsgericht gemacht worden war und daß also auch der Kontrakt, auf den Fannius seine Forderung jetzt stützt, vor dem Zeitpunkt des Schiedsgerichts anzusetzen ist39. Ciceros Argument könnte nicht einmal einen Schein der Wahrheit haben, wenn Fannius seine Forderung aus dem arbitrium hergeleitet hätte, wenn er behauptet hätte, der Posten sei erst damals eingetragen worden. Da freilich im Geschäftsjournal des Fannius HS 100 000 notiert sind (§ 4), so müssen wir annehmen, daß auch jene erste Zahlung des Roscius (§51) schon vor dem Schiedsgericht erfolgt ist. Aber daran hindert uns nun wirklich nichts anderes als die communis opinio. Mit Genugtuung können wir schließlich notieren, daß auch Ciceros Zeitangaben genau zu unserer Annahme stimmen. Die Buchung liegt „m e h r als drei Jahre" zurück (§ 8 amplius triennium), die Restipulation nur „drei Jahre" (§ 37 abhinc triennium). Es ist klar, daß man auf solche ungenauen und oft kontextgebundenen' Angaben an sich wenig bauen kann; zur Bestätigung sind sie aber doch nützlich. Für uns stimmt vorläufig alles zusammen: Der umstrittene Kontrakt muß kurze Zeit v o r dem Schiedsgericht angesetzt werden. Und damit kommen wir zur eigentlichen Rekonstruktion der Vorgänge, d. h. der Vorgänge, wie sie sich in den Versionen von Klage und Verteidigung darstellen. (Denn zur .Wirklichkeit' durchzudringen, können wir in diesem Prozeß kaum hoffen.) Unumstritten sind die Ereignisse, die vor dem zwischen Roscius und Flavius abgeschlossenen Vergleich liegen; ebenso ist klar, daß Fannius eines Tags von diesem Vergleich erfuhr und daß es schließlich zu einem Schiedsgericht kam. Was aber liegt vor dem Schiedsgericht? Darüber belehren uns die §§ 25 f. in Ciceros Rede. Cicero fragt hier den Fannius, warum er denn gegen Roscius keinen Sozietätsprozeß (actio pro socio) angestrengt habe, wenn er sich doch von ihm als seinem Gesellschafter betrogen fühlte (§ 25 Ende): . . . quo tu tempore ilia formula uti noluisti, nihil hunc in societatem fraudis fecisse iudi(casti}. (Ge38

v. BETHMANN-HOLLWEG hat sich wenigstens noch gewundert. II 822, Anm. 46: „Cicero übersah (!) oder ignorirte absichtlich d a b e i . . . , daß die gegenwärtige Klage des Fannius . . . neueren Ursprungs ist als jene frühere; daher auch die Worte de tabularum fide ihm nur entschlüpft sein können." Hier ist nicht beachtet, daß das ganze Argument Ciceros an de tabularum fide hängt. Er will doch in den §§ 1-13 zeigen, daß die Buchung in den tabulae des Fannius falsch ist. Und die §§ 10-13 liefern hierfür den letzten Beweis. - Die übrigen Erklärer haben sich um diese Paragraphen so gut als möglich gedrückt. ROBY (II 488 mit Anm. 2) und PFLÜGER (S. 122) weisen immerhin darauf hin, daß Cicero hier zwei verschiedene Dinge durcheinanderwerfe, da ja die beiden Forderungen des Fannius nicht identisch sein könnten - aber de tabularum fide bleibt auch bei ihnen ohne Erklärung.

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meint ist der Zeitpunkt, an dem Fannius von dem eigenmächtigen Vorgehen des Roscius erfahren hatte 39 .) An dieser Stelle scheint in den Handschriften ein Textstück unbestimmter Größe zu fehlen, das auf . .ytionem ausging (pactionem?)40. Im erhaltenen Text geht es weiter: tabulas habet41 an non? si non habet, quemadmodum pactio est? Wir befinden uns in der Auseinandersetzung über eine „Abmachung" zwischen Roscius und Fannius (vgl. unten: ,pactionem enim', inquit, ,mecum fecerat'). Cicero argumentiert damit, daß es keine solche pactio geben könnte, wenn Roscius keine Geschäftsbücher hätte. Weiter: si habet, cur non nominas? Seltsam, daß dieser fragwürdige Satz - denn was soll das heißen: Geschäftsbücher „nennen"? - von allen Editoren bewahrt worden ist42. Der Sinn muß doch sein: „Und wenn er Geschäftsbücher hat, warum sind sie nicht benutzt worden?" Man streiche einen Buchstaben: si habet, cur non nomina? („Warum hat er dann nicht die entsprechenden Buchungen?" 43 ) Das ist offenbar eine Reprise aus dem ersten Teil der argumentatio (§1): quod si ille suas proferet tabulas, proferet suas quoque Roscius. erit in illius tabulis hoc nomen, at (in) huius non erit. Wiederum beruft sich also Cicero darauf, daß im Geschäftsbuch des Roscius nichts eingetragen ist. Und auf diese Tatsache gestützt, schlägt er nun drei Behauptungen des Gegners nieder (§26): (1) die nunc Roscium α te petisse ut familiarem suum sumeres arbitrum! non petiit. (2) die pactionem fecisse ut absolveretur! non pepigit. (3) quaere qua re sit absolutus! quod erat summa vnnocentia et integritate. Von der ersten Behauptung sehen wir f ü r einen Augenblick ab. Jedenfalls ergibt sich aus den letzten beiden, daß nach Behauptung des Klägers Roscius drauf und dran war, in irgendeinem Prozeß verurteilt zu werden, und daß er sich durch die bewußte pactio von Fannius gewissermaßen freigekauft habe (vgl. auch unten: idcirco videlicet, ne condemnaretur). Dagen Cicero: Er wurde freigesprochen, weil er unschuldig war. Das wird in der folgenden Kurzerzählung etwas modifiziert: quid enim factum est? venisti domum ultro Rosci [Cicero betont, daß nicht etwa Roscius bittend zu Fannius kam], satis fecisti; 39

Zur genauen Interpretation s. S. 141 f. CLARK kommt ohne Lücke aus. Er konjiziert: . . . indicasti. die enim, tabulas ...? Ich kann dem keinen Sinn abgewinnen (was soll denn enim}). Auf jeden Fall muß die pactio schon vorher erwähnt worden sein. 41 Die meisten Herausgeber schreiben mit M E N A R D U S dreimal habes gegen die Handschriften. Aber es gibt dafür keine vernünftige Begründung (trotz H U S C H K E 496). 42 Anstoß genommen hat ROBY II 488, Anm. 4: „unintelligible to me". - Offenbar versteht man nominare im Sinn von dicere de: „perche non ne fai parola?" (ARANGIO-RUIZ, ebenso F U H R M A N N ; etwas anders DE LA VILLE DE MIRMONT und FREESE). Aber selbst wenn das möglich wäre, was ich mit Entschiedenheit bestreite - nominare hat immer mit nomen zu tun, nicht nur etymologisch der Gedanke wäre doch sinnlos. 43 nomen habere (in tabulis) = „einen Posten gebucht haben". Vgl. bes. Cie. Verr. II 1, 100: hinc ratio cum Q. et Cn. Postumis Curtiis multis nominibus, quorum in tabulis iste habet nullum. 40

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quod temere commisisti, in indicium ut denuntiares, rogasti ut ignosceret; te adjuturum negasti, debere tibi ex societate nihil clamitasti. iudici hic denuntiavit [der iudex war also schon eingesetzt]; absolutus est. Klar ist: Fannius hatte seinerzeit auf die Durchführung eines Prozesses verzichtet, indem er vor dem iudex nicht mehr erschienen war. Und so wurde Roscius freigesprochen. Setzen wir nun - und das ist ja auch die allgemeine Ansicht - die hier von Cicero geleugnete pactio mit dem Kontrakt gleich, auf den sich Fannius in unserem Prozeß beruft44, dann heißt das Problem jetzt: Ist Fannius damals zurückgetreten, weil er mit seinem Anspruch nicht durchzudringen hoffte, oder darum, weil Roscius mit ihm einen Kontrakt auf die bewußten HS 100 000 geschlossen hatte? Es versteht sich, daß nach unserer Ansicht das in § 26 erwähnte iudicium nicht mit dem in den §§ 12 f. und 37-39 behandelten arbitrium des Piso identisch sein kann, vielmehr vor diesem anzusetzen ist. Nach der herkömmlichen Auffassung, wonach die jetzige Forderung des Fannius aus dem arbitrium herzuleiten wäre, mußten natürlich beide Verfahren in eines gesetzt werden. Aber in welche Schwierigkeiten ist man dabei geraten! Da die von Cicero in § 26 verwendete Terminologie nicht gut zu einem schiedsgerichtlichen Verfahren paßt - oder spricht man hier etwa von: in iudicium denuntiare? - , waren die Gelehrten des 19. Jahrhunderts der Meinung, es habe sich bei dem arbitrium des Piso überhaupt nicht um ein außergerichtliches Verfahren, sondern um einen regelrechten Sozietätsprozeß (actio pro socio) gehandelt45. Aber Cicero sagt zweimal ausdrücklich, daß ein solches Verfahren nicht stattgefunden habe (§ 25), und bezüglich des arbitrium spricht er von einem compromissum (§ 12), das es beim gerichtlichen Verfahren nicht gibt. So ist auch diese Meinung seit den gründlichen Darlegungen von B A R O N (1880) fast durchweg aufgegeben worden4'. Dann mußte § 26 auf ein außergericht-

Die von uns bemerkte „Reprise" (s. oben) bestätigt diese Ansicht. UNTERHOLZNER 268, HUSCHKE 482 f., v. BETHMANN-HOLLWEG II 808 f. mit Anm. 13, KRÜGER 238, K A P P E Y N E 213. 4· BARON 119-125 (vgl. schon PUCHTA 321). Unentschieden blieben trotz BARON noch GREENIDGE 544 f., COSTA, Cie. giurecons. I 168 (gegen BARON zunächst in: Orazioni 44 f.; vgl. auch HUVELIN 461 und 468), entschieden gegen BARON nahm v. MAYR (S. 57-60) Stellung. (Er braucht die actio pro socio, da er im zweiten Teil von Ciceros argumentatio die „Einrede der res iudicata" erhoben sehen will, so S. 56 u. ö.; dagegen war der Spott PFLÜGERs berechtigt: S. 119 ff.) Einen Verfechter hat die alte These jetzt wieder in METTE gefunden (S. 16). Er wird aber mit den Schwierigkeiten auch nicht fertig, und die gelehrte Literatur läßt er unberücksichtigt: § 25 cur rton arbitrum pro socio adegeris ließe sich allenfalls noch als „malitiöse[n] Frage" (METTE a. O.) aus der Welt schaffen (im Sinne von: „Der Prozeß ist ja gar nicht durchgeführt worden", wie das schon HOTMANN aufgefaßt zu haben scheint: „haec fallaciter dicuntur et oratorie"); aber die ausdrückliche Behauptung, daß Fannius die F o r m e l des Sozietätsprozesses nicht gebraucht habe, und die ironische Frage, ob sie ihm etwa unbekannt bewesen sei, dies alles wären törichte Lügen Ciceros, wenn es in 44

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liches Verfahren hin interpretiert werden (sofern man nicht auf eine Erläuterung überhaupt verzichtete). Das geht freilich nicht ohne unerträglichen Zwang, selbst wenn man von der Terminologie einmal absieht. Denn die wechselseitigen Versprechungen im arbitrium kamen doch auf Anregung des arbiter zustande (§ 38) und beendeten durch eben ihr Zustandekommen das arbitrium"; die von Saturius behauptete pactio (§ 26) dagegen kam w ä h r e n d eines Verfahrens zustande, und offenbar nicht durch die pactio an sich wurde das Verfahren beendet, sondern dadurch, daß a u f G r u n d ihres Zustandekommens die eine Partei für den Freispruch der andern sorgte: Der iudex erfährt ja nur, daß Fannius seinen Anspruch zurückziehe und nicht mehr beim Prozeßtermin erscheinen wolle. An diesem Punkt scheitern die Romane, welche BARON und PFLÜGER geschrieben haben, um das Unvereinbare zu kombinieren. PFLÜGER hat es selbst gesehen, auch wenn er es nicht zugeben wollte. Nach seiner Version wäre Fannius von der Nachricht, daß Roscius den Vergleichsvorschlag des Piso annehmen wolle, so entzückt gewesen48, daß er ins Haus des Roscius eilte, die Rührszene von § 26 machte (Ciceros Version völlig ernst genommen!); und so sei denn durch wechselseitige Stipulation der Kontrakt zustandegekommen (gegen Cicero!). Die Mitteilung hiervon, behauptet nun PFLÜGER, habe Piso zum „Freispruch" bestimmt49: „Daß Cicero so tut, als habe Fannius vollständig pater peccavi gesagt, als sei nur sein Ausbleiben im nächsten Termin vereinbart worden, steht dieser Annahme natürlich (!) nicht entgegen. Dafür war Cicero der Anwalt des Roscius." Aber schwerlich könnte der Anwalt des Roscius dem Piso einreden, er habe damals eine ganz andere Mitteilung bekommen, als er sie wirklich bekommen hatte. Und könnte Piso jetzt glauben, Roscius habe damals keinen Kontrakt geschlossen, wo er doch eben auf die Mitteilung von diesem

der Tat einen Sozietätsprozeß gegeben hätte. (Im übrigen trennt METTE zwischen dem arbitrium pro socio und dem arbitrium des Piso, das er für außergerichtlich hält, vgl. unten Anm. 52.) Eine Erklärung dieser Sätze ist von den Anhängern der projocio-Theorie nie versucht, sondern immer umgangen worden. Vgl. etwa KAPPEYNE 215: „Cicero giebt sich den Schein (!), als werfe er dem Fannius vor, den Roscius nicht lieber mit der actio pro socio verfolgt zu haben". 47 Entscheidend wichtig schon der Hinweis von v. BETHMANN-HOLLWEG (II 809 f., Anm. 13), daß das compromissum durch Vergleich aufgehoben werde, ohne daß ein Urteil noch erfolge. Was BARON dagegen eingewendet hat (S. 123), geht an der Sache vorbei (vgl. ARANGIO-RUIZ 308 f.). Die notwendige Aporie, in die man hier mit der herkömmlichen Auffassung gerät, wird besonders deutlich an der (für uns gegenstandslosen) Kontroverse zwischen TALAMANCA (S. 28, Anm. 65) und AMIRANTE (S. 35 mit Anm. 59): Jener leugnet den Freispruch (gegen den Text), dieser besteht auf ihm (gegen die Logik der Sache). 48 Nach BARON (S. 128) hätte Fannius schon auf die bloße Nachricht vom Vergleichs V o r s c h l a g hin seinen Gleichmut verloren. 49 PFLÜGER 112; ebenso schon ROBY (II 489), der sogar den Eindruck erweckt, als stehe das bei Cicero.

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Kontrakt den Roscius freigesprochen hatte50? Diese Lügen hätten zu kurze Beine. Es ist also keineswegs nur unsere Annahme (wonach die geforderten HS 50 000 nicht aus dem arbitrium stammen), die uns dazu nötigt, das iudicium von § 26 vom arbitrium des Piso zu unterscheiden. Im Gegenteil: Die Absurditäten, die sich aus der Gleichsetzung der beiden Verfahren ergeben, bestätigen unsere Annahme nachträglich. Dazu nun noch ein letztes. Cicero sagt in § 26 (wir haben die Erklärung dieses Satzes bisher ausgespart): die nunc Roscium abs te petisse ut familiarem suum sumeres arbitrum! non petiit. Roscius soll also, nach Behauptung des Fannius, gebeten haben, Fannius möge die Sache an einen ihm befreundeten arbiter überweisen. Man stelle sich vor, daß dies zu einem Zeitpunkt geschehen wäre, wo Piso als arbiter schon eingesetzt war! Soll Roscius dann einen Wechsel des Schiedsrichters verlangt haben? Oder sollte die zitierte Äußerung an einem ganz anderen Zeitpunkt liegen als die im folgenden referierten (die pactionem fecisse etc.)? Man sucht in den Darstellungen von BARON und PFLÜGER vergebens nach einer Einordnung". Für uns ist die Sache sehr einfach. Nach der Version des Klägers bat Roscius den Fannius um Abbruch des Prozesses und um Überweisung der Sache an den ihm befreundeten Piso als außergerichtlichen arbiter. Darauf sei Fannius eingegangen, nachdem sich Roscius zu einer Zahlung von HS 100 000 verpflichtet hatte. Cicero dagegen leugnet beides, Bitte und Geldversprechen; und er könnte das sehr wohl, auch wenn er faktisch unrecht hätte, da ja Piso mit diesem Prozeß gar nichts zu tun gehabt hatte. So ist denn schon ARANGIO-RUIZ nur auf Grund der inneren Evidenz von § 26 zu der Vermutung gekommen, daß das dort erwähnte iudicium von dem arbitrium des Piso zu scheiden sei52. Das bringt i h η freilich in Schwierigkeiten. Denn da er (im Banne der üblichen Anschauung) die jetzige Forderung des Fannius aus dem arbitrium herleitet, so kann nach ihm die pactio von § 26 nichts mit dem in unserem Prozeß behaupteten Kontrakt zu tun haben. Er meint denn, wunderlich genug, der Kläger habe das compromissum des arbitrium als ein pactum hinstellen wollen (welches Roscius infam mache); und so wolle denn Cicero mit non pepigit nur sagen, das compromissum sei keine pactio in diesem Sinne! Darin brauchen wir ihm natürlich nicht zu folgen ss , können vielmehr, wie üblich, die pactio dem in unserem Prozeß behaup-

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Vgl. zu PFLÜGERs Ansicht aber auch oben Anm. 35. Nach B A R O N (S. 128) sagt Fannius sogar in der in § 26 berichteten Szene: „. . . er habe ganz ohne Grund das Compromiss geschlossen . . 52 ARANGIO-RUIZ 308 f., Anm. 20. Vorausgegangen war ihm schon KOSCHEMBAHR-LYSKOWSKI (vgl. bes. S. 328), dessen Interpretation unserer Rede, wie es scheint, keine Beachtung gefunden hat. (Im übrigen m. E. zu Recht.) Unabhängig von ARANGIO-RUIZ hat jetzt auch METTE diese Ansicht vertreten (S. 16); er setzt allerdings eine actio pro socio an (vgl. oben Anm. 46). 53 Ganz abgesehen davon, daß Cicero sich anders ausdrücken müßte, wenn er dies 51

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teten Kontrakt gleichsetzen, ja wir müssen dies sogar. Was dagegen die rechtliche Natur des früheren Prozesses angeht, so dürfte ARANGIO-RUIZ das Richtige gesehen haben. Zweimal sagt Cicero in § 26, der Kläger habe von furtum gesprochen: tarnen fraudis ac furti mentionem facere aud.es? ... ,res erat manifesta, furtum erat apertum'. Das weist auf die actio furti, wie ARANGIO-RUIZ feststellt; und man kann zur Stützung seiner Annahme Ulpian anführen: rei communis nomine cum socio furti agi potest, si per fallaciam dolove malo amovit vel rem communem celandi animo contrectet... (Dig. 17, 2, 45). Nach Ansicht des Fannius war ja der Acker, den Roscius bekommen hatte, auf Grund der Sozietät res communis (§ 52). Roscius hatte ihn aber zwölf Jahre lang als sein Privateigentum behandelt, ohne dem Partner offenbar von dem Vergleich überhaupt Mitteilung zu machen. Das war nach Meinung des Fannius ein offenkundiges furtum, und er klagte auf „Unterschlagung von Sozietätseigentum". Die actio furti bot sich anS4. Und wenn er jetzt behauptet, Roscius habe sich damals zu einer Zahlung von vollen HS 100 000 verpflichtet (das wäre nach den Handschriften der ganze Wert des Ackers)55, so klingt das nicht einmal so unwahrscheinlich. Denn die Strafsumme in der actio furti hatte den doppelten Wert des „Gestohlenen" (Gai. 3, 190), und außerdem machte eine Verurteilung in diesem Verfahren infam 56 : So wäre denn die soziale Stellung des Roscius, der durch seinen Aufstieg in den Ritterstand der mit seinem Beruf verknüpften Infamie entkommen zu sein scheint57, mit einem Schlag hinfällig geworden. Wir können zusammenfassen. Fannius stützt seine Forderung in unserem Prozeß auf einen Kontrakt, den Roscius mit ihm abgeschlossen haben soll, um (1) in der actio furti freigesprochen zu werden, (2) vor Piso als arbiter ex compromisso zu kommen. Damit können wir nun auch - und dies bestätigt unsere Ansicht schlagend - zum ersten Mal erklären, warum denn die Obligation des Roscius so ungenügend dokumentiert war bzw. wie die Anklage hoffen konnte, trotz dieser ungenügenden Dokumentation durchzudringen. Es mußte ja diese Summe für Roscius höchst peinlich sein: praktisch ein Schuldbekenntnis! Und wäre die Sache bekannt geworden, so wäre er auch ohne Verurteilung aufs schwerste geschädigt gewesen: Wir wissen, daß in der actio furti auch schon der Vergleich infam machte58. So ist es wohl begreiflich, daß Roscius - die Richsagen wollte - was soll denn der Hinweis auf die tabulae in § 25? - Unklar bleibt, was M E T T E (vgl. die vorhergehende Anm.) unter der pactio verstehen will. 54 Wir wissen, daß wenigstens in spätrepublikanischer Zeit auch bezüglich von Immobilien furtum stattfinden konnte (HITZIG R E V I I 1 [1910] 385, H . N I E D E R L Ä N D E R , Z R G 6 7 , 1950, 2 5 3 - 2 5 6 ; zu furtum überhaupt KÄSER, Privatrecht I 2 614 ff.), was sogar noch die Ansicht des Sabinus gewesen zu sein scheint (Gell. 11, 18, 13, nicht recht überzeugend dagegen N I E D E R L Ä N D E R a. O. 241 f.). Unrichtig demnach R O B Y (II 495) zu § 26. Aber natürlich hätte Fannius auch pro socio klagen können (Ulp. a. O. sed et pro socio actione obstrictus est). 55 Vgl. oben Anm. 5. 50 KÄSER, Privatrecht I 2 274. 57 Vgl. unten S. 149 ff.

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tigkeit der klägerischen Behauptung in unserem Prozeß vorausgesetzt - keine förmliche Stipulation vor Zeugen stattfinden lassen wollte (§§ 13 f.), und daß er den Fannius darum bat, den Posten auch nicht in sein offizielles Hauptbuch {codex accepti et expensi) aufzunehmen. Es ist dies der Einwand, dem Cicero begegnen muß, wenn er auf der ungenügenden Dokumentation f ü r die Schuldverpflichtung des Roscius insistiert. § 9: . . . quam ob rem, cum cetera tiomina in ordinem referebas, hoc nomen triennio amplius... in adversaries relinquebasf nolebas sciri debere tibi Rosciutn? cur scribebas? rogatus eras ne referres? cur in adversariis scriptum babebasf Die gegnerischen Behauptungen, auf die hier angespielt ist, wären doch wohl unverständlich, wenn die in unserem Prozeß geforderte Summe aus dem arbitrium stammen würde: Warum hätte ein solcher (durchaus nicht ehrenrühriger) K o n t r a k t im Geheimen geschlossen werden müssen 59 ? Damit löst sich nun nebenbei auch das alte Problem: H a t sich Fannius auf Stipulation oder Litteralkontrakt gestützt 80 ? D a ß Ciceros Darstellung (in den §§ 1-13) auf die Behauptung eines Litteralkontraktes hinweist, ist ja allgemein zugestanden. Doch wurden dagegen folgende Einwände gemacht: (1) Konnte Fannius so töricht sein, nur auf die adversaria gestützt, einen Litteralkontrakt behaupten zu wollen? (2) Setzt nicht die in den §§ 37-39 erwähnte repromissio des Fannius ein ebenfalls mündliches Versprechen des Roscius voraus? Der zweite Einwand ist für uns bedeutungslos, da wir die H S 50 000 anders herleiten; aber auch der erste wird hinfällig. Denn im Gesamtzusammenhang seiner Darstellung konnte es Saturius durchaus plausibel machen, daß ein ordentlicher Litteralkontrakt zustande gekommen sein müsse, obschon jetzt nur das Geschäftsjournal als Beweisstück vorlag: Fannius rogatus erat ne referret. Auch Cicero wagt ja nicht zu behaupten, daß die Buchung in den adversaria schlechtweg keinen Litteralkontrakt darstellen bzw. begründen könne. Wie vor allem PFLÜGER hervorgehoben hat, sagt er nur, daß sie als Mittel des B e w e i s e s nicht ausreiche 61 , ähnlich wie auch die Buchung bloß im Hauptbuch des Gläubigers ein (freilich geringerer) Mangel des Beweises, kein Mangel der Begründung ist (§§ 1 f.). A. W A T S O N hat dagegen neuerdings vor allem § 13 ins Tref58

So nach dem Edikt de postulando, w o unter den beschränkt Postulationsfähigen erscheint... QVI FVRTI, VI BONORVM RAPTORVM etc. DAMNATVS PACTVSVE ERIT (LENEL 77 mit Anm. 9); ebenso nach der lex lulia municipalis (§ 110, in: Fontes iur. Rom. ant. I, ed. C. C. B R U N S / O . GRADENWITZ, Tubingae 7 1909,108). 59 Wer, wie PFLÜGER und B A R O N , annimmt, dem Fannius sei ein Versehen unterlaufen, indem er entweder die Zeugen (für die Stipulation) vergessen oder (beim Litteralkontrakt) die Umschrift ins Hauptbuch unterlassen habe, der kann natürlich mit dieser Äußerung nichts anfangen. Dementsprechend auch ROBY II 498: „Such a ground for not entering in the ledger . . . is hardly worth discussing." Wir halten diesen Grund für entscheidend wichtig. 60 Vgl. Anm. 12. 61 Vgl. oben S. 110 (PFLOGER 108 ff.; grundsätzlich zum Unterschied von Begründung und Beweis einer Obligation vgl. Gai. inst. 3, 131: facere obligat'tonem — obligationis factae testimonium praebere). In den §§ 8 f. gibt Cicero selbst implizit zu, daß

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f e n geführt: . . . expensum tulisse non dicit, cum tabulas non recitat. Aber das heißt mitnichten, daß das H a u p t b u c h verbindlich f ü r das Rechtsgeschäft wäre, ein Gedanke, der ganz anders ausgedrückt sein m ü ß t e ; Cicero argumentiert vielmehr v o n der Prämisse aus, d a ß n i e m a n d als Gläubiger so töricht sein könne, einen Posten dieser G r ö ß e nicht ins H a u p t b u c h a u f z u n e h m e n , also: expensilatio b e h a u p t e t er im G r u n d e nicht einmal ( n o n dicit), i n d e m er nämlich nicht sein H a u p t b u c h v o r l e g t " ! D a s ist freilich sehr zugespitzt formuliert, aber zumal die Wiederholung des G e d a n k e n s in § 14 ( . . . expensam latam non esse codices Fanni confirm an t ) zeigt eindeutig, d a ß auch hier noch v o n der „ B e w e i s w - K r a f t der codices die R e d e ist; u n d überhaupt wäre Ciceros ganze lange A r g u m e n t a t i o n in den §§ 1 - 1 3 so gut w i e unverständlich, ja unsinnig,

auch beim L i t e r a l k o n t r a k t die Buchung zunächst nur in den adversaria erfolgt (jedenfalls nicht sogleich im Hauptbuch), woraus sie dann am Ende des Monats für gewöhnlich ins Hauptbuch übertragen wird. Es ist also sonderbar, daß man bis zur Arbeit P F L U G E R s fast durchweg annahm, es komme auf die Eintragung gerade im Hauptbuch an, von der doch auch bei Gaius im Kapitel über den L i t e r a l k o n t r a k t nichts steht (vgl. etwa P U C H T A 323, B A R O N 139 ff.; anders allerdings schon S C H M I D T im Kommentar, dessen Ansicht sich zunächst nicht durchsetzte; Lit. zum L i t e r a l k o n t r a k t bei KÄSER, Privatrecht I 2 543 A. 2). Weitere Argumente f ü r die Ansicht P F L Ü G E R s findet man bei V. A R A N G I O - R U I Z , Le tavolette cerate ercolanesi e il contralto letterale, in: Studi E. R E D E N T I , Bd. 1, Milano 1951, 113-123 (vgl. auch die Literaturangaben in der Einl. zu seiner komm. Übersetzung, Anm. 10, S. 305 f.); er kommt zu dem Ergebnis, daß „ . . . un nomen transscripticium [der Name des Litteralkontrakts bei Gaius] nasceva ogni volta che col consenso del debitore [vgl. unsere Rede § 2] il creditore scrivesse, su qualsiasi papiro ο tavoletta, le frasi necessarie a costituirlo" (a. O. 123). Vgl. die folgende Anm. 82 non dicit steht in einem feinen Gegensatz zu negat; es im Sinne von oö φησι (mit Enallage der Verneinungspartikel) zu verstehen, scheint mir unciceronisch (trotz J . W A C K E R N A G E L , Vorlesungen über Syntax, Bd. 2, Basel 1924, 262: An der dort f ü r non spero = „ich hoffe, daß nicht" angeführten Stelle Cie. epist. 5, 1, 2 hat sperare den Sinn von „damit rechnen, daß", womit die Enallage entfällt). - Ähnlich wie W A T S O N (S. 27 ff.: leider fast ohne Diskussion der gelehrten Literatur) zu § 13 auch D . L I E B S , in: Sympotica F. W I E A C K E R , Göttingen 1970, S. 141 f., Anm. 133. Etwas anders T O M U L E S C U , der ebenfalls gegen P F L Ü G E R und A R A N G I O - R U I Z (s. oben Anm. 61) Stellung nimmt, aber doch zugibt, daß Cicero nicht „die Notwendigkeit des codex f ü r die Schaffung der obligatio litteris behauptet" (S. 293). Er setzt dann freilich diese Behauptung in den am Anfang der Rede verlorengegangenen Teil; das gäbe jedoch eine sonderbare Antiklimax der Beweisführung, und unerklärt bliebe, wieso gerade der entscheidende Gedanke in den §§ 13 f. (Zusammenfassung des ersten Teils) nicht wieder aufgenommen würde. Gegen P F L Ü G E R s Ansicht auch H . SIBER (Römisches Recht, Bd. 2, Berlin 1928, 181 Anm. 2; im selben Sinn G. T H I E L M A N N , Die römische Privatauktion, Berlin 1961, 110 f., Anm. 88): Cicero bezeuge, daß die adversaria nach Übertragung ins Hausbuch vernichtet würden (§ 7); „man vernichtet doch nicht das Original der Vertragsurkunde". Aber Ciceros Äußerung braucht nur f ü r die adversaria im allgemeinen zu gelten; sofern sie einen Kontrakt enthielten, mochten sie natürlich aufbewahrt werden.

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wenn das Hauptbuch konstitutiv wäre für den Kontrakt; es müßte ja dann für ihn darauf ankommen, Sinn und Gültigkeit des einen Rechtssatzes darzutun, mit dem die Sache entschieden wäre. Die von Saturius vorgelegten adversaria konnten also den Litteralkontrakt sehr wohl begründen, und nur ihr Beweiswert war, für sich genommen, recht gering. Aber dieser eine Beweis wurde eben durch einen zweiten ergänzt: durch den Nachweis der Sozietätsschuld des Roscius, die nach Meinung des Fannius unweigerlich zur infamierenden Verurteilung in der actio furti geführt hätte, wenn nicht der Kontrakt zustande gekommen wäre. In ihm wurde - wir referieren den Kläger - die Sozietätsschuld des Roscius auf HS 100 000 angesetzt und in der üblichen Weise a re in personam transskribiert". Wenn sich Fannius darauf einließ, den Posten nicht ins Hauptbuch aufzunehmen (was, wie in unserem Prozeß, zu Scherereien führen konnte), so einmal wegen der Höhe der Summe, von der die Hälfte ja augenblicklich ausgezahlt wurde, zum andern, weil er offenbar noch bereit war - wir unterstellen die Richtigkeit seiner Behauptung - , den Roscius für einen anständigen Menschen zu halten"4. Wundern kann man sich höchstens, daß Cicero wenigstens für einen Augenblick den Anschein erweckt, als k ö n n t e der Kläger auch Stipulation behaupten wollen. § 13 reliquum est ut stipulation se esse dicat. Aber daraus darf man sicherlich nicht schließen, daß Fannius keinen Litteralkontrakt geltend gemacht hätte 65 ; Cicero sagt nur: „(Nachdem die Behauptung eines Litteralkontrakts in Ansehung der Beweisklage keine Aussicht auf Erfolg hat), b l i e b e ihm bloß noch die Möglichkeit", eine Stipulation zu behaupten." Jedenfalls ist die kon" Gai. inst. 3, 129: (A re in personam trans)scriptio fit, velut si id, quod (tu) ex emptionis causa aut conductionis aut societatis mihi debeas, id expensum tibi tulero. Der Litteralkontrakt ist stets die Novation einer bestehenden Urschuld (s. auch KÄSER, Privatrecht I 2 544); dies paßt genau auf unseren Fall, mit der einen Abweichung, daß die Schuldsumme (aus begreiflichen Gründen) wahrscheinlich zu hoch bemessen wurde. 84 Die „Unterschlagung" des Grundstücks mußte ja nicht unbedingt auf eine Böswilligkeit des Roscius zurückgeführt werden; sie ließ sich auch mit einem gewissen Leichtsinn und einer (allerdings sträflichen) Unkenntnis der Rechtslage erklären. Vgl. S. 136 f. 65 So H A N E D O E S (S. 27), der meint, daß wenn Fannius sich auf Litteralkontrakt berufen hätte, „de expensilatione hic tantum, non etiam de adnumeratione et stipulatione, de quibus nulla tunc potuisset esse quaestio, dicere debuisset Cicero". Ähnlich, aber vorsichtiger W A T S O N , der (S. 25, vgl. auch S. 27) den §§ 13 f. entnimmt, „that the speech for Fannius did not expressly mention the ground of action or else hinted at more than one possible ground". Die erste Alternative könnte immerhin insofern richtig sein, als Saturius vielleicht nicht terminologisch präzise Litteralkontrakt behauptete, sondern die Natur des Kontrakts durch die Beschreibung der Vorgänge bei seiner Entstehung hinlänglich bezeichnet glaubte. Wir könnten darüber sicherlich urteilen, wenn wir den Anfang von Ciceros argumentatio noch besäßen. 66 Vgl. zu diesem reliquum est, ut (welches den letzten dem Gegner noch freistehenden Ausweg bezeichnet) S. Rose. 77: reliquum est ut per servos id admiserit (ebenfalls nach vorhergehender Widerlegung der Alternative): „der Kläger kann also höchstens

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träre Ansicht WIEACKERs (er übersetzt: „Es bleibt nur noch das behauptete Schuldversprechen . . .") β7 sprachlich nicht zu rechtfertigen. Wir glauben damit den Verlauf der Begebenheiten bis zum arbitrium Pisonianum (wenigstens nach der klägerischen Version) befriedigend rekonstruiert zu haben. Problematisch ist nur noch das arbitrium selbst. Sollte Fannius schon damals die jetzt geforderten HS 50 000 verlangt und seine adversaria vorgelegt haben? So klingt zweifellos Ciceros Behauptung in § 12: de quo nomine ad arbitrum adisti, de eo ad iudicem venisti (nämlich in unserem Prozeß) - allein eindeutig gesagt ist nur, daß die beiden Geldposten gleich sind; und was die Erwähnung der tabulae betrifft - wir haben darüber schon gesprochen68 - , so sagt Cicero keineswegs, daß sie dem Piso schon einmal vorgelegen hätten: Er behauptet nur, daß auf Grund der tabulae das compromissum auf HS 50 000 abgeschlossen worden sei. Von der Sache her gesehen, sprechen drei Gründe gegen die Annahme, daß sich Fannius schon einmal vor Piso auf seine tabulae berufen hätte: (1) Das Schiedsgericht wurde (nach Fannius) gleichzeitig mit dem Litteralkontrakt verabredet (§ 26). Wenn sich nun Fannius in unserem Prozeß auf seine zarte Rücksichtnahme gegenüber Roscius beruft (s. § 9), so dürfte er damals die Sache mit der pactio nicht gleich publik gemacht haben. (2) Man nimmt zwar gewöhnlich an, das arbitrium sei nicht ordentlich zu Ende geführt, sondern durch einen von Piso angeregten „Vergleich" vorzeitig beendet worden; indes beruht diese Annahme zum guten Teil auf der, wie wir gesehen haben, irrigen Beziehung des § 26 auf das arbitriumDa nun die von Cicero mitgeteilte Formel des compromissum auf dare und repromittere lautet (S 12: QVANTVM AEQVIUS ET MELIVS SIT DARI REPROMITTIQVE) und da dieser Formel der in den §§ 37-39 mitgeteilte „Vorschlag" des Piso genau entspricht ( § 3 8 : rogasti ut Fannio daret, § 3 9 repromisisse Fannium Roscio), so liegt es doch nahe anzunehmen, daß es sich hier um das wirkliche Urteil des arbiter handelt. Ist das richtig, dann kann Fannius jetzt nicht noch einmal dieselbe Forderung anmelden; denn sonst verfiele ja die beim compromissum stipulierte Summe von HS 50 000, also dieselbe Summe, die Fannius in unserem Prozeß zu bekommen hofft. (Die Annahme wäre absurd.) Zuzugeben ist dabei allerdings, daß das Verbum rogasti in § 38 nicht gut zu einer wirklichen sententia arbitri paßt. Völlig sicher können wir hier also nicht sein. (3) Sicher ist dagegen ein letztes Argument: Cicero würde es doch nicht versäumen, darauf hinzuweisen, daß über die tabulae des Fannius von Piso schon einmal vor drei Jahren geurteilt worden sei, wenn dies wirklich geschehen wäre. Er schließt aber aus der Tatsache, daß Fannius damals das compromissum auf noch sagen, daß der Angeklagte das Verbrechen durch seine Sklaven begangen habe"; ebenso Quinct. 87, vgl. auch § 45 unserer Rede: relic tum (v. 1. reliquum) est ut Cluvium

falsum dixisse Luscio et Manilio contendat. (So gebraucht Cicero auch restat ut in

Quinct. 41.) « W I E A C K E R 13. «8 S. oben S. 112 f. ·» Vgl. oben S. 115.

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HS 50 000 abgeschlossen hat, nur darauf, daß die wirklichen Ansprüche so hoch nicht gewesen sein könnten. Er wagt nicht die Behauptung, über die jetzige Forderung sei schon einmal entschieden worden70. Wie können wir uns dann die Sache vorstellen? Ich meine, so. Die beiden Parteien erscheinen vor dem arbiter und erklären: Was den früheren Vergleich des Roscius mit Flavius angehe, so habe man sich darüber bereits gütlich in der Weise geeinigt, daß Roscius die Hälfte des erhaltenen Werts (also HS 50 000) an Fannius bezahlt habe. (Von einem darüber hinausgehenden Geldversprechen mußte kein Wort gesagt werden; und auch, daß es eine actio furti gegeben hatte, mag man zweckmäßigerweise verschwiegen haben.) Jetzt möge Piso entscheiden, was dem Fannius in seiner Eigenschaft als Prozeßvertreter noch zustehe und was er seinerseits dem Roscius für den Fall, daß er von Flavius noch etwas bekommen sollte, zu versprechen habe. (Das also wäre für diesen speziellen Fall der Sinn von: QVANTVM AEQVIUS ET MELIVS SIT DARI REPROMITTIQVE). Daß das compromissum gerade auf HS 50 000 abgeschlossen wurde, wird wohl am ehesten aus eben dieser Gegenforderung des Roscius zu erklären sein: Nachdem er selbst einen Wert von HS 100 000 für seinen Teil von Flavius erhalten hatte, lag es nahe, diese Summe als das anzusetzen, was auch Fannius von Flavius noch erhalten könne. Cicero freilich stellt es so hin, als sei der Grund für diesen Abschluß des compromissum in der angeblich noch ausstehenden Summe aus dem Litteralkontrakt zu erblicken (§§ 9-13), als habe Fannnius gewissermaßen unter dem Namen des Honorars für Prozeßvertretung diesen Restbetrag im arbitrium bekommen wollen. Kann Cicero diese Fälschung riskieren? Ja, denn da der Abschluß des compromissum Sache der streitenden Parteien ist, mit welcher der Schiedsrichter nichts zu tun hat, so läßt sich später viel darüber sagen, warum das compromissum gerade in dieser oder jener Höhe abgeschlossen worden sei. Man beachte nur, wie geschickt Cicero dort, wo er vom arbitrium und compromissum zu reden beginnt, die Tatsache verschleiert, daß es damals um w e c h s e l s e i t i g e Forderungen ging. § 11: quid est in arbitrio? mite moderatum: QVANTVM AEQVIUS ET MELIVS SIT DAR I. Kein Wort von REPROMITTIQVE (was erst später nachgetragen wird), und dies mit gutem Grund, denn Ciceros Argument basiert auf der Annahme, daß die Höhe des compromissum nur aus der auf das DARI gerichteten Forderung abgeleitet gewesen sein könne. Bei wechselseitigen Forderungen sichern sich aber natürlich beide Parteien durch das compromissum ab. Und nun noch zum Schiedsspruch (oder, falls man wegen rogasti darauf bestehen will: „Vergleichsvorschlag") des Piso. Daß die hier in den Handschriften überlieferte Summe von HS 100000 nicht richtig sein kann, haben schon die alten Erklärer des sechzehnten Jahrhunderts gesehen (§ 38): tu enim [sc. Piso] Q. Roscium pro opera (ac) labore, quod cognitor fuisset, quod vadimonia obisset, rogasti ut Fannio daret HS CCCIDDD hac condicione ut, Dieses argumentum e silentio gilt, obwohl natürlich die schiedsrichterliche Entscheidung nicht im technischen Sinn res iudicata macht.

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si quid ille exegisset a Flavio, partem eius dimidiam Roscio dissolveret. Das wäre doch eine ganz unverhältnismäßig hohe Entschädigung: der volle Wert des ager Flavianus, oder doch auf jeden Fall das Doppelte der kompromittierten Summe! Und dabei sagt Cicero ausgerechnet in bezug auf dieses Verfahren (§ 12): quis umquam ad arbitrum, quantum petiit, tantum abstulit? Wie immer man das arbitrium ansehen will, diese Summe ist ein Monstrum; und wenn sie dennoch von fast allen Erklärern und Herausgebern unserer Rede bis auf den heutigen Tag bewahrt und verteidigt wird, so geschieht das nicht etwa aus Pietät gegenüber den Handschriften - für die es in dieser schlecht überlieferten Rede nur wenig Grund gibt - , sondern allein darum, weil sich sonst die Geldforderung des Fannius in unserem Prozeß nicht aus dem arbitrium herleiten ließe! In den adversaria des Fannius sind doch H S 100 000 eingetragen, und 50 000 sind schon bezahlt 71 . Wir haben um der methodischen Sicherheit willen unsere These bewiesen, ohne die Unmöglichkeit dieser Zahl überhaupt in Betracht zu ziehen. Aber jetzt dürfen wir getrost die übliche Argumentation ins Gegenteil verkehren: Eben weil diese Zahl auf keinen Fall richtig überliefert sein kann, darum ist es auch unmöglich, daß die in unserem Prozeß geforderte Summe der Restbetrag des seinerzeit im arbitrium Versprochenen wäre. Welche Zahl man nun freilich in § 38 herstellen will, bleibt der Willkür überlassen. Der alte LAMBINUS hat die Leistungen des Fannius auf H S 15 000 taxiert - soll es unserethalben bei dieser Entschädigung bleiben! Damit bleibt nur noch eine letzte Frage übrig. Was ist aus dieser Summe geworden, die Roscius nach dem Urteil (Vorschlag?) des Piso versprochen hat? H a t er sie etwa mittlerweile schon bezahlt oder steht sie noch ebenso aus wie der Rest der angeblich während der actio furti versprochenen Summe? Die Antwort hängt davon ab, wie man sich das Stipulationsversprechen des Roscius abgefaßt vorstellt. War die Summe darin u η bedingt versprochen - und dies scheint die Ansicht fast sämtlicher Erklärer 7 2 dann müßten wir als wahrscheinlich annehmen, daß Roscius bereits gezahlt hat. (Denn von noch ausstehenden Ansprüchen des Fannius aus dem arbitrium ist wenigstens im erhaltenen Teil von Ciceros Rede nichts gesagt.) Aber der Wortlaut von § 38 spricht eher dafür, daß das Versprechen ein bedingtes w a r : tu enim Q. Roscium... rogasti ut Fannio daret HS fCCCIDDD~\ hac condicione ut, si quid ille exegisset 71

So argumentieren ausdrücklich etwa: H U S C H K E 485 (nach C. A. SCHMIDT), v. BETHMANN-HOLLWEG II 810, B A R O N 126, RUHSTRAT 41 f., GREENIDGE 545 f., zuletzt A R A N G I O - R U I Z 297 f. Die Erklärungen, die man sich für die Summe ausgedacht hat, sind samt und sonders nichtig. Denn wer den Wert des Grundstücks auf 200 000, 500 000 oder 600 000 ansetzt (vgl. oben Anm. 5), entkommt ja nur dem kleinsten Teil der Schwierigkeit: Wie erklärt sich denn dann die Höhe der kompromittierten Summe? Und ebensowenig helfen Annahmen wie diese: Fannius habe noch weitere Forderungen aus der Sozietät angemeldet, von denen Cicero nur nichts sage (so SCHMIDT nach HUSCHKE a. O., KRÜGER 239), oder: dem Piso habe nur die Ehre des Roscius am Herzen gelegen (BARON 128). 72 Die Frage ist m. W. nie eigentlich diskutiert worden.

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a Flavio, partem eius dimidiam Roscio dissolveret. Man kann doch schwerlich hac condicione mit rogasti verbinden, von der Wortstellung ganz abgesehen. Denn die A u f f o r d e r u n g zum dare könte allenfalls an die repromissio des Fannius als Bedingung geknüpft sein, nicht aber an die wirkliche Leistung, die den Inhalt dieser repromissio darstellt. Es heißt aber: ut... dissolveret, nicht: ut se dissoluturum repromitteretn. Die näherliegende Auffassung der Worte - und dies war auch die Ansicht von COSTA und ROBBE (s. oben S. 108) - ist doch die, daß das dare selbst von der Bedingung der Gegenleistung des Fannius abhängig sein sollte, mit anderen Worten: daß die Stipulation sub condicione (nicht pure) abgefaßt war 74 . Also ex. gr.: Fannius: SI QVID Α FLAVIO ABSTVLERO SI PARTEM INDE DIMIDIAM TIBI SOLVERO, HS... MIHI DARI SPONDESf Roscius: SPONDEO. Es ist klar, warum ein solcher kondizionaler Charakter der Stipulation in der bisherigen Forschung kaum in Erwägung gezogen wurde. Denn wenn man die in unserem Prozeß eingeklagten HS 50 000 aus dem arbitrium herleitete, dann konnte, wie schon gezeigt oben S. 108), die Stipulation nicht kondizional abgefaßt sein: Sonst müßte Cicero ja unseren Prozeß durch bloßes Vorlesen der Stipulationsformel gewinnen! Da wir dies nicht tun, kann uns auch nichts daran hindern, die zitierte Formel ihrem, wie ich meine, natürlichen Wortverstand nach auszulegen. Für diese Ansicht sprechen schließlich noch zwei weitere Gründe. Der erste ergibt sich aus der Betrachtung der Sachlage. Da Roscius, wie man Piso wahrscheinlich zu verstehen gab (s. oben S. 123), die Hälfte des von Flavius erhaltenen Wertes mittlerweile an Fannius bezahlt hatte, er aber umgekehrt von dessen Tätigkeit als Prozeßvertreter nichts profitiert hatte, wäre es wohl wenig angemessen gewesen, den Fannius bereits jetzt für seine Mühe zu entschädigen. Dies war dagegen sinnvoll für den Augenblick, wo Fannius seinerseits etwas von Flavius erhalten hätte, von dem er dann die Hälfte wiederum an Roscius abgeben müßte. Ein gewichtigeres Argument gibt schließlich die handschriftliche Überlieferung. Seit dem 16. Jahrhundert, das heißt seit MANUTIUS, liest man in dem an die eben besprochene Äußerung (§ 38) sich anschließenden Satz folgenden Wortlaut: satisne ipsa (re}stipulatio dicere tibi videtur aperte Roscium pro se decidisse? Aber das überlieferte stipulatio gibt einen vortrefflichen Sinn, wenn wir nur annehmen, daß in die eben erwähnte Stipulation die Bedingung der Gegenleistung des Fannius eingefügt war". Dagegen scheint 73

Immerhin wäre es denkbar, daß sich Cicero hier etwas nachlässig ausdrücken würde. Zur stipulatio quae fit sub condicione s. etwa Just. inst. 3, 15, 2 ff. 75 Dann bekommt, wenn ich richtig empfinde, auch das ipsa seinen Sinn. Von der re stipulatio war ja schon im Vorhergehenden (§§ 37 f.) die Rede; und es war auch schon gezeigt, wie sie implizit das Zugeständnis enthielt, daß Roscius seinerzeit nur für den eigenen Teil abgeschlossen habe. Jetzt sagt Cicero: „Zeigt dies nicht schon auch die bloße (ipsa!) Stipulation?" Daß Cicero seinen Beweis mit stärkerem Nachdruck auf die restipulatio als auf die stipulatio stützt, hat wohl nur den Grund des größeren rhetorischen Effekts; vgl. § 37: . . . te, te, inquam, Fanni, ab tuis subselliis contra te testem suscitabo. 74

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nun aber - und dies entspricht -wiederum durchaus der Sachlage - die repromissio des Fannius nicht kondizional abgefaßt gewesen zu sein (§ 37 QVOD A FLAVIO ABSTVLERO, PARTEM DIMIDIAM INDE ROSCIO ME SOLVTVRVM SPONDEO™, vgl. § 39). D e m n a c h dürften wir anzunehmen haben, d a ß Roscius die beim arbitrium versprochene Entschädigung noch nicht hat bezahlen müssen, daß er aber, gesetzt die Behauptung der §§ 40 ff. (Fannius habe v o n Flavius noch H S 100 000 erhalten) wäre richtig, seinerseits in einer actio certae creditae pecuniae H S 50 000 v o n Fannius einklagen könnte. Für das eigentliche Problem unseres Prozesses sind diese Fragen zum Glück nicht besonders wichtig. Wir haben damit unsere Rekonstruktion für das Wichtigste zu Ende geführt 7 7 . D e r bequemen Orientierung halber seien die Ereignisse noch einmal in chronologischer Folge zusammengestellt. Wir halten uns dabei an die Version des. Klägers, wobei daran z u erinnern ist, daß Ciceros Widerspruch nur den dritten Punkt (die angebliche pactio) betrifft: D i e sonstigen Ereignisse sind nicht kontrovers. (1) Vor mehr als f ü n f z e h n Jahren: societas des Fannius und Roscius bezüglich des Panurgus. Ermordung des Panurgus. Prozeß gegen Flavius eingeleitet (Litiskontestation): Fannius dabei als cognitor v o n Roscius eingesetzt. (2) Vor f ü n f z e h n Jahren: Eigenmächtiger Vergleich des Roscius mit Flavius; Roscius erhält Grundstück im Wert v o n H S 100 000. 76

Ganz wörtlich dürfte dieses Zitat nicht sein, denn der Inhalt des Stipulationsversprechens pflegt nicht von dem Versprechenden selbst formuliert zu werden, sondern nur von dem, der sich versprechen läßt (= qui stipulator); vgl. F . S C H U L Z , Class. Roman Law, Oxford 1951, 473. 77 Abgesehen haben wir von der heute ganz vereinzelt dastehenden Erklärung unseres Prozesses durch KÜBLER (in seiner Rezension von PFLOGER). Auch er ist, wie wir, der Meinung, daß die geforderte Summe nicht aus dem arbitrium stammen kann, glaubt jedoch (wie übrigens auch die alten Erklärer: M A N U T I U S und H O T M A N N , vgl. auch H A N E D O E S 18 und de C A Q U E R A Y 136, daß Fannius unmittelbar die noch ausstehenden Schulden aus der Sozietät einklage. Dies setzt voraus: (1) daß dies (im Gegensatz zu Cie. § 13 und der gewöhnlichen Ansicht) in einer actio certae creditae pecuniae überhaupt möglich ist (KÜBLER 668 f.), worüber hier gar nicht gesprochen sein soll, (2) daß aus der beim arbitrium versprochenen Summe, die auch KÜBLER auf H S 100 000 ansetzt, nicht geklagt werden konnte. KÜBLER meint (Sp. 670): „Der [sc. Vergleich] war als bloßes formloses Faktum nicht klagbar." Wieso „formlos"? Cicero spricht doch von restipulari\ KÜBLER sieht die Schwierigkeit (Sp. 667): „Aber das Wort könnte hier auch allenfalls gebraucht sein mit Rücksicht auf die reale Vorleistung des Roscius, der ja tatsächlich 50 000 Sesterzen auszahlte." Mit Recht fügt KÜBLER hinzu: „Immerhin bleibt die Sache dunkel." D a ß unter der von ihm gemachten Voraussetzung der erste Teil von Ciceros argumentatio Unfug wäre, sieht KÜBLER (Sp. 668: „ein Advokatenkniff", vgl. dagegen auch WIRBEL 42 f., Anm. 1); eine Erklärung dafür, wie Cicero dem Richter einreden könne, es gehe um Kontraktschulden, wenn es um Sozietätsschulden ging, kann er nicht geben. Man bedauert es, daß KÜBLER seine vom Üblichen so sehr abweichende Meinung nur im Zusammenhang einer knappen Rezension dargestellt hat.

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(3) Vor weniger als vier (aber mehr als drei) Jahren: Fannius erfährt von dem Vergleich, actio furti gegen Roscius eingeleitet. Abbruch des Prozesses wegen eines auf HS 100 000 lautenden Geldversprechens des Roscius: Fannius nicht mehr vor dem iudex, Freispruch des Roscius. Roscius zahlt erste Hälfte der versprochenen Summe (= HS 50 000). (4) Vor drei Jahren: Außergerichtliches arbitrium des Piso, endend in wechselseitiger Stipulation der Parteien. Roscius verspricht sub condicione eine bestimmte Geldsumme als cogntior-Entschädigung; Fannius repromittiert. (5) Vor weniger als drei Jahren: Tod des Flavius. (6) Heute: Fannius klagt auf Bezahlung der restlichen HS 50 000. Damit haben wir bereits zugleich die Rede des Saturius, die derjenigen Ciceros vorherging, in den wesentlichsten Punkten rekonstruiert. Für den Vertreter des Klägers mußte alles darauf ankommen, die vor mehr als drei Jahren abgeschlossene pactio wahrscheinlich zu machen. Hätte er Zeugen für eine förmliche Stipulation des Roscius beibringen können oder wäre der Posten im Hauptbuch des Roscius als Beweis eines Litteralkontrakts verzeichnet gewesen, so hätte der Ausgang des Prozesses nicht strittig sein können. Allein es lag, wie wir gesehen haben, in der Natur der Sache, daß beides nicht möglich war. Nur die adversaria des Fannius bezeugten den Litteralkontrakt; und die beigebrachten Zeugen (sofern wir solche aus § 14 taciturnitas testium erschließen dürfen) konnten wohl nichts weiter sagen, als daß sie gehört hätten, Roscius schulde dem Fannius eine Summe von H S 50 000. So mußte Saturius das Hauptgewicht seiner Argumentation auf den Wahrscheinlichkeitsbeweis legen; er mußte zeigen, daß Roscius seinerzeit bei der actio furti in einer aussichtslosen Lage gewesen sei und daß sich also sein Freispruch (bzw. der Verzicht des Fannius auf die Durchführung des Prozesses) nur durch die bestrittene pactio erklären lasse. Insofern war das Problem unseres Prozesses zwar streng genommen eine Tatfrage (status coniecturalis): „Hat sich Roscius durch Kontrakt verpflichtet oder nicht?" Zugrunde aber lag doch eine Rechtsfrage: „War das Verhalten des Roscius bei dem Vergleich mit Flavius berechtigt oder nicht?" (status qualitatis). Wie Ciceros Rede noch zeigt (§ 27), hat Saturius die Sache ab ovo hergeleitet. Er setzte die Geschichte der Sozietät auseinander, beklagte sich schon hier darüber, daß Fannius von Roscius übervorteilt worden sei - das ist für die entscheidende Frage zwar gleichgültig, gibt aber doch ein probabile e vita und schilderte schließlich den Prozeß gegen Flavius und den heimlichen Vergleich des Roscius. Die Entrüstung darüber war leicht (und schwerlich unberechtigt), indes galt es natürlich vor allem zu zeigen, daß Roscius auch juristisch im Unrecht war. Er hätte ja nach Meinung des Fannius bei der actio furti verurteilt werden müssen. War also dieser Vergleich des Roscius mit Flavius in Ordnung? In § 34 resümiert Cicero die gegnerische Beweisführung und den Kern des Problems in folgenden Worten: ,de tota re', inquit, ,decidisti'. ergo hue universa causa deduct tur, utrum Roscius cum Flavio de sua parte an de tota societate fecerit

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pactionem (eine Art Binnen-propoitfio). Es ist seltsam, w i e viele Gelehrte sich durch diese Äußerung Ciceros haben in die Irre führen lassen 78 . Er selbst gibt uns den Gegenbeweis gegen die Annahme, nach der Behauptung des Saturius hätte Roscius seinen Vergleich „für den Gesamtanspruch der Sozietät" abgeschlossen. § 52 ,petisse', inquit, ,suam partem Roscium a Flavio confiteor, vacuum et integrum reliquisse Fattni concede; sed, quod sibi exegit, id commune societatis factum esse contendo.' D a ß Saturius nicht beides behauptet haben kann, ist doch w o h l nach dem Satz des ausgeschlossenen Dritten wahrscheinlich; wir haben also die Wahl, ob wir Saturius ein törichtes oder ein gutes Argument zuschreiben wollen 7 9 . D e n n das in § 52 angeführte Argument i s t gut. D a die Sozietät, w i e auch Cicero implizit zugibt, durch die Tötung des Panurgus nicht aufgelöst war 8 0 , mußte jeder aus der Sozietät erzielte Gew i n n zwischen den Partnern geteilt werden 8 1 . 78

Seit M A N U T I U S (im argumentum zur Rede) im Grunde alle, die unsere Rede bearbeitet haben. (Darum wurde auch die Rechtslage des Roscius bezüglich des Vergleichs mit Flavius meist zu günstig beurteilt.) Am richtigsten hier WIEACKER (S. 14), der in den §§ 51 ff. den „springenden Punkt" berührt sieht (vgl. auch KÜBLER 670). Vgl. Anm. 79. n Der Widerspruch zwischen den beiden Argumenten wurde kaum gesehen; o f t hat man § 52 als neues Argument für die in § 34 aufgestellte These betrachtet. Wo man bemerkte, daß es sich um einen kontradiktorischen Gegensatz handelt, versuchte man, die beiden Argumente durch ein „Selbst wenn" zu verknüpfen: (1) „Roscius hat für sein Teil abgeschlossen". (2) „Selbst wenn er das nicht getan hätte, so hätte das Grundstück doch Sozietätseigentum werden müssen." (So v. B E T H M A N N - H O L L W E G II 819, WIRBEL 40.) 80 In der Nachfolge BARONs (S. 146 ff.) hat ein Teil der Erklärer den entscheidenden Punkt gerade darin gesehen, daß die societas mit dem Tod des ausgebeuteten Sklaven beendet gewesen sei (so R U H S T R A T 34), ja man hat Cicero sogar entsprechende Äußerungen unterschoben (GASQUY 184, WIRBEL 45). B A R O N selbst war noch vorsichtiger. Zwar hing nach seiner Meinung (S. 149) alles an der Frage: „bestand zwischen Roscius und Fannius ein bloßes Processmandat oder zugleich eine societas exigendorum nominum?" (also eine neue Sozietät bezüglich des Flavius-Prozesses), aber er sagte doch auch: „Ich gebe zu, daß er [Cicero] die Societät nicht mit der wünschenswerthen Schärfe verneint" - ein frommer Ausdruck, denn er verneint sie überhaupt nicht, sondern setzt sie überall voraus; und so war B A R O N genötigt, den Gedanken durch eine fast allegorische Interpretation aus dem Text herauszuziehen. (Zu §38, auf den sich B A R O N stützt, vgl. unten Anm. 87.) Wir halten fest: Wenn Cicero (gegen sein Parteiinteresse) das Fortbestehen der Sozietät annimmt, dann offenbar darum, weil darüber kein Zweifel möglich war. (Wir können Cicero in einem solchen Fall unbedenklich als Quelle des Rechts nehmen.) Damit kann freilich nicht gesagt sein, daß die Sozietät nach dem Tode des Panurgus unbedingt hätte fortbestehen müssen. Wir dürfen annehmen, daß es dazu einer besonderen Willenserklärung der socii bedurfte; aber diese wird eben darin bestanden haben, daß Roscius den Fannius, der wohl auch bisher schon für die finanziellen Dinge der Gesellschaft zuständig war, zum cognitor bestellte und damit zum Ausdruck brachte, daß er das unum negotium der Sozietät als fortbestehend betrachtete: Zwar war Panurgus tot, aber auch so blieb er doch noch gewissermaßen Objekt der Ausbeutung. 81 Dies ist heute auch die allgemeine Ansicht der Juristen.

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Ciceros Einwände, die wir kurz betrachten müssen, sind die folgenden: (1) §§ 53 f.: Wäre wirklich jeder von einem der beiden Gesellschafter in der Auseinandersetzung mit Flavius gemachte Gewinn von selbst in die Gesellschaftskasse geflossen, dann hätte Roscius den Fannius gar nicht erst zum Prozeßvertreter (cognitor) bestellen müssen. Er hätte doch ohnehin die Hälfte der von Fannius erstrittenen Summe bekommen. Die Tatsache also, daß Fannius cognitor war, beweise, daß Roscius, der nicht cognitor war, seinen Gewinn auch nicht teilen mußte. - Der Schluß ist falsch82. Natürlich hätte Roscius (manente societate) auf jeden Fall die Hälfte der von Fannius erstrittenen Summe bekommen. Aber wenn er den Fannius nicht zum cognitor gemacht hätte, so hätte dieser nur seinen eigenen Anspruch bei Flavius geltend machen können, und Roscius seinerseits hätte dann auch nur die Hälfte von dem erhalten, was er sonst hätte bekommen können. Die Tatsache, daß Fannius cognitor wurde, zeigt nur, daß es einer Ermächtigung durch den Partner bedurfte, um das ganze Streitobjekt einklagen zu können; es beweist nicht, daß Gewinne aus der Sozietät nicht grundsätzlich geteilt werden müßten. (2) §§ 55 f. Aus der Tatsache, daß bei der Erbengemeinschaft (hereditas) jeder Teilhaber über seinen Teil am gemeinsamen Eigentum verfügen darf, schließt Cicero nach Analogie, es müsse für die Sozietät dasselbe gelten: Ebenso wie Fannius den Anspruch des Roscius nicht mehr hätte einklagen können, wenn dieser dem Fannius gegenüber darauf verzichtet hätte, so kann er auch keine Teilung verlangen, wenn Roscius seinen Anspruch eingetrieben hat. - Daß diese Analogie in die Irre führt, ist von den Bearbeitern unserer Rede mehrfach dargelegt worden 83 . Die societas unius negotii besteht, anders als die Erbengemeinschaft, wesentlich im gemeinsamen Unternehmen, und socii stehen dementsprechend in einem anderen Verhältnis zueinander als Miterben. Unsere Rechtsquellen lassen keinen Zweifel 84 : Über einen aus dem gemeinsamen negotium stammenden Gewinn muß abgerechnet werden. (3) § 56: Cicero fragt, warum sich denn Roscius, der doch von juristischen Sachverständigen beraten war, beim arbitrium überhaupt von Fannius die repromissio habe geben lassen, ut eius quod exegisset a Flavio dimidiam partem sibi dissolveret, wenn Fannius ohnehin jede einschlägige Einnahme mit Roscius hätte teilen müssen. - Das Argument hätte nur einen Sinn, wenn zur Zeit des arbitrium die Sozietät noch bestanden hätte. (Zwingend wäre es übrigens auch dann nicht85.) Aber die war damals längst aufgelöst, zwar noch nicht durch den Tod des Panurgus86, wohl aber durch den Vergleich des Roscius mit Flavius, der, wenn auch nur pro sua parte erfolgt, doch jedenfalls kein gemeinsames Unternehmen mehr zurückließ, bezüglich dessen die Sozietät hätte fort-

82 83 84 85 80

In der gelehrten Literatur findet man ihn nicht behandelt. Vgl. bes. v. BETHMANN-HOLLWEG II 825, WIEACKER 14. v. BETHMANN-HOLLWEG II 825, Anm. 60. v. BETHMANN-HOLLWEG II 825 f. S. oben Anm. 80.

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R e d e für d e n Schauspieler Q . R o s c i u s

bestehen können 87 . Schon darum war die repromissio beim Schiedsgericht notwendig, um die Gegenansprüche des Roscius zu sichern. Mit § 56 bricht der uns erhaltene Text ab. Dürfen wir annehmen, daß Cicero gegen das in § 52 referierte Argument noch etwas Entscheidendes zu setzen gewußt hat? Es sieht wahrhaftig nicht danach aus. Damit ist aber auch darüber entschieden, was wir aller Wahrscheinlichkeit nach als das gegnerische Hauptargument anzusetzen haben." § 5 6 : perstat in sententia Saturius, quodcumque sibi petat socius, id societatis fieri. Aber wie kann Cicero es dann wagen, dem Gegner die Behauptung in den Mund zu legen: ,de tota re', inquit, ,decidisti' (§ 34), oder (§37): criminatio tua quae est? Roscium cum Flavio pro societate decidisse? Nun, wir dürfen wohl unterscheiden zwischen dem, was Saturius den Worten nach sagt, und dem, was Cicero durch seine Behandlung daraus macht. Auch wenn Saturius, wie aus § 52 erhellt, zugab, daß Roscius den Vergleich nicht im Namen der Sozietät abgeschlossen hatte, können diese Äußerungen ihren guten Sinn haben. Man darf sie nur nicht in einem streng juristischen Sinn nehmen - so also, wie Cicero sie auffassen will sondern mehr in Art eines moralischen Vorwurfs. Es war ja doch offenbar so, daß nach dem Vergleich des Roscius mit Flavius für unseren Fannius nomine Panurgi nichts mehr zu bekommen war. Wie immer auch der Prozeß gelaufen sein mag - darüber wird sofort noch zu reden sein - , jedenfalls hatte Fannius ganze zwölf Jahre nach der Litiskontestation noch keinen Pfennig erhalten 88 . War es da unberechtigt, wenn Fannius sagte, Roscius habe die ganze Summe eingesteckt, d. h. er habe sich genommen, was für die Sozietät nur überhaupt zu erhalten war? Man muß beachten, daß die Formulierungen, die Cicero seinen Gegner wählen läßt - de tota re fransigere, pro societate decidere, societatis Utes redimere — durchweg doppeldeutig sind, je nachdem, ob man sie de facto oder de iure verstehen will. Im streng rechtlichen Sinn aufgefaßt müssen sie allerdings unrichtig sein, wie Cicero siegreich darlegt; in einem weiteren, untechnischen Sinn treffen sie die Sache doch: Mit tota res und Utes societatis kann ja auch das Ganze der Summe gemeint sein, auf welches die Sozietät H o f f n u n g haben konnte; und in diesem Sinn kann man wohl auch sagen, daß Roscius „für" die Sozietät seinen Vergleich abgeschlossen habe. ( p r o societate muß ja nicht unbedingt dasselbe sein wie societatis nomine). Wenn man schließlich beachtet, daß Cicero eine eindeutige Formulierung nur dort wählt, wo er im eigenen Namen redet, nicht den Gegner sprechen läßt - § 35 nam ego Roscium si quid c ommuni nomine tetigit confiteor praestare debere societati - so kann man wohl kaum mehr daran zweifeln, daß seine juristische Widerlegung des gegnerischen Vorwurfs den eigentlichen Sinn dieses Vorwurfs verfälscht. 87

In dieser H i n s i c h t sprach Saturius v o n negotium iam confectum, societas dissoluta (§ 38). Ciceros A r g u m e n t an dieser Stelle hat nur d a n n seine K r a f t , w e n n m a n diese A u s d r ü c k e als im Sinne der gegnerischen M e i n u n g gesprochen a u f f a ß t (so richtig R O B Y II 4 9 3 f.). 88 D i e s ergibt sich mit v ö l l i g e r Sicherheit aus Ciceros S c h w e i g e n .

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Vielleicht können wir in der Erklärung von de tota re decidisti noch einen Schritt weitergehen. Woher kommt es eigentlich, so fragt man sich, daß Fannius in den zwölf Jahren seit dem Beginn des Prozesses gegen Flavius von dem Beklagten nichts erhalten hatte? Man hat in der Forschung verschiedene Gründe dafür erwogen: Fannius habe es seinerzeit versäumt, sich ebenfalls mit Flavius zu vergleichen8', oder: er habe seinen Prozeß allzu nachlässig betrieben90, oder: Flavius sei insolvent gewesen91 — auf jeden Fall, so meinen sämtliche Erklärer, müsse der Prozeß gegen Flavius zur Zeit von Pisos arbitrium noch anhängig gewesen sein. Aber dieser Ansicht, die explizit übrigens nie begründet wurde, widerspricht doch zunächst die wohlbekannte Tatsache, daß der römische Zivilprozeß an die Amtsdauer des prozeßeinsetzenden Magistrats gebunden ist92, daß er also, wenn nicht durch Urteil entschieden, für gewöhnlich mit dem Ende der jeweiligen Prätur erlischt. Wo hätte man je etwas von einem über mehrere Jahre hingeschleppten Zivilprozeß gehört93? Ich meine, daß es eine sehr viel einfachere Erklärung dafür gibt, warum Fannius - wenigstens zunächst - leer ausgegangen war: Könnte nicht der beklagte Flavius ganz schlicht freigesprochen worden sein? Daß unter Voraussetzung dieser Hypothese die Argumente des Saturius sogleich in ein anderes Licht rücken, versteht sich von selbst. Wir haben aber zunächst zu fragen, ob sie sich mit Ciceros Darstellung vereinbaren läßt. Der Hauptgrund für die übliche Annahme des mehr als zwölfjährigen Dauerprozesses dürfte - abgesehen davon, daß Cicero von einem Freispruch des Flavius nichts sagt94 - in den von uns schon mehrfach herangezogenen §§ 40 ff. liegen. R U H S T R A T 38, P F L Ü G E R 134. Nach R U H S T R A T hätte Flavius dem Roscius versprochen, er werde sich auch mit Fannius vergleichen (S. 45). Warum Cicero nichts davon sagt? R U H S T R A T nimmt an, er könne es entweder nicht beweisen (als wäre das ein Grund, es nicht zu sagen!), oder: „Es kann auch sein, dass Roscius den Hergang der Sache nach so langer Zeit nicht mehr im Gedächtniss hatte . . . " Und da sollten wir ihn erraten können!

