Haftungsvermeidung in der Unternehmenskrise: Praxiswissen und Taktik für Geschäftsführer und Vorstände [1. Aufl.] 9783658300821, 9783658300838

Dieses Buch richtet sich speziell an Geschäftsführer und Vorstände von Unternehmen, die sich in einer Krise befinden und

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German Pages XI, 186 [183] Year 2020

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Haftungsvermeidung in der Unternehmenskrise: Praxiswissen und Taktik für Geschäftsführer und Vorstände [1. Aufl.]
 9783658300821, 9783658300838

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XI
Das Ziel dieses Buchs – und eine Warnung (Christoph Poertzgen)....Pages 1-5
Adressatenkreis: nicht nur der CFO (Christoph Poertzgen)....Pages 7-11
Haftung trotz Haftungsbeschränkung? (Christoph Poertzgen)....Pages 13-17
Prüfung, Beobachtung und Dokumentation (Christoph Poertzgen)....Pages 19-25
Sanierungspflicht (Christoph Poertzgen)....Pages 27-31
Insolvenzgründe im Überblick (Christoph Poertzgen)....Pages 33-37
Zahlungsunfähigkeit (Christoph Poertzgen)....Pages 39-48
Überschuldung (Christoph Poertzgen)....Pages 49-63
Insolvenzantragspflicht (Christoph Poertzgen)....Pages 65-78
Antragstellung und passende Verfahrensart (Christoph Poertzgen)....Pages 79-93
Zahlungsverbot und Innenhaftung (Christoph Poertzgen)....Pages 95-113
Haftung wegen Insolvenzverschleppung (Christoph Poertzgen)....Pages 115-122
Ablauf des Insolvenzverfahrens (Christoph Poertzgen)....Pages 123-135
Strafrecht und weitere Haftungsrisiken (Christoph Poertzgen)....Pages 137-147
Insolvenzanfechtung (Christoph Poertzgen)....Pages 149-155
D&O – Versicherung (Christoph Poertzgen)....Pages 157-164
Persönliche Haftungsschuld (Christoph Poertzgen)....Pages 165-172
Interessenkonflikt für Berater (Christoph Poertzgen)....Pages 173-178
Annex: Krisenpflichten in der Corona-Krise (Christoph Poertzgen)....Pages 179-183
Back Matter ....Pages 185-186

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Christoph Poertzgen

Haftungsvermeidung in der Unternehmenskrise Praxiswissen und Taktik für Geschäftsführer und Vorstände

Haftungsvermeidung in der Unternehmenskrise

Christoph Poertzgen

Haftungsvermeidung in der Unternehmenskrise Praxiswissen und Taktik für Geschäftsführer und Vorstände

Christoph Poertzgen Köln, Deutschland

ISBN 978-3-658-30082-1 ISBN 978-3-658-30083-8  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-30083-8 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Vivien Bender Springer Gabler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Vorwort

Literatur zu Haftungsrisiken für Geschäftsführer und Vorstände krisenbelasteter Unternehmen gibt es in Hülle und Fülle. Allerdings wenden sich die vorhandenen Werke vor allem an ein Publikum mit juristischen (Vor-) Kenntnissen: an Richter und Staatsanwälte, an Insolvenzverwalter, an Unternehmensjuristen oder Mitarbeiter von Banken sowie vor allem an anwaltliche und steuerliche Berater von Unternehmen und Managern. Dagegen gibt es kaum Darstellungen, die sich direkt an die eigentlich Betroffenen richten – die Geschäftsführer und Vorstände von Gesellschaften, die sich in einer Krise befinden oder sogar von Insolvenz bedroht sind. Hier will das vorliegende Buch Hilfe anbieten, indem es die wesentlichen Pflichten und damit verknüpfte Haftungsrisiken zusammenfassend darstellt – und zwar ohne dass Rechtskenntnisse beim Leser vorausgesetzt werden. Die folgenden Kapitel sind das Ergebnis der langjährigen Erfahrungen des Verfassers als Berater in Krisen- und Insolvenzsituationen sowie bei der Abwehr von Haftungsansprüchen in Prozessen und Schiedsverfahren. Sie beruhen auf der Anfang 2020 geltenden Rechtslage. Die angesichts der Corona-Pandemie ab März 2020 in wesentlichen Punkten (vorübergehend) geänderte Rechtslage wird im nachträglich eingefügten Kapitel 19 dargestellt. Auch wenn die Europäische Restrukturierungsrichtlinie schon in aller Munde ist: die in diesem Buch behandelten Themen werden auch nach Umsetzung der Richtlinie in deutsches Recht (voraussichtlich im Herbst 2021) relevant bleiben. Soweit heute bereits Auswirkungen der Richtlinie absehbar sind, werden diese im jeweilige Kontext angesprochen. Ohne die Unterstützung, den fortwährenden Zuspruch, das Verständnis und vor allem: die Geduld vieler wäre das vorliegende Buch nicht fertig geworden. Alle, denen es an dieser Stelle von Herzen zu danken gilt, werden wissen, dass jede und jeder von ihnen persönlich gemeint ist. Köln im Februar 2020

Christoph Poertzgen

V

Inhaltsverzeichnis

1

Das Ziel dieses Buchs – und eine Warnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 Was dieses Buch will – und was es nicht kann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.2 An wen richtet sich das Buch?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 1.3 Wenn die Zeit besonders knapp ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 1.4 Rechtliche Auswirkungen der Corona-Pandemie . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 1.5 Haftungsausschluss („disclaimer“). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 1.6 Das Wichtigste in Kürze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5

2

Adressatenkreis: nicht nur der CFO. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2.1 Mehrköpfige Geschäftsführungsgremien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2.2 Haftung faktischer (Geschäftsführungs-) Organe . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 2.3 Überwachungspflichten eines Aufsichtsrats oder Beirats . . . . . . . . . . . 10 2.4 Weitere Ausnahme: Insolvenzantragspflicht der GmbH-Gesellschafter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2.5 Das Wichtigste in Kürze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

3

Haftung trotz Haftungsbeschränkung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 3.1 Organhaftung trotz begrenzter Haftung bei Kapitalgesellschaften. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 3.2 Haftung wegen Verhaltens in der Krise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 3.3 Das Wichtigste in Kürze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17

4

Prüfung, Beobachtung und Dokumentation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 4.1 Der Anknüpfungspunkt: die Krise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 4.2 Die (Selbst-) Prüfungspflicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 4.3 Die Pflicht zur Beobachtung der Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 4.4 Dokumentation der Krise und von Maßnahmen zu ihrer Bewältigung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 4.5 Rechtsfolgen einer Pflichtverletzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 4.6 Pflicht zur Information der Gesellschafter bei Kapitalverlust. . . . . . . . 24 4.7 Das Wichtigste in Kürze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 VII

VIII

Inhaltsverzeichnis

5 Sanierungspflicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 5.1 Pflicht zur Förderung des Unternehmenszwecks. . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 5.2 Pflicht zur Sanierung des krisenbelasteten Unternehmens . . . . . . . . . . 28 5.3 Abgrenzung zwischen Sanierungspflicht und anderen Krisenpflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 5.4 Kommunikation nach außen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 5.5 Das Wichtigste in Kürze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 6

Insolvenzgründe im Überblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 6.1 Der Begriff der Insolvenz im Sinn des Gesetzes. . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 6.2 Die Insolvenzgründe: Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung. . . . . . 36 6.3 Das Wichtigste in Kürze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37

7 Zahlungsunfähigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 7.1 Der Insolvenzgrund der (eingetretenen) Zahlungsunfähigkeit . . . . . . . 39 7.2 Beweislastverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 7.3 Die Stundung als Instrument zur Abwendung der Zahlungsunfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 7.4 (Vorübergehender) Verzicht auf ernsthaftes Einfordern einer Forderung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 7.5 (Haftungs-) Relevanz für Organvertreter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 7.6 Die Vorstufe zur Illiquidität: drohende Zahlungsunfähigkeit . . . . . . . . 46 7.7 Das Wichtigste in Kürze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 8 Überschuldung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 8.1 Überschuldung im Insolvenzrecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 8.2 Der insolvenzrechtliche Überschuldungsbegriff bis Oktober 2008. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 8.3 Der seit Oktober 2008 bis heute maßgebliche Überschuldungsbegriff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 8.4 Die Fortführungsprognose im Rahmen des Überschuldungsbegriffs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 8.5 Beweislastverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 8.6 Abwendung einer Überschuldung durch Rangrücktritt. . . . . . . . . . . . . 55 8.7 Patronatserklärung als Instrument zur Überschuldungsabwehr. . . . . . . 59 8.8 (Haftungs-) Relevanz für Organvertreter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 8.9 Gesellschafterdarlehen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 8.10 Das Wichtigste in Kürze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 9 Insolvenzantragspflicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 9.1 Die gesetzliche Regelung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 9.2 Die Insolvenzantragspflicht als juristischer Systembaustein. . . . . . . . . 66 9.3 Verhältnis von Antragspflicht zu Antragsrecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 9.4 Der von der Antragspflicht betroffene Personenkreis . . . . . . . . . . . . . . 68

Inhaltsverzeichnis

9.5 9.6 9.7 9.8 9.9 9.10 9.11 9.12 9.13 9.14 9.15

IX

Auswirkung von Abberufung und Niederlegung des Organamtes . . . . 69 Insolvenzreife als Auslöser der Antragspflicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 Die maximal dreiwöchige Sanierungsfrist. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 Schuldhaftes Verhalten als Haftungsvoraussetzung. . . . . . . . . . . . . . . . 73 Erfüllung der Antragspflicht und Unwirksamkeit von Weisungen . . . . 74 Wiederaufleben der Antragspflicht bei Antragsrücknahme. . . . . . . . . . 75 Haftung des Aufsichtsrats für die Antragspflichtverletzung . . . . . . . . . 76 Haftung von Gesellschaftern für Antragspflichtverletzung. . . . . . . . . . 76 Insolvenzanzeigepflicht statt Antragspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Antragspflicht bei Unternehmen mit Auslandsvermögen . . . . . . . . . . . 77 Das Wichtigste in Kürze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78

10 Antragstellung und passende Verfahrensart . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 10.1 Der Insolvenzantrag als Dokument. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 10.2 Die Antragstellung beim Insolvenzgericht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 10.3 Insolvenzverfahren in Eigenverwaltung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 10.4 Insolvenzverfahren in Form eines Insolvenzplanverfahrens. . . . . . . . . 84 10.5 Übertragende Sanierung – auch im Regelverfahren . . . . . . . . . . . . . . . 86 10.6 Wirkung des Insolvenzantrags bei Vermögen im Ausland. . . . . . . . . . . 87 10.7 Konzerninsolvenzrecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 10.8 Ausblick: Sanierung im zeitlichen Vorfeld des Insolvenzverfahrens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 10.9 Das Wichtigste in Kürze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 11 Zahlungsverbot und Innenhaftung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 11.1 Begriffe und gesetzliche Systematik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 11.2 Große praktische Bedeutung der Innenhaftung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 11.3 Das Grundprinzip: Zahlungsverbot und Innenhaftung . . . . . . . . . . . . . 96 11.4 Der Begriff der Zahlung und seine Problematik. . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 11.5 Zahlung muss vom Organvertreter veranlasst sein . . . . . . . . . . . . . . . . 99 11.6 Berücksichtigung von Gegenleistungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 11.7 Sondersituation: Zahlungseingang auf debitorischem Konto . . . . . . . . 100 11.8 Keine Haftung bei Zahlungen an besicherte Gläubiger. . . . . . . . . . . . . 103 11.9 Beweislastverteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 11.10 Ausnahmsweise erlaubte Zahlungen – die Rechtfertigungsklausel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 11.11 Kollision des Zahlungsverbotes mit Zahlungsgeboten oder Weisung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 11.12 Schuldhaftes Verhalten als Haftungsvoraussetzung. . . . . . . . . . . . . . . . 107 11.13 Haftung von Aufsichtsratsmitgliedern für verbotene Zahlungen. . . . . . 108 11.14 Verhältnis der Innenhaftung zur Haftung wegen Insolvenzverschleppung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 11.15 Bei Eigenverwaltung: Haftung auch nach Antragstellung. . . . . . . . . . . 110

X

Inhaltsverzeichnis

11.16 11.17 11.18 11.19

Haftung auf Zahlungsersatz bei Auslandsgesellschaften. . . . . . . . . . . . 110 Verjährung der Haftung für verbotene Zahlungen. . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Sonderfall: Zahlungen an Gesellschafter. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Das Wichtigste in Kürze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112

12 Haftung wegen Insolvenzverschleppung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 12.1 Der Begriff der „Insolvenzverschleppung“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 12.2 Die Insolvenzantragspflicht als Schutzgesetz zugunsten der Gläubiger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 12.3 Der Quotenschaden der Altgläubiger. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 12.4 Der individuelle Ausfallschaden eines Neugläubigers. . . . . . . . . . . . . . 118 12.5 Das problematische Abwicklungsmodell der Rechtsprechung. . . . . . . 119 12.6 Das Modell des einheitlichen Quotenschadens aller Gläubiger . . . . . . 120 12.7 Verjährung der Haftung wegen Antragspflichtverletzung. . . . . . . . . . . 121 12.8 Das Wichtigste in Kürze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 13 Ablauf des Insolvenzverfahrens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 13.1 Überblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 13.2 Insolvenzeröffnungsverfahren („vorläufiges Verfahren“) . . . . . . . . . . . 124 13.3 Das vorläufige Verfahren als Insolvenzgeldzeitraum. . . . . . . . . . . . . . . 125 13.4 Pflicht zur Unterstützung des Insolvenzverwalters. . . . . . . . . . . . . . . . 127 13.5 (Eröffnetes) Insolvenzverfahren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 13.6 Kein Insolvenzverfahren wegen mangelnder Masse. . . . . . . . . . . . . . . 131 13.7 Das Ende des Insolvenzverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 13.8 Streitige (gerichtliche) Auseinandersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 13.9 Haftungsrelevanz der einzelnen Zeitabschnitte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 13.10 Das Wichtigste in Kürze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 14 Strafrecht und weitere Haftungsrisiken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 14.1 Das Legalitätsprinzip im Strafrecht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 14.2 Strafbarkeit einer Verletzung der Insolvenzantragspflicht. . . . . . . . . . . 138 14.3 Delikte des spezifischen Insolvenzstrafrechts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 14.4 Weitere Strafbarkeitsrisiken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 14.5 Besonderes insolvenzrechtliches Beweisverwertungsverbot. . . . . . . . . 142 14.6 Weitere zivilrechtliche Haftungsrisiken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 14.7 Haftung für Steuerschulden der insolventen Gesellschaft. . . . . . . . . . . 144 14.8 Vorenthalten von Beiträgen zur Sozialversicherung . . . . . . . . . . . . . . . 145 14.9 Haftung des Managers bei Eigenverwaltung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 14.10 Das Wichtigste in Kürze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 15 Insolvenzanfechtung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 15.1 Begriffliche Einordnung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 15.2 Das Grundprinzip der Insolvenzanfechtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 150 15.3 Verhältnis der Insolvenzanfechtung zur Innenhaftung. . . . . . . . . . . . . . 151

Inhaltsverzeichnis

15.4 15.5

XI

Praktische Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Das Wichtigste in Kürze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155

16 D&O – Versicherung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 16.1 Umfang des Versicherungsschutz ist vom Einzelfall abhängig. . . . . . . 157 16.2 Das Anspruchserhebungsprinzip („claims made“). . . . . . . . . . . . . . . . 159 16.3 Faktisch erhöhtes Risiko einer Inanspruchnahme. . . . . . . . . . . . . . . . . 161 16.4 Haftungsausschluss bei vorsätzlichem Handeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 16.5 Das Wichtigste in Kürze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 17 Persönliche Haftungsschuld. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 17.1 Haftungsschuld wegen Pflichtverletzung oder Haftungsübernahme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 17.2 Privatinsolvenz als Ausweg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 17.3 Erwerb der Restschuldbefreiung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 17.4 Privatinsolvenzverfahren vs. außergerichtliche Schuldenbereinigung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 17.5 Ausnahmen von der Restschuldbefreiung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 17.6 Das Wichtigste in Kürze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 18 Interessenkonflikt für Berater. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 18.1 Auswahl des Krisenberaters. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 18.2 Interessenkonflikt in Krise und/oder Haftungsprozess . . . . . . . . . . . . . 175 18.3 Kosten der Beratung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 18.4 Das Wichtigste in Kürze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 19 Annex: Krisenpflichten in der Corona-Krise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 19.1 Aussetzung der Antragspflicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 19.2 Zeitraum der Antragspflichtaussetzung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 19.3 Aussetzung des Zahlungsverbotes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 19.4 Weitere Regelungen und Bewertung des COVInsAG. . . . . . . . . . . . . . 181 19.5 Das Wichtigste in Kürze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 Die wichtigsten Vorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185

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Das Ziel dieses Buchs – und eine Warnung

Dieses Buch will ein komplexes rechtliches Thema möglichst einfach darstellen. Juristische Kenntnisse werden bei der Lektüre nicht vorausgesetzt. Eine qualifizierte Beratung zum Einzelfall kann die folgende Darstellung allerdings nicht ersetzen.

1.1 Was dieses Buch will – und was es nicht kann In diesem Buch geht es um das richtige Verhalten von Geschäftsführern und Vorstandsmitgliedern in der Unternehmenskrise – sowie um die Konsequenzen, die etwaige Pflichtverletzungen haben können. Diese Materie wird in den folgenden Kapiteln dargestellt, ohne dass juristische Kenntnisse beim Leser vorausgesetzt werden. Neben der Erläuterung der Rechtslage werden praktische Hinweise für den (Unternehmens-) Alltag gegeben. Geprägt ist das Thema durch den Umstand, dass sich die Leitung eines Unternehmens in den vergangenen Jahrzehnten immer stärker „verrechtlicht“ hat.1 Mit dem Eintritt in eine Krise verstärkt sich dieser Effekt noch einmal deutlich. Das lässt nicht nur den (Krisen-) Alltag von Geschäftsführern oder Vorstandsmitgliedern zu einer besonderen Herausforderung werden.2 Vor allem geht die Tätigkeit als Manager mit erheblichen,

1Stichworte hierzu sind: Compliance, business judgment rule, aufsichtsrechtliche Anforderungen, Datenschutz etc. 2Besonders stressbelastet ist regelmäßig die Phase nach Eintritt von Zahlungsunfähigkeit (Kap. 7) und/oder Überschuldung (Kap. 8); mit dieser Phase verknüpft das Gesetz besonders strikte Handlungs- bzw. Unterlassungspflichten sowie Haftungsrisiken (Kap. 9 sowie 11 und 14). Mit der Stellung eines Insolvenzantrages (Kap. 10) tritt dagegen in aller Regel wieder eine juristische ­„Entschleunigung“ ein, da nun ein vorläufiger Insolvenzverwalter für das Unternehmen verantwortlich ist (Abschn. 13.2).

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Poertzgen, Haftungsvermeidung in der Unternehmenskrise, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30083-8_1

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1  Das Ziel dieses Buchs – und eine Warnung

persönlichen Risiken für die Betroffenen einher. Diese Entwicklung kann man kritisieren, sie ist aber als Realität hinzunehmen – solange der Gesetzgeber das Gesellschaft- und Insolvenzrecht nicht grundlegend überarbeitet. Auch wenn es in den folgenden Kapiteln um rechtliche Fragen geht, ist das vorliegende Werk kein juristisches Buch im üblichen Sinn. Vielmehr sollen die wichtigsten Eckpunkte und Zusammenhänge aus der „Helikopter-Perspektive“ möglichst einfach und verständlich behandelt werden.3 Der folgende Text ist deshalb nicht als erschöpfende Abhandlung zu verstehen. Weder kann noch soll jede – für Juristen interessante – Verästelung des Themas ausgeleuchtet werden. Vielmehr geht es um die Problematik im Großen und Ganzen sowie einige ausgewählte, zusätzliche Punkte. Wer als Geschäftsführer oder Vorstandsmitglied (nachfolgend abgekürzt als „Vorstand“) jedenfalls die aus dem Wasser herausragende Spitze des Eisbergs erkennt und von den mit der Krise verbundenen zivil- und strafrechtlichen Risiken schon einmal gehört hat, kann Gefahren und juristische Untiefen weiträumig umschiffen. Für diverse Probleme, die den folgenden Kapiteln angesprochen werden, kann das Buch keine allgemeingültige Lösung anbieten. Das ist unvermeidbar: denn meistens gibt es für die in der Praxis auftretenden Fragen gar nicht „die eine“ Antwort. Vielmehr muss die im Einzelfall richtige Herangehensweise aus dem individuellen Sachverhalt heraus entwickelt werden. Die folgende Darstellung will nur abstrakt-generelle Fragen beschreiben, die in einer Krise typischerweise auftreten. Es können auch nicht alle denkbaren Haftungsfallen für Manager behandelt werden, sondern nur solche, die gerade und spezifisch mit der Unternehmenskrise zu tun haben. Eine Anleitung zum Selbermachen ist dieses Buch ausdrücklich nicht. Vielmehr soll die folgende Darstellung lediglich eine im Einzelfall notwendige Beratung durch einen qualifizierten Berufsträger anregen, anleiten und unterstützen. Vor dem Versuch, die juristischen Fallstricke einer Krise mit einem do it yourself – Ansatz zu bewältigen, können Geschäftsführer und Vorstände ohne einschlägige Kenntnisse bzw. Erfahrungen nur nachdrücklich gewarnt werden. Der dringende Rat zur Inanspruchnahme fachlicher Hilfe scheint nur vordergründig eine (wenig subtile) Werbung für die Beraterbranche zu sein. Vielmehr dient die Mandatierung eines Fachberaters den ureigenen Interessen des betroffenen Managers. Schließlich geht es in zivilrechtlicher Hinsicht schnell um erhebliche, oft existenzbedrohende Schadensersatzbeträge, die im Fall der Fälle aus dem Privatvermögen des

3Erfahrungsgemäß

fühlt sich die Mehrheit von Unternehmensvertretern entgegen allen Forderungen nach einem Mentalitätswandel („Krise als Chance begreifen“ etc.) nach wie vor durch eine Hemmschwelle gehindert, an Informationsveranstaltungen oder Seminaren zu Krisenpflichten teilzunehmen. Dazu hört man von potentiellen Teilnehmern hinter vorgehaltener Hand immer wieder Aussagen wie „Ich würde gern teilnehmen, möchte dort lieber nicht gesehen werden“ bzw. „Was werden unsere Geschäftspartner denken, wenn ich da hingehe?“ usw.

1.2  An wen richtet sich das Buch?

3

Betroffenen geleistet werden müssten. Darüber hinaus kann ein Fehlverhalten – und zwar ohne, dass die landläufige „böse Absicht“ vorliegen muss, – auch strafrechtliche Konsequenzen haben und damit erhebliche Geldstrafen, wenn nicht sogar Gefahren für die persönliche Freiheit nach sich ziehen. Für den ein oder anderen Betroffenen mag ein (legitimer) Grund für den Anruf beim Anwalt oder Steuerberater möglicherweise auch in dem Kalkül liegen, dass die Inanspruchnahme qualifizierter Beratung in aller Regel das individuelle Verschulden des einzelnen Geschäftsführer bzw. Vorstands entfallen lässt und damit haftungsausschließend wirkt (Abschn. 9.8 und 11.12). Paragraphen werden im folgenden Text nur sparsam zitiert.4 Auch Fundstellen zu Gerichtsentscheidungen findet man nur in Ausnahmefällen ebenso wie Zitate aus der juristischen Literatur. Fußnoten enthält das Buch dennoch, um Verweise innerhalb der Kapitel herzustellen oder ergänzende Aspekte anzusprechen. Aus Gründen sprachlicher Kürze wird anstelle der weiblichen und männlichen Form („Leser bzw. Leserin“) immer nur die männliche Form verwendet. Selbstverständlich sind immer alle Leser (m/w/d) gemeint. Entsprechendes gilt für die Begriffe Geschäftsführer, Vorstand, Manager, Organvertreter, Berater, Rechtsanwalt, Insolvenzverwalter, Gläubiger etc. Schließlich erhebt der Text zum Zweck erleichterter Lesbarkeit nicht den Anspruch, stets den juristisch korrekten (Fach-) Begriff zu verwenden. So werden zum Beispiel die Bezeichnungen „Unternehmen“ und „Gesellschaft“ mit identischem Inhalt benutzt, auch wenn im Rechtssinn das Unternehmen einerseits und die Gesellschaft als Unternehmensträger andererseits zu unterscheiden sind.5

1.2 An wen richtet sich das Buch? Das Buch richtet sich an Führungskräfte von Unternehmen, und zwar solche, die im Fall einer Krise ihres Unternehmens die nachfolgend zu behandelnden Handlungs- und Unterlassungspflichten zu befolgen haben (Kap. 2). Das Gesetz kennt den Begriff des „Managers“ nicht. Mit dieser Bezeichnung können höchst unterschiedliche Leitungsebenen zwischen einem Gruppen- oder Abteilungsleiter bis hin zur CEO-Ebene gemeint sein. Nicht alle diese Manager sind Adressaten der hier behandelten Krisenpflichten. Im rechtlichen Sinn treffen die Krisenpflichten allein die Mitglieder der obersten Leistungsebene

4Der

jeweils aktuelle Wortlaut der Vorschriften kann im Internet nachgelesen werden kann, etwa auf den Seiten www.dejure.org oder www.gesetze-im-internet.de. 5Das Unternehmen ist die Sachgesamtheit aller Vermögenswerten, die zusammen eine wirtschaftliche und organisatorische Einheit bilden. Der Unternehmensträger ist demgegenüber die rechtliche Hülle des Unternehmens in Form einer GmbH, einer GmbH & Co. KG, einer Aktiengesellschaft oder einer anderen (in- oder ausländischen) Rechtsform.

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1  Das Ziel dieses Buchs – und eine Warnung

des Unternehmens, also die geschäftsführenden Organvertreter der Gesellschaft, die als Rechtsträger des krisengefährdeten Unternehmens fungiert. Konkret gemeint sind also die im Handelsregister eingetragenen, zur Geschäftsführung des Unternehmens berufenen Organvertreter wie etwa der oder die Geschäftsführer einer GmbH bzw. GmbH & Co. KG und die Vorstandsmitglieder von Aktiengesellschaften, Genossenschaften oder eingetragenen Vereinen. Daneben können aber auch faktische Organvertreter sowie Mitglieder von Aufsichtsträten und Vertreter ausländischer Rechtsträger Adressaten der relevanten Pflichten werden. Hierauf wird noch zurückzukommen sein (Abschn. 2.3 und 2.4 sowie 9.4) ebenso wie auf die grundsätzliche Frage, warum keineswegs alle, sondern nur bestimmte Unternehmenslenker Pflicht- und Haftungsadressaten sind (Abschn. 3.1).

1.3 Wenn die Zeit besonders knapp ist Auch wenn sich das vorliegende Buch als praxisnaher Ratgeber auf die wesentlichen Punkte für den Krisenalltag beschränken will, soll doch an verschiedenen Stellen nicht auf die Erörterung zusätzlicher Aspekte verzichtet werden. Dann und wann werden also mehr Gesichtspunkte beleuchtet, als es für ein unverzichtbares Grundverständnis nötig wäre. Der rote Faden des Buchs – das „A bis Z der Haftungsvermeidung“ – soll aber auch ohne die ergänzenden Punkte ohne weiteres erkennbar bleiben. Deshalb unterscheidet das Layout des Textes zwischen den unverzichtbaren harten Fakten

und – optisch abgesetzt – ergänzenden Hinweisen und Hintergrundinformationen.

1.4 Rechtliche Auswirkungen der Corona-Pandemie Die gesetzgeberischen Maßnahmen zur Abmilderung der juristischen und wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie ab März 2020 betreffen gerade auch das Pflichtenspektrum von Geschäftsführern und Vorständen in der Unternehmenskrise. Die entsprechenden, Corona-bedingten Änderungen im Insolvenz- und Gesellschaftsrecht sind erst nach Redaktionsschluss der eigentlich als abschließend gedachten Kap. 1 bis 18 dieses Buches in Kraft getreten. Wichtig ist, dass die „Corona-Vorschriften“ nach heutigem Kenntnisstand nur vorübergehend wirksam sein sollen, und zwar von Anfang März 2020 bis Ende September 2020 bzw. Ende März 2021 (Abschn. 19.2). Danach soll wieder die in den Kap. 1 bis 18 behandelte, „normale“ Rechtslage gelten. Deshalb sollte sich der interessierte Leser nach dem vorliegenden Kapitel zunächst

1.6  Das Wichtigste in Kürze

5

mit Kap. 19 befassen. Denn die darin erläuterten Sonderregeln gehen während ihrer Geltungsdauer insbesondere der Antragspflicht (Kap. 9) und dem Zahlungsverbot (Kap. 11) vor.

1.5 Haftungsausschluss („disclaimer“) Dieses Buch ist mit großer Sorgfalt und dem Anspruch auf inhaltliche Richtigkeit verfasst worden. Dennoch sind Unrichtigkeiten, Unklarheiten, Irrtümer oder Fehler unvermeidbar, sie gehen ausschließlich zulasten des Autors. Dessen Haftung für den Inhalt des Buchs, seine praktische Umsetzung oder eine fehlerhafte Rechtsanwendung ist jedoch umfassend ausgeschlossen, ebenso wie jegliche Haftung des Verlages. Kommentare, Kritik sowie Anregungen, Hinweise oder die Schilderung praktischer Erfahrungen sind sehr willkommen und werden wirklich gern zur Kenntnis genommen.

1.6 Das Wichtigste in Kürze • Geschäftsführer und Vorstände haben in einer Unternehmenskrise besondere Pflichten. • Bei Verletzung dieser Krisenpflichten sind die Betroffenen erheblichen persönlichen Haftungsrisiken ausgesetzt. • Die Kapitel dieses Buches sollen eine Übersicht über Pflichten und Haftungsrisiken in der Krise geben. Die Lektüre setzt keine juristischen Kenntnisse voraus. • Das Buch soll eine fachlich qualifizierte Beratung durch einen Rechtsanwalt oder sonstigen Berater vorbereiten bzw. begleiten, kann diese aber keinesfalls ersetzen.

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Adressatenkreis: nicht nur der CFO

Die in der Krise relevanten Pflichten und Haftungsrisiken treffen nicht nur den Chief Financial Officer (CFO) des Unternehmens. Tatsächlich stehen hier alle Mitglieder der Geschäftsführung bzw. des Vorstands in der Pflicht. In Ausnahmenfällen können auch „faktische Geschäftsführer“ sowie Mitglieder von Aufsichtsräten und ­GmbH-Gesellschafter Adressaten von Krisenpflichten werden.

2.1 Mehrköpfige Geschäftsführungsgremien Hat ein Unternehmen mehrere Geschäftsführer oder Vorstände – der Oberbegriff lautet hier Organvertreter, – so steht nicht nur der nach Satzung oder Geschäftsordnung für Finanzen zuständige Organvertreter in der Pflicht, wenn es um die Beachtung und Erfüllung der Krisenpflichten geht. Vielmehr sind sämtliche im Handelsregister (oder Vereins- bzw. Genossenschaftsregister) eingetragen Mitglieder des obersten Leitungsgremiums juristisch verantwortlich.1 Diese Verantwortlichkeit sämtlicher Organvertreter bedeutet, dass im Fall einer Pflichtverletzung auch alle Geschäftsführer oder Vorstände haftbar werden können. Dieser Grundsatz der Gesamtverantwortung gilt selbst dann, wenn die eigentliche Pflichtverletzung nicht durch sämtliche Organvertreter gemeinsam, sondern nur einen oder mehrere Amtsinhaber begangen worden ist. Für die von einem Organvertreter begangene Pflichtverletzung haften regelmäßig alle Geschäftsführer bzw. Vorstände als Gesamtschulder. Das bedeutet, dass ein

1Zum

Adressatenkreis bereits Abschn. 1.2; zur besonderen Verantwortlichkeit geschäftsführender Organvertreter von Auslandsgesellschaften Abschn. 9.14 und 11.16.

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Poertzgen, Haftungsvermeidung in der Unternehmenskrise, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30083-8_2

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2  Adressatenkreis: nicht nur der CFO

Gläubiger – also in der Regel der durch die Pflichtverletzung Geschädigte – im Außenverhältnis jeden Geschäftsführer bzw. jedes Vorstandsmitglied auf Ersatz des gesamten Schadens in Anspruch nehmen kann. Erst in einem zweiten Schritt kann dann der tatsächlich in Anspruch genommene Organvertreter von seinen Mitgeschäftsführern bzw. Vorstandskollegen anteilig Regress für die im Außenverhältnis geleistete Zahlung nehmen (Innenausgleich bzw. Innenregress).2 Allein auf diesen Innenregress zwischen den Gesamtschuldnern, also die Verteilung der wirtschaftlichen Belastung, kann sich eine unternehmensinterne Ressortverteilung auswirken. Dagegen ist im Außenverhältnis jeder Organvertreter, also auch der für Finanzangelegenheiten ansonsten nicht zuständige technische Geschäftsführer, für den Ersatz des gesamten Schadens verantwortlich. Wird der ressortfremde Manager – womöglich, weil er über das größte Privatvermögen verfügt, – vom Insolvenzverwalter erfolgreich in Anspruch genommen, so trägt er das Risiko, anschließend seine Mitgeschäftsführer erfolgreich in Regress zu nehmen. Die Möglichkeit eines solchen Innenregresses sollte immer so früh wie möglich bedacht und vorbereitet werden (Abschn. 13.5).3 Um die interne Haftungsverteilung vorteilhaft für sich zu beeinflussen – also um im Idealfall überhaupt nicht zu haften, – muss der nach der Ressortverteilung nicht zuständige Organvertreter unbedingt seine Überwachungspflicht in Bezug auf den intern tatsächlich zuständigen Geschäftsführer wahrnehmen. Der technische Geschäftsführer muss sich also davon überzeugen, dass der Finanzgeschäftsführer seinen Pflichten in Bezug auf die Krise des Unternehmens ordnungsgemäß nachkommt. Soweit erforderlich muss ein Geschäftsführer bzw. Vorstand seine Kollegen zur Erfüllung der gesetzlichen Pflichten in der Unternehmenskrise also aktiv anhalten. Praktisch wird bei einem intern nicht zuständigen Organvertreter die eigentliche Krisenpflicht also durch eine Pflicht zur Überwachung der Mitgeschäftsführer ersetzt. Eine Verletzung der Überwachungspflicht hat im Ergebnis dieselben Konsequenzen wie eine Verletzung der Krisenpflicht. Damit kann also der technische Geschäftsführer bei mangelhafter Überwachung für eine Pflichtverletzung des Finanzgeschäftsführers einstehen müssen. Eine unternehmensinterne Ressortaufteilung muss – um wirksam zu sein – hohen Anforderungen genügen. Fehlt es hieran, so trifft den ressortfremden Geschäftsführer nicht nur die Pflicht zur Überwachung seiner Mitgeschäftsführer, sondern er ist unmittelbar für die Erfüllung der Krisenpflichten nach außen verantwortlich. Die Frage, ob ein Manager zur eigentlichen Pflichterfüllung oder nur zur Überwachung seiner

2Die

Inanspruchnahme eines Gesamtschuldners im Außenverhältnis und der Innenregress können zeitlich zusammenfallen. 3Siehe auch Abschn.  17.4 zu einer Berücksichtigung des Regresses im Rahmen einer außergerichtlichen Schuldenbereinigung sowie Abschn. 18.2 zur Vermeidung eines Beratungskonfliktes im Zusammenhang mit dem Innenregress.

2.2  Haftung faktischer (Geschäftsführungs-) Organe

9

­ itgeschäftsführer verpflichtet ist, hat damit Auswirkungen auf den VerschuldensvorM wurf und damit letztlich auf die interne Verteilung der Haftung. Nach der Rechtsprechung liegt eine wirksame Ressortverteilung nur dann vor, wenn eine „klare und eindeutige Abgrenzung der Geschäftsführungsaufgaben“ vorliegt, die von sämtlichen Organvertretern getragen wird.4 Im Übrigen muss sichergestellt sein, dass Geschäftsführungsaufgaben durch fachlich und persönlich geeignete Amtsinhaber wahrgenommen werden. Schließlich muss unabhängig von einer Ressortverteilung die Zuständigkeit des Gesamtgremiums für nicht delegierbaren Aufgaben sichergestellt sein. Eine Ressortverteilung muss zwar nicht unbedingt schriftlich festgehalten sein. Für den Fall der Fälle bzw. zu Beweiszwecken ist eine schriftliche Dokumentation der Geschäftsverteilung jedoch in jedem Fall anzuraten. Kann der nach der Ressortverteilung nicht zuständige Organvertreter trotz ordnungsgemäßer Wahrnehmung seiner Überwachungspflicht nicht erreichen, dass seine Mitgeschäftsführer die Krisenpflichten beachten und befolgen, bleibt ihm letzten Endes nur die Niederlegung seines Amtes, um die Entstehung einer persönlichen Haftung zu vermeiden.5

2.2 Haftung faktischer (Geschäftsführungs-) Organe Neben den im Register eingetragenen Geschäftsführern und Vorständen haften auch faktische (Geschäftsführungs-) Organe für die Erfüllung der Krisenpflichten. Faktische Geschäftsführer oder Vorstände sind zwar nicht offiziell als Organe der Gesellschaft bestellt – weil es ihnen eben an der förmlichen Voraussetzung einer Eintragung im Handels- bzw. Genossenschaftsregister fehlt. Sie sind jedoch dadurch gekennzeichnet, dass sie – entweder neben oder anstelle der im Register eingetragenen Unternehmensvertreter – gegenüber Dritten als bzw. wie solche auftreten.6 Dass sie als Konsequenz eines solchen Verhaltens „als Geschäftsführer“ auch wie eingetragene Organvertreter Pflichten zu erfüllen haben und bei deren Verletzung persönlich haften, ist folgerichtig und grundsätzlich anerkannt.7

4Urteil

des Bundesgerichtshofs vom 06.11.2018 – II ZR 11/17. kann die Amtsniederlegung in bestimmten Konstellationen – etwa wenn sie zur Unzeit erfolgt – wieder mit neuen Haftungsrisiken verbunden sein (Abschn. 9.5). 6Im angelsächsischen Sprachraum wird treffend von einem shadow director gesprochen, also einem Manager, der aus dem Schatten heraus tätig wird, statt sich in dem – der Transparenz dienenden – Handelsregister eintragen zu lassen. 7In strafrechtlicher Hinsicht kann eine Verantwortlichkeit faktischer Organe wegen des verfassungsrechtlich verankerten Analogieverbots (Art. 103 Abs. 2 des Grundgesetzes) problematisch sein. Aber auch insoweit drohen faktischen Organen erhebliche Risiken. 5Allerdings

10

2  Adressatenkreis: nicht nur der CFO

2.3 Überwachungspflichten eines Aufsichtsrats oder Beirats Anders als die zur Geschäftsführung berufenen Organvertreter sind die Mitglieder eines Überwachungsorgans (Aufsichtsrat oder Beirat) grundsätzlich keine Adressaten von Krisenpflichten. Jedoch trifft insbesondere die Mitglieder eines Aufsichtsrats eine Überwachungspflicht in Bezug auf Geschäftsführung bzw. Vorstand (Abschn. 2.1). Damit können die Mitglieder des Aufsichtsrats also doch persönlich haftbar werden, wenn sie die zur Geschäftsführung bestellten Organvertreter nicht zur Pflichterfüllung anhalten.8 Hinsichtlich der Überwachungspflicht besteht grundsätzlich kein Unterschied zwischen den Mitgliedern eines obligatorischen (zwingenden) oder eines fakultativen (nicht zwingenden) Aufsichtsrats.9 Im Einzelfall kann es hier jedoch graduelle Unterschiede in Bezug auf den Umfang einer Haftung geben, wenn eine Verletzung der Überwachungspflicht vorliegt (Abschn. 11.13). Keine Regel ohne Ausnahme: unter bestimmten Voraussetzungen können auch Mitglieder des Aufsichtsrats selbst direkte Adressaten einer Krisenpflicht sein. So müssen sich die Aufsichtsratsmitglieder selbst um die Erfüllung der Insolvenzantragspflicht (Kap. 9) kümmern, wenn eine Aktiengesellschaft oder Genossenschaft führungslos ist. Für eine GmbH oder GmbH & Co. KG gilt das jedoch nicht (Abschn. 2.4). Unter dem Begriff der Führungslosigkeit versteht das Gesetz diverse Konstellationen, in denen gesetzlicher Vertreter der Gesellschaft fehlen oder praktisch nicht greifbar sind (Abschn. 9.4). Hat die Gesellschaft einen Beirat, können dessen Mitglieder ebenfalls bei Verletzung einer Überwachungspflicht haftbar werden. Im Fall des Beirats ergibt sich die Überwachungspflicht jedoch – anders als beim Aufsichtsrat – nicht schon aus dem Gesetz. Vielmehr kommt es darauf ab, ob sich eine Überwachungspflicht im Einzelfall aus der Satzung oder Beiratsordnung ableiten lässt.

8Die

Überwachungspflicht des Aufsichtsrats ergibt sich aus gesetzlicher Anordnung, insbesondere aus § 117 des Aktiengesetzes (AktG); im äußersten Fall kann die Wahrnehmung der Überwachungspflicht dazu führen, dass ein Geschäftsführer oder Vorstand, der seine Pflichten nicht wahrnimmt, abberufen werden muss (Abschn. 9.11). 9Von einem fakultativen Aufsichtsrat spricht man immer dann, wenn dieser nicht aufgrund der Gesellschaftsform (vor allem AG und KGaA) oder sonstiger gesetzlicher Anordnung (DrittelBeteiligungsG) vorgeschrieben ist, sondern freiwillig eingerichtet wird, etwa bei einer GmbH auf der Grundlage von § 52 des GmbH-Gesetzes (GmbHG).

2.5  Das Wichtigste in Kürze

11

2.4 Weitere Ausnahme: Insolvenzantragspflicht der GmbH­­ Gesellschafter Im Fall der GmbH sowie GmbH & Co. KG kann eine bestimmte Krisenpflicht sogar ausdrücklich die Gesellschafter, also die Inhaber des Unternehmens, treffen. Ist eine GmbH führungslos (Abschn. 2.3), so obliegt die Insolvenzantragspflicht (Kap. 9) den Gesellschaftern der GmbH, und zwar unabhängig davon, ob die GmbH über einen Aufsichtsrat verfügt. Ist also eine GmbH oder GmbH & Co. KG führungslos, stehen deren Gesellschafter selbst in der Pflicht – und also nicht wie bei der führungslosen Aktiengesellschaft oder Genossenschaft die Mitglieder des Aufsichtsrates (Abschn. 9.4).

2.5 Das Wichtigste in Kürze • Hat ein Unternehmen mehrere Geschäftsführer bzw. Vorstände, so treffen die spezifischen Pflichten und Haftungsrisiken in der Krise nicht nur den intern für Finanzen zuständigen Amtsinhaber, sondern alle Organvertreter. • Die Mitglieder eines mehrköpfigen Leitungsgremiums haften als Gesamtschuldner. • Im Fall einer qualifizierten internen Ressortverteilung kann sich die Verantwortung der nicht für Finanzen zuständigen Organvertreter auf die Überwachung der Mitgeschäftsführer bzw. -vorstände beschränken.

3

Haftung trotz Haftungsbeschränkung?