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R U H S T R A T 36. B A R O N 127, R U H S T R A T 36. 92 Gai. 4, 105, vgl. KÄSER, Zivilprozeßrecht 270. 93 Auch die Änderung der Zahl in § 37, wie sie M E T T E vorschlägt (s. oben Anm. 6), hilft noch nichts. Man müßte mit H O T M A N N abhinc annis IV lesen. 94 Daß dieses Argument e silentio wertlos ist, sieht man sogleich: Cicero müßte natürlich allen Grund'haben, eines für seinen Klienten so peinlichen Faktums nicht zu gedenken. - Für den Fall, daß sich jemand zur Verteidigung der üblichen Ansicht auf § 36 berufen sollte - cur de jundo decedit et iudicio η ο η absolvitor* sei darauf hingewiesen, daß hier mit iudicio absolvi nicht wie gewöhnlich (OOMES, Th. 1. L. VII 2, 611, 74 f.) der eigentliche gerichtliche Freispruch gemeint sein kann - so übersetzen fälschlich D E LA V I L L E D E M I R M O N T und A R A N G I O - R U I Z , exakt ist F U H R M A N N - , sondern das „Loskommen" vom Kläger Fannius (zu absolvere = expedire: L E H N E R T , Th. 1. L. I 172, 76 ff.). Dies zeigt sowohl der Gedankengang wie die Formulierung des folgenden Satzes (. . . neque a Fannio iudicio se absolvat) und § 40 (. . . neque iudicio absolveretur α Fannio). Cicero meint: Hätte sich Roscius 90 91

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Rede für den Schauspieler Q. Roscius

Cicero beruft sich dort zum Beweis seiner Behauptung, daß Fannius von Flavius nach Pisos arbitrium noch eine Entschädigung von H S 100 000 bekommen habe, auf eine von Zeugen berichtete Äußerung des Ritters Cluvius, der im Prozeß des Fannius gegen Flavius Richter gewesen war. § 42: venerat, ut opinor, haec res in indicium, certe. quis erat petitorf Fannius. quis reus? Flavius. quis iudex? Cluvius. Daß mit diesem venerat... in iudicium nicht die Zeit nach dem arbitrium gemeint sein kann, legt nicht nur der sprachliche Ausdruck nahe95, sondern ergibt sich auch aus sachlichen Erwägungen mit völliger Sicherheit: Nach dem Grundsatz bis de eadem re agere non licet86 kann Fannius gegen Flavius in derselben Sache keinen zweiten Prozeß mehr angestrengt haben, wenn der erste bereits entschieden war. Cluvius muß also - ich betone ciies nur, weil ich es merkwürdigerweise nirgends ausgesprochen finde - der ursprünglich (d. h. fünfzehn Jahre vor unserem Prozeß) eingesetzte Richter zwischen Fannius und Flavius gewesen sein. Die Frage ist demnach: Haben wir anzunehmen, daß sich diese Richtertätigkeit des Cluvius über mehr als zwölf Jahre erstreckt hat und daß die von Cicero behauptete Entschädigungssumme in irgendeiner Weise ihr Ergebnis war? Die Erklärer scheinen dies, als wäre es selbstverständlich, aus der Tatsache gefolgert zu haben, daß Cluvius überhaupt als (indirekter) Zeuge dieser Entschädigung angerufen wird; ja sie haben sogar geglaubt, Cicero sage, daß Flavius von Cluvius zur Zahlung der H S 100 000 regelrecht verurteilt worden sei87. Aber wenigstens diese letzte Ansicht ist handgreiflich falsch. Nicht allein, daß Cicero von einem solchen Urteil des Cluvius nichts sagt - und wie günstig wäre dies für ihn gewesen! - , er spricht an zwei Stellen sogar ausdrücklich von einer zwischen Fannius und Flavius getroffenen decisio bzw. transactio: § 48 decisionem factam, § 49 decidisse..., transegit... Dies sind, wie man sieht, dieselben Vokabeln, wie sie Cicero bezüglich des Roscius-Flavius-Vergleichs verwendet 88 ; und weder nach seinem noch überhaupt nach lateinischem Sprachgebrauch kann mit ihnen das Ergebnis eines ordentlichen Gerichtsurteils bezeichnet sein. So könnte man, um die übliche Annahme des mehr als zwölfjährigen Prozesses aufrechtzuerhalten, höchstens noch die Vermutung wagen, daß diese decisio während des noch schwebenden Verfahrens zustande gekommen sein solle, daß Cicero sagen wolle,

im Namen der Sozietät verglichen, so hätte sich Flavius Kläger und Prozeß sogleich vom Halse schaffen können; die Fortdauer des Prozesses zeigt also, daß der Vergleich nicht im Namen der Sozietät erfolgt war. Über die Frage, ob Fannius letztlich nicht doch freigesprochen worden ist, kann damit selbstverständlich nichts gesagt sein. 95 Wie das nachfolgende certe zeigt, wird ut opinor mit ironischer Skepsis von der an sich feststehenden Tatsache gebraucht („die Sache ist ja doch wohl gerichtsanhängig geworden"); so zuweilen bei Cicero, vgl. etwa div. Caec. 48. 96 KÄSER, Zivilprozeßrecht 59 f., 229 ff. 97 So ausdrücklich etwa P U C H T A 322, v. B E T H M A N N - H O L L W E G II 812 f., R O B B E 57, M E T T E 17, W I E A C K E R 15. Nur A M I R A N T E (S. 34) hat diese Meinung für unsicher erklärt. 98 decidere, decisio: §§ 32 ff. passim, transigere·. § 37.

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der Prozeß sei durch Vergleich gütlich beendet w o r d e n " . Aber diese Ansicht ist noch aus einem anderen als dem eingangs genannten prozeßtechnischen Grund unwahrscheinlich. Denn wenn sie richtig wäre, dann würde Cicero es doch nicht versäumen, den bezeugten Ausspruch des Cluvius dadurch glaubwürdiger zu machen, daß er auf die N o t w e n d i g k e i t hinweisen würde, mit der Cluvius von dieser decisio erfahren haben müßte. Statt dessen zeigt er sich aber, wie mir scheint, ganz augenfällig darum bemüht, die Erörterung der Frage, wie denn Cluvius überhaupt zur Kenntnis der decisio gekommen sein sollte, zu vermeiden. Und gerade an der einen Stelle, wo er das Problem — fast notgedrungen - doch berührt, verrät seine Sprache, wenn ich richtig sehe, daß Cluvius zur Zeit der decisio nicht mehr Richter im Fannius-Flavius-Prozeß gewesen sein dürfte (§ 4 2 ) : quem (sc. Cluvium) tu si ex censu spectas, eques Romanus est, si ex vita, homo clarissimus est, si ex fide, iudicem sumpsisti, si ex veritate, id quod scire ρ otuit et d ebuit dixit. Es scheint wenig glaublich, daß Cicero hier von debuit (moralisches Sollen!) 100 , fast undenkbar, daß er Die Verba decidere und transigere werden ja gerne gerade für den Prozeßvergleich gebraucht (vgl. M. KÄSER, R E VI A 2 [1937] 2141 mit Lit.); aber keineswegs ist (zumal bei nichtjuristischen Schriftstellern wie Cicero) ihr Gebrauch auf diesen Bereich eingeschränkt. Vgl. MERGUETs Lexikon zu Ciceros Reden s. vv. 100 Auch bei Verba des Wissens, Erkennens, Meinens etc. bezeichnet debere nicht einfaches „Müssen" im Sinne einer bloß kausalen Notwendigkeit, sondern - wenn auch zuweilen abgeschwächt - ein „Verpflichtetsein": Cie. Pis. 55 quasi vero id .. . ego scire debuerim .. . (Cicero glaubt sich nicht verpflichtet, über solche Lappalien informiert zu sein), Mil. 69 . . . in motu aliquo communium temporum, qui quam crebro accidat experti scire debemus . . . (es gehört zu den Aufgaben des verantwortungsbewußten Bürgers, aus solchen politischen Erfahrungen zu lernen), vgl. für scire debere auch Quinct. 86; für die beliebte Zusammenstellung et potest et debet („er kann und er s o l l " ) MERTEL, Th. 1. L. V 1, 93, 62 ff.; 96, 34; 96, 49; 98, 20 ff. (bei Cicero zuerst inv. 1, 15, Quinct. 18; in Q. Rose. 23 nam certe HS IDDD CCCIDDD merere et potuit et debuit heißt debuit nicht „er hätte notwendigerweise verdienen müssen", sondern „er war es wert": Der Begriff der Verpflichtung muß nämlich nicht unbedingt gerade im Subjekt des debere liegen, so bes. auch bei passivischen Ausdrücken, wie: urbs capi debuit). Der Verfasser des Thesaurus-Artikels debere glaubt freilich zwei Hauptbedeutungen der Vokabel unterscheiden zu können: (1) „necessitate coactum esse" (a. O. 93, 53 ff.) und (2) „per leges vel propter mores obligatum esse" (a. O. 98, 11 ff.). Zur ersten Bedeutung soll etwa gehören: Quinct. 18 Quinetius porro istum posse facere videbat, debere intellegebat, zur zweiten Quinct. 6 . . . saepius illud cogitant, quid possit is cuius in dicione ac potestate sunt, quam quid debeat facere. Ich halte diese Unterscheidung für leere Konstruktion und gebe nur so viel zu, daß debere selten, aber doch zuweilen, den Begriff der Denknotwendigkeit („logischerweise müssen") enthalten kann (das Übliche ist hier: necesse est), wovon im Thesaurusartikel freilich nichts zu lesen ist. (Vgl. Varro Men. 482, Lucr. 3, 862, Sen. epist. 36, 9, Cie. de div. 2, 12 [divinatio] aut omnium [sc. rerum] debet esse aut aliqua ei materia danda est in qua versari possit; in den Reden finde ich keinen Beleg.) Diese Bedeutung hier anzusetzen, verbietet sich aber schon darum, weil dann debere im Präsens stehen müßte: nicht debuit scire, sondern debet seivisse („die Annahme ist notwendig, daß er davon er-

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v o n potuit spräche, wenn dieser Vergleich den Fannius-Flavius-Prozeß beendet hätte; es wäre dann ja ganz unmöglich gewesen, daß Cluvius v o n der Sache nichts erfahren hätte (scire necesse fuit; fieri non potuit quin sciret). Unter der gegenteiligen Voraussetzung ist Ciceros Formulierung sehr w o h l verständlich: Auch w e n n Cluvius längst sein Urteil gefällt hatte, war es für ihn wegen fortdauernder Anteilnahme an der Sache w o h l möglich (potuit), v o n dieser nachträglichen decisio zu erfahren; ja eine gewisse Pflicht mußte ihn dazu veranlassen (debuit), sich über einen Fortgang der Streitigkeit informiert zu halten - zumal w e n n sich sein Urteil mittlerweile als ein Justizirrtum herausgestellt haben sollte! Jedenfalls hindert uns die v o n Cicero behauptete decisio nicht an der Annahme, daß der Richter Cluvius bereits elf bis z w ö l f Jahre vor dem arbitrium des Piso (also vierzehn bis f ü n f z e h n Jahre vor unserem Prozeß) den Flavius freigesprochen hatte. Ist diese unsere Hypothese richtig 101 , so ergibt sich, daß Fannius b z w . Saturius mit noch viel größerem Recht, als eingangs festgestellt, zu Roscius sagen konnte: de tota re decidisti. D e n n dann hatte ja Roscius nicht allein dort profitiert, w o Fannius leer ausgegangen war; er hatte außerdem durch die Geheimhaltung des Vergleichs seinen socius eines wichtigen Hilfsmittels beraubt, mit dem dieser seine eigenen Ansprüche hätte durchsetzen können. D e n n wenn Flavius bei der actio legis Aquiliae freigesprochen wurde, so muß er ja doch entweder die Tötung des Panurgus rundweg geleugnet oder aber ihren U n rechtscharakter - das Gesetz verlangt ein DAMNVM INIVRIA DATVM -

fahren hat"); so unterscheidet sich ja auch etwa necesse fuit eum purere (kausale Notwendigkeit in der Vergangenheit) von necesse est eum paruisse (Denknotwendigkeit bezüglich der Vergangenheit). Allenfalls könnte debuit scire noch bedeuten, daß es die Anstandspflicht der Parteien gewesen wäre, den Richter Cluvius über die decisio zu informieren (s. oben zu Q. Rose. 23); für unsere Frage würde das aber keinen Unterschied machen, und jedenfalls scheint mir die im folgenden gegebene Auslegung die natürlichere. 101 Für sicher möchte ich sie trotz allem nicht halten, denn man könnte ja immerhin fragen, wie denn Fannius überhaupt damit rechnen konnte, von Flavius noch etwas zu bekommen, wenn dieser wegen der Sache schon freigesprochen war. Denn daß diese Aussicht wenigstens als Möglichkeit z. Z. des arbitrium bestand, zeigen die Formeln der stipulatio und restipulatio (s. oben S. 125 f.). Dies mag indes mit der durch das Bekanntwerden des Roscius-Fannius-Vergleichs völlig veränderten Beweislage zusammenhängen (dazu im folgenden). Stand es fest, daß Flavius die Tat seinerzeit zu Unrecht abgestritten hatte, so konnte Fannius auf ihn einen moralischen Druck ausüben, auch wenn die Möglichkeit gerichtlicher Klage konsumiert war. Noch ein anderer Einwand ließe sich denken: Wieso entstand aus Ciceros Darstellung überhaupt der Eindruck, daß Cluvius z. Z. der decisio noch Richter zwischen den Parteien gewesen wäre? Sucht etwa Cicero insgeheim, diesen Eindruck zu erwecken, obschon er es den Worten nach (wie gezeigt) nicht sagt? Ich kann diesen Ausweg nicht zugeben, denn an eine Irreführung des Richters Piso zu denken, ist bei solch einfachen Fakten doch wohl nicht möglich. Alles erwogen, scheint mir aber eine hohe Wahrscheinlichkeit für unsere Hypothese zu sprechen.

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in Abrede gestellt haben 102 , und dem Fannius war es eben nicht gelungen, den Schuldbeweis zu führen. Das Verhalten des Roscius ist dann allerdings im höchsten Maße empörend: Denn hätte er seinem socius von dem mit Flavius abgeschlossenen Vergleich Nachricht gegeben, so hätte dieser ja fast ein Schuldbekenntnis des Flavius gehabt 103 . So aber verliert der eine socius durch die Schuld des anderen seine Ansprüche, während sich dieser insgeheim seine Beute sichert. Wahrhaftig, es war nicht zu viel gesagt: Utes societatis redemit. Wir sehen um der Sicherheit der Rekonstruktion willen von dieser hypothetischen Ansicht über den Verlauf des Fannius-Flavius-Prozesses ab. Auf jeden Fall war das Fundament der klägerischen Beweisführung in unserem Prozeß: quod sibi petit socius, fit societatis. „Gestützt auf diesen unbezweifelbaren Grundsatz", so konnte Saturius darlegen, „hätte Fannius seinerzeit in dem Prozeß wegen Unterschlagung siegen müssen. Natürlich hätte es dieses Prozesses nicht bedurft, wenn Fannius auch seinerseits eine entsprechende Summe von Flavius erhalten hätte. Aber da hatte eben Roscius die Unverfrorenheit gehabt, seinen Vergleich hinter dem Rücken des Fannius abzuschließen und so dafür zu sorgen, daß f ü r diesen nur noch rechtlich, aber nicht mehr faktisch etwas übrig blieb. Dies also war die Lage in dem Prozeß, in dem jetzt Roscius ,wegen erwiesener Unschuld' freigesprochen sein will." So, meinen wir, ist die Argumentation des Saturius zu rekonstruieren. N i c h t aus De tota re decidisti leitete er das juristische Unrecht des Roscius ab, sondern aus der gesellschaftlichen Verpflichtung zur Abrechnung. Das erste Argument konnte ihm allerdings als ein moralischer Vorwurf dienen, mit dessen Hilfe sich dann wieder das ja ohne Zweifel harte Vorgehen des Fannius gegen seinen früheren Gesellschafter rechtfertigen ließ. Wir sind damit an dem Punkt angekommen, wo wir uns - wenigstens für einen Augenblick - fragen dürfen, was denn nun wohl in Wirklichkeit geschehen ist. Ist Roscius den bewußten Kontrakt eingegangen oder nicht? Und hier müssen wir bekennen, daß die Behauptung des Fannius so unglaublich nicht erscheint. Wenn uns nicht wichtige Daten bezüglich der Sozietätsangelegenheit und der daraus resultierenden actio furti verlorengegangen sind, so kommen wir kaum um die Annahme herum, daß Roscius seinerzeit wirklich verurteilt worden wäre, wenn er den Kontrakt nicht geschlossen hätte. Auch daß Roscius, sofern das Grundstück des Flavius H S 100 000 wert war, mehr als lumpige H S 50 000 zu versprechen hatte, will plausibel scheinen (s. oben S. 118). O b es indes ganze H S 100 000 waren, oder ob nicht Fannius doch mit einer geringeren Summe zufrieden war - eine Verurteilung des beliebten Schauspielers hätte dem Kläger gewiß keine Sympathien eingetragen darüber haben wir, wie 102

Daß die Schuld des Flavius nicht ausgemacht gewesen sein könne, findet man seltsamerweise in der gelehrten Literatur nirgends erwogen. 103 Dieses Argument gilt, wenngleich in beschränktem Maße, auch dann noch, wenn wir den Flavius-Fannius-Prozeß (nach der üblichen Annahme) über die Zeit des arbitrium hinaus dauern lassen. Roscius hätte dann mit Schuld daran gehabt, daß der Prozeß verschleppt wurde.

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Piso, nur die Aufzeichnung in den adversaria (die ohne Zweifel gefälscht sein konnte) und die allerdings sprechende Tatsache, daß Roscius gerade HS 50 000 schon bezahlt hatte. Wir lassen unsere Entscheidung in der Schwebe, fügen aber hinzu, daß Roscius, auch wenn er die versprochene Summe nicht voll bezahlte, durchaus in gutem Glauben gehandelt haben mag. Cicero kann es zwar nicht wirklich beweisen, daß Fannius noch HS 100 000 von Flavius bekommen hat 104 , aber Roscius mag es doch gehört und geglaubt haben, und so kann er wohl auch der juristisch naiven Meinung gewesen sein, er sei nunmehr quitt mit seinem ehemaligen Gesellschafter. Der actio certae creditae pecuniae stand er damit freilich wehrlos gegenüber. Und so m u ß t e sich Cicero, was den Kontrakt anging, auch bei subjektiver Unschuld seines Mandanten aufs Leugnen verlegen. Bevor wir nun zur Behandlung von Ciceros Rede übergehen, wollen wir die Argumentation des Saturius noch einmal als Ganzes überblicken. Sie war, wie wir gesehen haben, in sich durchaus plausibel. Zwar hätte ihm unter normalen Umständen die Tatsache, daß die Obligation des Roscius der Form nach so schlecht dokumentiert war, verhängnisvoll werden müssen; indes konnte in diesem Fall der formelle Mangel durch die Schilderung der Sachlage wettgemacht werden, ja er konnte sogar bei geschickter rhetorischer Zuspitzung als ein Argument f ü r die eigene Sache erscheinen: „Natürlich hätte sich Fannius in jedem anderen Fall das Geld entweder vor Zeugen versprechen lassen oder doch bei einem Litteralkontrakt den Posten ins Hauptbuch übertragen. Wenn er auf die flehentlichen Bitten des Roscius davon Abstand genommen hat, so zeigt das einmal seine Gutherzigkeit, zum anderen beweisen ja eben diese Bitten, daß Roscius vor der Verurteilung stand und mit jedem Vergleich zufrieden sein mußte." Wir wissen natürlich nicht, ob Saturius s o kühn argumentiert hat, aber auf jeden Fall konnte er die mangelnde Beglaubigung der Obligation nicht nur rechtfertigen, sondern geradezu als unvermeidbar hinstellen. Er mußte die Geschichte nur von Anfang an erzählen. Aus dem Vergleich des Roscius mit Flavius ergab sich die actio furti, aus der Rechtslage bei diesem Prozeß die unausweichliche Verurteilung, aus ihr wiederum die pactio mit ihrer notwendigen Heimlichkeit - es stimmte alles zusammen. Hätte sich nun Cicero auf diese vom Kläger zweifellos verwendete und auch durch die Sache nahegelegte Disposition eingelassen, so wäre das für ihn sehr nachteilig gewesen. Er hätte ja zu Beginn (1) nachweisen müssen, daß Roscius den ager Flavianus seinerzeit zu Recht nicht geteilt hätte - das war der schwächste Punkt - ; er hätte dann (2) auf dieses schwankende Fundament seine Version der actio furti gründen müssen („Fannius sieht sein Unrecht ein"), und wenn er schließlich (3) auf dem mangelnden äußeren Beweis für den Litteralkontrakt insistiert und über die schlecht geführten Geschäftskladden geklagt hätte, so wäre der Erfolg wohl nicht mehr sehr groß gewesen. Cicero tut, was er in schlechter Lage zu tun pflegt: Er dreht die natürliche Folge herum. 104

Vgl. Anm. 130.

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Aus (1) (2) (3) wird (3) (2) (1). Erst werden die formellen Beweise behandelt, dann die actio furti, und am Schluß erst - wovon doch alles abhängt - das mit dem Roscius-Flavius-Vergleich gesetzte Rechtsproblem. Über den Eingang der Rede sind wir auf Mutmaßungen angewiesen. Wenn METTE zu Recht vermutet, daß Cicero auf eine zusammenhängende narratio causae verzichtet habe105, so wäre das nicht nur ein großer Fortschritt' gegenüber den früheren Reden, sondern auch der in der argumentatio verwendeten Taktik vollkommen angemessen10®. Keinesfalls wurde von Anfang an „erzählt". Das ergibt sich nicht allein aus den §§ 27 ff., wo von der Vorgeschichte doch offenbar als von etwas Neuem die Rede ist, sondern vor allem aus taktischen Überlegungen: Der Fannius-Roscius-Vergleich mußte ja zurückgestellt werden. Gab es überhaupt eine narratio, so konnte Cicero nur mit der actio furti beginnen. Der Freispruch des Roscius konnte hier (vorläufig) die Klageerhebung als grundlos erscheinen lassen, und überhaupt konnte die „Perfidie" des Fannius, der - alle Bande der Freundschaft vergessend - seinen eigenen socius mit so ehrenrührigen Beschuldigungen verfolgte, in der gebührenden Weise gegeißelt werden. § 1 der erhaltenen Rede zeigt, daß Fannius bereits als „perfid" exponiert war107. Ich meine, die actio furti war für diesen Zweck geeignet; ebenso vielleicht auch die Behauptung, daß Fannius nach seiner „scheinheiligen" Versöhnung in jener Zeit es nun noch einmal versuche, wegen derselben Sache dem Kompagnon ein Bein zu stellen108. Daß dieser Vorwurf der Perfidie, der ja auch gegen Roscius erhoben worden war, eine retorsio criminis darstellt, versteht sich nebenbei. Dies entspricht dem Verfahren in den meisten früheren Reden (bis einschließlich zur Cluentiana)109. Der erhaltene Text führt uns dann mitten in den ersten Teil der argumentatio: „Welche Beweise hat Fannius für die angebliche Obligation?" Nachdem wir uns die Rede des Klägers ihrer logischen Struktur nach klargemacht haben, können wir Ciceros Verfahren leicht durchschauen. Er isoliert den einen schwachen Punkt des Gegners (die mangelhafte Dokumentation), der ja überhaupt nur, wenn er isoliert ist, zum schwachen Punkt wird. Für sich betrachtet sieht M E T T E 1 7 f.; anders etwa A R A N G I O - R U I Z 2 8 3 f. Ist unsere Datierung ins J a h r 66 richtig (s. den Exkurs), so haben wir eine P a r allele zur Cluentiana desselben Jahres, w o es ebenfalls keine selbständige narratio causae mehr gibt (vgl. S. 2 1 0 ) . Interessant ist in diesem Zusammenhang besonders die (frühere) Tulliana, wo (wie in unserem Fall) die narratio den Interessen der causa widerspricht, Cicero es aber doch nicht wagt, sie ganz aufzulösen (vgl. S. 165). Auch im folgenden wird sich zeigen, daß die Disposition der Rosciana vortrefflich zu einer Spätdatierung paßt - aber ein Beweis kann auf solche Dinge selbstverständlich nicht gegründet werden. 105

106

exspecto quam mox Chaerea [= Fannius] hac oratione utatur: ,egone hanc manum plenam perfidiae et hos digitos meos impellere potui ut falsum perscriberent nomenf So könnte Cicero schwerlich reden, wenn er das entsprechende P o r t r ä t nicht schon skizziert hätte. 107

N a t ü r l i c h kann der V o r w u r f ebensowohl in einem prooemium (was ich für wahrscheinlicher halte) wie in einer narratio ausgeführt worden sein.

108

109

Vgl. S. 101 f., 2 0 7 ff.

sogar

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es freilich schlecht aus, wenn ein Litteralkontrakt Hur in den adversaria und nur in den adversaria e i n e r Partei verzeichnet ist. D a sich Cicero am Ende des ersten Teils der argumentatio auf die formula des Prozesses beruft, so wird er sie wohl (wie in den Reden für Quinctius und für Caecina) an den Anfang der propositio/argumentatio gestellt haben: SI PAKET Q. ROSCIVM C. FANNIO HS ICCC DARE OPORTERE usw.110. Und wie die §§ 13 f. zeigen, hat er sogleich die drei möglichen Gründe genannt, aus denen ein solches DARE OPORTERE erwachsen könnte: (1) adnumeratio, (2) expensilatio, (3) stipulatio. Diese Einteilung erweckt den Anschein, als sei sich der Kläger selbst nicht ganz darüber klar, auf welchen Typ des Kontrakts er sich nun eigentlich berufen wolle 111 . N u r die erste Möglichkeit wird, als in der Tat nicht behauptet, ausgeschieden; bezüglich der beiden andern bleibt die Sache offen. Was den Litteralkontrakt angeht (den wir als eigentlichen Klagegrund anzusehen haben), so muß das Äußerste aus der Tatsache herausgeholt werden, daß für ihn nur die adversaria als Beweis vorliegen. Cicero arbeitet hier mit einer kunstvollen Steigerung. Den verlorenen Anfang können wir noch aus § 3 rekonstruieren: paulo ante M. Perpennae, P. Saturi tabulas poscebamus, nunc tuas... solius flagitamus. Damit muß, wie von B A R O N und PFLÜGER dargelegt, auf die Buchung im Codex dritter Personen angespielt sein (wie auch schon oder ,noch* am Anfang von § 1): Man sichert so den Beweis des Litteralkontrakts gegen eine mögliche Fälschung im Geschäftsbuch des Kontrahenten 112 . So ist Ciceros Gedankengang in der verlorenen Partie: „Fannius stützt sich auf seine tabulae (das Wort noch im weiteren Sinn, wie in den §§ 1 und 2). Ein anständiger Geschäftsmann legt aber für den Beweis eines Litteralkontrakts nicht nur die eigenen tabulae vor, sondern auch die einiger Freunde. Wo sind also die tabulae des - sagen wir: Saturius und Perpenna?" 113 Am Anfang des erhaltenen Teils ereifert sich Cicero darüber, daß jemand nur auf die eigenen tabulae gestützt eine solche Forderung erhebe: „Hier steht das Buch des Roscius gegen das des Fannius." Und nun die Steigerung in § 2 : „Roscius kann ja nicht einmal die wirklichen tabulae, den codex accepti et expensi, vorlegen! Er hat nur die adversaria." Und jetzt kann des rhetorische Donnerwetter über diese kümmerlichen, nur für den Tagesgebrauch angelegten Notizhefte niedergehen (§§ 5-7). Für kürzere Zeit freilich können üblicherweise auch 110

Zur Formel vgl. L E N E L 237. Vgl. oben S. 121 mit Anm. 65. 112 P F L Ü G E R 104-108 (zuletzt P. J O U A N I Q U E , Rev. hist, de droit frans. et etr. 46, 1968, 13-15). B A R O N s Ansicht (S. 138), Fannius habe sich in der Tat auf Eintragungen in den Codices des Saturius und Perpenna berufen (ebenso C O S T A , Orazioni 43), ist ausgeschlossen (PFLÜGER 104 f.). 113 Wenn M. Perpenna hier in diesem Sinn zusammen mit dem Anwalt Saturius apostrophiert wurde, so kann er schwerlich, wie eine hartnäckige gelehrte Tradition (von v. B E T H M A N N - H O L L W E G II 815 bis A R A N G I O - R U I Z 285) es will, der Beisitzer des Richters Piso gewesen sein. Wir werden in ihm einen Freund und beratenden Beistand des Fannius zu sehen haben. 111

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die adv.ersaria als vollgültiges Beweismittel gelten 114 . Cicero m u ß diesem Einw a n d vorbeugen, indem er fragt (§§ 8 f.): „Warum ist eine so wichtige Buchung mehr als drei Jahre 115 in den adversaria geblieben?" A n diesem und nur an diesem Punkt wird für einen Augenblick sozusagen der ,historische K o n t e x t ' des behaupteten Kontrakts sichtbar: rogatus eras ne referres usw. (s. oben S. 119). Es ist die einzige Stelle des ersten Teils, die auf den zweiten vorausweist; und es ist zugleich der einzige kritische Punkt dieses Teils. D e n n was Cicero hier gegen die gegnerische Behauptung setzen kann, wirkt nur dann überzeugend, w e n n man sich nicht mehr genau erinnert. U n d so versucht denn Cicero die Grundlosigkeit eines behaupteten L i t e r a l k o n t r a k t s noch rasch durch ein letztes, höchst scharfsinniges Argument zu beweisen: § § 9 - 1 3 . Wir haben darüber gesprochen 11 '. Ein paar Worte zur eventuellen Behauptung einer Stipulation (§ 1 3 ) m , und der erste Teil der argumentatio ist beendet. N a c h Cicero genügt nun bereits das Dargelegte, damit Roscius freigesprochen werden muß (§ 14): hie ego si finem faciam dicendi, satis fidei et diligentiae meae, satis causae et controversiae, satis formulae et sponsioni, satis etiam iudici fecisse videar cur secundum Roscium iudicari debeat. U n d alles, was er noch weiter vorbringen werde, diene nur dazu, den guten Ruf des Roscius vor allen Verleumdungen zu retten (§ 15) 118 . Keine Frage ist in der Forschung so viel behandelt worden, w i e die, ob diese Behauptung über das Verhältnis der

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Vgl. oben Anm. 61. Hier ist noch eine Steigerung eingebaut. 114 S. 122 f. Der Sinn des Arguments ist es, nebenbei zu zeigen, daß, selbst wenn ein Litteralkontrakt abgeschlossen sein sollte, die Summe doch nicht so hoch sein könnte (im iudicium certae pecuniae also Roscius freigesprochen werden müßte). So unmittelbar kann das Cicero natürlich nicht sagen, weil er ja damit das Vorhergehende um seinen Kredit brächte. - Zur Gegenüberstellung von iudex und arbiter s. BROGG I N I 202 ff. (überzeugend gegen WLASSAK). 117 S. oben S. 121. 118 Cicero sagt, er wolle reden, als seien in der Formel omnia iudicia legitima, omnia arbitria honoraria, omnia officia domestica eingeschlossen. B R O G G I N I s Erklärung dieser Ausdrücke (S. 210-216) scheint mir gekünstelt. Schwerlich können mit officia domestica die außergerichtlichen Schiedsverfahren gemeint sein; zu erwarten wäre doch: arbitria domestica, oder disceptationes domesticae. Eben daß Cicero hier nicht eine Verfahrensart nennt, sondern - nach iudicia, arbitria mit leichter Inkonzinnität von officia spricht, zeigt, daß er an jene „privaten Anstandspflichten" denkt, f ü r die es keinen Rechtsweg gibt. Dann müssen aber unter arbitria honoraria doch mit WLASSAK die „ehrenamtlichen Schiedsgerichte" zu verstehen sein (dazu neigt auch F. WIEACKER Z R G 7 6 , 1959, 588 f.; Zustimmung zu B R O G G I N I s Ansicht jetzt bei K.-H. ZIEGLER, Das private Schiedsgericht im antiken römischen Recht, München 1971, 20). Wenn B R O G G I N I dagegen einwendet, nur der arbiter des Schiedsgerichts könne honorarius genannt werden, nicht dagegen das arbitrium, da nur die Übernahme des Richteramts freiwillig sei, nicht der Spruch, so ist das logischer als die Sprache: arbitrium honorarium kann mit minimaler Enallage das arbitrium eines arbiter honorarius bezeichnen. 115

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beiden Teile zu Recht bestehe11®. Wir können in dem Streit mit Entschiedenheit Partei ergreifen: Ciceros Behauptung ist unrichtig; seine Einteilung in einen sachlichen Teil und einen Teil extra causam soll den Richter in die Irre führen. N u r wenn der Kläger keinen die actio certae creditae pecuniae ermöglichenden Kontrakt b e h a u p t e t hätte, wäre die Benennung der beiden Teile korrekt. Aber die dürftige Dokumentation des Litteralkontrakts war ja, wie wir schon festgestellt haben, nur ein Beweismangel, der selbstverständlich durch andere Beweise wettgemacht werden konnte 120 . Und eben diese anderen Beweise behandelt nun Cicero im zweiten Teil der argumentatio. Die ,wirkliche' Einteilung der Rede ist also die in: (1) ατεχνος πίστις (Buchung in den adversaria), (2) εντεχνος πίστις (Wahrscheinlichkeit des Litteralkontrakts auf Grund der Rechtslage in der actio furti). In der Version des Klägers hing, wie gezeigt, beides zusammen. Cicero trennt und legt alles Gewicht auf das erste: „Wer bloß die eigenen adversaria vorlegt, hat den Prozeß schon verloren." Die herkömmliche oder jedenfalls sehr häufige Einteilung von Gerichtsreden in einen sachlichen Teil, wo die technischen Klagepunkte behandelt werden, und einen außersachlichen Teil, in dem sonstige (nur moralische) Vorwürfe zur Sprache kommen 121 , diese so biedere Weise der Gliederung wird hier nur verwendet, um die Redeteile mit falschem Etikett zu versehen und die Aufmerksamkeit des Richters von dem Punkt abzulenken, der für den Kläger der springende war. Auch im zweiten Teil der argumentatio (§§ 16-56) sehen wir Cicero bestrebt den ordo naturalis (und damit die in sich plausible Version des Gegners) zu ,verdrehen'. Während es von der Sache her das Gegebene war, zunächst die Rechtslage bezüglich des Vergleichs Roscius-Flavius zu behandeln und auf dieser Grundlage nachzuweisen, daß Roscius bei der actio furti wegen seiner Unschuld, nicht wegen der angeblichen pactio freigesprochen worden sei, zeigt

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Legt man die gewöhnliche Ansicht zugrunde, wonach die eingeklagten H S 50 000 aus dem arbitrium herzuleiten wären, so müßte der zweite Teil in der Tat streng genommen unnötig sein, da ja dann Cicero nur zeigen würde, daß Roscius schon vor dem arbitrium nichts schuldig war. (So ausdrücklich R O B Y II 501, vgl. W I E A C K E R 14). U m ihn aufzuwerten, hat man seinen Sinn darin gesehen, daß Cicero zeigen wolle, es handle sich um eine Schuld e liberalitate, nicht e societate (vgl. § 16); aber das sagt Cicero nirgends (vgl. S. 110 und bes. S. 146, gegen K A P P E Y N E 218, METTE 18). v. B E T H M A N N - H O L L W E G (II 816-820) und B A R O N (S. 135) wollten der Zweiteilung von Ciceros Rede eine doppelte Begründung des klägerischen Anspruchs entsprechen lassen (1. Litteralkontrakt, 2. condictio e causa furtiva bzw. Sozietätsschulden, vgl. auch K O S C H E M B A H R - L Y S K O W S K I 323, Anm. 7), was allein aus juristischen Gründen allgemein mißbilligt wurde. K Ü B L E R (s. oben Anm. 77), der den Fannius unmittelbar auf Sozietätsschulden klagen läßt, mußte im Gegensatz zu Cicero gerade den ersten Teil der argumentatio für unnötig (ja unsinnig) halten. Die verwegenste These stammt von ν. Μ A Y R 56 ff. (vgl. oben Anm. 46). 120 Vgl. S. 119 f. mit Anm. 61 und 62. 121 Vgl. S. 251 ff.

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Cicero zunächst, daß Roscius wegen seiner Unschuld freigesprochen wurde, und dann erst, daß er auch unschuldig war. Daß ihm dies gelingt, ist ein wahrer Triumph der Dispositionskunst. Eingeleitet wird der zweite Teil durch ein Dilemma. § 16 pecuniam petis, Fanni, α Roscio. quam? die audacter et aperte. utrum quae tibi ex societate debeatur, an quae ex liberalitate huius promissa sit et ostentataf Die beiden Alternativen begreifen nur zum Schein alle denkbaren Möglichkeiten in sich. Fannius verlangt streng genommen weder die Bezahlung seiner Sozietätsschulden noch die Einlösung eines aus „Großmut" gegebenen Versprechens, er verlangt die Einlösung eines a u f G r u n d der Sozietätsschulden in der Not gegebenen Versprechens. Wird nun im folgenden die erste Alternative hypothetisch als die richtige angesetzt - und die gichtigere' ist es ja wenigstens182 so ist damit sogleich die Chronologie der Ereignisse verwirrt. Zweimal steht das Präsens debeatur statt eines korrekteren Perfekt; und man erhält den Eindruck, als wolle Fannius heute unmittelbar seine Sozietätsschulden einklagen - einige ältere Erklärer sind diesem Eindruck auch wirklich erlegen123 aber dies galt ja nur für die drei Jahre zurückliegende actio furtil2i. Cicero gewinnt damit den Vorteil, daß er die Frage der Sozietätsschulden ganze acht Paragraphen hindurch gewissermaßen im zeitlosen Raum (der dem Präsens angenähert ist) und völlig losgelöst von der peinlichen Angelegenheit des ager Flavianus behandeln kann. Ohne Berücksichtigung der Rechtsfrage wird nun e vita ac moribus argumentiert (§§ 17-24): „Ein so integrer Mensch wie Roscius betrügt keinen sociusl» Wir ersparen uns die Einzelheiten.) Erst in den §§ 25 f. bezieht nun Cicero die eigentlichen Sozietätsschulden der Wahrheit gemäß auf den Zeitpunkt der actio furti. Der Übergang ist .fließend', ein kleines Kunststück für sich. § 25: quae cum ita sint, curnon arbitrum pro socio adegeris Q. Roscium quaero. Das läßt sich noch sehr wohl im Hinblick auf den jetzigen Prozeß verstehen (d. h. als Gegensatz zur Einleitung der Klage wegen certa credita pecunia), und die meisten Erklärer scheinen es auch so verstanden zu haben125. Aber die folgenden Praeterita lassen die Sache in der Vorstellung zurückgleiten: formulam non η or as? ... iudicio gravi experiri nolebasfbezüglich der jetzigen actio wäre hier das Präsens angemessener - , eindeutig in der Vergangenheit sind wir dann am Ende von

Zumal wenn man bedenkt, daß die Kontraktschulden ja durch Novation der Sozietätsschulden entstanden sein sollten, s. S. 121 mit Anm. 63. 123 Vgl. Anm. 77. 124 Zustatten kommt Cicero dabei, daß die heute verlangte Summe ebenso hoch ist wie der Wert, um den Roscius seinerzeit betrogen haben soll (HS 50 000, sofern jedenfalls das Grundstück HS 100 000 wert war). - Man beachte auch, daß Cicero hier (wie fast immer) dem Gegner die falsche Behauptung nicht unmittelbar in den Mund

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legt: quae tibi ex societate debeaturf bleibt ja hypothetisch.

So v. BETHMANN-HOLLWEG II 814, 822, BARON 125, ROBY II 496, PFLOGER 124.

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§ 25: nam quo tu tempore ilia formula uti noluisti, nihil hunc in societatem fraudis fecisse iudic^ast'i). Nachdem die Unschuld des Roscius im allgemeinen plausibel gemacht ist, kann auch die Tatsache, daß Fannius nicht pro socio geklagt hat, als weiterer Beweis dafür gelten.-Den dritten ,Beweis* für die Unschuld und damit gegen die nun zum ersten Mal erwähnte pactio liefert dann die kurze Reprise aus § 1: „Warum steht nichts in den tabulae des Roscius?" Es ist neben § 9 (s. oben S. 139) die einzige Klammer, welche die beiden künstlich zerrissenen Teile der argumentatio miteinander verknüpft, gefährlich für Cicero insofern, als er ja gerade durch die Trennung die gewünschte Wirkung erzielt. Müßte nicht der Hörer daran denken, daß die Umstände des Prozesses und die Ehrenrührigkeit der Summe den Roscius an der Buchung gehindert haben? Er müßte es wohl, aber durch den von Cicero so sorgfältig angelegten Gegensatz zu der im höchsten Maße infamierenden actio pro socio (vgl. § 16 paene dicam capitis, § 25 iudicio gravi) erscheint die actio furti, deren Name ja auch noch gar nicht gefallen ist, als etwas relativ Harmloses. (Wohl begreiflich also, daß die Erklärer an unserer Stelle ein außergerichtliches Verfahren angesetzt haben.) In drei kurzen Schlägen wirft nun Cicero die zentralen Behauptungen des Klägers zurück: Keine Bitte um das arbitriuml Keine pactio\ Freispruch aus Unschuld! Und erzählt dann seine Gegen version, das eindrucksvolle Märchen von Fannius, der selbst sein Unrecht einsieht und mit lautem Geschrei um Verzeihung bittet. Welche Frechheit, daß derselbe Mann heute etwas von einer pactio weiß und von furtum apertum spricht! Was soll denn das für ein furtum sein? § 26 ist die Achse, um die sich die Beweisführung des zweiten Teils (soweit er uns erhalten ist) dreht. Er enthält das eigentliche Beweisziel: non pepigit, mit seinen Implikationen. Dieses Beweisziel steht weder als zu beweisen am Anfang noch als bewiesen am Ende, sondern eben in der Mitte; und so legt sich die doppelte Argumentation (a) e vita ac moribus, (b) aus der Rechtslage wie die Schale um einen (sehr kleinen) Kern. Der Sinn dieser Gruppierung ist es, die Richtigkeit der eigenen Version, d. h. der damaligen Unschuld des Roscius, zunächst unabhängig von dem eigentlichen juristischen Problem nachzuweisen. Wenn sich der Gegner auf die Rechtslage beruft (§ 26 furtum erat apertum), so erscheint dies fast als Ausflucht eines „unverschämt sturen" Anwalts (perstat in impudentia), der im Grunde schon widerlegt ist. Wir sind, der Chronologie nach, bisher rückwärts geführt worden: von dem jetzigen Prozeß (§ 16) zu der drei Jahre zurückliegenden actio furti (§ 26). Nicht nur der Logik des Beweises (§ 27): cuius rei furtum factum erat?, sondern auch dem ,Zeitsinn* nach müßten wir nun endlich zu jenem Vergleich kommen, den Roscius vor fünfzehn Jahren mit Flavius abgeschlossen hat. Aber Cicero gelingt es, den sachlichen Zusammenhang zwischen Vergleich und actio furti wenigstens insoweit aufzulösen, als er hier noch ein größeres Stück einschiebt, das h i n t e r den Vergleich in die Vorvergangenheit zurückführt (§§ 27-31). Scheinbar hält er sich dabei notgedrungen an die Disposition des allzuweit ausholenden Gegners, was guten Eindruck machen soll. § 27: exorditur magna cum

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exspectatione veteris histrionis12' exponere societatem. (Der kritische Leser muß nur daran denken, daß dies zwar in der Tat v o r dem Bericht vom Vergleich, aber natürlich nicht n a c h der Behandlung der actio furti erzählt worden war. Den Zusammenhang zerstört erst Cicero.) Gegen seinen Willen muß Cicero, wie er andeutet 127 , eine Digression einschieben. Saturius hatte behauptet, Roscius habe weniger in die Sozietät eingebracht als Fannius. Dagegen zeigt nun Cicero in brillanter Darlegung, daß Roscius viel mehr f ü r die Sozietät geleistet hat: Er hat ja seine ganze Kunst für die gemeinsame Sache gegeben, Fannius nur den wertlosen Körper eines (wie Cicero zwar nicht behauptet, aber doch suggeriert) schauspielerisch recht untalentierten Allerweltssklaven. Schon hat der Hörer den Faden verloren, der ihm mit der eingangs gestellten Frage an die H a n d gegeben war (cuius rei furtum factum erat?)·, der eigentliche Vorwurf des Saturius schließt sich nun an wie etwas Beliebiges, das nur eben der Chronologie nach an die Reihe kommt. § 32 quae deinde sunt consecuta? Man beachte, daß in dem ganzen langen Abschnitt, der nun dem Vergleich gewidmet ist (§§ 32-56), die Worte furtum und frans, also die Stichworte des § 26, die ja doch die Klammer zum folgenden abgeben, auch nicht einmal erwähnt werden. Immerhin muß Cicero jetzt doch endlich nachweisen, daß es bei dem Vergleich rechtlich korrekt zugegangen ist. Wir haben gesehen, daß die Position des Saturius hier sachlich kaum angreifbar war: Er hatte sich zu Recht darauf gestützt, daß der beim Vergleich erhandelte ager Flavianus Sozietätsgut hätte werden müssen (§ 52, s. oben). Ciceros Taktik, mit der er diesem Argument beikommen will, entspricht nun genau der schon in Pro Caecina verwendeten 128 . Er greift ein logisch sekundäres Argument, einen Nebengedanken, auf, stellt es als das Hauptargument der Gegenseite hin, widerlegt es erfolgreich und läßt dann das eigentliche Hauptargument als einen δεύτερος πλοϋς, eine spitzfindige Ausflucht aus hoffnungsloser Lage erscheinen. In unserem Fall heißt das: Wenn Saturius sich darüber beklagt hatte, daß Roscius bei dem Vergleich mit Flavius f ü r seinen socius nichts mehr übrig ließ, so nimmt Cicero dies als das Zentrum des gegnerischen Angriffs; was nur moralischer Vorwurf war, wird juristisches Argument, und so kann der eigentliche juristische Kern der Sache zurückgestellt werden (§§ 52 ff.). Die ganze .Widerlegung' in den §§ 32-51 beruht, wie wir gesehen haben, auf einer falschen, juristischen Interpretation der Äußerung: de tota re decidisti. Cicero führt sie sehr geschickt ein. Zunächst läßt er den Gegner sagen: ... tu sine me cum Flavia decidisti. Gegenfrage: utrum pro dimidia parte an pro tota? planius dicam: utrum pro me an et pro me et pro te? U n d Cicero ant126

ARANGIO-RUIZ will histrionis von exspectatione abhängig machen (vgl. seine Anm. z. St.) und auf Fannius beziehen. Gemeint ist aber wohl Panurgus als Gegenstand der societas (richtig FUHRMANN). 127 § 28 quoniam ille hic constitit paulisper, mihi quoque necesse est paulum commorari. 128 Vgl. S. 91 ff.

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wortet sich, korrekt, auch im Sinne des Gegners: pro me. Jetzt kommen die Klagen des Saturius (noch ganz ,moralisch' interpretiert): ,at enim tu tuum negotium gessisti bene ...' ,magno (tu) tuam dimidiam partem decidisti... HS CCCIDDD tu abstulisti.' Auf all das kann Cicero antworten: Soll doch Fannius auch seinerseits ein gutes Geschäft machen! Und so viel war der Acker damals auch gar nicht wert (§ 33). Schon scheint Saturius sein Pulver verschossen zu haben - da hat er noch etwas (§ 34): vertit hic rationem et id quod probare non potest fingere conatur: ,de tota re, inquit, decidisti.' Das ist völlig zutreffend, bis auf die eine winzige Entstellung: vertit hic rationem. Es war ja dies de tota re decidisti überhaupt kein neues Argument, sondern nur die Summe und äußerste Zuspitzung des bisher Referierten. In Ciceros Darstellung aber wirkt es nun so, als habe Saturius plötzlich eine Kehrtwendung gemacht: „Roscius hat doch für die Sozietät abgeschlossen." Wir haben damit, was fürs erste wichtig ist, eine widerlegbare Behauptung. Und Cicero widerlegt sie in der Tat gründlich. (1) §§ 3 5 - 3 7 : Roscius hat bei dem Vergleich nicht die satisdatio amplius neminem petiturum gegeben. (2) §§ 3 7 - 3 9 : Die Restipulation (und die Stipulation) beim arbitrium beweist, daß Fannius selbst den Vergleich des Roscius als nichts Endgültiges und für die Sozietät Verbindliches angesehen hat. (3) § § 3 9 - 5 1 : Fannius hat von Flavius noch H S 100 000 bekommen. Es versteht sich, daß die Absicht dieses letzten und weitaus am breitesten ausgeführten Teils der Beweisführung ein gutes Stück über das von Cicero angegebene Beweisziel hinausreicht (obwohl es am Schluß, in § 51, doch nur auf dieses bezogen wird). Einerseits liegt in Ciceros Behauptung eine gewisse retorsio criminis, erscheint doch jetzt Fannius als der Unterschlagende; zum andern antwortet Cicero damit implizit auf den wirklichen Vorwurf des Saturius, der ja darin bestanden hatte, daß Roscius de facto für seinen socius nichts mehr übriggelassen habe 129 . Wenn Cicero so das Argument gewissermaßen unter falschem Namen einführt, so ist das für ihn schon darum günstig, weil seine Beweise hier so außerordentlich schwach sind 130 : 12' H ü b s c h ist § 3 9 : at enim forsitan hoc tibi veniat in mentem repromisisse Fannium Roscio, si quid a Flavio exegisset, eius partem dimidiam, sed omnino exegisse nihil. D e r Einwand, den sich hier Cicero selbst macht, hat eigentlich nur einen Sinn, wenn man das gegnerische Argument in seiner ursprünglichen Bedeutung n o c h ' irgendwie gegenwärtig h a t : Wenn Fannius nichts bekommen kann, dann hat Roscius doch „über die ganze Sache abgeschlossen". 130 C i c e r o hat nur Zeugen, die von dem Richter Cluvius etwas gehört haben wollen (und dieser scheint überdies an dem Vergleich zwischen Flavius und Fannius nicht beteiligt gewesen zu sein, s. oben S. 132). Für Saturius ist die Entgegnung nicht schwer: 1) W a r u m hat Roscius sich wegen dieser Summe noch nicht bei Fannius gemeldet? Soll er doch auch einen Prozeß versuchen! 2) W a r u m erscheint Cluvius nicht persönlich? D e m zweiten (wirklich fatalen) Argument widmet C i c e r o eine praemunitio in den §§ 4 6 f., deren Sinn nicht immer richtig verstanden zu werden scheint (vgl. W I E A C K E R 1 5 ) : levior esset auctoritas Cluvi, si diceret iuratus, quam nunc est, cum dicit iniuratus. tum enim forsitan improbis nimis cupidus videretur, qui qua de re iudex fuisset testis esset etc. Zeugen werden im römischen P r o z e ß stets von den streitenden

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Für das, was er beweisen zu wollen vorgibt, ist er ja auf diesen Punkt (3) gar nicht mehr angewiesen. Denn es ist in der Tat längst gezeigt, daß Roscius nicht im Namen der Sozietät abgeschlossen hat. § 5 1 führt nun den eigentlich kritischen Punkt ein: iam intellegis, C.Piso, sibi soli, societati nihil Roscium petisse. hoc quoniam sentit Saturius esse apertum, resistere et repugnare contra veritatem non audet, aliud fraudis et insidiarum in eodem vestigio deverticulum reperit. (Also zweite Kehrtwendung!) Es ist genau wie in Pro Caecina § 90: Das Fundament der Beweisführung wird als Ausflucht interpretiert, das Hauptstück als Appendix angehängt. Wenn es schon nicht gelingt, das Argument wirklich zu widerlegen, so soll doch die Aufmerksamkeit des Hörers so weit als möglich davon abgelenkt sein. Wer denkt noch daran, daß h i e r der entscheidende Beweis lag gegen Ciceros Behauptung: non pepigitf Blicken wir zurück: Es ist Cicero gelungen, ganze 25 Paragraphen zwischen jene Behandlung der actio furti und unseren Abschnitt einzuschieben. Über Ciceros Gegengründe haben wir schon gesprochen131, und so bleibt uns, da mit § 56 der erhaltene Text abreißt, nur noch die Frage, ob wir über das Verlorene noch eine begründete Vermutung anstellen können. Ich meine, ja. Der Schlüssel für die Rekonstruktion des folgenden liegt in § 16, der Einleitung zum zweiten Teil der argumentatio: utrum quae tibi ex societate debeatur an quae ex liberalitate huius promissa sit et ostentata? Es war ja dieses ,falsche Dilemma' nicht in dem Sinn gemeint, als hätte sich Saturius eindeutig auf eine der beiden Alternativen festgelegt. (Wozu dann das Dilemma?) Es war noch viel weniger so gemeint, als müsse der Richter zwischen den beiden Alternativen wählen, und die erste bedeute Verurteilung, die zweite Freispruch. (So hat man schon geglaubt132, aber daß Roscius freigesprochen werden muß, will Cicero, wie er wenige Worte vorher sagt, schon mit dem ersten Teil schlüssig bewiesen haben.) Cicero will vielmehr damit den Gegner auf eine von zwei Möglichkeiten erst festlegen: „Behaupte, was du willst! Ich zeige dir jeweils, daß Roscius (auch moralisch) schuldlos ist." Nach § 56 oder bald nach § 56 kann Cicero im Sinne des Dilemmas resümieren: „Die schlimmere der beiden Möglichkeiten (§ 16 gravius et odiosius) habe ich aus der Welt geschafft: nihil ex societate debuit (bzw. debet) Roscius. Fannius kann nur noch behaupten, es sei ihm etwas aus Großmut versprochen worden." So weit muß meines Erachtens die Rekonstruktion für sicher gelten. Parteien vorgeführt; ein Richter, der selbst Zeuge wäre, wäre also parteiisch (cupidus). Natürlich ist das Schaumschlägerei: Wenn Cluvius über eine mit dem Prozeß zusammenhängende Sache Zeugnis ablegen würde, wäre er ja nicht Zeuge bezüglich der Sache, die i η dem Prozeß zur Verhandlung stand. (Also: quaternio terminorum.) Die Vermutung, Cluvius sei, wie Flavius, inzwischen gestorben (so M E T T E 17, B E R Z E R O 11, R O B B E 57), ist unbegründet: Cicero könnte es doch nicht versäumen, darauf hinzuweisen. Wir müssen annehmen, daß es Roscius nicht gelungen ist, Cluvius zur Aussage zu bewegen. 131 S. 129 f. 132 S. oben Anm. 119.

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Aber auch die Art, wie Cicero diesen zweiten, „geringeren" Punkt behandelt, läßt sich, meine ich, mit hoher Wahrscheinlichkeit rekonstruieren: „Was konnte denn Fannius von der Liberalität eines Mannes erwarten, der ihm, wie gezeigt, nichts schuldete? Doch wohl nur einen Teil von dem Wert des ager Flavianus, einen kleineren, vielleicht auch einen größeren." Und jetzt kann Cicero einen guten Schlag führen: „Und dieser Mann, der sich selbst von der äußersten Liberalität nicht mehr als, sagen wir: H S 25 000 hätte versprechen können, hat ganze H S 50 000, den halben Acker, von Roscius erhalten! Großzügiger kann wohl niemand sein." Dies dürfte der Sinn des captiösen Dilemmas in § 16 gewesen sein. Man hat schon immer bemerkt, daß die Zahlung der ersten Rate von H S 50 000 nur ganz beiläufig erwähnt wird, und daraus richtig geschlossen, daß Cicero sie zurückdrängen wolle. Aber nur in dem Teil, der von den „Sozietätsschulden" handelt! Dort wäre sie freilich ein Indiz f ü r das seinerzeit in der Not gegebene Versprechen; wo es dagegen um die „Liberalität" geht, ist sie ein Trumpf Ciceros: Roscius ist schon darum „moralisch schuldlos", weil er dem Fannius mit der äußersten Großmut begegnet ist. Wir müssen um der methodischen Sicherheit willen bei einer Gesamtbetrachtung der Rosciana von dieser Rekonstruktion der verlorenen Partie absehen. Auch dann läßt sich noch sagen, daß die argumentatio unserer Rede - wenn eine narratio gefehlt hat, praktisch die Rede überhaupt - die am raffiniertesten oder jedenfalls am kompliziertesten gebaute argumentatio Ciceros darstellt. Disposition heißt hier wirklich Dis-Position. Die Behauptung des Gegners wird in einer auch für Cicero beispiellosen Technik in ihre fast atomaren Einzelheiten zerlegt und durch ein gewissermaßen permanentes Hysteron-Proteron auf den K o p f gestellt. Grobschlächtige Entstellungen fehlen; fast alles macht der Aufbau, dessen leitendes Prinzip im Großen wie im Kleinen die Zertrennung ist. Im Großen: Die Frage nach dem Wert der ατεχνος πίστις wird aus dem Zusammenhang des zu Beweisenden herausgelöst und als eine Sache für sich, die zur Beurteilung der causa ausreiche, hingestellt. Das ergibt die Zweiteilung der argumentatio ( I / I I ) . Im Kleinen: D i e Frage nach dem Verschulden des Roscius und damit nach der Ursache des Freispruchs in der actio furti wird unabhängig von der Rechtsfrage behandelt (nur auf Grund des allgemeinen probabile e vita). Das ergibt die Zweiteilung des zweiten Teils ( I I a / I I b ) . Im Kleinsten: Die Rechtsfrage wird so behandelt, daß das primäre Argument der Gegenseite zurückgestellt wird, das sekundäre Argument als der scheinbare Kern des Problems nach vorne gezogen (und so verfälscht) wird. Das ergibt noch eine untergeordnete Zweiteilung ( I I b l / I I b 2 ) . Es ist das Kompositionsprinzip der Rede für Caecina, nur daß es dort ausschließlich in der Großform wirksam war, während es hier noch die Einzelteile strukturiert. Dort wurde der springende Punkt (Notwendigkeit der possessio für die passive Dejizierfähigkeit) nur einmal zurückgestellt; hier schiebt Cicero die Behandlung der entscheidenden Frage ( q u o d sibi petit socius, fit societatis) gleichsam ständig vor sich her. Von Anfang an würde man ihre Behandlung erwarten, aber immer wieder wird sie durch eine Zweiteilung nach hinten gerückt.

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Gesamtproblem

X

I I a [14-26] Unschuld bei dei actio furti (Digression [27— \

\

I I b 1 [32-51] re »„De tota decidit"

.II b [ 2 7 - 5 6 ] Rechtslage bei der actio furti

I I b 2 [52-56] „Quod sibi petit fit societatis"

socius,

[Die gestrichelte Linie gibt den Gang der Beweisführung. I, IIa und I l b l , die links notierten Ergebnisse der Dichotomien, sind jeweils (der Sache nach) von sekundärer Wichtigkeit gegenüber II, IIb und IIb2, die rechts notiert sind. IIb2 ist der springende Punkt, dessen Behandlung durch die Dichotomien aufgeschoben wird.] Da der wirkliche Sinn dieser Zweiteilungen dem Hörer verborgen bleiben muß, ist Cicero genötigt, mit falschen Überschriften zu arbeiten. Wenn er die „unkünstlichen" Beweismittel isoliert (I/II), so behauptet er, einen „sachlichen" von einem „außersachlichen" Teil zu trennen (§§ 13 f.). Wenn er die Betrachtung der Rechtslage von dem Nachweis der Unschuld trennt (IIa/IIb), so will er dazu durch die Unverschämtheit des Gegners, dem plötzlich etwas Neues einfällt, genötigt sein (§ 26). Und auch die Dichotomie in der Behandlung der Rechtsfrage selbst ( I I b l / I I b 2 ) ist ihm scheinbar durch die Sprunghaftigkeit des Gegners, der verzweifelt nach Ausflüchten sucht, aufgenötigt (§ 52). Man bemerkt dabei, daß die Zweiteilung überhaupt immer erst an der Nahtstelle markiert wird - ankündigen darf man dergleichen nicht, am Anfang wäre der Hörer noch gewitzt: Er muß auf die falsche Straße gelockt werden, ohne daß er zunächst auch nur den falschen Namen erfährt. (Später glaubt er ihn schon.) So hat der unkritische Hörer den Eindruck eines Biedermanns, der mit geradezu unermüdlicher Gründlichkeit seinen Gegner zu widerlegen trachtet: das Wichtigste an den Anfang stellend (so gehört es sich) und doch auch die kleinsten Winkelzüge des Widersachers nicht verschmähend (eigentlich hätten sie keine so gute Behandlung verdient). Der kritische Leser sieht etwas anderes: Er erkennt, daß er gleichsam einen listigen Boxer vor sich hat, der genau weiß, daß er seinem Gegner im entscheidenden Schlagabtausch unterlegen wäre, und der darum versucht, diesen Schlagabtausch Runde um Runde aufzuschieben und so den Widersacher langsam zu zermürben.

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Wir können auch sagen: Das vorgebliche Strukturprinzip der Rede ist das der abnehmenden Relevanz (vom Wichtigen zum Unwichtigen), das wirkliche ist das der zunehmenden Relevanz (vom Unwichtigen zum Wichtigen). Das Unwichtige für das Wichtige auszugeben und dementsprechend zu disponieren - darin besteht hauptsächlich Ciceros Kunst. Wir stellen wiederum, wie im Fall von Pro Caecina, Ciceros Rede der (erschlossenen) Argumentations-Struktur der vorhergehenden Rede gegenüber: SATVRIVS

CICERO

I. Vorgeschichte: Sozietät, Prozeß gegen Flavius

I. causa ipsa: keine der drei Möglichkeiten des Kontrakts nachweisbar; gegen adversaria als Beweismittel

II. Vergleich (Betrug des Roscius) (a) quod sibi petit socius fit societatis (juristisches Unrecht des Roscius) (b) de tota re decidit (moralisches Unrecht dei Roscius; moralische Rechtfertigung der actio furti) III. actio furti und Beweis des Kontrakts (a) sachliche Notwendigkeit der Verurteilung, bewiesen aus II a (b) Nachweis des Kontrakts (1) wegen I I I a (2) Buchung in den adversaria (3) erste Zahlung von H S 50 000

II. extra causam: keine Sozietätsschulden des Roscius (a) probabile e vita: Roscius betrügt nicht; actio furti: Freispruch aus Unschuld, keine pactio (b) Rechtslage bei der actio furti (Digression: Vorgeschichte) (1) Kein „Abschluß f ü r die Sozietät" (2) Gegen: „quod sibi petit socius fit societatis" [LÜCKE: die erste Zahlung (beweist Liberalität des Roscius)]

Das Diagramm macht nebenbei sichtbar, daß, wie schon angedeutet, mit dem Beweisaufbau auch die Chronologie in Verwirrung kommt. Während Saturius in seiner Rede dem Zeitsinn nach fortschreiten mußte: von der Vorgeschichte zum Roscius-FIavius-Vergleich und von dort zur actio furti mit dem umstrittenen Kontrakt, springt Cicero hin und her, um die Zusammenhänge aufzulösen: In den §§ 1 - 2 6 steht der Kontrakt im Vordergrund, die §§ 27-31 führen dann in die Vorgeschichte zurück, in den §§ 32 ff. wird der dazwischenliegende Vergleich behandelt. Diese Behandlung der Chronologie ist neu gegenüber allen früheren Reden Ciceros; wir werden Ähnliches in der - wahrscheinlich aus demselben J a h r stammenden - Rede f ü r Cluentius entdecken.

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Exkurs: Zur Datierung der Rede

Die Datierung der Rede war lange Zeit umstritten, wobei die Vorschläge vom Jahr 82 v. Chr. (so HOTMANN 1 ) bis zum Jahr 66 (A. MAYR 2 ) gingen. Erst in neuester Zeit scheint man sich im allgemeinen auf die Jahre 77/76, die Zeit unmittelbar vor der sizilischen Quästur, geeinigt zu haben3. Ich fürchte, daß das Problem noch nicht endgültig gelöst ist, und möchte neue Argumente für eine späte Datierung vorlegen. Fast unbeachtet geblieben ist eine Überlegung, die Fritz VON DER MÜHLL in seinem RE-Artikel „Q. Roscius Gallus" (1914) angestellt hat4. In § 23 unserer Rede sagt Cicero von Roscius: decern his annis proximis HS sexagiens honestissime consequi potuit: noluit. laborem quae stus recepit, quaestum laboris reiecit. Man muß dieser Äußerung entnehmen, daß Roscius in den zehn vorhergehenden Jahren zwar auf der Bühne aufgetreten ist, aber auf seine Einnahmen verzichtet hat. Das Motiv für dieses sonderbare Verhalten hatte schon Boris WARNECKE der an anderer Stelle (Macrob. sat. 3, 14, 13) überlieferten Tatsache entnommen, daß Roscius von Sulla zum römischen Ritter gemacht worden war: „ . . . einen Komöden, der von so wenig angesehener Kunst verdiente, in den Ritterstand zu erheben, fiel wahrscheinlich auch dem mächtigen Sulla zu schwer... Um die Aufnahme in den Ritterstand zu ermöglichen, ent-

Er setzt die Rede jedenfalls vor Pro S. Roscio. Auf das Jahr 81 datiert jetzt METTE (S. 17). 2 W S 22, 1900, 1 1 5 - 1 1 9 . Ebenso H . M O R G A N , HSPh 12, 1901, 242 f f . (vgl. dazu ROBY II 502), SCHANZ/HOSIUS I 416, WIRBEL 36 A. 2. Auf 68 datieren: M A N U TIUS, D R U M A N N (DRUMANN/GROEBE V 370-372, vgl. bes. 370 A. 13), C I A CERI I 100 A. 1. Zu V O N DER MÜHLL s. unten. 3 So schon FABRICIUS, dann v. BETHMANN-HOLLWEG II 805 f., G. L A N D GRAF, De Cie. elocutione . .., Diss. Würzburg 1878, 47 ff., ders., Bursian 113, 1902, 86 (gegen MAYR), E. NORDEN, Die antike Kunstprosa, Bd. 1, Leipzig 4 1923, 227, W. STERNKOPF, Jahrb. class. Philol. 41, 1895, 4 1 - 5 6 , Th. ZIELINSKI, Philologus 64, 1905, 15 f., GELZER 26 f., F. KLINGNER, Ciceros Rede für den Schauspieler Roscius, SBBAW 1953, Heft 4, S. 5 (jetzt in: Studien z. griech. u. röm. Literatur, Zürich/Stuttgart 1964, 547-570: betrachtet die Datierungsfrage, von der seine stilistische Einordnung der Rede abhängt, als gelöst), BÜCHNER 105, NISBET 51, A R A N G I O - R U I Z 283. Die einzige Ausnahme macht heute METTE (s. oben Anm. 1); nicht sicher entschieden auch KENNEDY, Art of rhetoric 155. 4 RE I A 1 (1914) 1124. 1

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Datierung der Rede für Q. Roscius

sagte auch Roscius seiner Gage." 5 V O N D E R M Ü H L L stimmte dieser Ansicht zu und gründete darauf folgende Rechnung: Wenn Roscius vor zehn Jahren von Sulla zum Ritter gemacht wurde, so ergibt Sullas Todesjahr für unseren Prozeß das J a h r 68 als Terminus ante quem. Wir wollen diese Berechnung überprüfen. Zunächst zur These W A R N E C K E s . Sie ist jüngst von J . E. S P R U I T in seiner Untersuchung über die juristische und gesellschaftliche Stellung der römischen Schauspieler mit Entschiedenheit abgelehnt worden®. S P R U I T macht geltend, daß schon das schauspielerische Auftreten als solches und nicht erst das Auftreten gegen Bezahlung (wie W A R N E C K E glaubte) eine Ehrenminderung zur Folge gehabt habe. Und er beruft sich in diesem Zusammenhang auf das bekannte Beispiel des Decimus Laberius. Aber gerade dieses Beispiel spricht dafür, daß W A R N E C K E , was Roscius angeht, recht hat. Der römische Ritter und Mimendichter Laberius, so erfahren wir aus den Quellen, wurde von Caesar genötigt, in einem selbstverfaßten Mimus als Schauspieler aufzutreten, und zwar gegen Bezahlung 7 . Da nun Caesar dem Mimen nach Ende des Auftritts nicht nur ein beachtliches H o n o r a r , sondern auch den anulus aureus, das offi-

zielle Zeichen des Ritterstandes, überreichte und ihn außerdem aufforderte, auf den für die Ritter bestimmten Sitzreihen Platz zu nehmen8, muß man annehmen - und dies ist auch die allgemeine Ansicht 9 —, daß zugleich mit dem schauspielerischen Auftreten auch die Ritterwürde des Laberius für erloschen galt und daß Caesar sie ihm eigens wiedergeben mußte. Da aber ferner, wie B. W A R N E C K E , Die bürgerliche Stellung der Schauspieler im alten Rom, N . Jb. Klass. Alt. 17, 1914, 9 5 - 1 0 9 (Zitat dort S. 100); vgl. dens., „Histrio", R E VIII 2 (1913), 2116-2128. Ähnlich jetzt auch Ch. G A R T O N , Personal aspects of the Roman theatre, Toronto 1972, 170. • De juridische en sociale positie van de romeinse acteurs, Diss. Utrecht 1966, 46 f. Unzugänglich war mir P. O L A G N I E R , Les incapacites des acteurs en droit Romain et en droit canonique, Diss. Paris 1899 (nach dem Referat von C. F E N S T E R B U S C H [Bursian 253, 1936, 5 3 - 5 5 ] berührt sich die Arbeit mit Gedanken W A R N E C K E s ) ; sehr summarisch: H . G. M A R E K , Der Schauspieler in seiner gesellschaftlichen und rechtlichen Stellung im alten Rom, Wien 1956 (1. Teil von: Der Schauspieler im Lichte der Soziologie). 7 Macrob. sat. 2, 7, 2 Laberium asperae libertatis equitem Romanum Caesar quingentis milibus invitavit ut prodiret in scaenam et ipse ageret mimos quos scriptitabat. sed potestas non solum si invitet sed et si supplicet cogit. .. 8 Macrob. sat. 2, 7, 8 . . . Laberio anulum aureum cum quingentis sestertiis dedit. Suet. Iul. 39, 2 . . . donatusque quingentis sestertiis et anulo aureo sessum in quatuordecim (e) scaena per orchestram transiit. Sen. contr. 7, 3, 9 Laberium divus Iulius ludis suis mimum produxit, deinde equestri ilium ordini reddidit, iussit ire sessum in equestria. ' MOMMSEN, Staatsrecht III 518 A. 1, M E Y E R 387, A. STEIN, Der römische Ritterstand, München 1927, 25. Vgl. bes. auch das reddidit bei Seneca (s. oben Anm. 8). SPRUIT (S. 46) drückt sich unklar aus: „Hoewel de anulus aureus zjin rang als eques romanus bevestigde . . 5

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sich aus dem Beispiel des Roscius auf jeden Fall ergibt, der Ritterstand mit der Ausübung des Schauspielerberufs nicht schlechtweg unverträglich sein konnte, kommen wir nicht um die Annahme herum, daß es gerade das Auftreten um G e l d war, das vom Ritterstand disqualifizierte. Freilich wird man SPRUIT gerne zugeben, daß auch der Schauspielerberuf an sich einen gewissen gesellschaftlichen Anstoß bot10. Aber für unsere Frage besagt dies streng genommen nichts; und da SPRUIT auch nicht versucht, ein anderes Motiv für den enormen Verdienstausfall des Roscius plausibel zu machen, möchte man die These WARNECKEs für sicher halten: Der Verzicht auf die Gage sollte Roscius zur Ritterwürde befähigen. Fragwürdig dagegen ist die hierauf gegründete Berechnung VON DER MÜHLLs. Wenn Cicero sagt, daß Roscius in den vergangenen zehn Jahren 6 Millionen hätte verdienen können, so ist darin ja nicht impliziert, daß Roscius erst seit zehn Jahren keine Gage mehr bezieht, vielmehr daß dies seit mindestens zehn Jahren der Fall ist". Die Zahl 10 ist von Cicero doch offenbar um der runden Rechnung willen gewählt - wer sich den Zusammenhang der Argumentation vergegenwärtigt, sieht leicht, daß es läppisch gewesen wäre, hier etwa mit 13 oder 16 Jahren zu rechnen12. So erhalten wir für den Prozeß einen Terminus post quem, den man vom Beginn der Diktatur Sullas her13 zu berechnen hat. Er kann frühestens im Jahr 72 stattgefunden haben. Dies läßt sich nun auf Grund von zwei weiteren Indizien näher präzisieren. Das eine ist in der Forschung längst geltend gemacht worden14. Aus § 33 der Rede geht hervor, daß 15 Jahre vor dem Prozeß die Grundstückspreise besonders niedrig waren: accepit enim agrum temporibus eis cum iacerent pretia praediorum ... tum enim propter rei publicae calamitates omnium possessiones erant incertae (die Zahl 15 in § 37). Selbst Gegner der Spätdatierung15 müssen zugeben, daß sich diese Angabe am ungezwungensten auf die Zeit der sullanischen Proskriptionen und Güterverkäufe beziehen läßt (82/81). Demnach 10 Nach Seneca a. Ο. (s. oben Anm. 8) versuchten die Ritter in ihren Bänken - sehr merkwürdig, daß sich Cicero unter ihnen befinden soll - , den Laberius am Niedersitzen zu hindern. Dies ist aber in erster Linie als Protest gegen Cäsars Verhalten gedacht. 11 Wie VON DER MÜHLL in dieser Hinsicht auch SPRUIT (s. oben Anm. 6) 47. 12 Ich meine natürlich nicht, daß die Zahl 10 als ,abgerundete' Angabe für die Zeit, seit der Roscius keine Gage mehr bezieht, zu verstehen sein müßte (so ZIELINSKI a. O., s. oben Anm. 3). Cicero greift vielmehr einen beliebig großen Abschnitt aus diesem Zeitraum heraus, um daran die Gleichgültigkeit des Roscius gegen das Geld zu zeigen. 1:1 Macrob. sat. 3, 14, 3 . . . Roscius qui etiam L. Sullae carissimus fuit et anulo aureo ab eodem dictatore donatus est. VON DER MÜHLL rechnet unrichtig mit den Lebensdaten Sullas. Wäre seine Auffassung von decern his annis proximis richtig, müßte unsere Rede in die Jahre 72-69 fallen. 14 S. die oben in Anm. 2 genannten Autoren. 15 v. BETHMANN-HOLLWEG, LANDGRAF (s. oben Anm. 2). Beide wollen darum (mit HOTMANN) die Zahlangabe in § 37 ändern. Vgl. Anm. 6 zu S. 105.