Die persönliche Haftung von Managern in der Unternehmenskrise steht nur scheinbar im Widerspruch zu dem Grundsatz, wonach bei Kapitalgesellschaften die Haftung für Verbindlichkeiten das Gesellschaftsvermögen begrenzt ist. Vielmehr bestätigt die Möglichkeit einer Haftung von Organvertretern sogar den Grundsatz der beschränkten Haftung des Unternehmens.

3.1 Organhaftung trotz begrenzter Haftung bei Kapitalgesellschaften Die wesentliche Motivation zum Betrieb eines Unternehmens in der Rechtsform einer Kapitalgesellschaft1 (insbesondere GmbH und AG) besteht darin, dass die Haftung solcher Unternehmen kraft Gesetzes auf das Gesellschaftsvermögen begrenzt ist. Entsprechendes gilt für (Personen-) Gesellschaften, bei denen weder unmittelbar noch mittelbar wenigstens eine natürliche Person zum Gesellschafterkreis gehört. Damit ist insbesondere die GmbH & Co KG gemeint – auch hier haftet für Schulden der Gesellschaft im Grundsatz allein das Gesellschaftsvermögen.2 Die Gesellschafter als

1Kapitalgesellschaften

sind juristische Personen; diese sind im Unterschied zu natürlichen Personen (Menschen) rechtliche Gebilde, die aufgrund gesetzlicher Anordnung selbst Träger von Rechten und Pflichten sein können. 2Die weit verbreitete Rechtsform der GmbH & Co. KG ist nach ihrer äußeren Hülle aus steuerlichen Gründen eine Personengesellschaft (Kommanditgesellschaft). Im Verhältnis zu Dritten ist sie dagegen weitgehend den Kapitalgesellschaften angeglichen. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Poertzgen, Haftungsvermeidung in der Unternehmenskrise, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30083-8_3

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14

3  Haftung trotz Haftungsbeschränkung?

wirtschaftliche Inhaber solcher Unternehmen müssen dagegen für Schulden prinzipiell nicht persönlich einstehen.3 Diese beschränkte Haftung für Unternehmensschulden ist ein wesentlicher Unterschied zu den (gesetzestypischen4) Personengesellschaften.5 Diese sind gerade durch eine unbeschränkte persönliche Haftung der Gesellschafter für die Verbindlichkeiten der Gesellschaft gekennzeichnet.6 Bei den Personengesellschaften lehnt sich die Haftung der Gesellschafter an die Verpflichtung der Gesellschaft an, man spricht daher von akzessorischer Haftung der Gesellschafter. Der Grund für das Fehlen einer solchen akzessorischen Gesellschafterhaftung bei den Kapitalgesellschaften liegt darin, dass die Teilnahme eines Unternehmens als Kapitalgesellschaft am Rechtsverkehr nur erfolgen kann, wenn die Gesellschafter das erforderliche Kapital tatsächlich zur Verfügung stellen und in der Folgezeit dann auch in der Gesellschaft belassen (daher der Begriff der Kapitalgesellschaft). Deshalb besteht das Recht der Kapitalgesellschaften aus einem detaillierten System von Vorschriften zum Schutz des Unternehmenskapitals, den Kapitalaufbringungs- und Kapitalerhaltungsregeln. Gerät nun das als Kapitalgesellschaft verfasste Unternehmen in eine Krise, so wirkt es sich für die Gläubiger besonders nachteilig aus, dass die Haftung auf das Gesellschaftsvermögen beschränkt ist. Denn die Krise geht typischerweise damit einher, dass das Gesellschaftsvermögen mit erheblichen Verbindlichkeiten belastet oder zu einem mehr oder weniger großen Teil gar nicht mehr vorhanden ist. Gerade in einer solchen Situation muss man befürchten, dass das verbliebene Vermögen nicht mehr ausreicht, um sämtliche Verbindlichkeiten der Gesellschaft erfüllen zu können. Gegen einen allgemeinen „Verbrauch“ des Stamm- oder Grundkapitals schützen die gesetzlichen Vorschriften zum Kapitalschutz allerdings nicht. Deshalb formuliert das Gesetz zusätzlich bestimmte Handlungs- bzw. Unterlassungsgebote für das Management, die zum Schutz der Gläubiger und gerade wegen des angegriffenen Gesellschaftskapitals bestehen.

3Praktisch

sieht die Situation allerdings gerade im Mittelstand heute anders aus. Hier müssen Gesellschafter kleiner und mittelgroßer Unternehmen im Rahmen der Kreditaufnahme oder der Begründung von Lieferbeziehungen regelmäßig eine persönliche Sicherheit stellen bzw. eine Bürgschaft oder Mithaftung übernehmen. 4Die GmbH & Co. KG ist keine gesetzestypische, sondern eine atypische Personengesellschaft, weil bei ihr die Rolle des einzigen unbeschränkt persönlich haftenden Gesellschafters (Komplementär) von einer GmbH bekleidet wird. Wegen des begrenzten Haftkapitals der GmbH ergibt sich folglich eine faktische Haftungsbegrenzung. 5Gesetzestypische Personengesellschaften sind die Offene Handelsgesellschaft (OHG), die Kommanditgesellschaft (KG) und die Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR), die oft auch als ­BGB-Gesellschaft bezeichnet wird. 6Bei der KG haften allerdings nur der oder die Komplementär(e) unbeschränkt; die Kommanditisten haften nur mit ihrer Einlage.

3.1  Organhaftung trotz begrenzter Haftung bei Kapitalgesellschaften

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Diese Handlungs- und Unterlassungsgebote sind die in diesem Buch thematisierten Pflichten in der Unternehmenskrise, kurz: die Krisenpflichten. Die Krisenpflichten haben ihren Ursprung weder in allgemeinen Grundsätzen, noch lassen sie sich aus natürlichen oder naturrechtlichen Prinzipien ableiten. Vielmehr ergeben sich die Krisenpflichten allein aus Normen, die der Gesetzgeber an bestimmten Stellen des Gesellschafts- und Insolvenzrecht ausdrücklich formuliert hat. Mit anderen Worten: es gibt die Krisenpflichten nur deshalb, weil der Gesetzgeber die Gläubiger von Krisenunternehmen besonders schützen will und deshalb die Krisenpflichten als Teil der Rechtsordnung normiert hat. Die Krisenpflichten umfassen insbesondere die Pflicht zur Beobachtung der Krise (Abschn. 4.2 und 4.3) und zur Information der Gesellschafter bei hälftigem Verlust des Kapitals (Abschn. 4.6). Vertieft sich die Krise dann weiter, wird das Zahlungsverbot relevant, also die Pflicht zur Unterlassung weiterer Zahlungen nach Eintritt von Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung (Kap. 11). Daneben gibt es auch konkrete Zahlungsgebote, die ebenfalls eine Erscheinungsform der Krisenpflichten sind (Abschn. 11.11). Schließlich kann sich im Fall der Fälle die wichtigste und fundamentalste Krisenpflicht ergeben, nämlich die Pflicht, unter bestimmten Voraussetzungen einen Insolvenzantrag stellen zu müssen (Insolvenzantragspflicht, Kap. 9). Zu erfüllen sind die Krisenpflichten grundsätzlich nicht von den Gesellschaftern als den Inhabern des Unternehmens, sondern von den zur Geschäftsführung berufenen Organvertretern. Denn den Geschäftsführern und Vorständen hat das Gesetz die Verantwortung für das Gesellschaftsvermögen übertragen (Abschn. 1.2 und Kap. 2). Daher ist es folgerichtig, wenn sich diese Geschäftsführer und Vorstände in der Unternehmenskrise auch um die Pflichten zum Schutz des Gesellschaftsvermögens und der Gläubigerinteressen kümmern müssen. Selbstverständlich können Geschäftsführer und Vorstände gleichzeitig auch Gesellschafter ihres Unternehmens sein. Zwingend ist eine solche Doppelrolle aber nicht. Das rechtliche Auseinanderfallen von Gesellschafterstellung und Managementfunktion wird als Fremdorganschaft bezeichnet. Fremdorganschaft ist ein Charakteristikum der Kapitalgesellschaften. Bei den Personengesellschaften gilt das Prinzip der Fremdorganschaft nicht, dort müssen die Vertreter der jeweiligen Gesellschaft nach außen zwingend immer auch Gesellschafter sein. Dieser Grundsatz wird als Selbstorganschaft bezeichnet. Die Existenz der Krisenpflichten ist Konsequenz des Fehlens der unbeschränkten persönlichen Haftung wenigstens einer natürlichen Person bei den Kapitalgesellschaften. Haftet nämlich wenigstens ein (menschlicher) Gesellschafter bereits unbeschränkt mit seinem Privatvermögen, so sind die Gläubiger nach der (theoretischen) Vorstellung des Gesetzgebers bereits hinreichend geschützt. Dagegen kann der Schutz der Gläubiger bei den Kapitalgesellschaften und der GmbH & Co. KG nur durch die Anordnung und Beachtung von Krisenpflichten gewährleistet werden.

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3  Haftung trotz Haftungsbeschränkung?

Im Ergebnis bedeuten die Krisenpflichten also keine Durchbrechung, sondern vielmehr eine ausdrückliche Bestätigung des Prinzips der beschränkten Haftung bei den Kapitalgesellschaften.

3.2 Haftung wegen Verhaltens in der Krise Die Krisenpflichten knüpfen fast ausschließlich an ein Verhalten in der eingetretenen Unternehmenskrise an. Es geht es also nicht um die Frage, warum sich das Unternehmen in einer Krise befindet. Die Ursache der Krise ist für die Einschlägigkeit der Krisenpflichten irrelevant. Vielmehr knüpfen die Krisenpflichten ausdrücklich nur an ein (Fehl-) Verhalten in der bereits eingetretenen Unternehmenskrise an. Diese Feststellung ist besonders dann wichtig (und hilfreich), wenn ein Geschäftsführer befürchtet, dass ihm – sei es von Gesellschaftern, Geschäftspartnern oder sonstigen Dritten – die Krise als solche zum Vorwurf gemacht werden könnte. Um die Gründe der Krise geht es bei den Krisenpflichten also nicht, sondern allein darum, dass der Organvertreter nicht durch falsches Verhalten in der Krise das Problem vergrößert und sich zusätzlich noch persönlich einer zivil- und womöglich auch strafrechtlichen Verantwortung aussetzt. Neben der Haftung für Pflichtverletzungen in der eingetretenen Unternehmenskrise kennt das Gesetz allerdings auch vereinzelte Haftungstatbestände, die an ein Fehlverhalten in Bezug auf die Verursachung der Krise anknüpfen.7 Eine entsprechende Insolvenzverursachungshaftung ist jedoch juristisch schwer in den Griff zu bekommen; sie kommt daher praktisch selten vor. Übersicht

Das liegt in erster Linie daran, dass Unternehmenslenkern zu Recht ein ganz erhebliches Maß an Ermessen bei der Auswahl um Umsetzung unternehmerischer Maßnahmen zusteht (business judgment rule).8 Vor diesem Hintergrund kann nur in seltenen Fällen ein justiziabler, also gerichtsfester Vorwurf im Hinblick auf fehlerhafte Unternehmensführung erhoben werden.

7Beispiele

hierfür sind insbesondere die Haftung wegen Existenzvernichtenden Eingriffs oder die Verantwortlichkeit für Zahlungen, welche die Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft zur Folge haben (hierzu Abschn. 11.8). 8Siehe die in § 93 Abs. 1 Satz 2 des Aktiengesetzes (AktG) formulierte Haftungsbegrenzung („Eine Pflichtverletzung liegt nicht vor, wenn das Vorstandsmitglied bei einer unternehmerischen Entscheidung vernünftigerweise annehmen durfte, auf der Grundlage angemessener Information zum Wohle der Gesellschaft zu handeln.“) sowie Abschn. 5.1.

3.3  Das Wichtigste in Kürze

17

Im Übrigen bereitet der Nachweis der Ursachenkette (Kausalität) regelmäßig Probleme, wenn es um die Ursachen einer Krise bzw. Insolvenz geht. Schwierig ist vor allem eine hinreichend zweifelsfreie Beantwortung der Frage, ob denn die Krise bzw. Insolvenz des Unternehmens wirklich primär durch Fehlentscheidungen der Unternehmensleitung verursacht worden ist oder ob sie Folge von Faktoren war, die womöglich von der Geschäftsführung gar nicht zu beherrschen waren (Konjunktureinbruch, Ausfall eines wesentlichen Kunden, technische Probleme bei Zulieferern usw.). Offensichtliche bzw. eindeutige Fälle der Insolvenzverursachungshaftung gibt es kaum. Die spielt insgesamt in der Haftungspraxis keine nennenswerte Rolle und wird daher in den folgenden Kapiteln nicht näher behandelt.9

3.3 Das Wichtigste in Kürze • Die besonderen Pflichten für Geschäftsführer und Vorstandsmitglieder in der Krise (Krisenpflichten) und die damit verbundenen Haftungsrisiken sind eine Begleiterscheinung des Umstandes, dass die Haftung von Kapitalgesellschaften (GmbH, AG) auf das Gesellschaftsvermögen beschränkt ist. Entsprechendes gilt für die GmbH & Co. KG. • Durch die Krisenpflichten soll sichergestellt werden, dass die Interessen der Gläubiger in der eingetretenen Krise nicht (weiter) verletzt werden. Die wichtigsten Krisenpflichten sind die Insolvenzantragspflicht (Kap. 9) und das Zahlungsverbot nach Eintritt der Insolvenzreife (Kap. 11). Warum sich das Unternehmen in einer Krise befindet, spielt hier grundsätzlich keine Rolle. • Die Haftung wegen Verursachung einer Krise (Insolvenzverursachungshaftung) spielt praktisch und juristisch nur eine untergeordnete Rolle.

9Eine

Ausnahme bildet allerdings das Verbot von Zahlungen an Gesellschafter, die zur Illiquidität der Gesellschaft führen mussten (Abschn. 11.8).

4

Prüfung, Beobachtung und Dokumentation

Geschäftsführer und Vorstände müssen kontinuierlich prüfen, ob sich ihr Unternehmen in einer Krise befindet. Im eigenen Interesse sollten Organvertreter die Entwicklung der Krise und die Maßnahmen, die sie zu ihrer Bewältigung ergreifen, sorgfältig dokumentieren.

4.1 Der Anknüpfungspunkt: die Krise Einführung

Es gibt es nicht den „einen“ Begriff der Krise, sondern eine Vielzahl von Krisenbegriffen – weil der Zusammenbruch eines Unternehmens ein höchst vielschichtiges Phänomen ist, das unter verschiedenen Blickwinkeln untersucht werden kann: betriebswirtschaftlich, rechtlich, soziologisch usw.1 Eine juristische Annäherung an den Begriff der Krise beginnt mit der Feststellung, dass die deutsche Rechtsordnung eine Definition der (Unternehmens-) Krise nicht kennt. Vielmehr verwendet das Gesetz an verschiedenen Stellen lediglich kontextspezifische Definitionen bestimmter Krisensymptome wie etwa erfolglose Zwangsvollstreckung oder Vermögenslosigkeit bzw. Kreditunwürdigkeit oder die Umschreibung Verschlechterung der Vermögensverhältnisse.

1In

betriebswirtschaftlicher Hinsicht kann vor allem auf die vom Institut der Wirtschaftsprüfer im IDW S 6 – Standard formulierte Abfolge typischer Krisenstadien verwiesen werden (Abschn. 5.2).

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Poertzgen, Haftungsvermeidung in der Unternehmenskrise, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30083-8_4

19

20

4  Prüfung, Beobachtung und Dokumentation

Die mit Abstand wichtigste Ausprägung dieser kontextspezifischen Krisendefinitionen sind die noch eingehend zu behandelnden Insolvenzgründe (Kap. 6, 7 und 8), die das Anwendungsgebiet des Insolvenzrechts abstecken. Wenigstens ein Insolvenzgrund muss verwirklicht sein, damit der Anwendungsbereich des Insolvenzrechts eröffnet ist. Liegt dagegen (noch) kein Insolvenzgrund vor, ist grundsätzlich auch das Insolvenzrecht nicht anwendbar, auch wenn es im Einzelfall schon Vorwirkungen entfalten kann.2 Die in diesem Buch thematisierten Krisenpflichten knüpfen teilweise – wie etwa die Antragspflicht (Kap. 9) und das Zahlungsverbot (Kap. 11) – ausdrücklich an die Insolvenzgründe an. Es gibt aber auch Krisenpflichten, die zeitlich bereits vor den Insolvenzgründen eingreifen, wie etwa die Pflicht zur Prüfung und Beobachtung der Krise (Abschn. 4.2 und 4.3). Auslöser sind insoweit vorinsolvenzliche Krisensymptome wie etwa Absatz- oder Ertragsprobleme, Finanzierungslücken, Ratingverschlechterungen, Zahlungsschwierigkeiten, Zwangsvollstreckungsversuche etc. Der Begriff der Vermögenslosigkeit definiert dagegen einen juristisch relevanten Krisenbegriff, der zeitlich erst nach dem Insolvenzrecht relevant wird (Abschn. 13.7). Schließlich gibt es mit den Stadien der Masseunzulänglichkeit und Massearmut auch abgestufte Krisenbegriffe innerhalb des Insolvenzverfahrens (Abschn. 13.6).

4.2 Die (Selbst-) Prüfungspflicht Im Rahmen der allgemeinen Geschäftsführungsaufgabe haben Manager regelmäßig zu prüfen, ob sich die eigene Gesellschaft in einer Krise befindet (Selbstprüfung). Wenn das Vorliegen einer Krise zu bejahen ist, muss weiterhin geprüft werden, ob bzw. welche Maßnahmen zu deren Abwendung zu ergreifen sind. Die Prüfung, ob eine Krise vorliegt, ist kontinuierlich und parallel zur sonstigen Geschäftsführung vorzunehmen. Praktisch hängt der für die Prüfung konkret einzuplanende Zeitaufwand entscheidend davon ab, wie wahrscheinlich es ist, dass tatsächlich eine Krise tatsächlich vorliegt. Theoretisch muss sich der Geschäftsführer permanent die Frage stellen, ob seine Gesellschaft womöglich zahlungsunfähig (Kap. 7) und/oder im insolvenzrechtlichen Sinn überschuldet (Kap. 8) ist. Erwirtschaftet das fragliche Unternehmen aber Gewinne und verfügt über hinreichende Liquidität, so ist diese (gedankliche) Prüfung innerhalb von Sekundenbruchteilen zu erledigen. Anders sieht es aus,

2Eine

solche Vorwirkung ist die etwa Haftung wegen Zahlungen, welche die Zahlungsunfähigkeit herbeiführen mussten (Abschn. 11.18).

4.4  Dokumentation der Krise und von Maßnahmen zu ihrer Bewältigung

21

wenn die Lage des Unternehmens nicht so rosig ist. Je kritischer sich die Situation darstellt, desto sorgfältiger und detaillierter müssen die Finanz- und Vermögenssituation der Gesellschaft analysiert werden.

4.3 Die Pflicht zur Beobachtung der Krise Ist einmal eine Krise des Unternehmens erkannt – und das muss keineswegs schon eine insolvenzrechtlich relevante Krise sein, – so muss ihre Entwicklung von den Geschäftsführern bzw. Vorständen fortlaufend beobachtet werden (Krisenbeobachtungspflicht). Diese Krisenbeobachtungspflicht ist nichts anderes als die logische Konsequenz sowohl der Prüfungs- als auch der noch zu behandelnden Sanierungspflicht (Kap. 5). So setzt das Gelingen einer Sanierung bereits praktisch voraus, dass regelmäßig kontrolliert wird, ob mit den ergriffenen Maßnahmen die zuvor festgestellte Krise eingedämmt und idealerweise auch überwunden werden kann.

4.4 Dokumentation der Krise und von Maßnahmen zu ihrer Bewältigung Als Annex zur sowohl zur Prüfungs- und Beobachtungspflicht als auch zur Sanierungspflicht müssen Organvertreter wesentliche Erkenntnisse über den Zustand der Gesellschaft – beispielsweise den hälftigen Verlust des Kapitals (Abschn. 4.6) oder den Eintritt von Zahlungsunfähigkeit (Kap. 7) oder Überschuldung (Kap. 8) – sowie die eingeleiteten Sanierungsschritte in angemessener Form dokumentieren. Eine solche Dokumentation ist zunächst deshalb notwendig, damit sich andere Personen im betroffenen Unternehmen bzw. im Fall eines Wechsels in Geschäftsführung oder Vorstand der jeweilige Nachfolger kurzfristig ein Bild über die Situation verschaffen können. Hier geht es um die Schaffung von Aktenwissen mit dem Ziel der Herstellung von Wissenskontinuität.3 Praktisch noch wichtiger ist die Dokumentation aber im eigenen Interesse des mit der Krise konfrontierten Organvertreters. Sollte sich der Geschäftsführer oder Vorstand später einem Haftungsprozess ausgesetzt sehen, wird eine sorgfältige Dokumentation über die Feststellung der Krise und die zu ihrer Abwendung unternommenen Schritte entscheidend dafür sein, ob der Vorwurf eines pflichtwidrigen bzw. fahrlässigen Verhaltens entkräftet werden kann.

3Die

Mitteilung des Krisenstadiums an Personen außerhalb des Unternehmens sollte grundsätzlich unterbleiben, sofern nicht ausnahmsweise zwingende Offenlegungspflichten oder übergeordnete Interessen in Frage stehen. Insoweit droht Managern eine Haftung wegen Verletzung von Verschwiegenheitspflichten bzw. dem Verrat von Betriebsgeheimnissen (Abschn. 5.4).

22

4  Prüfung, Beobachtung und Dokumentation

In diesem Zusammenhang muss man sich klar machen, dass sich die Frage nach der Haftung für ein bestimmtes Verhalten möglicherweise erst Jahre (!) nach der fraglichen Handlung bzw. Unterlassung stellen kann.4 Dann wird in aller Regel nicht nur die Erinnerung der betroffenen Personen an einzelne Vorfälle deutlich verblasst sein. Vielmehr wird ein in Anspruch genommener Organvertreter auch mit dem (strukturellen) Problem zu kämpfen haben, dass mittlerweile ein Insolvenzverwalter über die damaligen Geschäftsunterlagen verfügt, wohingegen er selbst keinen Zugang mehr zu diesen hat – weil er womöglich längst aus dem Unternehmen ausgeschieden ist. Hinzu kommt, dass sich in Anstellungsverträgen von Geschäftsführern und Vorständen regelmäßig eine Klausel findet, wonach der Organvertreter bei Beendigung seiner Tätigkeit sämtliche unternehmensbezogenen Unternehmensdaten heraus- bzw. zurückgeben und entsprechende Dateien löschen muss. Insoweit besteht ein Konflikt zwischen dem berechtigten Geheimhaltungsinteresse des Unternehmens und dem ebenso berechtigten Interesse des ausgeschiedenen Managers, sich mithilfe der entsprechenden Unterlagen gegen die Inanspruchnahme in einem Haftungsprozess verteidigen zu können. Eine Standardlösung für dieses Problem gibt es nicht. Sofern sich im Einzelfall keine Möglichkeit findet, wonach dem Organvertreter ohne Verstoß gegen die Regelungen des Anstellungsvertrages ein Zugang zu den relevanten Unterlagen erhalten bleibt, muss der in Anspruch genommene Geschäftsführer bzw. Vorstand jedenfalls im Prozess auf dieses Problem hinweisen. Im Einzelfall kann das zulasten des Geschäftsführers bestehende Informationsdefizit dann im Rahmen der Darlegungs- und Beweislast berücksichtigt werden (Abschn. 11.9). Sollte ein Organvertreter allerdings – womöglich unter Verstoß gegen die Regelungen des Anstellungsvertrages – auf Unterlagen bzw. Daten zugreifen können und diese zur erfolgreichen Abwehr von Haftungsansprüchen gegen ihn selbst (und nur dazu!) verwenden, so dürfte ein solches Verhalten unter dem Gesichtspunkt der Wahrnehmung berechtigter Eigeninteressen wahrscheinlich keine gesonderte, zusätzliche Schadensersatzpflicht auslösen. Denn die in Anstellungsverträgen enthaltenen Herausgabe- oder Löschungsklauseln dienen dem Geheimnisschutz sowie zur Absicherung von Wettbewerbsverboten, nicht dagegen der Erschwerung einer Haftungsabwehr zum Nachteil des Organvertreters.5 Nach ihrem Inhalt sollte die anzufertigende Dokumentation so ausführlich wie möglich sein. Insbesondere sollte die Kommunikation mit Banken und sonstigen Geldgebern, desweiteren Gesprächen mit Gesellschaftern, Lieferanten und Kunden in wesentlichen Punkten zumindest als Ergebnisprotokoll erfasst werden. Je intensiver sich die Krise entwickelt, desto mehr Sorgfalt sollte auf die Dokumentation der Krise und die Versuche zu

4Zur

typischen zeitlichen Abfolge Abschn. 13.1 und 13.5. kommt es entscheidend auf die Umstände des Einzelfalls an – in jedem Fall dürfen die hier angestellten Überlegungen nicht als Ratschlag zu einem Verstoß gegen die Herausgabe- bzw. Löschungspflichten verstanden werden.

5Insoweit

4.5  Rechtsfolgen einer Pflichtverletzung

23

ihrer Bewältigung verwendet werden – auch wenn natürlich gerade in dieser Phase die Zeit besonders knapp ist. Hier gilt der Grundsatz „wer schreibt, der bleibt“. Im Übrigen wird man abwarten müssen, ob die zunehmende elektronische Erfassung und Archivierung geschäftlicher Unterlagen den Konflikt zwischen dem Geheimhaltungsinteresse der Gesellschaft und einer Zugriffsmöglichkeit des Organvertreter zu dessen Gunsten beeinflussen wird. Möglicherweise kann künftig durch die Einrichtung elektronischer Datenräume oder Cloud-Lösungen der notwendige Zugang zu relevanten Unterlagen unkompliziert (und legal!) ermöglicht werden. Zumindest als Idee soll an dieser Stelle erwähnt werden, dass eine juristisch „saubere“ Lösung des Problems um den Zugang zu den Geschäftsunterlagen eine bereits im Anstellungsvertrag des Managers zu formulierende Klausel wäre, wonach die Gesellschaft dem Organvertreter auch nachvertraglich Zugang zu den geschäftlichen Unterlagen zu gewähren hat, falls und soweit das zur Verteidigung in einer späteren Auseinandersetzung erforderlich ist. Ob sich eine solche Klausel, die immerhin schon bei Begründung des Anstellungsverhältnisses eine Regelung für eine künftige streitige Auseinandersetzung treffen will, jedoch tatsächlich vereinbaren lässt, hängt vom Einzelfall bzw. dem Verhandlungsgeschick der Parteien ab.

4.5 Rechtsfolgen einer Pflichtverletzung Die Pflichten zur Prüfung des Vorliegens einer Krise und deren Beobachtung sind lediglich „Satelliten“ im Verhältnis sowohl zur Sanierungspflicht (Kap. 5) als auch zu den konkreten Handlungspflichten in der Krise, insbesondere der Insolvenzantragspflicht (Kap. 9) und dem Zahlungsverbot (Kap. 11). Deshalb führt eine Verletzung der Pflicht zur Krisenbeobachtung in aller Regel ebenso wenig wie eine Missachtung der Prüfungspflicht zu einem eigenständigem Haftungsanspruch gegen den Geschäftsführer. Wie die Prüfungspflicht ist die Beobachtungspflicht vielmehr nur der juristische „Steigbügelhalter“ für eine Haftung wegen Verletzung konkreter Krisenpflichten wie etwa der Antragspflicht (Kap. 9). Wer nicht weiß, obwohl er es bei pflichtgemäßem Handeln hätte wissen können bzw. müssen, dass sich seine Gesellschaft in einer Krise bzw. womöglich sogar der Gefahr einer Insolvenz befindet, dem fällt möglicherweise auch ein Fahrlässigkeitsvorwurf dahin gehend zur Last, wenn ein Insolvenzantrag verspätet gestellt wird6 oder im Stadium der Insolvenzreife noch Zahlungen aus dem Gesellschaftsvermögen geleistet werden.7

6Zur Haftung wegen Insolvenzverschleppung Kap. 12; zum subjektiven Tatbestand Abschn. 9.8 und 12.2. 7Zur Haftung wegen verbotener Zahlungen Kap.  11; speziell zum subjektiven Tatbestand Abschn. 11.12.

24

4  Prüfung, Beobachtung und Dokumentation

4.6 Pflicht zur Information der Gesellschafter bei Kapitalverlust Als konkrete Ausprägung der Prüfungs- und Beobachtungspflicht formuliert das Gesetz im Übrigen die Pflicht, wonach die Geschäftsführung bzw. der Vorstand einer Kapitalgesellschaft eine Gesellschafterversammlung einberufen muss, wenn die Hälfte oder mehr des satzungsmäßigen Kapitals der Gesellschaft bereits verloren ist (Einberufungspflicht).8 Die Einberufungspflicht dient der Information der Gesellschafter als den Inhabern des Unternehmens über dessen bedenkliche Situation. Die Gesellschafter sollen die Möglichkeit erhalten, sich im formalisierten Rahmen einer Gesellschafterversammlung über den Zustand der Gesellschaft und eventuell einzuleitende Maßnahmen auszutauschen und die erforderlichen Beschlüsse zu fassen. Die rechtzeitige Erfüllung der Einberufungspflicht setzt die ordnungsgemäße Wahrnehmung der Prüfungs- und Beobachtungspflicht voraus. Eine Verletzung der Einberufungspflicht in der Weise, dass eine Gesellschafterversammlung zu spät oder gar nicht einberufen wird, kann zwar also solche bereits eine Schadensersatzpflicht der Organvertreter auslösen. Praktisch kommt eine (isolierte) Haftung wegen verspäteter oder unterlassener Einberufung einer Gesellschafterversammlung jedoch nicht vor, da es meist zu schwierig ist, den Schaden zu beziffern, der spezifisch aus einer unterbliebenen oder verspäteten Einberufung resultiert. Häufiger wird eine Verletzung der Einberufungspflicht dazu dienen, ein fahrlässiges oder womöglich sogar vorsätzliches Verhalten des betroffenen Organvertreters im Hinblick auf konkret verursachte Schäden bzw. andere Pflichtverstöße zu belegen.9 Die Einberufung einer Gesellschafterversammlung dient schließlich auch einer (untechnischen) Entlastung der Geschäftsführung bzw. des Vorstands gegenüber den Unternehmensinhabern.10 Je eher und detaillierter die Gesellschafter über die Krise ihres Unternehmens informiert sind und als Folge dieser Information Einfluss nehmen können, desto weniger kann der Geschäftsführung oder dem Vorstand ein Vorwurf aus dem Umgang mit der Krise gemacht werden. Wie beim Dokumentationsgebot gilt auch hier: mehr (Information an die Gesellschafter) hilft mehr.

8Siehe

die Regelungen in § 92 Abs. 1 Aktiengesetz (AktG) und § 49 Abs. 3 des GmbH-Gesetzes (GmbHG). 9Zu den entsprechenden Haftungsregelungen siehe Abschn. 5.1. 10Zur Unterscheidung von Fremd- und Selbstorganschaft Abschn. 3.1.

4.7  Das Wichtigste in Kürze

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4.7 Das Wichtigste in Kürze • Geschäftsführer und Vorstände müssen kontinuierlich prüfen, ob sich ihre Gesellschaft in einer Krise befindet. • Befindet sich das Unternehmen in einer Krise, ist – unabhängig von der Pflicht zur Einleitung einer Sanierung – der Verlauf der Krise zu beobachten. • Im eigenen Interesse sollten Manager den Verlauf der Krise und die eingeleiteten Sanierungsmaßnahmen so detailliert wie möglich dokumentieren. • Bei Kapitalgesellschaften wie AG oder GmbH ist bei Verlust der Hälfte (oder mehr) des satzungsmäßigen Kapitals eine Gesellschafterversammlung einzuberufen.

5

Sanierungspflicht

Die Bewältigung einer Unternehmenskrise ist Bestandteil der allgemeinen Managementaufgabe. Der grundsätzlichen Sanierungspflicht gehen allerdings die im Gesetz konkret formulierten Krisenpflichten vor, insbesondere wenn sich die Krise in Richtung einer Insolvenz des Unternehmens verschärft.

5.1 Pflicht zur Förderung des Unternehmenszwecks Die allgemeine Managementaufgabe besteht darin, das Unternehmen zu fördern und den Unternehmenszweck in die Tat, also ein positives Geschäftsergebnis umzusetzen. Die Erfüllung dieser Geschäftsführungsaufgabe hat diverse wirtschaftliche, soziale und rechtliche Gesichtspunkte. Gerade die juristische Facette der Pflicht zur Förderung des Unternehmenszwecks ist jedoch nur eingeschränkt greifbar, da der Unternehmenserfolg immer auch von Faktoren abhängt, die von der Geschäftsführung nicht zu beeinflussen sind. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass das Gesetz zwar auf der einen Seite eine allgemeine Schadensersatzpflicht für Geschäftsführer und Vorstände anordnet, wenn diese ihre Pflichten gegenüber der Gesellschaft verletzen.1 Auf der anderen Seite ist der Gesetzgeber aber richtigerweise auch bemüht, das für die Betroffenen theoretisch uferlose Haftungsrisiko auf ein vertretbares Maß zu begrenzen. So wird zum einen im Rahmen des Haftungsmaßstabs auf die typisierte „Sorgfalt eines ordentlichen und

1Für

die GmbH findet sich diese Schadensersatzregelung in § 43 Abs. 2 des GmbH-Gesetzes (GmbHG), für die AG in § 93 Abs. 2 des Aktiengesetzes (AktG) und für die Genossenschaft in § 34 Abs. 2 des Genossenschaftsgesetzes (GenG).

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Poertzgen, Haftungsvermeidung in der Unternehmenskrise, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30083-8_5

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28

5 Sanierungspflicht

gewissenhaften Geschäftsleiters“ abgestellt.2 Zum anderen unterliegt die Unternehmensführung zu einem guten Teil dem Ermessen der geschäftsführenden Organvertreter, wodurch deren Verantwortlichkeit für Pflichtverletzungen eingeschränkt wird (business judgment rule).3

5.2 Pflicht zur Sanierung des krisenbelasteten Unternehmens Aus der allgemeinen Managementaufgabe leitet sich in der Krise für Geschäftsführer und Vorstände eine grundsätzliche Sanierungspflicht ab.4 Deren Inhalt besteht darin, dass sich die Organvertreter um die Eindämmung und Abwendung der Krise bemühen müssen. Zunächst müssen sie prüfen, ob bzw. welche Sanierungschancen bestehen. Anschließend muss versucht werden, realistische und erfolgversprechende Sanierungsmaßnahmen umzusetzen. Je akuter die Krise ist, desto spezifischer und dringender sind Sanierungsmaßnahmen von der Unternehmensleitung umzusetzen. So unterscheidet beispielsweise das Institut der Wirtschaftsprüfer (IDW) verschiedene Krisenstadien,5 die jeweils unterschiedliche Bewältigungsstrategien erforderlich machen. Als Bestandteil der allgemeinen Geschäftsführungsaufgabe unterliegt auch die Sanierungspflicht dem Ermessen der Geschäftsführung (Abschn. 5.1). Dementsprechend schwierig ist es, Organvertreter wegen eines Fehlverhaltens im Zusammenhang mit der Sanierungspflicht haftbar zu machen.

Fälle, in denen ein Geschäftsführer erfolgreich wegen einer Verletzung der Sanierungspflicht in Anspruch genommen wurde, sind praktisch nicht bekannt. Das hat mehrere Gründe. Gelingt es, die Krise des Unternehmens zu überwinden, stellt sich die Frage nach einer Aufarbeitung des Verhaltens im Rahmen der Krise in aller Regel nicht mehr („wo kein Kläger, da kein Richter“).6 Führt die Krise aber zu einer Insolvenz des Unternehmens, geht es bei einer späteren Inanspruchnahme der

2So

die beispielhafte Formulierung in § 93 Abs. 2 Satz 2 des Aktiengesetzes (AktG). Lehre der business judgement rule ist vom Gesetzgeber heute ausdrücklich anerkannt, siehe etwa § 93 Abs. 1 Satz 2 AktG. 4Zum Begriff der Krise Abschn. 4.1. 5Der IDW-Standard „Anforderungen an Sanierungskonzepte“ (IDW S 6), Stand: Mai 2018 unterscheidet folgende Krisenstadien: Stakeholderkrise/Strategiekrise/Produkt- und Absatzkrise/ Erfolgskrise/Liquiditätskrise. 6Die Situation stellt sich freilich anders dar, wenn die scheinbar überwundene Krise früher oder später zurückkehrt. Dann stellt sich oft die Frage, ob die (erste) Krise wirklich jemals überwunden gewesen ist bzw. ob nicht die Rückkehr der Krise Ausdruck einer Pflichtverletzung der Geschäftsführungsorgane gewesen ist. 3Die

5.3  Abgrenzung zwischen Sanierungspflicht und anderen Krisenpflichten

29

Organvertreter meist um Verletzungen konkreter Krisenpflichten, etwa der Insolvenzantragspflicht (Kap. 9) oder des Zahlungsverbotes (Kap. 11). Diese verdrängen dann praktisch eine eventuelle Verantwortlichkeit wegen Verletzung der Sanierungspflicht.

5.3 Abgrenzung zwischen Sanierungspflicht und anderen Krisenpflichten Übersicht

Das Verhältnis der Sanierungspflicht zu den konkreten Krisenpflichten lässt sich wie folgt beschreiben: die Pflicht zur Bemühung um eine Sanierung des Unternehmens besteht während der gesamten Krisendauer. Parallel zur Sanierungspflicht können einzelne konkrete Krisenpflichten bestehen, etwa die Krisenbeobachtungspflicht (Abschn. 4.3), das Verbot von Zahlungen nach Eintritt der Insolvenzreife (Kap. 11) und äußerstenfalls die Insolvenzantragspflicht (Kap. 9). Praktisch können also gleichzeitig die Sanierungspflicht und konkrete Einzelpflichten zu erfüllen sein. Tatsächlich lassen die konkreten Pflichten aber mit voranschreitender Krise die allgemeine Sanierungspflicht in den Hintergrund treten. Ist die Insolvenzreife der Gesellschaft bereits eingetreten, wird der Geschäftsführer in aller Regel einen entscheidenden Teil seiner Arbeitszeit auf die Beachtung des Zahlungsverbotes (Kap. 11), der Insolvenzantragspflicht (Kap. 9) und gegebenenfalls der Vorbereitung eines Insolvenzverfahrens (Kap. 10) zu verwenden haben. Dann wird schon praktisch nur noch wenig Raum für Überlegungen und Planungen zu einer (langfristigen) Sanierung außerhalb eines Insolvenzverfahrens bleiben. In einer fortgeschrittenen Krise kann die Erfüllung der Sanierungsfrist allenfalls Bemühungen um eine kurzfristige Abwendung der Insolvenz gebieten.7 Eine vergleichsweise trennscharfe Abgrenzung scheint auf den ersten Blick zwischen der Sanierungspflicht und der Insolvenzantragspflicht (Kap. 9) möglich. Die Sanierungspflicht zielt auf die Vermeidung eines Insolvenzverfahrens, wohingegen die Insolvenzantragspflicht – bei Vorliegen entsprechender Voraussetzungen – dessen Einleitung gebietet. Stellt der Organvertreter den Insolvenzantrag verfrüht – also bevor alle Sanierungschancen geprüft und genutzt worden sind – kann das eine Verletzung

7Entsprechenden

Maßnahmen sind vor allem Stundung (Abschn. 7.3), ein vorübergehender Einforderungsverzicht (Abschn.  7.4), Rangrücktritt (Abschn.  8.6) und Patronatserklärung (Abschn. 8.7).

30

5 Sanierungspflicht

der Sanierungspflicht darstellen (Abschn. 9.3). Eine solche Konstellation ist denkbar, weil das Recht zur Stellung eines Insolvenzantrages typischerweise zeitlich vor der Entstehung der Antragspflicht besteht. Im Ergebnis muss der Geschäftsführer also eine äußerst schwierige Punktlandung schaffen: er hat so lange die Sanierung des Unternehmens zu betreiben, bis die Insolvenzantragspflicht die Sanierungspflicht überlagert und die Einleitung eines Insolvenzverfahrens nötig macht. Vorher könnte er zwar aufgrund eines prozessualen Rechts einen Antrag stellen, darf das aber aufgrund der Sanierungspflicht aber noch nicht.8 Bei näherem Hinsehen ist allerdings auch diese Abgrenzung zwischen Sanierungspflicht und Antragspflicht (Kap. 9) keineswegs zwingend. Denn mit einem modernen Verständnis des Insolvenzrechts, das die Restrukturierung und damit Sanierung des Unternehmens als das eigentliche Ziel des Insolvenzverfahrens versteht, kann man selbst die Erfüllung der Antragspflicht – also den Gang zum Insolvenzgericht – als Sanierungsmaßnahme ansehen. Hiernach erfolgt die Sanierung des Unternehmens eben durch das Insolvenzverfahren,9 und der Geschäftsführer leitet durch die Stellung des Insolvenzantrages eben diese Sanierung ein.

5.4 Kommunikation nach außen Ein wichtiger Annex bzw. Bestandteil der Sanierungspflicht ist die Pflicht des Organvertreters, im Hinblick auf die Krise des eigenen Unternehmens gegenüber unternehmensfremden Dritten Stillschweigen zu bewahren. Eine Ausnahme besteht nur insoweit, als die Offenlegung bestimmter Umstände aus zwingenden rechtlichen Gründen oder eben zur Umsetzung der Sanierung erforderlich ist. Eine Verletzung dieser „Stillschweigepflicht“ kann für die betreffenden Geschäftsführer bzw. Vorstände weitreichende zivil- und womöglich auch strafrechtliche Konsequenzen haben. Entsprechende Risiken und Gefahren ergeben sich beispielsweise als Verletzung einer vertraglichen Verschwiegenheitsverpflichtung, als Kreditgefährdung10 oder Geheimnisverrat.11 Schließlich kann eine sorgfaltswidrige

8Das

Problem wird noch verschärft durch Bestrebungen zu einem möglichst optimalen Ausnutzen des Insolvenzgeldzeitraums (Abschn. 9.3 und 13.3). 9Zur Frage, ob die Sanierung des Unternehmens neben der Gläubigerbefriedigung als Ziel des Insolvenzverfahrens anzusehen ist, Abschn. 13.5. 10Kreditgefährdung ist zivilrechtlich als Haftungstatbestand in § 824 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) geregelt und kann auch strafrechtlich als Variante der Verleumdung nach § 187 des Strafgesetzbuchs (StGB) relevant werden. 11Siehe § 203 des Strafgesetzbuchs (StGB) zur Verletzung von Privatgeheimnissen.

5.5  Das Wichtigste in Kürze

31

Kommunikation in der Krise auch einen Fall der Insolvenzverursachungshaftung darstellen, wenn etwa eine unbedachte Äußerung die Krise des eigenen Unternehmens noch verschärft und im schlimmsten Fall eine ansonsten noch abwendbare Insolvenz letztlich doch unausweichlich macht (Abschn. 3.3). Grundsätzlich gilt hier der in vielen juristischen Zusammenhängen zu beherzigende Grundsatz: weniger (Kommunikation) ist mehr, auch wenn selbstverständlich anzuerkennen ist, dass eine sorgfältig abgestimmte, professionelle Kommunikation in der Krise wiederum Teil einer erfolgreichen Sanierungsstrategie sein kann.

5.5 Das Wichtigste in Kürze • Die grundsätzliche (Management-) Aufgabe und Verpflichtung von Geschäftsführern und Vorständen besteht darin, den Unternehmenszweck in ein positives wirtschaftliches Ergebnis umzusetzen. • Ist das Unternehmen in eine Krise geraten, trifft die Organvertreter die Pflicht, Sanierungschancen auszuloten und geeignete Sanierungsmaßnahmen in die Tat umzusetzen. • Konkrete gesetzliche Pflichten wie etwa die Insolvenzantragspflicht (Kap. 9) gehen der (allgemeinen) Sanierungspflicht vor. • Die eigene Krise sollte grundsätzlich nicht Gegenstand der Kommunikation gegenüber externen Dritten sein.

6

Insolvenzgründe im Überblick

Ein Unternehmen ist im juristischen Sinn insolvent, wenn ein Zustand verwirklicht ist, den das Gesetz als „Insolvenzgrund“ bezeichnet. Das deutsche Recht kennt zwei Insolvenzgründe: Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung.

6.1 Der Begriff der Insolvenz im Sinn des Gesetzes Einführung

Für den Zustand, in dem sich ein Unternehmen finanziell in einer Sackgasse oder „am Ende“ befindet, gibt es viele Bezeichnungen. Begriffe wie „Pleite“, „Ruin“ oder „Bankrott“ hören sich heute altmodisch an, werden umgangssprachlich aber immer noch häufig verwendet. Demgegenüber hat der Begriff der Insolvenz trotz seines lateinischen Ursprungs einen modernen Klang. Das hat sich auch der Gesetzgeber zu Nutze gemacht, indem er anlässlich der großen Überarbeitung des Insolvenzrechts die seit dem 19. Jahrhundert verwendeten Begriffe Konkurs bzw. Konkursverfahren Anfang 1999 durch Insolvenz und Insolvenzverfahren ersetzt hat. Hinter solchen Umbenennungen steht immer (auch) der Versuch, dem wirtschaftlichen Zusammenbruch eines Unternehmens das Stigma zu nehmen und den Umgang mit diesem Zustand zu entkrampfen.1 Diese Absicht ist

1Der

in Planung befindliche „präventive Restrukturierungsrahmen“ (Abschn. 10.8) soll vor diesem Hintergrund ohne den Begriff „Insolvenz“ auskommen. Die entsprechenden gesetzlichen Regelungen werden zur Vermeidung einer begrifflichen Vorbelastung wahrscheinlich außerhalb InsO in einem anderen Gesetz (etwa einer „Sanierungsordnung“) angesiedelt. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Poertzgen, Haftungsvermeidung in der Unternehmenskrise, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30083-8_6

33

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6  Insolvenzgründe im Überblick

begrüßenswert, auch wenn die Wirkung einer neuen Begrifflichkeit früher oder später immer auch wieder nachlässt.2 Die sprachliche Bezeichnung des Unternehmenszusammenbruchs ist freilich ein formaler Gesichtspunkt. Deutlich wichtiger ist die inhaltliche Definition der Wirkungen, die in ihrer Gesamtheit das Insolvenzrecht ausmachen.3 Geht es um eine rechtliche Einordnung des Stadiums, das als Insolvenz bezeichnet wird, muss man sich vor Augen führen, dass dieser Zustand nicht aus absoluten oder allgemeingültigen Gegebenheiten abgeleitet werden kann. Vielmehr ist der Zustand der Insolvenz das Ergebnis einer wirtschaftlichen Bewertung, die juristische Folgen mit nicht-juristischen Aspekten verknüpft. Das Ergebnis dieser Verknüpfung wird dann im Rahmen eines gesetzgeberischen Prozesses festgeschrieben – aktuell in Form der seit 1999 geltenden Insolvenzordnung (Abkürzung „InsO“). Diese unterliegt wie jedes gesetzgeberische Handeln regelmäßiger Änderung, Anpassung, Überarbeitung, und im Idealfall: Verbesserung. Denn das Insolvenzrecht ist, stärker als manches andere Rechtsgebiet, Gegenstand ständigen Wandels, etwa in Bezug auf wirtschaftliche und technologische Entwicklungen, Veränderungen des gesellschaftlichen Konsens, internationale Einflüssen sowie viele anderen Faktoren und Einflüsse – etwa aus dem Arbeitsrecht, dem Gesellschaftsrecht, dem Steuerrecht usw. Mit der Vielzahl von Einflussfaktoren auf das Insolvenzrecht korrespondiert der bereits angesprochene Umstand, dass es nicht nur einen, sondern zahlreiche Krisenbegriffe gibt (Abschn. 4.1). Die juristisch relevante Krise, insbesondere die Definition der Insolvenz, ist also nur eine von vielen denkbaren Umschreibungen des wirtschaftlichen Zusammenbruchs. Sie ist aber eben diejenige, die praktisch besonders bedeutsam ist, weil das Gesetz an ihr diverse Pflichten und Haftungsregelungen festmacht. Heute stellt das Gesetz zur Beschreibung des Insolvenzstadiums auf einen Zustand ab, der durch eine tiefe Liquiditäts- und/oder Vermögenskrise gekennzeichnet ist. Diese Krise im rechtlichen Sinn hat definitionsgemäß ein derartiges Ausmaß, dass dem betroffenen Unternehmen ein autonomes Weiterwirtschaften nicht länger gestattet sein soll. In diesem kritischen Zustand besteht für die Gläubiger ein so hohes Risiko eines erheblichen oder sogar kompletten

2Vor diesem Hintergrund wird zum Beispiel die Einführung des Begriffs des Schutzschirmverfahrens (Abschn. 10.4) verständlich, bei dem es sich um nichts anderes als eine bestimmte Form eines Insolvenzeröffnungsverfahrens handelt. Dieser Umstand wird den Beteiligten spätestens dann bewusst, wenn die Arbeitnehmer des betreffenden Unternehmens Insolvenzgeld erhalten sollen. 3Das Insolvenzrecht ist heute in der Insolvenzordnung (InsO) geregelt, daneben aber auch in zahlreichen Vorschriften des Gesellschafts-, Arbeits- und Steuer- und Zivilprozessrecht sowie in rechtsfortbildend durch die Rechtsprechung entwickelten Rechtssätzen, dem Richterrecht.

6.1  Der Begriff der Insolvenz im Sinn des Gesetzes

35

Forderungsausfalls, dass der Schuldner in einem gerichtlich überwachten Verfahren reorganisiert oder sogar abgewickelt werden muss. In zeitlicher Hinsicht knüpfen die rechtlichen Wirkungen der Unternehmenskrise an einem relativ späten Krisenstadium an. Der rechtlich relevante Krisenzustand liegt deutlich hinter dem Beginn der Krise im betriebswirtschaftlichen Sinn. Das hat verfassungsrechtliche Gründe. Denn das Eigentumsrecht der Unternehmensinhaber bzw. das Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb ist ebenso durch das Grundgesetz geschützt wie das Recht der Gläubiger in Bezug auf ihre Forderungen gegen das Unternehmen. Insoweit muss zwischen diesen gleichermaßen von der Verfassung geschützten Rechten ein verhältnismäßiger Ausgleich geschaffen werden. Ein solcher Ausgleich würde nicht erreicht, wenn schon bei ersten Krisenanzeichen das zwingende Instrumentarium des Insolvenzrechts zur Anwendung käme. Die harten juristischen Wirkungen sind verfassungsrechtlich erst dann vertretbar, wenn sie vergleichsweise spät im Verlauf der Krise zur Anwendung kommen.

Das Gesetz kennt zwei Insolvenzgründe – zum einen die Zahlungsunfähigkeit (Kap. 7) und zum anderen die (insolvenzrechtliche) Überschuldung (Kap. 8). Dabei ist der Begriff des Insolvenzgrundes auf den ersten Blick missverständlich. Die Insolvenzgründe beschreiben nicht etwa den Grund (Ursache) für den Zusammenbruch des Unternehmens (Konjunktureinbruch, fehlende Innovationen, Missmanagement etc.). Vielmehr liefern die Insolvenzgründe einen Beurteilungsmaßstab für die Frage, ob die rechtlich relevante Krisenschwelle erreicht ist und das Unternehmen deshalb, sei es zum Zweck der Reorganisation oder der Abwicklung, in ein gerichtlich überwachtes Verfahren – das Insolvenzverfahren – überführt werden muss. Der Begriff des Insolvenzgrundes ist als juristisches „Eintrittstor“ in das Insolvenzverfahren zu verstehen. Erst wenn bzw. nur weil das fragliche Unternehmen im gesetzlich definierten Sinn zahlungsunfähig und/oder überschuldet ist, unterfällt es dem Regime des Insolvenzrechts. Liegt (noch) kein Insolvenzgrund vor, richten sich die Rechtsbeziehungen der Gesellschaft zu ihren Gläubigern weiterhin allein nach dem Bürgerlichen Recht, dem Gesellschafts- und dem Zwangsvollstreckungsrecht. Der Zustand, in dem wenigstens einer der beiden Insolvenzgründe verwirklicht ist, wird auch als materielle Insolvenz oder Insolvenzreife bezeichnet. Erst nachdem ein Insolvenzverfahren beantragt ist, befindet sich die Gesellschaft auch formell in der Insolvenz und heißt ab dann Insolvenzschuldner oder kurz Schuldner. Mit dem Begriff des formellen Insolvenzrechts ist das Insolvenzverfahrensrecht gemeint, also alle Frage, die den Ablauf des Verfahrens betreffen. Dagegen beschreibt das materielle Insolvenzrecht alle Rechtsfragen, die sich um die inhaltlichen Auswirkungen der Insolvenz drehen.

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6  Insolvenzgründe im Überblick

6.2 Die Insolvenzgründe: Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung Im Vorgriff auf die folgenden Kapitel sollen die Insolvenzgründe der Zahlungsunfähigkeit (Kap. 7) und Überschuldung (Kap. 8) hier schon einmal in ihren Grundzügen vorgestellt werden. Die Zahlungsunfähigkeit wird als allgemeiner Insolvenzgrund bezeichnet, weil er sämtliche Teilnehmer des Rechtsverkehrs treffen kann. Theoretisch kann jeder Rechtsträger, unabhängig davon, ob es sich um einen Menschen oder eine juristische Person oder sonstige Gesellschaft handelt, zahlungsunfähig werden.4 Das Vorliegen von Zahlungsunfähigkeit wird im Rahmen eines Liquiditätstests ermittelt. Die Beantwortung der Frage, ob Zahlungsunfähigkeit vorliegt, hängt davon ab, ob der potenzielle Insolvenzschuldner noch über hinreichende liquide Mittel verfügt (Abschn. 7.1). Gesetzlich geregelt ist die Zahlungsunfähigkeit in § 17 der Insolvenzordnung (InsO). Wenn das Gesetz in § 18 InsO von „drohender Zahlungsunfähigkeit“ spricht, so ist damit die zeitliche Vorstufe der tatsächlich eingetretenen Zahlungsunfähigkeit gemeint (Abschn. 7.6). Neben der Zahlungsunfähigkeit formuliert das Gesetz in § 19 InsO einen weiteren Insolvenzgrund, die (insolvenzrechtliche) Überschuldung. Diese ist, zumindest im Ausgangspunkt, als Vermögenstest konzipiert und unterscheidet sich insoweit von der rein liquiditätsbasierten Zahlungsunfähigkeit (Kap. 7).5 Wichtig ist, dass § 19 InsO allein die insolvenzrechtliche Überschuldung regelt, die von der handelsbilanziellen Überschuldung zu unterscheiden ist. Letztere ist kann bei der Erstellung von Jahresabschlüssen relevant werden, ist aber kein gesetzlicher Insolvenzgrund. Sofern es in diesem Buch um die Überschuldung geht, ist damit – sofern nicht anders gekennzeichnet – immer die insolvenzrechtliche und nicht die handelsbilanzielle Überschuldung gemeint (Kap. 8). Anders als der allgemeine Insolvenzgrund der Zahlungsunfähigkeit stellt die insolvenzrechtliche Überschuldung nur für bestimmte Formen von Unternehmen einen Insolvenzgrund dar, nämlich solche, bei denen die Haftung für Verbindlichkeiten auf das Gesellschaftsvermögen beschränkt ist. Man spricht deshalb bei der Überschuldung auch von einem zusätzlichen oder auch „besonderen“ Insolvenzgrund. Umgekehrt gibt es also auch Rechtsträger, die schon definitionsgemäß nicht insolvenzrechtlich überschuldet sein können (Abschn. 8.1). Das gilt insbesondere für

4Zu

den verschiedenen Arten von Rechtsträgern Abschn. 3.1. basiert auch die Überschuldung gemäß § 19 InsO heute im Kern auf einem Liquiditätstest (Abschn. 8.4).

5Tatsächlich

6.3  Das Wichtigste in Kürze

37

natürliche Personen (Menschen): diese können nicht im rechtlichen Sinn überschuldet sein.6 Im Übrigen gibt es zur Überschuldung – anders als in Form der drohenden Zahlungsunfähigkeit (Abschn. 7.6) – auch keine gesetzlich definierte zeitliche Vorstufe.

6.3 Das Wichtigste in Kürze • Das Gesetz definiert das juristische Stadium der Insolvenz in Form der Insolvenzgründe. • Es gibt zwei Insolvenzgründe: Zahlungsunfähigkeit (Kap. 7) und Überschuldung (Kap. 8). • Die im Insolvenzrecht maßgebliche Überschuldung ist von der handelsbilanziellen Überschuldung zu unterscheiden. • Während jeder Teilnehmer des Rechtsverkehrs zahlungsunfähig, also illiquide, werden kann, ist die Überschuldung ein Insolvenzgrund, der nur Unternehmen treffen kann, die bereits nach ihrer Rechtsform nur über eine beschränkte Haftungsmasse verfügen.

6Es

ist also in juristischer Hinsicht doppelt unrichtig, wenn in der Tagespresse manchmal von der „Überschuldung privater Haushalte“ die Rede ist: zum einen, weil ein Haushalt als solcher kein Teilnehmer am Rechtsverkehr ist, und zum anderen, weil die den Haushalt ausmachenden Menschen weder einzeln noch zusammen überschuldet, sondern höchstens individuell zahlungsunfähig (Kap. 7) sein können.

7

Zahlungsunfähigkeit

Die Zahlungsunfähigkeit ist der für alle Unternehmenstypen maßgebliche und im Vergleich zur Überschuldung praktisch wichtigere Insolvenzgrund. Das Vorliegen von Zahlungsunfähigkeit erschließt sich auch dem juristischen Laien mehr oder weniger deutlich.

7.1 Der Insolvenzgrund der (eingetretenen) Zahlungsunfähigkeit Die Zahlungsunfähigkeit ist in § 17 der Insolvenzordnung (InsO) geregelt. Sie ist der allgemeine, also für Unternehmen sämtlicher Rechtsformen maßgebliche Insolvenzgrund. Zahlungsunfähigkeit liegt vor, wenn der Schuldner nicht in der Lage ist, seine fälligen Zahlungspflichten zu erfüllen. Die Fälligkeit der Verbindlichkeiten des Schuldners ist also das entscheidende Kriterium, wenn man prüfen will, ob Zahlungsunfähigkeit vorliegt oder zumindest droht. Ob Zahlungsunfähigkeit vorliegt, ist anhand objektiver Kriterien zu beurteilen. Auf die Frage, ob der Schuldner subjektiv zahlungswillig ist, kommt es grundsätzlich nicht an. Das bedeutet umgekehrt, dass bei bloßer Zahlungsunwilligkeit – also wenn der Schuldner zahlen könnte, eine Zahlung aber (aus welchem Grund auch immer) verweigert, – keine Zahlungsunfähigkeit vorliegt. Das Gesetz formuliert im Zusammenhang mit der Zahlungsunfähigkeit auch eine Vermutungsregelung, wonach die Zahlungseinstellung auf das Vorliegen von Zahlungsunfähigkeit hindeutet.

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Poertzgen, Haftungsvermeidung in der Unternehmenskrise, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30083-8_7

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40

7 Zahlungsunfähigkeit

Auch hier gilt: keine Regel ohne Ausnahme. So ist das äußere Verhalten wichtiger als die innere Einstellung des Zahlungspflichtigen.1 Erfüllt das für Dritte erkennbare Verhalten den Tatbestand der Zahlungseinstellung, so kann sich der Schuldner nicht darauf berufen, er sei lediglich zahlungsunwillig. Das bedeutet praktisch: wer nicht als zahlungsunfähig gelten will, darf sich – wenn er tatsächlich anders kann – auch nicht verhalten, als sei er zahlungsunfähig. Andernfalls besteht das Risiko, dass man tatsächlich im Rechtssinn als zahlungsunfähig gilt. Mit dem Vorliegen von Zahlungsunfähigkeit sind weitreichende juristische und insbesondere haftungsrechtliche Konsequenzen verknüpft. Denn die Zahlungsunfähigkeit löst sowohl die Insolvenzantragspflicht (Kap. 9) als auch das Zahlungsverbot aus (Kap. 11). Die Prüfung, ob Zahlungsunfähigkeit vorliegt, erfolgt im Rahmen eines Liquiditätstests, bei dem auf die fälligen (und überfälligen) Verbindlichkeiten des Unternehmens abzustellen ist. Die Fälligkeit einer Verbindlichkeit richtet sich nach dem allgemeinen Zivilrecht. Nicht bzw. noch nicht fällige Verbindlichkeiten dürfen grundsätzlich unberücksichtigt bleiben. Sie sind allerdings im Rahmen der Prüfung drohender Zahlungsunfähigkeit zu berücksichtigen (Abschn. 7.6). Je näher der Fälligkeitszeitpunkt rückt, desto eher müssen die demnächst fälligen Verbindlichkeiten auch schon im Rahmen der tatsächlichen Zahlungsunfähigkeit berücksichtigt werden. Der vorzunehmende Liquiditätstest besteht aus zwei Elementen, dem Finanzstatus einerseits und einem Finanzplan andererseits. Zunächst erfolgt eine stichtagsbezogene Analyse der aktuellen Liquidität in Form des Finanzstatus. Zusätzlich ist aber auch eine perspektivische Untersuchung der künftigen Liquiditätssituation vorzunehmen, die als Finanzplan bezeichnet wird. Im Rahmen dieses Finanzplans können auch Verbindlichkeiten, die momentan noch nicht fällig sind, jedoch kurzfristig fällig werden, zu berücksichtigen sein. Die zu berücksichtigende Liquidität besteht aus Geldmitteln, also Bargeld, vor allem aber Kontoguthaben und Kreditlinien, soweit diese noch in Anspruch genommen werden können. Daneben können sämtliche Positionen als Liquidität angesetzt werden, die innerhalb von drei Wochen liquidiert und damit in Geld umgesetzt werden können.2 Die Herkunft der Liquidität ist grundsätzlich irrelevant; so kommt es insbesondere nicht darauf an, ob es sich um eigenes (Eigenkapital) oder geliehenes Geld (Fremdkapital) handelt. Gegebenenfalls muss, etwa wenn die Liquidität im Extremfall das Ergebnis eines Banküberfalls ist, berücksichtigt werden, dass die fraglichen Mittel kurzfristig wieder zurückgegeben werden müssen. In diesem Fall besteht offensichtlich eine unmittelbar

1Urteil

des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 12.10.2017 – IX ZR 50/15. Wertpapiere und alle anderen Gegenstände, die kurzfristig und vor allem mit hoher Wahrscheinlichkeit verkauft werden können; als Liquidität gilt dann der aus dem Verkauf zu erwartende Erlös. Im Grundsatz geht es also um (sicher) erzielbare, wenn auch noch nicht tatsächlich erzielte Liquidität.

2Beispiele:

7.1  Der Insolvenzgrund der (eingetretenen) Zahlungsunfähigkeit

41

fällige Verbindlichkeit auf Rückzahlung (!). Ein noch nicht fälliger Rückforderungsanspruch darf dagegen, solange er eben noch nicht fällig ist, unberücksichtigt bleiben. Die Fälligkeit einer Verbindlichkeit ist zwar das zentrale, aber nicht das einzige Kriterium bei der Prüfung von Zahlungsunfähigkeit. So ist es nach der Rechtsprechung zusätzlich erforderlich, dass die Verbindlichkeit auch durch ihren Gläubiger ernsthaft eingefordert wird. Fehlt es an einem solchen ernsthaften Einfordern, darf die Forderung trotz bestehender Fälligkeit bei der Prüfung der Zahlungsunfähigkeit ausnahmsweise außer Betracht bleiben. Insoweit ist allerdings Vorsicht geboten. Denn die Voraussetzungen für die Bejahung eines ernsthaften Einforderns sind gering. Beispielsweise reicht das Versenden einer Rechnung schon aus, damit ein ernsthaftes Einfordern der betreffenden Forderung vorliegt. Der Bundesgerichtshof (BGH) hat in einem Grundsatzurteil aus dem Jahr 2005 wichtige Grundsätze für die Prüfung der Zahlungsunfähigkeit bei Unternehmen formuliert.3 Hiernach muss der Insolvenzgrund der Zahlungsunfähigkeit von einer insolvenzrechtlich unerheblichen Zahlungsstockung abgegrenzt werden. Eine bloße Zahlungsstockung liegt vor, wenn der Zeitraum nicht überschritten wird, den eine kreditwürdige Person benötigt, um sich die benötigten Mittel zu leihen. Dafür gelten nach der Rechtsprechung drei Wochen als ausreichend.4 Liegt dagegen eine innerhalb von drei Wochen nicht zu beseitigende Liquiditätslücke vor, beträgt diese aber weniger als 10 % der fälligen Gesamtverbindlichkeiten des Schuldners, ist regelmäßig (noch) von Zahlungsfähigkeit auszugehen, es sei denn, es ist heute bereits absehbar, dass die Lücke demnächst mehr als 10 % erreichen wird.5 Beträgt schließlich die Liquiditätslücke 10 % oder mehr, ist regelmäßig von Zahlungsunfähigkeit auszugehen, sofern nicht ausnahmsweise mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist, dass die Liquiditätslücke demnächst vollständig oder fast vollständig beseitigt werden wird und den Gläubigern ein Zuwarten nach den besonderen Umständen des Einzelfalls zuzumuten ist.6 Dieses von der Rechtsprechung aufgestellte Vermutungssystem – bis 10 % Unterdeckung spricht Vermutung gegen Zahlungsunfähigkeit, ab 10 % Unterdeckung wird dagegen Zahlungsunfähigkeit vermutet – bürdet dem Organvertreter ein ganz erhebliches Beweisrisiko auf. Das erkennt man vor allem an den hohen Anforderungen, die der BGH für eine Fortsetzung der Geschäftstätigkeit bei einer Unterdeckung von 10 % oder mehr

3Urteil

des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 24.05.2005 – IX ZR 123/04. des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 24.05.2005 – IX ZR 123/04, erster amtlicher Leitsatz. 5Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 24.05.2005 – IX ZR 123/04, zweiter amtlicher Leitsatz. 6Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 24.05.2005 – IX ZR 123/04, dritter amtlicher Leitsatz. 4Urteil

42

7 Zahlungsunfähigkeit

formuliert: hier muss „mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit“ zu erwarten sein, dass die Lücke „demnächst vollständig oder fast vollständig“ ausgeglichen wird und zusätzlich muss den Gläubigern noch „ein Zuwarten nach den besonderen Umständen des Einzelfalls“ zuzumuten sein. Hintergrund

Im Zusammenhang mit der maßgeblichen Frist von bis zu drei Wochen tauchen immer wieder der Begriff der „Passiva II“ und die „Bugwellen-Problematik“ auf. Dabei geht es um folgendes: Die im Rahmen des Finanzstatus am Stichtag vorhandene Liquidität (allgemein bezeichnet als „Aktiva I“7) ist zunächst den am Stichtag fälligen Verbindlichkeiten (sog. „Passiva I“) gegenüberzustellen. Angesichts der perspektivischen Betrachtung im Rahmen des Finanzplans dürfen nun die in den kommenden drei Wochen erwarteten Liquiditätszuflüsse (die „Aktiva II“) berücksichtigt werden, jedoch um den Preis, dass auch die in diesen drei Wochen weiterhin fällig werdenden Verbindlichkeiten (die „Passiva II“) ebenfalls in Ansatz gebracht werden müssen. Das ist unmittelbar einleuchtend: wer Liquiditätszuflüsse berücksichtigt, muss auch weitere Fälligkeiten berücksichtigen – das „Herauspicken von Rosinen“ ist im Rahmen des Liquiditätsrests nicht zulässig. Als Faustformel kann man sich also merken: „Wer A [= Aktiva II] sagt, muss auch P [= Passiva II] sagen“. Über die als solche insolvenzrechtlich irrelevante Zahlungsstockung8 hinaus ist es dem Schuldner also nicht erlaubt, eine „Bugwelle“ fälliger Verbindlichkeiten dauerhaft vor sich herzuschieben. Die Zulässigkeit einer solchen Bugwelle war zeitweilig umstritten, bis der BGH zu Recht gegen die Zulässigkeit der „Bugwelle“ entschieden hat.9 Im Rahmen des Finanzplans sind die Passiva II also in jedem Fall zu berücksichtigen.

Insgesamt besteht also ein hohes Risiko, wenn man trotz einer Unterdeckung von 10 % oder mehr noch von Zahlungsfähigkeit auszugehen will. Deshalb ist dringend davor zu warnen, die Geschäftstätigkeit bei Vorliegen einer nennenswerten Liquiditätslücke „einfach so“ fortzusetzen.

7Die

Begriffe Aktiva und Passiva haben eigentlich im Rahmen eines Liquiditätstests nichts zu suchen. Sie entstammen dem Begriffsspektrum der Überschuldung (Kap. 8). In der insolvenzrechtlichen Praxis hat sich die entsprechende Terminologie aber dennoch auch im Rahmen der Bugwellen-Problematik eingebürgert und soll daher auch hier verwendet werden. 8Siehe oben in diesem Abschnitt zum ersten amtlichen Leitsatz des Urteils des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 24.05.2005 – IX ZR 123/04. 9Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 19.12.2017 – II ZR 88/16.

7.2 Beweislastverteilung

43

Damit ist die Frage aufgeworfen, wie eine solche Unterdeckung bzw. eine eingetretene Zahlungsfähigkeit kurzfristig abgewendet werden kann. So kann eine eingetretene oder drohende Zahlungsunfähigkeit insbesondere durch eine Stundung (Abschn. 7.3) oder einem (gegebenenfalls vorübergehenden) Verzicht auf das ernsthafte Einfordern der Forderung (Abschn. 7.4) geheilt werden. Eine (harte) Patronatserklärung (Abschn. 8.7) beseitigt die Zahlungsunfähigkeit dagegen nicht automatisch, sondern nur dann, wenn das Patronat ausdrücklich auch liquiditätswirksam ausgestaltet ist („Liquiditätspatronat“).10 Auch ein Rangrücktritt (Abschn. 8.6) ist als solcher nicht liquiditätswirksam, es sei denn er ist mit einer Stundung (Abschn. 7.3) oder einem Einforderungsverzicht (Abschn. 7.4) kombiniert. In jedem Fall sollten Geschäftsführer und Vorstandsmitglieder ihre Bemühungen zur Prüfung und gegebenenfalls Stabilisierung bzw. Verbesserung der Liquiditätssituation sorgfältig dokumentieren (Abschn. 4.4). Soweit Gläubiger zu Stundungen (Abschn. 7.3) oder einem (einstweiligen) Einforderungsverzicht (Abschn. 7.4) bereit sind, sollte der Organvertreter der begünstigten Gesellschaft immer auf einer entsprechenden schriftlichen Erklärung (wenigstens durch den Austausch von Emails) bestehen.

7.2 Beweislastverteilung Recht haben und Recht bekommen sind bekanntlich unterschiedliche Dinge. Ob sich (materielles) Recht auch in einem Prozesserfolg niederschlägt, hängt in vielen Fällen letztlich davon ab, welche Partei welche Tatsachen beweisen muss. Das gilt insbesondere auch, wenn es im Rahmen eines Haftpflichtprozesses um die Frage geht, ob eine Zahlungsunfähigkeit vorlegen hat bzw. wer für das Bestehen oder Nichtbestehen einer Illiquidität die Beweislast trägt. Nach der Grundregel der Beweislastverteilung muss derjenige, der sich auf die Zahlungsunfähigkeit beruft, auch deren tatsächliches Vorliegen darlegen und beweisen. Das ist also bei einer gerichtlichen Inanspruchnahme eines Geschäftsführers oder Vorstands wegen eines Haftungstatbestandes, der die Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft voraussetzt,11 in aller Regel der Insolvenzverwalter.

10Die (harte) Patronatserklärung (Abschn. 8.7) ist im Kern ein Instrument zur Abwendung einer (insolvenzrechtlichen) Überschuldung, nicht dagegen zur Beseitigung einer Illiquidität. Damit eine Patronatserklärung zusätzlich zu ihrer Vermögensrelevanz auch Liquiditätswirkung hat, müssen Formulierungen verwendet werden, die es der begünstigten Gesellschaft kurzfristig erlauben, die zugesagten Mittel kurzfristig abrufen zu können (Abschn. 8.7). 11Typischerweise sind das Fälle der Innenhaftung wegen verbotener Zahlungen nach Eintritt der Insolvenzreife (Kap. 11) oder eine Haftung wegen Verletzung der Insolvenzantragspflicht (Kap. 9 und 12).

44

7 Zahlungsunfähigkeit

Allerdings können die Anforderungen an die Darlegungs- und Beweislast des Insolvenzverwalters im Einzelfall abgeschwächt sein. Das führt dann im Ergebnis dazu, dass der Geschäftsführer gegenbeweislich darlegen und beweisen muss, dass im konkreten Fall aus bestimmten Gründen keine Zahlungsunfähigkeit vorlag. Auch Vermutungsregelungen – wie etwa, dass aus einer Einstellung der Zahlungen auf Zahlungsunfähigkeit geschlossen werden kann (Abschn. 7.1), – bedeuten oft eine Belastung des Geschäftsführers. Das gilt entsprechend für einen Prozessvortrag, wonach eine Zahlungsunfähigkeit zunächst vorgelegen, später aber wieder weggefallen ist. Auch insoweit ist der Manager und nicht der Verwalter beweisbelastet. In vielen Fällen kann ein entsprechender Beweis dann nur durch Einholung eines Sachverständigengutachtens geführt werden. Zur Bewältigung der Anforderungen, die sich aus der Notwendigkeit eines detaillierten Vortrags12 und der Beweisführung ergeben, ist letztlich die Verfügbarkeit einer sorgfältigen Dokumentation prozessentscheidend. Hier zeigt sich noch einmal, welche hohe Bedeutung der Zugriffsmöglichkeit auf die relevanten Unterlagen zukommt (Abschn. 4.4).

7.3 Die Stundung als Instrument zur Abwendung der Zahlungsunfähigkeit Da die Fälligkeit einer Forderung wesentlich für eine Berücksichtigung im Rahmen der Liquiditätsprüfung ist (Abschn. 7.1), kann durch eine Stundung eine ansonsten bestehende Zahlungsunfähigkeit kurzfristig abgewendet werden. Eine Stundung ist die vertragliche Vereinbarung eines (späteren) Fälligkeitszeitpunktes. Durch eine Stundung wird, sofern nichts anderes vereinbart ist, auch die weitere Verzinsung der Forderung vorübergehend gehemmt. Auch wenn eine Stundung grundsätzlich formlos wirksam ist – und damit auch mündlich abgeschlossen werden kann, – sollte der Geschäftsführer bzw. Vorstand aus Beweisgründen immer auf einer schriftlichen Stundung bestehen. Lässt sich das nicht erreichen, sollte in jedem Fall zumindest ein Aktenvermerk über den vom Gläubiger gewährten Aufschub angefertigt werden. Für eine Stundung gibt es diverse Formulierungsmöglichkeiten. Ideal ist es, wenn das Wort „Stundung“ verwendet wird, etwa: die Begleichung der Forderung XY ist bis zum (Datum) gestundet. In jedem Fall muss die Erklärung mindestens erkennen lassen, dass die Erklärung die Fälligkeit der Forderung verändern soll, zum Beispiel: die Forderung ist (erst/abweichend von …) am (Datum) fällig.

12Juristen

sprechen von „substantiiertem“ Vortrag.

7.5  (Haftungs-) Relevanz für Organvertreter

45

7.4 (Vorübergehender) Verzicht auf ernsthaftes Einfordern einer Forderung In der Praxis gehen (Profi-) Gläubiger mehr und mehr dazu über, statt einer Stundung (Abschn. 7.3) lediglich einen vorübergehenden Verzicht auf das ernsthafte Einfordern der Forderung zu erklären.13 Für den Gläubiger hat das den Vorteil, dass der Zinslauf während eines solchen Einforderungsverzichts nicht gehemmt wird. Die Forderung verzinst sich also – anders als bei einer Stundung – weiter. Zur Abwendung bzw. Vermeidung der Zahlungsunfähigkeit sind Stundung und Einforderungsverzicht im Ergebnis gleich gut geeignet. Praktisch kann es dem Geschäftsführer oder Vorstand also mehr oder weniger egal sein, ob der Gläubiger eine Stundung oder den Verzicht auf das ernsthafte Einfordern der Forderung erklärt. Wie die Stundung (Abschn. 7.3) unterliegt auch der Einforderungsverzicht keinerlei Formzwang, er kann also auch mündlich erklärt werden. Aus Beweisgründen ist jedoch auch hier dringend dazu zu raten, dass der Einforderungsverzicht schriftlich erklärt oder zumindest bestätigt wird.14 Dies kann etwa in Form einer Formulierung geschehen, wonach der Gläubiger „bis zum Tag Z (widerruflich/unwiderruflich) auf das ernsthafte Einfordern der Forderung XY verzichtet“.

7.5 (Haftungs-) Relevanz für Organvertreter Für Geschäftsführer und Vorstände hat die Frage, ob mit einer Stundung bzw. einem Einforderungsverzicht die Zahlungsunfähigkeit der Gesellschaft beseitigt werden kann, nicht nur Relevanz für die Frage, ob ihr Unternehmen nun insolvent ist oder nicht. Vielmehr geht es hier mindestens ebenso dringend um das für den Organvertreter persönlich bestehende Haftungsrisiko. Denn die Zahlungsunfähigkeit löst kritische Haftungstatbestände aus, insbesondere die Haftung wegen Verletzung der Insolvenzantragspflicht (Kap. 9 und 12) sowie die Innenhaftung wegen verbotener Zahlungen (Kap. 11). Deshalb sollten Geschäftsführer und Vorstände immer auch im eigenen Interesse auf eine Stundung bzw. einen Einforderungsverzicht hinwirken, und zwar auch dann, wenn – aus welchen Gründen auch immer – unklar ist, ob die Gesellschaft tatsächlich bereits zahlungsunfähig ist oder (noch) nicht. Denn wenn eine Stundung bzw. ein Einforderungsverzicht in entsprechender Höhe vorliegt, steht dieser Umstand einer Zahlungsunfähigkeit in jedem Fall entgegen.

13Zum

Merkmal des „(nicht) ernsthaften Einforderns“ einer Forderung Abschn. 7.1. zum Parallelfall der Stundung Abschn. 7.3.

14Siehe

46

7 Zahlungsunfähigkeit

7.6 Die Vorstufe zur Illiquidität: drohende Zahlungsunfähigkeit Die drohende Zahlungsunfähigkeit gemäß § 18 der Insolvenzordnung (InsO) ist kein eigenständiger Insolvenzgrund, sondern eine Vorstufe zur tatsächlich eingetretenen Zahlungsunfähigkeit. Ein Unternehmen droht zahlungsunfähig zu werden, wenn es in der Zukunft voraussichtlich nicht in der Lage sein wird, seine dann bestehenden Zahlungspflichten bei Fälligkeit zu erfüllen. Während der Insolvenzgrund der tatsächlich eingetretenen Zahlungsunfähigkeit auf die aktuell fälligen Verbindlichkeiten abstellt, geht es bei der drohenden Zahlungsunfähigkeit um die erst künftig entstehenden und die künftig fällig werdenden Verbindlichkeiten. Das Vorliegen von lediglich drohender Zahlungsunfähigkeit löst weder die Insolvenzantragspflicht (Kap. 9) noch das Zahlungsverbot (Kap. 11) aus. Die drohende Zahlungsunfähigkeit begründet lediglich ein Recht für die Geschäftsführung, die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens zu beantragen. Wird aber ein Antrag gestellt, obwohl hierzu noch keine Pflicht bestanden hat und obwohl noch aussichtsreiche Sanierungsmöglichkeiten gegeben waren, so kann dies sogar eine Haftung des Organvertreters wegen Verletzung der Sanierungspflicht zur Folge haben (Abschn. 5.2 und 9.3). Die Prüfung, ob eine Gesellschaft drohend zahlungsunfähig ist, besteht ausschließlich in einer Prognose. So ist das Merkmal der „voraussichtlichen Unfähigkeit“ zur Zahlung erfüllt, wenn die Wahrscheinlichkeit des Eintritts einer tatsächlichen Zahlungsunfähigkeit über 50 % liegt, wenn also der Eintritt der Zahlungsunfähigkeit wahrscheinlicher ist als deren Nichteintritt.15 Die Länge des hierbei maßgeblichen Prognosezeitraums ist umstritten. Gut vertretbar dürfte es sein, wenn man den Prognosezeitraum auf zwei Jahre bemisst.16 Das bedeutet praktisch, dass der Geschäftsführer als Ersteller der Prognose versuchen muss, zwei Jahre weit „in die Zukunft“ zu schauen. Zur Vermeidung bzw. Abwendung einer drohenden Zahlungsunfähigkeit stehen dieselben Maßnahmen zur Verfügung wie zur Abwendung der tatsächlich eingetretenen Zahlungsunfähigkeit, vor allem die Stundung (Abschn. 7.3) und ein vorübergehender Verzicht auf das ernsthafte Einfordern einer Forderung (Abschn. 7.4).

15Diese Liquiditätsprognose ist der im Rahmen der Überschuldungsprüfung zu erstellenden Fortführungsprognose sehr ähnlich (Abschn. 8.4). 16Dieser Zweijahreszeitraum entspricht wiederum der Länge des Prognosezeitraums für die Fortführungsprognose im Rahmen der Überschuldungsprüfung (Abschn. 8.4).

7.7  Das Wichtigste in Kürze

47

Hintergrund

Die drohende Zahlungsunfähigkeit ist 1999 ins Gesetz aufgenommen worden. Damals wollte der Gesetzgeber eine frühzeitige Antragstellung ermöglichen, um der seinerzeit großen Anzahl masseloser Insolvenzen (Abschn. 13.6) zu begegnen. Grundsätzlich stehen die Chancen für eine erfolgreiche Sanierung eines Unternehmens im Rahmen eines Insolvenzverfahrens umso besser, je frühzeitiger das Verfahren beantragt wird. Tatsächlich hat die drohende Zahlungsunfähigkeit heute jedoch geringe praktische Bedeutung. Das hat seinen Grund darin, dass die drohende Zahlungsunfähigkeit weitgehende inhaltliche Überschneidungen mit dem Insolvenzgrund der Überschuldung (Kap. 8) aufweist. Möglicherweise gewinnt die drohende Zahlungsunfähigkeit allerdings im Kontext des künftigen präventiven Restrukturierungsrahmens neue Bedeutung. Das wird sich im Jahr 2021 zeigen, wenn die Regelungen der Europäischen Restrukturierungsrichtlinie in nationales Recht umgesetzt sein müssen (Abschn. 10.8).

7.7 Das Wichtigste in Kürze • Zahlungsunfähigkeit ist der im Vergleich zur Überschuldung (Kap. 8) wichtigere Insolvenzgrund. Das Vorliegen bzw. Nichtvorliegen von Zahlungsunfähigkeit ergibt sich als Folge eines Liquiditätstests unmittelbar aus dem Verhältnis zwischen verfügbaren Mitteln und fälligen Verbindlichkeiten. • Im Rahmen der Zahlungsunfähigkeit kommt es auf die zivilrechtlich „fälligen“ Verbindlichkeiten an. Um nicht zahlungsunfähig zu sein, muss ein Unternehmen in der Lage sein, wenigstens 90 % der aktuell fälligen sowie der in den nächsten drei Wochen fällig werdenden Verbindlichkeiten mit der aktuell verfügbaren und der in den kommenden drei Wochen erwartbar eingehenden Liquidität zu bestreiten. • Ist eine Liquiditätsunterdeckung kleiner als 10 %, liegt regelmäßig eine insolvenzrechtlich unerhebliche Zahlungsstockung vor; ist die Unterdeckung dagegen größer als 10 %, liegt wahrscheinlich Zahlungsunfähigkeit vor. Den Geschäftsführer trifft insoweit die Beweislast. • Forderungen, die vom Gläubiger nicht auch „ernsthaft eingefordert“ werden, dürfen im Liquiditätsstatus trotz Fälligkeit unberücksichtigt bleiben. Die Anforderungen an eine Bejahung des ernsthaften Einforderns sind gering. Auch in Bezug auf das Fehlen eines ernsthaften Einforderns ist der Geschäftsführer beweisbelastet. • Die Zahlungsunfähigkeit löst die Insolvenzantragspflicht (Kap. 9) und das Zahlungsverbot (Kap. 11) aus.

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7 Zahlungsunfähigkeit

• Die zeitliche Vorstufe der Zahlungsunfähigkeit bezeichnet das Gesetz als „drohende Zahlungsunfähigkeit“. Diese berechtigt lediglich das Management zur Stellung eines Insolvenzantrages, löst aber keine Verpflichtung zur Antragstellung aus (Abschn. 7.6). • Kurzfristig kann die Zahlungsunfähigkeit durch eine Stundung von Verbindlichkeiten (Abschn. 7.3) oder den (wenigstens vorübergehenden) Verzicht auf das ernsthafte Einfordern einer Forderung (Abschn. 7.4) abgewendet werden. Organvertreter sollten zum Zweck der Beweisbarkeit immer darauf drängen, dass der betreffende Gläubiger eine Stundung oder den Einforderungsverzicht schriftlich erklärt.

8

Überschuldung

Neben der Zahlungsunfähigkeit gibt es die Überschuldung als weiteren Insolvenzgrund. Dieser ist deutlich abstrakter und komplizierter als die Zahlungsunfähigkeit, allerdings auch von geringerer Bedeutung für die Praxis. Dennoch sind auch mit dem Insolvenzgrund der Überschuldung erhebliche Haftungsrisiken verbunden.

8.1 Überschuldung im Insolvenzrecht Die Überschuldung als weiterer Insolvenzgrund ist in § 19 der Insolvenzordnung (InsO) geregelt. Gemeint ist hier ausschließlich die insolvenzrechtliche Überschuldung, die strikt von der handelsbilanziellen Überschuldung zu unterscheiden ist. Die einzige juristische Verbindung zwischen den beiden Überschuldungsbegriffen ergibt sich durch die vom Organvertreter wahrzunehmenden Prüfungspflicht (Abschn. 4.2). Stellt sich nämlich bei Aufstellung des Jahresabschlusses eine (handelsbilanzielle) Überschuldung der Gesellschaft heraus, so muss der Geschäftsführer bzw. Vorstand auch prüfen, ob neben der handelsbilanziellen Überschuldung auch eine insolvenzrechtlich relevante Überschuldung vorliegt. Unterlässt der Organvertreter diese Prüfung, so handelt er ­sorgfaltswidrig.1

1Der wesentliche Unterschied zwischen handelsbilanzieller und insolvenzrechtlicher Überschuldung besteht darin, dass im Rahmen der insolvenzrechtlichen Prüfung stille Reserven und Lasten aufzudecken sind. Die Prüfung der insolvenzrechtlichen Überschuldung soll also das tatsächlich vorhandene Vermögen und die effektiven Verbindlichkeiten erkennen lassen und so abbilden, wie sich Vermögen und Schulden im Rahmen eines Insolvenzverfahrens tatsächlich für die Gläubiger bzw. einen Insolvenzverwalter darstellen.