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Datierung der Rede für Q. Roscius

müßte die Rede in den Jahren 6 7 / 6 6 gehalten worden sein; da C. Calpurnius Piso, der Richter, im Jahre 67 Konsul war, kommen wir auf das Jahr 66. Das zweite Indiz ergibt sich auf Grund etwas schwierigerer Überlegungen, die wiederum mit dem Schauspielerstand des Roscius zusammenhängen. Aus den §§ 32 und 54 erfährt man, daß Roscius vor wenigstens fünfzehn Jahren den Fannius zu seinem cognitor (Prozeßverwalter) bestellt hatte 16 . Nun wissen wir, daß Schauspieler von Hause aus prätorisch infam waren, d. h. daß das prätorische Edikt ihre Rechte einschränkte 17 . So erscheint in der Infamenliste des Edikts de postulando unter denen, die nur beschränkt für andere postulieren dürfen, auch derjenige, QVI ARTIS LVDICRAE PRONVNTIANDIVE18 18 CAVSA IN SCAENAM PRODIER1T . Diese beschränkt postulationsfähigen Personen fallen ebenso unter das Edikt QVI NE DENTVR COGNITORES, d. h. es fehlt ihnen auch das Recht, zum cognitor bestellt zu werden 20 . Da nun die erhaltenen Reste der Infamenliste eines dritten Edikts mit dem Titel QVI NE DENT COGNITOREM mit der Infamenliste des Edikts de postulando übereinstimmen 21 und da auch von der Sache her nicht einzusehen ist, wieso die sonst prozeßrechtlich benachteiligte Person gerade nach diesem Edikt nicht infam sein sollte, nimmt man heute allgemein an, daß die Listen (bis auf notwendige Ergänzungen im Edikt QVI NE DENT COGNITOREM) identisch waren, mit anderen Worten, daß Schauspieler nicht fähig waren, einen cognitor zu bestellen 22 . Wenn dies nun Roscius dennoch getan hat, so dürfte dies wiederum mit dem erwähnten Verzicht auf die Gage (und dem Eintritt in den Ritterstand) zusammenhängen 23 . Folgendes ist hier zu bedenken: (1) Sowohl Vor (wahrscheinlich: kurz vor) dem Vergleich mit Flavius. Vgl. zum folgenden S P R U I T (s. oben Anm. 6) 140 ff. Zur Infamie im allgemeinen: M. KÄSER, Z R G 73, 1956, 220-278. 18 pronuntiare ist 1.1. für das Sprechen des Schauspielers; s. L E W I S & S H O R T s . v . II A 2 und S P R U I T (s. Anm. 6) 142 A. 17. 19 Dig. 3, 2, 1; L E N E L 77; vgl. SPRUIT (s. Anm. 6) 142, KÄSER, Zivilprozeßrecht 150 f. 16

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20 Paul. sent. 1, 2, 1 omnes infames qui postulare prohibentur cognitores fieri non posse, etiam volentibus adversariis; vgl. LENEL 92 f., KÄSER, Zivilprozeßrecht 154 f.,

S P R U I T (s. Anm. 6) 148. L E N E L 77 f. und 89 f. 22 Lit. bei K Ä S E R , Zivilprozeßrecht 154 A. 20; s. bes. L E N E L 90. 23 Die Alternative wäre natürlich, daß der Schauspieler aus einem unerdenklichen Grund in der Liste des Edikts QVI NE DENT COGNITOREM gefehlt hätte; so offenbar F. L. K E L L E R (Der röm. Civilprocess, Leipzig e l 883, 276 A. 1), der auf das Problem zuerst aufmerksam geworden zu sein scheint. Anders jetzt SPRUIT (s. Anm. 6) 147: Er wagt zwar nicht die Radikallösung KELLERs, vermutet aber, im Falle unseres Edikts sei der Prätor nicht (wie bei den anderen) spontan gegen die infame Person bzw. ihren cognitor eingeschritten, sondern habe es der gegnerischen Partei überlassen, von sich aus Einspruch zu erheben und eine Prozeßeinrede zu erwirken. Dann wäre aber die Frage, wieso Flavius seinerzeit die Einrede nicht erwirkt hätte bzw. (wenn er sie erwirkt hätte) wie Roscius hätte hoffen können, trotz der Einrede mit 21

Datierung der Rede für Q. Roscius

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im Edikt de postulando w i e in der z. T. genau korrespondierenden Infamenliste der lex lulia municipalis24 erscheint die ars ludicra im Verein mit anderen anrüchigen Formen des Gelderwerbs 2 5 ; und wir wissen auch aus sonstigen Zeugnissen, daß es gerade der sordidus quaestus ist, der den Schauspieler in R o m verächtlich macht 26 . (2) In U l p i a n s Kommentar z u m Edikt wird die prätorische Infamie des Schauspielers sogar ausdrücklich in einen Zusammenhang mit dem Gelderwerb gebracht (dig. 3, 2, 2, 5): eos enim, qui quaestus causa in certamina descendant et omnes propter praemium in scaenam prodeuntes jamosos esse Pegasus et Nerva filius [Rechtsgelehrte des ersten nachchristlichen Jahrhunderts] responderunt. D a es im Vorhergehenden um die Begriffsbestimmung der im Edikt erwähnten scaena geht (ait praetor: ,qui in scaenam prodierit, infamis est'; es folgt eine erweiternde D e f i n i t i o n des Labeo), so m u ß der N a c h druck des Satzes auf dem ersten Glied liegen: A u c h Sportler sind i n f a m im Sinne des Edikts, sofern sie gegen Bezahlung auftreten 2 7 ( o b w o h l man hier dem engeren Wortsinn nach natürlich nicht v o n in scaenam prodire sprechen kann). D a ß auch der eigentliche „Bühnen"-Künstler erst durch seine Bezahlung prätorisch infam wird, erscheint in diesem Zusammenhang w i e eine fast selbstverständlich gemachte Voraussetzung. Ich sehe keinen Grund, w a r u m wir diese für das erste nachchristliche Jahrhundert bezeugte Auslegung des Edikts nicht schon der Zeit Ciceros zuschreiben sollten: in scaenam prodire = propter praemium in scaenam prodire ( b z w . spectaculum sui praeberef. seiner Klage durchzudringen. Wäre Flavius wegen der Einrede (einer exceptio dilatoria) freigesprochen worden, wäre f ü r Roscius die Klagemöglichkeit konsumiert gewesen (vgl. KÄSER, Zivilprozeßrecht 196). 24 Eine Synopse der Listen gibt M. KÄSER, ZRG 73, 1956, 237-240. 25 Im Edikt QVI NE DENT COGNITOREM folgt auf den Schauspieler der Kuppler; in der lex lulia folgen aufeinander: Geldnahme f ü r die Anklageerhebung, gewerbsmäßige Unzucht, lanistatura arsve ludicra, Kuppelei. 28 Vgl. den Aufsatz von W A R N E C K E (oben Anm. 5). 27 Amateursportler fallen nicht unter das Edikt (explizit in dig. 3, 2, 4 pr.). 28 Anders SPRUIT (s. oben Anm. 6), der diese Auslegung der Digestenstelle anerkennt (S. 144 f.: „dat alleen het . . . propter praemium in scaenam prodire infamerende werking heeft"), sie aber erst in der Kaiserzeit aufgekommen sein lassen möchte. Den Beweis für diese Ansicht erspart er sich dank der Disposition seines Buches, in dem das prätorische Edikt erst bei Behandlung der Prinzipatszeit diskutiert wird, die allgemeine (nicht-juristische) Infamie dagegen schon im ersten Teil über die Republik. In diesem ersten Teil wird nun das Ulpianzeugnis behandelt, als wäre dort von der allgemeinen Infamie die Rede (das Beispiel des Decimus Laberius zeige, daß man die Ansicht des Nerva und Pegasus nicht in die Republik zurückprojizieren dürfe!); im zweiten Teil wird dann als bewiesen vorausgesetzt, daß erst in der Kaiserzeit das schauspielerische Auftreten sine praemio nicht mehr prätorisch infamierend wirke: Die vornehmen Juristen hätten damals ihre als Schauspieler dilettierenden Standesgenossen von der prätorischen Infamie befreien wollen. Diese Argumentation SPRUITs darf natürlich nicht akzeptiert werden - aber dennoch kann man ihm zugeben, daß erst in der Kaiserzeit das juristische Problem akut wurde und ein Bedürfnis bestand, sich das, wie ich meine, im Edikt immer schon als selbstverständlich mitgedachte

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Datierung der Rede für Q. Roscius

So dürfen wir also zuversichtlich annehmen, daß der Verzicht auf die Gage dem Roscius nicht nur die Möglichkeit gab, römischer Ritter zu werden, sondern ihn zugleich auch v o n der prätorischen Infamie befreite und ihn damit zur Bestellung eines cognitor berechtigte. (Es wäre ja auch zu sonderbar, wenn eine prätorisch infame und infam bleibende Person zum Ritter hätte gemacht werden können 2 9 .) Für die Datierung ergibt sich: D a Fannius mindestens 15 Jahre vor dem Prozeß zum cognitor bestellt wurde und Roscius nicht vor dem Jahr 82 Ritter geworden sein kann, so k o m m e n wir wiederum auf das Jahr 67 als das früheste D a t u m unserer Rede. Zum Abschluß: Worauf stützt sich eigentlich die heute für so sicher geltende Datierung? A u f nichts anderes 30 als eine vermeintliche Altersangabe Ciceros in § 44: magis mea adulescentia indiget illorum bona existimatione quam illorum severissima senectus desiderat meam laudem. D i e Rede, sagt man, könne nicht nach dem Jahr 76 gehalten worden sein, „da Cicero seine adulescentia in Gegensatz stellt zum Alter zweier senatorischer Zeugen. N a c h seiner Quaestur w a r er kein adulescens mehr" (M. GELZER) 3 1 . Aber daß diese allgemein geglaubte Sprachregelung überhaupt nicht (oder allenfalls tendenziell) existiert, ist längst nachgewiesen. Schon F O R C E L L I N I hat in seinem Lexikon adulescentes auf verschiedenen Stufen der römischen Amtskarriere vorgeführt 3 2 ; speziell für Cicero hat Jose D E L G A D O (ohne Beachtung unserer Rede) weiteres Material gesammelt 3 3 , und die Beispiele ließen sich immer noch vermehren 3 4 : Bis in die propter praemium bewußter zu machen. Der Fall des Roscius dürfte ja in republikanischer Zeit eine seltene Ausnahme dargestellt haben. 29 Dies muß offenbar SPRUIT annehmen (s. die vorhergehende Anm.), obschon er es nicht ausdrücklich sagt. 30 Die stilistische Eigenart unserer Rede (s. zuletzt v. ALBRECHT, RE Suppl. X I I I [1973] 1304 f., mit weiterer Lit.) ist nie als eigentliches Argument f ü r die Datierung auf 77/76 verwendet worden; vielmehr hat man sie mit der für sicher geltenden Datierung in Einklang zu bringen versucht (vgl. bes. die Arbeit KLINGNERs, s. oben Anm. 3). So muß ich hierauf nicht eingehen. 31 GELZER 26 f., mit einigen Belegen; besser noch in seinem Sinn wäre Cie. Sull. 18: ... je meum condiscipulum in pueritia, familiarem in adulescentia, collegam in quaestura fuisse. 32 Bd. 1, Patavii (letzte Aufl.) 1940, S. 97; eindrucksvoll etwa die Prätoren in Phil. 2, 113. Gegen Varros Unterscheidung von adulescens (bis 30 Jahre) und iuvenis (30-45 Jahre) polemisiert B. AXELSON, in: Melanges offerts ä J. M A R O U Z E A U , Paris 1948, 7-17 (dort S. 15): „bereits die . . . Tatsache, dass jenes Wort [iuvenis] der Sprache der ganzen republikanischen Zeit i. a. fremd war . . . e r w e i s t . . . die . . . Distinktion als eine reine Chimäre"; vgl. jetzt auch QUADLBAUER Th. 1. L. VII 2, 734, 49 ff. (s.v. iuvenis). 33 Concepto de adulescens en Ciceron, in: Atti I congr. intern, studi cic., Bd. 2, Roma 1961, 433-452, dort bes. 445-448. 34 Aus Ciceros Reden habe ich mir zwei adulescens genannte viri quaestorii notiert: Plane. 52 (M. Iuventius Laterensis, vgl. F. MÜNZER, RE X 2 [1919] 1365-1367); Verr. 112, 103 (Cn. Cornelius Lentulus Marcellinus, vgl. F. MÜNZER, RE I V 1 [1900] 1389 f.); zwei Quästoren in Cic. epist. 2, 15, 4; 2, 1, 2. Bei Sallust (or. Macri 23) hat

Datierung der Rede für Q. Roscius

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Vierziger kann jeder ,dynamische* Mann als adulescens gelten, ganz besonders naturlich, wenn sein Alter, wie an unserer Stelle, in einen Gegensatz zur senectus tritt. Den schönsten Beweis gibt - ich zitiere die Stelle nicht als erster Phil. 2, 118: defendi rem publicum adulescens [i. J . 63], non deseram senex. Also der ausgewachsene Konsul sogar kann unter Umständen adulescens genannt werden. Im Jahr 66 wäre Cicero erst Prätor. Die Verfechter der Frühdatierung haben diesen 43jährigen adulescens nicht zur Kenntnis nehmen wollen; und nur Georg LANDGRAF hat sich bemüht, seinen Beweiswert zu verkleinern34: „hier, am Schlüsse seiner zweiten Philippika, spricht Cicero in erhobenem Tone und verschärft mit Absicht die Kontraste, während bei der leidenschaftslosen, nüchternen Auseinandersetzung an unserer Stelle Cicero keinen Grund hatte sich jünger zu machen." Da kann man nur fragen, mit welchem Wort denn Cicero sonst seine Jugend im Gegensatz zu den greisen Ehrenmännern, die er rühmt, hätte bezeichnen können. LANDGRAF meint, daß Cicero „iuventus hätte sagen müssen (wie p. Scaur. § 32 memoriam iuventutis suae senectut is dedecore foe davit)". Aber hier ist dem verdienten Erforscher des ciceronischen Sprachgebrauchs ein arger Fehler unterlaufen. Erstens ist in den Wörtern iuventus und adulescentia kein Altersunterschied impliziert (dies gilt generell)3®, und zweitens ist mit iuventus in Ciceros Reden immer, in den übrigen Schriften fast immer, nicht das Alter, sondern die Gesamtheit der jungen Leute bezeichnet37: „Jugend" im Gegensatz zum Greisenalter ist stets adulescentia38. Und was das Zitat aus der Scauriana angeht, so hat sich LANDGRAF von einer irreführenden und überdies falsch gelesenen Angabe in MERGUETs Lexikon verwirren lassen (dort „Scaur. c. 3 § 2"!). Wer nachschlägt, sieht, daß in unserem einzigen Textzeugen, dem Turiner Palimder adulescens Pompeius bereits ein prokonsularisches Imperium hinter sich (damals 33jährig). 34 Bursian 113, 1902, 86. 56 Ein solcher Unterschied ist allerdings angesetzt bei Isid. orig. 11, 2 und Ambr. Abr. 2, 9, 65, die beide auf Varro zurückgehen (Serv. Aen. 5, 295), der aber vielleicht nur adulescens und iuvenis in dieser Weise differenziert hat (bei Cens. 14, 2). Die eine Unterscheidung entspricht dem lebendigen Sprachgebrauch so wenig wie die andere (vgl. oben Anm. 32): iuventus hat in republikanischer Zeit allenfalls die Bedeutung „Jugend k r a f t ", nicht einmal eigentlich „Jugend" (vgl. E . H E C K , in: Silvae, Festschr. E . Z I N N , Tübingen 1970, 69 A. 15: treffend zu Cie. Cato 15, Sali. Catil. 5, 2, Flor. epit. praef. 8), in welcher Bedeutung das Wort erst spät (auf Kosten von adulescentia) auftritt ( H E C K , Th. 1. L. VII 2, 744, 26 ff.), nie aber m. W. so, daß es vox propria für eine Zwischenstufe von adulescentia und senectus wäre. (Vgl. etwa Sen. epist. 70, 2 . . . primum pueritiam abscondimus, Heinde adulescentiam, deinde quiequid est illud inter iuvenem et senem medium . .deinde ipsius senectutis optimos annos.) Verfehlt ist die Konstruktion von O . H E Y , Jb. class. Phil., Suppl. 18, 1892, 179-183. 37 Einzige Ausnahme Cat. 15: iuventus = „Jugendfrische". Vgl. H E C K , in: Silvae a. O. (s. oben Anm. 36). 38 Arch. 16, Cael. 79, Deiot. 2 usw. (ständig etwa im Cato maior); vgl. H E Y , Th. 1. L. I 799, 63 ff. und (zu senex - adulescens) H E Y a. O. 796, 1 ff.

156 Datierung der Rede für Q. Roscius psest, nur überliefert ist (§ 2) . . . tis suae rerumque gestarum senectutis dedecore foedavit. memoriam iuventutis ist eine Ergänzung BEIERs, und wenn man Ciceros Sprachgebrauch beachtet, wird man nicht daran zweifeln, daß sie falsch ist 39 . Also: Wollte Cicero zum Ausdruck der Bescheidenheit überhaupt von seiner „Jugend" sprechen, so hatte er nur adulescentia zur Verfügung. § 44 scheidet f ü r die Datierungsfrage aus.

39

H E Y (s. oben Anm. 36) hat sie allerdings anerkannt; dagegen aber vortrefflich H E C K (s. oben Anm. 36).

7

Exkurs: Ein attisches Vorbild für die Disposition der Rede?

Wir haben gesehen, daß die argumentatio der Rede für den Schauspieler Roscius im ganzen nach folgendem Prinzip angelegt ist 1 : Der erste Teil (§§ 1-13) enthält die ατεχνος πίστις für den behaupteten Litteralkontrakt (mangelnde schriftliche Beglaubigung), der zweite (§§ 14 ff.) die εντεχνοι πίστεις (Wahrscheinlichkeit des Zustandekommens). Die damit gegebene Zerreißung des Beweiszusammenhangs wird verdeckt durch die vorgebliche Gliederung in einen „sachlichen" Teil, der für das Urteil des Richters ausreichen soll, und einen „außersachlichen" Teil, der nur die moralische Beurteilung betreffe. Dieses Aufbauprinzip, das Cicero später noch einmal in Pro Balbo verwendet - dort allerdings in einer sehr viel durchsichtigeren Weise2 - , findet sich bereits in einer Rede des Isaios, die wir daraufhin kurz betrachten wollen. In der Rede gegen Leochares (or. 5 = περί τοΰ Δικαιογένους κλήρου3) geht es um folgendes: Ein gewisser Dikaiogenes hat sich gelegentlich eines früheren Prozesses dazu verpflichtet, zwei Drittel vom Erbe seines Adoptivvaters an dessen Schwestern bzw. deren Nachkommen zurückzugeben. Für die Durchführung der Versprechung hat sich Leochares, der jetzt darum Beklagte, verbürgt. Die Frage ist nun, ob Dikaiogenes seinerzeit versprochen hat, den betreffenden Teil des Erbes ohne Hypotheken und in seinem ursprünglichen Zustand zurückzugeben 4 oder aber in demjenigen Zustand, in dem es sich ζ. Z. der Versprechung befand? Der Kläger, der das erstere behauptet, stützt sich auf eine angebliche mündliche Abmachung, der Beklagte dagegen auf das schriftliche Dokument der Versprechung, in dem die entscheidenden Worte nicht enthalten sind. Isaios legt in diesem - wie es scheint, wenig aussichtsreichen — Fall die Rede des Klägers so an, daß er in einem ersten Teil (§§ 1-4) das eigentliche Problem - wenn auch natürlich nicht explizit - zurückstellt und nur die Tatsache der Versprechung und der Bürgschaft an sich beweist sowie ein Verzeichnis des ursprünglichen Erbes vorlegt (1. argumentatio). Erst der zweite Teil der Rede (§§ 5 ff.) bringt eine narratio der Ereignisse, die zu dem umstrittenen Versprechen geführt haben; diese endet in einer 2. argumentatio (§§ 19 ff.), 1

Vgl. bes. S. 139 f. D i e §§ 5 - 1 5 , in denen nur Pompeius gelobt wird, sollen zur Beurteilung der Sache genügen (s. § 5 ) ; die Behandlung der Rechtsfrage (§§ 17 ff.) wird als eigentlich überflüssig hingestellt: atque ut ego sentio, indices, causa dicta est (§ 15). Vgl. auch Anm. 10. 3 Ich benutze den, soweit ich urteilen kann, ganz vortrefflichen Kommentar v o n W. W Y S E : The speeches of Isaeus, Cambridge 1904, 4 0 2 - 4 8 2 . 4 § 1 ή μην παραδώσειν ήμϊν ταϋτα τά μέρη ά ν α μ φ ι σ β ή τ η τ α , vgl. §§ 18-21. 2

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Ein attisches Vorbild?

in deren Verlauf dann - notgedrungen - auch das peinliche Schriftstück erörtert wird, auf das sich der Beklagte stützen kann (§ 25) 5 . Die formale Ähnlichkeit zu Pro Roscio comoedo fällt auf. Hier wie dort wird ein einheitlicher Beweiszusammenhang („Ist das vom Kläger behauptete Versprechen zustande gekommen?) durch die Zweiteilung der argumentatio zerrissen; hier wie dort wird die für die Beweisführung wichtige narratio erst im zweiten Teil vorgetragen (bei Cicero allerdings in einer aufgelösten und künstlicheren Weise). Und, was der entscheidende Gedanke der Disposition ist: In beiden Fällen soll nach dem Willen des Redners das zur Debatte stehende (.eigentliche*) Problem bereits durch die erste argumentatio entschieden sein. Es heißt nämlich bei Isaios, nachdem die ersten Zeugen vorgeführt und zweimal die Antomosia verlesen ist (§ 5): εί μεν τοίνυν, ώ άνδρες, περί τούτων εμελλον άπολογήσασθαι μόνον Λεωχάρης ή Δικαιογένης, ήρκει αν μοι τά είρημένα". επειδή δέ παρεσκευασμένοι εΐσϊν έξ άρχής περί ( τ ο ϋ ) κλήρου λέγειν, βούλομαι ύμας και παρ' έμοΰ τά πραχθέντα πυθέσθαι . . . Was nach § 4 folgt, ist also dem Sprecher angeblich durch die zu erwartende Verteidigung aufgenötigt, ohne daß es streng von der Sache her noch geboten wäre 7 . Zu Recht sagt der Kommentator des Isaios, William W Y S E , zu § 5 - und dies gilt ebenso für Cie. Q. Rose. 14 f. - : „Only a very credulous reader will take on trust an assertion of this sort." 8 Man würde trotz dieser, wie mir scheint, eklatanten formalen Übereinstimmung mit der Rosciana schwerlich einen unmittelbaren Einfluß des Isaios auf Cicero annehmen wollen 9 , wäre nicht die merkwürdige Tatsache, daß auch der S t o f f der beiden Reden ähnlich ist. Es handelt sich nämlich auch in der Der Kläger kontert hier das zu erwartende Argument folgendermaßen: ήμεΐς δέ, ώ άνδρες, τότ' έπΐ τοϋ βήματος σπεύδοντες (!) τά μέν έγράψαμεν, των δέ μάρτυρας έποιησάμεθα. Dadurch entsteht der Eindruck, als könnten die Zeugen wenigstens die mündliche Abmachung der umstrittenen Klausel bestätigen. Aber wirklich gesagt ist dies nicht, und die Tatsache, daß Isaios seine Zeugen v o r der Behandlung des eigentlichen Problems auftreten läßt (nämlich nach § 2 und § 18 - die dem zitierten Satz unmittelbar vorausgehenden Zeugen sagen nicht über die Abmachung aus), spricht entschieden gegen die Annahme. So urteilt auch W Y S E (s. oben Anm. 3) in seiner Note zu §§ 1 - 4 (S. 406). 6 Cie. Q. Rose. 14: hie ego si finern faciam dicendi, satis ... iudici fecisse videar, 5

cur secundum Roscium iudicari

debeat.

Sehr ähnlich ist hierin übrigens auch die Disposition der elften Rede des Isaios. Ihr Sprecher weist zunächst die Grundlosigkeit des gegnerischen Anspruchs auf das Erbe durch eine Verlesung der einschlägigen Gesetze nach ( S S 1 - 6 ) ; erst im zweiten Teil ( S S 7 ff.: $ 7 propositio, S S 8 - 1 0 narratio, § § 1 1 ff. 2. argumentatio) geht er näher auf den Fall ein. 8 W Y S E (s. Anm. 3) zu SS 5-18, S. 409. 9 Isaios wird von Cicero nirgends erwähnt; und auch wörtliche Anklänge an ihn sind bisher nicht nachgewiesen worden (vgl. W E I S C H E 133 f.). Dies besagt gegen eine Kennntnis des Isaios allerdings nur wenig, da dieser Redner arm ist an einprägsamen Redefiguren und Sentenzen, die zur Imitation anregen würden. 7

Ein attisches Vorbild?

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Rede des Isaios bei dem umstrittenen Versprechen um einen in Prozeßnot geschlossenen Vergleich: Leochares soll, so behauptet der Kläger (§§17 f.), unmittelbar vor einer Verurteilung (wegen falschen Zeugnisses) gestanden haben; da habe sich Dikaiogenes, um den Freund zu retten, bereit erklärt, die zwei Drittel des Erbes anzutreten - und die schon eingesammelten Stimmen der Richter wurden nicht mehr ausgezählt. Man sieht leicht, daß die Beweislage für Isaios weit eher derjenigen für Saturius (nicht für Cicero) im RosciusProzeß entspricht; aber trotz dieser (vielleicht sogar auch wegen dieser) Differenz fällt es doch sehr schwer zu glauben, daß die Übereinstimmung der Form wie dem Inhalt nach auf einem Zufall bzw. einer nur durch die Ähnlichkeit der Sache bedingten Konvergenz beruhen sollte10. Freilich kann man nicht annehmen, daß Cicero das Isaios-Corpus durchgearbeitet und geistig präsent gehabt hätte. Aber besaß er vielleicht eine Art von Sachregister zu den attischen Rednern, das es ihm ermöglichte, eine seinem Fall dem Stoff nach verwandte Rede aufzufinden und sich von ihr anregen zu lassen?

10 Immerhin ist zu bedenken, daß schon die (nach unserer Ansicht) frühere Rede pro Tullio mit einer falschen Einteilung in „sachlich" und „außersachlich" arbeitet. (Vgl. S. 167.)

8

Die Rede für Μ. Tullius (71 ν. Chr.)

Von der Rede, die Cicero im J a h r e 71 1 f ü r seinen sonst unbekannten Namensvetter 2 M. Tullius gehalten hat, ist uns noch so viel überliefert, daß wir den G r u n d r i ß der Disposition deutlich zu erkennen vermögen; leider werden jedoch die Ereignisse, um die es in dem Prozeß geht, nicht mehr ganz genau kenntlich, u n d so läßt sich diese Disposition nicht mit Sicherheit aus der Sache selbst herleiten. Doch sind hier immerhin - vor allem auf G r u n d struktureller Analogie zu anderen Privatprozeß-Reden Ciceros - wohlbegründete Vermutungen möglich 3 . Der Fall ist im wesentlichen folgender. (Wir ersparen uns die juristisch, wie es scheint, unerhebliche Vorgeschichte.) P. Fabius 4 - jetzt Prozeßgegner des Tullius - hat sich zusammen mit einem gewissen Cn. Acerronius ein Grundstück im lukanischen Thurii gekauft (§§ 14, 16). Dieses Grundstück grenzt an den Landbesitz des Tullius. Als nun Fabius seinen Anteil verkaufen will - als K ä u f e r meldet sich offenbar der socius selbst, Acerronius (§ 17) - , gibt es Streit um die Grenzen. Ein Teil des Landes nämlich, das Fabius sein eigen glaubt, die sogenannte centuria Populiana, wird von Tullius als alter Familienbesitz in Anspruch genommen (§ 16). Man verabredet schließlich zum Zwecke gerichtlicher Klärung die vis ac deductio moribus5 (§ 20). Aber in der N a c h t vor dieser rituellen G e w a l t t a t kommt es - wir sehen nicht recht, wie - zu wirklicher Gewalt. In einem Haus, das auf der umstrittenen centuria gelegen ist, geraten die Sklaven des Tullius und des Fabius aneinander. Die Leute des Fabius sind stärker: Von ihren Gegnern entkommt ein einziger, die übrigen bleiben tot am P l a t z e (§§ 21 f.). N u n verklagt Tullius den Fabius auf Schadenersatz, und zwar auf G r u n d einer Prozeßformel, die erst seit wenigen Jahren im prätorischen E d i k t verheißen wird und offenbar dazu geschaffen ist, die in jener Zeit überhandnehmenden Ausschreitungen durch b e w a f f n e t e Sklavenbanden einzudäm-

1

Zur Datierung s. zuletzt NICOSIA 145 f. und VACCA 524 A. 14 (vgl. unten Anm. 49). Textausgaben u. Lit. s. S. 311. 2 Vgl. § 4; F. MÜNZER, RE VII A 1 (1939) 803. 3 Wir behandeln darum die Rede nach der wahrscheinlich späteren pro Roscio comoedo. 4 F. MÜNZER, RE VI 2 (1909), 1747 f. 5 Vgl. S. 80 mit Anm. 3.

Rede für Μ. Tullius

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men (§§ 8-10) β . Im Falle unseres Prozesses lautete die v o m P r ä t o r Metellus erteilte Formel: QVANTAE PECVNIAE PARET DOLO MALO FAMILIAE P.FABI VI HOMINIBVS ARM ATIS COACTISVE DAMNVM DATVM ESSE M. TVLLIO (§ 7). Die Richter sind Rekuperatoren 7 . Für Fabius plädiert L. Quinctius, der durch Cicero auch sonst bekannte Volkstribun 8 . Die ,erhaltene' Rede Ciceros gehört in eine zweite actio (vgl. bes. § 6). Cicero k a n n also bereits auf die von der Gegenseite vorgebrachten Argumente Bezug nehmen. Die Grundzüge der Verteidigung des Quinctius lassen sich aus Ciceros Rede noch erkennen. Er gab das F a k t u m der Tötung an sich zu (§§ 1 f.), behauptete aber, seine Sklaven hätten in N o t w e h r gehandelt (§§ 55 f.), u n d somit sei die T a t nicht unrechtmäßig (§ 38). Das ergibt, wenn man es rhetorisch analysiert, eine Mischung der status, die derjenigen entspricht, die Cicero selbst später in der Miloniana anwendet. Der H a u p t s t a t u s ist der der Q u a l i t ä t (num iure fecerit), hier wie dort in der Spielart der relatio criminis*; der Nebenstatus, der die Entscheidung im H a u p t s t a t u s erst ermöglicht, ist der status coniecturalis: „Lag wirklich eine Notwehrsituation vor? sitne vis vi repulsa?"w Es k a n n keinen Zweifel d a r a n geben, d a ß das H a u p t g e w i c h t der Argumentation des Quinctius auf dieser dem status coniecturalis zugehörigen Darstellung des Sachverhalts liegen m u ß t e " . Leider versagt es uns nun gerade hier die Überlieferung, die Version des Quinctius und das Gewicht seiner Argumente abzuschätzen. N a c h Ciceros summarischer Darstellung in der narratio (§21) wären die Sklaven des Fabius die Angreifenden gewesen: Sie kommen bei N a c h t , brechen mit Gewalt in das Gebäude ein, in dem sich die Leute des Tullius befinden; sie töten, ohne d a ß

β

Zu Sinn und Wortlaut des Edikts s. bes. die Arbeiten von EBERT und BALZARINI (beide mit älterer Lit.); die kontroversen Punkte sind notiert bei BALZARINI, Ricerche 38-45 in den Anmerkungen. Vgl. unten Anm. 23. 7 KÄSER, Zivilprozeßrecht 142-145. 8 H. GUNDEL, RE XXIV 1 (1963), 1002-1005. Daß Ciceros Urteil über ihn als vir Primarius (§ 1) „natürlich ironisch" gemeint sein müsse (a. O. 1004, vgl. schon HUSCHKE z. St.), glaube ich nicht; denn wenn Cicero in der Cluentiana d. J. 66 anders von ihm spricht (s. GUNDEL a. O. 1005), so liegt dies doch an der Natur dieses Prozesses. » Cie. inv. 2, 78-86; VOLKMANN 77, 80; MATTHES 155 f.; LAUSBERG §§ 179 f. 10 Zur Miloniana treffend Quintilian (inst. 3, 11, 17): non in causa Milonis ipsa coniectura refertur ad qualitatemf nam si est insidiatus Clodius, sequitur ut rede sit occisus. Die spätere Theorie (Fortunat. 1,27, p. 101 HALM; Mart. Cap. rhet. 6, p. 455 HALM) spricht hier von status principalis und status incidens. (Dies ist übrigens scharf zu trennen von den Fällen, wo eine Tat so in doppeltem Status verteidigt wird, daß die beiden Status koordiniert, nicht subordiniert sind; s. dazu Anm. 31 zu S. 201). 11 Die Erklärer haben sich z. T. durch die §§ 1 f. von Ciceros Rede in die Irre führen lassen und geglaubt, es stünden überhaupt keine Tatfragen zur Debatte. So HUBERT 631; COSTA, Cie. giurec. I 149, BALZARINI, in: Studi GROSSO I 326 u. 346.

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Rede für Μ. Tullius

Gegenwehr erfolgt. Immerhin entdeckt man bei näherem Zusehen einige Schönheitsfehler in Ciceros Version. Wenn Cicero sagt (a. O.): . . . neque tarn multos neque repugnantis multi armati paratique occidunt..., so dürfen wir e silentio schließen, daß auch die Leute des Tullius bewaffnet waren 12 . Dazu kommen die Behauptungen des Quinctius (§ 54): at servus meus non comparet, qui visus est cum tuis; at casa mea est incensa a tuisn - beides Gewalthandlungen, die dem schließlichen Blutbad vorhergingen. Beachtet man schließlich, wie sorgfältig Cicero bei der ersten Erwähnung des aedificium - im Zusammenhang der Ereignisse des vorhergehenden Tages - darauf hinweist, daß schon damals ein Sklave des Tullius am O r t gewesen sei14, dann kann man sich die Gesamtdarstellung des Quinctius ungefähr zusammenreimen: „In der folgenden Nacht besetzten die Sklaven des Tullius gewaltsam das Gebäude auf dem Grundstück; ein Sklave des Fabius wurde umgebracht, ein anderes Gebäude in Brand gesteckt, ein Angriff auf Fabius selbst war geplant 15 . Um das Schlimmste zu verhüten, setzten sich die Leute des Fabius zur Wehr." D a ß er mit solchen Behauptungen wohl nicht völlig Unrecht hatte, zeigt Ciceros implizites Eingeständnis in § 8: M. Lucullus ... primus hoc iudicium composuit et id spectavit ut omnes ita familias suas continerent, ut non modo armati damnum nemini darent, verum e tiam lacessiti iure se potius quam armis defenderent. D a ß die Sklaven des Tullius wenigstens in gewisser Weise die Angreifer waren, muß demnach für sicher gelten. Ciceros Rede zeigt, daß sich Quinctius mit dieser Rekonstruktion des Sachverhalts nicht begnügte. Wie Cicero selbst später in der Rede für Milo (§§ 9-11) legte auch er grundsätzlich dar, daß eine Notwehrsituation selbst die Tötung

12

Gerade an dieser Stelle hat die rhetorische Antithese ein ,Loch': neque tarn multos - multi; neque repugnantis - paratique; armati - ? Natürlich soll der Hörer nach Ciceros Willen ein inermes mitdenken - aber auszusprechen wagt Cicero dies nicht. 13 B R O G G I N I (S. 375) möchte diese „Hütte" mit dem Gebäude, in das die Sklaven des Fabius eingedrungen sind, identifizieren: Quinctius würde also die Schuld an der Verwüstung des Gebäudes ( § 2 1 tectum villamque disturbant) den Sklaven des Tullius zuschreiben (anders KELLER 612 u. 649). Ich zweifle. V o n Brandspuren ist jedenfalls nirgends die Rede: § 24 deiectum aedificium, § 34 tectum diruunt. 14 § 19 . . . cum ambularet in agro [sc. Fabius], animadvertit in hac ipsa centuria Populiana aedificium non ita magnum [er hat es noch nie gesehen!] servumque M. Tulli Philinum. ,quid vobis [!]', inquit, ,istic negoti in meo est?' Durch vobis wird suggeriert, daß Fabius noch ein paar Leute mehr dort gesehen hat; und die ganze Umständlichkeit der narratio an diesem Punkt entspringt offenbar der Absicht anzudeuten, daß das Gebäude nicht erst in der folgenden N a c h t besetzt wurde. (Anders KELLER 648 f.) 15 § 55 ,at enim oppugnatum me fortasse venissent.' . . . Uli oppugnatum venturi erant? quem? ,Fabium.' quo consilio? ,ut occiderent.'

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rechtfertigen könne1". Hier ließ sich mit dem Naturrecht argumentieren 17 , und es ließ sich dartun, daß in bestimmten Fällen das positive Recht, die lex scripta, die Tötung eines Menschen erlaube. Quinctius brachte Beispiele aus den XII tabulae18 und den leges sacratae (§§ 47-51). Aber Quinctius wollte auch in seinem eigenen Fall das geschriebene Recht auf seiner Seite haben. Er berief sich dabei auf den Ausdruck DOLVS MALVS in der Formel: QVANTAE PECVNIAE PARET DOLO MALO FAMILIAE P. FABI... DAMNVM DATVM ESSE ... (vgl. § 33 nam in dolo malo volunt delitiscere). Zweifellos interpretierte er dabei DOLO MALO im Sinne eines „Willens zur Schädigung", was der alten Bedeutung durchaus entspricht 1 ': Es sei klar, daß bei einem Handeln aus Notwehr ein solcher dolus malus nicht vorliegen könne". Wenn er darüber hinaus vorbrachte ( § 3 5 ) . . . nihil posse dolo malo familiae fieri, so meinte er damit ganz sicher nicht, wie Cicero ihn deuten will, daß die Formel überhaupt sinnlos sei21. Hier leitet uns Cicero selbst zum richtigen Verständnis an, wenn er darlegt (§§ 26-33), daß die Einfügung des Ausdrucks DOLO MALO in Rechtstexten (wie den inter dicta de vi: § 29) vor allem den Zweck habe, auch die mittelbare Täterschaft zu erfassen: Der Anstifter eines Verbrechens müßte ja straflos ausgehen, wenn ein Gesetz (oder eine Formel usw.) nur das Tun an sich bezeichnen würde und nicht auch die Anstiftung zum Tun. In der Tat war dies in spätrepublikanischer Zeit die vorherrschende Bedeutung von DOLO MALO; vergleichen läßt sich etwa die

" Ein selbstverständlich auch von den römischen Juristen anerkannter Rechtsgrundsatz; vgl. MOMMSEN, Straf recht 620 f.; KÄSER, Privatrecht I 2 505; Th. MEYERMALY, RE IX A 1 (1961) 315-318. Als rednerischer Topos schon bei Demosthenes (Aristocr. 74 f., nachgeahmt von Cie. Mil. 8 ff., vgl. WEISCHE 90). Zur in Notwehr erfolgten „Sachbeschädigung" (um die es in unserem Fall, streng genommen, geht) vgl. Paul. Dig. 9, 2, 45, 4. 17 Ciceros Argumentation in § 52 setzt diese gegnerische Berufung auf das Naturrecht voraus; die einschlägige Topik in Cie. Mil. 10: est igitur haec . . . non scripta, sed nata lex . . . etc. Über die Kunst, den αγραφος νόμος gegen den γεγραμμένος auszuspielen: Arist. rhet. 1374 A 18 ff., 1375 A 27 ff., vgl. auch Anaxim. rhet. 1, 7. 18 Ebenso Cie. Mil. 9. Die Übereinstimmung zwischen Tulliana und Miloniana zeigt, daß hier eine feste Topik vorliegen muß. In den Rhetoriken (vgl. oben Anm. 17) ist von ihr allerdings nur wenig die Rede. 19 Vgl. BROGGINI 381-383, KÄSER, Privatrecht I 2 504 ff., A. PERNICE, M. A. Labeo, II 1, Halle 21895, 134 ff. 20 Hier kommt in die Beweisführung ein dritter Status herein, aus dem genus legale (bzw. der controversia scripti: Cie. inv. 1, 17; 2, 116 ff., LAUSBERG §§ 198 ff.), und zwar die controversia ex ambiguo (Cie. inv. 2, 116-121, rhet. Her. 1, 20; 2, 16; Quint, inst. 7, 9, VOLKMANN 90 f , MATTHES 185, LAUSBERG §§ 222 f.), die ihrerseits mit dem Definitions-Status sachlich eng verwandt ist (vgl. Quint, inst. 7, 10, 1). Vgl. unten Anm. 29, 33, 38. 21 § 35 nam si venit id in indicium de familia quod omnino familia nulla potest committere, nullum est iudicium . .. (Vgl. KELLER 636 f.) Ciceros Auslegung ist akzeptiert von BROGGINI (S. 383); vgl. auch ROBY II 506 f. und HUSCHKE z. St.

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lex Cornelia de sicariisi [QVI] HOMINEM ... OCCIDERIT CVIVSVE ID DOLO MALO FACTVM ERIT.. ,22 In diesem Sinn, konnte Quinctius sagen, kann h i e r DOLO MALO nicht gemeint sein; denn die familia ist ja doch identisch mit den homines armati coactive der Formel, mit anderen Worten: Sie ist notwendig unmittelbarer Täter - nihil posse dolo malo familiae fieri23. Haben also die Worte der Formel einen Sinn, dann kann es nur der sein, daß ein „unwillentliches" Handeln - unter Zwang oder aus Versehen - durch die Formel nicht getroffen sein soll. Allerdings scheint Quinctius auch behauptet zu haben, daß die Formel nicht gerade glücklich „formuliert" sei, denn Cicero berichtet (§ 38), daß der Verteidiger schon bei der Verhandlung in iure die Einführung des Wörtchens INIVRIA gefordert habe und daß er sich jetzt apud iudicem über die iniquitas des Prätors beschwere, der ihm diesen Gefallen nicht habe tun wollen. Der Gedanke muß der gewesen sein: Es wäre besser gewesen, den schillernden Ausdruck DOLO MALO in unserem Falle (wo eine mittelbare Täterschaft nicht in Frage kommt) durch das eindeutigere INIVRIA zu ergänzen, um so einer schikanösen Auslegung durch den Kläger vorzubeugen. Da nun aber einmal nur DOLO MALO dasteht, kann es auch nichts anderes besagen, als wenn es von INIVRIA begleitet wäre. Denn wer nicht iniuria handelt, kann auch nicht dolo malo handeln („in der Absicht der Schädigung"). Hier hatte Quinctius ganz einfach recht. Mit Gaius zu reden (Dig. 50, 17, 55): nullus videtur dolo facere, qui suo iure utitur2*. Die Rede des Quinctius muß demnach zweigeteilt gewesen sein. In dem einen Teil (1) zeigte er, daß in der Tat Notwehr vorgelegen habe, im anderen (2), daß eine solche Notwehr nicht nur (a) nach dem Naturrecht, sondern (b) nach der Weitere Beispiele bei PERNICE (s. oben Anm. 19) II 1, 142 f., EBERT 47 f. Dagegen muß Cicero den Fall, daß eine familia bewaffnete Banden anwirbt, als etwas ganz Gewöhnliches hinstellen! ( § 2 7 id quia poterat fieri et facile poterat...) EBERT (S. 70) nennt dies mit Recht „konstruiert und lebensfremd" (vgl. schon KELLER 636-638): Er erschließt in scharfsinniger Analyse der Formel unseres Prozesses eine Primärformel für das Edikt, in der DOLO MALO eine mittelbare Täterschaft des Beklagten selbst (natürlich nicht der familial) erfassen soll (S. 69-71). Seine Rekonstruktion des ursprünglichen Edikts (vereinfacht): in eum, cuius dolo malo vi hominibus armatis coactisve damni quid datum esse dicetur, . .. iudicium recuperatorium dabo, item si familia fecisse dicetur, in dominum iudicium noxiale dabo. S. 62: „Nimmt man eine solche Primärformel an, dann erklärt sich die Struktur der familiaFormel zwanglos als Nachbildung der Primärformel." (Nicht recht überzeugend dagegen BALZARINI, Ricerche 43 A. 9; vgl. auch EBERT, ZRG 88, 1971, 457.) - Übrigens läßt sich aus dem Zitat „nihil posse dolo malo familiae fieri" schließen, daß Cicero seine Interpretation der Formel bzw. des in ihr enthaltenen DOLO MALO bereits in der ersten actio vorgetragen haben muß, daß er sich jedenfalls nicht so ausschließlich, wie dies nach den §§ 1 f. schiene, auf den Nachweis der erfolgten Tötung beschränkt haben kann. 24 Zum Zusammenhang von iniuria und dolus vgl. auch Ulp. Dig. 47, 10, 3, 1: sane sunt quidam qui facere non possunt [sc. iniuriam], ut puta furiosus et impubes, qui doli capax non est. 22

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Prozeßformel straflos sein müßte". Die natürliche Weise der Entgegnung wäre nun zweifellos die gewesen, zunächst die Version des Gegners bezüglich der Ereignisse zu widerlegen und darauf die Rechtslage zu untersuchen, also: (1) Was ist geschehen? (2) Ist Fabius demnach schuldig? Cicero will diesen Weg nicht gehen: Er zeigt zunächst (§§ 1-36), daß Fabius unter allen Umständen schuldig sein müsse, sofern nur die vis hominibus coactis armatisve zugestanden sei. Er widersetzt sich dann in einem zweiten Teil (§§ 37 ff.) der Behauptung des Gegners, die familia Fabii habe nicht iniuria gehandelt. Und erst ganz am Ende der uns erhaltenen Rede (§§ 53-56) wird die eigentliche Tatfrage aufgeworfen. Da wir die Sachlage nicht ausreichend kennen, müssen wir darauf verzichten, diese Disposition aus der Natur der causa herzuleiten. Aber der umgekehrte Schluß darf hier einmal wenigstens als Vermutung gewagt werden. Wenn Cicero so angelegentlich versucht, die Tatfrage zurückzudrängen und als unwesentlich hinzustellen, dann scheint die von Quinctius behauptete Notwehr nicht eben schlecht begründet gewesen zu sein26. Das prooemmm (§§ 1-6) hat vor allem die Aufgabe, den status controversiae in der für Ciceros Absicht günstigen Weise zu fixieren. Während es für Quinctius darauf ankam, im status coniecturalis die Richtigkeit seiner Version zu erweisen („Tötung in Notwehr"), will Cicero diesen status als nebensächlich erscheinen lassen: „Der Gegner hat gestanden, wenn auch ungern: Tatfragen stehen nicht mehr zur Debatte." 27 Damit sind die Weichen gestellt für die argumentatio, welche in ihrem Hauptteil einem Auslegungsproblem gewidmet ist (controversia scripti): Was bedeutet DOLO MALO? Dann muß nun freilich die narratio Cicero Schwierigkeiten machen. Denn in ihr kommt ja die Frage nach den wirklichen Ereignissen jener Nacht mit Notwendigkeit zur Sprache, also eben das, was Cicero als angeblich geklärt gar nicht mehr behandeln will. Wir haben hier somit den interessanten Fall vor uns, daß die traditionelle, schulmäßige Abfolge der Redeteile in einen gewissen Widerstreit mit dem taktischen Plan des Redners gerät. Cicero läßt die herkömmliche Anordnung dennoch bestehen, und er begegnet den mit ihr Mit dieser Rekonstruktion befinde ich mich, was das Wichtigste betrifft, ein Einklang mit KELLER, BROGGINI und EBERT. (KELLERs geistsprühende Nachdichtung der Quinctius-Rede [S. 630-652] hält sich allerdings zu stark an die Disposition Ciceros.) Sicherlich unrichtig COSTA, Cie. giurec. I 149: Quinctius berufe sich darauf, daß die familia ohne Wissen und Willen des Fabius gehandelt habe; mißverständlich BÜCHNER 123. 2e So urteilt auch BROGGINI (S. 393): „ . . . bisogna pur dire che, normalmente, questa έ la tattica di chi non ha intera fiducia nell' ultima trincea." 27 Man sieht leicht, daß § 1 eine Reprise aus Pro Caecina darstellt (vgl. schon HUSCHKE z. St.): „In der ersten actio wollte ich nachweisen, daß der Beklagte die Tat getan hat. Nachdem er die Fakten hat zugeben müssen, sucht er sich jetzt in den anderen status zu retten." Aber die Übereinstimmung geht nur so weit, daß in beiden Reden die Sache als „praktisch schon entschieden" hingestellt wird; neu ist in Pro Tullio die Absicht, den status causae zu verwirren. 25

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gegebenen Schwierigkeiten in doppelter Weise. (1) Die narratio selbst besteht weniger in einer Darlegung der unmittelbar zur Sache gehörigen Ereignisse als vielmehr ihrer Vor- und Nachgeschichte. Trotz des lückenhaften Zustandes der Überlieferung lassen sich die Maßverhältnisse z . T . noch überblicken: In 67 Zeilen (gezählt nach der Oxford-Ausgabe 2 8 ) wird die Vorgeschichte behandelt (§§ 14-20), nur ganze zehn Zeilen sind der fraglichen Nacht und dem angerichteten Blutbad gewidmet (§21) - über die Ausführlichkeit, mit der das Folgende dargestellt war, können wir dann leider nichts mehr sagen, ebenso wenig darüber, w i e Cicero im einzelnen die Vorgeschichte erzählt hat. Klar ist, daß Fabius von vornherein in ein schlechtes Licht gerückt werden sollte. Dem Einwand, daß er damit von der Sache ablenken wolle, beugt Cicero schon im prooemium vor (§§ 3-5): Auch Quinctius habe sich bösartig de vita et moribus et existimatione M. Tulli geäußert; Cicero vergilt also nur Gleiches mit Gleichem 29 . (2) Dieselbe Absicht, die den Redner bei dieser Gestaltung der narratio selbst leitet, führt ihn auch dazu, schon vor der narratio einen Exkurs zur Rechtsfrage einzuschieben (§§ 7-12) 30 . Cicero nimmt hier einen wichtigen Punkt seiner späteren Beweisführung vorweg (§§ 38—43)31: Es könne in diesem Prozeß nicht darum gehen, ob die Sklaven des Fabius „zu Unrecht" (iniuria) gehandelt hätten, da ja die Formel des Prozesses im Gegensatz zur lex Aquilia das Wörtchen INIVRIA nicht enthalte 32 . Um nämlich dem überhandnehmenden Bandenunwesen effektvoll zu steuern, habe der Prätor seinerzeit absichtlich diese Einschränkung weggelassen 33 . Auch hiermit sucht Cicero die Aufmerksamkeit der Richter von dem unangenehmen Punkt der narratio abzuziehen: Wenn es von vornherein klar ist, daß nach iniuria gar nicht gefragt werden muß, brauchen die Richter vom Redner keine detaillierten Aufschlüsse über die fragliche Nacht zu erwarten. Die §§ 7-23 (digressio und narratio)

28

Ich setze jeweils drei Zeilen im Turiner Palimpsest mit einer Oxford-Zeile gleich (der ungefähren Angabe C L A R K s [zu § 11] entsprechend). 2 · Dies ist eine seit je beliebte Methode, um die Behandlung ungünstiger Punkte aufzuschieben; vgl. bes. Dem. cor. 9 und oben S. 142 zu Cie. Q. Rose. 2 7 - 3 1 . 30 D e n Anknüpfungspunkt für diese digressio bietet der Wortlaut der Formel (§ 7), die somit schon v o r der narratio zitiert werden muß. Ihr .natürlicher' Platz ist (wie in P r o Quinctio und Pro Caecina) am Ende der narratio, denn die gewählte Form der Klage geht ja auf die in der narratio berichteten Ereignisse zurück. 31 Besonders genau entsprechen sich die §§ 10 und 41. 32 Ciceros Argumentationsweise entspricht, den Vorschriften für die controversia ex ambiguo (s. oben Anm. 20). Cie. inv. 2, 119: deinde si in lege erit ex ambiguo controversia, dare operant oportebit, ut de eo quod adversarius intellegat alia in [re] lege cautum esse doceatur. (Das sinnlose re fehlt in einem Teil der Handschriften und ist zu Recht getilgt von H . M. H U B B E L L in der Loeb-Ausg. 1949.) 33 Auch dies (s. oben Anm. 32) nach den rhetorischen Vorschriften. Cie. inv. 2, 121: deinde quo tempore scriptum sit quaerendum est, ut quid eum voluisse in eiusmodi tempore veri simile sit intellegatur, - Zur sachlichen Nichtigkeit von Ciceros Argument vgl. E B E R T 53; anders allerdings B A L Z A R I N I , in: Studi G R O S S O I 356 f.

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bilden so gewissermaßen die Struktur der argumentatio im Kleinen nach: erst die Rechtsfrage (Ist Fabius schuldig?), dann die Tatfrage (Was ist geschehen?) 34 . Wir kommen zur argumentatio selbst (§§ 24 ff.). Sie gliedert sich äußerlich in einen „sachlichen" Teil (§§ 2 4 - 3 6 ) 3 5 und einen Teil extra causam (§§ 3 7 ff.), der nach Ciceros Worten (§ 37) angefügt ist, . . . non quo ad rem pertineat, sed ne quid, quia a me praetermissum sit, pro concesso putetur. Das erinnert uns an die (wahrscheinlich spätere) Rede pro Roscio comoedo3', und in der T a t ist die Absicht hier ähnlich wie dort: Was für den Gegner das Fundament der Beweisführung war („Handeln in N o t w e h r " ) , soll als für die richterliche E n t scheidung unerheblich erscheinen 37 . Der Kern der Sache besteht nach Cicero einzig in der Interpretation der Prozeßformel, also in der Frage, ob sich die Verteidigung zu Recht auf den Ausdruck DOLO MALO berufen könne 38 . Daß Cicero hier gegenüber dem rhetorischen Schema relativ frei disponiert, hat B Ü C H N E R (S. 124) richtig gesehen. Aber die Vorwegnahme des wichtigsten Arguments findet sich auch schon in der Rede pro Roscio Amerino (vgl. oben S. 68 f.). 35 Dieser erste Teil wird angekündigt durch eine propositio, zu der, wie schon von P E Y R O N gesehen, die von Victorinus (p. 209 HALM) mitgeteilten Zitate gehören. (Die neueren Herausgeber drucken sie unbegreiflicherweise als incertae sedis am Ende der Rede ab.) Mart. Cap. 5, 556 (p. 488 HALM), was als weiteres Fragment angeführt zu werden pflegt, kann meines Erachtens nur eine freie Paraphrase des von Victorinus übermittelten originalen Wortlauts darstellen (vgl. schon BEIER, S. 1 f.): damnum passum esse M. Tullium convenit mihi cum adversario; vi hominibus armatis rem gestam esse non infitiantur; a familia P. Fabi commissam negare non audent; an dolo malo factum sit ambigitur. Dies bietet sachlich gegenüber Victorinus nichts Neues, und die Formulierung ist sprachlich anstößig: an zur Einleitung der indirekten Frage gebraucht Cicero, wenn ich recht sehe, sonst nur in den bekannten Verbindungen dubito an, haud scio (nescio) an, incertum est an (jeweils in der Bedeutung „vielleicht"); die zwei für quaerere an in Anspruch genommenen Belege (VOLLMER, Th. 1. L. II 9, Z. 5: Cie. Verr. II 4, 27; Cael. ap. Cie. epist. 8, 8, 1) sind beide unsicher überliefert, und in or. fr. X I V 7 SCHOELL (ac vide an facile fieri tu potueris . . .) mag ein kleines Versehen des oft ungenau zitierenden Quintilian (inst. 5, 10, 92) vorliegen. (In Quintilians Sprachgebrauch ist ein solches an natürlich ganz gewöhnlich.) Da schließlich auch die Verbindung damnum pati nicht ciceronisch zu sein scheint (sie ist häufig bei Späteren, vgl. BÖGEL, Th. 1. L. V I , 30, 62 ff.; Cicero gebraucht in unserer Rede stets den technischen Ausdruck der lex Aquilia·. damnum datur alicui), muß unser „Zitat" aller Wahrscheinlichkeit nach von den Fragmenten zu den Testimonien überwiesen werden. Martianus Capeila gibt auch sonst zuweilen Paraphrasen statt Zitate; vgl. 5, 487, p. 467 HALM (= Verr. II 3, 214) und 5, 495, p. 469 HALM (= Verr. II 1, 127), wo die Paraphrase nicht einmal sinngemäß richtig ist. (Anders H U S C H K E zu § 23, der dazu neigt, den Wortlaut bei Mart. Cap. gegenüber Victorinus für den originalen zu halten.) 30 Vgl. S. 139 und den Exkurs S. 157. (Hinweis auf die Ähnlichkeit schon bei KELLER 621.) 37 Dies hat schon H U B E R T (S. 631 f.) richtig gesehen. 38 Technisch gesprochen: Cicero behandelt das Problem, als handle es sich ausschließlich um eine controversia des genus legale. Insofern hat V O L K M A N N recht, wenn

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Während Quinctius restriktiv interpretierte (nicht jedes damnum ist ein damnum dolo malo datum), will Cicero den Ausdruck im Sinne einer den Kläger begünstigenden Extensivierung verstehen (§ 26): at istuc totum DOLO MALO additur in hoc iudicio eius causa qui agit, non illius quicum agitur. Sinn der Einfügung sei es nur, auch Fälle mittelbarer Täterschaft zu erfassen ( § 3 3 ) : .. . in dolo malo volunt delitiscere, in quo non modo cum omnia ipsi fecerunt quae fatentur, verum etiam si per alios id fecissent haererent ac tenerentur. D a ß diese Auslegung an sich einseitig und schief ist, wird heute von den juristischen Erklärern durchweg zugestanden 39 . Es liegt vor allem an Ciceros Disposition, wenn sie im Zusammenhang der Rede dennoch einigermaßen plausibel wirkt. Denn dadurch, daß Cicero die Frage nach den wirklichen Ereignissen zurückstellt (und sie auch in der narratio nur ganz summarisch behandelt), kann er aus der Diskussion des Ausdrucks DOLO MALO den Gedanken an N o t w e h r heraushalten. Geht man vom natürlichen Recht auf Selbstverteidigung und einer entsprechenden Darstellung der Ereignisse aus, so läßt es sich leicht wahrscheinlich machen, daß durch DOLO MALO Fälle von Notwehr ausgeschlossen sein sollen. Läßt man dagegen den Gedanken an Notwehr, wie Cicero es tut, gar nicht erst ins Bewußtsein kommen, so wirkt die extensivierende Auslegung recht überzeugend 40 . In anderen juristischen Texten wie den von Cicero angeführten interdicta de vi (§§ 29 f.) 41 ist in der Tat nur diese Auslegung möglich.

er unsere Rede hierher rechnet (S. 92); irrig ist nur seine Zuweisung gerade zur controversia scripti et voluntatis (wegen Fortunat, p. 107 HALM?), richtig: controversia ex ambiguo (vgl. oben die Anm. 20, 32, 33). Auch von einem Definitions-Status ließe sich sprechen (vgl. oben Anm. 20); insoweit richtig METTE, S. 20 (gegen seine Auffassung von Ciceros Argumentation vgl. aber EBERT 51). s · EBERT 52: „...geschieht das nur, um von der seinem Mandanten ungünstigen Bedeutung des dolo malo abzulenken", vgl. HUSCHKE zu § 27 (dessen Interpretation von DOLO MALO, wie EBERT zeigt, nicht minder einseitig ist als die Ciceros), KELLER 630 f., 634-636, WLASSAK 114, Anm. 22, SCHMIDLIN 46 und 47 Anm. 3, BROGGINI 385, F U H R M A N N 213 und oben S. 163. Vgl. immerhin auch BALZARINI, in: Studi GROSSO I 350-352. 40 Raffiniert ist es, wie Cicero nebenbei a u c h mit der von Quinctius angesetzten restriktiven Bedeutung von DOLO MALO arbeitet. Diese ist deutlich vorausgesetzt in den §§ 32 und 34, in denen Cicero den dolus malus im occultum consilium der Sklaven sieht (ebenso auch schon in § 25). Darin liegt, wo die Ereignisse ja noch gar nicht diskutiert sind, natürlich eine petitio principii, offenbar berechnet auf die Richter, die, ihrem Sprachgefühl entsprechend, in DOLO MALO die „Absichtlichkeit" mithören. Die §§ 31-34 mit ihrem zweimaligen Wechsel der vorausgesetzten Wortbedeutung haben so etwas eigentümlich Schillerndes. 41 § 2 9 VNDE DOLO MALO TVO ... M. CLAVDIVS ... VI DETRVSVS EST. Hier wird durch DOLO MALO die Aufzählung der möglichen unmittelbaren Täter ersetzt (s. dazu EBERT 57 f.). - Auf die §§ 29 ff. bezieht sich, wie schon SCHOELL erkannt und nur allzu zaghaft behauptet hat (s. seine Note zu § 29), was Fortunatianus (p. 107 HALM) schreibt: cum exemplo multarum legum probamus praesentem quoque

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Der „Hauptteil" der argumentatio wird beschlossen durch eine Widerlegung der gegnerischen Argumente. Wir kennen davon nur den Anfang (§§ 35 f.) 42 , können aber mit Sicherheit sagen, daß der Hauptgedanke des Quinctius, wonach man DOLO MALO im Sinne von INIVRIA zu interpretieren hätte, hier nicht zur Sprache kam. Denn dies ist ja ein Gedanke, den Cicero erst innerhalb des zweiten „außersachlichen" Teils (§§ 37 ff.) zu widerlegen sucht ( § 3 8 ) : dicis oportere quaeri, homines M.Tulli iniuria occisi sint necne. Der einheitliche Gedanke ist damit zerrissen. Quinctius konnte daraus, daß das Wort INIVRIA in der Formel fehle, den Schluß ziehen, daß man DOLO MALO in diesem Sinn zu interpretieren habe43. Cicero interpretiert zunächst DOLO MALO auf seine Art und weist nun triumphierend darauf hin, daß in der Formel nichts von „Unrecht" gesagt sei44. Der schon vor der narratio entwickelte Gedanke, daß der Prätor eine solche Einschränkung absichtlich weggelassen habe, um dem Übeltäter jede Ausflucht zu nehmen, wird nun in Breite ausgeführt (§§ 37-46). Außer diesem Abschnitt, der den zweiten Teil der Beweisführung einleitet und zugleich in seiner Bedeutung abwertet, sind uns aus diesem Teil nur noch zwei größere Bruchstücke erhalten. Sie genügen glücklicherweise, um die Disposition des Rests wenigstens erraten zu lassen. In dem einen - nach der üblichen Zählung: den § § 4 7 - 5 1 - wendet sich Cicero gegen den Beweiswert der von Quinctius beigebrachten Analogien: „In bestimmten Fällen gestattet sogar das Gesetz die Tötung." In den Zusammenhang dieser Auseinandersetzung gehört auch, was zu Unrecht bestritten wurde45, ein beim Rhetor Julius Rufinianus legem ita sentire ut nos defendimus, sicut M. Tullius fecit pro M. Tullio et pro A. Cae-

cina. Da der neueste Herausgeber dies nun wieder als Testimonium für einen verlorenen Teil der Rede abdruckt, sei nachdrücklich darauf hingewiesen, daß lex nach rhetorischem Sprachgebrauch in diesem Zusammenhang nicht nur das „Gesetz" im engeren Sinn, sondern per synecdocheη den nach Auslegung verlangenden gesetzesähnlichen Rechtstext überhaupt meint; vgl. etwa Cie. inv. 2, 129 ff., Quint, inst. 7, 6, 7 und Fortunatian selbst, der (an der zitierten Stelle) lex fast als Synonym zu scrip-

tum gebraucht: scripti et voluntatis [sc. status] quot locis [sc. dividitur]? novem: propositione scripti, deduetione generis ad speciem, voluntate legis... Zum Sprachgebrauch selbst der Juristen s. S C H O E L L a. O. Auch in Pro Caecina, auf welche Rede Fortunatian verweist, geht es um die Auslegung nicht eines eigentlichen Gesetzes, sondern eines Interdikts. 42 S. dazu oben S. 163. 43 Vgl. K E L L E R 642 f., R O B Y II 506, S C H M I D L I N 47 Anm. 3. 44 Vgl. B R O G G I N I 387 und schon K E L L E R 624 f. 45 H U B E R T (S. 632), gefolgt von S C H O E L L in der Teubneriana, will das Fragment in den Gedankengang der §§ 3 8 - 4 6 einordnen, stellt es also ν ο r § 47 (gegen P E Y R O N , B E I E R , H U S C H K E , C L A R K ) . Aber es ist doch wohl evident, daß das XII-Tafelgesetz in § 47 als etwas Neues eingeführt wird, wogegen es in § 52 als schon zitiert vorausgesetzt ist. Außerdem zeigt schon die Miloniana (vgl. oben die Anm. 1 6 - 1 8 ) , daß die Argumentation über das Naturrecht in Sachen „Selbstverteidigung" zusammengehört mit der über ähnliche Gesetze, in denen dieses Naturrecht seinen schriftlichen Niederschlag gefunden haben soll.