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Poertzgen, Haftungsvermeidung in der Unternehmenskrise, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30083-8_8

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50

8 Überschuldung

Während die Zahlungsunfähigkeit (Kap. 7) für sämtliche Arten von Unternehmen bzw. Rechtsträgern gilt und damit ein allgemeiner Insolvenzgrund ist (Abschn. 6.2 und 7.1), können im insolvenzrechtlichen Sinn nur bestimmte Gesellschaftsformen überschuldet sein, nämlich juristische Personen sowie sämtliche Personengesellschaften, bei denen keine natürliche Person unbeschränkt für die Schulden der Gesellschaft einstehen muss (Abschn. 6.2). Umgekehrt führt die zumindest mittelbare, unbeschränkte Haftung wenigstens eines (menschlichen) Gesellschafters dazu, dass dieses Unternehmen lediglich den Insolvenzgrund der Zahlungsunfähigkeit verwirklichen kann, nicht jedoch den Insolvenzgrund der Überschuldung.2 Während der Insolvenzgrund der Zahlungsunfähigkeit im Rahmen eines Liquiditätstests ermittelt wird, liegt der Überschuldung – zumindest im Ausgangspunkt – ein Vermögenstest zugrunde (Abschn. 8.3). Anders als im Fall der Zahlungsunfähigkeit (Kap. 7), bei der das Gesetz mit der drohenden Zahlungsunfähigkeit (Abschn. 7.6) eine ausdrücklich definierte Vorstufe der eingetretenen Illiquidität normiert, gibt es eine solche Vorstufe bei der Überschuldung nicht.

8.2 Der insolvenzrechtliche Überschuldungsbegriff bis Oktober 2008 Hintergrund

Um den Begriff der insolvenzrechtlichen Überschuldung in seiner aktuellen Fassung zu verstehen, muss man sich den früher maßgeblichen Überschuldungsbegriff vergegenwärtigen. So kam es bis Oktober 2008 im Rahmen der Überschuldungsprüfung auf eine rechnerische Prüfung an. Dabei wurde die Summe der vorhandenen Schulden (Passiva) dem Wert des noch vorhandenen Vermögens (Aktiva) gegenübergestellt.3 Wie bei einer altmodischen Waage auf dem Wochenmarkt konnte man dann erkennen, auf welcher Seite sich das größere Gewicht befunden hat. Überstiegen die Schulden das Vermögen, so lag Überschuldung vor; überstiegen dagegen die Aktiva die Passiva oder waren die Vermögenswerte wenigstens in der Summe ebenso gewichtig wie die Summe der Verbindlichkeiten, war eine Überschuldung (noch) nicht gegeben.

2Das

Fehlen der unbeschränkten persönlichen Haftung wenigstens einer natürlichen Person ist der tiefere Grund für die Geltung der spezifischen Krisenpflichten (Abschn. 3.1 und 9.2); siehe hierzu auch Abschn. 6.2. 3Anders als bei der Prüfung der Zahlungsunfähigkeit (Abschn. 7.1) kommt es bei der Überschuldung nicht nur auf die fälligen, sondern sämtliche bestehenden Verbindlichkeiten an, auch wenn diese noch nicht fällig sind.

8.3  Der seit Oktober 2008 bis heute maßgebliche …

51

Auch bei der bis Oktober 2008 maßgeblichen Überschuldungsprüfung hatte das Merkmal der Fortführungsprognose (Abschn. 8.4) Bedeutung, allerdings lediglich als Bewertungsmaßstab beim Vergleich von Vermögen und Schulden. Verfügte die Gesellschaft über eine positive Fortführungsprognose, durften Vermögen und Schulden mit Fortführungswerten (going concern) angesetzt werden, sodass eine Überschuldung tendenziell nicht vorlag. War die Fortführungsprognose dagegen negativ, mussten Vermögen und Verbindlichkeiten zu Liquidations- bzw. Zerschlagungswerten angesetzt werden, sodass sich im Grundsatz eher eine Überschuldung ergeben hat.

8.3 Der seit Oktober 2008 bis heute maßgebliche Überschuldungsbegriff Als Folge des spektakulären Zusammenbruchs der US-Investmentbank Lehman Brothers Inc. im September 2008 und der dadurch ausgelösten Verwerfungen an den Finanzmärkten verabschiedete der deutsche Gesetzgeber im Oktober 2008 kurzfristig das Finanzmarktstabilisierungsgesetz. Zu dessen Regelungen gehörte auch eine Änderung des insolvenzrechtlichen Überschuldungsbegriffs. Diese Änderung war zunächst zeitlich befristet gedacht, ist aber zwischenzeitlich „entfristet“ worden und stellt daher heute die langfristig geltende gesetzliche Regelung des insolvenzrechtlichen Überschuldungsbegriffs dar.

Nach der aktuell gültigen Fassung des Überschuldungsbegriffs ist eine positive Fortführungsprognose (Abschn.  8.4) allein ausschlaggebend, um eine Überschuldung verneinen zu können. Die Fortführungsprognose ist heute also nicht länger nur Bewertungskriterium.4 Vielmehr entscheidet die Fortführungsprognose jetzt als einziges und entscheidendes Merkmal über das Vorliegen bzw. Nichtvorliegen einer insolvenzrechtlichen Überschuldung. Ist die Fortführungsprognose positiv,5 liegt schon deshalb keine insolvenzrechtliche Überschuldung vor, selbst wenn die Gesellschaft rechnerisch überschuldet ist. Damit sind die Anforderungen an einen erfolgreichen Nachweis, dass eine Gesellschaft nicht überschuldet ist, also deutlich erleichtert worden.

4So

war es noch nach der früheren Fassung Überschuldungsbegriffs (Abschn. 8.2). Frage, wann die Fortführungsprognose positiv ist, Abschn. 8.4.

5Zur

52

8 Überschuldung

Nichtdestotrotz kann der Nachweis einer nicht bestehenden Überschuldung nach wie vor auch rechnerisch erbracht werden – und damit unabhängig vom Vorliegen einer positiven Fortführungsprognose. Fehlt es also an einer positiven Fortführungsprognose, hat die Gesellschaft aber ein hinreichend großes Vermögen, welches die Verbindlichkeiten übersteigt, liegt eine insolvenzrechtliche Überschuldung ebenfalls nicht vor. Das Fehlen einer positiven Fortführungsprognose deutet zwar regelmäßig auf das Fehlen eines nachhaltigen Geschäftsmodells hin. Auf ein solches kommt es allerdings im Rahmen der Überschuldungsprüfung grundsätzlich nicht an.6 Immerhin geht es hier um die Frage, ob das betreffende Unternehmen unter dem Gesichtspunkt des Gläubigerschutzes vom Markt genommen werden muss. Das ist regelmäßig zu verneinen, wenn das Vermögen der Gesellschaft jedenfalls groß genug ist, um damit auf absehbare Zeit alle Schulden begleichen zu können.7

8.4 Die Fortführungsprognose im Rahmen des Überschuldungsbegriffs Die zentrale Frage ist also, wann von einer positiven Fortführungsprognose gesprochen werden kann. Unabhängig von zahlreichen juristischen Streitfragen in diesem Zusammenhang sollten Geschäftsführer und Vorstände davon ausgehen, dass eine positive Fortführungsprognose nur dann vorliegt, wenn auf Sicht von wenigstens zwei Jahren eine Fortführung der Gesellschaft wahrscheinlicher ist als eine Nichtfortführung. Nichtfortführung bedeutet in diesem Zusammenhang eine Insolvenz der Gesellschaft. Eine positive Fortführungsprognose liegt demnach vor, wenn im Rahmen eines in die Zukunft gerichteten Blicks mit einer wenigstens geringfügig über 50 % liegenden Wahrscheinlichkeit die Gesellschaft die kommenden zwei Jahre ohne Insolvenzereignis überstehen wird.8 Inhaltlich kommt es entscheidend darauf an, ob das Unternehmen im Prognosezeitraum (zwei Jahre) seine Verbindlichkeiten jeweils bei Fälligkeit wird bedienen können. Damit ist die Fortführungsprognose im Kern nichts anderes als wieder eine Liquiditätsprognose – was einigermaßen paradox erscheint, da die Prognose im Ausgangspunkt Teil eines Vermögenstests und eben kein originärer Liquiditätstest ist.

6Hierzu

gibt es auch eine abweichende Meinung, die allerdings abzulehnen ist (Abschn. 8.4). ganz andere Frage ist es natürlich, ob der Betrieb eines Unternehmens ohne positive Fortführungsprognose sinnvoll ist. Hierbei handelt es sich aber primär um eine betriebswirtschaftliche und keine insolvenzrechtliche Frage. Aus insolvenzrechtlicher Perspektive wird es erst kritisch, wenn weder eine positive Fortführungsprognose noch ein die Schulden übersteigendes Vermögen vorliegt. 8Man spricht hier von der in die Zukunft blickenden ex ante–Perspektive im Unterschied zur rückschauenden ex post – Betrachtung. 7Eine

8.4  Die Fortführungsprognose im Rahmen des Überschuldungsbegriffs

53

Indem bei der Fortführungsprognose aber auf die Fähigkeit zur Bedienung von Verbindlichkeiten bei Fälligkeit abgestellt wird, ist die Überschuldungsprüfung letztlich aber doch ein Liquiditätstest, allerdings ein mittelbarer bzw. nachgelagerter Test. Im Ergebnis muss der Geschäftsführer bei der Prüfung, ob Insolvenzreife vorliegt, also einen zweifachen Liquiditätstest absolvieren. Der primäre, offensichtliche Liquiditätstest findet im Rahmen der Prüfung von Zahlungsunfähigkeit statt. Hierzu muss auf Sicht von drei Wochen eine Liquidität von mindestens 90 % des tatsächlichen Bedarfs gewährleistet sein (Abschn. 7.1). In einem zweiten Schritt muss zusätzlich im Rahmen der Überschuldungsprüfung nachgewiesen werden, dass mit Blick in die Zukunft hinreichende Liquidität zur Verfügung stehen wird, damit die Fortführung des Unternehmens für die Dauer von mindestens zwei Jahren (also während des Prognosezeitraums der Überschuldung) mit überwiegender Wahrscheinlichkeit gewährleistet ist. Im Ergebnis ist also praktisch allein die Liquiditätsfrage entscheiden. Sie ist in zweifacher Form der eigentliche Gradmesser für die Beurteilung, ob ein Unternehmen insolvent ist oder nicht. Zur Erstellung der Fortführungsprognose – also zur Beurteilung der Frage, ob die Gesellschaft aus heutiger Sicht die kommenden zwei Jahre ohne Insolvenzereignis überstehen wird – darf der Geschäftsführer bzw. Vorstand alle Gesichtspunkte, Erfahrungswerte und Indizien berücksichtigen, die relevant sind bzw. werden können. Für die Tragfähigkeit und Plausibilität der Prognose kommt es auf den Zeitpunkt ihrer Erstellung an. Insoweit handelt es sich um eine Momentaufnahme, die während der Unternehmenskrise regelmäßig wiederholt bzw. neu angefertigt werden muss (Abschn. 4.2 und 4.3). Als Organvertreter sollte man sich jedoch nach Möglichkeit nie allein auf den Nachweis verlassen, dass die Fortführungsprognose positiv sei. Vielmehr sollte immer versucht werden, das Fehlen einer insolvenzrechtlich relevanten Überschuldung auch mittels eines rechnerischen Überschuldungstests zu belegen, also durch eine zahlenmäßige Gegenüberstellung von Vermögen und Schulden (Abschn. 8.2). Denn im Fall der Fälle kann ein gerichtsfester Nachweis eines Nichtbestehens von Überschuldung meist einfacher mit harten Fakten bzw. Zahlen als mit einer vielfach nur vagen Fortführungsprognose erbracht werden. Nach einer teilweise vertretenen Auffassung soll es im Rahmen der Fortführungsprognose neben der Liquidität auch auf die Tragfähigkeit des Geschäftsmodells ankommen.9 Hiernach wäre die Fortführungsprognose auch eine Ertragsfähigkeitsprognose. Diese Ansicht hat sich jedoch zu Recht nicht durchsetzen können. Denn im Kontext des Insolvenzrechts ist es allein maßgeblich, ob vorhandene und künftige Schulden ausgeglichen werden können oder nicht. Ob darüber hinaus das zur Verfügung stehende Geld mit einem zukunftsträchtigen Geschäftsmodell erwirtschaftet worden ist oder – vereinfacht gesprochen – „nur“ aus einem Lottogewinn stammt, ist

9Amtsgericht

Hamburg, Beschluss vom 02.12.2011 – 67c IN 421/11.

54

8 Überschuldung

i­nsolvenzrechtlich ohne Belang. Richtigerweise kommt es im Rahmen der Fortführungsprognose also allein auf eine Liquiditätsprognose an. Hintergrund

Immer wieder melden sich Stimmen, die für eine Abschaffung des insolvenzrechtlichen Überschuldungsbegriffs plädieren. Dieser sei nicht nur kompliziert und daher verwirrend, sondern wegen seiner tatsächlichen Fixierung auf die Liquiditätssituation auch nicht das, was er zu sein vorgebe – nämlich ein Vermögentest. Es reiche vielmehr aus, wenn die Frage der Insolvenzreife ausschließlich anhand eines (gegebenenfalls mehrstufigen) Liquiditätstests beantwortet werde. Teilweise wird in der juristischen Literatur auch überlegt, zwar die Überschuldung als Insolvenzgrund nicht komplett abzuschaffen, jedoch im Kontext der Antragspflicht (Kap. 9) allein auf Zahlungsunfähigkeit (Kap. 7) abzustellen. Zuletzt sind solche Überlegungen wieder anlässlich der Europäischen Restrukturierungsrichtlinie angestellt worden (Abschn. 10.8). Bis der deutsche Gesetzgeber hier jedoch tatsächlich tätig wird, ist der insolvenzrechtliche Überschuldungsbegriff von der Anwendungspraxis zu berücksichtigen. Da die insolvenzrechtliche Überschuldung ein nachgelagerter Liquiditätstest ist, ergeben sich weitgehende inhaltliche Überschneidungen mit der drohenden Zahlungsunfähigkeit (Abschn. 7.6). Im Verhältnis zum praktisch unübersehbaren Insolvenzgrund der (eingetretenen) Zahlungsunfähigkeit ist die Überschuldung allerdings ein abstrakter und in vielen Fällen nicht direkt zu spürender Insolvenzgrund, der zeitlich in aller Regel vor der Zahlungsunfähigkeit (Kap. 7) verwirklich ist.10 Die Überschuldung als Insolvenzgrund jedoch zu unterschätzen, wäre leichtsinnig – und falsch. Denn mit der Realisierung der Überschuldung sind für Geschäftsführer und Vorstände dieselben persönlichen (zivil- und strafrechtlichen) Haftungsrisiken wie mit der Zahlungsunfähigkeit verbunden (Abschn. 8.8).

8.5 Beweislastverteilung Ähnlich wie bei der Zahlungsunfähigkeit (Abschn. 7.2) hängt der Ausgang eines Haftpflichtprozesses, bei dem es um ein eventuelles Fehlverhalten des Organvertreters im Stadium der Überschuldung geht, oft maßgeblich von der Verteilung der Beweislast ab.

10Eine der drohenden Zahlungsunfähigkeit entsprechende Vorstufe kennt das Gesetz bei der Überschuldung nicht (Abschn. 8.1).

8.6  Abwendung einer Überschuldung durch Rangrücktritt

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Entsprechend allgemeinen Beweisregeln muss derjenige, der sich auf den Eintritt der Überschuldung beruft, auch deren tatsächliches Vorliegen darlegen und beweisen. Das ist bei einer gerichtlichen Inanspruchnahme des Geschäftsführers oder Vorstands wegen eines Haftungstatbestandes, der die Überschuldung voraussetzt,11 typischerweise der Insolvenzverwalter. Da das Vorliegen einer positiven Fortführungsprognose die Überschuldung entfallen lässt (Abschn. 8.3) – und es sich also um eine für den Organvertreter günstige Tatsache handelt, – ist insoweit der Geschäftsführer darlegungs- und beweisbelastet. Der Organvertreter muss also nachweisen, dass zum fraglichen Zeitpunkt eine positive Fortführungsprognose (Abschn. 8.4) bestanden hat, wenn er sich auf das Fehlen einer Überschuldung berufen will. Das gilt sowohl für den Fall, dass der Insolvenzverwalter eine rechnerische Überschuldung (Abschn. 8.3) nachweisen kann, als auch in einer Konstellation, in der das Vorliegen einer positiven Fortführungsprognose (Abschn. 8.4) vom Verwalter bestritten wird. Wird um das Vorliegen einer rechnerischen Überschuldung gestritten, so ist der Verwalter für deren Vorliegen und der Organvertreter „gegenbeweislich“ für deren Nichtvorliegen beweisbelastet. Allerdings kann der Geschäftsführer den Nachweis, dass die Gesellschaft nicht überschuldet ist bzw. war, selbst bei nachgewiesener rechnerischer Überschuldung durch die Darlegung einer positiven Fortführungsprognose erbringen (Abschn. 8.3). Im Übrigen können die Anforderungen an die Darlegungs- und Beweislast des Insolvenzverwalters im Einzelfall wie bei der Zahlungsunfähigkeit abgeschwächt sein (Abschn. 7.2). Auch können Vermutungsregelungen zulasten des Organvertreters eingreifen, die zumindest de facto einer Beweislastumkehr zulasten des Managers nahekommen. Ganz maßgeblich wird der Ausgang eines Haftungsprozesses erfahrungsgemäß wiederum vom Zugang zu Informationen über die finanzielle und wirtschaftliche Situation der Gesellschaft im relevanten Zeitraum abhängen (Abschn. 4.4).

8.6 Abwendung einer Überschuldung durch Rangrücktritt Ein verbreitetes Instrument zu einer kurzfristigen Vermeidung bzw. Abwendung einer insolvenzrechtlichen Überschuldung ist der Rangrücktritt. Synonym mit der Bezeichnung Rangrücktritt wird auch der Begriff der Subordination verwendet. Dementsprechend ist eine Forderung, die mit einem Rangrücktritt versehen ist, subordiniert.

11Typischerweise sind das Fälle der Innenhaftung wegen verbotener Zahlungen (Kap. 11) oder eine Haftung wegen Verletzung der Insolvenzantragspflicht (Kap. 9 und 12).

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8 Überschuldung

Durch einen Rangrücktritt kann eine Überschuldung, nicht jedoch auch eine Zahlungsunfähigkeit (Kap. 7) beseitigt werden.12 Ebenfalls führt ein Rangrücktritt als solcher weder zu einer grundsätzlichen finanziellen Stabilisierung noch zu einer betriebswirtschaftlichen Gesundung der betroffenen Gesellschaft. Es handelt sich vielmehr nur um ein kurzfristiges, vordergründig wirkendes Instrument.13 Gleichermaßen kann ein externer Gläubiger wie ein Gesellschafter, der einen Anspruch gegen seine Gesellschaft hat, einen Rangrücktritt für die jeweilige Forderung erklären. Der von einem Gesellschafter gewährte Rangrücktritt weist allerdings Besonderheiten auf (Abschn. 8.9). Die Erklärung eines Rangrücktritts führt dazu, dass die betroffene(n) Forderung(en) im Überschuldungsstatus nicht berücksichtigt werden müssen. Praktisch kommen die mit einem Rangrücktritt versehenen Forderungen im Rahmen der Überschuldungsprüfung gar mehr nicht vor. Die Konsequenz eines Rangrücktritts besteht also darin, dass die im Überschuldungsstatus auszuweisenden Verbindlichkeiten der Gesellschaft verringert werden kann und auf diese Weise eine (rechnerische) Überschuldung tendenziell vermieden wird. Der Rangrücktritt setzt nicht an der Fortführungsprognose an, sondern strebt eine Verbesserung des Verhältnisses zwischen Aktiva und Passiva im Rahmen der rechnerischen Überschuldungsprüfung an (Abschn. 8.2). Unter der geltenden Fassung des Überschuldungsbegriffs ist zwar eine solche rechnerische Prüfung gar nicht mehr erforderlich (Abschn. 8.3). Wie erläutert kann der Nachweis fehlender Überschuldung aber nach wie vor auch rechnerisch erbracht werden (Abschn. 8.3). Insoweit stärkt die Verringerung der zu berücksichtigenden Verbindlichkeiten mittelbar auch die Fortführungsprognose. Denn der den Rangrücktritt erklärende Gläubiger signalisiert, dass er der Gesellschaft helfen möchte, ihre Insolvenz zu vermeiden bzw. zu überwinden. Die Erklärung eines Rangrücktritts bedeutet keinen Verzicht auf die betreffende Forderung. Ein solcher ist aus steuerlichen Gründen meist gar nicht gewollt.14 Tatsächlich hat der Rangrücktritt keine Auswirkung auf den zivilrechtlichen Bestand

12Allerdings

kann es sinnvoll sein, den Rangrücktritt mit einer Stundung (Abschn. 7.3) oder einem vorübergehenden Einforderungsverzicht (Abschn. 7.4) zu verbinden. 13Das gilt entsprechend für die Patronatserklärung (Abschn. 8.7). Um es bildhaft auszudrücken, handelt es sich bei Rangrücktritt und Patronatserklärung lediglich um kurzfristig lebenserhaltende Maßnahmen, die verhindern, dass der Erkrankte bereits auf dem Weg in die Klinik stirbt. Erst während einer umfassenden medizinischen Behandlung wird sich herausstellen, ob eine nachhaltige Gesundung des Patienten eingetreten kann. 14Ein Verzicht auf die Forderung würde möglicherweise die Schaffung eines außerordentlichen Ertrages bei der der betroffenen Gesellschaft auslösen und damit womöglich eine Steuerschuld begründen. Dann hätte man „mit Zitronen gehandelt“, indem zwar die Verbindlichkeiten zunächst verringert werden, allerdings deswegen auch die Steuerschuld begründet und damit eine neue Verbindlichkeit sowie Liquiditätsbelastung ausgelöst wird.

8.6  Abwendung einer Überschuldung durch Rangrücktritt

57

der Forderung, sondern wirkt sich allein insolvenzrechtlich aus. Die Forderung bleibt bestehen, sie darf jedoch im Rahmen der Überschuldungsprüfung unberücksichtigt bleiben.15 Die gewünschte Wirkung des Rangrücktritts – Verringerung der Passiva im Überschuldungsstatus – hat allerdings nur der rechtsgeschäftlich, also durch Vertrag erklärte Rangrücktritt. Eine Forderung, die bereits aufgrund gesetzlicher Anordnung nachrangig ist,16 muss dennoch im Überschuldungsstatus passiviert werden, solange nicht zusätzlich auch ein vertraglicher Rangrücktritt erklärt wird. Um insolvenzrechtlich wirksam zu sein, reicht heute ein einfacher Rangrücktritt, der sich am Wortlaut von § 19 InsO orientiert.17 Bis Ende Oktober 2008 war dagegen ein qualifizierter Rangrücktritt erforderlich, um eine Forderung im Überschuldungsstatus nicht passivieren zu müssen. Heute ist die Erklärung eines qualifizierten Rangrücktritts nicht mehr erforderlich, um die gewünschte insolvenzrechtliche Wirkung zu erzielen. Allerdings erfüllt ein qualifizierter Rangrücktritt nach wie vor die Anforderungen, die heute an einen einfachen Rangrücktritt gestellt werden. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH) muss der Rangrücktritt neben der eigentlichen Rangrücktrittsformel eine vorinsolvenzliche Durchsetzungssperre aufweisen. Das bedeutet, dass auf eine Forderung, für die der Gläubiger einen Rangrücktritt erklärt hat, bereits im Vorfeld eines Insolvenzantrages keine Zahlungen mehr geleistet werden dürfen. Werden trotz Rangrücktritt Zahlungen auf die Forderung geleistet, so können diese später vom Insolvenzverwalter zurückgefordert werden. Der Gläubiger kann also nach Erklärung eines Rangrücktritts keineswegs sicher sein, dass er erhaltene Zahlungen auf seine Forderung auch langfristig behalten darf.18 Damit stellt sich die Frage, warum ein Gläubiger überhaupt einen Rangrücktritt erklären sollte. Denn die durch den Rangrücktritt für das Unternehmen bewirkte positive Abwendung der Überschuldung geht für den Forderungsinhaber damit einher, dass er sich mit seiner Forderung – bildlich gesprochen – am Ende der Reihe aller Gläubiger, die auf eine Erfüllung ihrer Forderungen warten, anstellt. Je größer die Anzahl der in der

15In vielen Fällen geht die Erklärung eines Rangrücktritts mit einer Vereinbarung zwischen mehreren Gläubigern (inter-creditor agreement oder Forderungsrücktritt) und/ oder einer Darlehensbelassungserklärung einher. Weder der Forderungsrücktritt noch die Darlehensbelassungserklärung haben jedoch insolvenzrechtliche Wirkung; eine solche kommt nur dem Rangrücktritt zu. 16Das gilt insbesondere für Forderungen eines Gesellschafters (Abschn. 8.9). 17Idealerweise leitet man den Wortlaut eines Rangrücktritts unmittelbar aus § 19 Abs. 2 Satz 2 der Insolvenzordnung (InsO) ab. 18Urteil des Bundesgerichtshofs vom 05.03.2015 – IX ZR 133/14; teilweise wird die vorinsolvenzliche Durchsetzungssperre – unrichtig – auch als „qualifizierter“ Rangrücktritt bezeichnet. Wesentlich ist allein, dass aus insolvenzrechtlicher Sicht heute ein einfacher Rangrücktritt ausreicht, sofern dieser mit einer vorinsolvenzlichen Durchsetzungssperre versehen ist.

58

8 Überschuldung

Schlange vor ihm wartenden anderen Gläubiger ist, desto größer ist das Risiko, dass die verbliebenen Mittel des Schuldners nicht ausreichen und er letztlich komplett leer ausgeht. Der sich via Rangrücktritt in der Warteschlange bewusst hinten anstellende Gläubiger nimmt dieses Risiko in Kauf, da er hofft, dass dem Schuldner so über eine Überschuldung hinweggeholfen werden kann. Die Zweckmäßigkeit eines Rangrücktritts hängt also im Einzelfall von der Wahrscheinlichkeit ab, ob trotz des Rangrücktritts ein Insolvenzverfahren stattfinden muss. Ist ein Insolvenzverfahren trotz des Rangrücktritts überwiegend wahrscheinlich, macht die Erklärung eines Rangrücktritts wahrscheinlich eher wenig Sinn. Dagegen wird sich ein Gläubiger, der von einer realen Überlebenschance der Gesellschaft bei Überwindung der Überschuldung ausgeht, womöglich zur Erklärung eines Rangrücktritts bereitfinden, insbesondere wenn er – etwa weil seine Forderung unbesichert ist – davon ausgehen muss, dass er im Fall eines Insolvenzverfahrens einen erheblichen Verlust erleiden würde. Der Rangrücktritt hat grundsätzlich keine Wirkung auf die Liquidität der Gesellschaft. Denn beim Rangrücktritt handelt es sich konzeptionell um ein Instrument ausschließlich zur Verbesserung der Vermögenslage und zur Vermeidung einer Überschuldung. Allerdings kann mit der Erklärung eines Rangrücktritts auch eine die Liquidität der Gesellschaft verbessernde Maßnahme kombiniert werden, etwa in Form einer Stundung (Abschn. 7.3) oder eines vorübergehenden Verzichts auf das ernsthafte Einfordern der Forderung (Abschn. 7.4). So ist es aus Sicht des Geschäftsführers bzw. Vorstands meistens ratsam, anlässlich des Einwerbens eines Rangrücktritts auch eine Stundung oder einen Einforderungsverzicht zu erbitten, damit die Fälligkeit der betroffenen Forderung aufgeschoben und damit auch Haftungsrisiken aus einer drohenden oder bereits eingetretenen Zahlungsunfähigkeit abgewendet werden. Ein Rangrücktritt ist formlos möglich, also auch mündlich. Da ein Rangrücktritt aber über das Bestehen oder Nichtbestehen einer insolvenzrechtlichen Überschuldung entscheidet und daher sehr weitreichende (Haftungs-) Konsequenzen haben kann, sollte der Organvertreter immer auf eine schriftliche Erklärung des Rangrücktritts hinwirken. Hierbei sollten die Forderung, auf welche sich der Rangrücktritt bezieht, sein Umfang (gesamte Forderung oder lediglich ein Teilbetrag bzw. eine flexible Ausgestaltung19) und mögliche Regelungen in Bezug auf Zinslauf, Sicherheiten etc. so detailliert wie möglich beschrieben werden.

19Eine

häufig vorkommende Kombination zwischen flexibler Ausgestaltung und Höchstbetrag lautet verkürzt etwa wie folgt: Gläubiger A erklärt wegen seiner Forderung […] in dem zur Abwendung oder Vermeidung einer Überschuldung des Schuldners B im Sinn von § 19 InsO erforderlichen Umfang, höchstens jedoch in Höhe von EUR […], den Rangrücktritt usw.

8.7  Patronatserklärung als Instrument zur Überschuldungsabwehr

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8.7 Patronatserklärung als Instrument zur Überschuldungsabwehr Neben dem Rangrücktritt (Abschn. 8.6) ist die Patronatserklärung ein wichtiges Instrument zur Abwendung oder Vermeidung der Überschuldung. Auch eine Patronatserklärung kann gleichermaßen von einem Gesellschafter wie einem gesellschaftsfremden Dritten als Patron gegenüber der begünstigten Gesellschaft abgegeben werden. Die Patronatserklärung hat dasselbe Ziel wie der Rangrücktritt, jedoch eine spiegelbildliche Wirkungsweise. Während der Rangrücktritt die Passivseite im Überschuldungsstatus verkleinert (Abschn. 8.6), vergrößert die Patronatserklärung die Aktivseite und schafft auf diese Weise einen Überschuss des Vermögens über die Schulden – mit der Folge, dass wiederum keine (rechnerische) Überschuldung der Gesellschaft (Abschn. 8.2) vorliegt. Von juristischem Interesse sind allerdings ausschließlich harte Patronatserklärungen, bei denen sich der Aussteller wirklich rechtlich verpflichten will. Demgegenüber stellt eine weiche Patronatserklärung eine bloß unverbindliche Absichtserklärung dar, die als solche keine juristische Bedeutung hat. Wichtig für die Formulierung einer Patronatserklärung ist, dass die gewünschte insolvenzrechtliche Wirkung – Vermeidung bzw. Abwendung einer Überschuldung – nur von einer internen Patronatserklärung ausgeht. Diese ist dadurch gekennzeichnet, dass sie von einem Gesellschafter oder ein Dritter unmittelbar gegenüber der in die Krise geratenen Gesellschaft abgegeben wird. Demgegenüber kann die allein gegenüber einem Gläubiger der Gesellschaft abgegebene externe Patronatserklärung nicht zugunsten der Gesellschaft aktiviert werden – sie entfaltet daher keine Wirkung im Hinblick auf die Überschuldung. Eine Patronatserklärung kann vielfältige Erscheinungsformen haben, beispielsweise kann sie als Zusage eines verlorenen Zuschusses ausgestaltet sein. Das bedeutet, dass die zugesagten Mittel der Gesellschaft zum endgültigen Verbleib, also ohne Rückzahlungsverpflichtung, zugewendet werden. Die in der Praxis wohl häufigste Form der Patronatserklärung ist jedoch die Zusage von Mitteln, die lediglich als (subordiniertes20) Darlehen gewährt werden und damit zu einem späteren Zeitpunkt also wieder zurückgezahlt werden müssen.21

20Zur

Bezeichnung Subordination als Synonym für den Begriff des Rangrücktritts Abschn. 8.6. Fall der Ausgestaltung der Patronatserklärung als Zusage eines oder mehrerer Darlehen ist darauf zu achten, dass der einzelne Rückzahlungsanspruch wiederum mit einem Rangrücktritt versehen wird, damit die Patronatserklärung ihren Zweck erreicht (Vergrößerung der Aktiva) und nicht lediglich eine Verlängerung der Überschuldungsbilanz stattfindet. 21Im

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8 Überschuldung

Die Patronatserklärung bedarf keiner besonderen Form, sie kann notfalls sogar mündlich erklärt werden. Wie beim Rangrücktritt (Abschn. 8.6) sollte ein Organvertreter zu Beweiszwecken immer auf eine schriftliche Abfassung der Patronatserklärung hinwirken. Das hat auch den Vorteil, dass typische Details des Patronats wie ein eventueller Höchstbetrag und die zeitliche Ausgestaltung zweifelsfrei – und beweisbar – geregelt werden können. Die Frage der zeitlichen Befristung bzw. Möglichkeit einer Kündigung des Patronats spielt in der Praxis eine große Rolle. Entsprechende Ausstiegsoptionen zugunsten des Patrons sind grundsätzlich möglich. Jedoch ist zu beachten, dass – abhängig von der im Einzelfall verwendeten Formulierung – die Patronatserklärung für den Patron auch nach einer Kündigung bzw. Ablauf einer Befristung noch Nachwirkungen entfalten kann, indem sich der ursprüngliche Anspruch aus dem Patronat in einen bürgschaftsähnlichen Ausgleichsanspruch umwandeln kann. Die Patronatserklärung ist wie der Rangrücktritt ein Instrument zur Überschuldungsabwehr und hat daher im Grundsatz keine Auswirkung auf die Liquidität der Gesellschaft. Ein Patronat beseitigt also nicht auch die Zahlungsunfähigkeit des Unternehmens (Kap. 7). Etwas anderes gilt, wenn die im Rahmen der Patronatserklärung zugesagten Mittel tatsächlich ausgezahlt werden. In diesem Fall tritt natürlich eine positive Liquiditätswirkung zugunsten der begünstigten Gesellschaft ein. Im Einzelfall kann die Patronatserklärung jedoch auch schon vor der Auszahlung mit einer zusätzlichen Liquiditätswirkung ausgestaltet werden. Die Schaffung eines solchen Liquiditätspatronats setzt voraus, dass das Patronat ab dem Moment seiner Erklärung selbst schon als Liquidität gilt. Das ist beispielsweise dann der Fall, wenn etwa die begünstigte Gesellschaft die ihr zugesagten Mittel kurzfristig auf erstes Anfordern (oder nach einem vergleichbaren Mechanismus) abrufen und damit den Zufluss von Liquidität selbstständig herbeiführen kann.

8.8 (Haftungs-) Relevanz für Organvertreter Für Geschäftsführer oder Vorstände entscheidet die Frage, ob mit Rangrücktritt (Abschn. 8.6) und/oder Patronatserklärung (Abschn. 8.7) eine Überschuldung abgewendet werden kann, nicht nur über die materielle Insolvenz ihres Unternehmens. Vielmehr geht es für Organvertreter hier vor allem auch um die Frage, ob für sie selbst ein unmittelbares persönliches Haftungsrisiko besteht: denn die Überschuldung löst – ebenso wie die Zahlungsunfähigkeit (Kap. 7) – die Insolvenzantragspflicht (Kap. 9) und die Innenhaftung wegen verbotener Zahlungen (Kap. 11) aus. Deshalb sollten Organvertreter immer auch im eigenen Interesse auf einen Rangrücktritt bzw. eine Patronatserklärung hinwirken, und zwar auch dann, wenn – aus welchen Gründen auch immer – unklar ist, ob die Gesellschaft bereits überschuldet ist oder (noch) nicht.

8.9 Gesellschafterdarlehen

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8.9 Gesellschafterdarlehen Im Kontext der insolvenzrechtlichen Überschuldung sind auch die in der Praxis häufig vorkommenden Gesellschafterdarlehen anzusprechen. Unter diesen Begriff fallen nicht nur Darlehen im engeren Sinn, sondern sämtliche Forderungen eines Gesellschafters gegen seine Gesellschaft, die einem Darlehen wirtschaftlich entsprechen. Das sind vor allem Forderungen, die der Gesellschafter gegen seine Gesellschaft nicht ebenso konsequent geltend macht, wie man es einem gesellschaftsfremden Gläubiger erwarten würde. Das ist beispielsweise der Fall, wenn eine nicht direkt einbringliche Forderung zunächst „stehengelassen“ wird. Hier stellt sich dann die Frage, ob das Verhalten des Gesellschaftergläubigers einem Vergleich mit dem mutmaßlichen Verhalten eines Drittgläubigers standhält (Drittvergleich). Die insolvenzrechtliche Besonderheit von Gesellschafterdarlehen besteht darin, dass solche Forderungen bereits von Gesetzes wegen mit einem Nachtrang versehen sind. Gesellschafter als Gläubiger müssen sich wegen einer ausdrücklichen Regelung in der Insolvenzordnung automatisch immer hinten in der Warteschlange der Gläubiger anstellen.22 Gesellschafterdarlehen sind aber nicht nur kraft gesetzlicher Anordnung automatisch nachrangig, vielmehr unterliegen Leistungen, die auf eine solche Forderung des Gesellschafters gegen seine Gesellschaft geleistet werden, der Insolvenzanfechtung – als der Möglichkeit einer Rückforderung durch einen Insolvenzverwalter.23 Dem liegt die (richtige) Wertung zugrunde, dass Gesellschafter in Krise und Insolvenz der Gesellschaftern größere Opfer erbringen müssen als externe Gläubiger, weil den Gesellschaftern anders als externen Gläubigern in wirtschaftlich guten Zeiten ja auch der Gewinn der Gesellschaft zusteht. Damit stellt sich die juristische Rangfolge wie folgt dar, wenn verschiedene Gläubiger auf die Erfüllung ihrer Forderungen durch die Gesellschaft warten. Zuerst werden die Forderungen der nicht nachrangigen Gläubiger erfüllt – wobei selbst diese im Insolvenzfall typischerweise keine vollständige, sondern nur eine anteilige Erfüllung ihrer Forderungen erhalten. Danach werden zweitens die nachrangigen Forderungen bedient – für die in aller Regel dann schon keine Haftungsmasse mehr zur Verfügung steht. Innerhalb der Gruppe der nachrangigen Gläubiger werden zunächst die lediglich von Gesetzes wegen nachrangigen Forderungsinhaber bedient, anschließend die Inhaber von Ansprüchen mit vertraglichem Rangrücktritt. Erst nach den nachrangigen Gläubigern

22Diese

Wirkung ergibt sich aus § 39 Abs. 1 Nr. 5 der Insolvenzordnung (InsO); zur Wirkung des Nachrangs Abschn. 8.6. 23Zur Insolvenzanfechtung und den Wechselwirkungen mit der Haftung wegen verbotener Zahlungen siehe Kap. 15.

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8 Überschuldung

würden – wenn dann überhaupt noch Verteilungsmasse vorhanden ist – drittens die Gesellschafter wegen ihrer Forderungen auf Rückzahlung der Einlagen befriedigt. Wichtig ist, dass Gesellschafterdarlehen trotz ihres gesetzlichen Nachrangs zusätzlich mit einem rechtsgeschäftlichen (vertraglichen) Nachrang versehen werden müssen, damit sie im Überschuldungsstatus der Gesellschaft unberücksichtigt bleiben dürfen (Abschn. 8.6). Das bedeutet, dass Gesellschafterdarlehen, die nicht (auch) mit einem vertraglichen Nachrang versehen sind, im Überschuldungsstatus aufgeführt werden müssen und also gegebenenfalls eine Überschuldung der Gesellschaft auslösen (!), obwohl sie bereits aufgrund gesetzlicher Anordnung nachrangig sind. Diese insolvenzrechtliche Besonderheit des Gesellschafterdarlehens gibt dem Geschäftsführer oder Vorstand, der mit seinen Gesellschaftern über die Abwendung bzw. Vermeidung der Überschuldung verhandelt, allerdings ein gutes Argument an die Hand, um die Erklärung auch eines vertraglichen Rangrücktritts zu erwirken: „Der (zusätzliche vertragliche) Rangrücktritt tut juristisch nicht (weiter) weh!“ Denn die Forderung des Gesellschafters ist aufgrund der gesetzlichen Anordnung in der Insolvenz ohnehin nachrangig – und damit wirtschaftlich weitgehend entwertet. Daher kann wenigstens versucht werden, die Überschuldung und damit die Insolvenz der Gesellschaft noch durch einen vertraglichen Rangrücktritt zu beseitigen.24

8.10 Das Wichtigste in Kürze • Überschuldung ist der zweite gesetzliche Insolvenzgrund, der allerdings nur Unternehmen mit beschränkter Haftung treffen kann. Im Vergleich zur Zahlungsunfähigkeit (Kap. 7) ist die Überschuldung abstrakter, schwieriger zu handhaben und deshalb auch umstritten. • Die Überschuldung als Insolvenzgrund ist strikt von der handelsbilanziellen Überschuldung zu unterscheiden. • Seit 2008 liegt eine insolvenzrechtliche Überschuldung bereits dann nicht vor, wenn das krisenbelastete Unternehmen (noch) eine positive Fortführungsprognose hat, selbst wenn das Vermögen des Unternehmens in der Summe kleiner ist als die Summe der Schulden (rechnerische Überschuldung). • Damit von einer positiven Fortführungsprognose gesprochen werden kann, muss eine Fortführung des Unternehmens außerhalb eines Insolvenzverfahrens auf Sicht von zwei Jahren überwiegend wahrscheinlich sein. • Der Inhalt der Fortführungsprognose ist im Kern eine Liquiditätsprognose. Daher ist die Überschulung nur vordergründig als Vermögenstest, tatsächlich handelt es sich

24Die Abwägung des Für und Wider der Erklärung eines vertraglichen Rangrücktritts (Abschn. 8.6) sollte für einen Gesellschafter also tendenziell eher zugunsten eines Rangrücktritts ausfallen.

8.10  Das Wichtigste in Kürze

63

um einen weiteren, im Verhältnis zur Zahlungsunfähigkeit (Kap. 7) nachgelagerten Liquiditätstest. • Auch wenn keine positive Fortführungsprognose vorliegt, besteht keine Überschuldung, wenn das Vermögen des Unternehmens größer ist als die Summe der Verbindlichkeiten. • Die Beweislast für eine positive Fortführungsprognose und/oder eine fehlende rechnerische Überschuldung trifft den Organvertreter. • Die Überschuldung löst ebenso wie die Zahlungsunfähigkeit (Kap. 7) die Insolvenzantragspflicht (Kap. 9) und das Zahlungsverbot (Kap. 11) aus. • Kurzfristig kann die Überschuldung insbesondere durch einen Rangrücktritt (Abschn. 8.6) oder eine Patronatserklärung (Abschn. 8.7) abgewendet werden. Organvertreter sollten zum Zweck der Beweisbarkeit immer darauf drängen, dass ein Rangrücktritt bzw. das Patronat schriftlich erklärt werden. • Gesellschafterdarlehen sind bereits von Gesetzes wegen nachrangig, bedürfen aber trotzdem eines vertraglichen Rangrücktritts, um nicht in der Überschuldungsbilanz passiviert werden zu müssen (Abschn. 8.9).

9

Insolvenzantragspflicht

Die Insolvenzantragspflicht ist die wichtigste Pflicht, die Geschäftsführer und Vorstände in der Unternehmenskrise zu beachten haben. Eine Verletzung der Antragsflicht setzt Manager dem Risiko einer weitreichenden persönlichen Haftung aus, und zwar sowohl zivilrechtlich als auch strafrechtlich.

9.1 Die gesetzliche Regelung Die Insolvenzantragspflicht ist in § 15a der Insolvenzordnung (InsO) formuliert. Nach dieser Vorschrift müssen die zur Geschäftsführung bestellten Organvertreter „ohne schuldhaftes Zögern, spätestens aber drei Wochen nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung“ den Insolvenzantrag stellen.

Das „a“ hinter der Paragraphennummer lässt erkennen, dass diese Regelung erst nachträglich in die Insolvenzordnung aufgenommen werden ist. So ist die Antragspflicht erstmals im November 2008 rechtsformneutral formuliert worden. Seither können auch ausländische Unternehmen, die am inländischen Wirtschaftsverkehr teilnehmen, von der Antragspflicht erfasst werden (Abschn. 9.14).

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Poertzgen, Haftungsvermeidung in der Unternehmenskrise, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30083-8_9

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9 Insolvenzantragspflicht

9.2 Die Insolvenzantragspflicht als juristischer Systembaustein Hintergrund

Die Pflicht, unter bestimmten Voraussetzungen einen Insolvenzantrag zu stellen, besteht nur deshalb, weil der Gesetzgeber eine solche Pflicht ausdrücklich anordnet. Die Antragspflicht ergibt sich – anders als andere grundsätzliche Ordnungsregeln – also nicht schon aus einer natürlichen Anschauung und erst recht nicht aus „gesundem Menschenverstand“ (Abschn. 3.1). Wie alle Krisenpflichten dient die Antragspflicht dem Schutz der Gläubiger von Unternehmen, deren Haftungsmasse beschränkt ist.1 Zwar schützt die Antragspflicht nicht vor dem Eintritt bzw. der Ursache einer Unternehmenskrise. Hat sich die Krise aber einmal realisiert und besteht die Gefahr, dass die verbliebene Vermögensmasse nicht ausreicht, um sämtliche Forderungen zu erfüllen, so soll wenigstens der verbliebene Vermögensrest gesichert werden. Das geschieht, indem dieser Vermögensrest in einem gerichtlich überwachten (Insolvenz-) Verfahren durch eine neutrale Person (den Insolvenzverwalter) im Interesse aller Gläubiger gesichert und gleichmäßig an sie verteilt wird. Damit bewirkt das Insolvenzverfahren den Schutz der Gläubiger, indem es eine weitere Verschlechterung ihrer Befriedigungsaussichten verhindert und die Gläubigergleichbehandlung (Abschn. 15.2) sicherstellt. Der angestrebte Schutz der Gläubiger rechtfertigt es, dass der Geschäftsführung bzw. dem Vorstand die Befugnis zur Verwaltung des Unternehmens im Insolvenzfall entzogen wird. Stattdessen wird diese Befugnis dem Insolvenzverwalter übertragen. Die Insolvenzantragspflicht soll die Rechtzeitigkeit dieser Übertragung im Interesse der Gläubiger sicherstellen. Erklärungsbedürftig ist allerdings, warum Geschäftsführer oder Vorstände persönlich haften müssen, wenn sie die Antragspflicht verletzen. Hierfür gibt es mehrere Gründe. Zum einen will der Gesetzgeber der hohen Bedeutung der Antragspflicht für die Gläubiger Rechnung tragen. Das erkennt man auch daran, dass Organvertreter bei Verletzung der Pflicht nicht nur zivilrechtlich, sondern sogar auch strafrechtlich haftbar werden können. So wichtig ist dem Gesetzgeber die rechtzeitige Einleitung eines Insolvenzverfahrens, dass die Manager mithilfe einer Strafandrohung dazu bewogen werden sollen, den Insolvenzantrag keinesfalls zu spät zu stellen (Abschn. 14.2). Zum anderen ist die Überwachung der Finanz- und Vermögenssituation des Unternehmens eine primäre Aufgabe der Geschäftsführung bzw. des Vorstands.

1Zum

Zusammenhang zwischen Krisenpflichten und beschränkter Haftung (Abschn. 3.1).

9.3  Verhältnis von Antragspflicht zu Antragsrecht

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Deshalb ist es nur konsequent, dass die Beachtung und Erfüllung der Antragspflicht ebenfalls den geschäftsführenden Managern auferlegt wird.2

9.3 Verhältnis von Antragspflicht zu Antragsrecht Wenn sich die Antragspflicht realisiert, besteht regelmäßig seit einiger Zeit schon ein Recht des schuldnerischen Unternehmens bzw. seines Managements, einen Insolvenzantrag zu stellen. Ein aufgrund des Antragsrechts gestellter Antrag erfüllt gleichzeitig eine bestehende Antragspflicht. Allerdings kann auch ein berechtigt gestellter Antrag eine Haftung des Managements auslösen, wenn zu diesem Zeitpunkt noch keine Pflicht zur Antragstellung bestanden hat (Abschn. 5.2 und 5.3). Nach den Regelungen des Gesellschaftsrechts muss sich das Management so lange wie möglich um eine Sanierung des Unternehmens außerhalb eines Insolvenzverfahrens bemühen (Abschn. 5.3).3 Ein Insolvenzantrag darf also nicht „einfach so“ bzw. trotz noch bestehender Sanierungsmöglichkeiten und damit zu früh gestellt werden – selbst wenn eine solche Antragstellung zivilprozessual bereits möglich. Während unter dem Gesichtspunkt der Antragspflicht also eine (zu) frühe Antragstellung unschädlich ist, kann diese gesellschaftsrechtlich problematisch sein. Denn die Sanierungspflicht verbietet eine zu frühe Antragstellung, wohingegen das Insolvenzrecht eine zu späte Antragstellung untersagt (Abschn. 5.3). Das Management muss also eine „Punktlandung“ schaffen und hierfür auch persönlich haften.

Hier stellt sich die Frage, ob dieses Risiko im Hinblick auf die volkswirtschaftlich gewünschte Tätigkeit als Unternehmer bzw. des Managements von Unternehmen im Großen und Ganzen noch verhältnismäßig ist. Solange hier aber nicht der Gesetzgeber tätig wird, ist die Rechtslage hinzunehmen, so wie sie im Moment ist.

Auch wenn primär die Antragspflicht den Zeitpunkt vorgibt, an dem ein Insolvenzantrag gestellt werden muss, ist es in der Praxis ratsam, folgende Faustformel zu berücksichtigen: Muss ein Insolvenzantrag gestellt werden, dann sollte die Antragstellung zeitlich so bald wie möglich nach dem letzten Lohnlauf erfolgen, den das krisenbelastete Unternehmen noch aus eigener Kraft bewältigen kann. Auf diese Weise kann der später

2Die Antragspflicht

ist damit Ausdruck der Fremdorganschaft (Abschn. 3.1). Abschn. 5.3 zu der Sichtweise, wonach die Stellung eines Insolvenzantrags die Erfüllung der Sanierungspflicht ist.

3Siehe

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noch zu behandelnde Insolvenzgeldzeitraum so gut wie möglich zur Sanierung des Unternehmens ausgenutzt werden (Abschn. 10.2 und 13.3).

9.4 Der von der Antragspflicht betroffene Personenkreis Die Insolvenzantragspflicht ist von den im Handelsregister eingetragenen, zur Geschäftsführung des Unternehmens berufenen Organvertreter zu erfüllen. Das sind bei der GmbH deren Geschäftsführer bzw. im Fall der GmbH & Co. KG die Geschäftsführer der Komplementär-GmbH. Bei Aktiengesellschaften, Genossenschaften und eingetragenen Vereinen trifft die Antragspflicht die Mitglieder des Vorstands. Bei Unternehmen, die nach ausländischem Recht verfasst sind, werden die jeweiligen Vertretungsorgane der Trägergesellschaft antragspflichtig. Besteht die Geschäftsführung bzw. der Vorstand aus mehreren Personen, unterliegt jeder von ihnen der Antragspflicht (Abschn. 2.1). Die Erfüllung der Pflicht durch einen Organvertreter entlastet jedoch automatisch auch die anderen Manager (Abschn. 9.9). Praktisch sollten Mitglieder eines mehrköpfigen Gremiums einen Insolvenzantrag aber immer gemeinsam stellen (Abschn. 9.9 und 10.1). Neben den tatsächlich im Register eingetragenen Geschäftsführungsorganen haften auch faktische Organvertreter für die Erfüllung der Antragspflicht (Abschn. 2.1). Die Rechtsprechung will faktische Geschäftsführung grundsätzlich verhindern und belegt solche quasi-Organvertreter daher zu Recht mit dem Risiko einer persönlichen Haftung.4 Wenn stellvertretende Vorstände oder Geschäftsführer im Register eingetragen sind, unterliegen sie ebenfalls der Antragspflicht. Sind sie nicht eingetragen, wird man prüfen müssen, ob sie als faktische Organvertreter dennoch zum Kreis der potenziell antragspflichtigen Personen gehören (Abschn. 2.2). Manager der zweiten Führungsebene – Prokuristen, Direktoren, Leiter von Geschäftsbereichen etc. – sind grundsätzlich keine Adressaten der Antragspflicht. Eine Ausnahme besteht wiederum nur dann, wenn solche Manager als faktische Organvertreter anzusehen sind. Die aufgrund eines Gesellschaftsbeschlusses bestellten Liquidatoren sind ebenfalls Adressaten der Insolvenzantragspflicht.5 Für das Eingreifen der Antragspflicht macht es keinen Unterschied, ob die Insolvenz des Unternehmens im Rahmen der werbenden Teilnahme am Rechtsverkehr eintritt oder ob sie sich im Rahmen einer freiwilligen

4Problematisch

ist allerdings unter dem Gesichtspunkt des verfassungsrechtlich verankerten Analogieverbots (Art. 103 Abs. 2 des Grundgesetzes), dass faktische Organvertreter auch strafrechtlich wie eingetragene Geschäftsführer oder Vorstände für die Einhaltung der Antragspflicht verantwortlich sein sollen. Denn eine Person, die „wie“ ein Geschäftsführer handelt, ist dennoch kein im Register eingetragener Organvertreter (Abschn. 14.2). 5Das gilt entsprechend für faktische Liquidatoren.

9.5  Auswirkung von Abberufung und Niederlegung des Organamtes

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Abwicklung ergibt. Praktisch heißt das, dass man sich der Antragspflicht nicht durch einen Liquidationsbeschluss „entledigen“ kann. Ausnahmsweise sind bei Führungslosigkeit einer GmbH, also wenn gesetzliche Vertreter fehlen oder praktisch nicht greifbar sind (Abschn. 2.3), auch die Gesellschafter zur Erfüllung der Antragspflicht verpflichtet. Ist eine Aktiengesellschaft oder Genossenschaft führungslos, trifft die Antragspflicht ausnahmsweise die Mitglieder des Aufsichtsrates (Abschn. 2.3). Einzelkaufmännisch verfasste Unternehmen (Rechtsform des eingetragenen Kaufmanns, „e. K.“) unterliegen keiner Antragspflicht, da ihr Inhaber ohnehin voll für Verbindlichkeiten haften muss. Allenfalls kann dem Kaufmann die Erteilung der Restschuldbefreiung (Abschn. 17.3) versagt werden, wenn er – obwohl keine Antragspflicht besteht – einen Insolvenzantrag über sein Vermögen schuldhaft verzögert.6 Das gilt entsprechend auch für nicht-unternehmerisch tätige natürliche Personen.

9.5 Auswirkung von Abberufung und Niederlegung des Organamtes Wird ein antragspflichtiger Manager aus seinem Amt abberufen, endet mit der Abberufung auch seine Antragsverpflichtung. Lag in diesem Zeitpunkt bereits eine Verletzung der Antragspflicht vor, bleibt der abberufene Organvertreter insoweit verantwortlich – jedoch nur für die Zeit bis zu seiner Abberufung. Auf die Geschicke der Gesellschaft hat er ab der Abberufung keinen Einfluss mehr und ist deshalb für die Folgezeit auch nicht mehr verantwortlich. Nach der Abberufung sind die verbleibenden Mitglieder des Geschäftsführungsgremiums verpflichtet, sich um die Erfüllung der Antragspflicht zu kümmern. Tritt mit der Abberufung Führungslosigkeit ein, so trifft die Antragspflicht wiederum die Gesellschafter (einer GmbH) oder Aufsichtsratsmitglieder (bei AG, Genossenschaft oder Verein – Abschn. 2.3). Während die Abberufung eine Beendigung der Organposition ohne Mitwirkung des Betroffenen bedeutet – womöglich sogar gegen seinen Willen, – hat die Niederlegung des Amtes dieselbe Wirkung, allerdings auf der Basis einer Willensentscheidung des Amtsinhabers. Grundsätzlich lässt auch die Niederlegung der Organfunktion die Antragspflicht für die Zukunft entfallen. Hier ist jedoch Vorsicht geboten: Erfolgt die Niederlegung des Geschäftsführungsoder Vorstandsamtes zur Unzeit, also zu einem Zeitpunkt, da eine Niederlegung bei objektiver Betrachtung nicht erfolgen sollte, so hat die Niederlegung möglicherweise

6Diese

mögliche Konsequenz einer verspäteten Antragstellung ergibt sich für den eingetragenen Kaufmann trotz des Fehlens einer Antragsverpflichtung aus § 290 Abs. 1 Nr. 4 der Insolvenzordnung (InsO).

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keine entlastende Wirkung, und zwar auch nicht für die Zukunft. Eine Amtsniederlegung zur Unzeit liegt etwa dann vor, wenn dem bisherigen Amtsinhaber klar ist, dass die Gesellschaft nach seinem Weggang – aus welchem Grund auch immer – in noch größere Schwierigkeiten geraten wird. Abhängig vom Einzelfall kann die Amtsniederlegung also ein erhebliches Haftungsrisiko zur Folge haben. Praktisch sollte eine Niederlegung des Geschäftsführer- oder Vorstandsamtes in der Krise also nur erfolgen, wenn die ordnungsgemäße weitere Führung der Gesellschaft und die Beobachtung der Krisenpflichten durch andere – bereits vorhandene und eingearbeitete – Organvertreter sichergestellt ist. Unter Haftungsgesichtspunkten ist eine Abberufung für den Betroffenen grundsätzlich besser als eine Amtsniederlegung. Ob die Gesellschafter einer entsprechenden Bitte um Abberufung entsprechen, liegt in ihrem Ermessen. In jedem Fall sollte der ausscheidende Manager die Geschäfte der Gesellschaft so sorgfältig wie möglich an seine(n) Nachfolger übergeben und diese Übergabe wiederum dokumentieren.7

9.6 Insolvenzreife als Auslöser der Antragspflicht Die Insolvenzantragspflicht wird ausgelöst durch den Eintritt von Zahlungsunfähigkeit (Kap. 7) und/oder Überschuldung (Kap. 8). Eine lediglich drohende Zahlungsunfähigkeit (Abschn. 7.6) löst die Antragspflicht dagegen noch nicht aus, sondern hat lediglich ein Antragsrecht des schuldnerischen Unternehmens bzw. seiner Organvertreter zur Folge (Abschn. 7.6 und 9.3).

9.7 Die maximal dreiwöchige Sanierungsfrist Die Antragspflicht wird zwar durch den Eintritt von Zahlungsunfähigkeit (Kap. 7) oder Überschuldung (Kap. 8) ausgelöst, konkret zu erfüllen ist sie nach dem Gesetzeswortlaut allerdings „ohne schuldhaftes Zögern, spätestens aber drei Wochen nach Eintritt der Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung“. Bei diesem maximal dreiwöchigen Aufschub, der auch als Sanierungsfrist bezeichnet wird, handelt es sich nicht um eine zivilprozessuale Frist, die in jedem Fall ausgeschöpft werden darf. Vielmehr ist die gesetzliche Formulierung so verstehen, dass es sich um eine Höchstfrist handelt. Diese kann nur unter der Voraussetzung und auch nur so lange in Anspruch genommen werden, als die begründete Aussicht besteht, dass die Zahlungs-

7Etwa

durch Erstellung eines Memos oder Einarbeitung des Nachfolgers; zur Dokumentationspflicht Abschn. 4.4.

9.7  Die maximal dreiwöchige Sanierungsfrist

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unfähigkeit und/oder Überschuldung spätestens am letzten, also dem 21. Tag der Sanierungsfrist tatsächlich beseitigt werden kann. Ist dagegen schon zu Beginn der Sanierungsfrist klar, dass die Insolvenzreife nicht innerhalb der drei Wochen abgewendet werden kann, so darf die Frist nicht weiter in Anspruch genommen werden. Der Insolvenzantrag muss dann sofort gestellt werden. Das gilt entsprechend, wenn zunächst eine Beseitigung des Insolvenzgrundes innerhalb der drei Wochen realistisch erscheint, sich dann aber im weiteren Verlauf der Sanierungsfrist herausstellt, dass eine Beseitigung der Insolvenz doch nicht möglich ist. In diesem Fall muss der Antrag ohne weitere Verzögerung gestellt werden. Dass die Sanierungsfrist eine Höchstfrist ist, bedeutet auch, dass der Insolvenzantrag selbst dann gestellt werden muss, wenn am Ende der dritten Woche konstruktive Sanierungsverhandlungen noch andauern, diese aber noch nicht abgeschlossen sind. Damit die Antragspflicht entfällt, muss spätestens am 21. Tag tatsächlich ein Sanierungserfolg, also die Zahlungsunfähigkeit bzw. Überschuldung tatsächlich abgewendet sein. Im Fall der Zahlungsunfähigkeit (Kap. 7) muss hierfür genügend neue Liquidität vorhanden sein und/oder das Volumen der fälligen bzw. ernsthaft eingeforderten Verbindlichkeiten entsprechend reduziert sein. Im Fall der Überschuldung (Kap. 8) muss eine positive Fortführungsprognose hergestellt oder eine hinreichend große, im Überschuldungsstatus aktivierbare Position begründet sein. Dafür reicht es aus, wenn beispielsweise eine verbindliche Zusage einer Kapitalzuführung vorliegt (weil deren Verletzung einen Schadensersatzanspruch auslösen würde und daher schon aktivierbar ist). Die Kapitalmaßnahme als solche muss dagegen noch nicht bei Fristablauf im Handelsregister eingetragen sein; vielmehr genügt das Bestehen eines Anspruchs der Gesellschaft auf die Kapitalzuführung. Ein Überschreiten der Höchstfrist – aus welchem Grund auch immer – ist nicht zulässig und muss angesichts des enormen Haftungsrisikos für die betroffenen Personen in jedem Fall vermieden werden. Sind aussichtsreiche Verhandlungen am Ende der dritten Woche noch nicht abgeschlossen, dann MUSS – damit die Gespräche ohne Antragstellung fortgesetzt werden können – wenigstens durch (Zwischen-) Maßnahmen wie Stundung (Abschn. 7.3), Stillhalteabkommen (Abschn. 7.4), Rangrücktritt (Abschn. 8.6) etc. weitere Zeit „erkauft“ werden, um ein weiteres Aufschieben der Antragstellung rechtfertigen zu können. Besser ist es natürlich, wenn nicht erst zum Ende, sondern bereits zu Beginn der maximal dreiwöchigen Frist – oder idealerweise noch deutlich früher – durch Stundungen, Überbrückungskredite oder andere (Zwischen-) Maßnahmen ein hinreichender zeitlicher Rahmen für Sanierungsgespräche geschaffen wird. Andernfalls schwebt über den Köpfen der Beteiligten permanent das Damoklesschwert eines kurzfristig drohenden Endes der Sanierungsfrist. Obwohl die präzise Bestimmung des Endes der Sanierungsfrist wegen der drohenden Haftungsrisiken enorme Bedeutung hat, ist die Festlegung des Beginns der Sanierungsfrist juristisch umstritten. Um hier auf der sicheren Seite zu sein, sollte der

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Organvertreter davon ausgehen, dass die Sanierungsfrist zeitgleich dem Eintritt von Zahlungsunfähigkeit (Kap. 7) bzw. Überschuldung (Kap. 8) zu laufen beginnt. Diese Sichtweise ist eine Konsequenz der Prüfungs- und Beobachtungspflicht (Abschn. 4.2): der Geschäftsführer, der die Prüfungspflicht verletzt und womöglich die Augen vor der Krise (mehr oder weniger bewusst) verschließt, wird so behandelt, als wäre er seiner Prüfungspflicht nachgekommen (Abschn. 4.2). Dann hätte die Sanierungsfrist mit dem Eintritt des Insolvenzgrundes zu laufen begonnen. Dem fahrlässig handelnden Organvertreter droht also ein Szenario, in dem er den Beginn – und folglich wahrscheinlich auch das Ende – der Sanierungsfrist verkennt und damit eine Insolvenzverschleppung begeht.8 Während des Laufs der Sanierungsfrist haben sich Geschäftsführer und Vorstände um die Wahrung der letzten Chance(n) auf eine außergerichtliche Sanierung und die Abwendung von Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung zu kümmern. Daneben ist regelmäßig der Geschäftsbetrieb des Unternehmens fortzuführen bzw. aufrechtzuerhalten, was juristisch dadurch (ver-) kompliziert wird, dass zwar während der Sanierungsfrist noch kein Insolvenzantrag gestellt werden muss, aber dennoch das Zahlungsverbot mit seinen umfangreichen Konsequenzen beachtet werden muss (Kap. 11).

Die maximal dreiwöchige Sanierungsfrist darf nicht mit dem Dreiwochenzeitraum verwechselt werden, der für die Prüfung der Zahlungsunfähigkeit (Abschn. 7.1) relevant ist. Hierbei handelt es sich um unterschiedliche Zeiträume, die bei Bedarf nacheinander in Anspruch genommen werden können. Der erste Dreiwochenzeitraum ist maßgeblich für die Beantwortung der Frage, ob überhaupt Zahlungsunfähigkeit (Kap. 7) vorliegt. Ist dies zu bejahen, stellt sich die Folgefrage, inwieweit der zweite Zeitraum – die maximal dreiwöchige Sanierungsfrist – in Anspruch genommen werden darf, um den Versuch einer außergerichtlichen Abwendung der Insolvenzreife und damit auch der Antragspflicht zu unternehmen.

Wichtig ist, dass die Sanierungsfrist in derselben Unternehmenskrise nur einmal in Anspruch genommen werden darf. Wird also die Insolvenz der Gesellschaft vor Ablauf der Sanierungsfrist durch eine kurzfristige Maßnahme abgewendet (etwa durch ein Darlehen mit sehr kurzer Laufzeit), so kann bei einer sich anschließend erneut ergebenden Zahlungsunfähigkeit keine neue, wiederum bis zu dreiwöchige Sanierungsfrist in Anspruch genommen werden. Vielmehr steht dann nur der noch nicht verbrauchte Rest der bereits angebrochenen Sanierungsfrist zur Verfügung – und auch das nur unter

8Zu

den zivilrechtlichen Haftungsfolgen der Insolvenzverschleppung Abschn. 12.3 und 12.4; zu den strafrechtlichen Konsequenzen Abschn. 14.2.

9.8  Schuldhaftes Verhalten als Haftungsvoraussetzung

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der Voraussetzung, dass eine (erneute) Abwendung der Insolvenz spätestens am 21. Tag möglich und realistisch ist. Erst wenn die Unternehmenskrise nachhaltig abgewendet ist, dürfen die Organvertreter im Fall einer neuen Krise wieder eine vollständige, maximal dreiwöchige Sanierungsfrist in Anspruch nehmen.

Die Suspendierung der Antragspflicht während der Sanierungsfrist muss künftig auch von einer Aussetzung der Antragspflicht bei einer vorinsolvenzlichen Sanierung nach der Europäischen Restrukturierungsrichtlinie unterschieden werden (Abschn. 10.8). Voraussichtlich soll die Antragspflicht ruhen, solange das durch eine vorinsolvenzliche Sanierung ausgelöste Moratorium besteht. Das ist aus heutiger Sicht aber noch Zukunftsmusik und davon abhängig, in welcher Form die Restrukturierungsrichtlinie (voraussichtlich 2021) tatsächlich in nationales Recht umgesetzt wird.

9.8 Schuldhaftes Verhalten als Haftungsvoraussetzung Eine Haftung wegen Verletzung der Antragspflicht setzt voraus, dass Rechtfertigungsgründe fehlen und dass der antragspflichtige Organvertreter schuldhaft handelt. Das (zivilrechtliche) Verschuldenserfordernis ist immer erfüllt, wenn dem Geschäftsführer bzw. Vorstand der Verstoß gegen die Antragspflicht individuell vorgeworfen werden kann und wenn Entschuldigungsgründe nicht eingreifen.9 Das erforderliche Verschulden liegt vor, wenn der Organvertreter in Bezug auf die Verletzung der Antragspflicht vorsätzlich oder fahrlässig, also unter Außerachtlassung der im geschäftlichen Verkehr gebotenen Sorgfalt, handelt. Dabei reicht es aus, wenn ein Verschulden wenigstens in Bezug auf ein Tatbestandsmerkmal vorliegt, also etwa den Insolvenzgrund, den Ablauf der Sanierungsfrist oder die Frage, ob die Antragspflicht im konkreten Fall überhaupt einschlägig ist. Verfügt ein Geschäftsführer oder Vorstand selbst nicht über ausreichende Kenntnisse für eine Prüfung von Zahlungsunfähigkeit (Kap. 7) oder Überschuldung (Kap. 8) oder der sich daraus ergebenden Konsequenzen, so hat er professionelle Beratung in Anspruch zu nehmen. Die Inanspruchnahme solcher Beratung führt dazu, dass dem Organvertreter kein Verschuldensvorwurf gemacht werden kann, selbst wenn sich später herausstellt, dass objektiv doch ein Verstoß gegen die Antragspflicht vorgelegen hat.

9Vom

zivilrechtlichen Verschulden ist der strafrechtliche Verschuldensvorwurf zu unterscheiden (Abschn. 14.2).

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9 Insolvenzantragspflicht

Mit der Einschaltung eines Beraters geht also eine haftungsrechtliche Privilegierung einher. Diese setzt aber voraus, dass dem Berater sämtliche relevanten Informationen zugänglich gemacht werden. Zusätzlich muss der Geschäftsführer auf eine unverzügliche Vorlage der Ergebnisse einer Prüfung durch den Berater hinwirken. Schließlich müssen die Prüfungsergebnisse auch einer Plausibilitätskontrolle durch Geschäftsführung bzw. Vorstand unterzogen werden und – vor allem: standhalten. Der dem Berater zu erteilende Prüfungsauftrag sollte so präzise wie möglich formuliert werden. So ist beispielsweise der mit der Erstellung des Jahresabschlusses beauftragte Steuerberater nicht ohne Weiteres auch zur Prüfung der Voraussetzungen der Insolvenzantragspflicht mandatiert. Insoweit sollte ein Beratungsauftrag bei Bedarf immer ausdrücklich (schriftlich) auch auf eine Prüfung und Beratung zur Unternehmenskrise erstreckt werden.

9.9 Erfüllung der Antragspflicht und Unwirksamkeit von Weisungen Die Antragspflicht wird durch Stellung eines schriftlichen, im Übrigen jedoch formlos zu stellenden Antrags auf Eröffnung eines Insolvenzverfahren erfüllt (Abschn. 10.1 und 10.2). Hat das Unternehmen mehrere Organvertreter, so wirkt der von einem Geschäftsführer bzw. Vorstandsmitglied für die Gesellschaft gestellte Antrag für sämtliche Organvertreter und entlastet diese entsprechend. Auf das Vorliegen einer Einzelvertretungsbefugnis des Antragsunterzeichners kommt es beim Insolvenzantrag ausnahmsweise nicht an. Es würde also notfalls ausreichen, wenn ein lediglich zur gemeinsamen Vertretung mit einem anderen Geschäftsführer oder Vorstand berechtigte Organvertreter den Insolvenzantrag allein unterzeichnet. Allerdings empfiehlt es sich, dass unbedingt sämtliche Geschäftsführer oder Vorstände den Antrag tatsächlich gemeinsam stellen bzw. unterzeichnen. So wird aus dem Antrag erkennbar, dass alle Organvertreter – auch wenn sie an der Unterzeichnung des Antrags gehindert sind10 – hinter dem Antrag stehen und sich diesen zu eigen machen. Das kann beispielsweise in der Weise geschehen, dass die Mobilfunknummern sämtlicher Organvertreter im Antrag angegeben werden, sodass das Insolvenzgericht kurzfristig auch mit den abwesenden Organvertretern Kontakt aufnehmen kann.11

10Zum

Beispiel wegen Auslandsabwesenheit. der gestellte Insolvenzantrag nicht erkennen, dass sämtliche Organvertreter hinter dem Antrag stehen, so wird das Gericht zunächst ermitteln, ob der Antrag tatsächlich wegen Insolvenzreife gestellt worden ist oder ob sich hinter dem Antrag womöglich eine vor dem Insolvenzgericht ausgetragene „Meinungsverschiedenheit“ zwischen Organvertretern und/oder Gesellschaftern verbirgt (Abschn. 10.1). 11Lässt

9.10  Wiederaufleben der Antragspflicht bei Antragsrücknahme

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In aller Regel sind dem Insolvenzantrag diverse Unterlagen und Informationen beizufügen (Abschn. 10.1). Deren Vorliegen ist für die Bejahung der ordnungsgemäßen Erfüllung der Antragspflicht erforderlich, auch wenn nicht jeder Mangel schon eine Verletzung der Antragspflicht bedeutet. In jedem Fall muss aber ein im juristischen Sinn zulässiger Antrag vorliegen.12 Die Beachtung und Erfüllung der Antragspflicht ist eine höchstpersönliche Pflicht jedes einzelnen Geschäftsführers bzw. Vorstands, was man insbesondere an den mit einer Pflichtverletzung einhergehenden zivil- und strafrechtlichen Sanktionen erkennt. Die Adressaten der Pflicht müssen diese ausschließlich in eigener Verantwortung befolgen und können sich zu ihrer Entlastung nicht auf eine (entgegenstehende) Weisung berufen. Die Stellung eines Insolvenzantrages kann also ebenso wenig wie das Unterlassen einer Antragstellung Gegenstand einer rechtlich verbindlichen Weisung aus dem Gesellschafterkreis oder Aufsichtsrat des Unternehmens sein, wenn die Weisung im Einklang nicht mit der Rechtslage steht.13 Umgekehrt muss eine Weisung, welche die Antragspflicht verletzt – insbesondere die Aufforderung, einen nach dem Gesetz erforderlichen Antrag nicht oder erst zu einem späteren Zeitpunkt zu stellen, – nicht befolgt werden. Sie darf auch nicht befolgt werden und hat also keine entschuldigende Wirkung. Das Handeln entgegen einer Weisung, deren Befolgung die Antragspflicht verletzen würde, hat für den betroffenen Organvertreter rechtlich keine negativen Auswirkungen.

9.10 Wiederaufleben der Antragspflicht bei Antragsrücknahme Ein einmal gestellter Insolvenzantrag kann bis zur endgültigen Eröffnung des Insolvenzverfahrens (oder bis zur rechtskräftigen Abweisung des Antrags durch das Insolvenzgericht) zurückgenommen werden.14 Nach der Rücknahme des Antrags besteht juristisch wieder derselbe Zustand, der auch schon vor der Antragstellung bestanden hat. Ist dann die Zahlungsunfähigkeit (Kap. 7) und/oder Überschuldung (Kap. 8) des Unternehmens noch nicht beseitigt, lebt die Verpflichtung zur Stellung des Antrags mit ihren gesamten haftungsrechtlichen

12Eine

strafrechtlich relevante Verletzung der Antragspflicht kann nach § 15a Abs. 4 Nr. 2 der Insolvenzordnung (InsO) auch im Fall eines „nicht richtig“ gestellten Insolvenzantrages vorliegen (Abschn. 14.2). 13Die Frage der Beachtlichkeit von Weisungen stellt sich hauptsächlich für Geschäftsführer von GmbH sowie GmbH & Co. KG. Vorstandsmitglieder von Aktiengesellschaften sind ohnehin nicht weisungsgebunden. Das ergibt sich aus § 76 Abs. 1 des Aktiengesetzes (AktG), wonach der Vorstand die Aktiengesellschaft „unter eigener Verantwortung“ zu leiten hat. 14Zur Verfahrenseinstellung mangels Masse (Abschn. 13.6).

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9 Insolvenzantragspflicht

Konsequenzen unmittelbar wieder auf (!), und zwar ohne dass der Organvertreter die maximal dreiwöchige Sanierungsfrist erneut in Anspruch nehmen kann (Abschn. 9.7). Die Rücknahme eines Insolvenzantrages kann also wegen des Wiederauflebens der Antragspflicht für die Organvertreter mit erheblichen Risiken verbunden sein. Sollte also jemals die Rücknahme eines Insolvenzantrages im Raum stehen, ist zuvor sorgfältig zu prüfen bzw. sicherzustellen, ob bzw. dass die Insolvenzreife des Unternehmens wirklich nachhaltig beseitigt ist. Anders als im Fall der Antragstellung (Abschn. 9.9) kann die Rücknahme eines Insolvenzantrages nur durch einen einzelvertretungsberechtigten oder mehrere gesamtvertretungsberechtigte Organvertreter gemeinsam erfolgen.

9.11 Haftung des Aufsichtsrats für die Antragspflichtverletzung Mitglieder eines Aufsichtsrates können in zweierlei Weise für die Erfüllung der Antragspflicht verantwortlich werden. Zum einen sind Aufsichtsratsmitglieder einer Aktiengesellschaft oder Genossenschaft selbst anstelle des Vorstands zur Erfüllung der Antragspflicht verpflichtet, wenn die Gesellschaft führungslos ist (Abschn. 9.4).15 Zum anderen haftet der Aufsichtsrat unabhängig von Fällen der Führungslosigkeit für die Überwachung des Vorstands bzw. der Geschäftsführung.16 Der Aufsichtsrat muss also auf die Beachtung der Antragspflicht hinwirken (etwa durch Weisungen) und äußerstenfalls die pflichtwidrig handelnden Mitglieder der Geschäftsführung bzw. des Vorstands aus ihrer Position abberufen und andere Organvertreter bestellen (Abschn. 2.3). Fällt Mitgliedern des Aufsichtsrats eine schuldhafte Verletzung ihrer Überwachungspflicht zur Last, können sie hierfür sowohl gegenüber der Gesellschaft als auch direkt gegenüber Gläubigern der Gesellschaft persönlich haftbar werden.

9.12 Haftung von Gesellschaftern für Antragspflichtverletzung Ausnahmsweise können auch die Gesellschafter einer GmbH – auch wenn diese Komplementärin einer GmbH & Co. KG ist – selbst Adressaten der Insolvenzantragspflicht sein, wenn die Gesellschaft führungslos ist (Abschn. 2.3). Dahinter steht die 15Bei

einer GmbH trifft die Antragspflicht im Fall der Führungslosigkeit die Gesellschafter (Abschn. 9.12). 16Die Überwachungspflicht von Aufsichtsratsmitgliedern entspricht inhaltlich der Überwachungspflicht, die auch die nach einer internen Geschäftsordnung ressortfremden Geschäftsführer bzw. Vorstände trifft (Abschn. 2.1).

9.14  Antragspflicht bei Unternehmen mit Auslandsvermögen

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Überlegung, dass die Gesellschafter auf eine funktionierende Geschäftsführung hinwirken müssen. Fehlt es hieran, so müssen die Gesellschafter die im Interesse des Gläubigerschutzes bestehenden Pflichten selbst erfüllen. Auch wenn eine GmbH ausnahmsweise einen Aufsichtsrat hat, trifft die Antragspflicht im Fall der Führungslosigkeit die Gesellschafter und nicht die Aufsichtsratsmitglieder.

9.13 Insolvenzanzeigepflicht statt Antragspflicht Bei Kreditinstituten und bestimmten anderen Finanzunternehmen sowie bei Versicherungsunternehmen und Krankenkassen ist die Insolvenzantragspflicht durch eine Pflicht zur Anzeige an die zuständige Aufsichtsbehörde ersetzt. Wird diese Anzeige verspätet oder gar nicht erstattet, so entsprechen die Konsequenzen für die Geschäftsführer bzw. Vorstände des Unternehmens grundsätzlich den Folgen, die eine Verletzung der Insolvenzantragspflicht nach sich zieht.

9.14 Antragspflicht bei Unternehmen mit Auslandsvermögen Bei Unternehmen, die über Vermögen im Ausland verfügen (Abschn. 10.6), kann die Antragspflicht in zwei Konstellationen relevant werden: Zum einen erfüllt ein im Ausland gestellter Insolvenzantrag – sofern er zulässig und das dortige Gericht zuständig ist – auch die deutsche Insolvenzantragspflicht. Ist also im Ausland ein Antrag bereits gestellt, muss in Deutschland kein weiterer Antrag gestellt werden. Achtung: Der im Ausland gestellte Antrag muss wirklich den identischen Rechtsträger betreffen, für den auch im Inland die Antragspflicht zu erfüllen ist. Der für eine ausländische Tochter- oder sonstige Konzerngesellschaft gestellte Antrag erfüllt die Antragspflicht in Bezug auf eine deutsche Holding oder Gruppengesellschaft nicht automatisch auch schon. Vielmehr müsste in Deutschland dann ein eigener Antrag gerade für diese Tochter- bzw. Konzerngesellschaft gestellt werden. Zum anderen geht es um Gestaltungen, in der ein Unternehmen, welches nach einer ausländischen Rechtsordnung verfasst ist, am Geschäftsverkehr in Deutschland teilnimmt. Hier unterscheidet man einerseits echte Auslandsgesellschaften, die zwar Geschäftstätigkeit in Deutschland entfalten, aber auch im Ausland über Vermögen bzw. Verwaltungsfunktionen verfügen, und andererseits Scheinauslandsgesellschaften, die außer ihrer ausländischen Rechtsform bzw. Registrierung im Ausland praktisch keinen Bezug zum Ausland haben. Sowohl bei echten Auslandsgesellschaften als auch bei Scheinauslandsgesellschaften sollte man vorsichtshalber davon ausgehen, dass solche Unternehmen – wenn sie in Deutschland tätig sind – gleichermaßen der deutschen Antragspflicht unterliegen. Denn die heute rechtsformneutral ausgestaltete Antragspflichtnorm will ja keinen Unterschied

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9 Insolvenzantragspflicht

mehr nach der (in- oder ausländischen) Rechtsform machen, wenn es um die Frage geht, ob ein Insolvenzantrag gestellt werden muss.

9.15 Das Wichtigste in Kürze • Die Insolvenzantragspflicht ist neben dem Zahlungsverbot (Kap. 11) die wichtigste Krisenpflicht nach deutschem Recht. Sie wird bei Zahlungsunfähigkeit (Kap. 7) und/ oder Überschuldung (Kap. 8) ausgelöst und trifft insbesondere die im Handelsregister eingetragenen Organvertreter, daneben aber auch faktische Geschäftsführer oder Vorstände. • Eine Verletzung der Antragspflicht hat für die betroffenen Manager weitreichende persönliche zivilrechtliche und auch strafrechtliche Konsequenzen (Kap. 12 und Abschn. 14.2). • Die zum Tatbestand der Antragspflicht gehörende, maximal dreiwöchige Sanierungsfrist ist eine Höchstfrist, die keinesfalls überschritten werden darf (Abschn. 9.7). Während des Laufs der Sanierungsfrist muss zwar noch kein Insolvenzantrag gestellt werden, jedoch ist bereits das Zahlungsverbot (Kap. 11) zu beachten. • Die Beachtung und Erfüllung der Insolvenzantragspflicht ist eine höchstpersönliche Pflicht jedes einzelnen Organvertreters, die unabhängig von entgegenstehenden Weisungen zu erfüllen ist. • Der von einem Organvertreter gestellte Insolvenzantrag erfüllt die Pflicht auch für die übrigen Geschäftsführer bzw. Vorstände. Auch ein im Ausland für die schuldnerische Gesellschaft zulässigerweise eingeleitetes Insolvenzverfahren erfüllt die deutsche Antragspflicht. • Auch Gesellschaften mit ausländischer Rechtsform, die in Deutschland tätig sind, können der inländischen Antragspflicht unterliegen. • Die Inanspruchnahme fachlicher Beratung bei Prüfung und Erfüllung der Antragspflicht kann den Vorwurf, dass der Geschäftsführer bzw. Vorstand schuldhaft gehandelt habe, grundsätzlich entfallen lassen.

Antragstellung und passende Verfahrensart

10

Ein Insolvenzantrag muss diverse Informationen über das betroffene Unternehmen enthalten. Im Antrag kann auch die Weichenstellung für eine besondere Verfahrensart – Eigenverwaltung und/oder Insolvenzplan – erfolgen. Desweiteren kann der Antrag einen Vorschlag für die Person des Insolvenzverwalters formulieren.