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überliefertes Fragment („§ 52"), wo Cicero gerade am Beispiel eines von Quinctius zitierten XII-Tafelgesetzes zeigt, daß es eben eines speziellen ius constitutum bedürfe, um die Tötung eines Menschen zu rechtfertigen. Das zweite Fragment, die §§ 53-56, bringt ein Stück aus der Erörterung der eigentlichen Ereignisse. Cicero argumentiert hier gegen Behauptungen des Gegners, die sich schrittweise steigern: (1) Fabius behauptet, das Grundstück habe ihm gehört, (2) Fabius behauptet, ein Sklave von ihm sei verschwunden und seine Hütte sei angezündet worden, (3) Fabius behauptet, die Sklaven des Tullius hätten ihn selbst angreifen wollen. Die beiden ersten Behauptungen erklärt Cicero für unrichtig; sie würden aber, auch wenn sie richtig wären, das Verhalten der Sklaven des Fabius nicht rechtfertigen. Beim dritten - und sachlich entscheidenden - Punkt handle es sich um reine Spekulation. Die Frage ist: Wie sind diese beiden Fragmente relativ zueinander anzuordnen? P E Y R O N , H U S C H K E und mit ihnen die späteren Editoren bis C L A R K (1911) druckten sie in der Reihenfolge, in der wir sie eben referiert haben. Kurt H U B E R T dagegen (1913) wollte sie umstellen, und ihm ist S C H O E L L in der Teubneriana gefolgt (1921): „Das Naturgemäße ist, daß zuerst die Tatsachen, dann erst die angeblichen Analogien behandelt werden." 46 Wir können dem leicht entgegnen: Wenn Cicero die „naturgemäße" Anordnung hätte wählen wollen, dann hätte er ja die Tatsachen unmittelbar nach der narratio diskutieren müssen. Da nun aber schon, wie wir sahen, die Zweiteilung der argumentatio überhaupt den Zweck hatte, die Frage nach den Ereignissen zurückzudrängen, ist es durchaus möglich, daß Cicero diese Taktik auch wiederum innerhalb des zweiten Teils selbst anwendet. Beweisend scheint mir § 55: ,at enim oppugnatum me fortasse venissent.' ha.ec est illorum in causa perdita e χ t r e m a non oratio neque defensio, sed coniectura et quasi divinatio. Schon die Tatsache, daß Cicero hier von der „letzten" Ausflucht des Gegners spricht, weist darauf hin, daß wir uns auch im letzten Teil der argumentatio befinden; und diese Wahrscheinlichkeit wird praktisch zur Gewißheit, wenn wir feststellen, daß der angeführte Satz fast wörtlich übereinstimmt mit den Sätzen, die am Ende der argumentatio von Pro Caecina und Pro Roscio comoedo die Behandlung gerade der Frage einleiten, die für die gegnerische Darlegung fundamental gewesen war: „Nachdem die Sache schon verloren ist, kommt man endlich noch mit dieser Ausflucht.. Damit können wir wenigstens in groben Zügen den Aufbau der argumentatio überschauen. Ganz ähnlich wie in Pro Roscio comoedo48 versucht Cicero den springenden Punkt an das Ende der Beweisführung zu drängen. Er behandelt die Frage, ob dolus malus vorliege, unabhängig von der Frage, ob eine Notwehrsituation vorhanden gewesen sei. Dies ergibt die Einteilung der Rede H U B E R T 633. Die späteren Herausgeber (DE LA V I L L E D E M I R M O N T und G A R U T I ) sind zur alten Anordnung zurückgekehrt, ohne aber begründeten Widerspruch gegen H U B E R T zu erheben (vgl. auch B R O G G I N I 376). 47 Vgl. oben S. 98 und S. 145. 48 Vgl. oben S. 146. 46

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in einen „sachlichen" Teil (§§ 2 4 - 3 6 Beweisziel: dolus malus liegt vor) und einen „außersachlichen" Anhang (§§ 3 7 - 5 6 Beweisziel: auch iniuria liegt vor). Aber auch in diesem zweiten Teil vermeidet es Cicero, sogleich auf die Ereignisse einzugehen: Bevor er die entscheidende Frage erörtert, ob das Verhalten der Sklaven unter iniuria falle (§§ 53 ff.), legt er zunächst dar, daß nach iniuria überhaupt nicht gefragt werden dürfe (§§ 3 8 - 5 2 ) , weil der Prätor dieses Wort aus der Formel absichtlich weggelassen habe (§§ 3 8 - 4 6 ) und weil die angeblichen Analogien anderer Gesetze nicht zuträfen (§§ 4 7 - 5 2 ) . Wir haben somit, wenn auch in einfacherer Form, dasselbe Schema wie in Pro Roscio comoedo, das auch schon (noch einfacher) der Rede pro Caecina zugrunde lag: Gesamtproblem

I [24-36]

causa ipsa:

II [37-56]

/extra

causam:

Liegt dolus malus vor? / Liegt iniuria vor? \ \ \ \ \ I I a [37-52] I I b [53-56] Darf nach iniuria Haben die Sklaven des gefragt werden? Fabius in Notwehr gehandelt? Durch dieses aufschiebende Verfahren soll die Aufmerksamkeit des Hörers sukzessive vermindert werden, bis sie gerade an der für die Beweisführung des Gegners entscheidenden Stelle ihren Tiefpunkt erreicht. Wenn nachgewiesen ist, daß dolus malus vorliegt (I), so ist der Nachweis der iniuria ( I I ) streng genommen überflüssig. Wenn nach iniuria überhaupt nicht gefragt werden darf (IIa), so erübrigt es sich eigentlich, die Details jener unerfreulichen Nacht noch zu erörtern. In dem Maße aber, wie durch Ciceros Dispositionskunst das Interesse des Richters sinken soll, steigt die sachliche Bedeutung; und wir müssen als kritische Leser die ciceronische Anordnung nur einmal in Gedanken umkehren, um ihre Künstlichkeit zu durchschauen. Kann man nämlich nachweisen, daß die Sklaven des Fabius in Notwehr gehandelt haben (IIb), so scheint die Behauptung, daß man nur der Formel wegen überhaupt nicht nach ius und iniuria fragen dürfe (IIa), ziemlich unbillig. Macht aber der Verteidiger zu Recht geltend, daß die Tat non iniuria erfolgt sei (II), dann muß es dem Richter auch einleuchten, daß der Ausdruck DOLO MALO hier wie öfter den Sinn hat, absichtliche vis von einer durch die Umstände erzwungenen und

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damit rechtmäßigen Gewaltanwendung zu unterscheiden (I). Es kommt nur darauf an, wo man mit der Beweiskette beginnt. Falls die Sklaven des Tullius in jener N a c h t tatsächlich die Angreifer waren, dann hat Cicero durch die Disposition seiner argumentatio aus einer ziemlich bösen Rechtslage für seinen Klienten das Äußerste herausgeholt. Die Rede pro Tullio stellt ,formgeschichtlich' eine A r t Zwischenstück zwischen der (wahrscheinlich) früheren Rede pro Caecina49 und der (wahrscheinlich) späteren pro Roscio comoedo dar. Mit der Rosciana verbindet sie die relativ komplizierte Struktur der Beweisführung, in der durch eine A r t dihäretischer Technik das punctum saliens des Gegners immer wieder zurückgestellt wird; mit der Rede pro Caecina wiederum stimmt sie darin überein, daß auch in ihr noch eine selbständige narratio vor die argumentatio gesetzt wird, statt Zur relativen Chronologie der Reden: NICOSIA 144 ff. (vgl. 97 ff.). Einen Beweis für die Priorität von Pro Tullio hatte man früher in Cie. Caec. 49 gesehen: poterisne dicere deiectum .. .? detrusum dicesne? nam eo verbo ante a praetores in hoc interdicto uti solebant. Womit man verglich Tull. 29: videtis praetores per hos annos interdicere [intercedere T] hoc modo .. ..· VNDE DOLO MALO TUO, M. TULLI, M. CLAVDIUS AVT FAMI LI A AVT PROCVRATOR EIVS VI DETRVSVS EST. Z. Z. von Pro Tullio müsse also diejenige Interdiktformel noch in Gebrauch sein, die in Pro Caecina als abgeschafft bezeichnet werde. NICOSIAs Argumentation gegen diese Ansicht kann ich allerdings nicht für richtig halten. Er glaubt, Tull. 29 entnehmen zu dürfen, daß im Augenblick von Ciceros Rede die VNDE-DOLO-MALO-Formel schon nicht mehr gebraucht werde (S. 99 f.). Dem widerspricht aber sowohl der präsentische Infinitiv interdicere wie auch die Tempusgebung in dem folgenden Gedankenexperiment: si, ttbi [sicut T] ita interdictum est et sponsio facta, ego me ad iudicem sic [it Τ] defendam, (ut) vi me deiecisse confitear, dolo malo negem, ecquis [ei quis T] me audiat? usw. Mit per hos annos muß also gemeint sein: „heute wie in den jüngst vergangenen Jahren". Vergebens beruft sich NICOSIA auf das eine Praeteritum am Ende von § 30: nam in hoc posteriore, nisi ipse egomet deiecissem, vincerem sponsionem; in illo priore, ubi dolus malus additur, sive consilium inissem, sive ipse deiecissem, necesse erat te dolo malo meo vi deiectum iudicari. Nach dem Ausweis des Zusammenhangs kann das Imperfekt hier nur bedingt sein durch die Reihenfolge der Darstellung, was sich übrigens auch im Deutschen nachahmen läßt: „Bei d i e s e m (jetzt eben erwähnten) Interdikt würde ich meine Prozeßwette gewinnen, wenn ich nicht in eigener Person dejiziert hätte. Bei j e n e m aber (dem früher genannten), wo die Worte dolus malus hinzukommen, hätte man unter allen Umständen urteilen müssen {necesse erat), daß du dolo malo dejiziert worden seist, ob ich nun nur den Plan gefaßt oder in eigener Person dejiziert hätte." Dennoch glaube ich nicht, daß die Datierung NICOSIAs durch Caec. 49 ernstlich gefährdet wird. Caec. 49 bezieht sich doch auf das Interdikt de vi armata, Tull. 29 auf das gewöhnliche Interdikt de vi. Durchaus kann sich in letzterem ein detrudere erhalten haben, welches im anderen schon früher durch deicere ersetzt war. Der Vokabelgebrauch muß sich ja nicht in beiden Interdikten gleichzeitig ändern: Tull. 44 zeigt, daß es auch für das gewöhnliche Gewaltinterdikt ζ. Z. der Rede eine zweite Formel gab, in der deicere, nicht detrudere gebraucht wurde. (Zum offenbaren Nebeneinander dieser beiden Formeln vgl. NICOSIA 102.) 49

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daß, wie dies in der Rosciana wahrscheinlich (zu einem guten Teil sogar sicher) der Fall ist, die Fakten nur Stück für Stück an der jeweils einschlägigen Stelle der argumentatio vorgestellt würden50. Man kann wenigstens vermuten, daß diese freiere Art der Disposition auch in Pro Tullio das Geschickteste gewesen wäre (was man für Pro Caecina nicht sagen kann): So knapp die narratio im entscheidenden Punkt (§21) auch ist, die Richter müssen hier ja doch an die zuvor von Quinctius vorgetragene Notwehr-Version erinnert werden, und dies kann für die Überzeugungskraft des zur Erklärung von DOLO MALO vorgetragenen Interpretationskunststücks nicht eben förderlich sein. Cicero hat, wie wir gesehen haben51, aus der Sache das Beste gemacht, indem er eine Art Resümee seiner späteren argumentatio schon v o r die narratio gesetzt hat: Die Richter bekommen so gewissermaßen zweimal dieselbe Rede zu hören.

50 51

Vgl. oben S. 137. Vgl. oben S. 166 f.

9

Die Rede gegen Q. Caecilius Niger (70 v. Chr.) 1

Wir stehen am Beginn des Jahres 70. Die Zeit der sullanischen Restauration und der unbeschränkten Senatsherrschaft geht ihrem Ende zu. Es sieht aus, als würden die beiden neuen, populären Konsuln Pompeius und Crassus das Volkstribunat wiederherstellen und den römischen Rittern ihren Anteil an der Gerichtsbarkeit zurückgeben 2 . D a ist es wie ein Sinnbild der zu erwartenden politischen Wende, daß der sizilische Proprätor C. Verres, offenbar ein nobles Musterstück senatorisch-reaktionärer Korruption, aus seiner Provinz heimgekehrt ist und sine imperio für einen Repetundenprozeß zur Verfügung steht. Schon am Ende des Vorjahres haben Gesandte aus Sizilien bewegte Klage über ihren Ausbeuter geführt; nun fehlt es nicht an Männern, die in diesem spektakulären Prozeß als Ankläger auftreten möchten (obwohl die Verteidigung von keinem Geringeren als Hortensius geführt werden soll). Es bewerben sich beim Repetundenprätor (neben einer Reihe präsumptiver subscript ore·;3): Cicero, der in diesem J a h r für die Ädilität kandidiert 4 , und ein gewisser Q. Caecilius Niger, der unter Verres Quästor in Lilybaeum gewesen ist und sich dabei, wie er sagt, mit seinem Vorgesetzten überworfen hat. In solchen Fällen doppelter postulatio entscheidet ein vom Prätor eigens konstituiertes Kollegium in einem divinatio genannten Verfahren darüber, wem die potestas nominis deferendi und damit die tatsächliche Führung der Anklage zu übertragen sei5. Cicero spricht als erster; Caecilius entgegnet, wird aber zugunsten seines Vorredners abgewiesen, ja nicht einmal als subscriptor zugelassen®.

Textausgaben und Literatur siehe S. 311 f. Zur politischen Situation vgl. bes. M. GELZER, Pompeius, München 2 1959, 59 ff. 3 §§ 47-50, vgl. unten Anm. 30. 4 § 70, vgl. unten S. 183. 5 Zur divinatio: MOMMSEN, Strafrecht 373 f.; GREENIDGE 459 f.; HITZIG RE V 1 (1903) 1234-1236; F. SERRAO, in: Studi P. DE FRANCISCI, vol. 2, Milano 1956, 492-495; JONES 63 f.; KUNKEL, Untersuchungen 95. (KUNKEL ist die Etymologie des Namens gelungen: Die divinatio muß ursprünglich ein Gottesgericht bzw. Losorakel gewesen sein. Noch für das Sprachbewußtsein der ciceronischen Zeit ist divinare etwas, was eigentlich den Göttern zusteht, vgl. de div. 1,1 und bes. epist. 15, 15, 2). Zum richtenden Kollegium vgl. bes. FABBRI 295; zum Sinn des Verfahrens in rechtsvergleichender Sicht: R. VISCHER, AU XVII 2, 1974, 43. 6 Verr. II 1, 15; vgl. Ps. Asc. p. 186, 16 f. ST.: dicit enim Caecilius actore se accusandum esse Verrem aut α se quoque (vgl. p. 228, 16 f.). Vgl. auch div. Caec. 51: ,custodem', inquit, ,Tullio me adponite'. Daraus ist m. E. zu schließen, daß sich Caecilius 1

2

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Das Verfahren ist etwas durchaus Römisches; weder hat es eine Entsprechung in der griechischen Rechtspraxis, noch ist es berücksichtigt in der von Hause aus an griechischen Verhältnissen orientierten Redetheorie. Es geht ja hier nicht wie sonst um ein vorliegendes factum, das seiner Tatsächlichkeit oder seiner rechtlichen Qualifikation nach zu beurteilen wäre, es geht um ein in der Zukunft liegendes faciendum·. Wen soll man als den „wahrhaftigsten Ankläger* (part. or. 98 de verissimo accusatore7) zur Klageerhebung zulassen? Mit anderen Worten: Die Rede in der divinatio hat vorwiegend symbuleutischen, nicht eigentlich dikanischen Charakter 8 . Rein äußerlich drückt sich diese Besonderheit schon darin aus, daß dem Prozeß eine Beweisaufnahme fehlt; die Richter entscheiden sine testibus et sine tabulis (Ps.-Ascon. argum., p. 185 ST.), was einmal der rednerischen Erfindung reiche Möglichkeiten eröffnet, zum andern - so sollte man jedenfalls meinen - auf die Anlage der Rede nicht ohne Einfluß sein kann. Um so mehr mag man schon bei flüchtiger Lektüre von Ciceros „Divinatio" darüber staunen, wie genau er sich an das für den λόγος δικανικός entwickelte Schema hält. Auffallend ist besonders das Vorhandensein einer narratio; sie erscheint zwar nicht ganz suo loco, ist vielmehr mit dem prooemium verwoben (prooemium 1-9, narratio 2-5) 9 , aber daß sie überhaupt auftritt, ist doch bemerkenswert, da ja ein im Sinn der Prozeßrede ,erzählfähiges' Faktum hier nicht vorliegen kann. Im übrigen finden wir eine schulmäßige Abfolge der Redeteile: Der partitio (§§ 10 f.), in der wenigstens die beiden ersten Hauptteile der confirmatio angekündigt werden, folgt die argumentatio, die sich, wie von der Theorie gefordert, in einen konstruktiv beweisenden (§§ 11-47 confirmatio)

schon vor seiner Rede in diesem Sinn geäußert hat, vielleicht bei der postulatio selber (vgl. dazu auch Anm. 31). Jedenfalls scheint es unnötig, hier mit FABBRI (S. 295) und D R U M A N N / G R O E B E (V 322, Anm. 10) eine Erweiterung bei der schriftlichen Redaktion anzusetzen. 7 Zum Ausdruck vgl. § 29 und Verr. II 1 , 1 7 . . . me magna pecunia a vera accusatione esse deductum. 8 Ps.-Asconius (p. 186, 15) bestimmt den Status von Ciceros Rede als: qualitas negotiates comparativa. Die qualitas negotialis (ποιότης πραγματική) ist nach dem System des Hermogenes, auf das sich hier Ps.-Asc., wenn ich recht sehe, bezieht, ein Qualitätsstatus, bei dem der fragliche Gegenstand in der Zukunft liegt: Das läuft praktisch auf das genus deliberativum hinaus (vgl. V O L K M A N N 55). In etwas anderer Hinsicht bezeichnet Quintilian die Besonderheit des Verfahrens, indem er es einem genus comparativum zuordnet, das von den üblichen genera der Gerichtsrede (simplex oder coniunctum, nach Einzahl oder Mehrzahl der crimina) verschieden sei (inst. 3, 10, 3): cuius rei tractatus in parte causae frequens est·..} rarum est autem ut in foro iudicia propter id solum constituantur, sicut divinationes ... 9

Auf die Besonderheit war schon in der Antike hingewiesen worden; s. Ps.-Asc. zu § 2 (p. 187ST.). Vgl. auch KROLL, Rhetorik 1103; STERNKOPF 8 A. 1. Bei den attischen Rednern vgl. etwa Dem. 39, 1-5.

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und einen widerlegenden Teil (§§ 47-71 refutatio) gliedert 10 . Eine resümierende peroratio (§§ 71-73) schließt a b " . Wir verbinden die Analyse der Disposition mit der Betrachtung der Sachlage. Sowohl Cicero als auch Caecilius können für ihre Sache gute Gründe anführen. Für Cicero spricht vor allem: (1) der erklärte Wille der meisten sizilischen Gemeinden, die sich — wenigstens zum Zeitpunkt unseres Verfahrens 12 - für ihn als den erwünschten Anwalt entschieden haben; (2) die Tatsache, daß Cicero ohne Zweifel der fähigere und geübtere Redner ist. Das erste Argument, das schon im prooemium/narratio-Teil hervortritt, wird im ersten Abschnitt der confirmatio (§§ 11-20) entfaltet und kurz vor dem Ende der Rede noch einmal in die refutatio eingeschoben (§ 65). Gewichtiger noch ist das zweite: Wenn sich nämlich die senatorischen Richter, so kann Cicero argumentieren, jetzt für den schwächeren Redner entscheiden, so muß es aussehen, als wollten sie eine energische Durchführung des Verres-Prozesses verhindern, ja, als seien sie selbst von Verres (Hortensius) bestochen. Nach einem solchen Skandal wäre es dann aber mit der senatorischen Gerichtsbarkeit gewiß für alle Zeiten vorbei. Dieses eindrucksvolle Argument, mit dem Cicero in der Maske des Senatsfreunds sehr schön populariter agieren kann 13 , wird vor allem in der confirmatio (§§ 22-26) dargelegt und dann noch einmal - fast drohend an das Ende der peroratio (§ 73) gestellt. Zweifellos liegt hier Ciceros stärkster Trumpf 1 4 . Die Selbstdarstellung des erfolgreichen Redners, die der als Biedermann auftretende Anwalt sonst peinlich zu meiden hat, ist in diesem Fall einmal von der Sache selbst gefordert: Mit ostentativer Brillanz darf Cicero seinem Konkurrenten eine Lektion darüber erteilen, was ein guter Ankläger alles können muß (§§ 35-47) l s . 10

D i e Begriffe confirmatio und refutatio sind zwar insofern nicht vollkommen zutreffend, als Cicero im zweiten Teil (also der ,refutatio') immer auch zeigt, wie die Gründe, die Caecilius für seine Sache anführen kann, letztlich sogar gegen ihn sprechen; dennoch ist hier die refutatio weit selbständiger als sonst in Ciceros Gerichtsreden, w o sich ja für den (an zweiter Stelle sprechenden) Verteidiger schon von der Sache her kaum die Möglichkeit ergibt, einen positiven Unschuldsbeweis ( c o n f i r m a t i o ) unabhängig v o n der Widerlegung des gegenerischenSchuldbeweises zu führen. Vgl. Anm. 11. 11 Ähnlich disponiert D E LA VILLE D E M I R M O N T (S. 43 f.), der aber die refutatio erst mit § 52 beginnen lassen will (was allenfalls möglich ist). Ganz anders möchte S T E R N K O P F die argumentatio gliedern (S. 5 f.): (1) §§ 11 f f . : Wunsch der beiden Parteien. (2) §§ 27 f f . : innere Qualitäten der beiden Ankläger. (3) § § 5 2 ff.: Begründung durch die äußeren Umstände. Aber es kann doch kein Zufall sein, daß erst von § 47 an gegnerische Argumente referiert werden. 12 Zu N ä h e r e m s. unten S. 182 ff. 13 N E U M E I S T E R 40: „Cicero manövriert mit dieser Argumentation in geschicktester Weise zwischen zwei politischen Lagern . . u Auch in den eigentlichen Verrinen droht Cicero gerne mit dieser translatio iudicii, vgl. etwa act. pr. 3; II 1, 5 f., II 1, 22 f., II 5, 177 f., dazu bes. N E U M E I S T E R 42 f. 15 D i e §§ 3 7 - 3 9 enthalten übrigens eine kleine τ έ χ ν η ρητορική in usum Caecilii. Diese beginnt und endet mit den partes rhetoricae (,Arbeitsgängen' des Redners): § 3 7 voce

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Geringfügiger ist ein drittes Argument: Caecilius soll praevaricator, also mit der Gegenpartei im Bunde sein. Cicero kann dies weder beweisen noch auch nur irgendwie wahrscheinlich machen; so begnügt er sich denn mit gelegentlichen Andeutungen, praeteritiones usw. - dergleichen dürfte wohl zur festen Topik der divinatio gehört haben, und so sollte es auch hier nicht fehlen! Wie wenig Cicero bei dieser Unterstellung auf den Glauben seiner Zuhörer rechnet, zeigt schon allein die Tatsache, daß er sie nicht einmal konsequent durchführt: In den §§ 36 ff. etwa ist vorausgesetzt, daß Caecilius ein zwar unfähiger, aber doch redlicher Ankläger wäre. Wenn also in fast allen modernen Darstellungen des Verres-Prozesses die Geschichte vom Strohmann Caecilius nacherzählt wird 1 ', so dürfte dies ein Erfolg sein, mit dem selbst Cicero kaum gerechnet hat.

(ύπόκρισις), memoria (μνήμη), consilio, ingenio (εΰρεσις, τάξις). § 38 . . . criminibus et oratione distinguere (τάξις), putasne posse etc. (λέξις bzw. αΰξησις). § 39 . . . et diligentia consequi (εΰρεσις) et memoria complecti (μνήμη) et oratione expromere (λέξις) et voce ac viribus sustinere (ύπόκρισις). Eingeschaltet sind die officia oratoris: § 39 dicenda, demonstranda, explicanda sunt omnia (διδάσκειν, docere), causa ... graviter copioseque agenda est (κινεϊν, movere); perficiendum est, . . . ut homines .. . libenter studioseque audiant (ψυχαγωγεΐν, delectare); außerdem die drei rhetorischen Bildungsfaktoren : § 39 in quo si te multum natura adiuvaret (φύσις), si optimis . .. disciplinis . . . studuisses (τέχνη) et in his elaborasses (μελέτη). . . 19 Zuletzt SMITH 65, KÖHLER 64, FUHRMANN 41, STOCKTON 44, 46. Widersprochen hat besonders P. FABBRI in seinem geistvollen Aufsatz (s. Anm. 1; vgl. aber auch schon die Einleitung zum Komm, von THOMAS, die Arbeit von CICCOTTI und R. KLOTZ zu § 29). Er weist auf Widersprüche der Verrinen zur divinatio hin und vermutet schließlich, Cicero habe selbst nicht sicher gewußt, ob Caecilius mit der Gegenpartei im Bunde sei. Um Ciceros Verdächtigung zu entkräften, sei noch folgendes hervorgehoben: (1) In der actio prima (§§ 16-32) werden ausführlich alle Manöver der Verres-Partei gegen Cicero geschildert: kein Wort von Caecilius! (2) Zu diesem sicheren Schluß e silentio tritt das positive Zeugnis Verr. II 1, 15: Das Motiv des Caecilius war Privatrache (s. unten S. 178), also nicht Bestechung. Was dagegen Cicero anführt, ist nichtig: (1) §§ 22-24 Wenn sich Hortensius tatsächlich für Caecilius „offen" eingesetzt haben sollte, was man im übrigen bezweifeln kann - die sermocinatio mit dem Bestechungsangebot an die Richter könnte frei erfunden sein; jeder mag denken, der andere sei bestochen, und schon aus Neid für Cicero stimmen - , selbst dann bewiese das nicht viel: Hortensius müßte ja auf jeden Fall den rhetorisch schwächeren Gegner bevorzugen. (2) § 29 Die Form der praeteritio spricht für sich (dazu bes. S. USHER, Occultatio in Cicero's speeches, AJPh 86, 1965, 175-192, dt. Übers, in: KYTZLER [Sammelbd. 1973] 195-209; Quellen u. Lit. dort in Anm. 4): So behandelt man Unbeweisbares. Nichts bezeichnender als die schöne Zusammenfassung: sunt et haec et alia in te falsi accusatoris signa permulta (!), quibus ego nunc non utor . . . (3) Dasselbe gilt für § 58. (4) Zu § 12 s. unten S. 184. - Wie schnell und leichtfertig man jemandem praevaricatio nachsagen kann, zeigt Verr. II 1, 17: Cicero selbst war davor nicht sicher. Auch aus § 51 (custodem etc., vgl. Ps.-Asconius z. St.) darf man wohl schließen, daß Cicero damit rechnet, Caecilius werde ihm seinerseits praevaricatio vorwerfen.

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Wie das unterschiedliche Gewicht von Ciceros Argumenten, so hat man auch die Gegenargumente, die Caecilius vorbringen konnte, in der Forschung nicht immer ganz richtig erkannt. Caecilius wäre freilich schlecht beraten gewesen, wenn er aus der Tatsache, daß er Quästor unter Verres gewesen war, sich ein besonderes Recht auf die Anklage abgeleitet hätte. Und Cicero könnte ihm mit gutem Grund entgegnen, daß gerade das Verhältnis des Quästors zu seinem Prätor das einer besonderen Pietät sein müsse und auch immer gewesen sei17. Nein, wir haben diesen Gedanken zusammenzunehmen mit dem anderen, den Cicero davon in der refutatio mit gutem Bedacht abgelöst hat: Verres soll seinem Quästor Unrecht zugefügt haben (§§ 53-58). Der Prätor selbst, so konnte also Caecilius argumentieren, habe das Band der Treue, das ihn mit seinem Untergebenen verband, zerrissen; und da sie nun schon einmal verfeindet seien, so müsse er, Caecilius, zweifellos der rechte Mann für die Anklage sein. Denn einmal wisse er als Quästor über den Fall doch viel besser Bescheid als Cicero, der erst langwierige Recherchen anstellen müsse 18 ; und zum andern habe er als persönlich Geschädigter das erste Recht auf Rache, ganz abgesehen davon, daß er so - anders als Cicero! - außerhalb jedes Verdachts der praevaricatio stehe. Hiermit konnte Caecilius zur N o t sogar sein rhetorisches Manko ausgleichen: pectus est enim quod disertos facit (Quintil. inst. 10, 7,15) der Schmerz werde ihm die rechten Worte schon eingeben. Wir müssen uns klarmachen, daß dies (für römisches Empfinden zumindest) gewichtige Gründe waren. Was die bessere Informiertheit des Quästors betrifft, so gibt uns Cicero selbst das Mittel an die H a n d , seine ausführlichen Versicherungen über die nach mos maiorum obwaltende Vater-Sohn-Pietät auf das vernünftige Maß zu reduzieren: In § 4 will er in eigener Person den Caecilius als Anwalt für die Sizilianer empfohlen haben: dicebam habere eos actorem Q. Caecilium, qui praesertitn quaestor in eadem provincia post me quaestorem [also zum Zeitpunkt der Taten] fuissetle. Ein eklatanter Widerspruch zum

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§§ 59 ff. Dieser Grundsatz ist von Cicero nicht ad hoc erfunden; vgl. das von MOMMSEN (Staatsrecht II 564, Anm. 1) gesammelte Parallelenmaterial. Dort nachzutragen Iul. Sever, p. 366, 2 HALM, ein Testimonium für den Oppius-Prozeß, in dem sich Cicero offenbar darüber beklagt hat, daß M. Cotta gegen seinen eigenen Quästor Oppius vorgehe. (Gegen MOMMSEN bezweifle ich allerdings, ob man die §§ 62 f. unserer Rede zum Beweis dafür nehmen darf, daß Quästoren, die gegen ihre Prätoren klagen wollten, „von den Geschworenen [vgl. aber Ps.-Asc. p. 186, Z. 6 ST.!] bei der Divination regelmässig abgewiesen" wurden. Cicero zeigt doch nur, daß es hierfür überhaupt Präzedenzfälle gab, und er wird sich hüten, andere zu erwähnen.) 18 Diesen Punkt hat schon Ps.-Asconius richtig erkannt (p. 185, 20 ST.), danach D R U M A N N / G R O E B E V 323. Wohl zu Unrecht meint FABBRI (S. 294), Ps.-Asconius müsse, um zu dieser Erkenntnis zu kommen, außer der uns vorliegenden Rede noch andere Quellen benutzt haben, etwa gar eine Nachricht über „la domanda presentata da Q. Cecilio al pretore". Es genügt durchaus intelligente (und ein wenig phantasievolle) Lektüre. 19 Dasselbe Eingeständnis liegt in Verr. II 1, 15 (unten zitiert).

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Späteren, ausgeglichen nur durch die Disposition: 54 Paragraphen liegen zwischen dieser Äußerung und ihrer folgenden Umkehrung. Noch gravierender ist der andere Teil des Arguments. Das römische Strafrecht kennt ja nicht die Einrichtung des .Staatsanwalts' (obwohl Cicero, notgedrungen, so etwas postuliert: §§ 8 f., 26, 70 f. 20 ). Auch in der causa publica pflegt der Kläger, soweit dies angeht, mit dem unmittelbar Geschädigten identisch zu sein. So klagen etwa in den Ambitus-Prozessen, wie wir aus Cicero sehen, in der Regel die unterlegenen Bewerber81; und auch das Recht selbst gewährt dem Geschädigten besondere Vorteile bezüglich der Anklageführung22. Man darf ferner daran erinnern, daß Cicero selbst in De officiis die privatae inimicitiae als ehrenhaftes Motiv einer öffentlichen Anklage nennt (2, 50). Und schließlich erfahren wir aus einer der fiktiven Reden der actio secunda, daß Hortensius im Verres-Prozeß mit Nachdruck darauf hingewiesen hat, Cicero werde durch kein persönliches Motiv zur Anklage gegen Verres bewegt (II 3, 6): et in hoc homine saepe a me quaeris, Hortensi, quibus inimicitiis aut qua irtiuria adductus ad accusandum descenderim. Offenbar sollte Cicero damit verächtlich oder verdächtig gemacht werden; ein anständiger Mensch klagt nur den an, der ihm selbst etwas zuleide getan hat23. Cicero begegnet dieser für ihn unangenehmen Tatsache mit den verschiedensten Mitteln der inventio und dispositio. Zur inventio rechnet das feine Argument, daß der Wille der verwüsteten Provinz höher stehen müsse als die Privatrache eines zu kurz gekommenen Quästors (§§ 53 f.). Ein gröberes Mittel ist die Verleumdung. In den §§ 55-57 wird die Sache so dargestellt, als sei dem Caecilius überhaupt kein Unrecht geschehen; er sei vielmehr von Verres geradewegs an einem Unrecht gehindert worden! Aber der köstliche Humor in dieser Vgl. Verr. II 1, 15; II 2, 1. P r o Murena: Sulpicius Rufus. Pro Plancio: Laterensis (weitere Beispiele bei Z U M P T 528 ff.). Auch sonst sehen wir aus Ciceros Prozeßreden, daß die Anklage gewöhnlich von Leuten geführt wird, die von dem vorgeworfenen Verbrechen persönlich betroffen sind, vgl. bes. Cie. Sull. 48. Für römisches Empfinden ist das ehrenhafter, als wenn die Sache von Berufsklägern (verächtlich: quadruplatores) geführt wird. Nur eben in Repetundenprozessen wird sich der Fall selten ergeben, daß ein selbst Geschädigter die Anklage übernehmen kann. Darum ist gerade hier die Stelle, wo karrierebewußte junge Leute als Ankläger Ehre einlegen können: Caesar gegen Dolabella, Sulpicius gegen Norbanus u. a. (zu solchen jugendlichen Anklägern: Cie. Verr. II 3, 3, div. Caec. 24; 68; 70; off. 2, 4 7 - 4 9 ; Tac. dial. 34, 7). 20

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So ist etwa die Frau (MOMMSEN, Strafrecht 369 mit Anm. 4) und der mit prätorischer Infamie Behaftete (MOMMSEN a. O. 370 f. mit Anm. 1) als Ankläger nur zugelassen, wenn er sich auf persönliche Klagegründe berufen kann. 23 Zur Funktion der Rache im Rechtsleben der ciceronischen Zeit vgl. bes. K U N K E L , Untersuchungen 124 ff.; daß Privatrache das übliche Motiv des Anklägers ist, bezeugt auch Cie. Verr. II 3, 1. Zu Quint, inst. 7, 4, 34 s. unten. - Auch bei den attischen Rednern ist es in Anklagereden üblich, eine persönliche Feindschaft zum Angeklagten hervorzukehren (vgl. etwa V O L K M A N N 130, H . W E I L , Plaidoyers politiques de Dem., Bd. 2, Paris 1886, S. 289): Man entgeht damit dem Verdacht der Sykophantie. 22

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Erzählung vom Freudenmädchen Agonis und ihren Hausmusikanten soll doch wohl nur die Dreistigkeit der Erfindung erträglich machen. Denn aus Verr. I I I , 15, wo Cicero rückblickend über das Ergebnis der divinatio berichtet, ergibt sich ein anderes Bild: quod meum factum lectissimi viri atque ornatissimi... ita probaverunt, ut ei qui [konzessiv!] istius quaestor fuisset et ab isto lae sus inimicitias i us t a s persequereturu, non modo deferendi nominis, sed ne subscribendi quidem, cum id postularet, facerent potestatem. (Es ist dies ein Satz, der jeder Ausgabe unserer Rede als richtungweisendes Motto vorangestellt werden sollte.) Was nun die Disposition der argumentatio angeht, so verdanken wir Quintilian die kostbare Nachricht, daß Cicero in ihr von der konventionellen Gliederung der divinatio (von der wir sonst nichts wüßten) abgewichen sei (inst. 7, 4, 33): in quo genere Cicero quidem... bac usus est divisione: spectandum a quo maxime agi velint ii quorum de ultione quaeritur, a quo minime velit is qui accusatur. frequentissimae tarnen hae sunt quaestiones, uter maiores causas habeat (1), uter plus industriae aut virium sit allaturus ad accusandum (2), uter id fide meliore facturus (3). Es kann Quintilian unmöglich entgangen sein, daß auch Cicero diese frequentissimae quaestiones in den späteren Teilen seiner argumentatio behandelt25. Aber auffallend ist in der Tat, daß die partitio (§ 10) keine davon ankündigt, daß sich in ihr Cicero den Anschein gibt, als wolle er nur von den Wünschen der beiden Prozeßparteien aus seinen Beweis führen. Der Grund dafür liegt auf der Hand. In der (nach Quintilian) üblicheren Gliederung steht die Frage nach den persönlichen Motiven durchaus im Vordergrund. Nicht allein, daß sie der Reihenfolge nach die erste der drei genannten quaestiones ist, auch die übrigen werden von ihr aus beleuchtet: Wer nachgewiesen hat, daß ihm an der Anklage mehr gelegen sein muß (maiores causas), dem wird man auch größere Energie und Kraft (plus industriae aut virium) und entschiedeneres Pflichtbewußtsein (melior fides) bei der Durchführung zutrauen. Gerade hier lag die Stärke des Caecilius. So verzichtet denn Cicero, zwar nicht auf eine Behandlung der Punkte, aber doch auf ihre Ankündigung, um nicht die schwache Stelle seiner Beweisführung allzufrüh ins Bewußtsein des Hörers treten zu lassen. In dem, was er ankündigt, kann er seiner Sache sicher sein. Andere Mittel der dispositio haben wir z. T. schon angedeutet. Der sachliche Zusammenhang zwischen den Argumenten (1) se quaestorem fuisse, (2) se iniuriam accepisse wird aufgelöst und die Argumentation gegen das erste an der nachdrücklichsten Stelle, das heißt am Schluß der refutatio (und damit der argumentatio), selbständig geltend gemacht. Der zweite Punkt wird an der 24 Konträr div. Caec. 58: hic tu si laesum te a Verre esse dicis, patiar et concedam; si iniuriam tibi factum quereris, defendam et negabo. Auf den Widerspruch hat schon Ps.-Asconius aufmerksam gemacht (zu Verr. II 1, 15, p. 228 ST., mit der seltsamen Alternativerklärung: an iustas inimicitias magnas dicit?). 25 Vgl. STERNKOPF (S. 8), der Ciceros Vorgehen aber anders erklärt als hier im folgenden (vgl. S. 13).

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vorletzten Stelle der argumentatio behandelt; es ist dies der Platz, den der junge Cicero häufig für das schwächste Stück seiner Beweisführung reserviert2'. Schließlich will auch die feine Präparation der Paragraphen 29-35 beachtet sein. Längst bevor Cicero das Argument des Caecilius suo nomine abhandelt, baut er vor: Caecilius ist gerade als Quästor des Verres mitschuldig an dessen Vergehen, als Ankläger darum ungeeignet. Daß auch hierfür das in diesem Prozeß ohne Beweisaufnahme so wichtige calumniate fortiter gilt, braucht kaum mehr gesagt zu werden. Im Corpus Verrinarum hören wir kein Wort von den Untaten des Caecilius, deren zukünftige Behandlung Cicero hier ankündigt". Aber Caecilius hatte, wenn ich richtig sehe, noch ein weiteres recht bedeutendes Faktum für seine Sache anzuführen, ein Argument, das Cicero an keiner Stelle ausdrücklich erwähnt und in dessen Behandlung er doch die ganze Kunst seiner Erfindung und vor allem seiner Disposition zeigt. Wir müssen hier etwas ausführlicher werden. Bei einer summarischen Lektüre unserer Rede erhält man nach Ciceros Willen etwa folgende Vorstellung von den Vorgängen, die zur divinatio führten: „Die sizilischen Gesandten ersuchten ihren früheren Quästor Cicero, für sie die Repetundenklage zu übernehmen. Obwohl er sich bei seiner Patronatstätigkeit grundsätzlich vorgenommen hatte, in Strafprozessen nur als Verteidiger aufzutreten, konnte er sich wegen seiner Treueverpflichtungen dem Auftrag nicht entziehen... Der Widerstand erhob sich gleich, als Cicero die Klage einbrachte. Da forderte statt seiner Q. Caecilius Niger als Ankläger zugelassen zu werden."28 Drei Dinge scheinen hier festgestellt: (1) die sizilischen Gesandten haben sich von vorneherein an Cicero gewandt. (2) Cicero hat die Anklage um der Provinz willen fast widerwillig übernommen. (3) Cicero hat als erster beim Prätor postuliert. Sieht man sich nun das von Cicero Gesagte schärfer an, so entdeckt man, daß eigentlich nur der zweite Punkt - derjenige also, welcher schlechterdings nicht überprüfbar ist - wirklich behauptet wird. Es entsteht zwar durchaus der vage Gesamteindruck, als sei Cicero sowohl hinsichtlich des Mandats der einzige als auch hinsichtlich der Postulation der erste gewesen, jedoch eigentlich gesagt wird dies nicht. Das ist auffallend, ja bedenklich. Hätte Cicero, um mit dem letzten zu beginnen, in der Tat zuerst postuliert, so müßte er doch, sollte man meinen, mit allem Nachdruck auf diesen Punkt hinweisen. Ohne Zweifel steht ja der Nachzügler weit eher im Verdacht der praevaricatio als der, welcher zuerst die Klage anstrengt und damit den Prozeß in Gang bringt bzw. unvermeidlich macht. Unser Verdacht wächst, wenn wir die Reihenfolge der Reden beachten. Zwar haben wir keine Nachricht darüber, wie nach der römischen Strafprozeßordnung die Redenfolge in der divinatio geregelt ist; aber daß im rhetorischen Zweikampf der zweite Platz der gün26 27 28

So in Pro Caecina und wohl auch in Pro Roscio comoedo (vgl. S. 145). Treffend Ps.-Asc. zu § 30 (p. 196 ST.) und FABBRI a. O. 292 f. Nach G E L Z E R 37 f. (durch Auslassungen gekürzt und leicht redigiert).

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stigere ist, v e r s t e h t sich d o c h w o h l v o n selbst 28 . W a s k ö n n t e n a t ü r l i c h e r sein, als d a ß derjenige, w e l c h e r seinem V o r g ä n g e r bei der postulatio das R e c h t auf die A n k l a g e streitig macht 3 0 , quasi die R o l l e des K l ä g e r s ü b e r n e h m e n u n d som i t a n erster Stelle sprechen m u ß , w ä h r e n d der A n g e g r i f f e n e den Vorteil der z w e i t e n R e d e e r h ä l t ? N u n : C i c e r o g r e i f t an, Caecilius d a r f a n t w o r t e n 3 1 . I c h m e i n e also, es s p r i c h t in der T a t eine h o h e W a h r s c h e i n l i c h k e i t d a f ü r , d a ß Caecilius u n d nicht C i c e r o als erster beim P r ä t o r u m d a s R e c h t der A n k l a g e e r h e b u n g n a c h g e s u c h t h a t . W i e steht es n u n , u m z u m ersten P u n k t zu k o m m e n , m i t d e m M a n d a t der Sizilianer? W a s C i c e r o w i r k l i c h b e h a u p t e t , ist n u r dieses: D i e Sizilianer seien a n i h n h e r a n g e t r e t e n ( w o f ü r a u c h einige n o t w e n d i g e r w e i s e s t u m m e - Z e u g e n a n g e r u f e n w e r d e n : § 13); u n d z u m Z e i t p u n k t unserer V e r h a n d l u n g sei er d e r v o n i h n e n g e w ü n s c h t e A n w a l t (§§ 14 ff.). C i c e r o b e h a u p t e t dagegen streng g e n o m m e n n i c h t , d a ß die Sizilianer η u r a n i h n h e r a n g e t r e t e n seien b z w . d a ß sie sich sogleich n a c h i h r e r A n k u n f t u m i h n als d e n patronus i h r e r Sache b e m ü h t h ä t t e n . K e i n W o r t auch e t w a d a v o n , d a ß s c h o n die sizilischen G e m e i n d e n auf G r u n d o f f i z i e l l e r Beschlüsse ihre G e s a n d t e n g e r a d e zu C i c e r o geschickt h ä t t e n . So scheint die V e r m u t u n g n i c h t g a n z v o n d e r H a n d zu weisen: Sollten sich die Sizilianer e t w a z u n ä c h s t a n Caecilius g e w a n d t h a b e n ? U n d h ä t t e n sie erst auf Ciceros W u n s c h u n d W i n k den patronus gewechselt? Es ist n i c h t allein Ciceros a u f f a l l e n d e s Schweigen, d a s m i r diese H y p o t h e s e zu e m p f e h l e n scheint. Caecilius w a r selbst in L i l y b a e u m a u f g e w a c h s e n , somit f ü r d i e Sizilianer ein h a l b e r L a n d s m a n n 8 2 . W e n n er sich w ä h r e n d seiner A m t s zeit m i t V e r r e s ü b e r w o r f e n u n d w o h l schon d a m a l s A b s i c h t e n auf eine R e p e t u n d e n k l a g e g e ä u ß e r t h a t t e , so m u ß t e er doch d e n Sizilianern z u n ä c h s t als der gegebene A n w a l t ihrer Interessen erscheinen, sicherlich w e i t eher als Cicero, 29

Vgl. auch Cie. Quinct. 8. Über eine Befristung der Klageerhebung wissen wir nichts (MOMMSEN, Strafrecht 372 A. 3), dürfen aber annehmen, daß in dem Zeitraum zwischen der ersten postulatio und der endgültigen nominis delatio (zur Rekonstruktion dieser ersten Prozeßstufen: LEIFER, RE X X I [1953] 882 f.) jeder Bürger für seine Person postulieren durfte. Jedenfalls muß einer bei der postulatio der erste gewesen sein. 31 Nach der Ansicht von THOMAS (Einl. S. 7) hätten vor Cicero bereits die Bewerber um das Recht der subscriptio gesprochen. Mir scheint das wenig wahrscheinlich. THOMAS beruft sich auf die §§ 48 und 50. § 48 . . . quid tn dicendo posset [sc. Alienus\, numquam satis attendi. Aber das bezieht sich, wie schon numquam zeigt, auf frühere Prozesse, in denen Alienus aufgetreten ist. § 50: quibus ego non sum tantum honorem habiturus, ut ad ea quae dixerint certo loco aut singillatim unieuique respondeam ... Man kann dies ohne Zwang auf Äußerungen bei der postulatio beziehen. (Von dort her ist Cicero ja auch über die in Aussicht stehenden Argumente des Caecilius informiert.) Im übrigen wäre, wenn THOMAS Recht hätte, zu erwarten, daß Cicero die rednerische Unfähigkeit der subscriptores auf Grund der von ihnen soeben gehaltenen Reden geißeln würde, so wie er es bezüglich der zu erwartenden Rede des Caecilius in § 47 macht. 32 Auch dies hat schon Ps.-Asconius richtig beachtet (p. 186 Z. 20 f. ST.). 30

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der nunmehr seit fünf Jahren ohne Verbindung zur Provinz war. Dagegen war es für Cicero im Hinblick auf seine politische Karriere sehr verlockend, das Prozeßmandat zu erhalten. Er sagt zwar bestimmt nicht die Unwahrheit, wenn er behauptet, daß er aus Liebe und Fürsorge für die Provinz die Sache übernommen habe33 - da er dies noch als älterer Mann an unverdächtiger Stelle (off. 2, 50) so darstellt, dürfen wir ihm glauben - ; ausschlaggebend aber war wohl eine andere Erwägung. Cicero kandidierte im Jahr 70 für die Ädilität. Mußte er da nicht sehen, wie sehr die Führung eines so populären Prozesses seinen Wahlaussichten förderlich sein würde34? Freilich, wenn dies Ciceros Überlegung war, so hat er sich wenigstens zum Teil verrechnet. Das Verfahren begann ja erst im Spätsommer, also nach den Wahlen. Aber eben dies war zur Zeit der postulatio noch gar nicht vorauszusehen. Erst n a c h der nominis delatio trat jener andere Repetundenkläger auf, um dessentwillen dann der Prozeß aufgeschoben wurde (Verr. act. pr. 6). Nach Ciceros ursprünglicher Rechnung wäre also Verres schon vor den Wahlen verurteilt gewesen. Unsere Rekonstruktion der Ereignisse und Überlegungen bleibt notwendig hypothetisch. Immerhin können wir doch so viel sagen. Wenn auch nicht zweifelsfrei nachzuweisen ist, daß sich die Sizilianer wirklich zunächst an Caecilius gewandt haben und daß Cicero aus politisch-eigennützigen Motiven versucht hat, diesem das Prozeßmandat abzujagen35, so ist doch gewiß, daß sich die Dinge für einen römischen Hörer des Jahres 70 so darstellen konnten, anders gesagt, daß Caecilius so argumentieren mußte: hier der selbst von Verres Vgl. bes. die § § 5 , 64 und Verr. 112, 10, 115, 130: lacrimis ego hue, non gloria induetus accessi. .. 34 Auf Ciceros Ehrgeiz als treibendes Motiv haben schon D R U M A N N / G R O E B E (V 324 f.) und G E L Z E R (S. 38) hingewiesen (ohne die hier im folgenden angestellten Überlegungen; vgl. jetzt aber auch R. VISCHER, A U X V I I 2 , 1974, 29); anders H E I N Z E 107 f. - Hingewiesen sei auch auf die Darlegungen von SMITH (63 ff.), der das genaue Gegenteil unserer Ansicht vertritt. Nach ihm mußte sich Cicero zur Übernahme der Anklage förmlich durchringen: So sehr sei sie seiner Karriere im Weg gestanden! Da ist es aber doch merkwürdig, daß Cicero, der seine Abneigung gegen die Anklageführung so geflissentlich hervorhebt (§§ 1 ff.), die von SMITH gefundenen Motive gänzlich übersieht. 35 Zu bedenken ist natürlich auch, daß der Wille „der" Sizilianer keine ganz einfache Größe sein muß. Daß die Syrakusaner und Mamertiner einen Repetundenprozeß nicht anstreben und bei der divinatio überhaupt nicht zur Stelle sind, sagt Cicero selbst ( § 1 4 , vgl. etwa Verr. II 4, 15 ff., 114, 136 ff.); es mag also auch sonst unter ihnen Differenzen bezüglich des zu erwählenden patronus gegeben haben, jedenfalls zunächst. Auffallend ist in diesem Zusammenhang, daß Cicero sagt, die Sizilianer seien „oft" an ihn herangetreten (§§ 2, 14; darauf weisen wohl auch die Imperfekta in § 2 : diceban t, § 3: aiebant, § 4: dicebam); dabei muß doch eher an einzelne Legationen gedacht werden. (Dem widerspricht nur scheinbar § 2 : quare nunc populati atque vexati c u η c t i ad me publice saepe venerunt... - das vielleicht absichtlich unbestimmt gestellte cuncti kann sowohl zu den Partizipien wie zum Verbum gezogen werden.) In Verr. II 4, 138 spricht Cicero freilich von einem regelrechten conventus Siculorum, der ihm communi omnium legationum consilio die Sache Siziliens übertragen hätte; 33

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geschädigte Sizilianer Caecilius, über allen Verdacht der praevaricatio erhaben und seit je für die Führung des Prozesses in Aussicht genommen - dort der neue Popular Cicero, der sich nur aus politischem Opportunismus und schnödem Ehrgeiz den Sizilianern aufgedrängt hart. Dieser Darstellung vor allem selbst wenn sie nicht ganz richtig sein sollte - mußte Cicero entgegentreten. Cicero führt die Auseinandersetzung nicht offen. Würde er schlechtweg behaupten, die Sizilianer hätten ihn von allem Anfang an beauftragt und Caecilius sei ihm in die Quere gekommen, so würde dieser gewiß alles versuchen, um das Gegenteil nachzuweisen, und es stünde zu befürchten, daß die Richter seinen Argumenten glauben könnten. Sicherer, wenn auch schwieriger, ist es, die eigene Version nicht gerade vorzutragen, aber doch nebenbei zu suggerieren, anders gesagt: die unbezweifelbare Tatsache, daß im gegenwärtigen Augenblick die Sizilianer hinter Cicero stehen, als gleichbedeutend mit der Behauptung erscheinen zu lassen, sie hätten ihn auch schon ursprünglich mit der Vertretung ihrer Sache betrauen wollen. Betrachten wir zunächst den Beginn der confirmatiol § 12 utrum, Q. Caecili, hoc dices, me non Siculorum rogatu ad causam accedere, an ... sociorum voluntatem apud hos gravem esse non oporteref Die nur scheinbar vollständige »irwm-Ä«-Alternative umschließt nicht die Möglichkeit, daß Caecilius der zuerst Beauftragte gewesen wäre. Den Gedanken daran sucht nun Cicero zu eliminieren, indem er im folgenden die Behauptung, daß die Sizilianer überhaupt an ihn herangetreten seien, mit der anderen gleichsetzt, daß sie nur an ihn herangetreten seien: si id audebis dicere, quod C. Verres, cui te inimicum esse simulas, maxime existimari vulty Siculos hoc a me (!) non petisse, primum causam inimici tut sublevabis, de quo non praeiudicium, sed plane iudicium iam factum putatur, quod ita percrebruit, Siculos omnis actorem (!) suae causae contra illius iniurias quaesisse. Man sieht: ö f f e n t l i c h bekannt ist nur, daß die Sizilianer überhaupt einen actor causae suae gesucht haben. D a ß dies Cicero bzw. nur und von Anfang an Cicero gewesen wäre, behauptet er zwar nicht gerade, aber er impliziert es durch seine Gleichsetzung, die hier um so weniger auffällt, als ja das vorgebliche Ziel des Arguments gar nicht in dieser Gleichsetzung besteht, sondern im versuchten Nachweis der praevaricatio3e. In diesem Fall dürften Cicero einmal die Mittel noch wichtiger sein als der Zweck. da jedoch in der divinatio von einer solchen einmaligen und verbindlich-offiziellen Vertrauenserklärung nichts erzählt wird, möchte ich meinen, daß Cicero dort (in Verr. II 4) das Auftreten der Sizilianer und ihre Parteinahme bei der divinatio selbst im Auge hat. a * Um das Sophisma zu beseitigen hat M E N A R D U S (gefolgt von anderen) konjiziert: . . . Siculos omnis actorem (me) suae causae quaesisse. Aber damit ergeben sich nur neue Schwierigkeiten: (1) Ein Präjudiz gegen Verres kann nicht darin liegen, daß gerade Cicero als Anwalt von den Sizilianern verlangt wird, sondern nur darin, daß sie überhaupt einen Anwalt für ihre Sache suchen. (2) Auch die Zeugenanrufung in § 1 3 zeigt eindeutig, daß von der Bitte der Sizilianer gerade an Cicero noch nichts an die Öffentlichkeit gedrungen ist. (Vgl. zu § 12 auch R. KLOTZ; wie MENARDUS

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Aber dies ist noch nicht das Beste an seiner Taktik. Denn nicht erst in der argumentatio, schon in der Eröffnung gewinnt er seine Partie. Wir können nunmehr den Grund dafür angeben, was die - in der divinatio so überraschende - narratio am Beginn der Rede leisten soll. Während es uns nämlich anfangs so schien, als könne es in diesem Verfahren nicht um einen umstrittenen Tatbestand der Vergangenheit gehen, hat sich mittlerweile gezeigt, daß dies wahrscheinlich doch der Fall ist. Die Ereignisse, die zur nominis postulatio des Caecilius und Cicero geführt haben, scheinen in der T a t kontrovers zu sein, wobei jedoch diese Kontroverse von Cicero nicht offen ausgetragen wird. Hierfür bietet sich nun die Form der narratio geradezu an. Sie hat ja schon immer den Vorteil, daß der Redner in ihr, wenigstens im Nebensächlichen, mehr behaupten kann, als er nachher wahrscheinlich zu machen in der Lage ist: Reden sind lang und Gedächtnisse k u r z " . In unserem Fall kommt hinzu, daß gerade die narratio durch ihren nicht beweisenden, ,unlogischen' Charakter die Möglichkeit gibt, Hintergründe und Zusammenhänge zu suggerieren, die nicht existieren und die offen auch gar nicht genannt werden. Mit dem ersten Satz (§ 1) beginnt eine gewisse Verschleierung. Während es in Wirklichkeit, wie wir meinen, vor allem darum geht, den Richtern zu suggerieren, als sei Cicero der von vorneherein erwählte Patron der Sizilianer gewesen, stellt sich Cicero, als müsse er sich dafür entschuldigen, daß er überhaupt eine Anklage zu führen beabsichtige 38 ; und er verspricht, seine Gründe zu erläutern. Die narratio selbst beginnt dann sinnvollerweise mit dem rührenden Abschied aus Lilybaeum ( § 2 ) : Cicero verläßt die Insel als ihr erklärter Freund und Patron - im Grunde, soll man verstehen, ist das Mandat uralt. Dann ein rascher Sprung über fünf J a h r e : Die Sizilianer sind in R o m und bitten Cicero um die Einlösung seiner Versprechen3®. Kein W o r t davon, daß

übrigens schon Ps.-Asconius, der allerdings auf eine Textänderung verzichtet und nur in Gedanken Tullium supplieren will: Zu den genannten Einwänden käme hier noch die sprachliche Schwierigkeit hinzu.) 37 Vgl. oben S. 78 f. 38 Allerdings ist zuzugeben, daß am Ankläger für griechisches (vgl. VOLKMANN 131) und römisches Empfinden ein gewisses Odium haften kann; vgl. NEUMEISTER 37 f. und bes. Quint. 11, 1, 57: in . .. accusationibus hoc agendum est, ne ad eas libenter descendisse (Cie. § 1!) videamur. (Zu Ciceros Grundsatz, nur zu verteidigen, vgl. H. FUCHS, MH 16, 1959, 15 f., J. GRAFF, Ciceros Selbstauffassung, Heidelberg 1963, 67-69. Gerne entschuldigt sich Cicero, bevor er jemanden angreift: S. Rose. 83; Tull. 5; Cluent. 10.) Aber dieses Odium müßte ja an allen Bewerbern in der divinatio gleichmäßig haften. - Vgl. zum Eingang übrigens Aesch. Tim. 1 (WEISCHE 32 f.) und Lys. 22, 1 f.: πολλοί μοι προσεληλΰθασιν, ώ άνδρες δικασταί, θαυμάζοντες (!) δτι έγώ των σιτοπωλών έν τη βουλή κατηγορούν... δθεν ουν ήνάγκασμαι κατηγορεΐν αυτών, περί τούτων πρώτον ειπείν βούλομαι. 39 Auffallend ist die pathetische Stilisierung der Klagen über Verres in den §§ 2 f. Sie widerspricht nur scheinbar Ciceros bekannter Regel, daß man die Affekte am Anfang der Rede nur sparsam erregen dürfe (de or. 2, 324): Hier gibt er gewissermaßen

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sie mit einem anderen zuvor verhandelt hätten, kein Wort aber auch vom Gegenteil! So lange die Sizilianer reden (zwei Paragraphen lang), wird der N a m e Caecilius nicht erwähnt. Er kommt erst herein — und das ist das Schönste - durch Cicero selbst (§ 4): tuli graviter et acerbe, iudices, in eum me locum adduci ut aut eos homines spes falleret qui opem a me atque auxilium petissent, aut ego, qui me ad defendendos homines ab ineunte adulescentia dedissem, tempore atque officio coactus ad accusandum traducerer. dicebam habere eos actorem [sehr zweideutig! 40 ] Q. Caecilium, qui praesertim quaestor in eadem provincia post me quaestorem fuisset. Kann man ernstlich glauben, daß Cicero hier die Situation seiner eigenen Entscheidung beschreibe? Nein, nicht s e i n Dilemma ist es, das er hier vorführt, sondern das - der jetzigen Richter! Was er von sich behauptet, gilt für sie: Sie müssen ja nun tatsächlich entscheiden, ob Cicero die Anklage erheben soll; und genauso wie Cicero angeblich den Q. Caecilius für den geeigneten Mann gehalten haben will, so dürften auch sie zunächst geneigt sein, denjenigen f ü r den verissimus accusator zu halten, der als Quästor mit den Dingen vertraut und überdies - das verschweigt Cicero an dieser Stelle denn doch - von Verres persönlich geschädigt worden ist. Cicero, so könnten wir sagen, agiert gewissermaßen in der äußeren Form der narratio die Situation seiner Hörer. Den Ausschlag der Entscheidung gibt der Wille der Sizilianer, so wie er ihn auch in unserer Verhandlung geben soll ( § 4 ) : quo ego adiumento sperabam hanc a me posse molestiam demoveri, id mihi erat adversarium maxime; nam Uli multo mihi hoc facilius remisissent, si istum non nossent, aut si iste apud eos quaestor non fuisset. Wer nicht gerade über einen anderen Verlauf der Dinge informiert sein sollte, kann nicht mehr daran zweifeln, daß von diesen Sizilianern niemand den Caecilius um seine H i l f e gebeten hat. Und daß Cicero keine politischen Gründe haben kann, sich zur Anklage zu drängen 41 . Wir brechen unsere Besprechung ab. Man sieht leicht, daß das prooemium von Ciceros Rede nichts anderes ist als eine unter dem Vorwand der Selbstrechtfertigung nach vorne gezogene argumentatio. Wie die behandelten §§ 2-5 den ersten Teil der confirmatio vorwegnehmen (§§ 11-22: quem maxime velint actorem esse ii quibus factae esse dicantur iniuriae [§ 10]), so die § § 6 - 9 den

ein specimen der zukünftigen Anklage, das ihn sogleich als den rechten A n w a l t Siziliens ausweist. - Mit der Exordialtopik ab adversariorum persona hat dies selbstverständlich nichts zu tun (gegen K Ö H L E R 68, dessen Analyse des Prooemiums mir durchweg verkehrt scheint). 40 Für Richter, die etwa wüßten, daß die Sizilianer zunächst bei Caecilius waren, kann es heißen: „Ihr habt bereits Caecilius als Anwalt." Andere müssen verstehen: „Caecilius wäre für euch ein geeigneter Ankläger." Auf diese zweite Alternative führt auch der nachfolgende qui-praesertim-Satz. 41 Von der Bewerbung um die Ädilität spricht Cicero erst gegen Ende unserer Rede ganz beiläufig (§ 70), und zwar so, als wäre sie ein Grund, der ihn von der Anklage a b h a l t e n müßte.

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zweiten Teil (§§ 22-26: quem minime velit is qui eas iniurias fecisse arguatur4a): A - B - A - B . Zwar macht Cicero selbst auf einen solchen sachlichen Zusammenhang zwischen prooemium und argumentatio aufmerksam (am Ende von § 1); er verschleiert ihn aber doch auch wieder bezüglich des ersten Teils: Hier versucht er, das, was er offen nicht zu behaupten und in der argumentatio nicht eigentlich zu beweisen wagt, durch die Suggestivkraft der narratio den Richtern einzureden, wobei er deren erwünschte Entscheidung als seine eigene .vorspielt'. So kann der erste Teil der argumentatio auf dem im prooemium gewonnenen Kredit aufbauen. Nicht zuletzt auf diesem feinen Kunstgriff dürfte die Wirkung unserer Rede beruht haben.

Jedenfalls insofern, als der Gedanke beide Male in den politischen Gesichtspunkt mündet: Nur eine starke Anklageführung und eine Verurteilung des Verres kann die Senatsgerichte retten.

42

10

Exkurs: Zur Technik der antizipierten richterlichen Entscheidung

Wir haben in der divinatio in Caecilium Ciceros Technik kennengelernt, die ausstehende Entscheidung der Richter dadurch suggestiv zu beeinflussen, daß er sie als eigene, bereits gefallene Entscheidung gewissermaßen im Modell vorführt1. Die „Anpassung an den Hörer" (Chr. NEUMEISTER 2 ) geht hier über in eine fast mimenhafte „Selbstgleichsetzung". Noch zweimal, wenn ich recht sehe, hat Cicero diese Taktik am Eingang oder jedenfalls im ersten Teil einer Rede angewendet: in Pro Sulla (aus d. J. 62) und in Pro Plancio (54). Glücklicherweise läßt sich die Besprechung der einschlägigen Partien relativ leicht vom Ganzen der Rede ablösen. Zu Pro Sulla: Mit der Verteidigung des P. Sulla, dem die Beteiligung an der catilinarischen Verschwörung vorgeworfen wurde, hatte Cicero eine heikle Aufgabe übernommen: Seine ganze Reputation als Catilina-Bezwinger müßte ins Zwielicht geraten, wenn durch eine Verurteilung Sullas ein Urteil auch darüber abgegeben würde, daß sich der Konsul von 63 für einen Catilinarier eingesetzt hätte. Natürlich lag in dieser Gefahr auch wiederum eine Stärke. Cicero konnte mit Effekt darauf hinweisen, wie unwahrscheinlich es sei, daß gerade er in einer solchen Sache einem Schuldigen beistehen würde. Zugespitzt formuliert: Schon daraus, d a ß Cicero verteidigt, ergibt sich, daß er zu Recht verteidigt. L. Torquatus, der Ankläger, hatte diesen Einsatz der persönlichen Autorität vorhergesehen und von vorneherein dagegen Protest eingelegt. Wir lernen seine anticipatio aus den §§21 ff. kennen: „Ist es nicht unerhört, daß ein Mann je nachdem für schuldig oder unschuldig gilt, ob sich Cicero für ihn verwendet?" (§§ 21 f.) In diesem Zusammenhang bekam der Konsular aus Arpinum auch noch einiges über seine Herkunft zu hören (§§ 22—25). Die anticipatio war offenbar wirksam genug, um Cicero daran zu hindern, sein bestes Argument - wenigstens fürs erste - offen auszusprechen: Er mußte dazu einen Umweg einschlagen, und die verwendete Technik entspricht in zweifacher Hinsicht derjenigen der divinatio: (1) Cicero argumentiert nicht sogleich im Hinblick auf das eigentliche Beweisziel („Caecilius als Kläger ungeeignet" bzw. „Sulla unschuldig"), sondern

1 2

S. oben S. 186. NEUMEISTER 32 ff.

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behauptet, zunächst sich selbst rechtfertigen zu müssen (div. Caec. 1, Sull. 2, 14)9. (2) Dabei wird die eigene Entscheidung („Soll ich Verres anklagen?" bzw. „Soll ich Sulla verteidigen?") in suggestiver Weise so vor Augen gestellt, daß die Motive, die für Cicero ausschlaggebend waren, als zwingende Motive auch der richterlichen Entscheidung erscheinen (div. Caec. 2—5, Sull. 14-20) 4 . Nur soweit allerdings geht die genaue Analogie. Während Cicero nämlich in der divinatio bei der Darstellung seines angeblichen Dilemmas die gegen die Übernahme der Prozeßvertretung sprechenden Gründe ausführlich darlegen kann, ohne dadurch die eigene Sache zu gefährden - es sind ja nur zum Teil Gründe, die auch für die Richter maßgebend sein könnten 5 : Ciceros Hauptmotiv, seine Abneigung gegen jegliche Anklageführung, kann für sie keine Rolle spielen - , ist dies in der Rede pro Sulla nicht ebenso möglich: Das analoge Gegenmotiv könnte ja kaum ein anderes sein als ein Zweifel an der Unschuld des Angeklagten". Cicero begegnet dieser Schwierigkeit in ingeniöser Weise. Er beschreibt nicht so sehr die Entscheidung f ü r Sulla, er schildert vor allem die Entscheidung g e g e n einen anderen Catilinarier, gegen P. Autronius, Sullas früheren Schicksalsgenossen7, der von ihm nicht verteidigt und so auch verurteilt wurde. Den Ausgangspunkt gibt die Äußerung des Torquatus: in Autronium testimonium

dixisti...;

Sullam

defendis*

(§ 10, a u f g e n o m m e n in § 14 E n d e ) . C i c e r o

nimmt dies zum Anlaß, einen chronologisch geordneten Vergleich (vom Jahr 66 ' Auch die Formulierung ist ähnlich: div. Caec. 1 . . . si mei consili causam rationemque cognoverit, una et id quod facio probabit, et in hac causa neminem praeponendum mihi esse actorem putabit. Sull. 2 . . . si mei facti rationem vobis constantiamque huius offici ac defensionis probaro, causam quoque me P. Sullae probaturum. Wie in der divinatio ergibt sich daraus eine Zweiteilung der Rede: (1) Selbstrechtfertigung (§§ 3-35), (2) Rechtfertigung des Mandanten (§§ 36-82). Wir werden sehen, wie auch in Pro Sulla (vgl. oben S. 186) der zweite Teil durch den ersten vorweggenommen wird. Vgl. Anm. 65 zu S. 22. 4 Eine vorläufige Selbstrechtfertigung enthalten die §§ 3-10. Die in sehr merkwürdiger Weise eingeschobenen §§ 11-14 (über die mit Hortensius vorgenommene partitio causae) sollen, wenn ich recht sehe, Cicero unauffällig absichern: Alles, was er ex auctoritate consults sagt, gilt nur für die zweite, eigentliche Katilinarische Verschwörung. Vgl. den „Schwur" in § 86: nihil de hoc consul (!) comperi, nihil suspicatus sum, nihil audivi. 5 Nämlich: die scheinbare Eignung des Caecilius für das Klägeramt. • Andernfalls hätte Cicero sagen müssen: Er habe ursprünglich überhaupt keinen der Katilinarischen Verschwörung auch nur Beschuldigten verteidigen wollen - was seiner in dieser Rede hervorgehobenen „Milde" (s. unten Anm. 13) entschieden widersprochen hätte. 7 Autronius war mit Sulla i. J. 66 wegen ambitus verurteilt worden. 8 Wahrscheinlich dürfte Torquatus diesen Satz erst am Ende der Rede, als er die Schuld des Sulla schon bewiesen hatte, ausgesprochen haben. Von Cicero am Anfang zitiert, wirkt er unbillig: Warum sollte man nicht für einen Unschuldigen und gegen einen Schuldigen eintreten?

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bis 6 3 ) zwischen dem Verhalten des Sulla und des Autronius durchzuführen ( § § 15—17)®. Punkt für Punkt zeigt sich Autronius auf das schwerste belastet, während auf Sulla auch nicht der Schatten eines Verdachts fällt. Es kann hierbei dem aufmerksamen Leser der Rede nicht entgehen, daß Cicero per petitionem principii bestimmte Dinge voraussetzt, die allererst zu beweisen wären 1 0 . Dies ist an sich das gute R e c h t der narratio11 (deren Stelle unsere Paragraphen funktionell vertreten 1 2 ); hier wird es besonders dadurch ermöglicht, daß Cicero seinem P r o g r a m m der Selbstrechtfertigung entsprechend nicht eigentlich die Dinge an sich darstellt, sondern den Eindruck wiedergibt, den sie auf ihn, den Konsul von 63, gemacht haben. Es folgt die kurze narratio mit Ciceros vorgeblichem Dilemma ( § § 1 8 f . ) : Autronius sei öfters bittend zu ihm gekommen. W a r er nicht Kinder- und Jugendfreund, ja sogar Kollege in der Quästur? Schon neigt sich Ciceros weiches H e r z zur Milde, und er scheint bereit, für den Unglücklichen ein Auge zuzudrücken 1 ®. D a aber erinnert er sich der schrecklichen Gefahr, in der die Vaterstadt geschwebt h a t (§ 19). Die W a a g e schlägt aus, und auch die Bitten von zwei Marcelli sind vergebens: Ein Autronius wird von Cicero nicht verteidigt! Anders die Entscheidung für Sulla (§ 2 0 ) : atque idem ego neque P. Sullam supplicem ferre neque eosdem Marcellos pro huius periculis lacrimantis

Schön ist es, wie die im folgenden so wichtige Unterscheidung zwischen Sulla und dem ihm als Folie dienenden Autronius (vgl. noch bes. § 71) bereits im ersten Satz der Rede eingeführt wird: Sulla sei, so sagt Cicero (mit woh berechneter Beiläufigkeit), seinerzeit vor allem wegen des allgemeinen Hasses auf seinen Kollegen Autronius verurteilt worden. 10 § 15 hie se ita fractum illa calamitate [d.h. der Verurteilung d. J . 66] atque adflictum putavit ut nihil sibi ex pristina dignitate superesse arbitraretur, nisi quod modestia retinuisset. Dagegen hätte nach der Behauptung des Torquatus (§ 68) Sulla versucht, durch Mord zum Konsulat zu kommen. - § 17 Sullam interea nemo insimulavit, nemo nominavit. Nach Torquatus würde Sulla sowohl von den Allobrogern (§§ 36 ff.) als auch von dem Sohn des C. Cornelius (§§ 51 ff.) belastet. - Nur für einen Punkt skizziert Cicero einen Beweis ( § 1 6 ) : cum interim Sulla cum isdem Ulis [sc. Catilina et Lentulo] non modo noctem solitudinemque non quaereret, sed ne mediocri quidem sermone et congressu coniungeretur. Ein recht verzweifeltes argumentum a minori ad maius: Der nächtliche Verschwörer würde sich ja wohl nicht unbedingt bei Tage mit seinen Genossen blicken lassen. 9

Vgl. o b e n S . 78 f. und S. 185. Die Abwesenheit einer eigentlichen narratio in unserer Rede hat schon Iulius Severianus konstatiert (p. 358, 15 f. HALM). Unmöglich können die §§ 10-14 als eine solche gelten (so J . S. R E I D in seiner Ausg., wiedergegeben im Komm, von H A L M / L A U B M A N N , S. 87, Anm. 42 a). 13 Es ist für Cicero in dieser Zeit ein wichtiges Anliegen, seine Humanität ins rechte Licht zu setzen. Wie bes. § 30 unserer Rede zeigt, haftet an ihm schon i. J . 62 das Odium des „Grausamen". Auch der Lobpreis auf humanitas et litterae im großen Exkurs der (im selben Jahr gehaltenen) Rede pro Archia (v. A L B R E C H T 1969, 419 ff.) kann in diesem Zusammenhang gesehen werden. 11 12

Technik der antizipierten richterlichen Entscheidung

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aspicere... potui. Das Erbarmen des Redners muß das Erbarmen der Richter werden14. Wer Ciceros Darlegung kaltblütig liest, erkennt, daß er in versteckter Weise genau das tut, was ihm Torquatus verbieten wollte: Er verlangt einzig auf Grund der Tatsache, daß er überhaupt verteidigt, den Freispruch des Sulla. Offen aber wagt er das Argument erst gegen Schluß der Rede zu bringen (§ 80)15: quid verof . .. haec auctoritas nostra, qui a ceteris coniurationis causis abstinuimus, P. Sullam defendimus, nihil hunc tandem iuvabit? Zu Pro Plancio: Auch in Pro Plancio schildert Cicero ein Dilemma, nur ist es hier kein früheres, sondern ein gegenwärtiges. § 5 . . . mihi in causa facili atque explicata perdifficilis, iudices, et lubrica defensionis ratio proponitur. Er befinde sich nämlich in großer Verlegenheit, wie er Plancius wegen ambitus verteidigen solle. Denn dessen bei der Ädilenwahl unterlegener Mitbewerber, der jetzige Ankläger Iuventius Laterensis, sei sein besonderer Freund; und die Auseinandersetzung mit ihm sei um so unangenehmer, als sie fast mit Notwendigkeit auf eine contentio dignitatis hinauslaufe. Dies sei ja das Hauptargument des Laterensis: Plancius könne ihn als den würdigeren unmöglich mit lauteren Mitteln besiegt haben. Sage nun er, Cicero, Plancius sei doch würdiger gewesen, so verletze er die Freundschaft; sage er es nicht, schade er seinem Klienten (der sich, wie man weiß, um ihn hochverdient gemacht hatte). So entschließt sich denn Cicero mit einigem Hin und Her 16 dazu, vor allem zu zeigen, daß das Volk seine Gunst nicht immer nach Würde und Verdienst verteile (§§ 7 ff.), er läßt dieses Volk selbst in einer προσωποποιία seine Achtung und Wertschätzung des Laterensis bekennen (§§ 12 ff.), und erst allmählich bahnt er sich so unter der

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Ausdrücklich in den letzten beiden Paragraphen der Rede. § 92: Wie Cicero nach früherer Strenge nun wieder Milde zeigt, so sollen es auch die Richter halten: . . . severitatem iudiciorum ... lenitate ac misericordia mitigate. § 93 (mit völliger Gleichsetzung) . . . tantum hortor ut. . . mansuetudine et misericordia nostra (!) falsam a nobis (!) crudelitatis famam repellamus (!). 15 Vgl. schon § 1 4 : sed ego no η dum utor hac voce ad hunc defendendum; ad purgandum me potius utar . . . le In § 6 (Ende) lehnt er es ganz ab, eine contentio dignitatis durchzuführen. In § 8 stellt er fest, daß er sich auf dieses Thema doch schon zu weit eingelassen hat: . . . qua nolui ianua sum ingresus in causam. In § 10 verheißt er für später eine behutsame contentio dignitatis. In § 16 wird sie wieder ganz abgelehnt: qua re noli me ad contentionem vestrum vocare, Laterensis. Die Peinlichkeit der Situation ist in diesen verworrenen Ankündigungen wundervoll abgebildet: Cicero muß das Thema behandeln, und er möchte es doch unter allen Umständen vermeiden. Wenn er schließlich die contentio dignitatis doch durchführt (§§ 17 ff.), indem er zeigt, daß der Wahlsieg des Plancius verdient war ( § 1 7 quid si populi quoque factum defendo . . .?), so behauptet er wunderbarerweise, eben dadurch der contentio dignitatis ausweichen zu können ( . . . possumne eripere orationi tuae contentionem vestrum ... et te ad causam aliquando crimenque deduceref).