10.1 Der Insolvenzantrag als Dokument Ein Insolvenzantrag, also der Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens,1 muss schriftlich beim zuständigen Insolvenzgericht gestellt werden (Abschn. 10.2). Eine Antragstellung per Email ist nicht möglich.2 Antragsteller ist entweder ein Gläubiger des schuldnerischen Unternehmens – dann spricht man von einem Gläubiger- oder Fremdantrag – oder der künftige Insolvenzschuldner selbst, dann ist der Antrag ein Eigenantrag.3

1Das

Gesetz nennt den Insolvenzantrag abgekürzt Eröffnungsantrag; zur Unterscheidung zwischen dem eröffneten Insolvenzverfahren und dem mit der Antragstellung zunächst eingeleiteten Eröffnungsverfahren, das auch als vorläufiges Insolvenzverfahren bezeichnet wird, siehe Abschn. 13.1 und 13.2 sowie 13.5. 2Rechtsanwälte werden in der Zukunft Insolvenzanträge auch elektronisch über das sog. „besondere elektronische Anwaltspostfach (beA)“ einreichen können. Einzelheiten sollten vor einer Antragstellung aber in jedem Fall mit dem zuständigen Gericht geklärt werden. 3Ausnahmen gibt es nur für Kreditinstitute, Versicherungsunternehmen und Krankenkassen; hier ist die Antragspflicht des Managements durch eine Pflicht zur Anzeige der Insolvenz an die Aufsichtsbehörde ersetzt (Abschn. 9.13). © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Poertzgen, Haftungsvermeidung in der Unternehmenskrise, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30083-8_10

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80

10  Antragstellung und passende Verfahrensart

In Deutschland stellen Fremdanträge wegen hoher Hürden und damit verbundener Risiken eine seltene Ausnahme dar. Die weit überwiegende Anzahl von Insolvenzanträgen sind Eigenanträge, die also vom Insolvenzschuldner (oder kurz: Schuldner) bzw. seinem Management gestellt werden, und zwar regelmäßig in Erfüllung der Antragspflicht (Kap.  9). Auf diese Konstellation konzentriert sich die folgende ­Darstellung. Als Anlage zum (Eigen-) Antrag muss ein Verzeichnis der wesentlichen Gläubiger und ihrer Forderungen vorgelegt werden. Wenn das insolvente Unternehmen im Zeitpunkt der Antragstellung noch über einen laufenden Geschäftsbetrieb verfügt, müssen weitere Informationen bereitgestellt werden, zum Beispiel Angaben zur Anzahl der Arbeitnehmer und zu etwaigen Sicherungsrechten einzelner Gläubiger.4 Es empfiehlt sich, immer einen aktuellen Handelsregisterauszug beizufügen. Für die Formulierung des Antrags und die Zusammenstellung der erforderlichen Angaben und Anlagen sollte genügend Zeit eingeplant werden.5 Beim Verfassen des Insolvenzantrags muss keine bestimmte Form beachtet werden, der Antrag kann als formloser Text formuliert werden.6 Viele Insolvenzgerichte stellen jedoch auf ihren Internetseiten Formulare für einen Insolvenzantrag zur Verfügung. Deren Verwendung ist in aller Regel problemlos möglich. Ob dann zusätzlich noch ein frei formulierter Antrag eingereicht wird, ist Geschmacksache, bietet sich aber an, wenn dem Gericht besondere Umstände mitgeteilt werden sollen, etwa zu konkreten Rechtsbeziehungen des antragstellenden Unternehmens. In jedem Fall aber sollte der Antragsteller zusätzlich zum eigentlichen Antrag den meistens geforderten Fragebogen des Insolvenzgerichts ausfüllen, und zwar auch dann, wenn sich einzelne Passagen des Fragebogens mit dem Antrag bzw. dessen Anlagen überschneiden. Denn in der Regel prüft die Geschäftsstelle des Insolvenzgerichts zunächst schematisch die Vollständigkeit der Antragsunterlagen. Wenn der Fragebogen dann fehlt und erst noch vor Ort ausgefüllt werden muss, kann in einer ohnehin stressbelasteten Situation leicht zusätzliche (aber vermeidbare) Hektik entstehen.7 In jedem Fall darf – wenn dies vom Antragsteller gewünscht ist – ein Insolvenzantrag auch einen oder mehrere Vorschläge für die Person des künftigen Insolvenzverwalters beinhalten. Grundsätzlich kann man davon ausgehen, dass immer mehr

4Die

Einzelheiten ergeben sich aus § 13 der Insolvenzordnung (InsO). mindestens einen halben bis einen ganzen Arbeitstag, sofern es sich nicht um ein sehr kleines Unternehmen handelt. 6Aus dem Wortlaut muss sich allerdings zweifelsfrei ergeben, dass ein Insolvenzantrag gestellt wird, etwa: „Hiermit stellen wir als Geschäftsführer der X-GmbH einen Insolvenzantrag.“ oder: „Hiermit beantragen wir als Vorstandsmitglieder der Y-AG die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens.“ 7Der Fragebogen lässt sich meist über die Internetseite des Insolvenzgericht abrufen. 5Faustformel:

10.2  Die Antragstellung beim Insolvenzgericht

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I­nsolvenzgerichte solchen Vorschlägen aufgeschlossen gegenüberstehen – vorausgesetzt natürlich, dass ein persönlich und fachlich geeigneter Kandidat vorgeschlagen wird und kein Fall einer Vorbefassung vorliegt.8 Allerdings hört man aber auch immer noch von Gerichten bzw. einzelnen Richtern, die vorgeschlagene Kandidaten grundsätzlich nicht berücksichtigen. Hier kann es sich empfehlen, die Praxis des jeweiligen Gerichts bzw. des nach der Geschäftsordnung zuständigen Richters im Vorfeld einer Antragstellung in Erfahrung zu bringen.9 In aller Regel ist es sinnvoll, im Rahmen der Antragstellung den oder die konkret einschlägigen Insolvenzgründe zumindest in groben Zügen darzulegen, auch wenn sich die Zahlungsunfähigkeit (Kap. 7) bzw. Überschuldung (Kap. 8) des Antragstellers bereits aus den beizufügenden Unterlagen bzw. dem ausgefüllten Fragebogen ergeben sollte. Unbedingt sollte der Insolvenzantrag immer von sämtlichen Geschäftsführern oder Vorständen der Gesellschaft unterzeichnet werden (Abschn. 9.9). Das gilt auch dann, auch wenn der oder die unterzeichnende(n) Organvertreter einzelvertretungsbefugt sind, es also gesellschaftsrechtlich auf weitere Unterschriften gar nicht ankommt. Indem nämlich schon aus dem Dokument erkennbar wird, dass sämtliche Organvertreter tatsächlich hinter dem Antrag stehen, bleibt dem Gericht eine unter Umständen zeitraubende Prüfung erspart, ob der Antrag womöglich primär gar nicht wegen eines tatsächlich vorliegenden Insolvenzgrundes gestellt wird, sondern – was nicht selten vorkommt – als Druckmittel im Rahmen einer gesellschaftsinternen Auseinandersetzung (Abschn. 9.9). Darüber hinaus sollten alle Geschäftsführer bzw. Vorstände im Hinblick auf die jeden von ihnen treffende Antragspflicht (Abschn. 9.4) ein (erhebliches) Eigeninteresse haben, dass jedem einzelnen von ihnen der gestellte Antrag auch zugerechnet wird – unabhängig von ihrer konkreten Vertretungsbefugnis (Abschn. 9.9). Sofern der Antrag (etwa wegen Ortsabwesenheit) nicht von allen Geschäftsführern oder Vorständen unterschrieben werden kann, ist es ratsam, dass zumindest die kurzfristige Erreichbarkeit der nicht unterzeichnenden Organvertreter sichergestellt wird, etwa durch Angabe von (Mobil-) Telefonnummern.

10.2 Die Antragstellung beim Insolvenzgericht Insbesondere wenn das insolvente Unternehmen noch über einen laufenden Geschäftsbetrieb verfügt und deshalb eine Entscheidung des Gerichts über den Antrag besonders kurzfristig getroffen werden muss, kann es sinnvoll sein, dass der bzw. die ­Antragsteller

8Das

Vorbefassungsverbot bedeutet, dass der als Insolvenzverwalter vorgeschlagene Kandidat zuvor weder das Unternehmen noch einen Gläubiger oder sonstigen Verfahrensbeteiligten beraten haben darf. 9Auch die Geschäftsordnung bzw. der Geschäftsverteilungsplan lässt sich meistens über die Internetseite des Amts- bzw. Insolvenzgerichts abrufen.

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10  Antragstellung und passende Verfahrensart

die Einreichung der Antragsunterlagen mit einer persönlichen Vorsprache beim Insolvenzgericht verbinden. Das Insolvenzgericht ist eine auf Insolvenzsachen spezialisierte Abteilung des Amtsgerichts. Nicht jedes Amtsgericht fungiert allerdings auch als Insolvenzgericht, insbesondere wenn es um Unternehmensinsolvenzen geht. Insoweit sind – abhängig vom jeweiligen Bundesland – Insolvenzsachen vielfach bei einem Amtsgericht im Bezirk eines Landgerichtes konzentriert. Örtlich zuständig ist in der Regel das Insolvenzgericht, in dessen Bezirk das Unternehmen, für das der Antrag gestellt wird, den Mittelpunkt seiner selbstständigen wirtschaftlichen Tätigkeit hat. Achtung: das Insolvenzgericht ist nicht zwingend dasselbe Amtsgericht, bei dem der Insolvenzschuldner im Handelsregister eingetragen ist. Je größer das Unternehmen ist, für das der Antrag gestellt wird, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass der zuständige Richter bzw. Rechtspfleger wesentliche Punkte der Antragstellung unmittelbar mit den erschienenen Personen im Rahmen eines Vorgesprächs erörtert. Erst nach einem solchen Vorgespräch wird dann die eigentliche Entscheidung über den Antrag getroffen. Im Einzelfall kann es ratsam sein, der Geschäftsstelle des Gerichts die Antragstellung bzw. den Besuch des oder der antragstellenden Personen telefonisch anzukündigen. Falls kein Vorgespräch stattfindet, sollte sich der Antragsteller den Eingang des Antrags in jedem Fall bestätigen lassen – um erforderlichenfalls beweisen zu können, dass der Antrag an einem bestimmten Tag gestellt worden und die Antragspflicht (Kap. 9) damit erfüllt ist. Wie schon angesprochen sollte die Antragstellung zeitlich so bald wie möglich nach dem letzten Lohnlauf erfolgen, den das krisenbelastete Unternehmen noch aus eigener Kraft bewältigen kann (Abschn. 9.3). Der Grund für diese Faustformel liegt in Mechanik und Wirkungsweise des Insolvenzgelds als wesentlichem Sanierungsinstrument (Abschn. 13.3). Im Vorfeld der Antragstellung sollte man darüber nachdenken, ob mit dem Antrag eine besondere Variante des Insolvenzverfahrens eingeleitet werden soll. So kann insbesondere ein Verfahren in Eigenverwaltung (Abschn. 10.3) und/oder ein Insolvenzplanverfahren (Abschn. 10.4) in Betracht kommen.10 Wird dagegen weder ein Verfahren in Eigenverwaltung noch ein Insolvenzplanverfahren angestrebt, spricht man von einem Regel(insolvenz)verfahren.

10.3 Insolvenzverfahren in Eigenverwaltung Im Rahmen des Insolvenzantrags kann der Schuldner beantragen, dass ihm die Eigenverwaltung seines Vermögens im Insolvenzverfahren gestattet wird. In einem Eigenverwaltungsverfahren gibt es keinen Insolvenzverwalter, stattdessen erfolgt die

10Zur

Eigenverwaltung Abschn. 10.3.

10.3  Insolvenzverfahren in Eigenverwaltung

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Verfahrensabwicklung durch das schuldnerische Unternehmen selbst, allerdings unter der Aufsicht eines Sachwalters. Als Sachwalter kommt typischerweise infrage, wer im Regelverfahren Insolvenzverwalter sein könnte. Anders als der Insolvenzverwalter, der im Regelverfahren die Verwertung des Vermögens vornimmt und damit der juristische „Regisseur“ ist,11 führt der Sachwalter im Eigenverwaltungsverfahren lediglich die Aufsicht über die vom Schuldner bzw. seinem Management in Eigenregie vorzunehmende Sanierung. Die Eigenverwaltung soll in Anlehnung an das vergleichbare US-amerikanische Konzept (debtor in possession) einen umfassenden Einfluss des Schuldners bzw. seines Managements bei der bzw. auf die Unternehmenssanierung gewährleisten. Dieser Ansatz ist begrüßenswert, vor allem wenn die Leitung bzw. Restrukturierung des Unternehmens branchenspezifische Kenntnisse und Qualifikationen voraussetzt, die in der Person des Insolvenzverwalters naturgemäß nicht vorhanden sind. Kritiker der Eigenverwaltung bemühen dagegen regelmäßig das „Bock zum Gärtner“ – Argument: es dürfe nicht sein, dass dieselben Personen das Unternehmen weiterführen, die möglicherweise für seinen Niedergang verantwortlich sind. Die Insolvenzordnung formuliert in diesem Zusammenhang als Voraussetzung für die Anordnung von Eigenverwaltung, dass „keine Umstände bekannt sind, die erwarten lassen, dass die Anordnung [der Eigenverwaltung] zu Nachteilen für die Gläubiger führen wird.“12 Im Einzelfall muss also die Frage beantwortet werden, ob das Management, welches das Unternehmen in die Krise geführt hat, tatsächlich das richtige Personal ist, um diese Krise wieder zu überwinden. Zur Vermeidung der „Bock zum Gärtner“-Problematik hat sich in der Praxis jedenfalls für größere Unternehmen eingebürgert, dass das Management des Schuldners im Vorfeld der Verfahrensbeantragung um einen oder sogar mehrere Insolvenzpraktiker erweitert wird (entweder auf Geschäftsführungs- bzw. Vorstandebene als „CRO“ (Chief Restructuring Officer oder als Generalbevollmächtigter). Der oder die für den Schuldner auftretenden Insolvenzpraktiker stellen dann zusammen mit dem Sachwalter sicher, dass die durch das Insolvenzrecht vorgegebenen Rahmenbedingungen einer Sanierung in Eigenverwaltung eingehalten werden. Zu beachten ist, dass die Geschäftsführung im Rahmen der Eigenverwaltung, also insbesondere der CRO oder Generalbevollmächtigte, aber auch die anderen Geschäftsführer

11Die Verwertung des Vermögens wird in jedem Fall – also unabhängig davon, ob es sich um ein Regelverfahren, ein Eigenverwaltungsverfahren oder ein Insolvenzplanverfahren handelt – durch das Gebot der bestmöglichen Masseverwertung beherrscht (Abschn. 13.5). 12So die gesetzliche Formulierung in § 270 Abs. 2 Nr. 2 der Insolvenzordnung (InsO).

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10  Antragstellung und passende Verfahrensart

bzw. Vorstände, einer weitreichenden persönlichen Haftung unterliegen, die in weiten Teilen an die gesetzliche Haftung des Insolvenzverwalters im Regelverfahren angelehnt ist.13

10.4 Insolvenzverfahren in Form eines Insolvenzplanverfahrens Alternativ oder parallel zur Eigenverwaltung kann die Eröffnung des Insolvenzverfahrens auch als Insolvenzplanverfahren beantragt werden. Auch das Insolvenzplanverfahren hat ein US-amerikanisches Vorbild, nämlich das Verfahren nach Chapter 11 des US Bankruptcy Code. Der (gesetzliche) Begriff des Insolvenzplanverfahrens darf nicht mit der häufig unjuristisch verwendeten Formulierung einer „geplanten Insolvenz“ verwechselt werden. Hiermit ist in aller Regel (nur) gemeint, dass ein Insolvenzverfahren vor seiner Einleitung so weit wie möglich vorbereitet worden ist, idealerweise im Hinblick auf eine Auffanglösung für das betroffene Unternehmen. Wenn sogar schon ein unterschriftsreifer Vertrag zur Überführung des Unternehmens in einen oder mehrere neue Rechtsträger vorliegt, spricht man in Anlehnung an die entsprechende angelsächsische Konzeption von einem pre-packaged plan. Das (echte) Insolvenzplanverfahren dagegen ist detailliert in der Insolvenzordnung geregelt.14 Seine Besonderheit besteht darin, dass die insolvente Gesellschaft – anders als bei einer Übertragenden Sanierung (Abschn. 10.5) – als Eigentümer des Unternehmens gerade erhalten bleibt. Das macht Sinn, wenn an der juristischen Hülle des insolventen Unternehmens (dem Rechtsträger) bestimmte Rechtsbeziehungen hängen, die nicht ohne weiteres bzw. nur mit ganz erheblichem Aufwand auf eine Auffanggesellschaft übertragen werden können. Das kann zum Beispiel eine anlagen- oder umweltrechtliche Genehmigung sein, eine Börsenzulassung oder im Fall eines Filialunternehmens eine große Zahl von Mietverträgen, deren Übertragung auf eine Auffanggesellschaft zu komplex, langwierig und/oder risikoreich ist. Echte Insolvenzplanverfahren finden – gerade im Vergleich zur Übertragenden Sanierung (Abschn. 10.5) – in Deutschland nach wie vor relativ selten statt. Das liegt trotz der überzeugenden Konzeption und den vielfältigen Möglichkeiten eines Insolvenzplanverfahrens an der Komplexität, die ein Planverfahren unweigerlich mit sich bringt.

13Urteil

des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 26.04.2018 – IX ZR 238/17; hier stellt sich die Frage, ob dieses Haftungsrisiko verhältnismäßig bzw. zumutbar ist und ob es die Bereitschaft von Managern zur Übernahme von Eigenverwaltungsmandaten womöglich einschränken wird (Abschn. 13.9 und 14.9). 14Siehe die Regelungen in §§ 217 ff. der Insolvenzordnung (InsO).

10.4  Insolvenzverfahren in Form eines Insolvenzplanverfahrens

85

In aller Regel eignet sich das Insolvenzplanverfahren bereits wegen der Kosten für die Erstellung des Insolvenzplans nur für nicht ganz kleine Unternehmen. Deshalb kommt das deutsche Insolvenzplanverfahren in der Realität deutlich seltener vor, als es nach manchen Presseberichten den Anschein haben kann.15 Im Kern ist das Insolvenzplanverfahren die Beschlussfassung über die Sanierung des schuldnerischen Unternehmens. Hierzu stimmen die Gläubiger nach einem gesetzlich vorgesehenen Prozedere über den Insolvenzplan ab. Dieser sieht Inhalt und Verfahren der konkreten Sanierung vor. Für die Abstimmung werden die Gläubiger in Gruppen eingeteilt, etwa bilden meistens die Gläubiger mit Sicherungsrechten eine Abstimmungsgruppe, weitere Gruppen erfassen unter anderem die nachrangigen und die nicht nachrangigen Gläubiger.16 Inhaltlich sieht ein Insolvenzplan, der immer aus einem beschreibenden und einem gestaltenden Teil besteht, in der Regel eine Schuldenreduzierung vor. Diese erfolgt etwa durch einen Schuldenschnitt, der auch mit einem Besserungsschein verbunden werden kann. Daneben geht es im Planverfahren regelmäßig auch um eine Stärkung des (Eigen-) Kapitals. Das kann durch eine Umwandlung von Fremd- in Eigenkapital (debt-to-equity swap) geschehen oder eine Kapitalherabsetzung mit anschließender Kapitalerhöhung. Diese kann entweder durch den oder die bisherigen Gesellschafter bzw. neue Investoren gezeichnet werden. Schließlich kann ein Plan auch ein Zusammentreffen der genannten Varianten und Maßnahmen vorsehen. Eigenverwaltung und Insolvenzplanverfahren können auch kombiniert werden. Hierzu hat der Gesetzgeber unter dem wohlklingenden Namen des Schutzschirmverfahrens die Möglichkeit geschaffen, mit der Antragstellung ein auf eine Sanierung durch einen Insolvenzplan hinauslaufende Eigenverwaltung ab dem Moment der Antragstellung einzuleiten. Mit dem Schutzschirmverfahren will der Gesetzgeber potentiellen Insolvenzschuldnern bzw. deren Gesellschaftern und Organvertretern in Aussicht stellen, dass sie die Kontrolle über ihr Unternehmen trotz Stellung eines Insolvenzantrages weitgehend behalten. Auf diese Weise soll die Einleitung einer notwendigen Reorganisation erleichtert und die mit der Antragstellung verbundene (psychologische) Hürde verringert werden.17

15Die

bislang zahlenmäßig untergeordnete Bedeutung des Insolvenzplanverfahrens steht in deutlichem Kontrast zur medialen Aufmerksamkeit, die dem Planverfahren zuteil wird. Nicht selten ist die entsprechende Berichterstattung sogar „schief“, wenn sie etwa suggeriert, eine erfolgreiche Restrukturierung bzw. Rettung des insolventen Unternehmens sei nur mit einem Insolvenzplanverfahren möglich. Tatsächlich gibt es bereits seit Jahrzehnten erfolgreiche Rettungen von Unternehmen jeder Größe und Branche durch Übertragende Sanierungen (Abschn. 10.5). 16Zu den unterschiedlichen Rangklassen der Gläubiger im Insolvenzverfahren siehe Abschn. 8.9. 17Die nach seiner Einführung 2012 mit dem Schutzschirmverfahren einhergehende Euphorie ist mittlerweile jedoch zu einem guten Teil wieder verflogen; die Anzahl der nachhaltig erfolgreichen Schutzschirmverfahren ist zuletzt (deutlich) zurückgegangen.

86

10  Antragstellung und passende Verfahrensart

10.5 Übertragende Sanierung – auch im Regelverfahren An dieser Stelle soll ausdrücklich Reklame für die „Brot-und-Butter“ – Variante einer Unternehmenssanierung im Insolvenzverfahren gemacht werden, die Übertragende Sanierung. Diese muss sich keineswegs hinter der Sanierung durch ein Insolvenzplanverfahren verstecken, ganz im Gegenteil. Für das durchschnittliche mittelständische Unternehmen hält die Übertragende Sanierung, die gleichermaßen im Rahmen eines Regelverfahrens wie auch in einer Eigenverwaltung erfolgen kann, ein strukturell unkompliziertes, flexibles, und jahrzehntelang erprobtes Verfahren bereit, mit dem eine stabile und rechtssichere Auffanglösung für das betroffene Unternehmen geschaffen werden kann. Bei der Übertragenden Sanierung handelt es sich im Kern um einen Kaufvertrag, bei dem der Insolvenzverwalter das Unternehmen als Sachgesamtheit ganz oder teilweise heraus an einen Investor verkauft. Da der Kaufgegenstand ausschließlich (Aktiv-) Vermögenswerte und gerade nicht die Anteile an einer Gesellschaft sind, spricht man auch von einem asset deal.18 Die juristische Besonderheit der Übertragenden Sanierung besteht darin, dass der Erwerber selbst bei Fortführung des Unternehmensnamens (der eigentlichen „Firma“)19 ausnahmsweise nicht für die Schulden des Verkäufers haftet.20 Allerdings muss sich der Erwerber auch mit dem Gedanken anfreunden, dass der Insolvenzverwalter als Verkäufer typischerweise jegliche Gewährleistungshaftung ausschließen will. Arbeitsrechtlich geht eine Übertragende Sanierung regelmäßig mit einem Betriebsübergang im Sinn von § 613a des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) einher. Im Rahmen einer Übertragenden Sanierung können sich auch der oder die bisherigen Inhaber um den (Rück-) Erwerb des Unternehmens aus der Insolvenz heraus bemühen. Die Insolvenzordnung sieht diese Möglichkeit ausdrücklich vor. Dazu muss jedoch

18Der Gegenbegriff zum asset deal ist der share deal; bei diesem werden nicht die einzelnen Vermögensgegenstände, sondern die Anteile an der Gesellschaft, der die Vermögenswerte gehören, verkauft und übertragen. Im Fall einer eingetretenen Insolvenz findet in Deutschland nahezu nie ein share deal in Bezug auf die Anteile des insolventen Unternehmen statt. 19In § 17 Abs. 1 des Handelsgesetzbuchs (HGB) heißt es: „Die Firma eines Kaufmanns ist der Name, unter dem er seine Geschäfte betreibt und die Unterschrift abgibt.“ 20Das gilt auch dann, wenn das Unternehmen nicht aus einem Regelverfahren, sondern aus einem Eigenverwaltungsverfahren heraus verkauft wird (Abschn. 10.3). Außerhalb eines Insolvenzverfahrens würde der Erwerber eines Unternehmens, der den Firmennamen fortführt, dagegen für die Altschulden haften – wie es in § 25 des Handelsgesetzbuchs (HGB) geregelt ist.

10.6  Wirkung des Insolvenzantrags bei Vermögen im Ausland

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das Kaufangebot des oder der bisherigen Inhaber die wirtschaftlich beste Offerte darstellen.21 Kommt es hier zu einem Bietergefecht und gibt es wirtschaftlich bessere Kaufangebote von Dritten, haben die bisherigen Eigentümer das Nachsehen (Abschn. 13.5). So erklärt sich, warum der Eigenverwaltung und den Insolvenzplanverfahren vor allem von geschäftsführenden Gesellschaftern bzw. Familienunternehmen besondere Sympathie entgegengebracht wird. Denn hier ist das Risiko eines Verlustes der Kontrolle über das Unternehmen strukturell geringer als bei einer Übertragenden Sanierung. Allerdings sind auch Eigenverwaltung und Insolvenzplan keine „Selbstläufer“, und vielfach kann ein entsprechend gutes Angebot auch im Rahmen einer Übertragenden Sanierung sicherstellen, dass das Unternehmen seinen bisherigen Eigentümern erhalten bleibt.

10.6 Wirkung des Insolvenzantrags bei Vermögen im Ausland Hat das Unternehmen, für das ein Insolvenzantrag gestellt wird, nicht nur Vermögen im Inland, so ergeben sich regelmäßig auch Fragen nach europäischem bzw. internationalen Insolvenzrecht. Nach dem Universalitätsprinzip erfasst ein in Deutschland gestellter Insolvenzantrag grundsätzlich das gesamte, weltweite Vermögen der Gesellschaft, für die der Antrag gestellt wird. Damit fällt grundsätzlich also auch im Ausland belegenes Vermögen des Schuldners in die deutsche Insolvenzmasse. Hierfür muss es sich jedoch wirklich um Vermögenswerte gerade des deutschen Antragstellers handeln. Gehört das im Ausland belegene Vermögen dagegen nicht direkt der antragstellenden (deutschen) Gesellschaft, sondern einer ausländischen Tochtergesellschaft, so fällt lediglich die Beteiligung an dieser Tochtergesellschaft in die deutsche Masse, nicht dagegen die im Ausland belegenen Einzelwerte als solche. Das Universalitätsprinzip entfaltet seine Wirkung nur als Folge des zeitlich zuerst gestellten Insolvenzantrages. Wird für denselben Rechtsträger – also beispielsweise eine deutsche GmbH – dagegen im Ausland ein weiterer (also zeitlich zweiter) Insolvenzantrag gestellt, so erfasst diese (zweite) ausländische Antragstellung nur das im Ausland belegene Vermögen dieses Rechtsträgers. Dieses wird also gleichsam aus der übrigen Insolvenzmasse „herausgeschnitten“. Dann gibt es neben dem ersten, als Hauptverfahren bezeichneten Insolvenzverfahren ein – oder theoretisch auch mehrere zusätzliche – Teilbzw. Partikularverfahren über das Auslandsvermögen des Schuldners. 21Zum Gebot der bestmöglichen Masseverwertung Abschn. 13.5; die Angst vor einem Kontrollverlust inhabergeführter Unternehmen ist einer der Gründe dafür, dass Insolvenzverschleppung stattfindet (Abschn. 12.1). Tatsächlich droht ein Verlust des Unternehmens im Zuge des Insolvenzverfahrens immer dann, wenn sich um die Auffanglösung ein Bieterwettstreit entwickeln wird – was in der Sache allerdings ein Indiz für die wirtschaftliche oder strategische Attraktivität des fraglichen Unternehmens sein kann.

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10  Antragstellung und passende Verfahrensart

Wird beispielsweise erste Insolvenzantrag in Deutschland gestellt, so erfasst ein in einem anderen Staat gestellter Zweitantrag das dort belegene Vermögen. Umgekehrt ist auch denkbar, dass im Ausland zunächst ein (erster) Insolvenzantrag gestellt wurde und ein später in Deutschland gestellter (Zweit-) Antrag nur das deutsche Vermögen des Schuldners erfasst. Die Einleitung solcher Partikularverfahren über das in einem bestimmten Staat belegene Vermögen des Schuldners dient den Interessen der in diesem Staat ansässigen Gläubiger. Diese sollen nach der ihnen bekannten Rechtsordnung (Jurisdiktion) und in ihrer Sprache am Insolvenzverfahren teilnehmen können. Dieser Schutzzweck trifft nicht nur die ausländischen Gläubiger eines deutschen Insolvenzschuldners. Ebenso kann es auch für die deutschen Gläubiger einer ausländischen Gesellschaft, die bereits im Ausland ein Hauptverfahren eingeleitet hat, sinnvoll sein, ein deutsches Partikularverfahren über das in Deutschland belegene (Teil-) Vermögen anzustrengen, um nach den Regeln des deutschen Insolvenzrechts am Verfahren teilzunehmen. Allerdings hat das Nebeneinander mehrerer Insolvenzverfahren nicht nur Vorteile. Ein Nachteil ist zum einen die Belastung des Schuldners mit den Kosten für mehrere Verfahren (Gerichtsgebühren und Verwaltervergütung). Zum anderen besteht das Risiko, dass Haupt- und Partikularverwalter „nicht an einem Strang ziehen“ und sich nicht auf eine gemeinsame Verwertungsstrategie einigen können.22 Im Extremfall kann daher die Existenz mehrerer Verwalter den Interessen der Gläubiger sogar abträglich sein. Praxishinweis

Vor diesem Hintergrund wird der zuerst bestellte Insolvenzverwalter die Eröffnung weiterer Verfahren im Ausland erfahrungsgemäß verhindern wollen. In der Praxis haben sich zu diesem Zweck verschiedene juristische Konstruktionen entwickelt, etwa dass der in ersten Eröffnungsland bestellte Hauptverwalter in einem Staat, in dem ein Partikularinsolvenzverfahren eröffnet werden soll, dort selbst Eigenverwaltung beantragt (Abschn. 10.3). Damit kann der im Hauptverfahren bestellte Verwalter die Rolle des eigenverwaltenden Schuldners im Partikularstaat selbst wahrnehmen. Die Verwaltung der Masse im Hauptverfahren wie im Partikularverfahren erfolgt dann aus einer Hand, obwohl mehrere Verfahren eröffnet worden sind.23

22Die

Gründe hierfür können vielfältig sein, womöglich schätzen die Verwalter den betroffenen Markt nicht einheitlich ein, oder es ergeben sich Differenzen aus unterschiedlichen Sanierungskulturen in den betroffenen Staaten. 23So insbesondere geschehen im Fall „Automold“, siehe hierzu die Entscheidung des Amtsgerichts Köln vom 23.01.2004 – 71 IN 1/04.

10.7 Konzerninsolvenzrecht

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Handelt es sich sowohl beim Staat, in dem das erste (bzw. Haupt-) Insolvenzverfahren eröffnet ist, als auch dem Staat des Partikularverfahrens um Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, so ist in aller Regel die Europäischen Insolvenzverordnung (EuInsVO) anwendbar. Nach deren Terminologie heißt das erste Insolvenzverfahren Haupt(insolvenz)verfahren und jedes Partikularverfahren Sekundärverfahren. Das Hauptinsolvenzverfahren nach der EuInsVO ist in dem Mitgliedsstaat zu eröffnen, in dem das schuldnerische Unternehmen den Schwerpunkt seiner hauptsächlichen Interessen (auf Englisch: centre of main interests oder nach den Anfangsbuchstaben abgekürzt „comi“) hat. Das Verfahren im Land des comi ist definitionsgemäß das Hauptverfahren und sämtliche anderen Verfahren Sekundärverfahren, was praktisch oft zu einem Wettlauf in Bezug auf die Eröffnung des Hauptverfahrens und der Festlegung des comi führt.24

10.7 Konzerninsolvenzrecht Während das internationale Insolvenzrecht die Möglichkeit mehrerer Insolvenzverfahren über das Vermögen desselben Rechtsträgers vorsieht, geht es beim Konzerninsolvenzrecht darum, dass mehrere Gesellschaften einer Unternehmensgruppe gleichzeitig insolvent sind. Dementsprechend lautet die Grundfrage des Konzerninsolvenzrechts: wie kann für mehrere verbundene bzw. konzernangehörige Unternehmen, die sich in unterschiedlichen Insolvenzverfahren befinden, trotz der Verfahrensmehrheit ein gutes Ergebnis für die Gläubiger erzielt werden? Eine Antwort auf diese Frage könnte auf den ersten Blick in der Zusammenfassung der Insolvenzmassen der beteiligten Unternehmen liegen. Der Gesetzgeber hat sich jedoch zu Recht gegen eine solche Verschmelzung der Insolvenzmassen entschieden. Ein Insolvenzverfahren bleibt also auch in Konzernstrukturen nach seinen Wirkungen grundsätzlich auf das Vermögen der jeweiligen Einzelgesellschaft beschränkt. Statt der Verschmelzung von Insolvenzmassen sieht das Gesetz heute Regelungen vor, nach denen wie die verschiedenen Insolvenzverfahren über mehrere insolvente Konzerngesellschaften lediglich verfahrensrechtlich koordiniert werden. So können etwa die Verfahren über mehrere Gruppengesellschaften bei einem Insolvenzgericht zusammengefasst werden, auch wenn dieses ansonsten nicht für alle Gesellschaften örtlich zuständig wäre.

24Zu Begriff und Bestimmung des comi ist die „Parmalat“-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), Urteil vom 02.05.2006 – C 341/04 lesenswert.

90

10  Antragstellung und passende Verfahrensart

Aus Sicht von Geschäftsführern bzw. Vorständen, die für mehrere Gruppengesellschaften Insolvenzanträge stellen müssen, stellt sich die Frage nach einer zweckmäßigen und möglichst effizienten Verknüpfung mehrerer Verfahren etwa wie folgt: Können die Verfahren bei demselben Gericht beantragt werden? Kann im Wege einer Anregung an das Gericht oder in Abstimmung mit wesentlichen Gläubigern die Bestellung bestimmter Insolvenzverwalter, womöglich sogar desselben Verwalters für mehrere Gesellschaften erreicht werden? Erfahrungsgemäß können durch eine möglichst frühzeitige Einleitung entsprechender Vorbereitungsschritte (gruppeninterne Umstrukturierung, Umfirmierung, Sitzverlegung etc.) die Chancen auf eine erfolgreiche (weil abgestimmte) Verwertung wirtschaftlich zusammengehörender Werte deutlich erhöht werden.

10.8 Ausblick: Sanierung im zeitlichen Vorfeld des Insolvenzverfahrens Zum Abschluss dieses Kapitels soll noch die künftige Möglichkeit einer Sanierung im Vorfeld eines Insolvenzverfahrens beleuchtet werden.25 So ist auf europäischer Ebene im März 2019 durch die Europäische Restrukturierungsrichtlinie ein präventiver Restrukturierungsrahmen für eine vorinsolvenzliche Sanierung eingeführt worden. Diese Richtlinie muss jetzt von den Mitgliedsstaaten der EU bis spätestens Herbst 2021 in nationales Recht umgesetzt werden.26 Der Begriff der vorinsolvenzlichen Sanierung ist insoweit missverständlich ist, als hier nicht eine Sanierung im Vorfeld eines später dann doch stattfindenden Insolvenzverfahrens gemeint ist, sondern eine Restrukturierung, welche die Einleitung eines Insolvenzverfahrens gerade überflüssig machen soll. Der präventive Restrukturierungsrahmen ist also nicht als Durchgangsstadium auf dem Weg zum Insolvenzverfahren gedacht, sondern zu dessen Vermeidung. Zu unterscheiden ist die vorinsolvenzliche Sanierung auch von einer freien Restrukturierung, die aufgrund einer oder mehrerer privater Vereinbarungen des Schuldners mit seinen Gläubigern mit dem Ziel einer außergerichtlichen Schuldenbereinigung (workout) erfolgt (Abschn.  17.4). Eine solche freie (vertragliche) Restrukturierung ist schon immer möglich gewesen und wird es auch künftig sein, auch wenn sie als solche im Gesetz nicht geregelt ist.27

25Zur Auswirkung der Restrukturierungsrichtlinie auf die Insolvenzantragspflicht bereits Abschn. 9.7. 26Der Text der Restrukturierungsrichtlinie kann unter https://eur-lex.europa.eu/ abgerufen werden. 27Ihre Zulässigkeit und Anerkennung durch den Gesetzgeber folgt unmittelbar aus der verfassungsrechtlich garantierten Privatautonomie.

10.8  Ausblick: Sanierung im zeitlichen Vorfeld des Insolvenzverfahrens

91

Inhaltlich soll in Umsetzung der Restrukturierungsrichtlinie ein Verfahren geschaffen werden, das eine finanzielle und rechtliche Restrukturierung durch Zugeständnisse und Beiträgen von Gläubigern und Gesellschaftern im Rahmen eines Restrukturierungsplans ermöglicht, damit der Zustand von Zahlungsunfähigkeit (Kap. 7) oder Überschuldung (Kap. 8) abgewendet wird.28 Das Verfahren hierzu soll nach seinem Ablauf durch gesetzliche Vorschriften geregelt sein und – hier besteht der wesentliche Unterschied zur freien (vertraglichen) Restrukturierung29 – alle bzw. alle wesentlichen Gläubiger des Schuldners zwangsweise einbinden. Insoweit ähnelt die präventive Restrukturierung dem Insolvenzverfahren, welches ebenfalls sämtliche Gläubiger obligatorisch am Verfahren beteiligt. Hintergrund

Hierbei soll allerdings die mit einem Insolvenzverfahren verbundene bzw. jedenfalls immer noch befürchtete Stigmatisierung des Schuldners verhindert werden (Abschn. 6.1). Hierzu wird das künftige Verfahren schon sprachlich vom Insolvenzverfahren distanziert und außerhalb der Insolvenzordnung angesiedelt sein. Desweiteren sollen für vorinsolvenzliche Sanierungsverfahren wahrscheinlich nicht die heutigen Insolvenzgerichte zuständig sein, sondern möglicherweise spezielle Sanierungsgerichte in Form der (vorhandenen) Kammern für Handelssachen bei den Landgerichten oder neu einzurichtenden „Kammern für Sanierungssachen“. Alternativ ist auch denkbar, dass nicht Gerichte, sondern andere Organe der Rechtspflege wie etwa Notare für präventive Sanierungsverfahren zuständig werden. Zentrales Merkmal des präventiven Sanierungsverfahrens soll seine Effizienz sein, also eine tendenziell schnelle und diskrete Einleitung, Umsetzung und Beendigung des Verfahrens. Indem das Verfahren möglichst „hinter verschlossenen Türen“ stattfindet, soll im Gegensatz zum öffentlich bekannt gemachten Insolvenzverfahren eine Kenntnisnahme Dritter weitgehend verhindert werden. Ziel ist es, einen Reputationsschaden für den Schuldner zu vermeiden. Gerade im Hinblick auf die gewünschte Diskretion des Sanierungsverfahrens offenbart sich aber auch ein grundsätzlicher Zielkonflikt. Einerseits soll das Sanierungsverfahren „geräuscharm“ und hinter den Kulissen stattfinden. Andererseits sollen möglichst viele, idealerweise alle Gläubiger durch das Verfahren

28Ein

solcher Restrukturierungsplan wird in seinen strukturellen Grundzügen voraussichtlich einem Insolvenzplan (Abschn. 10.4) ähneln. Wahrscheinlich wird es darum gehen, die geplante Sanierung in einem mehr oder weniger detaillierten Plan zu skizzieren, der dann von den Beteiligten im Rahmen einer Abstimmungsprozedur bestätigt wird. 29Diese bindet allein die beteiligten und ausdrücklich zustimmenden Gläubiger.

92

10  Antragstellung und passende Verfahrensart

gebunden werden – unter Umständen sogar dann, wenn sie der vorgeschlagenen Reorganisation nicht ausdrücklich zustimmen bzw. gar keine Kenntnis vom Verfahren haben. Insoweit muss der Gesetzgeber bei der Umsetzung der Restrukturierungsrichtlinie konträre Prinzipien unter einen Hut bringen.

Auch wenn das Sanierungsverfahren in seiner konkreten Ausformung noch Zukunftsmusik ist, kann man mit Blick auf die Krisenpflichten von Geschäftsführern und Vorständen vorsichtig prognostizieren, dass die Einleitung einer präventiven Restrukturierung die Insolvenzantragspflicht zumindest vorübergehend suspendieren wird (Abschn. 9.7). Die Richtlinie spricht insoweit von einem Moratorium, das aber wahrscheinlich nicht alle in der Krise zu beachtenden Pflichten aussetzen wird. So ist insbesondere zu erwarten, dass auch während der Dauer des Sanierungsverfahrens ein (wenn auch abgeschwächtes) Zahlungsverbot eingreifen wird (Kap. 11). Die Restrukturierungsrichtlinie sieht auch vor, dass in den Mitgliedsstaaten Frühwarnsysteme eingeführt werden, die Unternehmen und ihren Organvertretern helfen sollen, Verschlechterungen der Geschäftsentwicklung frühzeitig zu erkennen und die Einleitung von Maßnahmen zur Beobachtung und Abwehr der Krise zu veranlassen.30 Interessant dürfte für Organvertreter insbesondere die Frage werden, an welchem Krisenstadium die präventive Restrukturierung konkret ansetzen wird. Denkbar ist etwa, dass als Einleitungsvoraussetzung höchstens drohende Zahlungsunfähigkeit (Abschn. 7.6) bzw. Überschuldung (Kap. 8), keinesfalls aber schon tatsächlich eingetretene Zahlungsunfähigkeit (Abschn. 7.1) vorliegen darf.31 Allerdings gibt es auch Stimmen, die im Hinblick auf die Restrukturierungsrichtlinie die Überschuldung als Insolvenzgrund gänzlich abschaffen, zumindest aber ihre Verknüpfung mit der Antragspflicht (Kap. 9) kappen wollen.32 Alle diese Überlegungen und Ideen sind jedoch – wie hier deutlich betont werden muss – im gegenwärtigen Stadium weitgehend spekulativ. Konkrete Ratschläge für die Praxis können sich erst bilden, wenn Inhalt und Ablauf der vorinsolvenzlichen Sanierung in Deutschland tatsächlich einmal feststehen.

30Das

geplante Frühwarnsystem soll inhaltlich also die Erfüllung sowohl im deutschen Recht bereits bekannten Krisenerkennungs- und -beobachtungspflicht (Kap.  4), der allgemeinen Sanierungspflicht (Kap. 5) und der konkreten Krisenpflichten (vor allem Zahlungsverbot, Antragspflicht etc., Kap. 9 und 11) sicherstellen. 31Zur inhaltlichen Verwandtschaft von drohender Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung und der daran anknüpfenden Kritik Abschn. 7.6 sowie 8.4. 32Siehe zu diesen Überlegungen bereits Abschn. 8.4 sowie 9.7.

10.9  Das Wichtigste in Kürze

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10.9 Das Wichtigste in Kürze • Ein Insolvenzantrag sollte nach Möglichkeit von sämtlichen Mitgliedern eines mehrköpfigen Geschäftsführungsorgans gemeinsam gestellt werden. • Mit dem Insolvenzantrag sollte, soweit im Einzelfall passend, bereits eine bestimmte Verfahrensart beantragt werden, etwa Eigenverwaltung (Abschn. 10.3) und/oder ein Insolvenzplanverfahren (Abschn. 10.4). Gleichzeitig kann im Antrag auch eine bestimmte Person als Insolvenzverwalter vorgeschlagen werden. • Ein Insolvenzantrag praktisch immer so bald wie möglich nach dem letzten Lohnlauf gestellt werden, den das Unternehmen aus eigener Kraft bewerkstelligen kann. Auf diese Weise kann das Insolvenzgeld als Sanierungsinstrument optimal eingesetzt werden. • Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens besteht die Kernaufgabe in der Verwertung des Vermögens; soweit hierzu ein Unternehmen gehört, kommt es in der überwiegenden Anzahl der Fälle zu einer Übertragenden Sanierung (asset deal, Abschn. 10.5), seltener auch zu einem Insolvenzplanverfahren (Abschn. 10.4). • Hat die insolvente Gesellschaft Vermögen in mehreren Ländern, kann es mehrere Insolvenzverfahren über denselben Rechtsträger geben (Abschn. 10.6). • Sind mehrere Gesellschaften einer inländischen Unternehmensgruppe insolvent, so kann sich die Zuständigkeit für mehrere Verfahren bei einem Insolvenzgericht konzentrieren, auch wenn dieses ansonsten nicht für alle Gesellschaften der Gruppe örtlich zuständig wäre (Abschn. 10.7). • Nach Umsetzung der Europäischen Restrukturierungsrichtlinie wird voraussichtlich ab Herbst 2021 ein gesetzliches Restrukturierungsverfahren zur Verfügung stehen, das im zeitlichen und systematischen Vorfeld des heutigen Insolvenzverfahrens eingreifen soll (Abschn. 10.8).

Zahlungsverbot und Innenhaftung

11

Nach Eintritt von Zahlungsunfähigkeit (Kap. 7) oder Überschuldung (Kap. 8) dürfen Organvertreter keine weiteren Verringerungen des Gesellschaftsvermögens zulassen. Kommt es trotzdem zu Vermögensabflüssen, ist der Geschäftsführer oder Vorstand zur Erstattung aus seinem Privatvermögen verpflichtet. Obwohl die Haftung wegen verbotener Zahlungen umstritten ist, kommt sie in der Praxis häufig vor und stellt das größte zivilrechtliche Haftungsrisiko für Manager in der Unternehmenskrise dar.

11.1 Begriffe und gesetzliche Systematik Die Haftung wegen verbotener Zahlungen basiert auf dem Verbot, bestimmte Vermögensabflüsse nach Eintritt der Insolvenzreife – also bei Zahlungsunfähigkeit (Kap. 7) oder Überschuldung (Kap. 8) – noch vorzunehmen (Zahlungsverbot). Bei Verletzung des Zahlungsverbotes hat die Gesellschaft einen entsprechenden Ersatzanspruch gegen ihren Geschäftsführer oder Vorstand. Man spricht hier von Innenhaftung. Diese wird in der Insolvenz der Gesellschaft vom Insolvenzverwalter geltend gemacht.