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ständigen Versicherung seiner Rücksichtnahme gegen den Prozeßgegner den Weg zum positiven Nachweis der Würdigkeit des Plancius (§§ 17 ff.). Man hat, soweit ich sehe, dieser Selbstdarstellung Ciceros in der Forschung Glauben geschenkt: Er sei in der Tat in eine peinliche „Zwickmühle" geraten". Aber verschiedene Dinge machen doch stutzig: (1) Während Cicero seinen „Freund" mit der zartesten Rücksicht behandelt, ist bei Laterensis von dergleichen Hemmungen nur wenig zu bemerken. Zumal aus den §§ 72 ff. ergibt sich, daß er Cicero recht boshaft gehänselt 18 , ja daß er ihm sogar Feigheit vorgeworfen hatte, und dies bezüglich des Exils, wo Cicero besonders empfindlich war 1 9 ! Woher diese Ungleichheit 20 ? (2) Wir finden in Ciceros sonstigem Werk den Iuventius Laterensis zwar noch gelegentlich ehrenvoll erwähnt 21 , aber von der „alten, wahrhaften Freundschaft" (Plane. 5) ist sonst (etwa in den Briefen) keine Spur erhalten 22 . (3) In der Rede pro Murena, wo sich Cicero genau in derselben Situation befindet wie in Pro Plancio - sein Freund, der berühmte Jurist Sulpicius Rufus, ist bei der Konsulwahl durchgefallen und klagt nun wegen ambitus gegen den erfolgreichen Bewerber zeigt er sich durchaus nicht so zimperlich: Zwar betont er auch hier eingangs (§ 15), daß die dignitas des Unterlegenen der des Wahlsiegers an sich durchaus ebenbürtig sei: aber in der contentio dignitatis (§§ 15 ff.), in welche er ohne Präambeln eintritt, streicht er die Tugenden und Verdienste des Murena recht rücksichtslos auf Kosten des Sulpicius heraus, wobei schließlich sogar die von Sulpicius so innig geliebte (§ 23!) Wissenschaft vom römischen Recht als ziemlich überflüssig und lächerlich dargestellt wird (§§ 23 ff.). Warum nur wird dieser wirkliche Freund Ciceros so viel kräftiger gezaust als ein Iuventius Laterensis? Die Erklärung ergibt sich aus der Situation nicht Ciceros, sondern seiner Hörer. Im Murena-Prozeß dürften die Sympathien der Richter etwa zu glei17

S. bes. W. KROLL, RhM 86, 1937, 128-130; außerdem F. MÜNZER, RE X 2 (1919), 1366; CIACERI II 128 f. 18 Er hatte über Ciceros tränenreiche Rede für Cispius gespottet (§ 76) und die witzige Bemerkung gemacht, Cicero habe durch sein Ambitus-Gesetz wohl nur darum das Exil als Strafe eingeführt, damit er Gelegenheit zu rührenderen Redeschlüssen hätte (§ 83). Daneben auch noch unangenehmere Anspielungen: auf Ciceros unglücklichen Brief an Pompeius (§ 85) und seine Unterwerfung unter die Triumvirn (§§ 91-94). 1β §§ 86-90. § 86 dixisti ertim non auxilium mihi sed me auxilio defuisse. § 90 mortem me timuisse dicis. 20 Vgl. Cicero selbst in § 72: respondebo tibi nunc, Laterensis, minus f ortasse vehementer quam ahs te sum provocatus •. • Vgl. MÜNZER a. O. (s. oben Anra. 17) 21 Att. 2, 18, 2; Vatin. 26; Phil. 16 fr. (bei Arus. GL VII 467 KEIL). Vgl. auch Plancus in Cie. fam. 10, 23, 4. 22 Nach § 73 (vgl. § 2) hätte Laterensis die Familie Ciceros während des Exils unterstützt; die Rührszene, in der die Tränen des Laterensis bei Ciceros Weggang geschildert werden, soll wohl auch die Entgegnung des § 86 insgeheim vorbereiten: . . . illa vero gravia et magna, quod meum discessum, quem s a e ρ e defleras, nunc quasi reprehendere et suhaccusare voluisti.

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chen Teilen dem Ankläger und dem Angeklagten gehört haben. Anders im Plancius-Prozeß, der nicht nach dem gewöhnlichen ambitus-Gesetz, sondern nach der lex Licinia de sodaliciis geführt wurde. Hier hatte der Ankläger das Recht, vier Tribus zu bestimmen, aus denen die Richter genommen werden mußten; der Angeklagte durfte davon nur eine zurückweisen 2 '. Es versteht sich von selbst, daß Laterensis diejenigen Tribus wählte, die ihm selbst freundlich gesonnen waren, und das heißt, möchte ich meinen: eben die Tribus, welche bei der Ädilenwahl für ihn gestimmt hatten. Darin liegt also Ciceros wirkliche „Zwickmühle": Wie soll er die dignitas des Plancius vor einem Publikum verteidigen, das selbst von der größeren dignitas des Laterensis überzeugt ist und als die bei den Wahlen überstimmte Minorität nun alles daran setzen muß, ihrem Kandidaten wenigstens nachträglich zum Sieg zu verhelfen? Der Lösung dieses Problems dient das vorgebliche Dilemma der §§ 5 ff. Indem sich Cicero hier zum Freund des Laterensis macht was sichtlich übertrieben ist - , simuliert er die Situation seiner Hörer. Wie es ihm angeblich unangenehm ist, die dignitas des Plancius auf Kosten des Laterensis hervorzuheben, so muß es ja für die Richter in der Tat peinlich sein, die dignitas des Laterensis geschmälert zu sehen; und wenn Cicero schließlich einen Weg findet, für den einen zu kämpfen, ohne den andern zu verletzen, dann können auch sie ohne Affront gegen ihren Favoriten den Plancius freisprechen. Ciceros Trostrede an Laterensis, der Auftritt des populus Romanus mit dem kaum verhüllt gegebenen Versprechen, daß Laterensis bei einer Bewerbung ums Volkstribunat siegen werde24 - dies alles sind nichts als Entscheidungshilfen für die Richter 25 . Ausdrücklich wird die Entscheidung erst gegen Ende der Rede ,agiert'. § 79 zeigt Cicero erneut im Pflichtenkonflikt zwischen Ankläger und Angeklagtem: distineor... et divellor dolore et in causa dispart ojfendi te a me doleo; sed me dius fidius multo citius meam salutem pro te abiecero quam Cn. Planet salutem tradidero contentioni tuae. Wo es um die bürgerliche Existenz des Plancius geht, muß die Rücksicht selbst auf das Ansehen des Laterensis zurücktreten: für Cicero wie - so hofft er - für seine Hörer.

23

Cie. Plane. 36-44; Schol. Bob. in Cie. Plane, p. 152, 26 ff. S T A N G L ; vgl. E. W U N DER, Ausg. d. Rede (1830), abgedr. in Bd. 8 der Cic.-Ausg. von O R E L L I / B A I T E R , S. 205-210; MOMMSEN, Strafrecht 217.

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§ 13 [populus Romanus:] pete igitur eum magistratum in quo mihi magnae utilitati esse possis. 25 Man beachte auch, daß Cicero es sich leisten kann, über das wählende Volk etwas abfällig zu urteilen ( § § 9 - 1 1 ) ; weniger wohl darum, weil er vor einem „Gerichtshof von Senatoren und Rittern" spricht (so KROLL, RhM 86, 1937, 130).

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Die Rede für A. Cluentius Habitus (66 ν. Chr.)

Über die Anlage seiner Rede für Cluentius 1 macht Cicero selbst im prooemium zwei zunächst fast widersprüchlich scheinende Angaben. In § 1 verspricht er, sich der Disposition des Anklägers (T. Attius) anzuschließen; wie dieser seine Rede in zwei Teile gegliedert habe: 1) über den Vorwurf der Richterbestechung, 2) über den Vorwurf des Giftmords, so wolle er es seinerseits auch halten: itaque mihi certtim est hanc eandem distributionem invidiae - der erste Vorwurf lebt nach Cicero von der invidia2 - et criminum sie in defensione servare ut omnes intellegant nihil me nec subterfugere voluisse reticendo nec obscurare dicendo. Nach diesem vertrauenerweckenden Eingang muß § 6 den kritischen Leser etwas stutzig machen: quam ob rem α vobis, iudices, ... haec postulo: ... cum ego una quaque de re dicam et diluam, ne ipsi quae contraria sint taciti cogitationi vestrae subiciatis, sed ad extremum exspectetis meque me um di c e η d i ο r d i η e m servare patiamini; cum peroraro, tum si quid erit praeteritum animo requiratis. Offenbar will Cicero doch nicht genau der Disposition seines Vorredners folgen, und er glaubt, dafür von vorneherein um Entschuldigung bitten zu müssen. Sein Vorbild scheint hier Aischines, der sich in der Gesandtschaftsrede (or. 2) ebenfalls d a f ü r entschuldigt hat, daß er anders disponiere als Demosthenes, der Ankläger ( § 4 4 ) : έάν δ'έμοί τψ κινδυνεύοντι δώτε ειπείν ώς βοΰλομαι, και σώσαί με, εί μηδέν αδικώ, δυνήσεσθε . . . Und Demosthenes selbst hat später in der Kranzrede die Eigenwilligkeit seiner - in der ganzen Antike gerühmten - Themenanordnung mit ähnlichen Worten gerechtfertigt ( § 2 ) : Wenn die Gesetze vorschrieben, daß der Richter beide Parteien in gleicher Weise anzuhören habe, so bedeute dies einmal . . . το μή προκατεγνωκέναι μηδέν (Cie. a. Ο.: ne quid hue praeiudicati adferatis), dann aber vor allem . . . τό καί τη τάξει και τη άπολογίςι, ώς βεβούληται καΐ προήρηται των άγωνιζομένων έκαστος, οΰτως έασαι χρήσασθαι 3 . Die Analyse der Disposition von Pro Cluentio verspricht schon im Hinblick auf diese klassischen Vorbilder reizvoll zu werden.

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Textausgaben und Literatur siehe S. 312. Ausführlicher zur Interpretation von § 1 unten S. 237 f. 3 D e n A n f a n g der Kranzrede (vgl. mit ihren ersten Worten auch noch Clu. 7: . . . si qui mihi deus vestram ad me audiendum benivolentiam conciliarit) scheint Cicero (in anderer Hinsicht) im selben Jahr (66) noch einmal nachgeahmt zu haben, und zwar in der Rede pro Cornelio (vgl. die Fragmente 1 und 2 P U C C . ) . 2

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Studieren wir zunächst die Rede des Attius4! Dieser trat auf als der Sachwalter des noch sehr jugendlichen Albius Oppianicus (iunior)5, der in diesem Prozeß seinen Vater, den im Jahre 72 auf mysteriöse Weise umgekommenen Statius Albius Oppianicus (senior) rächen wollte. Zweimal - daher die generelle Zweiteilung der Rede - soll sich Cluentius an Oppianicus, seinem Stiefvater, vergangen haben: (1) Im Jahre 74 habe er ihn wegen eines angeblichen Mordversuches an ihm (Cluentius) selbst vor Gericht gezogen und durch Bestechung des Richterkollegiums die Verurteilung des Unschuldigen' durchgesetzt. (2) Im Jahre 72 habe er ihn unter Beihilfe zweier Sklaven, des Strato und des Nicostratus, sowie eines gewissen M. Asellius vergiften lassen (§§ 169 ff.). Außerdem wurde Cluentius ein weiterer Giftmord (an C. Vibius Capax: § 165) und ein Mordanschlag auf den jüngeren Oppianicus selbst (§§ 166-168) zur Last gelegt. Sonstige Vorwürfe extra causam (§§ 161-163) sollten das Bild abrunden. Die beiden Hauptbeschuldigungen waren verschiedenen Gewichts. Im ersten Punkt konnte Attius annehmen, der Sache nach ein leichtes Spiel zu haben; denn daß Cluentius seinerzeit die Richter des mittlerweile fast sprichwörtlich gewordenen indicium lunianum bestochen habe, galt nicht nur in der öffentlichen Meinung für sicher7, sogar Cicero selbst hatte sich in den Verrinen in diesem Sinn geäußert8: Attius zitierte eine einschlägige Partie daraus mit offensichtlichem Behagen (§§ 138—142). Und noch heute können wir den überlieferten Daten bei ruhiger Prüfung mit Sicherheit entnehmen, daß die Verurteilung des Oppianicus nicht ohne das Geld des Cluentius zustande gekommen war*. Die Version des Attius hatte an dieser Stelle nur einen kleinen Schönheitsfehler: Auch Oppianicus hatte nämlich, wenn auch erfolglos, versucht, das Gericht zu bestechen10; dies aber mußte Attius wohl oder übel leugnen und so zu der recht unwahrscheinlichen Fiktion seine Zuflucht nehmen, die seinerzeit bei einem der Richter (Staienus) gefundene Geldsumme des Oppianicus sei nicht Zur Rekonstruktion vgl. D Ö R R I E S 75 ff. Wenig Hilfe bietet M A L C O V A T I , O R F 2 442 f.: Ihre Testimonien sind nicht nur unvollständig, sondern auch ganz willkürlich ausgewählt. s Zur Zeit des Prozesses scheint er etwa 21 Jahre alt zu sein (vgl. unten Anm. 86). β Vgl. bes. § 9 . . . caput illius atrocitatis atque invidiae fuit innocentem pecunia circumventum . . . Die Unschuld des Oppianicus scheint von Attius nicht eigens bewiesen, sondern aus dem Tatbestand der Bestechung hergeleitet worden zu sein. Wenn Cicero seine Schuld nachzuweisen sucht, muß er sich nirgends mit einem Argument des Attius auseinandersetzen. 7 Implizit gibt dies Cicero zu, vgl. bes. die §§ 4 - 8 , 7 7 - 8 1 . - Die Quellen zum iudicium lunianum bei B R O U G H T O N II 102 f. 8 Die in Frage kommenden Partien bei FAUSSET zu § 138, vgl. auch Ps.-Ascon. p. 219, 27 ST. 9 S. hierzu besonders die Arbeiten von N I E M E Y E R , B A R D T (in einem wichtigen Punkt korrigiert von S T Ö C K L E I N ) , N E T T L E S H I P , außerdem die Einleitungen der Kommentare und B O Y A N C £ 34-38. ( B O Y A N C f i gibt eine ausgezeichnete Einführung in die sachlichen Probleme der Rede.) 10 Vgl. Cie. Verr. a. p. 39 und Cluent. 65 f., 82-87. 4

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z u m Z w e c k e der Bestechung, sondern zu dem einer Versöhnung mit Cluentius gegeben w o r d e n (§§ 84-87) 1 1 . Ein schweres H a n d i k a p der Anklage war dies aber nicht, da es ja doch in erster Linie darauf ankam, die Schuld des Cluentius (und nicht die Unschuld des Oppianicus) nachzuweisen. Eine sehr ernste Schwierigkeit lag dagegen für Attius im Juristischen. Im sechsten Kapitel der lex Cornelia de sicariis et veneficiis12 w a r z w a r die Richterbestechung, b z w . das „Komplott zum Zwecke einer Verurteilung" 1 3 , als strafwürdiges Vergehen genannt, der Personenkreis der Deliktfähigen aber war ausdrücklich auf Senatoren b z w . frühere Magistratspersonen eingeengt. Cluentius war also dem Buchstaben des Gesetzes nach schon einzig aus dem Grunde .unschuldig', weil er römischer Ritter w a r und nie ein A m t geführt hatte. In diesem an sich fatalen Punkt 1 4 kam Attius seine rhetorische Ausbildung, genauer gesagt: seine Vertrautheit mit dem System des Hermagoras 1 5 zugute. Es waren ja dort (im sogenannten genus legale) rednerische Argumente bereitgestellt, mit denen man sowohl für als auch gegen den Buchstaben des Gesetzes argumentieren konnte. Unser Fall dürfte dabei unter den speziellen Status des συλλογισμός (collectio) gehört haben 18 , in welchem der Gegner des Buchsta11

Die Ausrede des Attius wird immerhin verteidigt von NIEMEYER (S. 11) und N E T T L E S H I P (S. 242). 12 R O T O N D I Leg. publ. 357 f., W . K U N K E L , Quaestio 741 f.; zum Namen des Gesetzes J. D. CLOUD, CR 82, 1968, 140-143; zur Geschichte des 6. Kapitels K U N KEL, Untersuchungen 70 A. 263 a. (Vgl. auch unten Anm. 35.) 13 QVI . . . C O / / 7 COIERIT CONVENIT CONVENERIT QVO QVIS IVDICIO PVBLICO CONDEMNARETVR . . . (§ 148). Recht unwahrscheinlich ist die Annahme von D Ö R R I E S (S. 27), daß Cicero im Finalsatz „das vom Gesetz geforderte INNOCENS . . . als selbstverständlich ausgelassen" habe (es sei gefordert wegen der §§ 129 und 131; dort ist aber von zensorischen Rügen die Rede). Sonst hätte ja Attius kaum umhin gekonnt, die Unschuld des Oppianicus nachzuweisen (wofür keine Spuren da sind, vgl. oben Anm. 6); und Cicero könnte seinerseits auf dem INNOCENS des Gesetzes insistieren. Auch in sich scheint ein Gesetz wenig plausibel, das die Bestechung nur gegen Unschuldige verbieten würde: In jedem Prozeß nach diesem Gesetz müßte die Schuldfrage des vorhergehenden wiederum von Grund auf behandelt werden. 14 Wir nehmen dabei an, daß Cluentius der Richterbestechung tatsächlich angeklagt war. Vgl. den Exkurs. 15 Cie. Brut. 271 . . . T. Accium Pisaurensem, cuius accusationi respondi pro A. Cluentio, qui et accurate dicebat et satis copiose eratque praeterea doctus Hermagorae praeeeptis, quibus . . ., ut hastae velitibus amentatae, sie apta quaedam et parata singulis causarum generibus argumenta traduntur. Wenn Cicero gerade an dieser Stelle die praeeepta Hermagorae (d. h. die Status-Lehre und ihre Topik) rühmt, so weist dies darauf hin, daß sie ihm im Cluentius-Prozeß zu schaffen gemacht hat. 18 Nicht eigentlich, wie man schon angenommen hat (BOYANCfi 28), unter ρητόν και διάνοια (scriptum et voluntas; zu diesem Status vgl. S. 83 ff.). Den Unterschied der beiden Status bestimmt am genauesten Quintilian (inst. 7, 8, 1): quod illic [im Status de scripto et voluntate] dicitur contra scriptum, hie supra scriptum; illic qui verba defendit hoc agit, ut fiat utique quod scriptum est, hic, ne aliud quam scriptum est. Aber selbstverständlich sind die Status sehr ähnlich und die Topik weit-

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bens auf Grund einer Art von Analogieschluß den Gesetzeswortlaut zu erweitern hatte, Attius etwa so: „Zwar scheint das Gesetz in der Tat nur von Senatoren und gewesenen Magistraten zu sprechen, es wäre doch aber widersinnig, dies im Sinne einer Ausschließlichkeit so zu interpretieren, daß allen anderen Personen die Richterbestechung erlaubt sein sollte! Der im Text genannte Personenkreis kann nur beispielhaft für einflußreiche Persönlichkeiten überhaupt genannt sein; zur Zeit, da das Gesetz geschaffen wurde (Gracchen!), war eben (anders als heute) die Unparteilichkeit der Gerichte fast ausschließlich von der Nobilität bedroht. Wenn man aber jetzt Cluentius wegen dieses Buchstabens der lex Cornelia freispricht, dann wird künftig kaum ein Nicht-Senator mehr einen Prozeß führen, ohne eine Bestechung wenigstens zu versuchen! In euren Händen, Richter, liegt die Zukunft der Justiz." Soweit können wir die Argumentation des Attius nur erraten 17 . Sicher wissen wir dagegen, daß er die Richter vor der zu erwartenden Taktik seines Gegners eigens warnte 18 : Er habe von Ciceros Freunden gehört 19 , dieser wolle seine Verteidigung ganz schikanös auf den Buchstaben der lex abstellen 20 . „Wenn er dies tut", so konnte Attius sagen, „dann gibt er damit auch selber zu, daß Cluentius die Richter beim Oppianicus-Prozeß bestochen hat!"" U n d er konnte darauf hinweisen, daß ein Mann, der gegen seinen Stiefvater einen Justizmord

hin austauschbar (vgl. unten Anm. 34). Der Sache nach findet sich der συλλογισμός übrigens schon in der Rhetorik des Anaximenes (1, 17): δει δέ, οπου αν fj χρήσιμον, αυτόν τε τον διαγορεύοντα νόμον λαμβάνειν, είτα („an zweiter Stelle") τό δμοιον τφ γεγραμμένω νόμφ. Beispiel: Das Gesetz bestraft die κλέπτοντες; der Redner behauptet nun, auch die έξαπατώντες müßten bestraft werden: . . . κ α ι γαρ οΰτοι κλέπτουσι την διάνοιαν. Vgl. sonst bes. Cie. inv. 2, 148-153, Rhet. Her. 1, 23; LAUSBERG § 221 (mit weiteren Quellen), MATTHES 186, B. VONGLIS, La lettre et l'esprit de la loi, Paris 1968, 59-61. 17 Vgl. immerhin §§ 145 und 150 (s. auch im Exkurs S. 233-235). 18 Quintilian vergleicht diese πρόληψις (LAUSBERG § 855) mit der des Aischines im Ktesiphon-Prozeß (Quint. 5, 13, 42, Aesch. 3, 205 f.). 19 Ein rhetorischer Trick (schon bei Demosthenes nachgewiesen von Hermog. π. με{Κ δειν., p. 439 f. RABE): Von guten Argumenten des Gegners hat man „gehört", daß er sie bringen werde; von schlechteren „weiß" man es. So erscheint das der eigenen Sache am meisten Widerstrebende als etwas ganz Fernliegendes, worauf man von selbst nie gekommen wäre; das Ungefährliche dagegen wirkt als die einzige Zuflucht, die der Gegner unter den gegebenen Umständen noch haben kann. - Cieros Entgegnungen in § 143 (gerühmt bei Quint, inst. 5, 13, 47) ist die ingeniöse Verhöhnung dieser Topik, die vom Kenner der rhetorischen Theorie genossen werden soll: itane est? ab amicis imprudentes videlicet prodimur . . . nemo, ut opinor, in culpa est: nimirum tibi istud lex ipsa renuntiavit! 20 § 143, vgl. den Exkurs, S. 233 f. 41 So argumentiert etwa Lysias in der Anklagerede gegen Agoratos, wo vorauszusehen ist, daß sich der Gegner auf die beschworene Amnestie beruft (dieses zweifellos zu Recht): σχεδόν μεν ουν τούτοις Ισχυριζόμενος ομολογεί άνδροφόνος είναι (or. 13, 88).

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inszeniert, schließlich auch v o r dem wirklichen M o r d nicht zurückschrecken dürfte. W i r kommen damit zum zweiten Punkt der Anklage, dem Punkt, der nach Ciceros glaubwürdiger Versicherung (§ l ) 2 2 weit weniger nachdrücklich als der erste behandelt worden w a r . A n und für sich w a r das Beweismaterial, das für den behaupteten Giftmord an Oppianicus vorgelegt wurde, nicht eben überwältigend 2 3 . Attius verlas z w a r (§ 1 8 4 ) ein Protokoll über ein häusliches Verhör zweier Sklaven ( § § 1 8 2 - 1 8 7 ) , bei dem Cluentius belastet worden w a r ; allein dies diskreditierte sich ζ. T . schon dadurch, daß die Sklaven nicht, wie doch in der Ordnung, dem Gericht selbst zur peinlichen Befragung vorgeführt wurden (§ 187) 2 4 . N o c h weniger gut stand es um die zwei weiteren dem Cluentius v o r »

Vgl. den Exkurs, S. 240. Vortreffliche Analyse der belastenden und entlastenden Momente bei N I E M E Y E R 20 ff. - Die amerikanische Gelehrte G. S. H O E N I G S W A L D hat sich jetzt allerdings zu der Meinung bekannt, „that Cluentius is, in all probability, no less a criminal than Oppianicus" (S. 112, vgl. dazu jetzt auch P U G L I E S E 164 f.); Cicero habe das entscheidende Motiv für die Morde des Cluentius unterschlagen: Habgier (wie bei Oppianicus in §§ 21 ff.). Mir scheint diese Ansicht verfehlt. Wie hätte denn Cluentius hoffen können, das Vermögen des ermordeten Oppianicus zu bekommen? H O E N I G S WALD meint (S. 121): auf dem Umweg über die Erbin Sassia, die Mutter des Cluentius; aber dies setzt voraus, nicht nur daß Sassia bald stirbt, sondern auch, daß sie ohne Testament stirbt oder daß sie ihren Sohn zum Erben eingesetzt hat! Dasselbe gilt für H O E N I G W A L D s Motivierung des Giftmords an Oppianicus iun.: Cluentius wolle verhindern, daß dieser die Erbschaft der Sassia erhalte (S. 120 f.). Man wird doch annehmen dürfen, daß Sassia, die mit Cluentius verfeindet war (vgl. unten Anm. 52), die notwendigen Vorkehrungen getroffen hatte, damit ihr Sohn sie nicht beerbe. Was schließlich den Mord an C. Vibius Capax betrifft (§165), so glaubt H O E N I G S W A L D , dessen Erbe N. Cluentius sei ein Sohn unseres Cluentius. Das ist weder auszuschließen, noch zu beweisen. (FAUSSET, P E T E R S O N und M Ü N Z E R [ R E I V 1 1 1 ] halten ihn für einen Sohn der Schwester des Cluentius [ § 1 1 ] ; dies beruht aber auf irriger Interpretation von § 165, richtig B O Y A N C f i z. St.) 83

Immerhin ergibt sich aus den §§ 18 und 192, daß einige Zeugen aus Larinum gegen Cluentius aussagen sollten (vgl. N I E M E Y E R 23). Dazu gehört sicherlich nicht M. Asellius (§§ 169, 172), der sich nicht selbst wird belasten wollen; wohl aber, wie es scheint, Sex. Albius, der offenbar bei dem peinlichen Verhör anwesend war (vgl. F A U S S E T zu den §§ 182 und 185; nicht genau W . K U N K E L , Z R G 83, 1966, 230) und darum von Cicero gleich zu Beginn seiner letzten narratio (§ 175) als ehebrecherischer Buhle der Sassia verleumdet wird. Wenn auch kritische Erklärer dieser Verleumdung Glauben geschenkt haben (ζ. B. F A U S S E T a. O. und H O E N I G S W A L D 121: mit kühner Kombination!), so liegt das an der Geschicklichkeit, mit der Cicero sie einführt. Durch das Verhältnis der Sassia mit Sex. Albius wird zum Schein ja nur die Reise des Oppianicus nach Rom motiviert - an dieser Stelle hat der Hörer also noch keinen Anlaß, mißtrauisch zu sein - , in Wirklichkeit dient es aber schon dazu, den obsignator des Vernehmungsprotokolls unglaubwürdig zu machen. Übrigens dürfte es sich, wie das nomen gentile ausweist, um einen Verwandten des Verstorbenen (Statius Albius Oppianicus) handeln, eine Tatsache, die Cicero mit Grund verbirgt. - Vgl. zu den Sklavenverhören im übrigen K U N K E L a. O . 229-232. 84

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geworfenen Morde. So mußte für Attius alles darauf ankommen, das ungünstige Vorurteil, das die Behandlung des indicium Iunianum bei den Richtern gegen Cluentius erregt hatte, für sich auszunutzen, d. h. den Mord an Oppianicus als die konsequente Fortführung des früheren Verhaltens hinzustellen. Auch wenn die Richter es nicht wagen sollten, Cluentius (gegen den Wortlaut der lex) wegen Bestechung zu verurteilen, so konnten sie doch geneigt sein, ihn eben wegen der Bestechung auch des Mordes für schuldig zu halten oder ihn etwa - denn dergleichen kommt vor - wegen des einen Vergehens unter dem Titel des anderen zu bestrafen. Um die Wirkung der Anklagerede richtig zu beurteilen, hat man schließlich noch ein Letztes zu bedenken. Die Sache des Attius konnte von vornherein mit der menschlichen Sympathie seiner Hörer rechnen. Nicht wegen der Person des formellen Klagevertreters - diese war notwendig farblos - , sondern wegen des jungen Oppianicus, der ja als eigentlicher Ankläger bei dem Prozeß in Erscheinung trat - über Sassia wird gleich zu reden sein - und von dem Cicero sagt ( § 6 5 ) : damnationem illam [sc. Oppianici] ... tacita pietate deplorat. Es bedarf nach diesem Fingerzeig nur geringer Phantasie, um sich vorzustellen, wie Attius peroriert hat: „Acht Jahre ist der Justizmord an Oppianicus ungesühnt geblieben; nun aber ist ihm ein Sohn herangewachsen, ein Sohn, der damals noch ein kleines Kind war und das über die Familie gebrachte Leid nicht ermessen konnte, der heute aber, zum Jüngling gereift, entschlossen ist, das Rächeramt zu führen und Cluentius der wohlverdienten Strafe zu überantworten." Und wenn auch dieser „Rächer" selbst nicht viel sprach, so mußten doch die schönen Tränen seiner „stummen Vaterliebe" bei den Richtern ihre Wirkung tun. Stand hier nicht der fromme Sohn gegen den Vatermörder, die Pietät gegen die Ungeheuerlichkeit? Wir werden sehen, daß gerade dieser Gesamteindruck es war, gegen den Cicero vor allem anzukämpfen hatte. Bei der Abfassung seiner Rede stand er vor drei Hauptproblemen: (1) Sollte er die crimina veneficii, der Disposition des Anklägers folgend", nach dem indicium Iunianum behandeln oder umgekehrt? (2) Sollte er die angebliche Bestechung im status collectionis (also unter Berufung auf das Gesetz) behandeln oder im status coniecturalis („Cluentius hat nicht bestochen")? (3) Wie sollte er seinem Gegner die Sympathien der Richter entreißen? Wir wenden unsere Aufmerksamkeit zunächst den ersten beiden Punkten zu. Erstens: Zu erwarten wäre zweifellos, daß Cicero mit den crimina veneficii, wo er sachlich stärker ist, den Anfang macht. Aber würde es dann nicht aussehen, als versuche er, sich um den heikelsten Punkt, den Punkt, wo die Anklage am stärksten gewirkt hat, herumzudrücken? Cicero tut hier etwas, was er sonst nicht getan hat: Er packt gewissermaßen den Stier bei den Hörnern Das ist der Sache nach wahrscheinlich und wird bestätigt durch § 1; ausdrücklich ist dort allerdings nur die Zweiteilung der Rede für Attius bezeugt. (Die Überlegungen CLASSENs zum Aufbau der Attius-Rede [1965, 1 2 1 - 1 2 3 ] basieren gänzlich auf seiner Auffassung der Rechtslage; s. dazu den Exkurs.) 25

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und rühmt sich, wie wir schon sagten, gleich im Prooemium, daß er genau der Disposition seines Vorredners folgen wolle, ohne Ausflüchte und Retuschen! „A great appearance of candour reigns throughout this Introduction", schreibt Hugh BLAIR 2 ". Wer freilich näher zusieht, entdeckt, daß es in der Tat nur ein „Schein" der Aufrichtigkeit ist: Erst in § 59 kommt ja Cicero tatsächlich auf das iudicium lunianum zu sprechen, und wir werden noch zu sehen haben, wie er das fertigbringt. Zunächst jedoch müssen die Richter gewonnen sein: Hier spricht ein Mann, der die Auseinandersetzung Punkt für Punkt nicht scheut 27 . Zweitens: Status collectionis oder status coniecturalis? Im status collectionis war Cicero an sich stark, und die einschlägige Topik beherrschte er sicherlich so gut wie ein Attius. Dennoch wäre eine Verteidigung nur nach diesem status nach der anticipatio des Anklägers (s. oben S. 196 f.) einem faktischen Schuldbekenntnis gleichgekommen: Seine Sache wäre, wie Quintilian einmal formuliert, zwar iure tuta, aber parum verecunda (inst. 4, 5, 19). Cicero versucht also das unmöglich Scheinende: Er macht sich anheischig, die faktische Unschuld seines Klienten im status coniecturalis nachzuweisen. Das heißt keineswegs, daß er auf das praesidium legis (§ 143), die Verteidigung im andern Status, verzichten wollte. Ein schon in Pro Roscio Amerino erprobter Trick 28 ermöglicht es ihm, seinen Kampf im doppelten Status durchzufechten; damit es nicht so scheint, als benötige Cluentius überhaupt den „Schutz des Gesetzes", trennt er seine eigene Sache von der des Mandanten: Für ihn, Cicero, hätte es freilich genügt, sich nur auf das Gesetz zu berufen (drastisch in § 145 . . . si nihil aliud esset actum nisi ut hanc causam obtineremus, lege recitata perorassem!), aber um der flehentlichen Bitten des Cluentius willen (§ 144)29, der nicht nur den Prozeß gewinnen, sondern auch seinen guten Ruf wiedergewinnen wollte, habe er sich dazu verstanden, nicht die formelle, sondern die materielle Unschuld seines Klienten zu beweisen. So bringt es Cicero dann fertig, die Verteidigung im zweiten Status als einen Exkurs im eigenen Namen so einzuführen 30 , daß da-

2

«

BLAIR 255. Wie C L A S S E N bemerkt hat (s. S. 236 mit Anm. 37), entspricht der Beginn einer in D e inv. dargelegten Vorschrift über insinuatio. 28 Vgl. S. 76 mit Anm. 77. 29 GELZER hat dies geglaubt (S. 58), aber vgl. Quint, inst. 4, 5, 20 (unter Berufung auf die Cluentiana!): quaedam interim rtos et invitis litigatoribus simulandum est dicere . . . (vgl. auch 6, 5, 9). 30 § 149 tibi tarnen, Atti, pauca quae ab buius causa seiuncta sunt respondebo. est enim quiddam in hac causa quod Cluentius ad se, est aliquid quod ego ad me putem pertinere. Vgl. § 160 und S. Rose. 129 verum quaeso α vobis, iudices, . . . ut partim me dicere pro me ipso putetis, partim pro Sex. Roscio. - Weil Cicero einerseits sagt, er dürfe Cluentius nicht nach der lex verteidigen, es andererseits aber doch tut, hat O P P E R S K A L S K I (S. 2 9 - 4 0 , ζ. T. zustimmend K R O L L N J A 1924, 180) nachweisen wollen, die §§ 145 b—155 seien erst bei der schriftlichen Redaktion der Rede eingefügt worden. D a hätte also Cicero nicht einmal den Wortlaut des doch eindeutig für seinen 27

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durch die Wirkung des ersten Teils nicht beeinträchtigt wird. Es scheint, als seien die beiden Status, die doch der wechselseitigen Stützung bedürfen, jeder für sich stark genug, um Ciceros Sache zum Sieg zu verhelfen 31 . Das Schönste dabei aber ist es, wie diese Mischung der Status, die Cicero hier - wenigstens in den erhaltenen Reden - zum erstenmal verwendet 32 , zuKlienten sprechenden Gesetzes vorgelesen! (Vgl. gegen O P P E R S K A L S K I auch CLASS E N 1965, 116 Α. 44.) 31 Zur Reihenfolge der beiden Status vgl. Quint, inst. 6, 5, 9 (zur Cluentiana): nam quod in eo consilium maxime mirerf .. . an quod in re invidiosa legis auxilio novissime est usus? quo genere defensionis etiam offendisset nondum praemollitas iudicum mentes. (Ähnlich Sulp. Vict. 318, 11 ff. H.) Quintilian meint, daß Cicero gut daran getan habe, zunächst den status coniecturalis zu benutzen, um nicht den Anschein zu erwecken, als sei er auf die lex angewiesen; die Richter hätten sonst geglaubt, hier solle jemand durch juristischen Formalismus seiner gerechten Strafe entzogen werden. (Ganz unrichtig interpretiert H U M B E R T , REL 1938, 287 f.) Üblich ist diese Anordnung in ähnlichen Fällen keineswegs. Wenn eine Sache sowohl an sich als auch nach formalem Recht verteidigt werden kann, beginnt der Redner gewöhnlich mit dem juristischen Gesichtspunkt und fügt erst dann, gewissermaßen zur moralischen Absicherung, die andere Verteidigung hinzu. (Vgl. Fortunat. 105, 2 ff. H A L M ; etwas anders C L A S S E N 1965, 116 Α. 44.) So hält es Cicero in Pro Roscio comoedo (vgl. S. 139 f.), wo der zweite Teil der Verteidigung (wie in der Cluentiana der erste) nur dem „guten R u f " des Klienten dienen soll; so auch in Pro Rabirio Postumo: §§ 8 ff. status translationis, § § 1 9 ff. status coniecturalis. Bei den attischen Rednern gibt die Rede des Hypereides f ü r Euxenippos das beste Beispiel (§ 4 . . . επί των δημοσίων α γ ώ ν ω ν ού χ ρ ή τοϋς δικαστάς πρότερον τ ά καθ' έκαστα της κατηγορίας ύπομένειν άκούειν, πριν αύτό τό κεφάλαιον τοϋ α γ ώ ν ο ς καί τήν άντιγραφήν έξετάσωσιν εί εστίν έκ τ ώ ν νόμων η μή), ebenso (worauf auch C L A S S E N a. Ο . verweist) die 5. Rede des Antiphon. Auch in den zur Begründung einer Prozeßeinrede (παραγραφή) gehaltenen Reden (Corp. D e mosth. 32-38) beginnt man, wie natürlich, in der Regel mit dem praesidium legis (also der eigentlichen παραγραφή) und bringt dann erst die streng genommen überflüssige Erörterung der Sache f ü r sich (sogenannte ευθυδικία; zu ihrer Wichtigkeit vgl. etwa Liban. argum. 4 ad Dem. or. 32); abweichend nur Isokrates in or. 18 (CLASSEN a. Ο.). Demgemäß kann Martianus Capella (5, 507, p. 472 H A L M ) bezüglich der Cluentiana geradezu von einer „Verkehrung der (natürlichen) O r d n u n g " sprechen. 32 Vgl. aber auch Quint, inst. 5, 13, 21 . . . pro Oppio monet pluribus, ne illud actionis genus in equestrem ordinem admittant (Pro O p p . fr. 4 c P U C C I O N I ) . Aus diesem Zeugnis ergäbe sich (in Kombination mit den übrigen), daß Cicero schon in Pro Oppio (übliche Datierung auf 69, vgl. zu dem Prozeß zuletzt Α. M. W A R D , Latomus 27, 1968, 805-809) seine Verteidigung in doppeltem Status geführt hätte. D a jedoch O p pius (als gewesener Quästor) senatorischen Standes sein muß, ist Quintilian an dieser Stelle, wie H E I N Z E gesehen hat (Vom Geist . . . 3 117 A. 52), nicht sehr vertrauenswürdig; H E I N Z E vermutet, daß eine Verwechslung vorliege und man das Zeugnis auf Pro Cluentio zu beziehen habe (zustimmend G E L Z E R 52 A. 10). Auch an P r o Rabirio Postumo ließe sich denken, vielleicht aber auch an eine Rede f ü r einen anderen, einen Ritter Oppius. (Eine Spur davon in fr. 12 PUCC.?) Jedenfalls läßt sich im entscheidenden Punkt H E I N Z E s Ansicht durch chronologische Erwägungen stützen. Bezieht man nämlich Quint, inst. 5, 13, 21 auf die Rede f ü r P. Oppius, also den Quästor von

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gleich der Zusammensetzung seines ebenfalls gemischten Auditoriums entspricht. Seit der lex Aurelia des Jahres 70 richten ja gemeinsam Senatoren und Ritter (bzw. Ärartribunen). D a muß nun natürlich die Verteidigung nach dem status collectionis Musik in den Ohren der Nicht-Senatoren sein·33; hier kann Cicero als der Patron ihrer eigensten Interessen erscheinen: „Noblesse oblige! Es ist nur recht u n d billig, daß der Senator, dem die höheren Ehren zuteil werden, auch gerichtlich strenger belangt werden kann als der bescheidene Ritter" (§§ 150-155) 3 4 . Ja, er will den Rittern sogar Angst machen: „Wenn ihr jetzt nicht aufmerkt, kann künftig jeder richtende eques selbst vor Gericht verklagt werden" (§§ 152, 157) 35 . Andererseits braucht Cicero kaum mehr zu befürchten, 74/3 (F. M Ü N Z E R , RE X V I I I 1 [1939] 740, Oppius N r . 17), so kann, da das referierte Argument nur vor ritterlichen Geschworenen Effekt macht ( D R U M A N N / G R O E B E V 368 A. 7), der Prozeß erst nach der lex Aurelia, also frühestens im Jahr 69 stattgefunden haben. Dies ist denn auch die übliche Datierung (abweichend HUMBERT, REL 1938, 293: i. J. 67). In diesem Jahr aber war M. Aurelius Cotta (KLEBS, RE II 2 [1896] 2487-2489, B R O U G H T O N II 128), der frühere Vorgesetzte des Oppius, der dann seinen Quästor schimpflich entlassen hatte (Dio Cass. 36, 40, 3), bereits wieder in Rom. (MUNZER a. O.: „Eine gerichtliche Anklage des Oppius erfolgte nach Cottas Rückkehr . . . " ) Andererseits ist in Ciceros Rede vorausgesetzt, daß Cotta noch nicht in Rom ist: Cicero scheint sich gerade darüber beschwert zu haben, daß man Oppius nur auf Grund eines Briefes von Cotta angeklagt habe (fr. 4 b P U C C . = Quint, inst. 5, 13, 20; vgl. fr. 3 = Quint, inst. 5, 13, 30). Damit ergibt sich also: (1) Der OppiusProzeß ist vor 69 anzusetzen; wir kommen auf die Jahre 72-70. (2) Quint, inst. 5, 13, 21 muß sich auf einen späteren Prozeß beziehen. (3) Eine Verteidigung in doppeltem Status ist bei Cicero erst in der Rede für Cluentius nachzuweisen. » Bemerkt schon von N I E M E Y E R 20, vgl. H E I N Z E , Vom Geist . . . 3 128. 81 Die Argumentationsweise entspricht der in De inventione für den Status scriptum et voluntas (vgl. oben Anm. 16) gegebenen Vorschrift, der Verteidiger des scriptum solle versuchen, wenigstens einen Teil der aequitas, die an sich seinem Gegner zur Stütze dient, auf die eigene Seite zu bringen. (2, 137 und 142 . . . hoc fore utilissimum, si quid de aequitate ea, quae cum adversario staret, derogasset. . .) Das Argument selbst stammt aus der Rede des Hypereides f ü r Euxenippos (§ 9: die ρήτορες haben von ihrem Reden Ehre und Nutzen; deswegen dürfen sie auch größeren κίνδυνοι ausgesetzt sein), überhaupt einem wichtigen Vorbild für Cluent. 143 ff. (WEISCHE 59-62). Vgl. im übrigen zu § 145 der Rede: inv. 2, 126 in hoc ita commorari conveniet, quasi nihil praeterea dicendum sit; zu § 148: inv. 2, 126 saepe id, quod scriptum est, recitando (sinngemäß auch 2, 131); zu § 146: inv. 2, 132 postea [sc. oportet] quaerere ab iudicibus ipsis . . . cur in certa verba iurent, cur certo tempore conveniant etc.; zu §150: inv. 2, 134 non hunc locum esse neque hoc tempus legum corrigendarum . . . (das Argument übrigens schon bei Anaximenes rhet. 36, 21; vgl. Aesch. or. 1, 6: N u r bei der Gesetzgebung sei auf den Nutzen zu achten, . . . έπειδάν δέ νομοθετήσωμεν, τοις νόμοΐζ τοις κειμένοις πείθεσΦαι). 35 Möglicherweise macht Cicero hier leeren Wind. Es scheint mir nämlich - im Gegensatz zur üblichen Ansicht (vgl. etwa MOMMSEN, Strafrecht 634 f.) - fraglich, ob sich das 6. Kapitel der lex Corn, de sie. nach damaligem Rechts- und Sprachbewußtsein überhaupt auf die passive Richterbestechung beziehen ließ. Dies aus zwei Gründen: (1) Der Wortlaut des Kapitels ( . . . QVI EORVM COIIT COIERIT CONVENIT

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daß er mit dieser Argumentation seine senatorischen H ö r e r verärgert 3 6 . Denn deren Sympathien muß er sich längst mit seiner Verteidigung im status coniecturalis erworben haben 37 . Wenn er nämlich im ersten Teil der Rede nachweist, daß von jenem berüchtigten senatorischen Kollegium des C. Iunius nicht etwa die Mehrzahl, wie man bisher geglaubt hatte, (von Cluentius) bestochen war, sondern daß sich nur wenige Richter einer Bestechung (durch Oppianicus) zugänglich gezeigt hatten und davon wiederum nur ein einziger (Staienus) wirklich Geld genommen hatte, dann muß diese förmliche Mohrenwäsche des indicium lunianum im größten Interesse der senatorischen Richter liegen, deren Standesreputation unter den Vorgängen des Jahres 74 so sehr gelitten hatte. Cicero bietet - zum erstenmal - eine Alternativversion, mit deren Hilfe sich die allgemeine Schande auf einen einzigen oder allenfalls drei Sündenböcke abwälzen läßt' 8 . Die Verteidigung im status coniecturalis dient also nicht nur dem „guten R u f " (§ 1 4 4 ) des Cluentius; sie hat, wie auch die Ausführung im CONVENERIT . . .) sagt ausdrücklich überhaupt nichts von Bestechung (bemerkt von KUNKEL, Untersuchungen 70 A. 263 a; zum ursprünglichen Sinn des Kapitels in der lex Sempronia vgl. auch A. N. SHERWIN-WHITE, J R S 42, 1952, 46, N. J . MINERS, CQ 52, 1958, 241-243); er läßt sich aber zwangloser auf aktive als auf passive Bestechung anwenden. (2) Keiner der Richter des iudicium lunianum wurde nach unserem Kapitel gerichtlich belangt; ja, was das Auffallendste ist, Cicero sagt bei der Behandlung dieser Prozesse (in den §§88-116), wo er doch dagegen protestiert, daß man Verurteilungen wegen ambitus und maiestas als Präjudizien gegen Cluentius verwendet, mit keinem Wort, daß diese Richter mit unserem Gesetz hätten verfolgt werden können oder sollen. (Vgl. Anm. 82 zu § 116 hac lege.) Er fordert dies nur bezüglich des iudex quaestionis C. Iunius (§ 90): at si ita esset [= si pecuniam accepisset] hac lege accusatum fuisse oportuit qua accusatur Habitus. Der Gerichtsvorsitzende ist jedoch kein Richter im eigentlichen Sinn, und tatsächlich scheinen für ihn in der lex Com. noch besondere Bestimmungen gegolten zu haben. Vgl. nämlich Marcian. Dig. 48, 8, 1: lege Corn, de sie. et ven. tenetur, qui... magistratus iudexve quaestionis ob capitalem causam pecuniam aeeeperit ut publica lege reus fieret. Auf diesen Passus dürfte sich Cicero beziehen. (Im übrigen ist Marcianus zugegebenermaßen ungenau.) Ich vermute also, daß passive Richterbestechung nur nach dem Repetundengesetz verfolgt werden konnte (vgl. die §§ 104 und 114) und daß Cicero die Unbestimmtheit der Verba coire und convenire dazu benutzt, um den Richtern im Interesse seines Mandanten überflüssige Angst einzujagen. - Genauso übrigens im locus similis Rab. Post. 11 ff., wo das Sophisma mit Händen zu greifen ist: Ciceros Argumentation wäre nur dann schlüssig, wenn aus der Tatsache, daß Rabirius bei der litis aestimatio des Gabinius-Prozesses nicht genannt wurde, folgen würde, daß sein Prozeß als ein selbständiger Repetundenprozeß anzusehen wäre. 38 Eine kleine Absicherung immerhin in § 152. 37 In den folgenden Überlegungen bin ich H U M B E R T (REL 1938, 288 f.) verpflichtet. 38 Daher, wenn ich recht sehe, die etwas dunkle Sprache im Prooemium, wo Cicero die Richter in Sachen iudicium lunianum bittet zu beachten, . . . non quid dicatur a nobis, sed quid oporteat dici (§ 3), und sie unter Berufung auf die causa communis um ihre Mitarbeit und „Hilfe" bittet (§§ 3 f.). Es sind dies wohl versteckte Appelle an die Senatoren, das zu glauben, was ihrem eigenen Interesse entspricht.

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einzelnen zeigt", zugleich die Aufgabe, die Gemüter der Senatoren im vornherein für Ciceros Sache zu gewinnen und ihnen so das - an sich unsympathische - praesidium legis schmackhaft zu machen. Man sieht, wie sehr zu Unrecht Wilhelm K R O L L über die „scholastischen Tüfteleien" der griechischen StasisLehre gespottet und ihren Einfluß auf die römische Redepraxis „gleich Null" gesetzt hat 4 0 : Hier hilft sie Cicero, die verschiedenen Interessen und Bedürfnisse seines ständisch gemischten Auditoriums gleichmäßig zu befriedigen. Wir haben soweit das Grundgerippe von Ciceros Disposition erläutert: I. iudicium lunianum (9-160) a) status coniecturalis (ad senatores): „Cluentius hat nicht bestochen" (9-142) b) status collectionis (ad equites): „Cluentius fällt nicht unter das 6. Kapitel der lex Cornelia" (143-160) II. crimina veneficii (161-187) Bevor wir nun den Aufbau im einzelnen untersuchen, müssen wir noch das dritte Hauptproblem bei der Abfassung der Cluentiana behandeln: Was tut Cicero, um die menschlichen Sympathien, welche die Richter dem jungen Oppianicus entgegenbringen, unschädlich zu machen? Die Antwort läßt sich mit wenigen Worten geben: Cicero bringt Sassia ins Spiel. Da er aber mit dieser Erfindung nicht nur seine modernen Kommentatoren, sondern auch Quintilian, den berufensten Erklärer, genarrt hat, müssen wir hier ein wenig ausführlicher werden. Sassia, die leibliche Mutter des Cluentius, war - so sagen Cicero und seine Erklärer - die eigentliche Seele des Prozesses; seit alters mit ihm verfeindet ( § § 1 2 ff.), machte sie im Jahre 66 den Ritter Attius zum Werkzeug ihres Hasses, indem sie diesen zur Anklage gegen ihren Sohn veranlaßte. Quintilian und die Neueren fügen hinzu, daß Cicero aus diesem Grunde gezwungen gewesen sei, vor allem am Anfang und Ende seiner Rede die mütterliche Autorität der Sassia zu diskreditieren und sie - vielleicht, sagt man, nicht ganz zu Recht als wahres Monstrum hinzustellen. Quint, inst. 6, 5, 9 primam ... expositionem, qua matri, cuius filium premebat auctoritas, abstulit fidem; 11, 1, 62 itaque illa, cum filii caput palam impugnaret, fortiter fuit repellenda". Wir können V o r allem in den §§ 77 ff. D e r im Prooemium angelegte Gegensatz zwischen indicia und contiones (§§ 2, 5, vgl. § 2 0 2 ) , abwägendem Urteil und zügelloser Volksverhetzung, wird in § 77 eingeengt auf den von senatorischen Gerichten und populären Umtrieben: . . . statim L. Quinctius, homo maxime popularis, . . . oblatam sibi facultatem putavit, ut ex invidia senatoria posset crescere, quod eius ordinis iudicia minus iam probari populo arbitrabatur („glaubte"!). U n d die bisher (§§ 1 - 7 ) als Feindin des Cluentius auftretende invidia wird dabei zur Feindin der Senatsgerichte (vgl. auch §§ 7 9 und 8 1 ) ; kurz gesagt, die causa Cluenti und die causa senatus konvergieren. Ihren Höhepunkt erreicht die antipopulare Agitation in den §§ 111 f. 40 N J A 1 9 2 4 , 182 f . ; vgl. K R O L L , Rhetorik 1 0 9 4 , 1 1 0 2 (dazu oben Anm. 43 zu S. 18). 41 Im selben Sinn (um ein beliebiges Beispiel zu nennen) N I S B E T 5 8 : „One of the prosecution's strongest points was that Cluentius' own mother, Sassia, believed in his guilt." 39

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nun freilich nicht sicher (gegen Cicero) beweisen, daß Sassia keinen oder nur geringen Anteil an dem Prozeß nahm - obwohl sich dies als wahrscheinlich herausstellen wird dagegen läßt sich (gegen Quintilian) eindeutig zeigen, daß f ü r Cicero wenigstens keine unmittelbare Notwendigkeit zum Angriff auf Sassia bestand. Sie w a r nämlich in dem Prozeß bisher noch gar nicht in Erscheinung getreten. Durchmustern wir der Reihe nach die Stellen der Rede, an denen sie erwähnt wird! § 12 nam Sassia, mater huius Habiti - mater enim a me in omni causa, tametsi in hunc hostili odio et crudelitate est, mater, inquam, appellabitur42... Sassia wird weder hier noch wahrscheinlich sonst irgendwo angeredet 43 (wie Oppianicus iun. bei der ersten Erwähnung in § 10, vgl. §§ 40 und 65), noch wird sie mit deiktischem haec als anwesend bezeichnet (vgl. § 166 Oppianico huic adulescenti). Das spricht dafür, daß sie nicht zugegen ist, wenn sich auch ein sicherer Schluß daraus noch nicht ziehen läßt, so wenig wie aus dem Nebensatz (ebenfalls in § 12): . . . quae multos iam annos et nunc cum maxime filium interfectum cupit... §§ 12-16: Die vorgetragene Greuelgeschichte von Sassia ist den Richtern auf jeden Fall neu; f ü r unsere Frage ist das gleichgültig. § 17: initium quod huic cum matre fuerit simultatis audistis. pertinuisse hoc ad causam tum cum reliqua cognoveritis intellegetis. Dieses Versprechen (wiederholt in § 18, mit ausdrücklichem Rückbezug aufgenommen in § 169) wird eingelöst in den §§ 176 ff., wo Cicero über das (angeblich von Sassia geleitete) Sklavenverhör berichtet. Erst dort erfahren also die Richter, was die Feindschaft der Sassia „mit der Sache (dem Prozeß) zu tun hat". Ciceros Entschuldigung („Ihr werdet den Sinn meines Exkurses später verstehen") wäre völlig sinnlos, wenn Cluentius matris auctoritate bedrängt würde; die Richter haben offenbar noch nichts davon gehört oder gesehen, daß Cluentius die Mutter zur Gegnerin hätte. § 18 „Alles Unglück, das Cluentius je hatte, stammt von seiner Mutter: Wir können sie darum in diesem Prozeß nicht schonen." hoc enim ipsum indicium, hoc periculum (ab) illa, accusatio44, omtiis testium copia quae futura est α matre 42

Die Parenthese ist ingeniös. Statt daß sich Cicero, wie zu erwarten stünde, dafür entschuldigt, daß er die Mutter seines Klienten angreift, entschuldigt er sich zunächst dafür, daß er sie „Mutter" nennt. Ergebnis (Quint, inst. 11, 1, 63): fecit... nomen parentis non filio odiosum, sed ipsi, in quam dicebatur. (Die zu erwartende Entschuldigung folgt erst in § 18.) 43 In § 182 ist wohl mit einem Teil der Oberlieferung (gegen die Herausgeber, deren Angaben über die Handschriften widersprüchlich sind) statt habuisses .. . conata es zu lesen: babuisset. . . conata est. Aber selbstverständlich wäre in dieser affektgeladenen Partie auch eine αποστροφή an die Abwesende möglich. 44 So ist m. E. der überlieferte Text zu ergänzen. Die Herausgeber ziehen illa zu accusatio (und ergänzen dann ζ. T. ein zweites illa vor oder nach omnis) - aber welchen Sinn soll die Gegenüberstellung von hoc indicium, periculum und illa accusatio haben?

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initio est adornata, a matre hoc tempore instruitur atque omnibus eins opibus et copiis comparator. Würde Cicero dies sagen, wenn Sassia filii caput pa lam impugnaret? Weiter (§ 18): ipsa denique nuper Larino huius opprimendi causa Romam advolavit: praesto est mulier audax, pecuniosa, crudelis, instituit accusatores, instruit testis, squalore huius et sordibus laetatur... etc. Schon Jules H U M B E R T hat empfunden, daß die Art, wie Cicero hier von Sassia spricht, darauf deutet, daß sie bei dem Prozeß - H U M B E R T meint freilich: in diesem Stadium des Prozesses 45 - nicht anwesend ist. Pierre B O Y A N C f i hat dagegen auf praesto est hingewiesen: „nous avons devant n o u s . . . " 4 ' Aber hier hat H U M B E R T einmal sicherlich recht. Mit praesto est kann Cicero nichts beschreiben, was die Richter leibhaftig vor Augen hätten - da müßten sie ja sehen, wie Sassia instituit accusatores, instruit testis! - , er ruft vielmehr ein Bild hervor, das sie sich vorzustellen haben 47 . Man muß nur an die Behandlung des T . Roscius Magnus in der Rosciana (§§ 17, 84, bes. 104) denken, um einen Begriff davon zu haben, wie Cicero sich empört hätte, wenn die von ihm so dargestellte Sassia auch noch „unverschämt" genug gewesen wäre, in subselliis accusatoris zu erscheinen! Das argumentum e silentio ist hier sicher: Diese Sassia ist beim Prozeß nicht anwesend, und der Ankläger hat auch nicht ihr testimonium angenkündigt. §§ 27 f., 42, 44 f., 52, 8 6 : für uns unergiebig. § 1 6 7 : Welches Motiv, fragt Cicero, hätte Cluentius gehabt, den Oppianicus iunior zu ermorden . . . cum ille verbum omnino in hac ipsa causa nullum facere potuerit, huic autem accusatores viva matre deesse non possint? id quod iam intellegetis. Aus dem letzten Satz, der auf die §§ 176 ff. vorausweist, geht hervor, daß die Richter bisher nicht den Eindruck gehabt haben, die Anklage sei von Sassia inspiriert. §§ 174 ff., bes. 1 7 6 - 1 8 7 : Sklavenverhör der Sassia gegen Cluentius. D a ß das Protokoll vom Ankläger verlesen und auch schriftlich verbreitet wurde, ergibt sich aus § 184. Dagegen läßt nichts darauf schließen, daß der Name „Sassia" im Protokoll stünde, ja daß sie überhaupt von Attius in diesem Zusammenhang erwähnt worden wäre 49 . Für das Gegenteil spricht entschieden § 185: iam vide-

Gemäß seiner These, Ciceros Reden seien gewöhnlich aus mehreren „tours de parole" zusammengesetzt (s. oben S. 33 ff.): In den §§ 182 und 194 soll Sassia anwesend sein (HUMBERT, Plaidoyers 115 f.). 46 Einl. S. 48. 47 Mit squalor und sordes (vgl. auch § 192) - damit niemand hieran Anstoß nimmt versucht der Angeklagte schon vor dem Beginn des Prozesses auf die öffentliche Stimmung einzuwirken (MOMMSEN, Strafrecht 390 f.); Sassia muß sich also nicht erst beim Prozeß selbst darüber „freuen". - Zum vergegenwärtigenden Präsens praesto est vgl. etwa S. Rose. 98 non versatur ante oculos vobis in caede Glauciaf non ad e s t iste T. Roscius? (Natürlich kann praesto est an sich auch die tatsächliche Anwesenheit vor Gericht bezeichnen, wie etwa in Verr. II 1, 2.) 48 Das Protokoll ist unterzeichnet von Sex. Albius (s. oben Anm. 24). 45

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tis illam nefariam mulierem, indices, eadem manu qua, si detur potestas, interficere filium cupiat, harte fictam quaestionem conscripsisse. §§ 188-195: große αυξησις. Das Versprechen von § 17 (und § 169) ist nunmehr eingelöst: i a m enim videtis profecto, indices, non sine ... causis [me] prineipio orationis meae de matre dixisse (§ 188). Wiederum zeigt sich deutlich, daß die Richter v o r der Rede Ciceros nichts von einer Beziehung Sassias zur causa Cluentiana gehört haben. Jetzt und jetzt erst (nach der Enthüllung über das Sklavenverhör) kann Sassia zur lebenslangen Feindin ihres Sohnes gemacht werden. § 189: Sie war schon bei dem Giftmordanschlag auf Cluentius mit im Bunde (ein Widerspruch zur Darstellung in den §§ 44 f. 4 '). § 190: Sie hat ihren Stiefsohn (spe hereditatis) zum Schwiegersohn gemacht, um so einen Ankläger gegen Cluentius zu haben (vgl. aber auch schon § 179). § 191: Kurze Reprise der §§ 176 ff. (Sklavenverhör). §§ 192 f.: erweiterte Reprise von § 18; Sassia mietet und instruiert Zeugen, schließlich kommt sie selbst nach Rom. Wiederum haben wir keine Andeutung davon, daß Sassia persönlich anwesend wäre; ja, wenn ich recht sehe, sieht sich Cicero sogar genötigt zu erklären freilich in der äußeren Form des Angriffs - , warum sie sich nicht blicken läßt: nunc vero quid agat, quid moliatur, quid denique cotidie cogitet, quem ignorare nostrum putat? quos appellant, quibus pecuniam promiserit, quorum fidem pretio labefactare conata sit tenemus (§ 194). Wir erhalten das Bild einer Sassia, die hinter den Kulissen die Fäden in der H a n d hält, ohne vor das Auge der Öffentlichkeit zu kommen. Damit kommen wir zu folgendem Ergebnis: (1) Sassia scheint beim Prozeß nicht zugegen zu sein; auch ihr Zeugnis steht nicht zu erwarten. (2) Attius hat die „Autorität der Mutter" an keiner Stelle bemüht. (3) Allenfalls bei der Erwähnung des Verhörprotokolls könnte ihr Name gefallen sein, aber auch das ist unwahrscheinlich. Sassia war vor Ciceros Rede den Richtern eine Unbekannte; die Attacke gegen sie erfolgte nicht in unmittelbarer Notwehr. Was also war der mittelbare Anlaß, der Cicero zu diesem ungeheuerlichen Angriff auf die Mutter seines Klienten bestimmt hat? Nichts anderes als jener Vorwurf der Impietät, den Attius gegen Cluentius erhoben und mit dem er sicherlich größte Wirkung erzielt hatte: pius Oppianicus - impius Cluentius! Wie in anderen seiner früheren Reden zeigt sich Cicero auch hier darauf bedacht, gerade den Hauptvorwurf der Gegenpartei auf diese selbst zurückfallen zu lassen, und zwar - das ist Ciceros Dispositionsprinzip - noch bevor dieser Vorwurf des Gegners überhaupt suo nomine zur Sprache kommt; wir sprachen hier von einer ,vorgängigen' retorsio criminisso. In unserem Fall schied der junge

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Dort will ja Oppianicus seinen Stiefsohn hauptsächlich darum umbringen, damit Sassia diesen beerbt und er dann nur noch sie zu töten hätte. (Testamentsrechtliche Bedenken gegen diese Konstruktion bei NIEMEYER S. 5 f.) In diesen Plan kann Sassia wahrhaftig nicht eingeweiht sein. 50 Vgl. S. 101.

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Oppianicus als das nächstliegende Opfer der retorsio - „Anklage gegen den eigenen (Stief-)Bruder!" - offenbar darum aus, weil er den Richtern schon zu sympathisch war und außerdem zu jung, als daß man ihm viel Böses hätte nachsagen können. (Cicero behandelt ihn in der ganzen Rede mit einer im Hinblick auf die Richter wohlbedachten Höflichkeit 51 .) Auch für die „Impietät der Sassia" (als des zweitbesten Opfers) stand Cicero nicht gerade ein erdrükkendes Belastungsmaterial zur Verfügung. Denn daß sie sich mit ihrem Sohn überworfen hatte und zum Zeitpunkt des Prozesses auf der Seite des Stiefsohnes stand", ist nichts weiter Merkwürdiges: Cluentius hatte immerhin die Verurteilung ihres Manns wegen Mordes durchgesetzt - und wie sehr sie den Gatten geliebt hatte, darüber belehrt uns allein die Tatsache, daß sie ihm auch nach der schmählichen Verurteilung die Treue hielt53. Aber: Sassias Vergangenheit hatte einen dunklen Punkt, einen Flecken gerade der Art, wie Cicero ihn brauchte. Es stand fest, daß sie im Jahre 86 (oder 85) ihren eigenen Schwiegersohn A. Aurius Melinus nach dessen nur zweijähriger Ehe mit ihrer Tochter Cluentia geheiratet hatte (§§ 11 ff.). Hier also waren - so konnte man es jedenfalls darstellen54 - in greulicher Weise die Bande von Familie und Natur gelöst ( § 1 9 9 ) : . . . etiam nomina necessitudinum, non solum naturae nomen et iura mutavit: uxor generi, noverca fili, filiae paelex. Hier war ein Präzedenzfall für den widernatürlichen Kampf einer Mutter gegen ihr leibliches Kind; und wenn auch diese frühere Ehe mit dem Gegenstand unseres Prozesses rein gar nichts zu tun hatte, konnte sie doch dazu dienen, den Sympathien, die der junge Oppianicus bei den Richtern genoß, entgegenzuwirken und das Odium der Impietät, des Frevels gegen die Familie, zurückzuschleudern: „Oppianicus ist nur das willenlose Werkzeug einer perversen Frau." Einzig aus diesem Grunde hat Cicero die Sassia, von der die Richter und wir sonst wohl nie etwas gehört

Vgl. B O Y A N C f i 13 f. Anders K R O L L , N J A 1924, 179. Dies wollen wir zur Ehre des Cluentius denn doch annehmen; sonst hätte er eine solche Behandlung seiner Mutter kaum zugelassen. 53 Vermutlich ging die Feindschaft des Cluentius mit Sassia erst auf das J a h r 74, also den Oppianicusprozeß, zurück. Wenn Cluentius damals - gegen römischen Brauch noch ohne Testament ist ( § 4 5 : mit sehr mühsamer Erklärung!), so doch offenbar, weil er nichts dagegen hat, daß im Falle eines Unglücks seine Mutter Intestaterbin wird. (Ein früheres Indiz einer Feindschaft haben wir nicht; in den §§ 16 f. kann Cicero frei erfinden.) Übrigens scheint sich Cluentius damals mit seiner ganzen Verwandtschaft überworfen zu haben. Bei unserem P r o z e ß (s. die §§ 195 ff.) treten zwar seine Mitbürger aus Larinum sowie andere angesehene Persönlichkeiten für ihn ein, bemerkenswerterweise aber niemand von den Angehörigen. 54 Natürlich könnte man auch daran denken, daß Cluentia ihres Gatten überdrüssig geworden wäre und daß sich Aurius, um in der Familie zu bleiben, an die vermögende W i t w e gehalten hätte. (Man beachte immerhin, daß Cicero nicht sagt, Cluentia sei lange unvermählt geblieben!) Aber Ciceros Darstellung hat hier doch eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich. 51

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hätten, ins Spiel gebracht 55 , hat er an den A n f a n g und das Ende seiner Rede das teuflische Porträt dieser noverca fili gestellt 56 . Zu Beginn freilich mußte etwas roh gezimmert werden, damit Sassia in den Darlegungen über das iudicium Iunianum ihren Platz finden konnte. § 11 atque ut intellegatis Cluentium non accusatorio animo . . . adductum, sed . . . proposito ante oculos vitae periculo nomen Oppianici detulisse, paulo longius exordium rei demonstrandae petam. quod quaeso, indices, ne moleste patiamini; principiis enim cognitis multo jacilitts extrema intellegetis. D i e Richter tun gut daran, diese Verheißung über den Schrecklichkeiten der nun folgenden narratio (§§ 1 1 - 1 6 ) zunächst zu vergessen; sie hören hier auch nicht ein Wort über die Motive, die Cluentius zur A n k l a g e gegen Oppianicus bestimmt haben 5 7 . U m so eleganter bewältigt Cicero die Aufgabe, die Gestalt der Sassia an das Ende seiner Rede zu bringen und die Entscheidung der Richter z u einem 55

Obwohl die Frage für die Beurteilung von Ciceros ,Erfindung' streng genommen gleichgültig ist: W a r Sassia die Seele des Prozesses? D a f ü r spricht einzig, daß sie bei dem erwähnten Sklavenverhör zugegen war - schon daß sie es geleitet hat, kann Erfindung Ciceros sein - , im übrigen weisen die Tatsachen in eine andere Richtung. Wenn Sassia wirklich auf den Prozeß gedrängt hätte, warum hat sie dann sechs ganze Jahre (seit 72) gewartet? Wenigstens im J a h r 69 (§ 179), also immer noch drei Jahre vor unserem Prozeß, hätte sie doch das Beweismaterial gegen Cluentius (Verhörprotokoll) zur Verfügung gehabt; wenn sie damals nichts unternahm, so wollte sie offenbar keinen Prozeß (trotz des Zerwürfnisses mit dem Sohn, s. oben Anm. 52). Wahrscheinlich ist, daß die Initiative vom jungen Oppianicus ausging, „qu' il se mit en avant . . . des qu' il eut atteint 1' äge d' intervenir en justice" (BOYANCfi 13). Mit der Angst vor einer Anklage des Oppianicus scheint ja auch Attius (nach § 167) den angeblichen Giftmordanschlag des Cluentius motiviert zu haben. Schließlich beachte man, daß Sassia erst unmittelbar vor dem Prozeß, geraume Zeit nach ihrem Sohn, in Rom eingetroffen ist (§ 192, vgl. § 18), eine Tatsache, die Cicero nur recht mühsam erklärt. (Sie habe zu Hause noch einige Zeugen bestechen wollen!) Ist die Vermutung abwegig, daß die alte Dame erst nachträglich von den Prozeßabsichten ihres Stiefsohnes erfuhr und nach Rom reiste, um sich über die Dinge zu informieren? 58 Diese Technik, einen an sich sympathischen Prozeßgegner dadurch zu diskreditieren, daß man ihn als das Werkzeug eines anderen, unsympathischen ,Hintermannes' erscheinen läßt, hat Cicero später noch in der Caeliana erfolgreich verwendet (Clodia hinter Atratinus, vgl. S. 250). Die Rhetoriker schweigen m. W. über dergleichen; doch gibt es immerhin ein attisches Vorbild. In der achten Rede des Isaios wird der eigentliche Prozeßgegner von Anfang an aus dem Bewußtsein der Richter verdrängt und als bloßer Strohmann eines anderen hingestellt. § 3 την μέν ουν κρίσιν ού δει μοι νομίζειν είναι ταύτην πρός τον εΐληχότα τοΰ κλήρου την 6'ικην, άλλα πρόζ Διοκλέα τόν Φλυέα, τον Ό ρ έ σ τ η ν έπικαλούμενον. ούτος γάρ έστιν ό τοϋτον παρασκευάσας πράγμαθ' ήμϊν παρέχειν . . . 57 Dies erst von § 1 9 an, mit dem etwas verzeifelten Übergang: nunc iam sutnmatim exponam . . . Cicero riskiert es eben nicht, den Sassia-Abschnitt, den er am Anfang der Rede braucht, unter eigenem Titel einzuführen, etwa: „Zuerst will ich euch erklären, wer überhaupt die Triebkraft dieses Prozesses ist . . . " (die Absicht wäre zu auffallend). So wird er, so gut es geht, am Anfang des Oppianicus-Abschnitts eingebaut (vgl. auch Quint, inst. 4, 2, 15 f. und dazu unten S. 240).

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U r t e i l über die w i d e r n a t ü r l i c h e M u t t e r w e r d e n zu lassen. Z u n ä c h s t w e r d e n g a n z u n a u f f ä l l i g - die angeblichen G i f t m o r d e des Cluentius u m a r r a n g i e r t . D e r Anschlag auf O p p i a n i c u s iunior liegt ja in W i r k l i c h k e i t drei J a h r e nach dem M o r d an dem V a t e r ; Cicero aber stellt um, da im Z u s a m m e n h a n g des letzten Verbrechens Sassia keine Rolle spielt 58 . U n d auch i n n e r h a l b der B e h a n d l u n g dieses jetzt a m E n d e stehenden M o r d e s v e r w e n d e t er einen k ü h n e n ordo artificiosus. Bei schulmäßiger Disposition h ä t t e auf die narratio, die Cicero hier n o t w e n d i g braucht 5 9 , die argumentatio folgen müssen: (a) εντεχνοι πίστεις: probabile e causa (§§ 169-171), e facto (§§ 172 f.), (b) ατεχνοι πίστεις: das Verh ö r p r o t o k o l l (§§ 183 ff.). Gleichgültig n u n wie Cicero die argumentatio in sich disponiert hätte, auf jeden Fall w ä r e n die Sassia b e t r e f f e n d e n Teile (narratio, V e r h ö r p r o t o k o l l , peroratio gegen Sassia: §§ 188 ff.) an einer Stelle durch die probabilia u n t e r b r o c h e n w o r d e n . D a r u m zieht Cicero - w e n n ich recht sehe, z u m ersten u n d einzigen Mal in seinen Reden - die „künstlichen" Beweise vor die narratio, so d a ß diese in eine zweiteilige argumentatio gewissermaßen eingebettet liegt. Er k a n n sich so a m Schluß g a n z auf die R a b e n m u t t e r k o n z e n trieren; von dem Bericht über das S k l a v e n v e r h ö r f ü h r t ein gerader Weg zu der E r ö r t e r u n g des Protokolls u n d der d a r a u s sich ergebenden peroratio gegen das M o n s t r u m Sassia. So t r ä g t auch die Disposition zu ihrem Teil d a z u bei, d a ß der H ö r e r mit dem E i n d r u c k entlassen w i r d , es gehe in diesem P r o z e ß nicht d a r u m , d a ß ein f r o m m e r Sohn seinen V a t e r rächen, sondern d a ß eine widernatürliche M u t t e r den H a ß gegen i h r K i n d befriedigen könne. Dieselbe Freiheit u n d G r o ß z ü g i g k e i t der Disposition, die wir in diesem letzten Stück der R e d e finden, zeigt sich auch im ersten u n d größten Teil, den § § 9 - 1 4 2 . Auch hier w i r d die schulmäßige Einteilung in (1) narratio (Vorstellung des Sachverhalts), (2) argumentatio (Diskussion des Sachverhalts) aufgegeben, ja diese beiden Teile w e r d e n in einer f ü r Cicero bisher beispiellosen Weise so miteinander vermengt, d a ß eine säuberliche T r e n n u n g k a u m mehr möglich ist 60 . Z w a r der ganz ä u ß e r e n F o r m nach beginnt nach der propositio der § § 9 - 1 1 u n d der Sassia b e t r e f f e n d e n , V o r e r z ä h l u n g ' ( § § 1 1 - 1 8 ) mit § 1 9 eine narratio, die in § 81 von der eigentlichen confirmatio des H a u p t p u n k t s ab58

Vgl. KROLL, N J A 1924, 177. Der angebliche Giftmord an C. Vibius Capax (§ 165) scheint noch jüngeren Datums zu sein. Er ist an den A n f a n g des letzten Teils gestellt, weil seine ostentativ summarische Behandlung (§ 164!) sich gut an den .Telegrammstil' der §§ 161-163 (crimina extra causam) anschließt. So rasch, gibt Cicero zu verstehen, lassen sich alle crimina abtun, bei denen nicht die invidia (§ 160, vgl. 1 ff. und passim) dem Ankläger zu H i l f e kommt. 59 Schon wegen zweier Punkte, die der Ankläger sicherlich weggelassen hatte: (1) das Sklavenverhör des Jahres 72 (§§ 176-178), (2) die Geschichte v o m Diebstahl des Strato (§§ 179 f.). Der Grund für die zunächst überflüssig scheinende Ausführlichkeit, mit der sich Cicero dieser Begebenheit widmet (sogar die benutzte Säge wird in liebevoller Ekphrasis beschrieben), liegt darin, daß im Verhörsprotokoll nichts darüber zu lesen stand: §§ 184 f. Je gewichtiger dieses furtum in Ciceros Darstellung scheint, um so verdächtiger muß sein, daß es im Hauptdokument der Anklage nicht erwähnt ist. ·» Vgl. KROLL, N J A 1924, 182 ( w o aber Quint, inst. 4, 2, 9 mißverstanden ist).

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gelöst wird (Stichwort: versatam esse in iudicio pecuniam constat; ea quaeritur unde profecta sit, ab accusatore an ab reo' 1 ); jedoch sieht man leicht, daß die wirkliche Funktion der Teile davon verschieden ist. Die §§ 21-61, in denen die Verbrechen des Oppianicus (§§ 21 ff.) und die angeblichen Präjudizien gegen ihn (§§ 49 ff.) 82 dargelegt werden, enthalten nichts anderes als das probabile e causa für das eigentliche Beweisziel: Aus ihnen soll ja hervorgehen, daß nur Oppianicus (und nicht Cluentius) einen Grund gehabt habe, das Gericht zu bestechen (so ausdrücklich in § 62 . . . nullam accusatori causam esse potuisse cur iudicium vellet corrumpere, vgl. §§ 64, 81) M . Und ebenso wird das probabile e facto (die profectio pecuniae) von Cicero schon vor die eigentliche, den umstrittenen Sachverhalt betreffende narratio ( § § 6 6 - 8 1 ) gestellt: §§ 64 f., vgl. dann § 82. Also auch in diesem Teil der Rede ist die narratio von der argumentatio umschlossen. Es tritt dies hier nur insofern weniger deutlich hervor, als einmal der erste Teil der argumentatio selbst ,narrativ' ist, zum andern sich eine ungefähr chronologische Abfolge des Stoffes ergibt 64 : Von den Ereignissen 01

An sich eine geradezu schulmäßige propositio zur Einleitung der argumentatio, vgl. Cie. inv. 1, 31, Rhet. Her. 1, 17, VOLKMANN 173 f. 62 Die Schwäche von Ciceros Beweis in diesem Punkt scheint noch nicht recht erkannt zu sein (vgl. jetzt aber auch PUGLIESE 167). Es konnte zwar bei dem Prozeß gegen Scamander wahrscheinlich gemacht werden, daß dieser in einen Mordanschlag auf Cluentius verwickelt war (§ 55: Scamander mit nur einer Gegenstimme verurteilt), aber keineswegs mußte daraus hervorgehen, daß gerade Oppianicus der eigentliche Urheber des Verbrechens gewesen wäre. Die Tatsache, daß Scamander ein Freigelassener des Fabricius war, wies auf diesen als den Hauptschuldigen, und es war auch wirklich zunächst Fabricius, der angeklagt und verurteilt wurde. Ciceros Darstellung, als hätte schon im Scamander-Prozeß Oppianicus als der wahrhaft Angeklagte gegolten, ist unkontrollierbar; die Unwahrscheinlichkeit ergibt sich aus der fadenscheinigen Konstruktion, mit der Cicero den Fabricius-Prozeß motivieren muß (§ 56): itaque [sc. Cluentius] C. Fabricium, quem propter famtliaritatem Oppianici conscium illi facinori fuisse arbitrabatur [!], reum statim fecit... Daß Fabricius Patron des Scamander war, wird hier, wie im ganzen Bericht vom Scamander-Prozeß, sorgfältig verschwiegen. (Die Information gibt Cicero nur in § 47 und wieder in § 61. In § 52 versteht man unter dem patronus des Scamander auf Grund der vorhergehenden Sätzi unwillkürlich Oppianicus - obwohl Cicero ausdrücklich nichts Unrichtiges sagt.) Die lässige praeteritio-ähnliche Übergangs forme 1 des § 59 (quid est quod iam de Oppianici persona causaque plura dicamus?) verdeckt, daß gerade das Wichtigste durch die ,Präjudizien' nicht entschieden ist: Ob Oppianicus mit Scamander und Fabricius im Bunde war, bleibt ungewiß. es Also kein probabile e vita, wie schon behauptet wurde (NIEMEYER 4, PETERSON S. XII). Unrichtig bestimmt auch MICHEL (S. 398) das Verhältnis der Teile: „(1) Oppianicus war schuldig. (2) Selbst wenn er unschuldig gewesen wäre, wäre die Verurteilung doch ohne Bestechung zustande gekommen." Mit einer „disputatio in utramque partem" (so MICHEL a. O., der hier eine Beziehung zwischen „rhetorique et philosophie" zu fassen glaubt; vgl. S. 222 und 164 ff.) hat dies wohl nichts zu schaffen. «4 Vgl. S. 73.

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vor dem Oppianicus-Prozeß ( § 2 1 f f . ) k o m m e n wir zu diesem selbst (§§ 66 ff.) u n d schließlich zu den nachfolgenden Begebenheiten (§§ 88 ff.). Was soll hier das Ineinander v o n Erzählung und Beweis? A n und für sich ist diese Technik so alt w i e die uns kenntliche antike Rede überhaupt. Beginnend mit Antiphon, geben uns fast alle attischen Redner Beispiele solcher Verschmelzung' 5 , wobei sich, wenigstens der Idee nach, z w e i Typen voneinander trennen lassen. Im einen muß ein allzu komplexer Stoff in kleinere Einheiten v o n narratio und zugehöriger argumentatio aufgelöst werden, damit der H ö r e r nicht den Überblick verliert. (Besonders deutlich wird dieser sachgebotene T y pus durch die Reden in Repetundenprozessen verkörpert".) Beim andern dagegen, dem eigentlich ,advokatischen' Typ, geht es darum, eine Beweisführung eindrucksvoller zu gestalten b z w . gewisse Schwächen der vertretenen Version vor dem Hörer zu verbergen oder auszugleichen 6 7 . Zu dieser zweiten Kategorie dürfte auch der besprochene Teil der Cluentiana gehören. • 5 Antiph. or. 5: Die narratio (§§ 20-24) ist mit einzelnen künstlichen und unkünstlichen Beweisen versehen; die argumentatio (§§ 25-84) wiederum hat erzählende Bestandteile (vgl. BLASS I 179 und 185, F. SCHEIDWEILER, RhM 109, 1966, 333; unrichtig JEBB II 289). Die Einschaltung von Zeugenbeweisen in die narratio verwendet auch Isokrates in den Prozeßreden (Callim., Trap.); ganz eigenartig ist die Struktur des Aiginetikos: §§ 5-15 narratio = causa ipsa, mit dem Gesetz als unkünstlichem Beweis, §§ 16—49 argumentatio (extra causam)·, anders JEBB II 289. Ein besonderer Spezialist auf diesem Gebiet ist Isaios (or. 5, 6, 11). Zu ihm und anderen s. die beiden folgenden Anmerkungen. •· Ein frühes Beispiel bietet die Mysterienrede des Andokides (vgl. BLASS I 309, G. A. K E N N E D Y , AJPh 79, 1958, 37); sonst denkt man besonders an die großen politischen Prozeßreden des Aischines und Demosthenes (etwa or. 18 und 19, vgl. auch BLASS III 1, 216). Vgl. Quint, inst. 4, 2, 85 nec saepius narrare duxerim nefas, quod Cicero pro Cluentio fecit, estque non concessum modo, sed aliquando etiam necessarium, ut in causis repetundarum omnibusque quae simplices non sunt. (Daß die Cluentiana hierzu rechne, ist nicht eindeutig gesagt.) Die rhetorische Theorie ist hauptsächlich auf diesen vom Ziel der Verständlichkeit gebotenen Typus des κατά μέρος διηγεΐαΦαι aufmerksam geworden: Aristot. rhet. 3, 16 (1416 Β 22) . . . ε ν ί ο τ ε οΰκ έφεξής δει διηγεϊσθαι πάντα, δτι δυσμνημόνευτον τό δεικνύναι ούτως; Anaxim. 31, 2; Quint, a. Ο. und 4, 2, 82; 7,10,11 ubi utendum expositione continua, ubi partita, Anon. Segu. R h G r I p. 374, 24 ff. S P . / H A M M E R (vgl. M. S C H A N Z , Hermes 25, 1890, 48 f.), Iul. Vict. 16 (p. 425 H.) narrationes . . . μερικαί (entweder bei großer Länge oder, cum sub unum crimen plures res gestae cadunt, ut in repetundarum iudiciis et tutelae actionibus, vgl. Fortunat, p. 112 H . merice diegesis), Mart. Cap. 5, 552, p. 486, 33 ff. Η . .. . narrationum aliae continuae, aliae parities vocantur. Vgl. auch Dion. Hal., Is. 14 (die Erklärung in diesem Sinn wird dem Isaios nicht voll gerecht). " In der 13. Rede des Lysias etwa (seine „uniform simplicity" in der Komposition ist überbetont bei JEBB 1179 f. und Dion. Hal. Lys. 16) wird das wirkungsvollste Argument bereits in die narratio eingelegt (§§ 26-28), um dann noch zweimal in der argumentatio repetiert zu werden (§§ 52-54, 58-61). Das advokatisch wohl Raffinierteste bietet Isaios in der 6. Rede. Hier dient die ganz künstliche Einteilung in narratio I (§§ 3 f.), argumentatio I (§§ 5-9), argumentatio II (§§ 10-59) mit eingelegter

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Bedenken wir die Schwierigkeiten von Ciceros Beweisführung! Er will ja, gegen alle wenigstens vordergründige Wahrscheinlichkeit, nachweisen, daß nicht, wie man glauben sollte, der Prozeßsieger Cluentius, sondern Oppianicus, der Verurteilte, das Gericht bestochen habe. Zu diesem Zweck bedarf es einer kühnen und komplizierten Version: Staienus, der von Oppianicus angeworbene Mittelsmann der Bestechung, habe einigen Richtern das Bestechungsgeld zwar zunächst versprochen, dann aber erklärt, Oppianicus wolle nun doch nichts zahlen, um diese so gegen den Angeklagten zu reizen, die Verurteilung sicherzustellen und schließlich das ganze Geld für sich behalten zu können. So gelingt das Kunststück einer Erklärung dafür, wie Staienus Oppianicus verurteilen und zugleich von ihm bestochen sein könne! Eine ingeniöse Erfindung, aber doch zunächst nicht eben sehr wahrscheinlich. So hat sich denn Cicero hier offenbar gescheut, gleich mit der Tür ins Haus zu fallen und in einer narratio seine - ja völlig hypothetische - Rekonstruktion des Sachverhalts vorzutragen' 8 . Bevor er überhaupt auf den Prozeß zu sprechen kommt und seine Version vorträgt, müssen die Hörer bereits wenigstens davon überzeugt sein, daß nur Oppianicus ein Motiv haben konnte, das Gericht zu bestechen. Erst nachdem sie von der Fülle seiner Verbrechen und von der Eindeutigkeit der gegen ihn ergangenen Präjudizien gehört haben, können sie bereit sein, sich auf eine so waghalsige Konstruktion, wie Ciceros narratio sie darstellt, einzulassen. narratio II (§§ 17-42) dazu, den Hörer über den eigentlichen Streitpunkt zu betrügen: Er erfährt erst in narratio II, daß Euktemon seinen Sohn Philoktemon überlebt hat, und daß es darum überhaupt nicht, wie er bisher glauben mußte, um das Erbe des letztgenannten geht. (Vgl. auch BLASS II 520 f., der aber das Sachliche nicht richtig durchschaut.) Von den Theoretikern empfiehlt meines Wissens nur Cicero in De inventione, die narratio unter Umständen künstlich zu zerreißen (1,30): obest tum [sc. narratio], cum ipstus rei gestae expositio magnam excipit offensiotiem, quam argumentando et causam agendo leniri oportebit. quod cum accidet, membratim oportebit partes rei gestae dispergere in causam et ad unam quamque confestim rationem accommodare, ut vulneri praesto medicamentum sit et odium statim defensio mitiget. (Dies paßt allerdings nicht völlig auf Pro Cluentio.) Quintilian scheint eine solche eigentliche Vermengung von narratio und argumentatio nicht gutzuheißen (zu mehrfacher narratio s. oben Anm. 66); inst. 4, 2, 108: argumentabimur in narratione, ut dixi, numquam [vgl. §§ 79 und 103]; argumentum ponemus aliquando, quod facit pro Ligario Cicero . . . (Das letztgenannte praeceptum entspricht wenigstens ungefähr Aristot. rhet. 3 , 1 6 = 1417 A 28 ff., Anaxim. 30, 9; vgl. auch Quint, inst. 4,2, 54, Hermog. de inv. 94, p. 122 f. RABE.) Vgl. im übrigen V O L K M A N N 161 f., LAUSBERG § 324, KROLL, Rhetorik 1067. 68

Die narratio im status coniecturalis enthält entweder eine Rekonstruktion der umstrittenen Ereignisse oder eine (parteiische) Darstellung der an sich unumstrittenen Tatsachen, die dann im Hinblick auf das Beweisziel interpretiert werden. (Den wichtigen Unterschied hat m. W. nur Quintilian notiert: inst. 4, 2, 81 coniecturales autem causae, in quibus de facto quaeritur, non tarn saepe rei de qua iudicium est quam eorum per quae res colligenda est expositionem habent.) Eine rein ,rekonstruktive' narratio hat Cicero sonst nur noch in den Reden pro Archia und pro Milone.

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Wir haben eingangs auf den scheinbaren Widerspruch hingewiesen, der z w i schen Ciceros anfänglicher Versicherung, der Disposition des Anklägers folgen z u wollen, und seiner späteren Äußerung liegt: . . . meque meum dicendi ordinem servare patiamini. D i e Auflösung ist nun leicht. D i e Versicherung des § 1 bezieht sich auf die Gesamtanlage der Rede, die Entschuldigung des § 6 betrifft den A u f b a u des ersten Teils, in dem Cicero tatsächlich suum ordinem bewahrt. Bis zur eigentlichen narratio, die in § 66 beginnt, behandelt er ja lauter Dinge, v o n denen in der Anklagerede überhaupt nicht gesprochen war, und er hat so allen Anlaß, sich zu rechtfertigen und die Richter wenigstens dadurch zu beruhigen, daß er ständig die äußerste Kürze verspricht® 9 : § 19 nunc iam summatim exponam..., § 20 . . . pauca vobis illius iudici crimina exponam, § 30 acervatim reliqua iam, iudices, dicam . . § 36 . . . longum est dicere mihi praesertim ad alia properanti, § 4 1 multa praetereo consulto. Auch diese Technik dürfte Cicero der berühmten Gesandtschaftsrede des Aischines abgesehen haben (vgl. oben S. 194). Sie besteht ebenfalls zum größten Teil aus einer „Vorerzählung", durch welche der Redner versucht, die Behandlung des eigentlich gravierenden'

• 9 Zu Recht hat BOYANCE (S. 29 ff.) die Äußerung des Rufinianus (p. 42 H.) über άποπλάνησις auf den ersten Abschnitt des ersten Teils (Verbrechen des Oppianicus und Präjudizien) bezogen (gegen HUMBERT, REL 1938, 281 ff., der den ganzen ersten Teil der Rede als άποπλάνησις verstehen wollte; gegen B O Y A N C E wiederum CLASSEN 1965, 112 ff.; vgl. CLASSEN 1972, 10 f.; PUGLIESE [S. 163] will jetzt beide Auslegungen für richtig halten!): άποπλάνησις est iudicis a re contraria nobis [in der Cluentiana: die Richterbestechung] avocatio, quam cum desiderat aut ab adversario commonetur ut quaerat, nos obscurando et miscendo et promittendo quidem dicturos nos, sed suo loco [Clu. 6!] ad aliam rem avocamus, et rursum dum dicimus sensim ad aliud transimus, et ab eo quod contra nos est avocatur et suspenditur iudex vel coniuncta rerum multitudine implicatur, ut non de uno, sed de pluribus putet sibi sententiam esse dicendam, ut pro Cluentio fecit Cicero . . . (es folgen Zitate aus den § § 7 , 81 und 64). B O Y A N C E irrt nur in einem Punkt, wenn ich recht sehe: Mit ut non de uno . . . kann nicht gemeint sein, daß der Richter nicht wüßte, ob er über „la corruption du tribunal {de uno) ou, retrospectivement, tous ces forfaits (de pluribus)" (= Verbrechen des Oppianicus) zu befinden habe; die Zitate gerade der §§ 64 und 81, in denen jeweils das (falsche) Dilemma aufgestellt wird: „Entweder hat Cluentius bestochen oder Oppianicus", zeigen eindeutig, daß Rufinianus eben hierin das de pluribus sieht. Statt daß Cicero, so meint er, nur die für den Prozeß relevante Frage behandeln würde, ob Cluentius bestochen hat (de uno), verknüpft er dies mit der anderen, ob Oppianicus bestochen hat (de pluribus), und so wird der Richter in der Tat für einen Augenblick über den Gegenstand seiner Entscheidung verwirrt. Die Dinge also, die Cicero einschiebt, um von der res contraria abzulenken (ad aliam rem avocamus), sind nicht, wie BOYANCE meint, identisch mit demjenigen, was nachher b e i der Behandlung der res contraria (et rursum dum dicimus) die Verwirrung des Richters ausmacht. (Rufinianus deutet ja auch in keiner Weise an, daß sie identisch wären: rursum ad aliud transimus; aliud = etwas, von dem bisher noch nicht die Rede war.) Mit dieser Erklärung von de pluribus erledigt sich der (sonst berechtigte) Einwand von CLASSEN 1965, 113 Α. 36.

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Punktes aufzuschieben 70 und ihr zugleich ein Fundament zu verschaffen. U n d auch dort werden die Richter immer wieder durch die Versicherung einer „summarischen" Behandlungsweise darüber vertröstet, daß der Redner nicht zur Sache kommt 71 . Den Unterschied macht, daß Cicero durch seine Ankündigung in § 1 bereits den Kredit eines Mannes hat, der nichts vertuschen will. In dieser Hinsicht ist er sogar geschickter als sein Vorbild 72 . Soviel zum Gesamtaufbau des ersten Teils der Rede. Betrachten wir nun Ciceros Disposition im einzelnen, so zeigt sich schon bei flüchtigem Hinsehen, daß das im Großen wirksame chronologische Prinzip in den Einzelheiten nicht mehr streng durchgeführt ist. Verletzungen der Chronologie finden sich jedenfalls bei dem ersten und dem letzten der vier Punkte: (1) Verbrechen des Oppianicus, (2) Prozesse gegen Scamander und Fabricius, (3) Oppianicus-Prozeß, (4) angebliche Präjudizien gegen Cluentius. Begonnen sei mit dem letzten (§§ 88 ff.). Die wirkliche Folge der Ereignisse, die jetzt Cluentius belasten sollen, läßt sich zum großen Teil noch bestimmen 71 . Im Jahre 74 wird C. Iunius, der iudex quaestionis, in einem Multprozeß verurteilt 74 . Im selben Jahr noch erläßt der Senat ein senatus consultum für ein Gesetz, durch das ein rechtliches Vorgehen gegen die Richterbestechung beim iudicium lunianum ermöglicht werden soll 75 ; das Gesetz wird jedoch weder in diesem noch im folgenden Jahr eingebracht. Offenbar im Jahr 73 wird dann C. Fidiculanius Falcula, einer der Richter, in einem Multprozeß freigespro70

Zu den von Demosthenes behandelten Themen kommt Aischines erst von § 81 an; den Hauptvorwurf (Schuld am Untergang der Phoker) spart er aus bis § 119. 71 In den §§ 24, 25 (δια κεφαλαίων), 44 (πρός ταΰτα σπεύδω). Weitere Beispiele für eine solche in die Vergangenheit weit zurückgreifende „Vorerzählung" (προδιήγησις, vgl. VOLKMANN 151) bieten die dritte Rede des Lysias und Demosthenes gegen Konon (or. 54): In beiden Fällen kommt es darauf an, den Gegner als den Angreifer erscheinen zu lassen. (Zur .Aufschubtechnik' vgl. auch Quint. 4, 2, 79.) 72 Aber auch Aischines kündet an, um das Gewaltsame seiner Disposition zu mildern, er werde alles behandeln, was der Ankläger vorgebracht habe, und man möge nur darauf hinweisen, wenn er versehentlich etwas auslasse (§ 7). Dies mag Cicero für § 1 inspiriert haben. 73 In den Kommentaren und Erläuterungsschriften zu unserer Rede wird vielfach Ciceros Scheinchronologie mit der wirklichen verwechselt (besonders kritiklos in dieser Hinsicht NIEMEYER 15). Hilfreicher sind die RE-Artikel. 74 Datierung nach §89. Vgl. F. MÜNZER, „Iunius (15)", RE X I (1917) 963, MOMMSEN, Staatsrecht 1183 A. 1. PUGLIESE (S. 169) scheint jetzt fälschlich einen Repetundenprozeß anzusetzen. 75 §136 Sl QVI SVNT QVORVM OPERA FACTVM SIT VT IVDICIVM PVBLICVM CORRVMPERETVR ... Der Wortlaut des SC spricht nicht dafür, daß es gegen die bestochenen Geschworenen gerichtet gewesen wäre - gegen diese konnte ja mit dem Repetundengesetz vorgegangen werden - , vielmehr scheint Cluentius selbst ins Auge gefaßt, gegen den es als Ritter offenbar sonst keine gesetzliche Handhabe gab. Darum auch die Behauptung des Attius (§ 137), die Konsuln seien von Cluentius bestochen worden. (Vgl. Anm. 33 zu S. 235.)

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chen", einige Zeit darauf - dieses D a t u m ist leider nicht genau bestimmbar 77 auch in einem Repetundenprozeß 7 8 . Weitere Richter, die in der Folgezeit belangt werden, sind: P. Septimius Scaevola, wegen Repetunden verurteilt im Jahr 72, und M. Atilius Bulbus, wegen maiestas verurteilt in den Jahren z w i schen 73 und 70 7 °. Gelegentlich der Zensur des Jahres 70 werden dann die ehemaligen Richter M. Aquilius, Ti. Gutta und P. Popilius zensorisch gerügt; auch Cluentius selbst entgeht einer solchen Rüge nicht. Schließlich werden in den Jahren nach 70 Popilius und Gutta (wegen ambitus) gerichtlich verurteilt 8 0 ; wahrscheinlich fällt auch die Verurteilung des C. Staienus in diese Zeit 81 . Mit dieser stattlichen Liste v o n Urteilen und Maßnahmen, die gegen Richter des iudicium Iunianum ergriffen worden waren, konnte Attius eindrucksvoll darlegen, daß in all den Jahren seit 74 die Bestechung des Cluentius für ausgemacht gegolten hatte: Fast stets, w e n n einer der Betroffenen - unter welchem juristischen Titel auch immer (vgl. § 1 1 5 ) - angeklagt wurde, kam es auch z u einer Verurteilung. Dagegen bemüht sich nun Cicero einerseits zu zeigen, daß diese Urteile nicht auf dem erwiesenen Tatbestand der Bestechung beruht hätten 8 2 , zum andern sucht er sie als das Produkt einer relativ kurz andauernden Empörung der öffentlichen Meinung ( i n v i d i a ) hinzustellen, welche von 70

Datierung nach § 108 (Quinctius ist nicht mehr im A m t ; unrichtig B R O U G H T O N II 103). 77 Aus § 114 läßt sich mit Sicherheit nur schließen, daß der Prozeß v o r den ambitusProzessen gegen Popilius und Gutta liegt (vgl. unten Anm. 79). Der Satz . . . quod ex tarn multis iudicibus absoluto Falcula nemo reus factus est kann schon wegen des unmittelbar folgenden nicht heißen, daß überhaupt keiner der Richter nach dem Freispruch des Falcula noch angeklagt worden wäre; vielmehr nur, daß keiner mehr unmittelbar wegen Bestechung (d. h. repetundarum) belangt wurde. Die Majestätsprozesse gegen Bulbus und Staienus können also sehr wohl auf den Repetundenprozeß des Falcula gefolgt sein; besonders f ü r Staienus ist dies wahrscheinlich. (S. unten Anm. 81.) 78 Unrichtig F. MÜNZER, RE VI 2 (1909) 2287 und nach ihm H . G U N D E L , RE X X I V 1 (1963) 1004: Falcula sei verurteilt worden. 79 Beide Daten nach Cie. Verr. a. p. 38. Für Bulbus ergibt sich nur der terminus ante quem. 80 Vgl. F. MÜNZER, RE VII 2 (1912), 1952, V O L K M A N N , RE X X I I 1 (1953), 53 f. D a ß der Prozeß des Popilius erst nach 70 liegt, ergibt sich eindeutig aus § 132 (eundem Popilium postea Lentulus in ambitus iudicio ... laudat); der Plural in § 114 (quid enim mihi damnatos ambitus conligitis . . .?) sowie die Tatsache, daß der Name Gutta in Cie. Verr. a. p. 38 nicht genannt wird, macht es sehr wahrscheinlich, daß auch der Prozeß des Gutta erst in diese Zeit zu setzen ist. 81 Anders F. MÜNZER, RE IV 1 (1900) 607 und RE III A 2 (1929) 2135, der die Verurteilung bald nach 74 ansetzen möchte (ebenso B A R D T 7). Dagegen spricht jedoch Cie. Verr. a. p. 38, wo auf Staienus - im Gegensatz zu den übrigen Richtern des iudicium Iunianum - so angespielt wird, daß sowohl sein Name ungenannt bleibt als auch von einer Verurteilung nichts gesagt wird. 82 Bezüglich der Gerichtsurteile kann Cicero auf dem Rechtstitel insistieren (§§ 91, 96, 97, 98, 99, 103, 114): Keiner der Betroffenen war unmittelbar wegen Richterbestechung verurteilt worden. Dies gilt allerdings nicht f ü r P. Septimius Scaevola (§§ 115 f.);

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dem Tribunen Quinctius mutwillig erregt worden wäre. Dementsprechend werden die einzelnen Punkte generatim, und zwar nach dem Prinzip der abnehmenden Wichtigkeit angeordnet. Die eigentlichen Gerichtsurteile, als das relativ Gewichtigste, stehen am Anfang ( § § 8 9 - 1 1 4 ) , es folgt die (bloße) litis aestimatio beim Prozeß des Septimius Scaevola (§§ 115 f.: quod iudicium appellari non oportet), die zensorischen Rügen (§§ 1 1 7 - 1 3 4 , mit Anhang § 1 3 5 : das Testament des Egnatius), das Senatus consultum (§§ 1 3 6 - 1 3 8 ) und schließlich Ciceros eigenes angebliches Urteil über das iudicium Iunianum in den Verrinen (§ 1 3 8 - 1 4 2 ) . Diesem ,Decrescendo' der Bedeutsamkeit, indem sich gewissermaßen das Nachlassen der invidia spiegelt (vgl. bes. §§ 92 f.), entspricht auch der allmähliche Wechsel des Tons: Der erste Teil ist mit großem Ernst, ja in den Ausfällen gegen Quinctius mit Schärfe gestaltet; leichter ist der T o n im folgenden, in § 135 schon geradezu gemütlich und ironisch; der letzte A b schnitt schließlich, in dem Cicero auf seine eigene bedauernswerte Verbeugung vor der Hoheit der öffentlichen Meinung zu sprechen kommt, ist ein zum Teil fast übermütig humoristischer Epilog zum Thema „Präjudizien gegen Cluentius". Betrachten wir auch die Disposition im Kleinsten! Während von den behandelten Gerichtsurteilen die beiden mit Freispruch endenden Prozesse gegen in seinem Fall war die Bestechung innerhalb eines Repetundenprozesses zur Sprache gekommen, des Verfahrens also, in dem senatorische Richter wegen Bestechung üblicherweise belangt wurden (§ 104). Cicero will zeigen, daß die Sache für die Verurteilung nicht den Ausschlag gegeben habe; bei der nach dem Urteil stattfindenden litis aestimatio würden weniger strenge Maßstäbe angelegt als beim eigentlichen Prozeß. (Man beachte, daß Cicero zwar suggeriert, aber doch nicht eigentlich sagt, die Beschuldigung sei allererst gelegentlich der litis aestimatio vorgebracht worden.) Im übrigen verbirgt er sehr geschickt die Tatsache, daß es sich im Falle des Septimius überhaupt um einen Repetundenprozeß gehandelt hat; wir wissen dies nur zufälligerweise aus anderer Quelle (Cie. Verr. a. p. 38). Schon allein durch den Ort, an dem Septimius eingeführt wird (§ 115 hie profertur id quod iudicium appellari non oportet. . .), legt er dem Hörer die Annahme nahe, daß der Prozeß des Septimius zu den eben erwähnten Fällen gehöre, in denen die Richterbestechung nicht propria lege peccati, sondern in anderem Zusammenhang vorgebracht wurde. Auf eine falsche Fährte lockt auch der letzte Satz des Abschnitts (§ 116): quae res [sc. der Posten in der litis aestimatio] si rei iudicatae pondus habuisset, ille postea vel isdem vel aliis inimicis reus h a c lege ipsa factus esset. Nur ein gut informierter Hörer kann erkennen, daß unter dieser haec lex ipsa die lex Cornelia de sicariis zu verstehen ist („das Gesetz unseres Prozesses"); jeder andere muß an das Repetundengesetz denken, das eben noch als das „eigentliche Gesetz" (§ 114) für solche Fälle bezeichnet worden war: Also könnte der Prozeß des Septimius kein Repetundenverfahren gewesen sein. (Anders Μ. I. H E N DERSON, J R S 41, 1951, 76 f., die in der Tat unter hac lege ipsa das Repetundengesetz verstehen will und somit aus § 115 den Schluß zieht, ein gelegentlich der litis aestimatio eines Repetundenprozesses vorgebrachter Posten könne nachher für sich Gegenstand eines selbständigen Repetundenprozesses werden. Dagegen zu Recht A. N. S H E R WIN-WHITE, J R S 42, 1952, 45 f., der aber auch den absichtlichen Doppelsinn von Ciceros Äußerung nicht erfaßt.)

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Fidiculanius Falcula der Zeit nach ziemlich am A n f a n g der Reihe stehen, stellt Cicero sie an den Schluß (§§ 103 ff.), und er erweckt so - ohne den Worten nach irgend etwas Unrichtiges zu sagen - den Eindruck, als sei die gegen das indicium lunianum erregte invidia, die in Iunius selbst ihr erstes und spektakulärstes O p f e r gefunden hatte, schon zur Zeit der Falcula-Prozesse abgeklungen. § 114 quamquam satis magno argumenta esse debet quod ex tarn multis iudicibus absoluta Falcula nemo reus factus est 83 . Tatsächlich wurde wegen Repetunden niemand mehr belangt 8 4 : Man hielt es - aus welchen Gründen auch immer - für rätlicher, die seinerzeit bestochenen Richter unter dem Titel anderer Vergehen verurteilen zu lassen. Uber diese Prozesse jedoch hat Cicero schon vorher gehandelt. Aber das Kabinettstück seiner Dispositionskunst liefert uns Cicero im ersten Abschnitt des ersten Teils, bei der Behandlung der Verbrechen des Oppianicus. D i e Divergenz zwischen der Folge der Zeit und derjenigen der Erzählung ist hier schon öfter notiert (ja sogar schon entschuldigt!) worden, ohne daß man bisher eine Erklärung dafür versucht hätte. Wir wollen das Problem lösen, indem wir zunächst die angeblichen U n t a t e n in eine relative Chronologie zueinanderbringen 8 5 .

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Ciceros vorhergehendes Argument (§ 113) ist, wenn ich recht sehe, von den Erklärern und Ubersetzern durchweg mißverstanden worden: verum, si innocens Falcula, quaero, quis sit nocens. .. . nego rem esse ullam cuiquam illorum obiectam quae Fidiculanio nort obiecta sit, aliquid juisse in Fidiculani causa quod idem nort esset in ceterorum. Cicero kann im zweiten Teil dieses Satzes nicht sagen wollen, daß alles, was im Falcula-Prozeß an Vorwürfen vorgekommen wäre, auch in den übrigen Prozessen eine Rolle gespielt hätte. Denn erstens müßte es dann quicquam statt aliquid heißen (so konjiziert denn auch MADVIG, vgl. vorher rem ullam; DAVIES liest [S. 412 f.] aliud quidquam); zweitens wäre eine solche Behauptung für die Absicht von Ciceros Beweis irrelevant (denn je weniger, nicht je mehr, den übrigen Richtern vorgeworfen wurde, um so mehr muß die Unschuld des Falcula für die ihre sprechen); drittens wäre die Behauptung handgreiflich falsch: Das den Falcula besonders belastende Moment war ja (wie im Vorhergehenden u. ö. von Cicero erwähnt), daß er nicht wie die übrigen Richter von Anfang des Prozesses an im Kollegium gewesen war, sondern dort erst durch die anrüchige subsortitio des Iunius seinen Platz gefunden hatte. Wir müssen also - wie durch das mit Nachdruck vorangestellte aliquid schon hinlänglich signalisiert - den zweiten Teil des Arguments logisch nicht von nego, sondern von einem aus diesem herausgezogenen affirmo bzw. aio abhängig denken (genaue Parallelen bei H O F M A N N / S Z A N T Y R 825). Cicero sagt: Was den übrigen Richtern vorgeworfen wurde, das wurde alles auch Falcula vorgeworfen; außerdem gab es aber noch einen Punkt (aliquid), der nur dem Falcula, nicht den andern, zur Last gelegt wurde. Damit haben wir ein formal tadelloses argumentum a minori ad maius: Die weniger als Falcula belasteten Richter müssen erst recht unschuldig sein. 84 Mit der Ausnahme des Septimius Scaevola (zu seinem Prozeß s. oben Anm. 82). 85 Eine solche gibt auch F AUSSET (S. XL f.), mit dem ich in den meisten Punkten übereinstimme.

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(A) Erster Mord ( § 3 0 ) : Oppianicus vergiftet eigenhändig seine Ehefrau Cluentia, die Tante unseres Cluentius 89 . (B) Zweiter und dritter Mord (§§ 30-32): Oppianicus vergiftet die schwangere Frau seines Bruders C. Oppianicus, sodann diesen selbst und wird so Erbe von dessen Vermögen. (C) Anstiftung zur Abtreibung 87 (§§ 33-35): Nach dem Tod seines Schwagers Cn. Magius, der den Sohn des Oppianicus (unseren Oppianicus iunior) zum Erben eingesetzt hatte, verleitet Oppianicus die schwangere Witwe des Verstorbenen zu einer Abtreibung und heiratet sie (nach einer nur fünfmonatigen Witwenschaft). (D) Vierter Mord und Testamentsfälschung (§§ 40 f.): Oppianicus läßt seine (frühere) Schwiegermutter Dinaea, deren testamentarischer Erbe er ist, durch einen reisenden Apotheker vergiften. Ihr Testament, aus dem er schon vorher etliche Legate getilgt hat, läßt er neu abschreiben und durch ein gefälschtes Siegel beglaubigen. 80

Es ist allerdings nicht völlig sicher, daß dieser Mord vor den beiden folgenden anzusetzen ist; § 30 (eodemque veneno . . .) legt es nahe. - KLEBS (RE I 1 [1893] 1317-1319) meint irrtümlich, wir könnten über die relative Chronologie der fünf Ehen des Oppianicus vor der Verheiratung mit Sassia nichts ermitteln (vgl. auch seine Selbstkorrektur in RE II 2, 2551). Zumindest ist sicher, daß die Ehe mit Magia (§ 21) vor derjenigen mit der Witwe des Cn. Magius (§ 35) liegt, da dieser ja noch lebte, als seine Schwester Magia starb (§21). Weiter. Da Magia nicht vor dem Jahr 88 gestorben sein kann - denn i. J. 72 war ihr Sohn Oppianicus (iun.) noch puer (§ 176), im Jahr 69 ist er aber adolescens und verheiratet (§ 179) - bleibt in den 80er Jahren nicht mehr viel Zeit für weitere Ehen des Oppianicus, geht dieser doch spätestens im Jahr 83 zum Militär (§ 24), von wo er nach dem Sieg Sullas zurückkehrt, um dann gleich Sassia zu heiraten. Dennoch müssen wir in dieser knappen Zeitspanne außer der kurzen (§ 35) Ehe mit der Witwe seines Schwagers auch noch die Ehe mit Novia (§ 27) ansetzen, denn von dieser lebt i. J. 82 ein filius infans. Schon allein darum legt es sich nahe, die Ehen mit Cluentia (§30) und Papia (§27) v o r die Zeit der Magia zu datieren; dazu kommt, daß der Sohn der Papia i. J. 82, obschon noch puer, doch schon so alt ist, daß ihm sein Vater mit Einladungen zu öffentlichen Festen (§ 27) eine Freude machen kann. (Die von den meisten Gelehrten vorgenommene Identifizierung der Papia mit der Witwe des Cn. Magius ist darum nicht nur willkürlich, sondern ganz unwahrscheinlich.) Es ergibt sich folgende Liste: (1) und (2): Cluentia (angeblich vergiftet) und Papia (geschieden, nicht vor 98): Priorität unbestimmt. (3) Magia (gestorben, nicht vor 88). (4) und (5) Witwe des Cn. Magius (geschieden) und Novia (gestorben): Priorität unbestimmt. (6) Sassia (82-72). (Ähnlich im Ergebnis NIEMEYER 2-4; ziemlich anders RAMSAY 13 Anm. 3, FAUSSET S. XLI f., PETERSON S. X f., BARDT 12, DRUMANN/GROEBE V 3 8 4 A . 13, BOYANCfi 9 A. 3, VAN OOTEGHEM 779 f.) 87 Allerdings kein kriminelles, sondern nur ein moralisches Vergehen, s. MOMMSEN, Strafrecht 636 f. (mit richtiger Bemerkung zu Cluent. 32) und J. H . WASZINK, RLAC I (1950), 55-60, Ε NARDI, Procurato aborto nel mondo greco-romano, Milano 1971.

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(E) Fünfter Mord ( § § 2 1 - 2 3 ) : Oppianicus läßt den Sohn der Dinaea, M. Aurius, von dem ein Bote berichtet hatte, daß er als Sklave in Gallien lebe, und den seine Mutter vor ihrem Tod mit einem Legat von H S 400 000 bedacht hatte, durch Mittelsmänner ausfindig machen und ermorden. Der Bote wird bestochen, um die Nachforschungen der Verwandten zu hintertreiben. (F) Sechster bis neunter Mord (§§ 2 3 - 2 5 ) : Oppianicus läßt (als Angehöriger der munizipalen Quattuorviri) den A. Aurius98, der ihm wegen der Ermordung des M. Aurius (oben unter E) mit einem Prozeß gedroht hatte, vorgeblich auf Anordnung Sullas proskribieren und umbringen. Mit A. Aurius zusammen fallen ihm noch drei weitere Bürger von Larinum zum Opfer. (G) Zehnter und elfter Mord (§§ 2 6 - 2 8 ) : Oppianicus will Sassia, die Gattin des ermordeten A. Aurius, heiraten. Da diese nicht gern Stiefmutter seiner drei Söhne werden möchte, bringt er zwei von diesen um. Nur der junge Oppianicus bleibt am Leben. (H) Testamentsfälschung und zwölfter Mord (§§ 36-39) 8 9 : Oppianicus verschafft sich (durch einen Komödientrick) ein zu seinen Gunsten gefälschtes Testament des Asuvius, eines reichen jungen Mannes aus Larinum, und läßt diesen anschließend umbringen. Der triumvir capitalis Q. Manlius, vor den die Sache kommt, wird von ihm bestochen. Das Verhältnis von wirklicher und erzählter Reihenfolge wird deutlich aus den beigeschriebenen Paragraphenzahlen. Cicero berichtet die angeblichen Verbrechen, die in der Folge Α bis Η stattgefunden haben in der Anordnung: E F G - A B C — Η - D . Um dies erklären zu können, haben wir uns zunächst die Schwierigkeiten, die sich Cicero bei seiner narratio stellten, vor Augen zu halten. ( I ) Da die narratio nur mittelbar zur causa selbst gehört, hat Cicero nicht die Möglichkeit, seine ζ. T. ja ungeheuerlichen Behauptungen durch ausführliche

Dieser A . Aurius ist auf Grund von § 26 mit dem Gatten der Sassia zu identifizieren (so schon S Y L V I U S und J . C L A S S E N in seinem K o m m e n t a r ) . Was R A M S A Y und F A U S S E T dagegen anführen, ist nichtig. Man muß nur Ciceros Taktik recht verstehen. E r konnte ja nicht umhin, den A. Aurius von § 23 quasi als neue Person einzuführen, obwohl er ihn schon in den §§ 1 1 - 1 6 erwähnt hatte. D o r t mußte dieser nämlich im Interesse von Ciceros narratio als schwächlicher Jüngling auftreten ( § 1 3 nondum consilio ac ratione firmatum), hier soll er nun - schwerlich mehr als zwei J a h r e später! - eine ganz energische Persönlichkeit sein (§ 23 vir fortis et experiens), damit sein Verhalten glaubhaft wird. D e r Widerspruch wäre bei einer sofortigen Identifizierung eklatant; später in § 2 6 spürt man ihn nicht mehr. (Wäre der in § 2 5 nebenbei erwähnte alter Aurius der Gatte der Sassia, wie R A M S A Y annimmt, so hätte Cicero kein Bedenken haben müssen, ihn sogleich, suo loco, zu identifizieren.) 8i M Ü N Z E R ( R E X I V 1 [ 1 9 2 8 ] 1 1 6 1 ) und B R O U G H T O N (II 9 2 ) datieren den Triumvirat des Manlius auf etwa 77, was allerdings nicht sicher ist. F ü r ein früheres D a t u m K U N K E L , Unters. 78 A. 2 9 8 . 88

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Argumentation oder gar durch Zeugen und Dokumente zu beweisen 80 . Es muß darauf ankommen, die Dinge an sich durch ihre Verknüpfung und wenigstens einige eingestreute semina probationum wahrscheinlich zu machen. (2) Zu diesem Mangel an Beweismöglichkeiten kommt die innere Unglaubwürdigkeit des vorgetragenen .Kriminalromans'. Wie soll man es f ü r möglich halten, daß ein Massenmörder wie Oppianicus erst etwa fünfzehn Jahre nach dem Beginn seiner Untaten zur Rechenschaft gezogen wurde 91 ? U n d daß die arglosen Verwandten diesen Verbrecher (bzw. seinen Sohn) weiterhin in ihren Testamenten mit Erbschaften bedachten, wo sie sich doch sagen mußten, d a ß dies der sichere Weg zu einem vorzeitigen Ableben wäre? Nicht geringer sind die Unwahrscheinlichkeiten im einzelnen. Würde der Bruder C. Oppianicus den Mörder seiner Frau zu seinem Erben machen (B)? Würde unser Oppianicus gerade seinen durch Erbschaften reichen Sohn am Leben lassen, wenn er bereit ist, die übrigen umzubringen (G)? Und schließlich, was das Widersinnigste ist: Wieso läßt Oppianicus den M. Aurius überhaupt noch töten (E), nachdem er doch bei seiner Fälschung des Dinaea-Testaments die f ü r ihn unangenehmen Legate schon getilgt hatte (D)? Wir brauchen uns kaum darüber zu wundern, daß auch beim bestochenen indicium lunianum immerhin fünf Richter f ü r einen Freispruch gestimmt hatten. Unmöglich konnte es Cicero gelingen, alle diese Anstöße in seiner narratio auszuräumen. Aber er hat es doch erreicht, die meisten wenigstens so zu vertuschen, daß sie selbst seinen modernen Erklärern kaum zum Bewußtsein gekommen sind. Und das Hauptmittel hierbei ist nicht die lügnerischfe Erfindung, sondern die feinere Form der Entstellung: die ,unsachgemäße' Disposition. H ä t t e Cicero seinen Verbrechenkatalog dem Zeitsinne nach angeordnet, so wäre seine narratio von Anfang an unter einem ungünstigen Vorzeichen gestanden. Sind die Worte der sterbenden Cluentia („Mein Mann vergiftet mich!") irgend jemandem zu Ohren gekommen? Wenn nein, so muß man sich sagen, daß Cicero hier bequem lügen kann. Wenn ja, sollte man erwarten, daß ein Mitglied der gens Cluentia schon damals gerichtlich gegen den Mörder vorgegangen wäre. Dasselbe gilt f ü r die beiden folgenden Morde (B), .die außerdem noch durch das Testament des C. Oppianicus diskreditiert werden (s. oben). Cicero sah, daß er so nicht beginnen konnte. Er beginnt - und das ist nun wirklich ein meisterlicher Griff - mit dem fünften Mord (E): M. Aurius. Z w a r gibt es auch hierfür keine schlagenden Beweise, aber die Sache war doch seinerzeit im Gespräch gewesen - die bei unserem Prozeß anwesenden Larinaten sind stumme Zeugen 92 - , und, was das Entscheidende ist, f ü r diesen einen Mord läßt sich plausibel machen, warum es nicht früher zu einem gerichtlichen Verfahren gekommen ist: Der präsumptive Ankläger A. Aurius Melinus (§ 23) wurde ja von Oppianicus mittels der sullani90

Vgl. MICHEL 257-260. Verwunderung darüber schon bei NIEMEYER 4, FAUSSET S. X X I I I , PETERS O N S. XII f., vgl auch STÖCKLEIN 197. 92 A. Aurius hatte mit dem Prozeß in aller Öffentlichkeit gedroht (§ 23).

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sehen Proskriptionen erledigt (F). Dies ist genau das O m e n , das Cicero b r a u c h t ! O p p i a n i c u s erscheint v o n vornherein als ein M a n n , der k r a f t seines politischen Einflusses so gefürchtet w i r d , d a ß niemand es w a g t , ihm den P r o z e ß zu machen. N u r w e r nachrechnet, entdeckt, d a ß die Verbrechen Α bis D ν ο r der Zeit dieser Machtstellung des O p p i a n i c u s liegen. Ebenso geschickt r ä u m t Cicero die Schwierigkeit mit dem Legat der D i n a e a aus dem Wege (s. oben). V o n T o d u n d T e s t a m e n t der Schwiegermutter (D) m u ß er natürlich erzählen; denn ohne dieses h ä t t e O p p i a n i c u s kein Motiv, M . Aurius umzubringen. Was m a c h t er? E r l ä ß t D i n a e a vorerst noch eines unbestimmten - der H ö r e r m u ß glauben: natürlichen - Todes sterben, u n d das T e s t a m e n t bleibt fürs erste ungefälscht 8 3 . Erst 18 P a r a g r a p h e n später, nachdem die Richter von dem ungeheuerlichen C h a r a k t e r des Oppianicus längst überzeugt sind, hören wir, d a ß D i n a e a vergiftet u n d die Legate in ihrem Testament ausradiert w o r d e n sind. Was macht es hier noch, d a ß d a m i t die Version der §§ 21 f f . aufgehoben ist 94 ? Geringere Schwierigkeiten machen die nun folgenden K i n d e r m o r d e (G), die sich auch der Chronologie nach anschließen. D a ß eine Sassia bereit ist, den M ö r d e r ihres Mannes zu heiraten, k a n n nach dem eingangs (§§ 12-16) von ihr e n t w o r f e n e n P o r t r ä t , nicht unwahrscheinlich sein. Für die E r m o r d u n g des älteren Sohnes lassen sich wenigstens einige Indizien beibringen; die des andern w i r d ohne weiteres k n a p p berichtet. Bleibt der allgemeine E i n w a n d : Wie k a n n Cicero dies alles beweisen? Cicero begegnet dem fatalen A r g u m e n t , indem er es gar nicht erst a u f k o m m e n läßt, sondern - in einer fast taschenspielerischen Weise - seinen Mangel an Beweisen in einem kleinen Exkurs zu einem A r g u m e n t f ü r die eigene Sache u m m ü n z t . E r sagt nicht (was logisch k o r r e k t w ä r e ) : „Dies alles k a n n ich jetzt freilich nicht beweisen, aber damals im J a h r e 74 ist es v o n P. C a n n u t i u s bewiesen w o r d e n " - so k ä m e ja den Richtern erst recht zu Bewußtsein, wie willkürlich Ciceros Beschuldigungen jetzt sind - , vielmehr: „Ich sehe, ihr Richter, d a ß euch diese Verbrechen empören. Wie müssen sich da erst die Richter empört haben, denen dies alles in ausführlicher Darlegung u n d unter V o r f ü h r u n g zahlreicher Zeugen vorgetragen w u r d e ! " (§ 29) So w i r d d u r c h eine kleine petitio prineipii ( w u r d e n die Verbrechen damals auch wirklich bewiesen?) aus der N o t eine T u g e n d gemacht. Die schwächsten seiner Beschuldigungen (A, B) leitet nun Cicero mit der Versicherung ein, er könne das folgende aus Zeitgründen n u r noch ganz summarisch behandeln 9 5 . (Je grundloser die Behauptung, um so k n a p p e r m u ß n a t ü r 93

§ 22 . . . oppressa morbo est. itaque testamentum fecit eius modi, ut Uli jilio HS CCCC milia legaret, heredem institueret eundem illum Oppianicum [den Jüngeren], nepotem suum; atque eis diebus paucis est mortua. 94

So erklärt sich also diese merkwürdige Dublette der Erzählung, über die F R O U D E (zitiert bei F A U S S E T S. X I I ) geklagt hat: „The same person is described under different names [vgl. oben Anm. 88 zu A. Aurius]; the same incident in different words." ,s Schon am Ende von § 31 ist dieses Versprechen wieder vergessen.

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lieh die Zeit sein.) Der Sprung in der Chronologie (der erste und größte) wird zunächst sorgfältig verborgen. Da nämlich der Hörer bisher nur weiß, daß Sassia Mutter des Cluentius ist und im Jahre 82 oder 81 den Oppianicus geheiratet hat, nicht aber, daß sie bis zum Tode des Oppianicus dessen Eheweib geblieben ist, wird er die Ehe mit Cluentia (und deren Vergiftung) unwillkürlich in eine Zeit n a c h der Ehe mit Sassia setzen, zumal Cicero den Abschnitt mit den Worten einleitet: acervatim iam reliqua dicam ... (reliqua = „das Folgende" oder „das noch zu Behandelnde"). Erst in § 33 könnte ein aufmerksamer Hörer (auf Grund der sachlichen Übereinstimmung mit § 21) entdecken, daß die §§ 30-32 in eine frühere Epoche gehören müssen - aber die meisten werden schon die Orientierung verloren haben, und das kann Cicero nur recht sein. Cluentia stirbt (A) mit wenigen Indizien des Mordes; auch die folgenden Morde (B) können nur behauptet und (in ausführlicher αΰξησις: §§ 31 f.) beklagt werden". In der sich nun anschließenden Erzählung von Cn. Magius und seiner Witwe (C) verwendet Cicero wiederum die Technik, ein seiner Version widerstreitendes Argument zu einer Steigerung und damit für die eigene Sache zu verwenden. Man könnte nämlich aus der Tatsache, daß Oppianicus die Witwe seines Schwagers nach dessen Tod heiratet, schließen, daß es sich bei den Gaben des Oppianicus an die Betreffende97 um verliebte Geschenke handle dies dürfte in der Tat die plausibelste Erklärung sein - , Cicero aber macht es so, daß er von Heirat zunächst gar nichts sagt, wodurch er die Geschenke als merces abortionis (§ 34) interpretieren kann, und dann erst, die Entrüstung steigernd, auf die Hochzeit zu sprechen kommt: nihil posse iam ad hanc improbitatem addi videtur; attendite exituml ... mulier... quinto mense post viri mortem ipsi Oppianico nupsit! Was die Untat unwahrscheinlich macht, erscheint so als eine weitere*8. Dem Zeitsinne nach müßte nun die (bisher ungenau berichtete) Ermordung der Dinaea (D) an die Reihe kommen. Da indes Cicero hier nicht allein von einem Mord, sondern auch von einer Testamentsfälschung erzählen will, hält er es für geraten, zunächst den Bericht einer besser beglaubigten Testamentsfälschung - ebenfalls mit Mord verbunden - einzuschieben: die Erzählung von Was die Schwierigkeit mit dem Testament betrifft (s. oben S. 221), so hilft sich Cicero mit einer etwas gewagten Erfindung: C. Oppianicus rief laut, er wolle sein Testament ändern - aber der Trank des Oppianicus wirkte schneller. Ähnliche Geschichten von verhinderten Testamentsänderungen findet man bei Isaios. Es spricht für Cicero, daß er nur selten zu so melodramatischen Effekten seine Zuflucht nehmen muß. 98

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Diese sind gut bezeugt (§ 34): . .. quae tum ex tabulis Oppianici recitabantur.

Eine ähnliche Beweistechnik bei Demosth. or. 45, 53 ff. Die dem Stephanos vorgeworfene ψευδομαρτυρία ist darum wenig wahrscheinlich, weil es sich bei dem Geschädigten (Apollodoros) um einen Verwandten handelt. Demosthenes weist also zunächst, so gut es geht, die ψευδομαρτυρία ohne Berücksichtigung der verwandtschaftlichen Beziehung nach und verwendet diese dann zur Steigerung: „Es ist überhaupt schlimm, falsches Zeugnis abzulegen. Nun aber erst gegen einen Verwandten!" 98

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Asuvius (H). Hier gab es einigermaßen brauchbare Evidenz. Avillius, der Komplize des Oppianicus, hatte vor Zeugen ein Geständnis abgelegt; im Testament des Asuvius war Oppianicus an erster Stelle bedacht worden. So wirkt auch die abschließende Dinaea-Erzählung nicht unglaubhaft. An den Widerspruch zu den §§ 21 ff. darf, wie gesagt, niemand mehr denken. Ciceros narratio ist ein schönes Beispiel dessen, was die Rhetoriker die „künstliche" Anordnung (oder auch den mos Homericus"") nennen und - jedenfalls in nachciceronischer Terminologie - als eine Form des ordo artificialis ansehen 100 . Während in der Regel die σαφήνεια ( p e r s p i c u i t a s ) i u eine Erzählung nach dem Zeitsinne fordert 102 , gibt es Fälle, in denen die einseitige Ausrichtung nach dieser N o r m in Konflikt mit der utilitas causae geriete: Hier müssen Ereignisse, die der natürlichen Abfolge nach unwahrscheinlich oder gar widersprüchlich wirken, durch Umstellung glaubhaft werden10®. Eine nähere · · Quint, inst. 7, 10, 11 ubi ab initiis incipiendum, ubi more Homerico a mediis vel ultimis. Zu Unrecht verweist G. L. SPALDING (in seinem Kommentar, 1798 ff.) zur Erläuterung des Ausdrucks auf inst. 5, 12, 14. Mit der dort besprochenen Homerica dispositio hat unsere Stelle nichts zu tun. Man hat vielmehr an den Aufbau der Odyssee zu denken, wo bekanntlich die Vorgeschichte in der Erzählung bei den Phäaken nachgetragen wird. Vgl. nämlich Theo progymn. 4 (II p. 86 SP.): και γάρ άπό των μέσων έστίν άρξάμενον έπί τήν άρχήν άναδραμεΐν, είτα έπΐ τά τελευταία καταντήσαι, όπερ έ\ 'Οδυσσείψ "Ομηρος πεποίηκεν . . . Auch die homerischen Helden selbst sind in ihren Erzählungen nicht immer um pedantische Chronologie bemüht; vgl. schon Schol. zu Λ 671 (Nestorerzählung): έξ άναστροφής τό διήγημα (genaue Analyse bei W. SCHADEWALDT, Iliasstudien, Leipzig 1938, 83-85, der mit I 527 ff. und dem Erzählstil der Lyriker vergleicht). 100 Fortunat, p. 120 f. H. Der andere Ausdruck hierfür ist ο'ικονομί,α (s. S. 12 A. 23); vgl. Sulp. Vict. p. 323, 4 H. Anonymus Seguerianus, RhGr I p. 367, 19 SP./HAMMER, Ioann. Sard. p. 20 RABE (wörtlich gleich). Schon Quintilian spricht in diesem Zusammenhang von einer oeconomica totius causae dispositio (inst. 7, 10, 11). 101 Unter den Tugenden der narratio seit Isokrates; vgl. bes. J. STROUX, De Theophrasti virtutibus dicendi, Lipsiae 1912, 43-54; LAUSBERG §§ 294 ff. 102 So schon (nach späteren Zeugnissen) Isokrates (fr. Β. XXIV, 22, S. 158 bei RADERMACHER): διηγητέον δέ τό πρώτον καΐ τό δεύτερον και τά λοιπά έπομένως. Nachdrücklicher Anaximenes 30, 6: [σαφώς δηλώσομεν] έάν μή ύπερβατώς αυτά [sc. τά πράγματα] δηλώμεν, άλλά τά πρώτα πραχθένταή πραττόμενα ή πραχθησόμενα [in der symbuleutischen Rede] πρώτα λέγωμεν, τά δέ λοιπά έφεξής τ ά τ τ ω μ ε ν . . . Ebenso (jeweils im Abschnitt über τό σαφές της διηγήσεως) Rhet. Her. 1,15 rem dilucide narrabimus, si ut quicquid primum gestum erit, ita primum exponemus et rerum ac temporum ordinem conservabimus, ut gestae res erunt aut ut potuisse geri videbuntur; Cie. inv. 1, 29 (fast wörtlich gleich). Vgl. ferner Cie. de or. 2, 329 (ordine temporum servato), Hermog. de id. p. 237, 20 ff. RABE (über ευκρίνεια), Ps.-Aristid. rhet. 1, 133 (p. 52 SCHMID: οταν τις μή άναστρέφχ) τά πράγματα), Iul. Vict. p. 424, 23 f. Η. 103 Dionys v. Halikarnass hebt hervor bei Isaios (Is. 15, p. 113 U./R.) ...διηγήσεις προς τό συμφέρον φκονομημένας... τ φ μή κατά τοΰς χρόνους τά πραχΟέντα είρήσθαι. Harpokration (nach Anon. Segu. RhGr I p. 370, 18 ff. SP./HAMMER): και διηγήματος μέν άρεται έν μέν τοις εύπρεπεστέροις σαφήνεια, έν δέ τοις σαθροϊς

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Beschreibung der Technik, für die besonders Isaios und Hypereides als Spezialisten gelten 104 , fehlt in den Rhetoriken 105 ; und wir können auch ein der Cluentiana genauer vergleichbares Beispiel in den erhaltenen Reden der Griechen, soweit ich sehe, nicht nachweisen 10 *. Ciceros Prinzip jedenfalls ist es, der Chronologie, so weit als dies möglich ist, zu folgen - nur an drei Stellen muß er »springen* - ; im übrigen arrangiert er die Begebenheiten so, daß jeweils das besser Bezeugte, Glaubhaftere vor dem Unglaublicheren zu stehen kommt und diesem dadurch einigermaßen Kredit verschafft. Dies gilt zunächst für die Disposition im Großen. Die an den Anfang gestellte Beseitigung des M. Aurius und A. Aurius ist, wenigstens was den zweiten betrifft, ein sicheres Faktum; außerdem erhalten wir hier eine (scheinbar) für die ganze narratio geltende Begründung dafür, wieso Oppianicus sein Mordgeschäft ungestraft treiben konnte. Das Prinzip wirkt auch im Kleinen. Die Ermordung des Asuvius steht vor der der Dinaea; der Sohn der Papia ασάφεια προβεβλημένη. Quint, inst. 4, 2, 83: namque ne eis quidem accedo, qui semper eo putant ordine, quo quid actum sit, esse narrandum, sed eo malo narrare, quo expedit (danach Iul. Vict. p. 424 H.). Die Vermutung ist wohl nicht aus der Luft gegriffen, daß es sich bei den hier erwähnten Theoretikern um die auch sonst wegen ihrer „Pendanterie" (superstitio praeceptorum) bekannten Apollodoreer handelt. Ihre Gegner jedenfalls, die Theodoreer, scheinen bestritten zu haben, daß die σαφήνεια unter allen Umständen zu erstreben sei (M. SCHANZ, Hermes 25, 1890, 49 f., mit Verweis auf Quint, inst. 4, 2, 32); ein ausdrückliches Zeugnis für die Behandlung der Chronologie in der narratio haben wir allerdings weder für die Schule des Theodoros noch für die des Apollodoros. - Unter rein ästhetischen Gesichtspunkten behandelt die Frage Theon (prog. 4, II p. 86 f. SP.), der dementsprechend auch Homer und die Historiker heranzieht: Die natürliche Folge ABC dürfe man zum Schmucke der Erzählung in jeder beliebigen Weise abwandeln: Β AC - CBA - BCA - CAB - ACB. (Die dritte der Möglichkeiten ist in den Handschriften, nach SPENGELs Ausgabe zu urteilen, offenbar entstellt: ετι δέ [sc. εξεστι] καί άπό των μέσων [Β] άρξάμενον έπί την τελευτήν [C] έλθειν, είτα έν τούτοις λήξαι. Zu emendieren ist ohne Zweifel: είτα έν το(ϊς πρώ)τοις [Α] λήξαι.) 104

Zu Isaios s. oben Α. 103. Zu Hypereides sagt Dionys (Dinarch. 6, p. 305 U./R.): διηγείται δέ πολλαχώς, ποτέ μέν κατά φύσιν, ποτέ δέ άπό τοϋ τέλους έπί τήν άρχήν πορευόμενος (zum Trickreichtum = πανουργία des Hypereides vgl. de imit. 5, P· 213). 105 Hübsch sind immerhin die „Figuren", die Quintilian (inst. 4, 2, 83 f., danach Iul. Vict. p. 426 H.) zur Glättung der chronologischen Fugen empfiehlt: Man solle entweder (1) behaupten, man habe versehentlich etwas vergessen (so auch Iul. Severianus 6, p. 357, 20 f. H.), oder (2) man werde das folgende später nachtragen, weil auf diese Weise die Darstellung klarer würde (so verstehe ich den Satz et interim . .. lucidior, anders Η. E. BUTLER in der Loeb-Ausg. 1921); schließlich (3) könne man auch etwas chronologisch Zurückliegendes als Begründung des schon Erzählten nachtragen. Auf dem Hintergrund dieser Schulregeln würdigt man erst recht die Kunst, mit der Cicero seine Fugen verbirgt. ioe Verwirrungen der Chronologie an sich gibt es natürlich öfter, besonders bei Demosthenes (vgl. schon Hermog. de id. p. 237 f. RABE); aber sie finden sich nicht eigentlich innerhalb e i n e r narratio.

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wird vor dem der Novia umgebracht, da beim ersten die Umstände des Todes tatsächlich verdächtig waren. Man kann das Prinzip nicht treffender formulieren als mit der Vorschrift, die Quintilian über die narratio innerhalb des Ganzen der Rede gegeben hat (inst. 4, 2, 35): . . . credibilia esse oportet omnia quae dicuntur. maxime tarnen haec in ea parte custodienda sunt quae prima iudicem docet: in qua si acciderit, ut aut non intellegat aut non meminerit aut non credat, frustra in reliquis laborabimus. Das Erstaunlichste aber an Ciceros Dispositionskunst in diesem Teil der Rede ist wohl, daß der Hörer oder Leser nie das Gefühl hat, Opfer eines willkürlichen Planes zu werden, daß sich alles nach einer wie selbstverständlichen Ordnung zu entwickeln scheint. Schlagender Beweis: Auch die modernen Erklärer haben, wenigstens zum Teil wider ihr besseres Wissen, die angeblichen Untaten des Oppianicus in der von Cicero gewählten Reihenfolge nacherzählt. Vergleicht man Ciceros Dispositionspraxis ihrer Geschichte nach mit dem Redeschema der Schulrhetorik, so kann das Jahr 66 geradezu als ein Epochenjahr gelten. Sowohl in der Rede für den Schauspieler Roscius, sofern wir diese richtig datiert haben107, wie in der für Cluentius hat sich Cicero weitgehend freigemacht von der schulmäßigen Rededisposition, welcher er bis dahin - bei aller Gerissenheit der Disposition im einzelnen - im ganzen doch treulich gefolgt war108. Zwar die Zweiteilung der Cluentiana und die damit gegebene Doppelung von narratio und argumentatio ist durch die Sache selbst so nahegelegt, daß man sie auf die Rechnung einer besonderen rednerischen Kunst nicht setzen kann; die Freiheit jedoch in der Anordnung der beiden Teile geht weit über das bei Cicero bisher Gewohnte hinaus10*. Fassen wir zusammen! Im ersten Teil rückt die propositio von ihrem ordentlichen Platz hinter der narratio nach vorne, an das Ende des prooemium110; die narratio selbst wird von der argumentatio so umschlossen, daß die hauptsächlichsten Beweise, teils erzählend, teils argumentativ dargeboten, vor und hinter ihr zu stehen kommen111. Ähnlich ist es im zweiten Teil, wo die narratio so in die argumentatio eingebettet wird, daß sich ein flüssiger und unmerklicher Ubergang zur peroratio herstellt112. Dazu kommen als weitere neue Kunstgriffe: die sukzessive Vgl. oben S. 149 ff. Wir sehen hierbei selbstverständlich ab von den Repetundenprozeßreden (beim jungen Cicero: Verr., Font.), in denen das Schulschema überhaupt kaum eine Rolle gespielt haben kann (s. oben S. 23). 148 Wichtigster Vorläufer der Cluentiana scheint die Rede pro Tullio zu sein. 110 Vgl. zu Pro Tullio S. 166 mit Anm. 30. 111 Vgl. zu Pro Tullio S. 166. 112 Von Ciceros nach dem Jahr 66 gehaltenen Prozeßreden enthalten nur noch P r o Archia und Pro Milone eine selbständige narratio causae (Arch. 4 - 7 , Mil. 2 4 - 2 9 ; eine mit Bedacht abgebrochene narratio: Lig. 2 - 5 ) ; in den übrigen Reden wird entweder gar nicht erzählt (was zuweilen für die Verteidigung im status coniecturalis auch gar nicht möglich ist (vgl. Anm. 48 zu S. 19) oder die narratio mit der argumentatio verschmolzen. 107

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Verteidigung in doppeltem Status; die zu Beginn der narratio/argumentatio fast gewaltsam eingeschobene Erzählung extra causam (über Sassia); schließlich die freie und kühne Behandlung der Chronologie, die sich sowohl in argumentativen wie in erzählenden Partien bemerkbar macht. Man wird sicherlich gut daran tun, in diesen Neuerungen Ciceros nicht einseitig die Befreiung vom starren Systemzwang der Rhetorik zu sehen. Einerseits waren sie als Möglichkeiten zu einem Teil auch schon von der vorciceronischen Rhetorik erfaßt worden11*; und es ist von daher gesehen wohl eher so, daß sich eben der M e i s t e r Cicero anderer, künstlicherer Mittel bedienen durfte als der Anfänger, dem es wohl anstand, mehr auf das Natürliche und Naheliegende auszugehen. Andererseits gilt es auch zu bedenken, daß der .Fortschritt' in der Freiheit der Disposition mit einem nicht geringen Verlust zu bezahlen ist. Gerade der unkünstlich biedere Aufbau der Rede, wie er uns am sinnfälligsten in Pro Roscio Amerino entgegentritt, hat aus sich eine gewisse Uberzeugungskraft, die einer so raffiniert angelegten Rede wie unserer Cluentiana - allerdings nicht nur aus diesem Grunde - abgeht. In einem der verzweifeisten Fälle, für die Cicero plädiert hat, der Rede für Milo, den Mörder seines Todfeinds Clodius, ist er selbst in großen Teilen zu einer schulmäßigen Disposition zurückgekehrt 114 , einer Disposition, die fast selber schon wie ein Argument für den Mörder des Clodius wirkt: „Ihr braucht Milo gar nicht darum freizusprechen, weil er den Staat von einem Scheusal befreit hat: Ich zeige euch nach allen Regeln der Kunst, nach allen Topoi möglicher rednerischer Beweise, daß der Ermordete und nicht der Mörder schuldig ist." So k a η η die scheinbare Schülerhaftigkeit dann auch wieder das Raffinement des Meisters sein. Der gewöhnliche Fall ist dies allerdings beim späteren Cicero nicht.

us

Vgl oben S. 13, sowie die Anmerkungen 66 und 100-105 zu diesem Kapitel. Wenigstens was die säuberliche Trennung von narratio und argumentatio sowie den regelrechten Aufbau der letzteren (s. Anm. 45 zu S. 18) angeht; worin Cicero über dieses Schulmäßige hinausgeht, ist gezeigt von NEUMEISTER 83 ff., bes. 99 f.