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Poertzgen, Haftungsvermeidung in der Unternehmenskrise, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30083-8_11

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96

11  Zahlungsverbot und Innenhaftung

Weder das Zahlungsverbot noch die Innenhaftung stehen in direkter Verbindung zur Insolvenzantragspflicht (Kap. 9).1 Zahlungsverbot und Antragspflicht haben lediglich gemeinsam, dass sie gleichermaßen an den Insolvenzgründen der Zahlungsunfähigkeit (Kap. 7) und/oder Überschuldung (Kap. 8) anknüpfen.2

11.2 Große praktische Bedeutung der Innenhaftung Die praktische Bedeutung der Innenhaftung ist kaum zu überschätzen. Für Insolvenzverwalter ist die Haftung wegen Verletzungen des Zahlungsverbotes eines der wichtigsten Instrumente, um die Insolvenzmasse durch eine Inanspruchnahme von Geschäftsführern und Vorständen anzureichern. Die Ermittlung solcher Haftungsansprüche professionalisiert sich stetig. Nicht selten nutzen Verwalter spezielle Software, um Buchhaltung und Zahlungsverkehr des Schuldners im Hinblick auf relevante Transaktionen hin auszuwerten. Für die betroffenen Manager ist die Innenhaftung de facto das größte zivilrechtliche Risiko im Zusammenhang mit der Unternehmenskrise. Da sehr viele Fälle gerichtlich ausgetragen werden, differenziert und ver-kompliziert sich die Rechtsprechung permanent.

11.3 Das Grundprinzip: Zahlungsverbot und Innenhaftung Das Zahlungsverbot hat folgenden Inhalt: Nachdem bei einer Gesellschaft, bei der nicht wenigstens eine natürliche Person unbeschränkt persönlich für sämtliche Verbindlichkeiten haftet,3 die Zahlungsunfähigkeit (Kap. 7)4 und/oder Überschuldung (Kap. 8) eingetreten ist, dürfen die Geschäftsführer oder Vorstände zum Schutz der Gläubiger

1Zur

zivilrechtlichen Haftung wegen Verletzung der Antragspflicht Kap. 12. den Insolvenzgründen im Überblick Kap. 6; ausführlich zur Zahlungsunfähigkeit Kap. 7, zur Überschuldung Kap. 8; zu den Insolvenzgründen als Tatbestandsvoraussetzung der Antragspflicht Abschn. 9.6. 3Betroffen sind vor allem GmbH und GmbH & Co. KG sowie Aktiengesellschaften und Genossenschaften; es geht also um alle Rechtsträger, für welche die auch hier thematisierten Krisenpflichten maßgeblich sind (Abschn. 3.1). 4Eine lediglich drohende Zahlungsunfähigkeit (Abschn. 7.6) löst das Zahlungsverbot als solches noch nicht aus; zur Haftung für Zahlungen an Gesellschafter, welche die Zahlungsunfähigkeit (erstmals) herbeiführen (Abschn. 11.18). 2Zu

11.4  Der Begriff der Zahlung und seine Problematik

97

keine weiteren Verringerungen des Gesellschaftsvermögens mehr zulassen.5 Das Gesetz bezeichnet solche Vermögensverringerungen als Zahlungen. Nur bestimmte Zahlungen sind ausnahmsweise noch zulässig (Abschn. 11.10), alle anderen Zahlungen sind verboten. Wird eine verbotene Zahlung geleistet, so hat der Organvertreter den entsprechenden Geldwert aus seinem Privatvermögen zu erstatten. Geht es um mehrere Zahlungen, werden diese addiert. Auf diese Weise können leicht erhebliche und für den betroffenen Manager existenzbedrohende Summen zusammenkommen, wenn man sich nur den üblichen Zahlungsverkehr eines kleineren mittelständischen Unternehmens vorstellt. Vor diesem Hintergrund kommt der Frage nach der ausnahmsweisen Rechtfertigung bestimmter Zahlungen (Abschn. 11.10) und der Möglichkeit einer Anrechnung von Gegenleistungen, die dem Gesellschaftsvermögen im Kontext der Zahlung zufließen (Abschn. 11.6), so große Bedeutung zu.

11.4 Der Begriff der Zahlung und seine Problematik Das Zahlungsverbot greift mit Eintritt von Zahlungsunfähigkeit (Kap. 7) und/oder Überschuldung (Kap. 8) ein. Anders als die Antragspflicht (Kap. 9) ist das Zahlungsverbot nicht durch eine maximal dreiwöchige Sanierungsfrist (Abschn. 9.7) suspendiert. Das Zahlungsverbot gilt automatisch, sobald ein Insolvenzgrund verwirklicht ist, und damit schon während der noch laufenden Sanierungsfrist – auch wenn bis zu deren Ablauf noch kein Insolvenzantrag gestellt werden muss.6 Dreh- und Angelpunkt des Zahlungsverbotes ist der Begriff der Zahlung. Hiermit sind nicht nur bare oder unbare Geldtransfers gemeint, sondern jegliche Verringerungen des Aktivvermögens, also auch die Weggabe von Waren und sogar die Erbringung von Dienstleistungen, soweit diese üblicherweise vergütet werden. Zahlungen können auch in juristischen Vorgängen „versteckt“ sein, etwa in einer Aufrechnung, einer Verzichtserklärung oder der Ermittlung eines Saldos im Rahmen eines Kontokorrentverhältnisses. Der Begriff der Zahlung ist also denkbar weit, es muss aber in jedem Fall eine Verringerung des Aktivvermögens stattfinden. Die Begründung einer Verbindlichkeit zulasten der Gesellschaft ist dagegen nach der ganz überwiegenden Meinung keine Zahlung im gesetzlichen Sinn. Begründet der

5Das Zahlungsverbot ist – anders als die Antragspflicht (Kap. 9) – nicht rechtsformneutral ausgestaltet. Für die verschiedenen Rechtsträgerformen gibt es unterschiedliche Vorschriften, etwa für die GmbH in § 64 des GmbH-Gesetzes (GmbHG); inhaltsgleiche Regelungen gibt es für andere Gesellschaftsformen, siehe die Übersicht am Ende des Buchs. Die Mitglieder des Vorstands eines eingetragenen Vereins (e. V.) trifft ausnahmsweise kein Zahlungsverbot; sie können allein wegen Verletzung der Antragspflicht (Kap. 9) haftbar werden (Kap. 12). 6Die praktische Auflösung dieses scheinbaren Widerspruchs erfolgt durch die Rechtfertigungsklausel (Abschn. 11.10).

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11  Zahlungsverbot und Innenhaftung

Geschäftsführer also nach Eintritt der Insolvenzreife noch Forderungen zulasten seiner Gesellschaft, so stellt dieses Verhalten jedenfalls keinen Verstoß gegen das Zahlungsverbot dar.7 Gegebenenfalls muss also ein Sachverhalt, der sowohl das Aktivvermögen als auch die Passivseite betrifft, gedanklich zerlegt werden, und zwar in einen für das Zahlungsverbot beachtlichen Teil (soweit es um das Aktivvermögen geht) und einen unbeachtlichen Teil (soweit sich die Schulden der Gesellschaft verändern). Verwendet der Geschäftsführer also zum Beispiel Barmittel der GmbH, um eine Verbindlichkeit der Gesellschaft zu tilgen, so kommt es für das Zahlungsverbot allen auf die Verringerung des Geldvermögens an (insoweit liegt möglicherweise eine verbotene Zahlung vor), nicht dagegen auf die gleichzeitig eintretende Verringerung der Schulden der Gesellschaft. Der Gesetzgeber hat also beim Begriff der Zahlung eine auf das Aktivvermögen der Gesellschaft beschränkte Sichtweise. Hintergrund

Der Grund hierfür liegt in der aus dem 19. Jahrhundert stammenden Vorstellung des historischen Gesetzgebers, wonach der Eintritt der Insolvenzreife für die Gesellschaft bereits den größtmöglichen juristischen Schaden bedeutet. Als Konsequenz dieser Auffassung kann dann nur noch das verbliebene Restvermögen vor weiterer Verringerung geschützt werden. Die dem Gesetz zugrunde liegende Sichtweise ist nach heutigem Verständnis jedoch verkürzt und letztlich unrichtig. Denn für die Gläubiger der Gesellschaft kann es über den Insolvenzeintritt hinaus noch (deutlich) schlimmer kommen. So ist es möglich, dass sich die zu erwartende Insolvenzquote über den Eintritt der Insolvenzreife hinaus weiter verringert. Zum einen kann eine weitere Verkürzung des vorhandenen Aktivvermögens die Befriedigungsaussicht verschlechtern. Zum anderen kann die Begründung zusätzlicher Verbindlichkeiten die zu erwartende Insolvenzquote nachteilig beeinflussen. Anstelle eines isolierten Blicks auf die Aktivseite müsste also richtigerweise eine echte Schadensersatzbetrachtung erfolgen. Hierzu müsste die Aktiv- und Passivseite ins Verhältnis gesetzt werden und vor allem müsste auch die Entwicklung von Aktiva und Passiva im Stadium der Insolvenzreife kontinuierlich beobachtet werden. Der tatsächlichen Gesetzeslage entspricht das leider (noch) nicht.8 Auf absehbare Zeit wird sich die Rechtspraxis also weiterhin mit der gegenwärtigen Ausgestaltung der Innenhaftung auseinandersetzen müssen.

7Allerdings

kann die Begründung weiterer Schulden in dieser Phase einen Neugläubigerschaden darstellen (Abschn. 12.4) und/oder Einfluss auf den Quotenschaden der Altgläubiger haben (Abschn. 12.3). 8Zum Modell eines einheitlichen Quotenschadens aller Gläubiger Abschn. 12.6.

11.6  Berücksichtigung von Gegenleistungen

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Da das Gesetz nach wie vor eine auf die Aktivseite beschränkte Sichtweise vornimmt, ist die Innenhaftung keine auf die Leistung von Schadensersatz gerichtete Anspruchsgrundlage, sondern ein „sonstiger“ Ersatzanspruch. Man spricht auch von einem Ersatzanspruch eigener Art im Unterschied zu einem (echten) Schadensersatzanspruch. Inhaltlich geht es bei der Innenhaftung um die Interessen der Gläubiger, allerdings werden diese in der gegenwärtigen Ausgestaltung der Innenhaftung nur bruchstückhaft geschützt.

11.5 Zahlung muss vom Organvertreter veranlasst sein Das Zahlungsverbot erfasst nur Zahlungen, die vom Geschäftsführer oder Vorstand geleistet worden sind. Das bedeutet allerdings nicht, dass der Organvertreter den Zahlungsvorgang persönlich bzw. eigenhändig vorgenommen haben muss. Relevant sind vielmehr alle Zahlungen, die vom Organvertreter zurechenbar veranlasst worden sind, auch wenn die konkrete Ausführung der Zahlung von anderen Personen vorgenommen wird. Es können also auch Zahlungen geleistet sein, bei denen der Geschäftsführer gar keine Kenntnis vom Zahlungsvorgang hat. Hat die Gesellschaft mehrere Organvertreter, so sind diese als Gesamtschuldner verantwortlich (Abschn. 2.1). Eine Geschäftsordnung bzw. Ressortverteilung kann die Verantwortung des intern nicht für eine bestimmte Zahlung verantwortlichen Geschäftsführers unter Umständen jedoch auf eine Überwachung bzw. Kontrolle des fachlich zuständigen Managers begrenzen (Abschn. 2.1).

11.6 Berücksichtigung von Gegenleistungen Große praktische Bedeutung hat die Frage, ob bzw. wann eine Gegenleistung, die im Zusammenhang mit einer Zahlung in das Gesellschaftsvermögen gelangt, eine Haftung wegen dieser Zahlung entfallen lässt. Die gute Nachricht zuerst: gelangt für eine Zahlung eine Gegenleistung in das Gesellschaftsvermögen, so kann diese Gegenleistung die ansonsten ausgelöste Haftung entfallen lassen. Allerdings lässt nicht jeder Vermögenszufluss, der mit einem Vermögensabfluss in Zusammenhang steht, die Haftung des Geschäftsführers entfallen. Vielmehr sind nur Gegenleistungen, die in einem unmittelbaren inhaltlichen und zeitlichen Zusammenhang mit der Zahlung stehen, geeignet, die Zahlung haftungsrechtlich zu neutralisieren. Daneben muss die Gegenleistung der Zahlung wirtschaftlich gleichwertig sein.

100

11  Zahlungsverbot und Innenhaftung

Wichtig ist, dass eine Haftung des Organvertreters wegen einer Zahlung nur dann entfällt, wenn diese geleistet wird, bevor die Gegenleistung in das Gesellschaftsvermögen gelangt. Wird die Zahlung dagegen erst nach Erhalt der Gegenleistung getätigt, so kann die Anreicherung des Gesellschaftsvermögens – trotz eines wirtschaftlichen Zusammenhangs – rechtlich nicht als „Gegen-“ Leistung der dann ja noch gar nicht erbrachten Zahlung gewertet werden. Es kommt also entscheidend auf die zeitliche Reihenfolge an. Nur wenn zuerst die Zahlung getätigt und erst anschließend die Gegenleistung erbracht wird, kann die Haftung für die Zahlung wegen der Gegenleistung entfallen.

11.7 Sondersituation: Zahlungseingang auf debitorischem Konto Sehr viele Haftungsfälle wegen verbotener Zahlungen ergeben sich aus einer Situation wie der folgenden: die insolvente Gesellschaft verfügt über ein Bankkonto, das sich im Minus befindet. Ein Schuldner der Gesellschaft begleicht eine Verbindlichkeit durch Überweisung auf dieses Konto. Dessen negativer Saldo verringert sich folglich um den Wert der Gutschrift. Auch wenn es auf den ersten Blick paradox erscheint – dieser Sachverhalt bedeutet juristisch, dass die Gesellschaft eine Zahlung geleistet hat, und zwar an die Bank. Denn das im Minus befindliche Konto ist im Kern nichts anderes als eine Forderung der Bank gegen den Kontoinhaber. Indem der negative Saldo auf dem Konto durch den Zahlungseingang verringert wird, führt die Gesellschaft durch den Überweisungseingang ihre Schuld gegenüber der Bank teilweise zurück; hierin liegt damit eine Zahlung im Sinn des Zahlungsverbotes. Für den Geschäftsführer bzw. Vorstand bedeutet der Zahlungseingang auf dem debitorischen Konto der Gesellschaft also, dass hierdurch seine persönliche Haftung wegen der zugrunde liegenden Zahlung an die Bank ausgelöst wird! Das erscheint rundheraus ungerecht, ist doch die Realisierung von Forderungen bei Schuldnern der Gesellschaft eine wesentliche Aufgabe der Geschäftsführung bzw. des Vorstands, ganz besonders in einer Krise der Gesellschaft. Die Ursache dieses Haftungsproblems liegt auf den ersten Blick darin, dass die Überweisung auf ein im Minus befindliches Konto erfolgt. Denn isoliert betrachtet ist die Rückführung eines negativen Kontosaldos in der Tat eine Zahlung an die Bank. Tatsächlich ist aber die angesprochene Fokussierung der Innenhaftung auf die Aktivseite des Gesellschaftsvermögen die Wurzel des (Haftungs-) Übels (Abschn. 11.4). Die Innenhaftung interessiert sich bekanntlich nicht dafür, ob durch die Fortführung des Geschäftsbetriebs in der Krise per saldo ein Schaden entsteht. Vielmehr fokussiert sich die Innenhaftung über das Zahlungsverbot einseitig auf das Aktivvermögen (also die Zahlungseingänge). Die Passivseite (also die Reduzierung der Verbindlichkeit gegenüber der Bank) bleibt außer Betracht (Abschn. 11.4). Aufgrund ihrer einseitigen Sichtweise addiert die Innenhaftung schematisch selbst dann sämtliche Zahlungseingänge haftungserhöhend, wenn diese allein daraus

11.7  Sondersituation: Zahlungseingang auf debitorischem Konto

101

resultieren, dass immer wieder dasselbe Geld bzw. derselbe Betrag vom Konto der Gesellschaft zunächst wegüberwiesen wird, dann aber als Zahlung von einem Dritten an die Gesellschaft zurückfließt. Indem die Gesellschaft also beispielsweise immer wieder mit einem Betrag von einmal eingegangenen EUR 10.000,- wirtschaftet und dieses Geld aber dann zeitlich versetzt mehrfach an die GmbH zurückfließt, muss der Organvertreter unter Umständen für ein Vielfaches der EUR 10.000,- einstehen, obwohl im Ergebnis womöglich nur einmal der negative Banksaldo um EUR 10.000,- verringert worden ist. Auf der Suche nach einem Ausweg aus diesem Haftungsdilemma könnte man zunächst auf die Idee kommen, dass Zahlungseingänge auf einem debitorischen Konto haftungsneutral möglich sein müssen, weil sie dazu führen, dass weitere Verfügungen über das Konto möglich werden. Die Rechtsprechung hat solchen Überlegungen aber eine Absage erteilt. Das ist im Grundsatz richtig: das Konto bleibt nicht offen, weil auf ihm Überweisungen eingehen, sondern weil die kontoführende Bank die Entscheidung trifft, dass das Konto nicht geschlossen wird. Leider ist aber auch die von der Rechtsprechung angebotene Lösung des Problems nicht überzeugend. So hat der Bundesgerichtshof in einer vielbeachteten Entscheidung aus dem Jahr 1999 die Auffassung vertreten, dass der Geschäftsführer einen für die Gesellschaft bestimmten Scheck nicht auf ein debitorisches Konto einziehen dürfe, wenn er seine persönliche Haftung wegen der damit bewirkten Zahlung an die Bank vermeiden wolle. Vielmehr müsse er den Scheck auf ein anderes Konto einlösen, welches sich nicht im Minus befinde. Notfalls müsse eben ein im Plus geführte Konto bei einer anderen Bank eröffnet werden.9 Heutzutage gibt es zwar immer weniger Schecks, aber die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze gelten für Geldeingänge per Überweisung auf ein debitorisches Konto entsprechend. In der Sache ist der vorgeschlagene Weg jedoch unrealistisch – unabhängig davon, ob das Geld nun per Scheck oder Überweisung eingeht. So werden Manager in der Krise ihrer Gesellschaft kaum Zeit und Nerven dafür haben, eine weitere Kontoverbindung zu eröffnen, unabhängig davon, ob eine Bank überhaupt bereit sein wird, angesichts der drohenden Insolvenz noch eine neue bzw. weitere Geschäftsbeziehung mit der Gesellschaft zu beginnen. Insofern sind Zahlungseingänge per Überweisung sogar noch schwieriger auf ein anderes Konto umzulenken als Zahlungen per Scheck. Kann ein Scheck zumindest „in der Schublade“ verwahrt werden, bis sich die Situation wieder bessert, so hat der Geschäftsführer im Fall der Überweisung praktisch keine Möglichkeit, auf den Zahlungseingang Einfluss zu nehmen und diesen auf ein anderes Konto zu leiten. Schließlich waren die Kontodaten des im Minus befindlichen Konto in aller Regel auf der vor geraumer Zeit versendeten Rechnung aufgedruckt und sind längst in der

9Urteil

des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 29.11.1999 – II ZR 273/98.

102

11  Zahlungsverbot und Innenhaftung

elektronischen Buchhaltung des Zahlungsschuldners gespeichert. In dieser Phase einem bzw. einer Vielzahl von Schuldnern noch eine neue Bankverbindung mitzuteilen, dürfte praktisch unmöglich sein. Unter Umständen wird eine solche Aktion die Krise des Zahlungsempfängers sogar noch verschlimmern. Kommentar

An dieser Stelle muss (deutliche) Kritik an der gegenwärtigen Rechtslage geübt werden. Es darf nicht vom Zufall abhängen, ob sich ein Manager durch den Erhalt einer von einem Dritten geschuldeten Zahlung haftbar macht oder nicht, insbesondere, wenn sich die Gesellschaft zwar in einer Krise befindet, ein Insolvenzantrag aber ausdrücklich noch nicht gestellt werden muss.10 Solange die Gesetzeslage aber nicht geändert wird, ist die Haftung des Geschäftsführers bzw. Vorstands für Zahlungseingänge auf dem debitorischen Konto jedoch folgerichtig – diese ergibt sich als Konsequenz der auf das Aktivvermögen beschränkten Sichtweise des Gesetzes (Abschn. 11.4). Das geltende Recht ist also (zähneknirschend) anzuwenden. Die Praxis wird sich also auf absehbare Zeit mit der Innenhaftung und ihren Problemen arrangieren müssen. Aus der Sicht von Organvertretern, die von Insolvenzverwaltern wegen verbotener Zahlungen in Anspruch genommen werden, dürfte es allerdings immer sinnvoll sein, nicht nur tatbestandlich gegen die Innenhaftung anzukämpfen. Gerade im Rahmen von Haftpflichtprozessen sollte immer auch die strukturelle Fragwürdigkeit der Innenhaftung thematisiert werden. Man kann nur hoffen, dass der Gesetzgeber diese problematische Haftungsfigur irgendwann abschaffen wird.

Zum Glück akzeptiert die Rechtsprechung jedoch bereits heute eine Argumentation, mit der eine Haftung des Geschäftsführers bzw. Vorstands in vielen Fällen ausgeschlossen sein wird. Hiernach sind Zahlungseingänge auf ein im Minus geführtes Konto ausnahmsweise nicht haftungsrelevant, wenn die kontoführende Bank über eine Kreditsicherheit verfügt (Abschn. 11.8). Unschädlich im Hinblick auf die Innenhaftung sind auch Zahlungen, die der Geschäftsführer von einem debitorischen Konto leistet. Erlaubt die Bank also weitere Verfügungen von dem im Minus befindlichen Konto, stellen entsprechende Überweisungen keine Zahlung im Sinn der Innenhaftung dar. Denn weil sich das Konto schon im Soll befindet, wird mit der weiteren Überweisung kein (Aktiv-) Vermögen der Gesellschaft verringert. Die weitere Verfügung bedeutet lediglich einen juristisch unerheblichen Gläubigerwechsel. Da sich das Konto bereits im Minus befindet, haben

10Eine solche Konstellation kann sich während der zulässigen Inanspruchnahme der Sanierungsfrist ergeben (Abschn. 9.7).

11.8  Keine Haftung bei Zahlungen an besicherte Gläubiger

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weitere Verfügungen keine Auswirkung auf das Aktivvermögen der Gesellschaft – der Anwendungsbereich der Innenhaftung ist also gar nicht berührt (Abschn. 11.4). Ebenfalls haftungsrechtlich neutral sind Zahlungseingänge auf einem auf Guthabenbasis geführten, kreditorischen Konto. Durch eine entsprechende Gutschrift wird das Aktivvermögen der Gesellschaft ja vergrößert, sodass die Gutschrift das exakte Gegenteil einer Zahlung bedeutet. Durch Überweisungen von einem kreditorischen Konto schließlich wird das Aktivvermögen der Gesellschaft ohne weiteres geschmälert, sodass haftungsrelevante Zahlungen im Sinn der Innenhaftung vorliegen.

11.8 Keine Haftung bei Zahlungen an besicherte Gläubiger In der verwirrenden Vielfalt von Sachverhaltsvarianten gibt es einen Lichtblick: eine Haftung für Zahlungen im Insolvenzstadium besteht nicht, wenn die Zahlung an einen besicherten Gläubiger und zur Tilgung der besicherten Forderung erfolgt. Hat sich beispielsweise die Bank, bei der das debitorische Konto geführt wird, eine Sicherungsabtretung an sämtlichen Forderungen der Gesellschaft gegen deren (Dritt-) Schuldner einräumen lassen (Globalzession), so ist der Zahlungseingang gleichzeitig eine Realisierung der Sicherheit. Diese besteht darin, dass die zur Sicherheit an die Bank abgetretene Forderung zugunsten der Bank eingezogen wird – selbst wenn die Bank hierbei gar nicht aktiv tätig wird und der an die Gesellschaft überweisende Drittschuldner nichts von der Globalzession weiß. Die Überweisung des Drittschuldners an die Gesellschaft ist nichts anderes als die (teilweise) Rückführung eines besicherten Kredits. Diese Privilegierung von Zahlungen an besicherte Gläubiger hat folgenden Hintergrund: Verfügt ein Gläubiger über eine Kreditsicherheit, so kann er im Insolvenzfall ohnehin vorrangige Befriedigung vor allen anderen (ungesicherten) Gläubigern verlangen. Die allgemeine Gläubigergesamtheit erleidet gar keine Einbuße, wenn ein besicherter Gläubiger eine vollständige, also nicht nur quotale Erfüllung seiner Forderung erhält. Die Zahlung an einen besicherten Gläubiger löst also deshalb keine Haftung des Managers aus, weil der besicherte Gläubiger „sein Geld“ ohnehin aus der Sicherheit erhalten hätte. Das Entfallen einer Haftung des Organvertreters für die Zahlung an den besicherten Gläubiger setzt voraus, dass die Kreditsicherheit des Gläubigers zivilrechtlich wirksam ist und auch nicht mit der Insolvenzanfechtung angegriffen werden kann. Darüber hinaus darf die Kreditsicherheit auch nicht erst wirksam bzw. werthaltig geworden sein, nachdem die schuldnerische Gesellschaft zahlungsunfähig (Kap. 7) oder überschuldet (Kap. 8) geworden ist. Die Wirksamkeit bzw. Werthaltigkeit der Sicherheit muss vielmehr schon vor dem Insolvenzeintritt bestanden haben. Die Haftung des Geschäftsführers bzw. Vorstands entfällt nicht nur, wenn der Zahlungsempfänger durch eine Globalzession gesichert ist. Sie entfällt ebenso, wenn

104

11  Zahlungsverbot und Innenhaftung

Zahlungen auf Forderungen erfolgen, die durch Pfandrechte, Eigentumsvorbehalt oder Sicherungsübereignung gesichert sind. Beispiel

Am Beispiel einer Raumsicherungsübereignung lässt sich eine Konstellation erläutern, bei der sich die einem Gläubiger ursprünglich gewährte Sicherheit im Verlauf der Geschäftstätigkeit wie ein Chamäleon ihre Erscheinungsform ändert bzw. in einem anderen Sicherungsgut fortsetzt. Auch solche Sicherheiten, die ihre Form verändern, lassen eine Haftung wegen Zahlungen entfallen. Ausgangspunkt ist das einer Bank im Wege eines Raumsicherungsvertrages übereignete Rohmaterial. Man spricht hier auch von Sicherungseigentum. Dieses wird vom Unternehmen verarbeitet und dann an einen Abnehmer veräußert. Dabei unterliegt die Kaufpreisforderung der Gesellschaft gegen diesen Abnehmer regelmäßig einer Globalzession, sodass alle Kontoeingänge (also auch die Zahlungen des Abnehmers) wiederum wirtschaftlich der Bank zustehen. Befindet sich das Konto dann bei Eingang des Kaufpreises im Minus, ist die Vereinnahmung des Kaufpreises nichts anderes als die Realisierung des ursprünglich am Rohstoff bestehenden Sicherungseigentum. Das Sicherungseigentum am Rohmaterial ist unter Wechsel seiner Erscheinungsform zu einer Sicherungsabtretung der (Kaufpreis-) Forderung gegen den Abnehmer geworden. Das ursprüngliche Raumsicherungsrecht der Bank ist also die Ursache dafür, dass die Gutschrift des Kaufpreises auf dem debitorischen Konto ohne Risiko einer persönlichen Haftung des Geschäftsführers oder Vorstands vereinnahmt werden kann.11

11.9 Beweislastverteilung Um den Wegfall der Haftung wegen eines Sicherheitenrechts (Abschn. 11.8) erfolgreich geltend machen zu können, muss der Organvertreter nach der Rechtsprechung den Beweis erbringen, dass die fragliche Kreditsicherheit bereits vor Eintritt der Insolvenzreife und nicht erst nach Eintritt von Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung begründet bzw. werthaltig geworden ist. Diese Beweislastverteilung ist insbesondere bei revolvierenden Sicherheiten wie etwa der Globalzession oder Raumsicherungsübereignung problematisch. Denn bei diesen Sicherheiten ist das Sicherungsgut permanentem Bestandswechsel bzw.

11Der Geschäftsführer muss unter diesem Blickwinkel ein besonderes Interesse daran haben, dass Kreditsicherheiten wirksam bestellt sind.

11.10  Ausnahmsweise erlaubte Zahlungen – die Rechtfertigungsklausel

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Umschlag ausgesetzt ist.12 Insoweit wird dem Geschäftsführer bzw. Vorstand ein hohes Prozessrisiko aufgebürdet. In solchen Konstellationen kommt es im Haftpflichtprozess oft zu einer mühsamen Aufarbeitung der Frage, welche Zahlungen im konkreten Fall vor und welche erst nach dem (meist zusätzlich umstrittenen) Datum des Eintritts der Insolvenzreife geleistet worden sind. Verschärft wird das Problem noch dadurch, dass der fragliche Sachverhalt in aller Regel lange Zeit zurückliegt (Abschn. 4.4). Hier kann der in Anspruch genommene Manager den ihm auferlegten Beweis (wenn überhaupt) nur nach Einsichtnahme in die Geschäftsunterlagen des Schuldners führen (Abschn. 4.4). Im Einzelfall wird dem betroffenen Geschäftsführer bzw. Vorstand nichts anderes übrig bleiben, als anhand der besonderen Umstände des Einzelfalls Argumente für eine abweichende bzw. maßvollere Verteilung der Darlegungs- und Beweislast zu entwickeln.

11.10 Ausnahmsweise erlaubte Zahlungen – die Rechtfertigungsklausel Mit der Rechtfertigungsklausel sieht das Gesetz eine ausdrückliche Ausnahme vom Zahlungsverbotes vor. Zahlungen, die unter diese Ausnahme fallen, können vom Geschäftsführer bzw. Vorstand ohne Risiko einer persönlichen Haftung vorgenommen werden. Nach der Rechtfertigungsklausel ist eine Zahlung ausnahmsweise erlaubt, wenn sie trotz Zahlungsunfähigkeit (Kap. 7) oder Überschuldung (Kap. 8) noch „mit der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsleiters“ vereinbar ist.13 Ausnahmsweise zulässig sind nach der Rechtfertigungsklausel insbesondere Zahlungen, die der Wahrung und Umsetzung aussichtsreicher Sanierungschancen dienen. Darunter fallen etwa die Überweisung der Löhne und Gehälter für alle Mitarbeiter, die für den Fortbestand des Unternehmens von Bedeutung sind oder – am Beispiel eines Taxiunternehmens – die Kosten für das weitere Betanken der Fahrzeuge, da das Unternehmen faktisch eingestellt wäre, wenn keine Transportdienstleistungen mehr erbracht werden können. Unter die Rechtfertigungsklausel fallen sowohl Vermögensabflüsse, die zur Auslotung von Sanierungsmaßnahmen zweckdienlich sind (etwa Kosten für einen Sanierungsberater) wie auch Zahlungen, mit denen Sanierungsschritte umgesetzt werden (zum Beispiel Abfindungszahlungen im Rahmen von Personalmaßnahmen). 12Wesentlicher Kritikpunkt ist der Umstand, dass die von der Rechtsprechung angewendete Beweislastverteilung von der grundsätzlichen Beweislastregel abweicht, wonach jede Partei die für sie günstigen Umstände vortragen muss. Hiernach müsste eigentlich der Insolvenzverwalter darlegen, dass die fragliche Sicherheit erst nach Eintritt der Insolvenzreife werthaltig geworden ist, nicht aber der Geschäftsführer bzw. Vorstand. 13Für Geschäftsführer einer GmbH findet sich die Rechtfertigungsklausel in § 64 Satz 2 des GmbH-Gesetzes (GmbHG), für Vorstandsmitglieder einer Aktiengesellschaft in § 92 Abs. 2 Satz 2 des Aktiengesetzes (AktG).

106

11  Zahlungsverbot und Innenhaftung

Zulässig sind in aller Regel auch Zahlungen für laufende Lohnsteuer und Sozialversicherungsbeiträge für Arbeitnehmer der Gesellschaft.14 Was im Einzelfall von der Rechtfertigungsklausel erfasst wird, hängt maßgeblich von Größe und Zuschnitt des krisenbelasteten Unternehmens und den individuellen Umständen ab. Hauptanwendungsfall der Rechtfertigungsklausel sind Zahlungen, die während der maximal dreiwöchige Sanierungsfrist geleistet werden (Abschn. 9.7). In dieser Phase ist das Unternehmen zwar zahlungsunfähig und/oder überschuldet, aber der Insolvenzantrag muss noch nicht gestellt werden (Abschn. 9.7). Da der Geschäftsbetrieb in diesem Stadium noch aufrechterhalten werden darf, ist die Rechtfertigungsklausel der Maßstab dafür, ob bzw. welche Zahlungen trotz Insolvenzreife noch haftungsneutral möglich sind. Nach Ablauf der Sanierungsfrist ist eine Berufung auf die Rechtfertigungsklausel in aller Regel nicht mehr möglich. Jetzt muss der Insolvenzantrag ohne weitere Verzögerung gestellt werden. Zahlungen sind nun praktisch nicht mehr möglich, ohne dass eine persönliche Ersatzpflicht des Geschäftsführers oder Vorstand ausgelöst wird (Abschn. 9.7). In jedem Fall müssen die Voraussetzungen der Rechtfertigungsklausel für jede einzelne Zahlung konkret vorliegen. Eine summarische Rechtfertigung für eine Vielzahl von Zahlungen gibt es nicht. Die hiernach erforderliche Einzelfallprüfung kann schon bei nicht ganz kleinen Unternehmen einen erheblichen Aufwand bedeuten.

11.11 Kollision des Zahlungsverbotes mit Zahlungsgeboten oder Weisung In der Krise hat das Management nicht nur das Zahlungsverbot zu beachten. Zusätzlich besteht auch bzw. weiterhin die Pflicht, bestimmte Zahlungen in jedem Fall vorzunehmen – etwa wegen Steuerverbindlichkeiten der Gesellschaft oder Beiträgen zur Sozialversicherung. Insoweit ist aus dem Gesetz ein ausdrückliches Zahlungsgebot bzw. eine Zahlungspflicht abzuleiten. Für die betroffenen Manager hat der Konflikt zwischen Zahlungspflicht und Zahlungsverbot besondere Brisanz, weil auch die Nichterfüllung der Zahlungspflichten eine persönliche zivil- und sogar strafrechtliche Haftung nach sich ziehen kann (Abschn. 14.4, 14.7 und 14.8). So oder so würde also die Vornahme gleichermaßen wie die Unterlassung der Zahlung eine persönliche Einstandspflicht auslösen. Die Rechtsprechung löst diese Pflichtenkollision heute richtigerweise zugunsten der Zahlungspflicht auf. Das geschieht in der Weise, dass die in Erfüllung der Zahlungspflicht getätigte Überweisung von der Rechtfertigungsklausel geschützt

14Zur entsprechenden Kollision des Zahlungsverbotes mit zwingenden Zahlungsgeboten Abschn. 11.11.

11.12  Schuldhaftes Verhalten als Haftungsvoraussetzung

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wird (Abschn. 11.10). Damit kann die Zahlung vorgenommen werden, ohne dass ein haftungsrelevanter Verstoß gegen das Zahlungsverbot vorliegt. Dieses Ergebnis ist wertungsgerecht. Denn es kann dem betroffenen Manager nicht zugemutet werden, eine bestimmte Zahlung, für deren Vornahme er persönlich verantwortlich ist, nicht vorzunehmen, „nur“ weil in der Krise ein allgemeines Zahlungsverbot gilt. Als Faustformel kann man also formulieren, dass eine konkrete Zahlungspflicht dem allgemeinen Zahlungsverbot vorgeht. Allerdings überlagern nur Zahlungspflichten aufgrund zwingender gesetzlicher Anordnung das Zahlungsverbot. Gemeint sind damit solche Zahlungsverpflichtungen, die im Fall ihrer Verletzung eine persönliche zivil- und womöglich strafrechtliche Einstandspflicht des Organvertreters nach sich ziehen. Andere (einfache) Zahlungspflichten – also solche ohne persönliches Haftungsrisiko und erst recht bloß vertragliche Zahlungspflichten – gehen dem Zahlungsverbot nicht vor. Werden solche Zahlungen dennoch vorgenommen, verstößt der Geschäftsführer gegen das Zahlungsverbot und wird persönlich haftbar. Praktisch gehen dem Zahlungsverbot also nur die Erfüllung bestimmter Steuerverbindlichkeiten (etwa Lohn- und Umsatzsteuer) und die Abführung von Arbeitnehmeranteilen zur Sozialversicherung vor. Wie im Fall der Antragspflicht (Abschn. 9.9) kann die Befolgung des Zahlungsverbotes ebenso wie die Vornahme oder Nichtvornahme bestimmter Zahlungen nicht Gegenstand einer verbindlichen Weisung sein, sofern diese nicht mit der Rechtslage in Einklang steht. Das gilt entsprechend für Beschlüsse der Gesellschafter oder eines Aufsichtsrates. Praktisch heißt das: der Geschäftsführer oder Vorstand muss das Zahlungsverbot – und genauso ein zwingendes Zahlungsgebot – ausschließlich in eigener Verantwortung befolgen und kann sich zu seiner Entlastung nicht auf eine entgegenstehende Weisung oder einen Beschluss berufen (Abschn. 9.9). Folglich muss eine Weisung, deren Umsetzung das Zahlungsverbot oder ein zwingendes Zahlungsgebot verletzen würde, nicht befolgt werden; sie darf auch nicht befolgt werden. Das Handeln entgegen einer Weisung, die nicht im Einklang mit dem Gesetz steht, hat für den Organvertreter keine rechtlich nachteiligen Auswirkungen (Abschn. 9.9).

11.12 Schuldhaftes Verhalten als Haftungsvoraussetzung Eine Haftung wegen verbotener Zahlungen setzt ein schuldhaftes Verhalten des Organvertreters voraus. Es muss also ein vorsätzlicher oder zumindest fahrlässiger Verstoß gegen das Zahlungsverbot vorliegen.15

15Zum Merkmal des Verschuldens bei einer Verletzung der Antragspflicht Abschn. 9.8 und 12.2, zum strafrechtlichen Verschuldensbegriff Abschn. 14.2.

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11  Zahlungsverbot und Innenhaftung

Der Verschuldensvorwurf muss sich wenigstens auf ein Tatbestandsmerkmal beziehen, also das Vorliegen von Zahlungsunfähigkeit (Kap. 7) und/oder Überschuldung (Kap. 8), auf das Vorliegen einer Zahlung oder die Frage, ob eine Zahlung der Rechtfertigungsklausel (Abschn. 11.10) unterfällt. Wie im Fall der Antragspflicht lässt die Inanspruchnahme fachlicher Beratung den Verschuldensvorwurf für den Geschäftsführer oder Vorstand in aller Regel entfallen, selbst wenn sich später herausstellt, dass objektiv tatsächlich ein Verstoß gegen das Zahlungsverbot stattgefunden hat (Abschn. 9.8).

11.13 Haftung von Aufsichtsratsmitgliedern für verbotene Zahlungen Mitglieder eines Aufsichtsrates haften mittelbar auch für die Beachtung des Zahlungsverbotes. Anders als geschäftsführende Organvertreter können sie zwar in der Regel keine Zahlungen selbst vornehmen. Der Schutz des Vermögens, das bei Eintritt der Insolvenzreife noch vorhanden ist, obliegt ihnen trotzdem. Deshalb können Mitglieder des Aufsichtsrats gegenüber der Gesellschaft haftbar werden, wenn sie Verstöße der Geschäftsführung oder des Vorstands gegen des Zahlungsverbots erkennen und diese nicht abstellen. Der Aufsichtsrat haftet also – wie sonst auch – für die Überwachung der geschäftsführenden Organvertreter, wobei sich in der Krise die Überwachung eben auf die Antragspflicht und das Zahlungsverbot fokussiert (Abschn. 2.3 und 9.11). Zur Durchsetzung des Zahlungsverbotes und damit der Erfüllung der Überwachungspflicht hat der Aufsichtsrat geeignete Maßnahmen zu ergreifen, insbesondere Weisungen zu erteilen (Abschn. 2.3 und 9.11). Äußerstenfalls müssen Geschäftsführer bzw. Vorstände, die das Zahlungsverbot missachten, abberufen und neue Organvertreter eingesetzt werden. Erfolgt die Verletzung des Zahlungsverbotes durch Gutschriften auf einem debitorischen Konto (Abschn. 11.7), muss der Aufsichtsrat seine Überwachungspflicht mit besonderem Augenmaß ausüben. Da die Zahlungseingänge für die Gesellschaft grundsätzlich positiv sind, wird man dem Aufsichtsrat im Ergebnis keinen Vorwurf machen können, wenn er nicht auf die Unterbindung der entsprechenden Gutschriften hinwirkt. Dass Geschäftsführer bzw. Vorstände hier schon persönlich haften, ist in systematischer Hinsicht bedenklich genug (Abschn. 11.4 und 11.7). Für eine zusätzliche Haftung des Aufsichtsrats besteht erst recht kein Bedürfnis. Eine entsprechende Einstandspflicht dürfte auch in Ermangelung von Verschulden in vielen Fällen ausscheiden.

11.14  Verhältnis der Innenhaftung zur Haftung wegen Insolvenzverschleppung

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Nach der Rechtsprechung haften die Mitglieder eines nur fakultativ, also nicht aufgrund gesetzlicher Anordnung gebildeten Aufsichtsrats weniger streng als die Mitglieder eines obligatorischen, also aufgrund gesetzlicher Pflicht gebildeten Aufsichtsrates.16

11.14 Verhältnis der Innenhaftung zur Haftung wegen Insolvenzverschleppung Hintergrund

Solange die Innenhaftung (noch) nicht abgeschafft ist, stellt sich immer wieder die Frage, in welchem Verhältnis sie zur (Außen-) Haftung von Geschäftsführern und Vorständen wegen Verletzung der Antragspflicht steht (Kap. 12). Obwohl sich die Haftung wegen Verletzung der Antragspflicht gerade aufgrund der Schwächen der Innenhaftung gebildet hat und diese eigentlich ersetzen sollte, existieren die beiden Haftungssysteme heute nebeneinander. Zumindest in der Theorie könnte ein Organvertreter als sowohl wegen Verletzung der Antragspflicht als auch – zusätzlich (!) – wegen verbotener Zahlungen nach Eintritt der Insolvenzreife haftbar werden. Praktisch überschneiden sich Innen- und Außenhaftung aber vielfach. Insbesondere können Zahlungen, die unter Verstoß gegen das Zahlungsverbot geleistet worden sind, gleichzeitig wirtschaftlicher Bestandteil eines Altgläubigerschadens sein (Abschn. 12.3). In Randbereichen können sie sogar den Ausfallschaden eines oder mehrerer Neugläubiger darstellen (Abschn. 12.4). Falls der Organvertreter unter beiden Gesichtspunkten haftbar sein sollte, muss er die verursachte Vermögenseinbuße nur einmal ausgleichen. Eine Haftung wegen Verletzung des Zahlungsverbotes ist dann auf den Umfang der Einstandspflicht wegen Insolvenzverschleppung anzurechnen (oder umgekehrt). Praktisch werden Geschäftsführer oder Vorstände daher meist nur aus einem Haftungssystem in Anspruch genommen, und zwar regelmäßig aus der für Insolvenzverwalter einfacher zu realisierenden Innenhaftung.