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Exkurs: Zum juristischen Problem der Rede*

W i r sind bei der Besprechung der R e d e v o n der Ansicht ausgegangen, d a ß die A n k l a g e gegen Cluentius eine doppelte gewesen sei: einmal wegen der R i c h terbestechung, zum anderen wegen der G i f t m o r d e 1 . Diese Ansicht, die natürlich f ü r die Beurteilung der Disposition sehr wichtig ist, wurde schon öfter, besonders aber von C a r l B A R D T ( 1 8 7 8 ) und J u l e s H U M B E R T ( 1 9 3 8 ) bestritt e n ; nach ihrer Meinung w ä r e n nur die G i f t m o r d e im technischen Sinn Gegenstand der A n k l a g e gewesen, wogegen die Richterbestechung von Attius extra causam eingeführt worden wäre, um das G e r i c h t gegen Cluentius einzunehmen 2 . A u f B A R D T hat damals F r a n z B O L L ( 1 8 9 1 ) , auf H U M B E R T dann Pierre B O Y A N C f i ( 1 9 5 3 ) mit, wie mir scheint, überzeugenden Argumenten g e a n t w o r t e t ; da jedoch in neuerer Zeit C . J o a c h i m C L A S S E N die These B A R D T s in zwei ausführlichen, an Aspekten wie gelehrtem M a t e r i a l reichen Untersuchungen wiederum zu stützen versucht h a t ( 1 9 6 5 und 1 9 7 2 ) und damit auch weithin a u f Zustimmung gestoßen zu sein scheint 3 , können w i r nicht umHerr Professor CLASSEN, mit dessen Ansicht ich mich hier auseinandersetze, hatte die große Liebenswürdigkeit, im Herbst 1970 die erste Fassung dieses Exkurses durchzulesen und dazu ausführlich Stellung zu nehmen. Bei der Diskussion haben sich zwar die beiderseitigen Standpunkte nicht wesentlich geändert; doch hat mich die Kritik in die Lage gesetzt, meine eigene Ansicht präziser und, ich hoffe, überzeugender zu formulieren. Auf brieflich geäußerte Argumente kann ich natürlich nicht explizit eingehen; nur in dem, was die Ansicht Herrn Professor CLASSENs über die Funktion der §§ 143 ff. in Ciceros Rede angeht (s. unten S. 232), habe ich auf Grund seiner privaten Äußerungen die Neuartigkeit seiner Interpretation stärker herausgestellt, als er dies selbst in seinem ersten Aufsatz (1965) getan hat. (Im zweiten Aufsatz [1972], von dessen Planung ich seinerzeit nichts wußte, ist vieles ergänzt und anders gewichtet; doch scheint mir keine entscheidende Position aufgegeben.) Ich möchte ihm auch an 1dieser seine freundliche Diskussionsbereitschaft herzlich danken. Vgl.Stelle oben für S. 195. 2 Zur Bedeutung solcher Vorwürfe extra causam in der üblichen Gerichtsrede s. S. 251 bis 255. (Den Ausdruck extra causam gebrauche ich bequemlichkeitshalber trotz der von H E I N Z E gemachten Einschränkungen.) 3 Vorbehaltlos akzeptiert worden ist CLASSENs Interpretation des prooemium von K Ö H L E R (S. 104-109), seine Auffassung des Rechtsproblems von G. PUGLIESE (bes. S. 10-13: ohne eigentlich neue Gesichtspunkte); vgl. auch STOCKTON 61. Wie sich F U H R M A N N entscheiden will, ist nicht klar zu sehen (s. Reden II 8); doppelte Anklage scheint anzunehmen J. D. CLOUD, ZRG 86, 1969, 272). Die älteren Arbeiten zum juristischen Problem sind bei CLASSEN verzeichnet: 1965, 104 A. 3 und 120 A. 62 (wo mir nur die Ansicht von W. RAMSAY nicht richtig eingeordnet scheint); 1972, 10-13.

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hin, die Frage noch einmal zu erörtern. Doch soll nicht alles, was im Gang der Forschung diskutiert wurde, erneut vorgetragen und abgewogen werden; es muß genügen, zu den Problemen Stellung zu nehmen, die nun durch die Arbeiten CLASSENs mit besonderer Dringlichkeit aufgeworfen sind 4 . CLASSENs Hauptargument (1965) beruht auf den §§ 143 ff., in denen Cicero unter anderem durch wörtliche Anführung der lex Cornelia de sicariis zeigt, daß sein Klient nach deren 6. Kapitel schon darum nicht schuldig sein könne, weil das Gesetz den Personenkreis der wegen Richterbestechung Deliktfähigen auf Senatoren und Magistratspersonen beschränke 5 . Schon B A R D T hatte sich auf diese Nachricht gestützt: Während er jedoch daraus den Schluß gezogen hatte, Attius könne so dumm nicht gewesen sein, den Cluentius wegen einer Sache zu belangen, wegen der er so gut wie notwendig freigesprochen werden mußte also könne Cluentius nur bezüglich der Giftmorde angeklagt sein" - , kommt jetzt CLASSEN auf etwas anderem Wege vom selben Ausgangspunkt zum selben Ziel. Er meint nämlich - in dieser Entschiedenheit offenbar als erster 7 - , der Prozeß hätte gar nicht in Gang kommen können, wenn Attius wegen Richterbestechung geklagt hätte. Der zuständige Gerichtsherr, in unserem Fall ein iudex quaestionis, Q. Voconius Naso, hätte ja schon bei der Vorverhandlung, der delatio nominis, sehen müssen, daß Cluentius von dem 6. Kapitel gar nicht betroffen sei. Kaum möglich also, daß er - wo ihn nicht etwa besondere politische Absichten geleitet hätten - diesen P u n k t in die offizielle Klageschrift, die subscriptio, aufgenommen hätte 8 ! Zu dieser Argumentation, durch die auf einen in der früheren Diskussion nicht oder zu wenig berücksichtigten Aspekt aufmerksam gemacht ist, haben wir ein Doppeltes anzumerken. (1) CLASSEN geht von der Voraussetzung aus - und in seinem späteren Aufsatz (1972) versucht er, diese auch eigens zu beweisen - , daß nur das gelegentlich der Vorverhandlung zur Sprache Gekommene und in der subscriptio9 4

Ich beziehe mich zunächst auf den ersten, umfangreicheren Aufsatz und berücksichtige ergänzend, was im zweiten hinzugekommen ist (vgl. die Vorbemerkung zu diesem Exkurs). 5 Vgl/Tes. §§ 144 und 148 (dazu oben S. 196). β BARDT 5 f. 7 Immerhin gingen schon die Ansichten von D A VIES (s. S. 420) und DÖRRIES (zu ihrer Arbeit CLASSEN 1965, 104 Α. 3, 121 Α. 62; CLASSEN 1972, 4 mit Α. 11, 13 mit Α. 63) in ähnliche Richtung. 8 CLASSEN 1965, 137 ff., bes. nachdrücklich 139 und 141; nicht ebenso entschieden allerdings in dem Aufsatz von 1972, dort bes. S. 14, vgl. S. 10. • Literatur zur subscriptio bei CLASSEN 1965, 106 Α. 8, vgl. auch CLASSEN 1972, 4, BOYANCfi 28 (der das Problem für die Cluentiana richtig erkennt) und LEIFER, RE X X I I 1 (1953) 885 f.; Belege für das Wort bzw. Quellentexte bei MOMMSEN, Strafrecht 385 f. (auf S. 386 A. 6 sind die Verweise auf Cluent. 127 und 130 zu streichen, ebenso irrig KUNKEL, RE X X I V 1 [1963] 756 Z. 13); hinzuzufügen wäre Quint, decl. 15, 4 und 6; Plin. epist. 1, 20, 7 und vor allem das Asconiuszeugnis (dazu unten).

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Aufgezeichnete als ein echter, d. h. de iure dem Urteil des Gerichts unterliegender Klagepunkt10 gelten könne. Eine solche Auffassung, durch welche die Bedeutung der strafprozessualen subscriptio ungefähr derjenigen der prätorischen Formel im Zivilprozeß gleichgesetzt wird, wurde in dieser Entschiedenheit bisher m. W. nur von Moritz WLASSAK vertreten11, und zwar in deutlichem Gegensatz zur Ansicht MOMMSENs im „Strafrecht" 12 . Aber leider sind wir hier durchaus auf Mutmaßungen angewiesen. Unsere Quellen lassen nicht genau erkennen, in welchem Maße die subscriptio verbindlich war, ja wie weit in ihr - und diese beiden Fragen hängen natürlich zusammen - die dem Angeklagten zur Last gelegten Vergehen spezifiziert werden mußten. Betrachten wir WLASSAKs Hauptbeweisstück: Cie. inv. 2, 58! In dem dort behandelten Prozeßfall lautet die subscriptio auf parricidium; damit wird die allgemeine Anklage (wegen veneficium) eingeengt und erreicht, daß der Prozeß extra ordinem stattfindet, sowie daß den Angeklagten im Falle einer Verurteilung die für parricidium, nicht die für bloßes veneficium, festgesetzte Strafe trifft. Wenn hier der Ankläger, so Cicero, nur andere Vergehen und nicht gerade das parricidium beweise, dann müsse der Verteidiger protestierend die subscriptio und die aus ihr resultierenden Nachteile für den Angeklagten geltend machen. Was lehrt dieses Beispiel? Nur das fast Selbstverständliche, daß die Straftat in demjenigen Fall genauer bestimmt werden muß - das heißt: genauer, als daß nur die Einschlägigkeit unter das betreffende Prozeßgesetz sichtbar würde - , wo durch diese Präzisierung die Möglichkeit eines besonderen Verfahrens bzw. einer besonderen Strafe eröffnet wird. Keineswegs ist etwa bewiesen, daß der Angeklagte nicht wegen eines anderen als des in der subscriptio genannten Vergehens verurteilt (und zwar de iure verurteilt) werden könnte, sofern nur die Vergehen nach Verfahren und Strafe gleich sind und sofern sie - das versteht sich von selbst - unter dasselbe Gesetz fallen. Nicht viel mehr ergibt sich aus dem anderen uns bekannten Beispiel einer spätrepublikanischen subscriptio, das jetzt CLASSEN zum Beweis seiner Ansicht angeführt hat, Ascon. in Cie. Mil. p. 46 ST.1®: [M.Saufeius] repetitus deinde post paucos dies apud C. Considium quaesitorem e lege Plautia de vi subscriptione ea, quod loca (edita) occupasset et cum telo fuisset; nam dux fuerat operarum Milonis. Hieraus sieht man, daß unter Umständen auch verDer de iure zu beurteilende Klagepunkt - lateinisch etwa: quae res in quaestione versatur (vgl. Cluent. 159) - ist natürlich scharf zu scheiden von dem, wonach sich die Geschworenen de facto bei ihrem Urteil richten können: quod indices sequuntur (vgl. Cluent. 97). Hierin bin ich mit CLASSEN (1972, 17) durchaus einig. 11 Anklage und Streitbefestigung im Kriminalrecht der Römer, SB Wien, phil.-hist. Kl. 184, 1, 1917, 9 f. 12 MOMMSEN, Strafrecht 385 A. 4: „ . . . keinesfalls ist der Kläger im Strafprozess durch diese Angaben ebenso gebunden worden wie der Civilkläger durch die prätorische Formel." 13 CLASSEN 1972, 4. Zum Text A. W. LINTOTT, Violence in republican Rome, Oxford 1968, 114 f. 10

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schiedene Vergehen (oder besser: Vergehenskategorien) in der subscriptio namhaft gemacht werden konnten, aber interessanterweise noch nicht wie dann in der Kaiserzeit (vgl. dig. 48, 2, 3) unter näherer Angabe von Personen und U m ständen - man beachte, daß Asconius den Namen Milo nicht in die subscriptio setzt - , sondern offenbar nur soweit präzisiert, daß die Verfolgbarkeit nach der betreffenden lex14 sichtbar wurde 15 . Wie und in welchem Sinn verbindlich die subscriptio war, können wir diesem Beispiel nicht unmittelbar entnehmen. Bedenken wir aber schließlich, wie wichtig in Ciceros Zivilprozeßreden die Interpretation der Formel ist", daß dagegen die subscriptio in keiner der erhaltenen Kriminalreden besprochen, ja daß sie nicht einmal verlesen oder auch nur erwähnt wird, so müssen wir doch zögern, ihr eine über das sicher N a c h weisbare hinausgehende juristische Verbindlichkeit zuzuschreiben. Jedenfalls kann man auf G r u n d des uns zur Verfügung stehenden Quellenmaterials die Möglichkeit schlechterdings nicht ausschließen, daß ein Vorwurf gegen den Angeklagten nach römischem Rechtsverständnis auch dann als echter Klagepunkt gelten konnte, wenn er, ohne in der subscriptio eigens vermerkt zu sein, nur in der Anklagerede - aber natürlich in Bezug auf das jeweilige Prozeßgesetz! - vorgebracht wurde 17 . (2) Aber auch wenn wir die von CLASSEN gemachte Voraussetzung gelten lassen - wenn sie sich nicht beweisen läßt, so kann sie doch auch nicht widerlegt werden - , ist seine Argumentation keineswegs zwingend. Was wissen wir denn schon von den rechtlichen oder gewohnheitsmäßigen Möglichkeiten des Gerichtsherrn, dem Strafkläger die actio zu verweigern! Gesetzt den Fall, Attius wollte den Punkt Richterbestechung in die subscriptio aufgenommen wissen: Hatte dann unser iudex quaestionis das Recht, die Anklage überhaupt zurückzuweisen, und dies obwohl doch auch die juristisch einwandfreien crimina veneficii vorlagen 18 ? Weiter. Wir erschließen aus unserer Rede, daß sich Attius anheischig machte nachzuweisen, Cluentius sei wo nicht dem Buchstaben, so doch dem Geiste des Gesetzes nach schuldig (dazu unten). Wenn er in seiner 14

Vgl. die von LINTOTT (s. oben Anm. 13) angeführten Parallelen und Cie. Att. 2, 24, 3 f. 15 MOMMSEN a. O. (s. oben Anm. 12): „Vielleicht hat sich die Präcisirung der Strafthat erst allmählich im Gerichtsgebrauch entwickelt". - Daß die von CLASSEN (1972, 6-9) gesammelten Formulierungen Ciceros solche von subscriptiones widerspiegeln, halte ich (mit Ausnahme von Lig. 1) für möglich, aber in diesem Zusammenhang nicht weiter wichtig. 16 In pro Caecina und pro Tullio etwa spricht Cicero kaum von etwas anderem. 17 Damit würde „der Gegenstand des Prozesses" nicht etwa „erweitert und irgendwie sonst verändert" (CLASSEN 1972, 10, vgl. S. 17), denn es gäbe ja keinen in diesem genauen Sinn verbindlichen Gegenstand des Prozesses. 18 Darin liegt der Unterschied zu einem Fall wie dem von Cicero in § 148 konstruierten: si quis apud me, Τ. Atti, te reum velit facere, clames te lege pecuniarum repetundarum non teneri. Immerhin zeigt das Beispiel eindeutig, daß die Frage nach der Deliktfähigkeit des Angeklagten (wie die nach der Aktionsfähigkeit des Anklägers) bei der delatio nominis grundsätzlich berücksichtigt wird.

232 Zum juristischen Problem Rede so argumentieren konnte, dann konnte er dies doch auch schon bei der delatio nominis tun; und w o f ü r sich argumentieren läßt, davon kann man auch überzeugen. Und selbst wenn er den Voconius nicht überzeugt hätte, mochte sich dieser nicht sagen, daß darüber nicht er, sondern die Geschworenen zu befinden hätten? Auch diese Frage können wir nicht entscheiden 1 '. Damit ist natürlich soweit nur gezeigt, daß die §§ 143 ff. CLASSENs Auffassung der Rechtslage wenigstens nicht notwendig machen. Im folgenden werden wir sehen, daß sie sich damit nicht einmal vertragen (wobei die Frage nach der Verbindlichkeit der subscriptio glücklicherweise nicht entscheidend ist). Nehmen wir also an, Cluentius sei der Richterbestechung nicht eigentlich angeklagt! Was bedeutet es dann, wenn Cicero seinen Klienten unter Berufung auf den Wortlaut des Gesetzes verteidigt? Nach der Meinung BARDTs 8 0 und, soweit ich sehe, aller, die ihm gefolgt sind 21 , will Cicero die Richter hinters Licht führen. Sie sollen, wenigstens für einen Augenblick, fälschlich glauben, Cluentius sei auch nach dem 6. Kapitel der lex Corn, angeklagt, damit Cicero auf diesem Gebiet einen sicheren, wenn auch etwas billigen Triumph feiern kann 22 . Die Möglichkeit eines so gewagten Täuschungsmanövers wurde von den Opponenten BARDTs heftig angezweifelt 23 ; und jetzt hat CLASSEN, wenn auch nicht in explizitem Widerspruch zu BARDT, dessen Interpretation der §§ 143 ff. aufgegeben. Nach seiner Meinung würde Cicero auch in dieser Partie nicht von der Voraussetzung ausgehen, daß Cluentius der Richterbestechung angeklagt wäre; er würde nur eben an die sachliche Widerlegung des extra causam gemachten Vorwurfs eine Verteidigung nach dem Gesetz anschließen, um seinem Klienten, wenn schon nicht mehr große, so doch „zusätzliche Hilfe" zu verschaffen 24 . Ich halte diese Interpretation nicht für möglich. Weder scheint es an sich sinnvoll, einen extra causam gemachten Vorwurf durch die Berufung auf das

Mit gebotener Vorsicht DÖRRIES 54. Dagegen glaubt K U N K E L (Untersuchungen 123 A. 450) gerade auf Grund der Cluentiana, die Auslegungspraxis bei der delatio nominis sei recht weitherzig gewesen. Ein Beispiel einer geradezu gesetzwidrigen Klagezulassung: Suet. Caes. 11 (vgl. BOLL 209; CLASSEN 1972, 3 Α. 6: „nicht für die Praxis der Gerichtsmagistrate typisch"). 20 BARDT 3 ff. 21 Vgl. etwa DAVIES 396, HUMBERT 293; s. bes. auch FAUSSET S. XV. Nur PUGLIESE (S. 176) bewegt sich jetzt auf der Linie von CLASSEN. 22 Darauf bezieht denn auch BARDT Ciceros berühmte Äußerung bei Quint, inst. 2, 17, 21: se tenebras offudisse iudicibus in causa Cluentii gloriatus est; etwas anders CLASSEN 1965, 139 und PUGLIESE 160. Gewöhnlich (zuletzt F U H R M A N N II 13) denkt man an Ciceros Unschuldsbeweis in der Bestechungsaffäre, was auch ich für richtig halte. 29 Etwa FAUSSET S. XVII: »One juror, who had kept his eyes open, might have exposed the glaring sophism . . 24 CLASSEN 1965, 115 f., vgl. CLASSEN 1972, 16 f.

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der jeweiligen causa zugrunde liegende Prozeßgesetz zu verteidigen 25 - oder könnte sonst nicht ein Strafverteidiger bei allen crimina vitae anteactae das einschlägige Gesetz verlesen? —, noch läßt Ciceros Art der Beweisführung einen Zweifel daran, daß er Cluentius als der Richterbestechung angeklagt wenigstens erscheinen lassen möchte. Der Gipfelpunkt seiner Argumentation ist doch der Gedanke (§§ 152-157), daß eine Verurteilung seines Klienten hinkünftig jeden römischen Ritter, ja Bürger, einer Strafverfolgung nach dem 6. Kapitel der lex Cornelia aussetzen würde; dieses Argument hat aber schlechterdings nur einen Sinn, wenn man voraussetzt, daß Cluentius nach diesem Kapitel belangt wird (gleichgültig, ob die Voraussetzung sachlich richtig oder falsch ist). Dasselbe gilt etwa f ü r Ciceros treuherzige Versicherung: . . . 51 nihil aliud esset actum nisi ut hanc causam obtineremus, lege recitata perorassem (§ 145), ja f ü r die ganze Erzählung von seiner Sprechstundenberatung des Cluentius (§§ 144 f.) 26 . U n d was soll man gar zu § 154 sagen: Uli non hoc recusabant ne ea lege accusarentur qua nunc Habitus accusatur. CLASSEN selbst ist (in seinem Aufsatz von 1965) nicht darum herumgekommen, hier einen Doppelsinn anzusetzen: Die Stelle sei „bewußt so f o r m u l i e r t . . . , daß der Eindruck entstehen muß, als ob . . . Cluentius (der Ritter) wegen der Richterbestechung angeklagt war" 2 7 . Damit kommen wir vorläufig auf BARDTs Interpretation zurück: Wenn Cluentius nach dem 6. Kapitel nicht angeklagt war, dann müssen die §§ 143 ff. der Täuschung der Richter dienen. Aber dies ist nun aus einem ganz anderen Grunde nicht möglich. Wir erfahren doch aus Cicero, daß Attius in einer anticipatio die Erwartung ausgesprochen hatte, Cicero werde seine Verteidigung ganz auf den Wortlaut des Gesetzes stellen (§ 143): nam hoc persaepe dixisti tibi sic renuntiari me habere in animo causam hanc praesidio legis defendere. Wie könnte sich diese Nachricht mit der Annahme vertragen, daß Cicero seine

is

Wenn CLASSEN geltend macht (1972, 16), Cicero sei dazu genötigt gewesen, da sich auch Attius auf das Gesetz berufen habe, so verschiebt das natürlich nur das Problem (s. zu Attius im folgenden). Verkehrt ist die Ansicht PUGLIESEs, daß eine Verteidigung nach dem Gesetz die Richter dazu bewegen könnte, auch faktisch nicht an die Richterbestechung zu glauben: Gerade wer es nötig hat, sich auf den Wortlaut zu berufen, ist doch hinsichtlich der Faktizität der Tat verdächtig (s. oben S. 197). 26 Anders freilich CLASSEN 1972, 15 Α. 71. 27 CLASSEN 1965, 40 (vgl. BAREJT4). CLASSENs neuere Formulierung (1972, 16: „. . . ohne je den Eindruck zu erwecken, als sei Cluentius nach diesem Gesetz [= Gesetzeskapitel] angeklagt") ist nicht als Korrektur zu verstehen: Es ist hier an den „Eindruck" auf den modernen kritischen Leser gedacht (briefl. Hinweis). - Übrigens muß dasselbe wie für § 154 auch für § 156 gelten: A. Cluentius, eques Romanus, causam dicit ea lege, qua lege senatores et ei qui magistratum habuerunt soli tenentur. B A R D T sagt gar (S. 5): „. . . wir hätten hier eine Stelle, wo das, was in den bisherigen Stellen nicht direct ausgesprochen, aber den Richtern zu verstehen nahe gelegt ist, einmal direct ausgesprochen wird."

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H ö r e r über den Anklagepunkt betrügen wollte 28 ? Denn die anticipatio des Attius k a n n ja nur entweder den Sinn gehabt haben, die Richter vor einem Täuschungsmanöver Ciceros (im Sinne BARDTs) zu w a r n e n : „Paßt auf, daß sich Cicero nicht auf den Wortlaut des 6. Kapitels beruft! Deswegen ist ja Cluentius gar nicht angeklagt", oder sie gegen eine zwar (nach Meinung des Attius) sachlich schiefe, aber doch nicht eigentlich betrügerische, d. h. den Sinn der Anklage verfälschende Argumentation zu immunisieren: „Paßt auf, wenn sich Cicero auf den Wortlaut des Kapitels beruft! Seine Interpretation ist unbillig und unrichtig." H ä t t e die anticipatio den ersten Sinn gehabt, so würde sich die BARDTsche Interpretation selbst aufheben: Cicero könnte ja seine H ö r e r schwerlich in genau der Weise betrügen, vor der Attius o f t (persaepel) gewarnt hatte. Die Richtigkeit der zweiten Alternative ergibt sich auch aus § 145: neque me ilia oratio commovet, quod ait Attius indignum esse facinus, si senator iudicio quempiam circumvenerit, legibus eum teneri; si eques Romanus hoc idem fecerit, non teneri (vgl. § 150 mit satirischer Überspitzung: iniquum tibi videtur, Atti, esse non isdem legibus omnis teneri). G a n z offenbar hat Attius seinerseits versucht nachzuweisen, d a ß Cluentius auch unter das 6. Kapitel falle, und er hat das Prinzip der aequitas zur Stützung seiner extensiven Textauslegung bemüht (s. oben S. 197). Auch mit dieser Annahme erledigt sich die Möglichkeit eines ciceronischen Täuschungsmanövers. Denn wenn Attius so argumentierte, dann muß er ja selbst schon, genau wie Cicero in den §§ 143 ff., den Cluentius als wegen Richterbestechung angeklagt behandelt haben 2 '. U n d wollten wir schließlich, um dieser Konsequenz zu entgehen, die Annahme machen, d a ß Attius ex hypothesi argumentiert hätte: „Zwar habt ihr über die Richterbestechung nicht zu befinden, da Cluentius nach dem 6. Kapitel nicht angeklagt ist; ich will euch aber (zu allem Überfluß) nachweisen, d a ß

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Vgl. schon BOLL 205: „Iam si BARDTi sententiam sequamur, quaerere necesse est, quaenam causa Accio fuerit huius legis commemorandae: id quod ille parum nos docuit." Das mit zu geringem Nachdruck vorgebrachte Argument hat leider in der gelehrten Diskussion seitdem keine Rolle mehr gespielt. 29 Zu Recht sagt CLASSEN (1972, 15), die Berufung des Attius „auf aequum und dignum . .. wäre kaum verständlich, wenn Cluentius nach dem Buchstaben des Gesetzes angeklagt war". Aber dies ist keine Bestätigung, sondern eher eine Widerlegung seiner Ansicht. Denn wenn Cluentius nach dem 6. Kapitel angeklagt ist, dann ist er ja g e g e η den Buchstaben des Gesetzes angeklagt; und in der Tat setzt die Berufung auf das aequitas-Prinzip eben dieses voraus. Wie sich CLASSEN nun eigentlich den Duktus der Attiusrede in Sachen Gesetzeswortlaut vorstellt, wird aus seinem neueren Aufsatz nicht recht klar. S. 16: Er habe seinen Vorwurf „durch einen Hinweis auf das Gesetz, den allgemeinen Billigkeitsgrundsätzen zuwiderlaufenden Buchstaben des Gesetzes" unterstützt. Wie sollte darin eine Unterstützung liegen? Ganz abgesehen davon, daß nach Ciceros ausdrücklichem Zeugnis (§ 143), das Argument den Charakter einer refutatio (in der Form der anticipatio), nicht einer confirmatio hatte.

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Cluentius auch nach diesem Kapitel schuldig w ä r e " 3 0 - dann wäre durch diese Betonung der Rechtslage ja wiederum Ciceros Argumentation in den §§ 143 ff. als Täuschungsmanöver gekennzeichnet, und wir kämen bezüglich der in § 143 referierten anticipatio in die schon oben gezeigten Schwierigkeiten: Cicero könnte nicht mehr so tun, als wäre Cluentius nach dem 6. Kapitel angeklagt; er müßte vielmehr - und dies wäre übrigens ein schlagendes Argument - den Attius fragen, warum er denn das 6. Kapitel nicht gegen Cluentius gebraucht habe, wenn es doch auf diesen anwendbar wäre. Und hätte etwa gar Attius schon bei der delatio nominis eine Anklage wegen Richterbestechung durchzusetzen versucht und der Gerichtsherr hätte ihm diese abgeschlagen, dann müßte jetzt Cicero dieses Präjudiz des Magistraten triumphierend f ü r seine Sache anführen können 31 . Genug der unmöglichen Hypothesen! Da Cicero - wie wir gegen CLASSEN festhalten müssen — in den §§ 143 ff. von der Voraussetzung ausgeht, daß Cluentius wegen Richterbestechung angeklagt ist, und da dies - wie gegen B A R D T gezeigt - ein Täuschungsmanöver nicht sein kann, da ja schon Attius seinerseits den Cluentius in diesem Sinne behandelt und Ciceros Entgegnung vorhergesehen hatte, so bleibt uns nur der eine Schluß, daß Cicero von der richtigen Voraussetzung ausgeht, das heißt: daß Cluentius der Richterbestechung tatsächlich angeklagt war 32 . Dabei ist es ganz gleichgültig, ob wir mit CLASSEN (bzw. WLASSAK) „Anklage" und subscriptio gleichsetzen. Wenn CLASSEN in dieser Frage unrecht hat, so konnte die Richterbestechung dadurch, daß sie von Attius im Hinblick auf das der quaestio zugrunde liegende Gesetz geltend gemacht wurde, ein Anklagepunkt gegen Cluentius werden. H a t er recht, so muß die Richterbestechung in der subscriptio gestanden haben 33 . 30

So ähnlich scheint, w e n n ich recht sehe, D A V I E S (S. 392) die Argumentation des Attius aufzufassen. 31 Wie eine solche Argumentation aussähe, zeigt Tull. 38 f f . ( w o Ciceros Lage ungünstiger ist, als sie es in unserem Falle wäre). 32 D i e einzige Alternative - zum Glück noch v o n niemand erwogen - wäre, daß schon Attius das Gericht in dieser Sache hätte betrügen wollen. 33 Ich kann gegenüber diesem, wie mir scheint, sicheren Schluß die acht hauptsächlichen juristisch-historischen Argumente, die jetzt C L A S S E N (1972, 14 f.) zur Stützung seiner Ansicht anführt, nicht sehr gewichtig finden. Zu 1 - 3 : Wir wissen überhaupt von keinem Prozeß wegen aktiver Richterbestechung (nicht nur von keinem nach lex Corn. sic. cap. 6); und die Behauptung, daß es andere Möglichkeiten der V e r f o l gung des Delikts gegeben hätte, ist ganz unwahrscheinlich: D i e lex Cornelia de falsis scheidet bestimmt aus (s. bes. E. E. K O C H E R , Überlieferter und ursprünglicher Geltungsbereich der lex Cornelia de falsis, Diss. München 1965, 59 f., 109; so auch P U G LIESE 180 f., vgl. C L A S S E N 1972, 2); und bezeichnend ist doch vor allem, daß i. J. 72 eigens ein S C ins Werk gesetzt wurde (s. oben S. 215 mit A. 75), um gegen den Ritter Cluentius eine rechtliche Handhabe zu schaffen. Eine Klage (bzw. Klagezulassung) nach Kap. 6 müßte also in unserem Fall nicht n o t w e n d i g als „politisch orientierte Maßnahme" angesehen werden. Zu 4: Freilich sagt Cicero nichts davon, daß der iudex

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Soviel z u m Juristischen im engeren Sinn. N u n hat C L A S S E N in seinem ersten A u f s a t z (1965) versucht, seine Ansicht durch eine rhetorische Analyse v o n Ciceros prooemium (§§ 1 - 8 ) näher zu begründen 3 4 . Cicero, so führt er aus, lasse am A n f a n g des prooemium den Vorwurf des Giftmords als rechtlich allein bedeutsam erscheinen, dennoch dränge er ihn im Laufe der Darlegungen so zurück, d a ß am Ende (in § 8) die Richterbestechung als einziges crimen übrigbleibe 35 . Dies Vorgehen sei zu erklären als Versuch Ciceros, „unabhängig v o n der rechtlichen Problematik - im Einklang mit den Regeln der Rhetorik [ C L A S S E N denkt an Cie. inv. 1, 2 5 ] - die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dem Gegner zunächst dort zu begegnen, w o er am stärksten hatte wirken können . . ," 3e Soweit wäre natürlich nur gezeigt, daß der A u f b a u von prooemium und Rede der Ansicht nicht widersprechen, die Richterbestechung sei kein Gegenstand der Anklage gewesen 3 7 ; ein positives Indiz ergäbe sich nur, w e n n die Regeln der Rhetorik vorschrieben, d a ß man dem Gegner zunächst dort quaestionis die Ritterbestechung zum Teil der Anklage gemacht hätte; aber von der Vorverhandlung spricht er auch sonst kaum in seinen Kriminalreden, und sollte sich Voconius gar am Rande der Legalität mit der Klagezulassung bewegt haben, versteht es sich, daß Cicero alles vermeidet, was nach Kritik an dem hohen Herren aussehen könnte. (Dies vorausgesetzt, daß CLASSENs Ansicht der subscriptio richtig ist.) Zu 5: S. oben A. 30. Zu 6 / 7 : S. unten S. 237 ff. mit A. 48. Zu 8: Auch für Vorwürfe extra causam können Zeugen auftreten (z. B. Cie. Cael. 20); genau wie umgekehrt die causa ipsa nur mit είκός-Argumenten durchgefochten werden kann. Dies scheint Cicero hier angesichts der Kühnheit seiner (von der Wahrheit abweichenden) Konstruktion das Vernünftigere. 34 CLASSEN sieht als ein Ergebnis seiner Arbeit (1965) an, „daß auch die juristische Problematik nur geklärt werden kann, wenn man die rhetorischen Gesichtspunkte eingehend berücksichtigt" (S. 141; vgl. 1972, 17). Doch zieht er die rhetorische Analyse sonst nur zur Bestätigung heran (s. bes. 1965, 138). 35 CLASSEN 1965, 119 f.; 132 f.; 137. 3U CLASSEN 1965, 125. Vgl. CLASSEN 1972, 16. 37 Sofern man hier überhaupt die Ubereinstimmung von Theorie und Praxis zugibt, was ich nur mit einer sehr wesentlichen Einschränkung tun kann. CLASSEN hat zwar - im Widerspruch zu einer unüberlegten Behauptung KROLLs (NJA 1924, 181) — richtig darauf hingewiesen, daß sich Ciceros prooemium als Beispiel eines der Typen der insinuatio ansehen läßt, die in Cie. inv. 1, 25 beschrieben sind: sin oratio adversariorum fidem videbitur auditoribus fecisse . . . oportet aut de eo, quod adversarii firmissimum sibi putarint et maxime ii qui audient probarint, primum te dicturum polliceri... (daß der im folgenden genannte Typ der dubitatio mit der in Cluent. 4 enthaltenen übereinstimme, bestreite ich); aber für dasjenige, worauf CLASSEN in seiner Interpretation so besonders abhebt: daß Cicero den einen Vorwurf langsam zurückdränge, den andern in den Vordergrund schiebe (vgl. unten Anm. 39), gerade dafür gibt De inventione keine Anweisung. (Wozu auch? Den stärksten Punkt des Gegners in den Vordergrund zu schieben, bedarf ja keiner großen Kunst, und Cicero kommt es auch weniger darauf an, eine Behandlung an der ersten Stelle anzuraten als vielmehr die Ankündigung einer solchen Behandlung.) Die Obereinstimmung mit Cie. inv. 1, 25 geht also m. E. nur bis § 2, sie betrifft nicht die Gesamtstruktur des prooemium.

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zu begegnen hätte, w o er extra causam am stärksten war. H i e r f ü r wiederum kann nun C L A S S E N diejenigen rhetorischen Vorschriften anführen, in denen empfohlen wird, im prooemium die διαβολή (invidia), also eventuelle ehrenrührige Verleumdungen zu bekämpfen 9 8 . Allein diese Vorschriften passen hier darum nicht recht, weil ja die B e k ä m p f u n g der invidia im prooemium nur gerade soweit stattfindet, daß sie als Aufgabe ergriffen und angekündigt w i r d ; die Ausführung geht bis zu § 142, und bis dahin müßte also, w e n n man die rhetorische Theorie streng anwenden wollte, auch das prooemium reichen 39 . Somit könnte ein Indiz oder gar ein Beweis höchstens in den ersten Sätzen des prooemium an sich liegen; sie sind ja auch schon v o n B A R D T in seinem Sinn interpretiert worden 4 0 , C L A S S E N hält sie mit einer anderen A u f f a s s u n g wenigstens für schwer vereinbar 41 , und Giovanni P U G L I E S E schließlich meint jetzt, mit ihnen sei die Rechtsfrage unzweideutig (im Sinne B A R D T s ) entschieden 42 . § 1: animum adverti, iudices, omnem accusatoris orationem in duas divisam esse partis, quarum altera mihi niti et magno opere confidere videbatur invidia iam inveterata iudici Iuniani, altera tantum modo consuetudinis causa timide et diffidenter attingere rationem venefici criminum, qua de re lege est haec quaestio constituta. D a ß Cicero hier wie in den folgenden Sätzen die Richterbestechung als etwas eigentlich Irrelevantes, bloß Verleumderisches erscheinen lassen will, ist offenkundig. Aber sagt er wirklich, daß sich das Gericht v o n Rechts wegen nicht mit ihr befassen dürfe? D e r Ausdruck qua de re lege etc. läßt sich aus der Tatsache erklären, d a ß ζ. Z. des Cluentiusprozesses mehrere quaestiones nach der lex Cornelia de sicariis et veneficiis richteten, z w e i davon für die „Dolchmorde", die dritte für „Gift" zuständig: D i e crimina 38

CLASSEN 1965, 138. Er bezieht sich hier offenbar auf die in Anm. 47 zu S. 117 zur Behandlung der διαβολή im prooemium gesammelten Stellen: Anaxim. rhet. 29; 36; Aristot. rhet. 1415 A 27 ff.; Dion. Hal. Lys. 17; Cie. inv. 1, 22; de orat. 2, 321 (?); part. 28; 121. 39 Es ist allerdings zuzugeben, daß es - worauf CLASSEN in diesem Zusammenhang nicht hinweist - römische oder jedenfalls ciceronische Praxis ist, die extra causam vorgebrachten crimina vitae anteactae fast regelmäßig im ersten Teil der argumentatio (nicht im prooemium) zu widerlegen (vgl. S. 251). Aber, genau betrachtet, widerspricht die Tatsache sogar CLASSENs Auslegung des prooemium. Denn wenn dies ohnehin übliche Praxis war, wieso hatte es dann Cicero überhaupt nötig, in so raffinierter Weise, wie CLASSEN glaubt, „die Beschuldigung des Giftmords allmählich ganz fallen" zu lassen, die „Hörer von der doppelten Problematik abzulenken" (1965, 132), den Fall nicht nur „als undurchsichtig zu charakterisieren, sondern . . . ihn dann unmerklich auch kompliziert zu machen, indem er den wirkungsvollsten Vorwurf mit der Beschuldigung zunächst gleichsetzt, von dieser dann ablenkt, jenen dagegen allein in den Vordergrund treten läßt" (S. 138)? Auch wenn die Bestechung nicht Anklagepunkt gewesen wäre, hätte Cicero ohne List und Tücke mit ihr beginnen können. 40

BARDT 3. CLASSEN 1965, 107 mit Anm. 11; 114 f.; 120 f.; 137. Vgl. jetzt CLASSEN 1972, 15 (Punkt 6), aber auch S. 14 A. 66. 42 Daneben stützt sich PUGLIESE bes. auf § 160.

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veneficii waren also entscheidend dafür, daß der Fall des Cluentius gerade an diese quaestio überwiesen wurde43. Spricht dieses also nicht entschieden für BARDTs Ansicht, so spricht etwas anderes entschieden gegen ihn. Hätte Cicero nämlich ausdrücken wollen, daß die Riihterbestechung kein Gegenstand der Anklage sei, so hätte er doch schwerlich sagen können, „nur aus Gewohnheit" (tantum modo consuetudinis causa) habe man Cluentius auch noch Giftmorde vorgeworfen; er hätte vielmehr von einer Notwendigkeit sprechen müssen: „Da Cluentius anders nicht zu belangen war, mußte man ihm notgedrungen Giftmorde zur Last legen." Indem Cicero dies eben durch die Gewohnheit motiviert, zeigt sich, daß er auf etwas anderes abhebt, nämlich darauf, daß Prozesse wegen Richterbestechung nach der lex Corn, de sie. etwas Ungewöhnliches, wo nicht Unerhörtes waren. Diese quaestio beschäftigte sich eben üblicherweise mit .echtem' Mord; und darum - so Cicero - habe man um der lieben Gewohnheit willen, und damit es nicht gar zu sonderbar aussehe, auch noch einige einschlägige Morde, wenn auch zaghaft und ohne rechtes Zutrauen, vorgebracht44. Betrachten wir auch noch § 2! Hier bringt Cicero einen weiteren Punkt, der ihm helfen soll, den Vorwurf der Richterbestechung hinsichtlich seiner Bedeutung für das Gericht zu verkleinern. Er unterscheidet jetzt nämlich zwischen einer altera pars... quae propria est iudici vestri et legitimae venefici quaestionis und einer altera... quae proeul ab iudicio remota est, quae contionibus seditiose concitatis accommodatior est quam tranquillis moderatisque iudieiis... Wiederum kein Wort davon, daß Cluentius der Richterbestechung nicht angeklagt wäre. Denn wenn auch dadurch, daß die Giftmorde propria iudici genannt werden, implizit wenigstens ausgesagt scheint, daß die Richterbestechung n i c h t propria iudici ist, so muß das ja zunächst nur heißen, daß sie gerade nicht das „Charakteristikum" dieses Gerichts ausmacht45, was natürSo überzeugend B O Y A N C f i 26, gestützt auf § 147. Dieser Sinn ist von den Gegnern der BARDTschen These nicht recht erkannt worden. So meint etwa B O Y A N C f i (S. 26 f.), Cicero mache schon hier von dem Gedanken Gebrauch, daß sein Mandant nicht unter das 6. Kapitel des Gesetzes falle. Wie CLASSEN (1965, 115) richtig bemerkt, läßt er den Gedanken „hier nicht einmal anklingen". 45 Die von C L A S S E N (1965, 115 Α. 40) angeführten Stellen (Cluent. 97; 103; Mil. 7; vgl. auch Sest. 5) zeigen allerdings, daß mit proprium iudici (quaestionis) crimen der technische Anklagepunkt bezeichnet sein k a n n . Aber Cael. 72 (worauf dort ebenfalls verwiesen ist) paßt nicht dazu: M. vero Caelius cur in hoc iudicium vocatur? cui neque proprium quaestionis crimen obicitur nec etc. Hier gebraucht Cicero den Ausdruck proprium quaestionis ganz ähnlich wie an unserer Stelle: „Man wirft dem Caelius nicht das für die quaestio eigentlich charakteristische crimen vor", und er meint damit, daß die dem Klienten zur Last gelegte vis nicht den staatsbedrohenden Charakter habe, den das Prozeßgesetz schon seiner Geschichte nach (§ 70!) eigentlich verlange (vgl. dazu unten Anm. 39 zu S. 249). Wäre das crimen proprium soviel wie „juristischer Anklagepunkt", dann würde Cicero die unsinnige Behauptung machen, daß man Caelius überhaupt keinen solchen Anklagepunkt zur Last lege. 43

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lieh richtig ist; außerdem nennt aber Cicero ausdrücklich noch einen anderen Aspekt, unter dem die Sache „gerichtsfremd" (ab iudicio remota) ist: Er sagt, sie passe mehr zu erregten Volksversammlungen, d. h. er benutzt die Tatsache, daß das iudicium luntanum bisher meist Gegenstand populärer Demagogie, nicht eigentlich gerichtlicher Klärung war. So ist es also erstens die Ungewöhnlichkeit des Verfahrens (§ 1), zweitens die .populäre Vergangenheit' dieses crimen iudicii corrupti (§ 2), was Cicero dazu verwendet, um den ersten H a u p t punkt der Anklage als nicht eigentlich vor unsere bzw. überhaupt eine quaestio gehörig erscheinen zu lassen. Wir haben kein Wort des Protests dagegen, daß sich der Ankläger hauptsächlich bei Dingen aufgehalten habe, wegen deren sein Mandant nicht angeklagt war 46 . Diese Interpretation der umstrittenen Paragraphen 1 f. wird schließlich noch in schlagender Weise bestätigt durch den sehr ähnlichen § 160. Nach Beendigung der Verteidigung lege (§§ 143-160) heißt es: reliqua perpauca sunt; quae quia vestrae quaestionis erant, idcirco Uli statuerunt fingenda esse sibi et proferenda ne omnium turpissimi reperirentur, si in iudicium nihil praeter invidiam attulissent. D a ß mit dieser Gegenüberstellung von „zur quaestio gehörigen" Beschuldigungen und invidia nicht der Gegensatz von (nachfolgenden) sachlichen und (vorausgehenden) außersachlichen, nicht zur Anklage gehörigen Beschuldigungen gemeint sein kann, ist klar. Denn erstens würde sonst Cicero die Wirkung der vorhergehenden Paragraphen, in denen die Richterbestechung (wenigstens implizit) zur causa gerechnet war, schlechtweg wieder aufheben. Zweitens könnte er dann nicht sagen, daß sich die „Ankläger" mit Schande bedeckt hätten, wenn sie nur die Richterbestechung hätten vorbringen wollen; er müßte vielmehr betonen, daß sie dann gar nicht hätten prozessieren können (also etwa: . . . idcirco ... ut Cluentium omnino reum facere possent)". Schließlich ergibt sich aus dem folgenden, daß mit crimina vestrae quaestionis in der Tat nicht nur die Giftmorde gemeint sind: Unser § 160 leitet ja gar nicht unmittelbar deren Behandlung ein - diese folgt erst in den §§165 ff. - , sondern zunächst die von (unumstrittenen) crimina vitae anteactae (§§ 161-163) 48 . 46 Ein solcher Protest bei Antiph. chor. 7. Daß eine entsprechende Argumentation vor römischen Geschworenen an sich möglich wäre, zeigt Quint, inst. 7, 2, 30: si deerunt haec remedia, ad illa declinandum est, no η de hoc q u α e r i . . . (ebenso schon Cie. inv. 2, 37). 47 Treffend und vollkommen schlüssig schon BOLL 202 f., gegen dessen Ansicht CLASSEN (1965, 140) polemisiert: „ . . . heißt es nicht, daß es auch zu einem Prozeß gekommen wäre, wenn man nur die Richterbestechung gegen Cluentius vorgebracht hätte - denn warum hätte es dann noch einer zusätzlichen Erfindung bedurft?" Just die Frage nach diesem Warum beantwortet doch Cicero: ne omnium turpissimi reperirentur . . d. h. um nicht mit diesem einen, so ,invidiösen' Anklagepunkt ganz schändlich dazustehen. 48 Mit einem ähnlichen Satz beginnt dann Cicero in § 164 die Behandlung nur der Giftmorde: cognoscite nunc id quod ad vestrum ius iurandum pertinet, quod vestri iudici est...; dem gegenübergestellt sind die Dinge . . . quae ad huius voluntatem maxime, ad vestrum iudicium minime pertinerent. Hier spielt nun allerdings die Vor-

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Was „zur quaestio gehört", so zeigt sich also mit völliger Deutlichkeit, ist nicht dasjenige, was im technisch präzisen Sinn den Gegenstand der Anklage darstellt, sondern weit unbestimmter: das, was man normalerweise in einem solchen Prozeß vorbringt, was nicht gerichtsunüblich, aufhetzend und demagogisch ist. Warum aber, so könnte man abschließend fragen, sucht Cicero am Anfang seiner Darlegungen die Bedeutung der Richterbestechung f ü r die quaestio zu verkleinern? Nach unserer Ansicht ist die Frage leicht zu beantworten: Derjenige der beiden Anklagepunkte, in denen Attius der Sache, wenn auch nicht dem Recht nach stärker war, soll, bevor er behandelt wird, in seiner Wichtigkeit herabgesetzt werden, um so Ciceros Kredit zu erhöhen und ihn als einen Mann auszuweisen, der sich sogar über das sachlich Notwendige hinaus allen aufgeworfenen Fragen, ja selbst dem unbilligsten Vorgehen des Klägers stellt. Nicht ganz ebenso CLASSEN (1965). Zwar betrachtet auch er zunächst die Richterbestechung als den Punkt, wo Attius, wenn schon extra causam, „am stärksten hatte wirken können" 4 '; dann aber vermutet er - und darauf läuft seine Interpretation des Prooemiums eigentlich hinaus - , daß Cicero doch „in den crimina venefici die res contraria50 sieht, von der er ablenken will" 51 . Ich kann in diesem Gegensatz nur einen Widerspruch sehen. Wie sollte das res contraria sein, worin der Gegner nur schwächer gewirkt hat? Und wenn die crimina venefici dies wirklich wären, wozu würde Cicero sie dann am Anfang als besonders bedeutsam, nach CLASSEN sogar „als juristisch allein bedeutsam" hinstellen? D a ß Cicero ablenken wollte, scheint mir schon darum nicht möglich. Schließlich sucht CLASSEN seine Ansicht noch durch zwei Zeugnisse antiker Theoretiker zu stützen 52 . Quint, inst. 4, 2, 15 f.: aut qui repetundarum instellung des Unüblichen, Demagogischen keine Rolle; und man könnte meinen, Cicero wolle direkt sagen, seine Ausführungen über die Bestechung seien ohne Belang für das Urteil (vgl. C L A S S E N 1972, 14 Α. 66). Aber dies wäre so pauschal nicht richtig: Mit den Dingen, die Cicero nur wegen ihrer Wichtigkeit für huius (Cluenti) voluntatem ausgeführt haben will, können ja bloß (s. § § 1 4 4 f., 158) die §§ 9 - 1 4 3 gemeint sein, nicht die Behandlung der Richterbestechung überhaupt. Ciceros Äußerung impliziert, daß die defensio lege (§§ 143 ff.) „für das indicium von Wichtigkeit ist". - C L A S S E N hebt in diesem Zusammenhang noch hervor (1972, 15), daß Cicero „im Epilog zur ganzen Rede ausführlich einen Freispruch zu erwirken sucht (200-202)"; dagegen bitte er „am Schluß der Erörterung der Richterbestechung die Richter nur, sie möchten von ihrem Vorurteil ablassen (142)". Aber die Behandlung der Richterbestechung ist doch erst mit § 160 abgeschlossen, und gerade in den Schlußparagraphen 158-160 weist Cicero die Richter am entschiedensten auf ihre Pflicht eines Freispruchs hin. 49

C L A S S E N 1965, 125, vgl. 138 f. D i e Formulierung („ablenken") nach Rufinianus (s. dazu Anm. 69 zu S. 214). 51 C L A S S E N 1965, 139, vgl. die oben (in Anm. 39) zitierten Formulierungen. Diese Interpretation des Prooemium ist in den Aufsatz von 1972 nicht übernommen worden (in einem gewissen Gegensatz dazu dort S. 16 A. 74). 52 Das angebliche Zeugnis des Rufinianus (s. zuletzt C L A S S E N 1972, 10 f.) ist schon von B O Y A N C E mit Grund zurückgewiesen worden (s. S. 214 A. 69). 50

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simulabitur, non et ante actam vitam et quibus de causis provinciam universam vel accusatorem aut testem offenderit non inutiliter exponetf quae si narratio non est, ne illa quidem Ciceronis pro Cluentio prima, cuius est initium: ,A. Cluentius Habitus' [§ 11]. nihil enirn hic de veneficio, sed de causis quibus ei mater inimica sit dicit. CLASSEN meint, hier werde eine .außersachliche' Partie dem eigentlichen „Prozeßgegenstand (Giftmord)" gegenübergestellt5®. Aber aus dem Schluß des letzten Satzes ergibt sich, daß mit narratio prima" nur die §§ 11-16 (Gründe des Zwists) gemeint sein können, nicht das Ganze der zum iudicium Iunianum gehörigen narratioss. Dann ist aber unter de veneficio, wie ja schon der Singular nahelegt, nicht der Komplex der Giftmordbeschuldigungen im letzten Teil der Rede (§§ 165 ff.) zu verstehen, sondern der eine versuchte Giftmord des Oppianicus (§§43 ff.); eben dessen Behandlung wird nämlich in § 11 (unmittelbar vor den von Quintilian zitierten Worten) angekündigt und dann zunächst aufgeschoben: ... ut intellegatis Cluentium ... proposito ante oculos vitae periculo nomen Oppianici detulisse, paulo longius exordium rei demonstrandae petam. Wenn also Quintilian (zu Recht) sagt, daß die §§ 11-16 nicht streng zur Sache gehören, dann meint er damit, daß sie über das iudicium Iunianum (dessen Inhalt das versuchte veneficium des Oppianicus bildete) unmittelbar nichts berichten, nicht etwa, daß das iudicium Iunianum selber nicht Prozeßgegenstand wäre. Marius Victorinus (p. 220, 35 ff. H.): est tertium genus facti..., ex quo ad id factum, de quo quaestio est, trahitur argumentum; ut Cluentii factum est iudiciale de veneno, quod occiderit Oppianicum: deinde extra hoc negotium facta eius alia ad argumentum, quod proponitur, trahuntur, quod multos ante veneno necarit. Der (schlecht unterrichtete)56 Rhetor meint offenbar, die Morde an Vibius Capax und der Mordversuch an Oppianicus iunior seien von Attius nur als Indiz für den das eigentliche factum iudiciale bildenden Giftmord an Oppianicus senior vorgebracht worden57. Selbst wenn das richtig wäre, was

C L A S S E N 1965, 1 4 1 ; 1 9 7 2 , 10 f. A . 4 9 . Quintilian unterscheidet (4, schen narrationes, in denen die Sache selbst dargelegt wird, und solchen, Sache mittelbar von Wichtigkeit sind (rerum ad causam pertinentium). 54 C L A S S E N ( 1 9 7 2 , I I A . 4 9 ) übersetzt illa . . . prima etwas unscharf mit (Stück) der R e d e " ; ohne Zweifel ist narratio zu ergänzen (vgl. inst. 6, 5, 9 expositionem). 53

2, 11) zwidie für die „jenes erste primam . . .

Dies zeigen auch schon die wörtlichen Anklänge an den abschließenden § 1 7 : initium quod huic cum matre fuertt simultatis audistis [ Q u i n t : de causis quibus ei mater inimica sif]. pertinuisse hoc ad causam [Quint, (s. oben A n m . 5 3 ) : rerum ad causam pertinentium expositione~\ tum cum reliqua cognoveritis intellegetis. 55

E r datiert ja den Mordversuch an Oppianicus iun. v o r den M o r d an Oppianicus sen. (zu Ciceros Disposition in dieser Hinsicht s. S. 2 1 0 ; derselbe Fehler übrigens bei D A V I E S 4 1 4 ) : quod multos ante (!) veneno necarit. ι

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Anders C L A S S E N ( 1 9 7 2 , 11 Α . 4 9 ) , der unter facta eius alia die Giftmorde des Oppianicus selber ( § § 30 f.) verstehen will. Aber dies gibt m. E . sachlich keinen Sinn, denn diese Morde kann weder Attius als Indiz der Schuld des Cluentius angeführt 57

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Zum juristischen Problem

ich nicht glaube48, so würde doch Victorinus damit noch längst nicht sagen, daß n u r der Mord an Oppianicus senior ein factum iudiciale im Prozeß gebildet hätte. Der Redner vergleicht ja bloß die Mordbeschuldigungen unter sich bezüglich ihrer juristischen Relevanz; er vergleicht sie nicht mit dem Vorwurf der Richterbestechung. So widerspricht also auch die Autorität der antiken Rhetorikspezialisten nicht der Voraussetzung, von der Cicero in den §§ 143 ff. ausgeht: daß Cluentius der Richterbestechung angeklagt war.

haben, noch führt etwa Cicero sie als Indiz der Unschuld an - und was sonst sollte Victorinus meinen? Außerdem wäre der Ausdruck unverständlich, wenn nach Cluentii factum mit facta eius alia plötzlich facta Oppianici bezeichnet wären. S8 Cicero jedenfalls spricht ständig von crimina veneficii im Plural.

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Die Rede für Μ. Caelius Rufus (56 ν. Chr.)

Mehr als eine andere Rede Ciceros hat die Caeliana 1 eben ihrer Disposition wegen die Aufmerksamkeit der Gelehrten auf sich gezogen. Seitdem £ d u a r d N O R D E N in einer bahnbrechenden Abhandlung (1913) geradezu von dem „unbegreiflichen Zustande" sprach, „in dem uns diese Rede vorliegt" 2 , sind die Bemühungen nicht abgerissen, den Zustand begreifbar zu machen. Dabei war N O R D E N s kühne genetische Hypothese, mit der allein er den Schwierigkeiten beikommen zu können glaubte, bald und sicher widerlegt®; jedoch in der positiven Erklärung der Sonderbarkeiten ist auch heute noch durchaus keine rechte Einigung erzielt, und dies obwohl Richard H E I N Z E in einer zu Recht bewunderten, alle Probleme und Aspekte der Sache umfassenden Untersuchung sich der Rede angenommen hat 4 . Wir werden H E I N Z E s Spuren nachgehen und dabei sehen, daß er (und mit ihm sämtliche Erklärer) in einem wichtigen sachlichen Punkt geirrt und sich damit ein volles Verständnis der Disposition unmöglich gemacht haben. Zunächst kurz zu den äußeren Gegebenheiten des Prozesses. Der 25jährige M. Caelius Rufus 5 hat sich Anfang April des Jahres 56 de vi zu verantworten. Sein Ankläger ist L. Sempronius Atratinus® (erst 17 Jahre alt!), dessen subscriptores·. L. Herennius Baibus 7 und ein gewisser P. Clodius 8 . Es verteidigen (in 1 Textausgaben und Literatur siehe S. 312 f. * N O R D E N 13. Nach Anm. 16 (auf S. 29) war schon dem Kollegen Richard H E I N Z E unabhängig von N O R D E N „der sonderbare Zustand der Rede aufgefallen". 3 Durch die Arbeiten von H E I N Z E und REITZENSTEIN; gegen N O R D E N ausführlicher auch DREXLER und CLASSEN. 4 HEINZEs Arbeit dürfte vielleicht die schönste und geistvollste Untersuchung zu einer Cicero-Rede sein, die wir überhaupt besitzen. Leider wird in manchen neueren Arbeiten zumal italienischer Gelehrter von ihren Ergebnissen kaum Notiz genommen. Wirklich bekannt geworden ist eigentlich nur HEINZEs - weniger glückliche - Redaktionshypothese (S. 236-245). 5 Zu seiner Person s. zuletzt die Arbeit von V O L P O N I (zum Geburtsdatum dort S. 197-201) und A U S T I N , Einl. S. V - X V I . Nicht zugänglich war mir: P. KUKLICA, Die politische Tätigkeit des M. Caelius Rufus, Graecolatina et Orientalia 2, 1970, 53-93. « F. MÜNZER, RE II A 2 (1923) 1366-1368. A U S T I N 154 f. 7 F. MONZER, RE VIII 1 (1912) 665 f. 8 Seine Identifizierung mit dem Volkstribunen von 58 (vertreten von MÜNZER, Hermes 1909, 140 A. 2 und vielen andern; unentschieden noch GELZER 165, D R E X LER 22 A. 30) ist von H E I N Z E (S. 196, nicht widerlegt von REITZENSTEIN 32)

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dieser Reihenfolge): Caelius selbst", Crassus, Cicero 10 . Von den Vergehen, die dem Caelius zur Last gelegt werden, kennen wir die ersten drei, die Caelius selbst und Crassus behandelt haben, nur aus einer resümierenden Inhaltsangabe Ciceros (§ 23): itaque illam partem causae facile patior graviter et ornate a Μ. Crasso peroratam de seditionibus Neapolitanis [1], de Alexandrinorum pulsatione Puteolana [2], de bonis Pallae [3]. Cicero hat sich, neben einigen anderen Themen, vor allem einen vierten wichtigen Punkt reserviert: die Mordanschläge auf den Philosophen Dio aus Alexandrien (s. bes. §§ 23 f., 51-55). Von diesen crimina - wir stellen das Rechtsproblem für einen Augenblick noch zurück — hängen wenigstens zwei (die Punkte 2 und 4) mit jener alexandrinischen Gesandtschaft zusammen, die im Jahre 57 unter der Führung Dios nach Rom gekommen war, um dort im Senat gegen die Rückführung des Ptolemaios nach Ägypten zu protestieren. Wir wissen aus anderen Quellen 11 , daß Ptolemaios, der aus seinem Land vertriebene und in Rom von Pompeius protegierte König, sein Möglichstes tat, um eine Staatsaudienz der Gesandten zu verhindern: „er sandte Leute in verschiedene Richtung; und den Großteil der Gesandten ließ er schon unterwegs umbringen, von dem verbleibenden Rest ließ er die einen in der Stadt selbst töten, die anderen brachte er teils durch den Schrecken, den diese Ereignisse verursacht hatten, teils durch Bestechungsgelder dazu, sich weder wegen ihrer aufgetragenen Anliegen an die Magistrate zu wenden noch überhaupt der umgebrachten Gesandten Erwähnung zu tun. Indes kam die Sache doch so sehr ins Gerede, daß auch der Senat heftigen Unwillen z e i g t e . . . Sie bestellten Dion, den Führer der Gesandtschaft - denn er w a r noch am Leben - , zu sich, um von ihm die Wahrheit zu erfahren. Aber auch damals noch war Ptolemaios durch sein Geld so mächtig, daß weder Dion vor den Senat kam noch die Ermordung der Verstorbenen dort in seiner Anwesenheit erwähnt wurde. Ja, er wurde nicht einmal bestraft, als Dion selbst später einem Meuchelmord zum Opfer gefallen war; denn — von anderem abgesehen Pompeius hatte ihn in sein Haus aufgenommen und setzte sich energisch für ihn ein" (Cass. Dio 39, 13 f.). O f f e n b a r soll Caelius nach Behauptung der Anklage in diese Vorgänge von Anfang an verwickelt gewesen sein, und zwar als Handlanger des Ptolemaios (bzw. des Pompeius). Bei der pulsatio Puteolana muß es sich um einen tätlichen mit einem schlagenden Argument bestritten worden. Die in der Prosopopoiie des § 36 ausgesprochene Mahnung des Clodius Pulcher an seine Schwester, den Caelius in Ruhe zu lassen, ist unverträglich mit der Annahme, daß derselbe Clodius unter den Anklägern wäre. - Die v i e r Ankläger, von denen S A I N T - D E N I S spricht (S. 131, 133), beruhen offenbar auf einer Trennung des L. Herennius von Baibus. (Die Identität ergibt sich aus den §§ 25 und 27). 9 Eine Selbstverteidigung des Angeklagten scheint in ciceronischer Zeit selten zu sein (vgl. auch Quint, inst. 4, 1, 46). Ein anderer Fall ist der des Scaurus (Ascon. p. 23 ST.). 10 Zur Reihenfolge der Reden siehe den Exkurs S. 299 ff. 11 Außer Cass. Dio (s. unten): Strabo 17, 796; Cie. harusp. 34. Vgl. MEYER 126 ff., H. V O L K M A N N , „Ptolemaios XII.", RE X X I I I 2 (1959) 1748-1755, A U S T I N 152 f.

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Angriff auf die Alexandriner unmittelbar nach ihrer A n k u n f t in Puteoli gehandelt haben 12 . Es hat eine gewisse Wahrscheinlichkeit, daß auch die seditiones Neapolitanae damit sachlich zusammenhängen 13 . Die Gesandten mögen nach dem unliebenswürdigen Empfang in das nahe Neapel gezogen sein, um dann über die Via Appia nach Rom zu reisen. Wenn sie, wie ich vermuten möchte, dort unter magistratischen Schutz gestellt wurden 14 , so konnte ein auf sie verübter Anschlag wohl als „ A u f r u h r " (seditio) gelten 15 . D a ß schließlich auch die bona Pallae, von denen wir sonst gar nichts wissen, irgendwie mit dieser Gesandtschaft zu tun haben, ist zwar unbeweisbar, aber nicht unmöglich 19 . Man hat vor allem in neuerer Zeit aus diesen politischen Implikationen des Prozesses (die sich f ü r uns nur aus der Sache selbst, nicht etwa aus Ciceros Plädoyer ergeben) schließen wollen, daß unser Prozeß auch seinem Grunde nach ein politischer gewesen sei, d. h. daß sich die Anklage eigentlich gegen Pompeius, den Patron des Ptolemaios, gerichtet habe, und man hat dementsprechend Ciceros rednerische Hauptleistung in einer ,Entpolitisierung' des Prozesses sehen wollen". Diese Auffassung kann, in dieser Schärfe vertreten, schwerlich richtig sein. Die Motive der Ankläger waren ja, wie diese ζ. T. selbst eingestanden hatten (vgl. § 56), persönlicher N a t u r . Caelius hatte den leiblichen Vater des Atratinus, einen L. Calpurnius Bestia 18 , im Februar des Jahres wegen ambitus belangt; und er hatte, nachdem dieser, von Cicero verteidigt, freigesprochen war, ihn wegen desselben Vergehens ein zweites Mal vor Gericht gezogen 19 . Diesen zweiten Prozeß durchkreuzt nun der junge Atratinus durch eine Anklage de vi; da Prozesse nach der lex Plotia vorrangig behandelt werden, könnte so Caelius erledigt sein, bevor der ambitus-T? rozeß überhaupt zur Austragung kommt 20 . Es müßte wirklich ein merkwürdiges Zusammentreffen sein, wenn die Ankläger außerdem von einem politischen Motiv 12

Ausländische Gesandtschaften pflegen in Puteoli zu landen, vgl. M. W. F R E D E R 1 K S E N , RE X X I I I 2 (1959) 2046. 13 So C I A C E R I , R A A N 1930, 12. Anders H E I N Z E (S. 201), der an einen „lokalen Krawall ohne politische Bedeutung" denkt (zustimmend A U S T I N 152). Könnte man hier von seditiones sprechen? 14 Dies ist bei ausländischen Gesandtschaften öfter der Fall, s. M O M M S E N , Staatsrecht II 2 554. 15 seditio ist gewöhnlich der Aufruhr gegen die Staatsgewalt, d. h. den Magistrat; s. M O M M S E N , Strafrecht 562 f. 19 So C I A C E R I , R A A N 1930, 12. (Vgl. auch D E R O U X [s. unten Anm. 30] 399.) 17 C I A C E R I , R A A N 1930, 16; L O V E R A 171 ff.; P A C I T T I 67 f f . 18 Der Nachweis seiner Identität ist das glänzende Verdienst M Ü N Z E R s (Hermes 1909), noch immer nicht v o n allen Gelehrten (vgl. etwa B A R D O N I 241) zur Kenntnis genommen. 19 D a ß auch diese zweite Klage auf ambitus lautete, ist nach den §§ 16, 56, 78 schwerlich zu bestreiten. Zu dem damit gegebenen juristischen Problem s. H E I N Z E 195 A. 2. 20 Eine genaue Parallele zu diesem Vorgehen bei Cie. fam. 8, 8, 1 (vgl. L I N T O T T 122 A. 2). Durchkreuzung eines Prozesses durch Gegenklage auch bei Ascon. Scaur, p. 24, 18 ff. ST.

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derart geleitet wären, daß sie den Caelius ohnehin hätten anklagen wollen, um einen Schlag gegen Pompeius zu führen 21 . Nein, wie schon H E I N Z E gesehen hat22, das Politische ist in unserem Prozeß nicht Zweck, sondern Mittel. Pompeius war in dieser Zeit beim Senat wie beim Volk unbeliebt. Das zeigt etwa der wenige Tage vorher erfolgte Freispruch des Sex. Cloelius 23 ; das zeigt auch das Verhalten des Volks beim Milo-Prozeß im Februar und das des Senats bei den Verhandlungen über die Rückführung des Ptolemaios 24 . Da traf es sich für die Ankläger in der Tat günstig, daß man Caelius gerade als mutmaßlichen Pompeianer angreifen konnte. Wenn es ihnen selbst auch um die Sache des Bestia ging, so konnten sie doch hoffen, daß die Richter den Angeklagten wegen des Pompeius verurteilen würden. Insofern ist es nun allerdings evident richtig, daß Cicero den Prozeß ,entpolitisiert': Er läßt diese Tagespolitik so weit als möglich aus dem Spiel, ja er erwähnt den Pompeius an keiner Stelle auch nur dem Namen nach. Aber dies beweist nichts für die eigentlichen Ziele der Anklage. Etwas größere Schwierigkeiten als der politische Aspekt der Sache macht uns der juristische. Zwar daß es die auch sonst bekannte lex Plotia de vi gewesen sein muß, nach der man Caelius belangte, darf nach neueren Untersuchungen für sicher gelten25. Und ebenso kann man Cicero Glauben schenken, wenn er sagt (§§ 1, 70), daß dieses Gesetz speziell auf die staatsgefährdende Gewalt zielte. Die Rede selbst und andere Quellen nennen uns typische Vergehen, die von ihr betroffen waren: Gewalt gegen Magistrate und Senat, Bandenwerbung und öffentliches Waffentragen, Besetzung „erhöhter Plätze" und ähnliches Keiner Widerlegung mehr bedarf die Ansicht (vgl. unten Anm. 154), der Prozeß sei auf Anstiftung Clodias, der Hauptzeugin der Anklage, zustande gekommen. Schon HEINZE hat darauf hingewiesen (S. 197), daß nicht einmal Cicero dies zu behaupten wagt, obschon er Clodia als „Seele des ganzen Prozesses" hinzustellen bemüht ist. Vgl. dazu jetzt bes. DOREY 175-177. 22 HEINZE 197; vgl. auch CLASSEN 1973, 67 f., 93 f. 23 Cie. Cael. 78, Qu. fr. 2, 6, 6; F. MÜNZER, RE IV 1 (1900) 65 f. s. v. „Sex Clodius". Der richtige Name des Mannes ist hergestellt von D. R. SHACKLETON BAILEY, CQ 54, 1960, 41 f. (im Kl. Pauly noch nicht berücksichtigt). 24 MEYER 126 ff, bes. 134. 25 Vgl. die zum größeren Teil unabhängig voneinander entstandenen Arbeiten von VITZTHUM (1966), LINTOTT (1968), EBERT (1968), BALZARINI (1969). An älterem sei (zur Ergänzung des von LINTOTT Angeführten) genannt: KELLER 588591; COSTA, Cicerone giurecons. II 91 ff.; A. BERGER, RE Suppl. VII (1940) 403405; vgl. jetzt auch L. VACCA, Ricerche sulla rapina . . . I, Studi econ. giurid. Univ. Cagliari 45, 1965/68, 521-566, dort S. 546 ff.; CLASSEN 1973, 63 Α. 14; JONES 57 und 79. (Die Theorie COUSINs braucht nach den neueren Arbeiten nicht mehr diskutiert zu werden.) Gegen die heute vorherrschende Ansicht MOMMSENs, wonach die lex Plotia identisch sei mit der (aus § 70 der Caeliana zu erschließenden) lex des Catulus, macht LINTOTT wie andere vor ihm mit Recht die Schwierigkeit des Namens geltend; er möchte (ähnlich wie schon J. N. HOUGH, AJPh 51, 1930, 135-147) eine lex Lutatia des Catulus (aus dem Jahre 78) als Vorgängerin der sie ersetzenden lex 21

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mehr 1 *; doch konnte, w i e jetzt besonders A . W. L I N T O T T hervorgehoben hat, offenbar auch eine G e w a l t t a t gegen Einzelpersonen unter das Gesetz fallen, sofern sich eben dartun ließ, d a ß in ihr eine Bedrohung der Allgemeinheit mitenthalten war 2 7 . ( D a m i t erklärt sich ja auch die Außerordentlichkeit des Verfahrens.) Wie verhielten sich nun zu dieser lex Plotia die V o r w ü r f e der A n klage im Caelius-Prozeß? Wir dürfen w o h l mit L I N T O T T annehmen, daß die v o n Crassus erledigten Punkte (Aufruhr und Tätlichkeit gegen Gesandte) leicht als vis im Sinne des Gesetzes dargestellt werden konnten; und sicher fiel darunter auch die Ermordung Dios, an der man Caelius beteiligt sein lassen wollte (Cicero: §§ 23 f.) 28 . U m g e k e h r t gehört vieles v o n dem, was Cicero behandelt, ohne Z w e i f e l nicht im technischen Sinn zur Anklage 2 8 . Problematisch ist vor allem der V o r w u r f , dem Cicero in so besonderer Ausführlichkeit begegnet (§§ 30 ff., bes. 51 f f . ) : der angebliche Mordanschlag des Caelius auf die berühmte Clodia, die W i t w e des Metellus Celer 30 . N u r w e n i g e Erklärer haben

Plotia erschließen: „not so much innovation as revision" (S. 121). Zur Stützung dieser, wie mir scheint, glücklichen Hypothese läßt sich anführen, daß die Ungenauigkeit, mit der Cicero in § 70 sagt: quam legem Q. Catulus . .. tulit..., ihre genaue Parallele in der Cluentiana hätte. Das 5. Kapitel der lex Corn, de sie. wird dort als eine lex des Gracchus bezeichnet ( § 1 5 1 harte ipsam legem NE QVIS IVDICIO CIRCVMVENIRETVR C.Gracchus tulit; vgl. § 154), weil es seiner sachlichen Substanz nach auf eine solche zurückgeht. 26 Ergiebig hierzu ist besonders die Arbeit von V I T Z T H U M (S. 43-45: Zusammenfassung der Tatbestände). 27 L I N T O T T kann besonders hinweisen auf ein SC d. J. 56 (Cie. har. resp. 15): [gegen Angriffe auf Ciceros Haus] . . . decrevit senatus eos qui id fecissent lege de vi, quae est in eos qui universam rem publicam oppugnassent, teneri. H E I N Z E hat freilich eben hieraus schließen wollen, daß diese Tat an sich nicht unter die lex Plotia gefallen wäre (S. 202 f., vgl. auch EBERT 66); ich nehme an, daß es hier einen weiten Spielraum des Ermessens gab: Wohl hätte man versuchen können, eine Attacke auf Ciceros Haus auch ohne dies SC nach der lex Plotia zu ahnden - der Senat kann ja wohl nicht den eigentlichen Inhalt des Gesetzes ändern aber es war für einen eventuellen Ankläger in Sachen Cicero günstiger, die senatsoffizielle Interpretation des Gesetzeswortlauts im Rücken zu haben. (Eine Tendenz der Zeit, das Gesetz extensiv zu interpretieren, erkennt auch H E I N Z E an.) Nicht sicher aus dem Wortlaut der zitierten Stelle beweisbar scheint mir die Vermutung VITZTHUMS (S. 45 f.), es müsse in der lex Plotia einen zweiten Teil mit Tatbeständen von vis privata gegeben haben (der Zusatz quae . . . oppugnassent würde dann dem Verweis innerhalb des Gesetzes dienen; aber zu erwarten wäre doch eo capite legis de vi quae oder wenigstens ea lege de vi quae). 28

Zu seditio s. oben Anm. 15. Zum Gesandtenmord s. unten Anm. 36. Daß die bona Pallae zur causa de vi gehört haben, bezeugt Quintilian inst. 4, 2, 27. 28 Vgl. unten S. 250 ff. 30 M Ü N Z E R R E I V 1, 105-107. Zuletzt zu ihr: C. D E R O U X , L'identite de Lesbie, in: Aufstieg und Niedergang der röm. Welt, hrsg. v. H . T E M P O R I N I , B e r l i n / N . Y . , I Bd., 3, 390-416 (mit Lit.; weiteres bei CLASSEN 1973, 78 Anm. 82).

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es gewagt, hier einen echten Anklagepunkt anzusetzen 31 - dagegen spricht in der Tat alle juristische Wahrscheinlichkeit 58 - ; die andern haben, soweit sie auf die Frage überhaupt eingegangen sind, in der Nachfolge Richard H E I N Z E s meist nicht nur diesen Punkt, sondern dann gleich sämtliche von Cicero behandelte Themen dem Bereich gerichtsüblicher, aber streng genommen außersachlicher Vorwürfe zuweisen wollen 33 . Aber dies geht wohl entschieden zu weit. Wenn der Giftmord auch als selbständiger Klagepunkt vor unserer quaestio nicht geltend gemacht werden konnte, so diente er doch offenbar als Indiz eines solchen: nämlich des ersten angeblichen Mordanschlags auf D i o (§§ 50-55), der der erfolgreichen Ermordung (§§ 23 f.) vorhergegangen sein sollte 34 . Man darf sich nur nicht irremachen lassen durch die Art, wie Cicero in seiner Argumentation die Akzente setzt. Ε r behandelt freilich seiner allgemeinen Tendenz gemäß den Giftmordversuch an Clodia vorrangig und durchaus selbständig; aber wenigstens e i n e r beiläufigen Äußerung ist doch sicher zu entnehmen, daß dieser für die Anklage nur wichtigstes Stück eines größeren Beweiszusammenhangs gewesen war. § 56 et vos non videtis fingt sceleris maximi crimen [Anschlag auf D i o ] , ut alterius sceleris suscipiendi [Anschlag auf Clodia] fuisse causa videatur? Caelius sollte von Clodia das Gold besorgt haben, mit dem er Dios Mörder dingen wollte (§ 52) ; und wenn er die Geldgeberin später zu vergiften suchte, so muß das (nach dem zitierten Zeugnis 35 wie nach der Logik der 31

So AUSTIN (S. 152), der als Nr. 4 und 5 der „formal counts" nennt: de Dione, de veneno in Clodiam parato (danach GEFFCKEN 8 Anm. 2). Entschieden in diesem Sinn offenbar auch KUNKEL (Untersuchungen 123 A. 450) und sein Schüler VITZT H U M (S. 25). Dieser nimmt an, der Vorwurf sei künstlich so formuliert worden, daß er unter die lex Plotia fallen konnte: Man habe besonders auf die „Aufwiegelung von Sklaven" abgehoben. M Das Vergehen konnte und mußte nach der lex Cornelia de sicariis et veneficiis verfolgt werden. 33 H E I N Z E (S. 201-203), CIACERI (RAAN 1930, 10 ff.) und CLASSEN (1973, 63) wollen nur die bona Pallae als Klagepunkt de vi zugeben; COSTA (Cie. giurecons. II 93), EBERT (S. 65) und VOLPONI (S. 225 f.) fassen die Klage weiter, rechnen aber das von Cicero Behandelte nicht dazu; LINTOTT (S. 111 f.) läßt auch noch die Ermordung Dios (§§ 23 f.) als Klagepunkt gelten und streicht nur den Giftmordanschlag auf Clodia; BALZARINI (S. 186) wiederum erweitert die Klage um den tätlichen Angriff auf einen Senator bei den Pontifex-Wahlen (§ 19); sonst läßt er zwar die pulsatio Puteolana unter das Gesetz fallen, nicht aber sonderbarerweise den Mord an Dio. Daß Cicero nicht zu den eigentlichen crimina de vi spreche, scheint im übrigen schon die Ansicht Quintilians zu sein (inst. 4, 2, 27). Zu seinem Zeugnis s. den Exkurs S. 299 ff., dort bes. S. 301 f. 34 Der Mordversuch (im Hause des Lucceius) und die wirkliche Ermordung (im Hause der Coponii) werden in manchen Arbeiten zur Caeliana nicht richtig unterschieden (etwa CIACERI, RAAN 1930, 5; HUMBERT 164 f., vgl. 41; LOVERA 171). 35 Es geht ja die Überlegung nach dem möglichen Motiv des Caelius vorher: ne aurum redderet? num petivit? [Das war also offenbar nicht behauptet worden.] ne crimen hareret? num quis obiecit? num quis denique fecisset mentionem, si hic nullius nomen detulisset? usw. Die Widerlegung zeigt, daß dies behauptet war.

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Sache) den Z w e c k gehabt haben, sich die Mitwisserschaft der Frau, die i h m auf die Schliche g e k o m m e n w a r , v o m H a l s e zu schaffen. W i r d ü r f e n also, da der A n s c h l a g auf D i o ja doch w o h l als G e w a l t im Sinne der lex Plotia angesehen w e r d e n k o n n t e " , den g a n z e n K o m p l e x der D i o .und C l o d i a b e t r e f f e n d e n V o r w ü r f e unter die crimina de vi rechnen. Für die Erklärung der D i s p o s i t i o n unserer R e d e ist diese juristische Frage aber glücklicherweise nicht v o n entscheidender Bedeutung". W i r sind damit beim eigentlichen T h e m a der U n t e r s u c h u n g . D i e Rede, m i t der Cicero die Reihe der P l ä d o y e r s für Caelius abschließt, ist über w e i t e Partien recht regelmäßig oder jedenfalls nicht u n g e w ö h n l i c h angelegt 3 9 . D a s prooemium (§§ 1 f.) skizziert einen G e d a n k e n , der später in der peroratio (§§ 70 f f . ) voll zur E n t f a l t u n g k o m m t : D i e Strenge des Gesetzes, das auf den Staatsnotstand abziele, stehe in keinem Verhältnis zur v o r l i e g e n d e n causa**. D e n dadurch erregten U n w i l l e n der Richter (denen m a n n i c h t einmal an Festtagen ihre R u h e gönne!) lenkt Cicero dann aber nicht, w i e m a n erwarten könnte, gegen die Person des Anklägers (der ja den R i c h t e r n schon w e g e n

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Dies meine ich mit L I N T O T T (s. oben Anm. 33). L I N T O T T verweist besonders auf den ausdrücklichen Schutz der Gesandten in der lex Iulia de vi publica, dem Nachfolgegesetz unserer lex Plotia (Dig. 48, 6, 7; vgl. dagegen freilich auch H E I N Z E 201). Auch von der Sache her scheint es plausibel, d a ß die Ermordung eines f ü r die Sache Roms so wichtigen Gesandten nicht weniger „staatsschädigende Gewalt" war als etwa eine Attacke auf Ciceros H a u s (vgl. oben Anm. 25). 37 Zur Bedeutung der Rechtsfrage vgl. unten Anm. 78. Zum Zeugnis von § 1 vgl. noch unten Anm. 39. 38 Vgl. N O R D E N 17 f. 39 Die glückliche Fiktion des „Fremden" (nur hier im Prooemium einer antiken Rede), der zum ersten Mal einem römischen Prozeß beiwohnt und sich dabei über das Mißverhältnis von lex und causa wundert, vermittelt den Eindruck der völligen Objektivität eines in die römischen H ä n d e l nicht verstrickten Beobachters. (Vgl. bes. auch G E F F C K E N 11 ff.) Im übrigen wagt es Cicero nicht, geradewegs zu behaupten, daß Caelius juristisch nicht unter die lex Plotia falle - dies ist wichtig f ü r die Beurteilung der Rechtslage - : § 1 nullum facinus, nullam audaciam, nullam vim in iudicium vocari steht in offenkundiger υπερβολή f ü r nullum facinus etc. huius generis (sonst wäre es ohnehin unrichtig); und wenn Cicero in § 72 sagt: cui neque proprium quaestionis crimen obicitur, so läßt sich das immernoch in dem Sinn interpretieren, daß dem Caelius eben nicht das f ü r die quaestio bezeichnende Vergehen vorgeworfen werde (vgl. S. 238 mit Anm. 45): d. h. im Lichte von § 70, d a ß seine angeblichen Taten wenigstens nicht die Existenz des Staates bedroht hätten. Aber es versteht sich, daß Cicero den Eindruck zu erwecken sucht, als bewege sich das Verfahren an der Grenze der Legitimität. Man könnte sagen, er deutet eine Verteidigung im status translationis an, ohne sie eigentlich auszuführen. - Durchaus irrig m. E. D R E X L E R (S. 2-5), der im Prooemium auf die „Hinfälligkeit der Beschuldigung" abgehoben sieht (vgl. auch CLASSEN 1973, 66 und Anm. 15 zu S. 63). Nicht das Fecit an non fecit* steht hier zur Debatte, sondern n u r die Frage, ob das Verfahren angemessen ist.

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Rede für Μ. Caelius Rufus

seiner Jugend und pietas sympathisch sein muß 40 ); er leitet ihn vielmehr in Richtung auf diejenigen Kräfte ab, deren sich die Anklage zu ihrem Zweck bedient: opes meretriciae. Dieser an sich noch unbestimmte Ausdruck kann doch für die Hörer kein großes Geheimnis bergen 41 . Es ist Clodia, die von der Anklage als Hauptzeugin für den Mordversuch an Dio in Aussicht gestellt worden ist; ihr Lebenswandel ist notorisch schlecht, schon Caelius hat sie in seinem vorausgegangenen Plädoyer in Erweiterung ihres stadtbekannten Necknamens quadrantar'ta als „Groschen-Clytaemnestra" beschimpft 42 . Cicero wird, so müssen also die Richter verstehen, das Hauptgewicht seines Angriffs gegen die Frau richten, die nicht allein seinem jetzigen Klienten zu schaffen macht, sondern zugleich auch die Schwester seines eigenen Todfeinds ist, P. Clodius Pulcher". Bevor es nun aber zu dieser im Rahmen der eigentlichen Klage de vi zu erwartenden Auseinandersetzung mit der Zeugin kommt, schiebt Cicero zunächst die Behandlung einiger außersachlicher, die Lebensführung des Caelius betreffender Vorwürfe ein (§ 3): ac mihi quidem videtur, indices, hic introitus defensionis adulescentiae M. Caeli maxime convenire, ut ad ea quae accusatores deformandi huius causa et detrahendae spoliandaeque dignitatis gratia dixerunt 40

Ähnlich wie der junge Oppianicus im Cluentius-Prozeß (vgl. S. 199). Beide werden von Cicero mit größter Zuvorkommenheit behandelt (zu Atratinus vgl. Quint, inst. 11, 1, 68). 41 Anders DREXLER4: „ . . . eine absichtlich in spannendem Dunkel gelassene Wendung" (vgl. auch CLASSEN 1973, 66 f.). Das Dunkel muß zumindest licht genug sein, daß auch ein Fremder diese „Machtmittel einer Hetäre" am Werk sehen kann. 42 Quint, inst. 8, 6, 53 quadrantariam Clytemestram (zur Erklärung des Ausdrucks s. zuletzt W. C. McDERMOTT, Phoenix 24, 1970, 41-43). Die Fragmente der CaeliusRede sind gesammelt bei MALCOVATI, ORF 2 485 f. (wo unglaublicherweise Quint, inst. 4, 2, 27 übersehen ist). 43 Vgl. zum Prooemium im übrigen HEINZE 203 f. und Grillius (RhLM p. 602, 28 ff. HALM, der COUSIN zu seiner sonderbaren Auslegung inspiriert zu haben scheint: Atti II 94 = Bude-Ausg. S. 51): ubi autem in admirabili genere usus est principio [statt der nach De inv. zu erwartenden insinuatio]? ecce tn Caeliana;' nam aperte veniam deprecatur, hoc est conciliat. et in tantum, cum admirabile genus causae sit; securus tarnen de iudicibus, ut praetermissa quodammodo benivolentia partibus attentionis utatur, dum dicit „etenim si existimare etc.° So der Text nach HALM, der mir aber unverständlich scheint. Entweder ist et in tantum durch est in tantum zu ersetzen oder est muß irgendwo in den Worten securus tarnen de iudicibus ergänzt werden. Auf jeden Fall ist vor securus statt des Semikolon ein Komma zu setzen; denn tarnen bezieht sich auf den konzessiven c»m-Satz, und Grillius meint: Obwohl es sich um ein genus admirabile handle, fühle sich doch Cicero hinsichtlich der Richter so sicher, daß er sogar die captatio benivolentiae auslasse und nur mit der attentio operiere. Aber diese Auslegung beruht auf argen Mißverständnissen. Das angebliche genus admirabile ist offenbar aus miretur (§ 1 Z. 2) herausgesponnen (denselben Fehler macht ein Scholiast zur Rosciana, vgl. S. 68 Anm. 52; auch LAUSBERG § 270 ordnet dieses miretur nicht richtig ein); ebenso wie die partes attentionis aus dem Verbum attendere (§ 2 Z. 17). Cicero benutzt aber hier gar nicht, wie auch ROHDE (S. 23) meint, die Topik

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primum respondeamEin solcher introitus defensionis ist bei Cicero und, wie es scheint, überhaupt in der römischen Prozeßrede nichts Ungewöhnliches 4 5 . Z w a r die griechische Rhetorik, wie sie zur Zeit der späten Republik in der Schule gelernt und geübt wird, weiß davon kaum etwas - noch Quintilian bezeugt uns dies ausdrücklich für die Schulausbildung seiner Zeit4® - , die römische Praxis jedoch weicht hier einmal, wie zuerst Rudolf P R E I S W E R K hervorgehoben hat 4 7 , ganz entschieden von der Theorie ab. Zumal in Prozessen, wo der Angeklagte eine politisch oder sonstwie bedeutende Person ist, gehört es zum festen Usus des Redners, des Verteidigers wie des Anklägers, das ganze Vorleben des Angeklagten vor der Behandlung der technischen crimina aufzurollen und über dessen Charakter in einer Ausführlichkeit zu handeln, die das von der Theorie im Rahmen der argumentatio zugestandene probabile e vita nicht allein dem Umfang nach sprengt 48 . So ist es, um die Beispiele zu nendes attentum facere - dann hätte er ja gerade die Größe und Wichtigkeit der vorliegenden Sache betonen müssen (Cie. inv. 1, 23; Rhet. Her. 1, 7) - , vielmehr mindert er zunächst in gewisser Weise die Aufmerksamkeit der Richter, indem er hervorhebt, wie geringfügig die Sache ist. (Richtig Quint, inst. 4, 1, 39, wo auch das Prooemium der Ligariana verglichen wird; vgl. auch J . M A R T H A , R C C 1894 II 207.) Dagegen wird die benivolentia zumindest insofern angestrebt, als auf die Gegenseite der Unwille der Richter gezogen wird. (Cie. inv. 1, 22 ab adversariorum autem [sc. persona benevolentia comparatur] si eos aut in odium aut in invidiam ... adducemus; vgl. Rhet. Her. 1, 8.) 44 Ciceros Pointe scheint noch nicht ganz verstanden (vgl. D R E X L E R 5). Er spielt mit dem Wort deformare, das „verunstalten" sowohl wie „verunglimpfen" heißt. Da Jugend Schönheit (forma) bei sich hat, entspricht es der Jugend des Caelius, wenn sein Verteidiger zunächst auf die gegnerische „Deformation" eingeht. Auch dignitas bedeutet, auf einen jungen Mann angewendet, nicht nur das Ansehen, sondern die Schönheit. (Vgl. A U S T I N zu § 8 Z. 13 unserer Rede.) - Wieso § 3 eine Ankündigung nur der §§ 3-6 enthalten soll (so H E I N Z E 204), kann ich nicht einsehen. 43 Hervorgehoben von N O R D E N 17-19, vgl. auch H E I N Z E 204 f., CLASSEN 1973, 68. 48 Quint, inst. 4, 2, 28 sed nos ducit scholarum consuetudo, in quibus certa quaedam ponuntur (quae themata dieimus) praeter quae nihil est diluendum, ideoque narratio prooemio semper subiungitur. Vgl. im übrigen inst. 7, 1, 12 ante actae vitae crimina plerumque prima purganda sunt, ut id, de quo laturus est sententiam iudex, audire propitius ineipiat. Dies sind gewissermaßen Einsprengsel aus der römischen Praxis in die Theorie; in dem Redeschema, das Quintilian seiner Behandlung der inventio (Bücher 4-6) zugrunde legt, ist ein Teil de vita anteacta so wenig berücksichtigt wie etwa in Ciceros De inventione. " PREISWERK 92; vgl. KROLL, Rhetorik 1103. 48 Richtig CLARKE 92. Zum probabile e vita (ungenügend LAUSBERG § 376): Anaxim. 7, 8, Cie. inv. 2, 32-37, Rhet. Her. 2, 5, Quint, inst. 5, 10, 27 f.; 7, 2, 27-35; Iul. Vict. p. 386, 32-37 HALM; Sulp. Vict. p. 326 HALM; vgl. V O L K M A N N 369 ff., MATTHES 144. Kennzeichnend für die Erörterung des probabile e vita ist die Vorschrift, daß man darauf zu achten habe, ob die Vorwürfe aus der vita anteacta auch dem crimen selbst entsprechen; darauf ist in den Teilen de vita ac moribus kaum

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nen, in sämtlichen Repetundenreden Ciceros; ein ganzes Buch der Verrinen behandelt die Zeit vor der sizilischen Prätur (Verr. II 1), und auch in den Reden für Fonteius, Flaccus und Scaurus fanden sich jeweils größere Einleitungsabschnitte de vita ac moribus, die nur unglücklicherweise in der Überlieferung durch Textlücken stark entstellt sind (die Reste: Font. 1 - 6 , Flacc. 5 f., Scaur, fr. b - f C L A R K ) 4 ' . Dasselbe gilt für die ambitus-Verteidigungen pro Murena und pro Plancio; in beiden Fällen stellt die Widerlegung der klägerischen reprehensio vitae, verbunden mit der v o n Cicero so genannten contentio dignitatis, einen eigenen Redeteil dar, der v o r den eigentlichen crimina ambitus ausgeführt wird 5 0 . Schließlich finden wir auch in den Reden pro Rabirio perd. ( 7 - 9 ) und - wenigstens der äußeren Form nach 51 - in pro Sestio (§§ 6 ff.) eine entsprechende defensio vitae. A u c h explizite Zeugnisse sprechen für die Wichtigkeit, die diesem Redeteil in römischen Prozessen beigemessen wurde. In der Rede pro Flacco protestiert Cicero - paradoxerweise, nach unserem E m p f i n d e n - dagegen, daß der Ankläger die reprehensio vitae ausgelassen und sich ausschließlich auf die crimina repetundarum beschränkt habe. Erst wenn das ganze Leben des Angeklagten behandelt sei, w e n n ihm auf allen Stufen seiner Laufbahn Vergehen und Laster nachgewiesen seien, . . . tum denique quid Tmolitae et Dorylenses de L. Flacco existiment audiemus (§ 5) 52 . D e m entspricht es, w e n n Cicero in der Rede pro Rücksicht genommen. Selbstverständlich verwendet Cicero aber auch das probabile e vita (im Sinne der Theorie) innerhalb der argumentatio: S. Rose. 39, Rose. com. 17-21, Mil. 36 ff., Deiot. 16. Es ist bemerkenswert, daß diese vier Reden keinen selbständigen Abschnitt de vita ac moribus enthalten; die beiden Dinge sind also insoweit verwandt, als sie in einer sich wechselseitig ausschließenden Konkurrenz stehen. 4 · Quint, inst. 4, 2, 15 aut qui repetundarum insimulabitur, non . .. ante actam vitam . . . non inutiliter exponet? 50 Vgl. S. 23 f. defensio vitae: Mur. 11-14, Plane. 29-35. contentio dignitatis: Mur. 15-53, Plane. 5-28 (§ 5 contentio hominum, vgl. S. 191 f.). In dieser contentio dignitatis wird nicht nur der absolute Wert der beiden Kandidaten, des durchgefallenen und des siegreichen (bzw. des Anklägers und des Angeklagten), miteinander verglichen, sondern besonders ihr politischer ,Kurswert', der den Wahlausgang bestimmt hat. Der Sache nach enthält also diese contentio schon ein echtes probabile für die crimina ambitus (und zwar ein probabile e causa) und ist jedenfalls mit diesen enger verknüpft als die defensio vitae. Gemeinsam ist beiden die Stellung v o r der eigentlichen argumentatio. - Vgl. Quint, inst. 4, 2, 15 an reus ambitus male narrabit quos parentes habuerit, quemadmodum ipse vixerit [= defensio vitae], quibus meritis fretus ad petitionem descenderit [= contentio dignitatis]} 51 Tatsächlich verteidigt hier Cicero mehr sich selbst als seinen Klienten, vgl. schon Schol. Bob. p. 125, 26 ff. ST. 5! Die Absicht des Anklägers war es offenbar, auch Cicero dazu zu zwingen, über das Vorleben seines Klienten zu schweigen. Dieser läßt sich aber nicht davon abbringen: § 5 tenebo igitur hunc ordinem defensor quem fugit inimicus .. . Dieses Verfahren des Laelius hat übrigens nichts mit dem von Cicero in der ersten actio gegen Verres eingeschlagenen gemein; gegen H U M B E R T (S. 223 ff.), dessen Analyse der Rede auf einer irrigen Interpretation von § 5 beruht (vgl. oben S. 46).

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Murena v o n einer lex... quaedam accusatoria ( § 1 1 ) spricht, w e l c h e den A n kläger z u m A n g r i f f auf die vita des A n g e k l a g t e n nötige. A u c h eine feine B e o b achtung H E I N Z E s gehört hierher: O b w o h l die B e h a n d l u n g der vita anteacta streng rechtlich g e n o m m e n nicht zur causa, den eigentlichen A n k l a g e p u n k t e n , gehört 5 ', wird sie doch - wenigstens v o n Cicero - nie eigentlich als eine Partie extra causam bezeichnet 5 4 . Besonders aufschlußreich ist endlich der Vergleich m i t der griechischen P r a xis. Z w a r kennen auch die attischen Redner einen locus de vita anteacta - u n d insofern w a r es nicht richtig, w e n n man gerade hier e t w a s .typisch Römisches' erkennen wollte 5 5 - , den U n t e r s c h i e d macht jedoch, d a ß bei den Griechen die entsprechende Partie ihren P l a t z fast regelmäßig h i n t e r den eigentlichen crimina einnimmt 5 6 , so also w i e es Cicero in den erhaltenen R e d e n nur einmal 53

Zu dieser Bedeutung von causa vgl. Cie. inv. 1, 97, Tull. 3, Caec. 104, Mil. 92, Quint, inst. 3, 11, 25; 5, 13, 10; 12, 8, 2. 54 H E I N Z E 221 Α. 1 (mit vortrefflicher Bemerkung über den diesbezüglichen Unterschied von Zivil- und S t r a f p r o z e ß ; spitzfindig allerdings zu Plane. 36). N u r Fronto, wenn ich recht sehe, nennt den Abschnitt de vita ac moribus einmal einen Teil extra causam (p. 38, Z. 3, Z. 14 van den H O U T ) . 55 K R O L L (Rhetorik 1103), der hier die Theorie mit der griechischen Praxis gleichsetzt. Vgl. zu den .unsachlichen' Partien der attischen Prozeßrede I. B R U N S , Das literarische Porträt der Griechen im 5. u. 4. Jh. v. Chr. Geb., Berlin 1896, 443 ff., 469 ff., W. SÜSS, Ethos, Leipzig/Berlin 1910, 243 ff., J . H . LIPSIUS, Das attische Recht und Rechtsverfahren, Bd. III, Leipzig 1915, 918 f., W. S C H U P P , WS 45, 1926/27, 23 f. N a c h Lys. 12, 38 ist es ganz üblich, daß der Angeklagte, statt zur Sache zu sprechen, sich auf sein bisheriges Leben und seine Leistungen f ü r den Staat beruft. Daraus wird in Lys. 14, 24 und 30, 1 ein entsprechendes Recht der Argumentation ad hominem auch f ü r den Ankläger hergeleitet (was offenbar etwas weniger selbstverständlich ist). Aber nicht selten finden sich Proteste gegen ein solches Vorgehen, vgl. etwa Antiph. chor. 7, Isoer. 16, 2; wie sich umgekehrt auch ein Redner rühmen kann, daß er ausschließlich zur Sache spreche (Lycurg. Leoer. 149, vgl. die §§ 11-13). Auch das Gesetz macht gewisse Einschränkungen. N a c h Arist. rhet. 1354 A 22 ist es vor dem Areopag untersagt, εξω τοΰ π ρ ά γ μ α τ ο ς λέγειν, vgl. Lys. 3, 46; Antiph. chor. 9. Verwunderung angesichts der überlieferten Reden erregt die Nachricht (Aristot. rep. Ath. 67, 1), daß sich beim attischen P r i v a t p r o z e ß die Parteien verpflichten, ε'ις αΰτό τό π ρ ά γ μ α έρεϊν. 5 ® Darauf hat schon H A L M zu Cie. Sull. 69 hingewiesen. - Ich gebe Beispiele, geordnet nach Typen: (a) Selbstverteidigung des Angeklagten bzw. seines Synegoros (als Angeklagter' gelte auch der formale Kläger in der π α ρ α γ ρ α φ ή ) : Antiph. H e r . 74-80 (bezüglich des Vaters), Isoer. 18, 58-67, Isoer. 16 (bezüglich des Vaters; nur dieser Schlußteil der Rede [vgl. § 1] ist offenbar von Isokrates ediert worden), Dem. 37, 52-57, Hyperid. Euxen. 19-37. (b) Angriff des Klägers auf den Angeklagten (bzw. in Erbschaftsprozessen der einen Partei auf die andere): Alcidam. Palam. 12-21; Isae. 5, 34-47; 8, 40-42, Dem. 21, 77 f f . ; 22, 47 ff.; 45, 63-82. (c) Angriff des Angeklagten auf den Ankläger: Antiph. chor. 33-50 (entgegen der Ankündigung in § 7, vgl. H . ERBSE, Hermes 91, 1963, 23), Andoc. myst. 117-163, Lys. 3, 44 f., Isoer. 18, 47-57. Auf diese Praxis geht o f f e n b a r die Vorschrift zurück, die Hermagoras (bei Cie. inv. 1, 97) für die παρέκβασις (digressio) nach den πίστεις (argumentatio) gegeben h a t :

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macht, in pro Sulla (§ 69) 57 : iam enim faciam criminibus omnibus fere dissolutis, contra atque in ceteris causis fieri solet, ut nunc denique de vita hominis ac de moribus die am. Während der griechische Richter zunächst die juristische Schuld oder Unschuld des Angeklagten nachgewiesen sehen möchte und sich die Argumentation ad hominem nur als Anhang dazu gefallen läßt, ist sich offenbar sein römischer Kollege dessen bewußt, daß er über die ganze Person ein Urteil abzugeben hat 58 ; so möchte er, daß die crimina bzw. ihre Wider-

in hac autem digressione ille putat oportere quandam inferri orationem α causa atque a iudicatione ipsa remotam, quae aut sui laudem aut adversarii vituperationem contineat aut in aliam causam deducat, ex qua conficiat aliquid confirmationis aut reprehensionis, non argumentando, sed augendo per quandam amplificationem. (Cicero selbst lehnt dies ab; vgl. zur παρέκβασις VOLKMANN 164-167.) Dagegen lehren Aristoteles (rhet. 3, 1415 A 29 ff.) und andere (s. CLASSEN 1965, 117 Α. 47, vgl. oben Anm. 38 zu S. 237), der Angeklagte müsse der gegnerischen διαβολή (also den außersachlichen Vorwürfen) zu Anfang der Rede entgegentreten, der Ankläger solle den entsprechenden Teil auf den Epilog aufsparen, . . . ίνα μνημονεύσωσι μάλλον. Hier ist aber bezüglich des ersten nur an eine kurze Auseinandersetzung im Rahmen des Prooemiums gedacht. Eine ausführlichere Behandlung gegnerischer Vorwürfe εξω τοϋ πράγματος vor der causa bietet meines Erinnerns nur Demosthenes in der Kranzrede (or. 18, 9 ff.): Er könne, sagt er, nicht sofort περί αύτοΰ τοΰ προβουλεύματος sprechen, da Aischines zu viel anderes gegen ihn vorgebracht habe, das zunächst widerlegt werden müsse, . . . ίνα μηδείς ΰμών τοις εξωθεν λόγοις ήγμένος άλλοτριώτερον των ύπέρ της γραφής δικαίων άκούη μου. Vgl. § 53. 57

Ebenso aber auch in Pro Vareno, s. Quint, inst. 7, 1, 12 (=fr. 16 PUCC.): sed hoc quoque [sc. die Behandlung des Vorlebens] pro Vareno Cicero in ultimum distulit, non quid jrequentissime, sed quid tum expediret intuitus. Leider nennt uns Quintilian nicht den mutmaßlichen Grund für Ciceros Vorgehen; da wir jedoch aus anderen Zeugnissen wissen, daß das Hauptargument in dieser Rede das probabile e causa war (Quint. 7, 2, 36 = fr. 15 PUCC., vgl. fr. 9), dürfen wir vermuten, daß gerade vita ac mores des (dann auch verurteilten) Varenus den Anklägern gute Angriffsflächen geboten hatten. Auch in Pro Sulla dürfte Cicero die pars de vita ac moribus darum aufgeschoben haben, weil hier nicht - wie sonst in politischen Prozessen - viel Glänzendes zu berichten war. (Konträr HALM zu § 69; anders auch HUMBERT 152.) Als Verwandter des Diktators Sulla hatte dieser einst von den Proskriptionen profitiert (Cie. off. 2, 29); und über seine Ämterlaufbahn, die i. J. 66 mit der Verurteilung wegen ambitus ihr unrühmliches Ende gefunden hatte, schweigt Cicero in auffallendem Gegegensatz zu seiner sonstigen Praxis. Er insistiert nur auf dem anständigen Charakter des Angeklagten, der sich jedenfalls von Verbrechern wie Catilina und Lentulus vorteilhaft abhebt. Man vergleiche schließlich, was Grillius zu Pro Scauro sagt (p. 603 HALM = fr. b CLARK): quoniam partem honestatis habebat persona Scauri vel generis amplitude, partem turpitudinis raptae pecuniae crimen, quid facit Tullius? α laude virtutis ipsius ineipit vel commemoratione maiorum . . . In Pro Sulla scheint es umgekehrt zu sein. M

Vgl. H E I N 2 E 221 Α. 1; THIERFELDER 385; CLASSEN, ZRG 89, 1972, 3.

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legung nicht isoliert behandelt, sondern gewissermaßen in das Gesamtbild der betreffenden Persönlichkeit und ihres Lebens eingeordnet werden 59 . So beginnt denn Cicero auch in unserer Rede seine Verteidigung damit, den Charakter seines Klienten von allerlei Anschwärzungen reinzuwaschen. Wir brauchen die einzelnen Punkte und ihre gedankliche Verknüpfung hier nicht detailliert zu besprechen, da von H E I N Z E und anderen schon fast alles Wichtige zur Erklärung gesagt ist 60 . N u r das Grundprinzip von Ciceros Disposition in ihrem Verhältnis zur Anklage sei hervorgehoben. Es zeigt sich nämlich bei näherem Zusehen, daß manche der von Cicero behandelten Vorwürfe erst dann völlig zu verstehen sind, wenn man sie in einen anderen als den ciceronischen Zusammenhang einordnet. Die klägerische Behauptung etwa, der Vater des Caelius sei parum splendidus (§ 3), nur ein römischer Ritter (§ 4), scheint f ü r sich genommen wenig belangvoll, ja angesichts des zu zwei Dritteln aus Nichtsenatoren bestehenden Richterkollegiums geradezu widersinnig. Recht anders sieht die Sache aus, wenn man § 17 zur Erläuterung heranzieht, wo von einem übertriebenen Wohnungsluxus und von Geldschulden des Caelius die Rede ist. Offenbar hatte die Anklage aus der Diskrepanz zwischen den Ausgaben des Caelius und den relativ bescheidenen Verhältnissen seines Vaters darauf geschlossen, daß er sein Konto überziehen müsse81; Cicero erledigt den Vorwurf, indem er ihn in Teile zerlegt und diese an verschiedenen Stellen abhandelt". Wir haben solche Zerreißungstechniken schon in seinen frühen Reden beobachtet". Durchmustert man so mit der nötigen Skepsis die §§ 3 - 2 2 unserer Rede (auch einiges Spätere ist gelegentlich heranzuziehen), entdeckt man etwa vier Komplexe von Beschuldigungen, welche die Anklage vorgebracht zu haben scheint:

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Anders deutet das Phänomen HUMBERT (S. 151 f.), der more suo (vgl. S. 32 ff.) den Unterschied aus der Verschiedenartigkeit der Gerichtspraxis herleiten möchte. Der attische Redner stelle das Eindrucksvollste an den Schluß, weil auf die Plädoyers sofort das Urteil folge; der Römer könne das nicht, da dem Urteil npch der locus testium vorhergehe. Von den vielen Einwänden, die gegen diese Erklärung möglich sind, sei nur einer genannt: Wenn H U M B E R T recht hätte, müßte der attische Ankläger die pars de vita in .römischer' Weise an den Anfang stellen, da ja auf seine Rede immer noch die des Angeklagten folgt. ·« HEINZE 204-220, DREXLER 5-17, CLASSEN 1973, 69-75. " Ähnlich VOLPONI 217 f. und A U S T I N zu § 3, der auch § 36 (patre parco ac tenaci) zur Erklärung- heranzieht; anders HEINZE 205 f. und CLASSEN 1973, 69 mit A. 43. 62 Dies nennt schon DREXLER als Ciceros Prinzip im ersten Teil der Rede (S. 6): „ [Cicero] l ö s t . . . das, was bei jenen sehr konsistent und sehr geordnet war, in eine Mehrzahl von Einzelpunkten auf". Die daraus gezogene Folgerung, man dürfe hier überhaupt nicht nach einer „Disposition" Ciceros fragen, ist entschieden überspitzt. «» Vgl. S. 71 f., 178 u. a.

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(1) V o r w ü r f e wegen mangelnder Pietät und Treue: Caelius soll seinem V a ter gegenüber nicht die rechte Sohnesliebe gezeigt haben (§§ 4, 1 8 M ) ; Calpurnius Bestia, den er v o r Gericht ziehen ließ, sei f r ü h e r sein politischer Bundesgenosse gewesen (§ 26). U n d dieser Bestia hätte schon als besonderer Freund seines (des Caelius) Priesterkollegen Herennius Baibus Anspruch auf Schonung gehabt (§ 26, vgl. § 56). K e i n W u n d e r , daß ein M a n n wie Caelius auch in seiner Heimatstadt nicht sonderlich beliebt ist (§ 5). - D e r zweite Punkt (§ 26) w u r d e v o n Herennius selbst behandelt, wahrscheinlich also auch die übrigen. (2) Luxus und Ausschweifung {luxuria): Hierher gehören die oben genannten Punkte (§§ 4 und 17), außerdem der o f f e n b a r mit besonderem Nachdruck vorgebrachte A n g r i f f auf den liederlichen Lebenswandel des Caelius (§§ 2 5 30a). Z u r Illustration der Ausschweifungen müssen die Fälle der matronae attrectatae angeführt w o r d e n sein, f ü r die auch Zeugen versprochen w u r d e n (§ 20)· 5 . - Behandelt w u r d e n diese Dinge v o n mindestens zwei der A n k l ä g e r : Herennius und P. Clodius (§ 27). (3) Locus de pudicitia: §§ 6—14, bzw. 6—9. - Homosexuelle Jugendsünden w u r d e n v o n allen drei Rednern, besonders aber v o n Atratinus dem Caelius z u r Last gelegt (§ 7). (4) Vergehen mehr politischer N a t u r : Caelius w a r mit Catilina befreundet (§§ 1 0 - 1 4 ) und soll auch an der Verschwörung des Jahres 6 3 nicht unbeteiligt gewesen sein (§ 1 5 ) " . In diesen Zusammenhang gehören w o h l auch die crimina

Den Zusammenhang hat schon V A N W A G E N I N G E N gesehen. So HEINZE 228, zustimmend D R E X L E R 24 A. 34, C L A S S E N 1973, 74. Zur sachlichen Erklärung vgl. übrigens Ov. am. 1, 4, 55-58, ars 1, 603-606. " Nach Ciceros Darstellung in den §§ 10 und 11 erhält man den Eindruck, daß die familiaritas Catilinae im Zusammenhang der Vorwürfe de pudicitia vorgebracht worden w ä r e ; nach § 15, daß die Behandlung der Verschwörung dazu nur eine Art Anhang gebildet hätte. HEINZE, der darauf besonders hingewiesen hat (gegen Einteilungen wie die NORDENs, S. 17), hält diesen Eindruck für richtig (S. 208 f., vgl. auch D R E X LER 10, C L A S S E N 1973, 71 f.); aber bei näherem Zusehen ergibt sich der Verdacht, daß Cicero hier durch die Art seiner Widerlegung die Anklage verfälscht. Drei Punkte fallen auf. (1) Cicero sagt an keiner Stelle ausdrücklich, daß man Caelius die famMaritas Catilinae in sexueller Hinsicht vorwerfe. (Man vergleiche den genauen Wortlaut der §§ 10 und 15.) (2) Bei der Behandlung des locus de pudicitia beanstandet Cicero (§ 6), daß die Vorwürfe nicht nach Person und Sache konkretisiert und durch Versuch des Beweises gestützt seien (zu den verwendeten Begriffen C L A S S E N 1973, Anm. 47 zu S. 70). Das träfe für die Freundschaft mit Catilina nicht zu. (3) Wenn Cicero in § 1 0 zunächst versichert, daß Catilina vom J a h r 66 bis 64 nicht von seiner Seite gewichen sei, sich dann den Einwand machen l ä ß t : at ertim postea scimus et vidimus esse hunc in illius etiam amicis [das angefochtene etiam gehört zu illius] und darauf schließlich repliziert: quis negatf sed ego illud tempus aetatis, quod . .. aliorum .. . libidine infestum est, id hoc loco defendo - dann zeigt m. E. der Einwand wie die Replik, daß die Erwartung von Ciceros Hörern noch gar nicht in die gewünschte Richtung geht: Er muß es offenbar erst betonen, daß er in Bezug auf die vorgeworfene familiaritas Catilinae gerade die pudicitia seines Klienten verteidigt. Ich halte es dem64 βϊ

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ambitus (§ 16) und der angebliche Angriff auf einen Senator bei den P o n t i f e x Wahlen (§ 19) 6 7 . - Wenigstens was Catilina betrifft, wissen wir, daß Atratinus die Sache behandelt hat (§ 15). W i r müssen es natürlich dahingestellt sein lassen, ob wir mit dieser Gruppierung in allen Punkten das Richtige getroffen haben; sicher scheint doch, daß Cicero ein in sich einigermaßen geschlossenes Gefüge zerlegt und neu zusammengesetzt hat. Sein Motiv ist dabei gewiß nicht nur das negative: die gegnerischen Punkte als inkohärent und verworren erscheinen zu lassen 6 8 ; er bemüht sich ebensosehr darum, nun seinerseits ein positives und in sich stimmiges Bild seines Klienten zu zeichnen. W a s die Anordnung wenigstens auf den ersten Blick natürlich wirken läßt, ist, daß sie sich im wesentlichen nach dem Leitfaden der Chronologie richtet (und so könnte man sagen, d a ß aus einem Abschnitt de moribus gewissermaßen einer de vita geworden sei)" 9 . Cicero beginnt mit H e r k u n f t und Elternhaus ( § § 3 - 6 ) ; mit § 6 treten wir ein in das Jünglingsalter (§ 9 : die Anlegung der toga virilis i. J . 6 6 ) ; es folgt die Freundschaft mit Catilina ( § § 1 0 - 1 5 : i. J . 6 3 ) , die Anklage gegen Antonius (§ 1 5 : i. J . 59), schließlich der U m z u g auf den P a latin (§§ 17 f.: i. J . 5 9 oder 58). Erst an dieser Stelle reißt der F a d e n a b ; die folgende Verwahrung gegen die zu erwartenden Zeugen ( § § 1 9 - 2 2 ) 7 0 wird ohne nach für wahrscheinlich, daß der Punkt von den Anklägern nur im Zusammenhang der Verschwörung vorgebracht worden war und daß diese dabei bes. auf das Jahr 63 abgehoben hatten: Ausgerechnet in diesem Jahr, wo sich alle Anständigen von Catilina abwandten, begann dessen Freundschaft mit Caelius. Cicero subsumiert den Vorwurf unter das Rubrum pudicitia, weil hier das Jahr 63 - das Cicero mit Bedacht nicht als das Jahr der Verschwörung, sondern als das der zweiten Bewerbung ums Konsulat nennt - ein Argument nicht gegen, sondern für die eigene Sache abgibt: Wer seit 66 unbescholten war, wird i. J . 63 in dieser Hinsicht nicht mehr gefährdet sein (§ 11). Falls er nicht sogar zu den crimina de vi gehören sollte, wie B A L Z A R I N I (s. oben Anm. 33) annimmt. 68 Dies betont einseitig D R E X L E R (s. oben Anm. 62). 69 Hinweis darauf schon bei H E I N Z E 214 („im ganzen dem Lebensweg des Caelius folgend"). Wo Cicero die Chronologie verläßt, merkt er es an, wie in § 16 (dazu H E I N Z E 212; anders D R E X L E R 13 A. 15, der mich nicht überzeugt). 70 § 20 scheint mir noch nicht verstanden: sed totum genus oppugnationis huius, indices, . . . cum inferetur, propulsare debebitis. non enim ab isdem accusatur M. Caelius a quibus oppugnatur; palam irt eum tela iaciuntur, clam subministrantur. Wer ist in dieser Antithese gemeint mit „Anklägern" (accusare) und „wirklichen Gegnern" (o/>pugnare)? Das erste scheint den Erklärern selbstverständlich: die formellen Ankläger, also Atratinus, Herennius, Clodius. Dann aber macht das zweite Schwierigkeiten. An Clodia selbst zu denken (was man auf Grund von § 1 gern möchte: accusari ab eius filio . . ., oppugnari autem opibus meretriciis) verbietet sich auf Grund des folgenden Satzes: neque ego id dico ut invidiosum sit in eos quibus gloriosum etiam hoc esse debet: funguntur, officio, defendunt suos, .. . laesi dolent.. . H E I N Z E (S. 215), D R E X L E R (S. 16) und A U S T I N möchten darum hier (neben den Freunden des Calpurnius Bestia, die allenfalls mitgemeint sein könnten) in erster Linie die Gentilgenossen der Clodia bezeichnet sehen: Sie sollen sich ja - so eine These H E I N Z E s (S. 196 f.) - in 67

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B e z i e h u n g zur Zeitfolge vorgebracht, u n d nur ein S p a n n u n g erregendes „Fortsetzung folgt" an der Abbruchstelle ( § 1 8 cum ad id loci venero) verweist darauf, d a ß das mit der verschlüsselten N e n n u n g C l o d i a s eröffnete Kapitel im Leben des Caelius noch zu einem Ende geführt w e r d e n soll. Aber über den Sinn dieses Abbruchs w i r d später zu reden sein. D i e gegen Caelius erhobenen Beschuldigungen schlagen dank Ciceros Geschick zu einem guten Teil in maiorem gloriam des A n g e k l a g t e n aus. Beim ersten P u n k t ist Cicero am stärksten. Gegen den V o r w u r f mangelnder Pietät u n d geringer Beliebtheit in der H e i m a t s t a d t (§§ 3 - 6 ) schützen den Caelius die B e t r o f f e n e n selbst durch ihre Präsenz und o f f e n e S y m p a t h i e - man sieht, w i e Cicero die Personenkulisse des Prozesses z u m A r g u m e n t verwendet 7 1 . A u c h unserem Prozeß mit der Partei des Bestia verbündet haben, um die Sache Clodias zu führen. Aber wie könnte Cicero das Eintreten der Familie f ü r ihr schwarzes Schaf Clodia (§ 34) als „rühmlich" preisen? Oder gar als „gerecht", wie im anschließenden Satz ( . , . si causa iusta est viris fortibus oppugnandi M. Caelium)} Dazu kommt, daß Cicero an anderer Stelle (§ 68) freudige Überraschung zeigt, daß Clodia „endlich einmal" in Absprache mit ihrer Verwandtschaft gehandelt haben wolle, d. h. daß er implizit ein Bündnis zwischen ihr und ihren Verwandten leugnet. (Die Stelle ist richtig interpretiert von D O R E Y 175 A. 3, der leider auf § 20 nicht eingeht). Unter den „wirklichen Gegnern" können also nur die Anhänger des Bestia zu verstehen sein, auf die das Gesagte vortrefflich paßt ( d e f e n d u n t suos, . . . laesi dolent. ..). N u r scheint dann Ciceros Antithese - dies hat zweifellos H E I N Z E zu seiner Auffassung geführt die rechte Schärfe zu verlieren. Versteht man nämlich unter den „Anklägern" die formellen Ankläger, dann müßten zum wenigsten Atratinus und Herennius zugleich Träger von accusare u n d oppugnare sein. Aber eben diese Voraussetzung der Erklärer ist falsch, wie schon der Duktus des Gedankens zeigt. Es sind ja nicht die (formellen) Ankläger, sondern die Ζ e u g e η , bezüglich deren gesagt w i r d : sed totum genus oppugnationis huius.. . cum inferetur propulsare debebitis. Für diesen Gedanken könnte eine Differenzierung zwischen bloß formeller Anklage und wirklicher Gegnerschaft schlechterdings keine Begründung geben (non enim\). Alles wird klar, wenn man als Träger des accusare die Zeugen selbst ansieht: „Hütet euch vor dieser ganzen oppugnatio beim A u f t r i t t der erwähnten Zeugen! Denn die Zeugen, von denen Caelius da beschuldigt wird (accusatur), sind ja nicht identisch mit denen, die ihn wirklich bekriegen (a quibus oppugnatur); die Zeugen schleudern nur die Geschosse, die ihnen von der einflußreichen Partei des Bestia geliefert werden." Sprachlich bietet die Auffassung keine Schwierigkeiten (accusare von gerichtlichen Zeugen etwa Verr. II 2, 114, Flacc. 57, Sull. 51; accusare f ü r nicht gerichtliches „Anklagen": H E Y , Th. 1. L. I 352, 35 ff.). 71

Dies tut er gerne, gerade am A n f a n g der Reden. S. Rose. 1: Das Sitzenbleiben der nobilissimi bezeugt, daß die Sache des Roscius von politischer Brisanz ist (s. § 5) - sie war von der Anklage als rein private Angelegenheit behandelt worden. Mil. 1 - 3 : Die von Pompeius aufgestellten Soldaten können von Pompeius nur als Schutz für Milo gedacht sein - die Anklage hatte sich auf die Unterstützung des Pompeius berufen (s. § 15). Sest. 1: Der squalor des Angeklagten stellt Sestius in eine Reihe mit Männern wie Milo und Lentulus (die ebenfalls einen Prozeß zu erwarten haben, vgl. § 144) - die Anklage hatte Milo auf Kosten des Sestius gelobt (s. § 86). [Zusatz: Vgl. dazu jetzt V. P Ö S C H L , in: Festschr. K. K U M A N I E C K I , Leiden 1975, 206-226.]

Rede für Μ. Caelius Rufus 259 beim zweiten Vorwurf, de laesa pudicitia (§§ 6-9), lassen sich die Anwesenden zum Beweis heranziehen: Crassus und Cicero selbst, die jetzigen patroni und einstigen Lehrmeister des Caelius, können bezeugen, daß er in ihren Häusern nichts als artes honestissimae gelernt hat (§ 9). Wenn ein so trefflich erzogener junger Mann einmal unter den Einfluß eines Catilina geraten ist, so kann daran nicht die Verlockung des Lasters Schuld gehabt haben, sondern nur jener äußere Mantel von Heldentum und Tugend, in den sich dieser wunderliche Verbrecher zu hüllen wußte: . . . etiam mukös fortis viros et bonos specie quadam virtutis adsimulatae tenebat (§ 14). So stehen wenigstens die ersten drei großen Stücke der Verteidigung in einem gewissen inneren Zusammenhang. Aber die eigentliche Einheit gibt Cicero seinem Gemälde, indem er dem Klienten die eigenen Züge leiht 78 . Fast jeder Abschnitt endet damit, daß irgend eine Verbindung oder Parallele zwischen Caelius und Cicero hergestellt wird. § 4: Der Vorwurf equitis Romani esse filium hätte in Anwesenheit gerade Ciceros nicht fallen dürfen. § 6: Auch Cicero ist einmal durch die commendatio suorum groß geworden. §§ 9 f.: Drei Jahre hindurch war Cicero der Lehrer des Caelius. § 14: Auch Cicero hätte sich einst fast von der erheuchelten Tugend des Catilina verführen lassen. § 18: U m Cicero nahe sein zu können, ist Caelius auf den Palatin gezogen. - Wer die Analogien erkennt und das Naheverhältnis der beiden durch das Faktum der Rede selbst, die der Lehrer für seinen einstigen Schüler hält, vor Augen bezeugt findet, der wird kaum daran zweifeln, daß Caelius die Anlage hat, Ciceros Verdienste um die Republik zu wiederholen. Wir können unsere Betrachtung der §§ 3-22 an dieser Stelle beenden. Wenigstens was die Disposition anlangt, enthalten sie nur ein einziges schwieriges Problem: Warum hat Cicero den Komplex luxuria/libido in diesem Abschnitt nur so stückweise behandelt? Warum hat er den größten Teil davon hier ausgeklammert, um ihn erst später, im Rahmen der crimina de vi nachzutragen (§§ 25-30, 37-50)? Aber dies ist eine Frage, deren Lösung sich nur aus dem Ganzen der Rede ergeben kann. Wie bei diesem ersten, so bietet auch beim letzten Hauptteil der Rede (§§ 51-69) die Erklärung der Disposition nur relativ geringe Probleme. Zwar, daß diese argumentatio nicht gerade schulmäßig angelegt ist, erkennt man sofort, wenn man sich die Struktur der klägerischen Darstellung klargemacht hat. Das eigentliche crimen war ja, wie wir schon sagten, der Mordanschlag auf Dio im Hause des Lucceius; und zu seiner Stützung dienten die beiden Aussagen der Clodia: daß Caelius von ihr Gold geliehen habe, um die Sklaven des Lucceius zu bestechen; und daß er, nachdem sie von diesem Anschlag erfahren hatte, versucht habe, sie selbst als lästige Zeugin zu beseitigen 7 '. Cicero

n 7S

Vgl. HEINZE 207 f. S. oben S. 248 f. zu § 63.

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disponiert, als wären diese beiden Aussagen Clodias (technisch geredet: die πίστεις ατεχνοι der Anklage) selbst schon die eigentlichen crimina 74 . § 51 du ο sunt enim crimina una in muliere summorum facinorum, auri quod sumptum a Clodia dicitur, et veneni quod eiusdem Clodiae necandae causa parasse Caelium criminantur. So werden aurum und venenum separat widerlegt (§§ 51 f f . : aurum, § § 5 6 f f . : venenum), und das eigentliche Beweisziel der Anklage erscheint fast nur als ein Bestandteil des crimen auri (§§ 5 3 - 5 5 ) . Ciceros M o t i v e bei diesem Verfahren sind nicht schwer zu erraten. Auf der einen Seite k o m m t es ihm, w i e wir schon sahen (oben S. 246), darauf an, die politischen Implikationen des Prozesses möglichst wenig hervortreten zu lassen; schon darum ist es günstig, w e n n der in dieser Hinsicht bedeutungsvolle A n schlag auf D i o durch die Disposition in den Hintergrund verwiesen wird 7 5 . D a m i t hängt ein zweites zusammen. Das sogenannte crimen veneni ist gut dokumentiert. D i e Anklage verfügt ja nicht allein über die Aussage Clodias, w o nach sie v o n ihren Sklaven über die Mordpläne des Caelius unterrichtet worden wäre und dann die entsprechenden Maßnahmen zur Ergreifung des Übeltäters eingeleitet hätte; ihr stehen überdies mehrere Zeugen zur Verfügung, die dabeigewesen sein wollen, als man versuchte, das G i f t den Sklaven der C l o d i a zu übergeben. Es muß doch auffallen, daß Cicero mit keinem Wort eine Alternativversion bezüglich der zur Rede stehenden Ereignisse auch nur an74

Ein schulmäßiger Aufbau wäre etwa: 1. propositio: „Caelius hat keinen Mordanschlag auf Dio unternommen." II. confirmatio: (a) πίστεις δτεχνοι: testimonium Luccei (§§ 54 f.), (b) πίστεις εντεχνοι (§ 53). III. refutatio: (a) πίστεις δτεχνοι: (1) Aussage Clodias: „Gold" (§§ 51 f.) und „Inszenierung des Mordanschlags" (§ 62), (2) Augenzeugen im Seiusbad (§§ 63 ff.: eventuell mit eingelegter narratio der wirklichen Ereignisse, s. unten), (b) πίστεις εντεχνοι, τεκμήρια (§ 68). 75 Aufschlußreich in dieser Hinsicht ist besonders auch die Art, wie Cicero den Mordanschlag behandelt. Während zu erwarten stünde, daß er - wie sonst (vgl. Quint, inst. 7, 2, 36) - vor allem auf dem fehlenden Motiv insistieren würde (dem probabile e causa), werden von ihm nur die Argumente e vita und e facultate breiter ausgeführt (§ 53); im übrigen konzentriert er seine K r a f t auf die Aussage von Dios Quartierherr L. Lucceius, der merkwürdigerweise beim Prozeß selbst nicht anwesend ist, sondern per tabulas Zeugnis ablegt (vgl. H E I N Z E 251 Anm. 1; irrig H U M B E R T 41), ohne daß doch dieses sonderlich beeweiskräftig zu sein scheint. (Lucceius sagt offenbar nur, er habe von der Sache nichts gehört; und Cicero deutet auch nicht an, daß er, wie AUSTIN zu § 55 Z. 7 annimmt, ein peinliches Verhör seiner Sklaven durchgeführt hätte. Vgl. statt dessen § 5 4 : qui tantum facinus ... neque non audisset [!] inlatum a M.Caelio neque neglexisset neque tulisset - ein sicheres argumentum e silentio.) Daraus ist nicht zu schließen, daß die Anklage bezüglich des Motivs sonderlich stark gewesen wäre: Sie wird nur behauptet haben, daß sich Caelius aus freien Stücken bei Pompeius oder Ptolemaios habe beliebt machen wollen — daß er von Ptolemaios gekauft wäre, konnte ja wegen des angeblich von Clodia genommenen Goldes nicht gesagt werden - ; aber eben diesen ganzen Zusammenhang möchte Cicero angesichts der politischen Stimmung aus dem Bewußtsein der Richter möglichst fernhalten: primum non nocere.

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deutet. W a r P. Licinius, der angebliche Überbringer des G i f t s , an d e m f r a g lichen T a g überhaupt im Seiusbad? W e n n ja, k a m er mit oder o h n e eine verdächtige Büchse? U n d zu w e l c h e m Z w e c k ? U n d w a r u m ist er w i e d e r g e g a n g e n oder geflohen? Wir hören v o n all d e m u n d v i e l e m anderem nichts, d e n n C i c e r o begnügt sich ausschließlich damit, Widersprüche in der gegnerischen D a r s t e l ung aufzudecken, die Sache ins Lächerliche zu ziehen 7 6 u n d schließlich - dies natürlich mit gutem R e c h t - zu betonen, daß Licinius mit seinem G i f t nicht g e f a ß t w o r d e n sei u n d somit das entscheidende Beweisstück nicht vorliege. O f f e n b a r w i l l sich Cicero, wenigstens in diesem Stadium des Prozesses, überhaupt noch nicht auf eine positive Version festlegen", u n d so k a n n er u n m ö g ™ Vgl. die feinen Bemerkungen von G E F F C K E N 24-27. In § 69 erwähnt Cicero, offenbar um die Heiterkeit der Richter zu erregen, eine obscenissima fabula, deren Kenntnis er bei seinen H ö r e r n leider voraussetzt (wie noch Quintilian, der inst. 6, 3, 25 ohne weitere Erläuterung von der pyxis Caeliana spricht). Wir erkennen nur soviel mit Sicherheit, daß darin Clodia und irgendein Mann eine Rolle spielen; da dieser als der aktive Teil bezeichnet ist, liegt die Vermutung nahe, daß es sich um einen anzüglichen Scherz handelt, den sich jemand mit Clodia erlaubt hat (so H E I N Z E 252 f.). Die Erklärer neigen dazu, diese obskure fabula als mutmaßlichen „clue to the whole story" (so A U S T I N zu §§ 61-69, S. 122; Lit. in der N o t e zu § 69, Ζ. 10, vgl. auch D O R E Y 177 f.) zu betrachten. H E I N Z E etwa möchte in ihr gewissermaßen die populäre Version des angeblichen Giftmordanschlags erkennen: Man dürfe vermuten, daß diese offenbar harmlose fabula das Richtige getroffen habe, wenn auch Clodia selbst, in maßloser Eifersucht, an einen echten Mordversuch zu glauben scheine. Ich bezweifle dies entschieden. Wäre die besagte fabula in der Tat eine solche gängige Version der Ereignisse im Seius-Bad, dann müßte sie doch von Cicero - eventuell unter Verwendung der Topik vox populi - vox dei (Rhet. Her. 2, 12; vgl. K A Y S E R z. St. und Quint, inst. 5, 3) — alsbald bei der Behandlung des crimen herangezogen werden. Wahrscheinlicher bestand überhaupt kein Real-Zusammenhang zwischen dieser Erzählung von der pyxis und den in unserer Rede behandelten Ereignissen. Wenn Cicero sagt: hie etiam miramur, si illam commenticiam pyxidem obscenissima sit fabula consecutaf, so mag es sich bei dieser Verknüpfung um eine Art scherzhafter Ätiologie handeln, durch welche die - Clodia in irgendeiner Weise kompromittierende - „Büchsen-Geschichte überhaupt erst hereingezogen wird. In diese Richtung weist vielleicht noch folgende Beobachtung. Cicero gebraucht sonst nirgends das griechische Wort pyxis, hier aber (in den §§ 61 ff.) erscheint es gleich achtmal, obwohl dazu wenigstens keine Notwendigkeit besteht. (Es ließe sich ja auch einfach von venenum sprechen, wie in der ähnlichen Erzählung der Cluentiana: §§ 47 ff.) O f f e n b a r kursiert aber die betreffende Anekdote unter dem Titel pyxis (darauf deutet auch Quintilian a. O.); und Cicero versucht, schon durch die Wortwahl in den vorhergehenden Paragraphen die assoziative Erinnerung daran bei den Richtern zu erregen und den Ubergang in § 69 vorzubereiten. Darum kann er dann auch sagen (§ 69): percipitis animis, iudices, iam dudum [!] quid velim vel potius quid nolim dicere. 77

Warum? Ich kann es mir durch folgende Hypothese erklären. Wichtig f ü r die Beurteilung des crimen veneni muß die Aussage des P. Licinius sein, der bei unserem Prozeß anwesend ist (§ 61 huic P. Licinio, § 67 quem videtis) und ohne Zweifel beim Zeugenverhör aussagen wird. (Das Gegenteil schließt A U S T I N [zu § 6 1 ] e silentio; richtig H E I N Z E 252.) Dieser Licinius soll ein Freund des Caelius sein (§ 61), und so

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lieh allen Verdacht zerstreuen. D a ist es denn w o h l begreiflich, d a ß er das crimen veneni aus seinem ursprünglichen Z u s a m m e n h a n g herauslöst u n d verselbständigt. So fällt doch wenigstens v o n diesem P u n k t aus kein Verdacht auf die eigentliche H a u p t b e s c h u l d i g u n g . S o w e i t wäre also unsere R e d e durchaus klar u n d verständlich gebaut: ein vorbereitender Teil de vita ac moribus in den §§ 3 - 2 2 , gefolgt - w e n n unsere Beurteilung der Rechtslage richtig ist - v o m H a u p t t e i l de crimine ipso in den §§ 5 1 - 6 9 . Wäre dies die ganze Caeliana, so w ü r d e z w a r dem S t o f f e nach m a n ches fehlen, v o n der Disposition her aber ergäben sich keine schwereren Probleme. N u n hat jedoch Cicero z w i s c h e n diese beiden durch die Tradition nahegelegten Teile seiner R e d e ein umfangreiches Mittelstück eingelegt, die §§ 2 3 - 5 0 , ein Stück, das sich keinem der beiden übrigen zuordnen läßt u n d das doch auch w i e d e r zu beiden irgendwie zu gehören scheint. ( D a b e i ist es durchaus gleichgültig, ob man den C l o d i a - D i o - K o m p l e x im juristischen Sinn zur A n k l a g e de vi rechnet; das Problem, w e l c h e Funktion das Mittelstück hat, stellt sich in genau derselben Weise, w e n n man e t w a mit H E I N 2 E in den Eckstücken der R e d e nur außersachliche V o r w ü r f e unterschiedener Schwere u n d G r ö ß e behandelt sieht 78 .) Vergegenwärtigen w i r uns die Schwierigkeiten durch einen v o r l ä u f i g e n Überblick! müßte man denn erwarten, daß er zu dessen Gunsten aussagen wollte und daß Cicero sein Möglichstes täte, um die Zuverlässigkeit seines Zeugen herauszustreichen. Nichts davon. Ein in Aussicht stehendes Zeugnis des Licinius wird nicht einmal erwähnt, und der Mann selbst erhält bei seiner ersten Erwähnung (§ 61) nur das etwas magere Lob: huic P. Licinio, pudenti adulescenti et bono .. . Man darf daraus wohl schließen, daß Cicero nicht sicher weiß, wie die Aussage des Licinius lauten wird, ja daß er vielleicht mit der Möglichkeit rechnet, Licinius könne den Caelius belasten wollen, um sich selbst zu salvieren. (Nur exempli gratia: Von Gift habe er nie etwas gehört; Caelius habe ihm nur gesagt, er solle eine Salbenbüchse übergeben; verständlich also, daß er auf den plötzlichen Ruf „Haltet den Mörder" in Panik die Flucht ergriffen habe usw.) Wir wissen ja nicht einmal sicher, ob Licinius der Form nach als testis voluntarius der Verteidigung aussagt oder ob ihm das testimonium von der Anklage denuntiiert ist, wie wahrscheinlich den Coponii, auf deren günstige Aussage Cicero h o f f t (§ 24, vgl. H E I N Z E 222 f.; zu den zwei Typen von testes s. Quint, inst. 5, 7, 9 ff., vgl. M O M M SEN, Strafrecht 408-410, M. KÄSER, RE V A 1 [1934] 1049 f.). Zumal im zweiten Fall wäre Ciceros Vorsicht begreiflich; aber auch wenn Licinius als Zeuge der Verteidigung auftreten und mit Cicero abgesprochen sein sollte, könnte dieser mißtrauisch bleiben. Quint, inst. 5, 7, 12 . . . frequenter subici ab adversario solent [sc. testes~\ et omnia profutura polliciti diversa respondent et auetoritatem habent non arguentium Uli, sed confitentium. (Ebenso in § 32.) Wenn Cicero entsprechende Befürchtungen hat, ist es begreiflich, warum er in der actio perpetua noch keine bestimmte Version der Ereignisse vorträgt, sondern die genauere Stellungnahme auf das Zeugenverhör aufspart. 78

Es ergäbe sich dann nur ein Unterschied bezüglich der Terminologie. Wer also die Ansicht H E I N Z E s teilen sollte, kann an den Stellen, wo ich von crimina de vi oder causa ipsa spreche, einfach crimina de Dione lesen.

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Mit § 22 ist der Teil de vita abgeschlossen. Jedenfalls scheinen wir uns in den §§ 23 f. bereits im Bereich der eigentlichen Anklage zu befinden. Cicero nennt hier nämlich die drei Klagepunkte, die er durch seinen Vorredner Crassus genügend behandelt glaubt 79 , und fügt hinzu: vellem dictum esset ab eodem etiam de Dione! Gemeint ist damit, wie sich sogleich zeigt, nicht der erfolglose Mordanschlag (der ja erst später behandelt wird), sondern der vollendete Mord, an dem Caelius wenigstens beteiligt gewesen sein soll. Das erledigt Cicero mit wenigen Sätzen. Der eigentliche Mörder sei ohne Zweifel Ptolemaios, dessen angebliches Werkzeug Asicius sei bereits freigesprochen worden 80 ; um wieviel weniger könne jetzt Caelius deswegen belangt werden, auf den doch bisher auch nicht der Schatten eines Verdachts gefallen sei? § 25 ergo haec removeantur, ut aliquando, in quibus causa nititur81, ad ea veniamus. Man könnte erwarten, daß nun gravierendere Beschuldigungen aus dem Bereich de vi behandelt würden. Aber weit gefehlt! Wir kehren unversehens zurück in den Bereich de vita, den wir schon verlassen glaubten. Cicero behandelt nämlich die Vorwürfe, die der Nebenkläger L. Herennius Baibus gegen die allgemeine Lebensführung des Angeklagten erDie Abgrenzung vom Part der Vorredner pflegt sinnvollerweise dort ihren Platz zu haben, wo der Redner zur Behandlung der technischen Klagepunkte kommt; so Sull. 11-14, Mur. 54, Balb. 17 (vgl. auch Sest. 5). 80 § 23 et si Asicio causa plus profuit quam nocuit invidia . .. Der Satz, der schon zu vielen Konjekturen Anlaß gegeben hat, scheint noch nicht verstanden zu sein. AUSTIN und andere erklären: „If Asicius gained more advantage from his trial than damage for the odium attaching to it." Aber es ist schwer einzusehen, welchen „Vorteil" Asicius von diesem Prozeß gehabt haben könnte. Alles wird klar, wenn man unter causa nicht den „Prozeß", sondern die „Sache" bzw. die „gute Sache" des Asicius versteht (wie unten in §24: sed Caelius optimam causam Asici esse arbitratur). Cicero meint: „Wenn schon dem Asicius seine ,Sache', d. h. seine Unschuld, mehr genutzt hat als das (an ihm oder an der Sache selbst haftende) Odium ihm schaden konnte, wie kann dann Caelius hier betroffen sein, der ja nicht einmal verdächtigt wurde? (causa plus profuit als Umschreibung für absolutus est.) Nur so hat das argumentum a minori ad maius die logische Schärfe. - Während hier der überlieferte Text in Ordnung ist, kann das folgende (§ 24) nicht richtig sein: ,at praevaricatione est Asicius liberatus.' perfacile est isti loco respondere, mihi praesertim a quo illa causa defensa est. sed Caelius optimam causam Asici esse arbitratur; cuicuimodi autem sit, a sua putat esse seiunctam. Wenn Cicero auf diesen Punkt (locus) nicht näher eingehen will, so kann er es unmöglich damit begründen, daß C a e l i u s die Sache des Asicius für eine vortreffliche halte. (Oder welchen Sinn sollte sed sonst haben?) Wir kommen nicht um die Annahme herum, daß hier ein Stück des Gedankengangs ausgefallen ist; ex. gr.: sed