16Obligatorische Aufsichtsräte gibt es bei Aktiengesellschaften und Genossenschaften sowie aufgrund der Gesetze zur unternehmerischen Mitbestimmung (insbesondere Mitbestimmungsgesetz und Drittelbeteiligungsgesetz).

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11  Zahlungsverbot und Innenhaftung

11.15 Bei Eigenverwaltung: Haftung auch nach Antragstellung Der zeitliche Anwendungsbereich der Innenhaftung endet praktisch meist mit der Stellung eines Insolvenzantrages (Abschn. 10.2). Denn mit der Bestellung eines vorläufigen Verwalters verliert die Geschäftsführung regelmäßig die Befugnis zur autonomen Verfügung über das Vermögen der Gesellschaft (Abschn. 13.2 und 13.3). Damit fehlt es dann an der juristischen Möglichkeit, überhaupt noch Zahlungen vorzunehmen. In Fällen vorläufiger Eigenverwaltung (Abschn. 10.3) bleibt das Zahlungsverbot aber auch nach der Antragstellung noch gefährlich. Hier geht es um Konstellationen, in denen das Management auch im Rahmen des (vorläufigen) Insolvenzverfahrens nach wie vor entscheidungs- und verfügungsbefugt bleibt. Welchen Umfang die Innenhaftung bei vorläufiger Eigenverwaltung hat, ist allerdings umstritten, da es an höchstrichterlicher Rechtsprechung hierzu bislang fehlt.

Damit das Haftungsrisiko für die betroffenen Manager auch in der vorläufigen Eigenverwaltung überschaubar bleibt – immerhin will der Gesetzgeber ja einen Anreiz für Eigenverwaltungsverfahren geben – sollte die Rechtfertigungsklausel (Abschn. 11.10) in diesen Fällen „eigenverwaltungsspezifisch“ ausgelegt werden. Erlaubt bzw. haftungsneutral möglich sind danach alle Zahlungen, die im Hinblick auf eine Sanierung in Eigenverwaltung geeignet, erforderlich und angemessen sind.

Spätestens mit der endgültigen Eröffnung des Insolvenzverfahrens endet das Risiko einer Innenhaftung, und zwar unabhängig davon, ob es sich um ein Eigenverwaltungsverfahren oder ein Regelinsolvenzverfahren handelt. Denn der Schutzweck des Zahlungsverbotes ist auf die (endgültige) Eröffnung eines Verfahrens gerichtet; wenn bzw. sobald diese stattfindet (Abschn. 13.5), entfällt auch das Risiko einer Haftung wegen verbotener Zahlungen.

11.16 Haftung auf Zahlungsersatz bei Auslandsgesellschaften Auch die Organvertreter von Gesellschaften mit ausländischer Rechtsform (etwa die englische Limited, eine niederländische B.V. oder die französische S.a.r.l.) müssen das Zahlungsverbot beachten. Sie können der Innenhaftung unterliegen, wenn über solche Gesellschaften ein deutsches Insolvenzverfahren eröffnet werden kann. Insoweit ist es unerheblich, ob es sich bei dem Unternehmen um eine echte Auslandsgesellschaft oder eine bloße Scheinauslandsgesellschaft handelt (Abschn. 9.14). Obwohl die Haftung wegen verbotenen Zahlungen – anders als die Insolvenzantragspflicht (Abschn. 9.14) – gerade nicht rechtsformneutral ausgestaltet ist, hat die

11.18  Sonderfall: Zahlungen an Gesellschafter

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europäische und deutsche Rechtsprechung zugunsten einer Anwendung des Zahlungsverbotes auch auf Auslandsgesellschaften entschieden. Hierauf wird sich die Praxis einstellen müssen. Umgekehrt bedeutet das: durch die Wahl einer ausländischen Rechtsform für ein (auch) in Deutschland tätiges Unternehmen kann das Zahlungsverbot nicht umgangen werden.

11.17 Verjährung der Haftung für verbotene Zahlungen Die Haftung wegen verbotener Zahlungen verjährt taggenau fünf Jahre nach Vornahme der fraglichen Zahlung. Wurde die verbotene Zahlung als zum Beispiel am 15. März 2017 vorgenommen, so verjährt die Haftung für diese Zahlung mit Ablauf des 15. März 2022. Steht eine Vielzahl von Zahlungen während eines mehr oder weniger langen Zeitraums infrage, gibt es also eine Vielzahl unterschiedlicher Verjährungstermine. Im Einzelfall ist deshalb sorgfältig zu prüfen, ob bzw. inwieweit die Haftung eines Geschäftsführers oder Vorstands noch nicht verjährt ist oder ob sie sich bereits „ausgewachsen“ hat. Damit verjährt die Innenhaftung später als die Haftung infolge einer Verletzung der Insolvenzantragspflicht (Abschn. 12.7) oder Ansprüche wegen Insolvenzanfechtung (Abschn. 15.3).17

11.18 Sonderfall: Zahlungen an Gesellschafter Neben dem bislang behandelten (allgemeinen) Zahlungsverbot kennt das Gesetz auch noch ein zusätzliches, besonderes Verbot bestimmter Zahlungen, soweit diese an einen bestimmten Empfängerkreis geleistet werden – nämlich an Gesellschafter des Unternehmens.18 So verbietet das Gesetz Zahlungen an Gesellschafter schon dann, wenn und soweit diese zur Zahlungsunfähigkeit (Abschn. 7.1) der Gesellschaft führen mussten. Bei diesem besonderen Zahlungsverbot geht es also um Transfers, durch welche die Illiquidität der Gesellschaft erstmals herbeigeführt wird und die also im zeitlichen Vorfeld der bereits eingetretenen Zahlungsunfähigkeit erfolgen. Stark vereinfacht geht es hier um Zahlungen an Gesellschafter, die im Stadium drohender Zahlungsunfähigkeit (Abschn. 7.6) getätigt werden.

17Zu

der daraus resultierenden Problematik für die Innenhaftung Abschn. 15.4. wird für die GmbH hier die Regelung des § 64 Satz 3 des GmbH-Gesetzes (GmbHG) genannt. Inhaltlich gleichlautende Vorschriften gibt es für die GmbH & Co. KG, die Aktiengesellschaft und die Genossenschaft. 18Beispielhaft

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11  Zahlungsverbot und Innenhaftung

Die Folgen einer Verletzung dieses Verbotes von Zahlungen an Gesellschafter entsprechen den Folgen eines Verstoßes gegen das allgemeine Zahlungsverbot: verbotswidrig geleistete Zahlungen müssen vom Geschäftsführer bzw. Vorstand aus seinem Privatvermögen erstattet werden (Abschn. 11.3). Hintergrund

Das Verbot der Zahlungen an Gesellschafter stellt einen Fall der praktisch selten vorkommenden Insolvenzverursachungshaftung dar (Abschn.  3.2). Die entsprechende gesetzliche Regelung ist 2008 unter anderem in Reaktion auf leveraged finance – Transaktionen geschaffen worden, bei den der Käufer eines Unternehmens den zu entrichtenden Kaufpreis faktisch aus dem erworbenen Unternehmen entnimmt. Bisher hat das Verbot von Zahlungen an Gesellschafter keine nennenswerte Bedeutung erlangt, auch weil der gesetzliche Tatbestand durch einige problematische bzw. umstrittene Merkmale gekennzeichnet ist.

Rein praktisch sollten Geschäftsführer und Vorstände krisenbelasteter Gesellschaften im Interesse ihrer Haftungsvermeidung Zahlungen an Gesellschafter grundsätzlich immer verweigern, wenn auch nur das entfernte Risiko eines Liquiditätsengpasses besteht. Das Verbot von Zahlungen an Gesellschafter unterliegt – ebenso wie das allgemeine Zahlungsverbot – nicht der Weisungsbefugnis eines Aufsichtsrates oder des Gesellschafterkreises (Abschn. 11.11).

11.19 Das Wichtigste in Kürze • Das Zahlungsverbot ist neben der Insolvenzantragspflicht (Kap. 9) die wichtigste Pflicht, die Geschäftsführer und Vorstände in der Unternehmenskrise zu beachten haben. • Ein Verstoß gegen das Zahlungsverbot führt zu einer weitreichenden persönlichen Ersatzpflicht der Organvertreter. Trotz ihrer systematischen Schwächen ist die am Zahlungsverbot anknüpfende Innenhaftung die praktisch am häufigsten von Insolvenzverwaltern geltend gemachte Haftung und deshalb für Manager besonders gefährlich. • Zahlungsverbot und Innenhaftung stellen allein auf Veränderungen des Aktivvermögens des Unternehmens ab. Das ist historisch erklärbar, praktisch aber problematisch und kann für die Betroffenen zu unbilligen Ergebnissen führen. Diese müssen hingenommen werden, bis der Gesetzgeber tätig wird und die Rechtslage ändert.

11.19  Das Wichtigste in Kürze

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• Das Zahlungsverbot wird durch den Eintritt von Zahlungsunfähigkeit (Kap. 7) und/ oder Überschuldung (Kap. 8) ausgelöst. Geht es um Zahlungen, die an Gesellschafter des Unternehmens fließen sollen, sind diese schon dann verboten, wenn der spätere Eintritt der Zahlungsunfähigkeit erkennbar bzw.  zu befürchten ist. • Dreh- und Angelpunkt ist der Begriff der Zahlung (Abschn. 11.4). Hierunter fällt jede Verringerung des Aktivvermögens der Gesellschaft. Die Begründung einer Verbindlichkeit wird nicht erfasst. Gegenleistungen für Zahlungen, die in das Gesellschaftsvermögen vereinnahmt werden, können unter engen Voraussetzungen die Haftung des Organvertreters ausschließen bzw. verringern. • Das Zahlungsverbot ist bereits während des Laufs der Sanierungsfrist (Abschn. 9.7) zu beachten. Insoweit formuliert die im Gesetz enthaltene Rechtfertigungsklausel (Abschn. 11.10) allerdings eine (enge) Ausnahme vom Zahlungsverbot für Vermögenstransfers, die im Rahmen aussichtsreicher Sanierungsmaßnahmen notwendig und angemessen sind. • Kollidiert das Zahlungsverbot mit zwingenden gesetzlichen Zahlungspflichten (insbesondere für Steuern und Sozialabgaben), so gehen die Zahlungspflichten dem Zahlungsverbot grundsätzlich vor und lösen also keine persönliche Haftung des Managers aus. • Eine „berüchtigte“ Fallgruppe des Zahlungsverbotes ist der Zahlungseingang auf einem debitorischen Konto des Unternehmens (Abschn. 11.7). Die Gutschrift ist nach der Logik des Gesetzes als Zahlung an die Bank anzusehen und führt daher zu einer höchst problematischen Ersatzpflicht des Organvertreters. Die hierzu von der Rechtsprechung entwickelte Kasuistik ist komplex und mit natürlicher Anschauung kaum noch nachzuvollziehen. Juristisch ist sie folgerichtig, wenn man die – nach gegenwärtiger Gesetzeslage hinzunehmende – begrenzte Sichtweise des Zahlungsverbotes auf die Aktivseite zugrunde legt. • Auch wenn das Zahlungsverbot – anders als die Antragspflicht (Abschn. 9.1) – nicht rechtsformneutral formuliert ist, kann es auch die gesetzlichen Vertreter ausländischer Gesellschaften treffen, wenn über diese ein Insolvenzverfahren in Deutschland eröffnet wird.

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Haftung wegen Insolvenzverschleppung

Ein Organvertreter, der die Antragspflicht (Kap. 9) verletzt, haftet den Gläubigern für die daraus entstehenden Schäden. Zu einer zivilrechtlichen Haftung wegen Insolvenzverschleppung kommt in der Praxis allerdings selten, da die Ermittlung der Schäden schwierig ist. Strafrechtliche Ermittlungen wegen Insolvenzverschleppung (Abschn. 14.2) werden dagegen häufig eingeleitet.

12.1 Der Begriff der „Insolvenzverschleppung“ Hintergrund

Die Haftung bei Verletzung der Insolvenzantragspflicht (Kap. 9) wird auch als Haftung wegen Insolvenzverschleppung bezeichnet. Dieser Begriff ist inhaltlich schief. Verschleppt wird weder die Insolvenz als solche, noch wird das Insolvenzverfahren verschleppt, indem etwa ein eingeleitetes Verfahren unnötig in die Länge gezogen würde. Vielmehr meint der Begriff der Insolvenzverschleppung, dass ein notwendiges Insolvenzverfahren überhaupt nicht oder jedenfalls zu spät eingeleitet wird. Der Umstand, dass ein Verfahren zu einem bestimmten Zeitpunkt rechtzeitig, bei dessen Verstreichen also dann verspätet eingeleitet wird, folgt allein daraus, dass das Gesetz eine Antragspflicht überhaupt formuliert. Gäbe es keine Vorschrift, die den pflichtgemäßen Antragszeitpunkt vorgibt, so gäbe es auch keine Insolvenzverschleppung und erst recht keine entsprechende Haftung (Abschn. 3.1 und 9.2). Antragspflicht und Verschleppungshaftung bedingen einander also. Bei der Antragspflicht handelt es um eine abstrakte, keineswegs schon aus natürlicher Anschauung oder gesundem Menschenverstand ableitbaren Handlungspflicht

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Poertzgen, Haftungsvermeidung in der Unternehmenskrise, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30083-8_12

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12  Haftung wegen Insolvenzverschleppung

(Abschn. 9.2). Deshalb ist es für die betroffenen Geschäftsführer und Vorstände besonders gefährlich, dass eine Verletzung der Antragspflicht auch strafrechtliche Relevanz haben kann (Abschn. 14.2). Die tatsächlichen Gründe für das Phänomen der Insolvenzverschleppung sind vielfältig. Insbesondere bei familiär bzw. mittelständisch geprägten Unternehmen spielt häufig (auch) die Angst vor dem vermeintlichen Eingeständnis eigenen Scheiterns bzw. dem Verlust des Unternehmens als Folge des Insolvenzverfahrens eine Rolle. Erfahrungsgemäß kann man davon ausgehen, dass Manager ohne gesellschaftsrechtliche Beteiligung am Unternehmen die Antragspflicht seltener verletzen als Organvertreter, die auch Gesellschafter ihres Unternehmens sind.

12.2 Die Insolvenzantragspflicht als Schutzgesetz zugunsten der Gläubiger Die gesetzliche Ausgestaltung der Antragspflicht enthält keine ausdrückliche Regelung zu den zivilrechtlichen Folgen einer Pflichtverletzung.1 Deshalb wird die Antragspflicht als deliktisches Schutzgesetz im Sinn des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) angesehen. Da das Bürgerliche Gesetzbuch bei Verletzung eines Schutzgesetzes als Rechtsfolge die Leistung von Schadensersatz anordnet,2 muss ein Manager, dem eine Verletzung der Antragspflicht zur Last fällt, demnach aus seinem Privatvermögen Ersatz für den durch die Pflichtverletzung entstehenden Schaden leisten. Auslöser der Haftung wegen Insolvenzverschleppung ist also jede vorsätzlich oder zumindest fahrlässig verspätete oder unterlassene Stellung eines Insolvenzantrages, sofern die Antragspflicht (Kap. 9) einschlägig ist.3 Kommt es zu einer Verletzung der Antragspflicht, so haftet der betroffene Organvertreter direkt gegenüber den Gläubigern der Gesellschaft. Man spricht hier auch von (deliktischer) Außenhaftung. Im Unterschied dazu wird die Verantwortlichkeit wegen

1Die Insolvenzantragspflicht in § 15a der Insolvenzordnung (InsO) normiert. Anders als die im Gesetz fehlende zivilrechtliche Haftungsfolge ist die Strafbarkeit einer Antragspflichtverletzung in § 15a Abs. 4 und 5 InsO ausdrücklich geregelt. 2Die entsprechende gesetzliche Regelung findet sich in § 823 Abs. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB). 3Das gilt entsprechend für eine Verletzung der Überwachungspflicht in Bezug auf die Antragspflicht, sei es durch intern nach Ressortverteilung nicht zuständige Organvertreter (Abschn. 2.1) oder Aufsichtsratsmitglieder (Abschn. 9.11); zum Erfordernis einer schuldhaften Verletzung der Antragspflicht siehe Abschn. 9.8; der Verschuldensvorwurf entfällt regelmäßig, wenn der Geschäftsführer fachlich qualifizierte Beratung in Anspruch nimmt (Abschn. 9.8).

12.3  Der Quotenschaden der Altgläubiger

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Verletzung des Zahlungsverbotes als (gesellschaftsrechtliche) Innenhaftung bezeichnet (Abschn. 11.1). Denn diese beruht auf einem Anspruch der Gesellschaft bzw. ihres Insolvenzverwalters gegen den Geschäftsführer und besteht also nicht direkt zugunsten der Gläubiger. Der durch die Antragspflichtverletzung entstehende Schaden und damit der Haftungsumfang hängen davon ab, ob es sich bei dem geschädigten Forderungsinhaber um einen Altgläubiger oder um einen Neugläubiger handelt.

12.3 Der Quotenschaden der Altgläubiger Als Altgläubiger werden die Forderungsinhaber bezeichnet, deren Ansprüche gegen die insolvente Gesellschaft bereits zu dem Zeitpunkt existieren, in dem die Insolvenzantragspflicht wirksam wird und dementsprechend die Phase der Insolvenzverschleppung beginnt. Ein Altgläubiger ist also schon Gläubiger, bevor die Insolvenzverschleppung beginnt. Der von einem Altgläubiger erlittene Schaden heißt Quotenschaden. Er bestimmt sich aus der Differenz zwischen der fiktiven (höheren) Insolvenzquote, die dieser Gläubiger bei rechtzeitiger Stellung des Insolvenzantrages erhalten hätte, und der realen (niedrigeren) Insolvenzquote, die der Gläubiger aus dem verspätet eingeleiteten Insolvenzverfahren tatsächlich erhält. Die Höhe des Quotenschadens hängt zunächst davon ab, wie sich das Aktivvermögen der Gesellschaft während des Zeitraums verändert, innerhalb dessen die Insolvenz verschleppt wird. Aber selbst wenn das Aktivvermögen unverändert bleibt, kann ein Quotenschaden eintreten, indem weitere Verbindlichkeiten (also Forderungen von Neugläubigern) begründet werden. Denn jetzt muss das Aktivvermögen anteilig auf mehr Forderungen verteilt werden, sodass alle Gläubiger letztlich eine geringere Quote erhalten. So einfach die Bestimmung des Quotenschadens theoretisch ist, so schwierig ist seine Berechnung in der Praxis. Denn eine Ermittlung der tatsächlichen Schadenshöhe setzt voraus, dass das Datum feststeht, zu dem der Insolvenzantrag hätte gestellt werden müssen. In der Realität kann dieser Zeitpunkt oft nur näherungsweise bestimmt werden. Wird hierzu ein Gutachten in Auftrag gegeben, kommt dieses nicht selten zum Ergebnis, dass die Insolvenzreife möglicherweise bereits zum Datum X, in jedem Fall aber zu einem späteren Datum Y eingetreten war. Ein präzises Datum Z, an dem die Antragspflicht erstmals punktgenau zu erfüllen gewesen wäre, ist tatsächlich aus dem Nachhinein kaum verlässlich zu bestimmen.4 Daher gelingt die Ermittlung des Quotenschadens aktuell nur in seltenen Fällen.

4Zur

Problematik der Aufarbeitung von potentiell haftungsrelevanten Sachverhalten mit erheblicher zeitlicher Verzögerung Abschn. 4.4 und 13.5.

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12  Haftung wegen Insolvenzverschleppung

Falls ein Quotenschaden ermittelt werden kann, so ist er für sämtliche Altgläubiger prozentual gleich hoch, bezogen auf den Nominalwert der jeweiligen Forderungen. Beträgt die tatsächlich erzielten Verfahrensquote der ungesicherten Gläubiger beispielsweise fünf Prozent des Nominalwertes der Forderungen, hätte diese Quote aber bei rechtzeitiger Antragstellung (fiktiv) neun Prozent betragen, so ist der Quotenschaden die Differenz zwischen neun und fünf Prozent, also vier Prozent der jeweiligen Forderungen. Im Ergebnis erhält also jeder Altgläubiger in diesem Beispiel eine Quote von fünf Prozent aus dem Insolvenzverfahren sowie Schadensersatz in Höhe von weiteren vier Prozent vom Geschäftsführer, jeweils bezogen auf den Nominalwert seiner Forderung. In Form des Quotenschadens kann ein Altgläubiger vom Organvertreter also lediglich eine Quotendifferenz ersetzt verlangen. Selbst bei rechtzeitiger Antragstellung, wenn also überhaupt keine Insolvenzverschleppung stattfindet, hätte der Altgläubiger keine vollständige Erfüllung seiner Forderung erwarten können. Hier realisiert sich der Grundsatz des „caveat creditor“ – der Gläubiger muss aufpassen, denn er trägt das Risiko eines Forderungsausfalls. Um sich gegen dieses Risiko zu schützen, muss er, je nach Bonität seines Geschäftspartners, durch Einfordern einer Kreditsicherheit Vorsorge gegen einen Ausfall treffen. Hat ein Altgläubiger bei Begründung seiner Forderung oder danach eine (werthaltige) Kreditsicherheit erhalten, so kann er im Insolvenzfall zunächst aus der Sicherheit Erfüllung seiner Forderung erlangen. Einen Quotenschaden erleidet der gesicherte Altgläubiger im Fall der Insolvenzverschleppung nur dann, wenn der Erlös aus der Verwertung der Sicherheit hinter dem Wert der Forderung zurückbleibt. Der diesem Gläubiger zu ersetzenden Quotenschaden bezieht sich dann allein auf den Ausfall, der nach Verwertung der Sicherheit noch verbleibt.5

12.4 Der individuelle Ausfallschaden eines Neugläubigers Ein Neugläubiger ist ein Forderungsinhaber, dessen Anspruch gegen einen insolvenzreifen Schuldner erst nach Entstehung der Insolvenzantragspflicht und damit während der Insolvenzverschleppung begründet wird. Das typische Beispiel eines Neugläubigers ist der Lieferant, der in Unkenntnis der bereits bestehenden Insolvenz seines Kunden noch Ware liefert und dann vergeblich auf Bezahlung wartet. Bei rechtzeitiger Antragstellung hätte der Neugläubiger seine Forderung gar nicht bzw. nur zu anderen Bedingungen erworben. Wäre dem Neugläubiger nämlich bewusst gewesen, dass der Schuldner längst einen Insolvenzantrag über sein Vermögen hätte stellen müssen, hätte er entweder von der Aufnahme einer Geschäftsbeziehung ins-

5Die

vom Gläubiger zu treffende Vorsorge muss sich also insbesondere auch auf die Werthaltigkeit bzw. dem Umfang der eingeforderten Sicherheit beziehen.

12.5  Das problematische Abwicklungsmodell der Rechtsprechung

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gesamt Abstand genommen oder auf der Einräumung einer Sicherheit bestanden. Der entstehende Schaden ergibt sich also daraus, dass der Gläubiger erst während der Verschleppungsphase noch in die Insolvenz hineingezogen und zur Begründung einer (wertlosen) Forderung gegen einen insolventen Geschäftspartner verleitet wird. Der dem Neugläubiger zu leistende Ersatz besteht damit in der (wirtschaftlichen) Wiederherstellung des Zustandes, in dem die verlustbringende Geschäftsbeziehung zu einer insolventen Gesellschaft gar nicht begründet worden wäre. Einem Neugläubiger ist deshalb sein gesamter Ausfall zu ersetzen, gekürzt um die aus dem Insolvenzverfahren erzielte Insolvenzquote.6 Dieser Ersatz wird als Ausfallschaden oder auch als negatives Interesse bezeichnet, weil die Begründung der Forderung gegen die insolvente Gesellschaft zumindest wirtschaftlich wieder rückgängig gemacht wird.7 Verfügt der Neugläubiger über eine Sicherheit für seine Forderung, so erleidet er nur insoweit einen Ausfallschaden, als der Erlös aus der Verwertung der Sicherheit geringer ist als der Umfang seines negativen Interesses. Der vom Geschäftsführer bzw. Vorstand zu ersetzende Ausfallschaden wird in diesem Fall allein durch den Vermögensschaden definiert, der nach Verwertung der Sicherheit verbleibt. Ist jemand Inhaber mehrerer Forderungen gegen das insolvente Unternehmen, kann er gleichzeitig teilweise Alt- und teilweise Neugläubiger sein.

12.5 Das problematische Abwicklungsmodell der Rechtsprechung Neben den Schwierigkeiten bei der Ermittlung des (Altgläubiger-) Quotenschadens und der (Neugläubiger-) Ausfallschäden besteht das grundsätzliche Problem der zivilrechtlichen Haftung wegen Verletzung der Antragspflicht (Kap. 9) heute darin, dass die Geltendmachung und Abwicklung dieser Schäden nicht „aus einer Hand“ erfolgt. So soll nach der Rechtsprechung der Insolvenzverwalter befugt sein, allein den (prozentual identischen) Quotenschaden der Altgläubiger für diese gebündelt gegenüber dem Geschäftsführer geltend zu machen.8

6Die

Anrechnung der Insolvenzquote im Rahmen des Ausfallschadens ist erforderlich, damit der Neugläubiger infolge der Insolvenzverschleppung wirtschaftlich nicht besser steht, als wenn gar keine Insolvenzverschleppung stattgefunden hätte. 7Dagegen ist der den Altgläubigern zu leistende Quotenschaden Teil des positiven Interesses, weil diese Gläubiger im Rahmen des zu leistenden Schadensersatzes (jedenfalls teilweise) so gestellt werden, als wären ihre Forderungen ordnungsgemäß erfüllt worden. 8Die ausdrücklich im Gesetz (§ 92 Satz 1 InsO) angeordnete Zuständigkeit des Verwalters verfolgt das richtige Ziel, einen Wettlauf der Gläubiger beim Zugriff auf das Privatvermögen des Geschäftsführers zu verhindern.

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12  Haftung wegen Insolvenzverschleppung

Dagegen ist jeder Neugläubiger nach der Rechtsprechung selbst dazu berufen, seinen individuellen Ausfallschaden gegenüber dem Organvertreter geltend zu machen. Nach dem Abwicklungsmodell der Rechtsprechung kann es also eine Vielzahl einzelner Prozesse geben, nämlich einen Rechtsstreit des Insolvenzverwalters mit dem Geschäftsführer für die Altgläubiger und theoretisch jeweils einen weiteren Prozess für jeden der Neugläubiger. Eine solche Vielzahl von Prozessen birgt das Risiko, dass es divergierende Entscheidungen zu der zentralen Frage gibt, wann der Insolvenzantrag rechtzeitig hätte gestellt werden müssen. Daneben kann es weitere Auseinandersetzungen zu der Frage geben, ob ein individueller Forderungsinhaber eigentlich Alt- oder vielmehr Neugläubiger ist.

Mit der Vielzahl von Haftungsprozessen widerspricht das von der Rechtsprechung vertretene Liquidationsmodell dem Gebot der Prozessökonomie. Hiernach müsste ein Haftungsfall im Interesse aller Beteiligter möglichst schnell und effizient durch möglichst wenige Prozesse, idealerweise nur einen einzigen Rechtsstreit abschließend geklärt werden.

12.6 Das Modell des einheitlichen Quotenschadens aller Gläubiger Hintergrund

Die nach der Rechtsprechung gespaltene Liquidationsbefugnis und die damit verbundene Vielzahl von Haftungsprozessen ist der Grund dafür, dass es eine praktikable und wertungsgerechte Handhabung der zivilrechtlichen Haftung wegen Insolvenzverschleppung heute (noch) nicht gibt. Dieser juristische „Hemmschuh“ scheint für Geschäftsführer und Vorstände auf den ersten Blick vorteilhaft. So ist die Haftung wegen Verletzung der Antragspflicht (Kap. 9) derzeit ein eher stumpfes Schwert. Praktisch nehmen die Insolvenzverwalter die Geschäftsführer und Vorstände, für deren Unternehmen ein Insolvenzantrag verspätet gestellt worden ist, auch ganz überwiegend aus der Innenhaftung wegen Verletzung des Zahlungsverbotes in Anspruch (Kap. 11). Die sich hieraus ergebende Haftung ist aber deutlich härter, oft sogar unverhältnismäßig hoch und bedeutet in vielen Fällen ein an der Zumutbarkeitsgrenze liegendes persönliches Risiko für Manager in Krisensituationen (Abschn. 11.2 und 11.3 sowie 11.7). Vorzugswürdig dürfte es daher sein, die Haftung wegen Verletzung der Insolvenzantragspflicht zu stärken. Das könnte geschehen, indem die gespaltene Liquididationsbefugnis für die unterschiedlichen Schäden aufgegeben wird und

12.7  Verjährung der Haftung wegen Antragspflichtverletzung

121

vielmehr der Insolvenzverwalter für sämtliche Forderungsinhaber – also die Altund Neugläubiger – einen einheitlichen (Quoten-) Schaden beim Organvertreter liquidiert. Eine solche einheitliche Schadensabwicklung wäre auch für den in Anspruch genommenen Manager vorteilhaft, in dem dieser sich im Wesentlichen auf einen Prozess – nämlich mit dem Insolvenzverwalter als Vertreter sämtlicher Gläubiger – konzentrieren kann. Vor allem würden nicht länger schematisch Verringerungen des Aktivvermögens zulasten des Organvertreters aufaddiert (Abschn. 11.2). Vielmehr müsste der Geschäftsführer oder Vorstand nur einen per saldo wirklich entstandenen Schaden (Abschn. 11.4) im Rahmen seiner persönlichen Haftung ausgleichen. Die problematische Innenhaftung würde dann insgesamt nicht mehr gebraucht und könnte aus dem Gesetz gestrichen werden. Auch wenn das Modell eines einheitlichen Quotenschaden im juristischen Schrifttum immer mehr Anhänger findet, wird es von der Rechtsprechung (noch) abgelehnt. Praktisch werden sich Geschäftsführer und Vorstände krisenbelasteter Unternehmen daher auf absehbare Zeit noch mit der Innenhaftung auseinandersetzen müssen.

12.7 Verjährung der Haftung wegen Antragspflichtverletzung Unabhängig davon, ob man dem Abwicklungsmodell der Rechtsprechung (Abschn. 12.5) folgt oder die Geltendmachung eines einheitlichen Quotenschadens der Alt- und Neugläubiger befürwortet (Abschn. 12.6), verjährt die Haftung für Schäden wegen einer Verletzung der Insolvenzantragspflicht mit dem Ende des dritten Kalenderjahres nach dem Jahr, indem die Verletzung der Antragspflicht (Kap. 9) erfolgt ist. Hat die Antragspflichtverletzung also beispielsweise im Sommer 2019 stattgefunden, so verjährt die Haftung des Organvertreters wegen diesbezüglicher Schäden zum 31. Dezember 2022. Damit tritt die Verjährung der Haftung wegen Insolvenzverschleppung zum einen in aller Regel deutlich vor der Verjährung der Innenhaftung wegen verbotener Zahlungen (Abschn. 11.17). Zum anderen verjährt die Insolvenzverschleppungshaftung etwa zur selben Zeit wie Ansprüche aus der Insolvenzanfechtung (Abschn. 15.3).9

9Zu

der aus den unterschiedlichen Verjährungsfristen resultieren Regressproblematik Abschn. 15.3.

122

12  Haftung wegen Insolvenzverschleppung

12.8 Das Wichtigste in Kürze • Wird trotz bestehender Antragspflicht (Kap. 9) der Insolvenzantrag verspätet oder gar nicht gestellt (Insolvenzverschleppung), so haftet der antragspflichtige Organvertreter den Gläubigern persönlich auf Ersatz des entstehenden Schadens. Unabhängig von ihren zivilrechtlichen Folgen stellt die Insolvenzverschleppung auch einen Straftatbestand dar (dazu Abschn. 14.2). • Den bei Beginn der Insolvenzverschleppung bereits vorhandenen Altgläubigern haftet der antragspflichtige Organvertreter auf Ersatz des in der weiteren Verschlechterung ihrer Insolvenzquote bestehenden Schaden (Quotenschaden). • Dagegen ist ein erst nach Beginn der Insolvenzverschleppung hinzutretender Neugläubiger schadensersatzrechtlich so zu stellen, als wären er überhaupt nicht in die Insolvenz „hineingezogen“ worden; er hat Anspruch auf Ersatz seines gesamten individuellen Ausfallschadens. • Praktisch spielt die (zivilrechtliche) Haftung wegen Verletzung der Antragspflicht derzeit nur eine untergeordnete Rolle. Das hat mit praktischen Schwierigkeiten bei der Berechnung der verschiedenen Schäden zu tun sowie dem Umstand, dass die entsprechenden Vermögenseinbußen nach der Rechtsprechung nicht „aus einer Hand“ geltend gemacht werden können. Insolvenzverwalter stützten eine Inanspruchnahme von Geschäftsführern und Vorständen daher eher auf die für die Betroffenen deutlich härtere Haftung wegen Verletzung des Zahlungsverbotes (Kap. 11).

Ablauf des Insolvenzverfahrens

13

Dieses Kapitel erläutert den Unterschied zwischen vorläufigem und endgültigem Insolvenzverfahren und beschreibt den Verfahrensablauf aus der Perspektive eines Geschäftsführers bzw. Vorstands.

13.1 Überblick Das Insolvenzverfahren unterteilt sich in zwei grundsätzliche Abschnitte, zum einen das (Insolvenz-) Eröffnungsverfahren, das auch als vorläufiges Insolvenzverfahren bezeichnet wird (Abschn. 13.2 und 13.3), und zum anderen das eigentliche, tatsächlich eröffnete Insolvenzverfahren (Abschn. 13.5). Während das Eröffnungsverfahren in der Regel nicht länger als 2–3 Monate dauert, erstreckt sich das eröffnete Verfahren in aller Regel über mehrere Jahre. Größere Insolvenzverfahren dauern nicht selten 7–10 Jahre oder sogar noch länger. Das Insolvenzeröffnungsverfahren beginnt nach der Stellung des Insolvenzantrages durch einen (ersten) Beschluss des Insolvenzgerichts (Abschn. 10.2). Es endet durch einen weiteren Gerichtsbeschluss, mit dem gleichzeitig das eigentliche Insolvenzverfahren eröffnet wird (Abschn. 13.5). Abhängig von der Größe und Komplexität der Insolvenz können während des Eröffnungsverfahrens wie auch im eröffneten Verfahren weitere Gerichtsbeschlüsse ergehen.1

1Die

Beschlüsse deutscher Insolvenzgerichte können kostenfrei und mit wenigen Ausnahmen über die offizielle Internetseite www.insolvenzbekanntmachungen.de abgerufen werden.

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Poertzgen, Haftungsvermeidung in der Unternehmenskrise, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30083-8_13

123

124

13  Ablauf des Insolvenzverfahrens

Die Prüfung und Geltendmachung etwaiger Pflichtverletzungen und Haftungsansprüche gegen Organvertreter erfolgt in aller Regel erst nach der eigentlichen Eröffnung des Verfahrens (Abschn. 13.5), also wenigstens Monate, oft aber auch erst Jahre nach der Stellung des Insolvenzantrags – und damit zu einer Zeit, wenn die fraglichen Vorgänge in der Erinnerung der Beteiligten schon deutlich verblasst sind und oft nur noch mit Schwierigkeiten rekonstruiert werden können.2 In aller Regel wird der Insolvenzverwalter versuchen, etwaige Haftungsansprüche zunächst außergerichtlich geltend zu machen. Findet sich dabei keine Lösung, kommt es regelmäßig zu einer gerichtlichen Auseinandersetzung.

13.2 Insolvenzeröffnungsverfahren („vorläufiges Verfahren“) Nachdem der Insolvenzantrag gestellt ist (Abschn. 10.2), fasst das Insolvenzgericht meist sehr zeitnah einen (ersten) Beschluss, durch den Maßnahmen zur Sicherung des Vermögens des Schuldners, die sog. Sicherungsmaßnahmen, angeordnet werden.3 Man spricht hier landläufig vom „vorläufigen Insolvenzverfahren“. Der offizielle Begriff des Eröffnungsverfahrens macht deutlich, dass diese Phase auf die (später folgende) Eröffnung des eigentlichen Insolvenzverfahrens hin ausgerichtet ist und diese vorbereiten soll. Eine typische Sicherungsmaßnahme ist die Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters. Je nach dem Umfang der juristischen Befugnisse, mit denen dieser vom Gericht ausgestattet ist, spricht man von einem starken oder schwachen vorläufigen Insolvenzverwalter. Es ist möglich, dass sich der Umfang der Befugnisse des vorläufigen Verwalters während des Eröffnungsverfahrens ändert. Eine solche Befugnisänderung erfolgt immer durch einen Beschluss des Insolvenzgerichts. Auch wenn die Beteiligten bereits bei Antragstellung anstreben, dass das Insolvenzverfahren als Eigenverwaltungs- (Abschn.  10.3) und/oder Insolvenzplanverfahren (Abschn. 10.4) eröffnet wird, folgt auf den Insolvenzantrag immer zunächst das Eröffnungsverfahren. Das gilt auch dann, wenn das Eröffnungsverfahren – wie beispielsweise das Schutzschirmverfahren4 – einen besonderen Namen hat. Sofern das Gericht schon während des Eröffnungsverfahrens die vorläufige Eigenverwaltung erlaubt,

2Zur

großen Bedeutung einer möglichst ausführlichen Dokumentation des Krisenverlaufs und der eingeleiteten Sanierungsmaßnahmen Abschn. 4.4. 3In Einzelfällen wird das Gericht dagegen zunächst nur einen Gutachter bestellen, insbesondere wenn fraglich ist, ob die Anordnung von Sicherungsmaßnahmen überhaupt angemessen ist. 4Das Schutzschirmverfahren (§ 270b InsO) ist eben doch ein vorläufiges Insolvenzverfahren, welches ganz besonders auf die Sanierung und den Erhalt des fraglichen Unternehmens durch ein in Eigenverwaltung durchzuführendes Insolvenzplanverfahren hin ausgerichtet ist, Abschn. 10.4.

13.3  Das vorläufige Verfahren als Insolvenzgeldzeitraum

125

wird anstelle des vorläufigen Insolvenzverwalters ein vorläufiger Sachwalter bestellt (Abschn. 10.3). Der Zweck des Eröffnungsverfahrens besteht zum einen in der Sicherung des verbliebenen Vermögens gegen weitere Verringerungen, insbesondere gegen Zugriffe durch Gläubiger wie etwa Vollstreckungsmaßnahmen. Zum anderen dient das vorläufige Verfahren der Prüfung, ob die Gesellschaft, für die der Antrag gestellt worden ist, tatsächlich zahlungsunfähig (Kap. 7) und/oder überschuldet (Kap. 8). Daneben wird auch geprüft, ob das vorhandene Restvermögen ausreichend ist, um die Kosten eines Insolvenzverfahrens – insbesondere Gerichtskosten und Vergütung des Insolvenzverwalters – zu decken.5 Etwaige Haftungsansprüche sind während des Eröffnungsverfahrens noch kein Thema, da der vorläufige Insolvenzverwalter solche Ansprüche in diesem Stadium meist noch gar nicht aufarbeiten kann. Insoweit ist für Geschäftsführer und Vorstände ein Handeln nach der Devise „abwarten und Tee trinken“ grundsätzlich sinnvoll.

13.3 Das vorläufige Verfahren als Insolvenzgeldzeitraum Die Dauer des Eröffnungsverfahrens ist gesetzlich nicht geregelt. Sie beträgt typischerweise 2–3 Monate, wenigstens aber ein paar Wochen. Praktisch wird die Dauer des vorläufigen Insolvenzverfahrens bei Gesellschaften, die bei Antragstellung Arbeitnehmer beschäftigen, durch den Insolvenzgeldzeitraum definiert. Dabei handelt es sich um die Zeitspanne, während der die Arbeitnehmer des schuldnerischen Unternehmens zum Erhalt von Insolvenzgeld berechtigt sind. Insolvenzgeld eine umlagefinanzierte Lohnersatzleistung, die von der Bundesagentur für Arbeit an Arbeitnehmer insolventer Unternehmen gezahlt wird.6 Da Insolvenzgeld für maximal drei Monate gewährt wird, ergibt sich als Konsequenz die Dauer des Eröffnungsverfahren von 2–3 Monaten, wenn nicht bereits vor der Stellung des Insolvenzantrages Rückstände bei Löhnen und Gehältern aufgelaufen waren.7 Praktisch startet der Insolvenzgeldzeitraum mit der Stellung des Insolvenzantrages, sodass sich das Insolvenzgeld im Ergebnis als wertvolles Sanierungsinstrument darstellt. Denn die Gewährung vom Insolvenzgeld hat zur Folge, dass der Geschäftsbetrieb des insolventen Unternehmens jedenfalls während des vorläufigen Verfahrens weiterbetrieben werden kann, ohne dass Löhne und Gehälter in dieser Phase aus der Masse

5Ist

keine hinreichende Masse für eine Eröffnung vorhanden, wird das Verfahrens „mangels Masse“ nicht eröffnet (Abschn. 13.6). 6In aller Regel wird sich der vorläufige Insolvenzverwalter zum Zweck der zeitnahen Auszahlung des Insolvenzgelds an die Arbeitnehmer um eine Vorfinanzierung durch eine Bank bemühen. 7Zur Frage des im Hinblick auf die optimale Ausnutzung des Insolvenzgeldzeitraums Abschn. 9.3 und 10.2 sowie unten in diesem Abschnitt.

126

13  Ablauf des Insolvenzverfahrens

aufgewendet werden müssen. Den Arbeitnehmern des insolventen Unternehmens bleibt ihre Einkommensquelle zumindest für eine Übergangszeit erhalten. Ebenso soll durch die Zahlung von Insolvenzgeld verhindert werden, dass Leistungsträger das Unternehmen direkt nach der Stellung des Insolvenzantrages verlassen. Dem vorläufigen Insolvenzverwalter hilft das Insolvenzgeld also, Liquidität einzusparen. Auf diese Weise kann ein finanzielles Polster für die eigentliche Sanierungs- bzw. Fortführungsentscheidung, die typischerweise nach der eigentlichen Verfahrenseröffnung (Abschn. 13.5) ansteht, gebildet werden. Letztlich dient das Insolvenzgeld also (auch) dazu, die Sanierung des Unternehmens bzw. einen Verkauf nach der eigentlichen Eröffnung vorzubereiten. Da das Insolvenzgeld nach der gesetzlichen Konzeption für rückständigen Lohn gezahlt wird, führen Lohnrückstände für Zeiträume vor der Antragstellung dazu, dass sich die effektive Länge des Eröffnungsverfahrens verkürzt – weil das Insolvenzgeld dann zum Teil schon für Zeiträume verbraucht wird, die vor der Antragstellung liegen. Dem vorläufigen Verwalter bleibt dann weniger (reale) Zeit für das vorläufige Verfahren und vor allem für die Vorbereitung einer Sanierung. Das erklärt die bereits formulierte Praxisformel, wonach ein Insolvenzantrag – wenn er denn unausweichlich ist – so bald wie möglich nach dem letzten, aus eigener Kraft zu bewältigenden Lohnlauf gestellt werden sollte (Abschn. 9.3 und 10.2). Geschäftsführer von GmbH bzw. GmbH & Co. KG können – anders als Vorstandsmitglieder einer AG, die grundsätzlich kein Insolvenzgeld erhalten,8 – zum Bezug von Insolvenzgeld berechtigt sein, wenn sie wie Arbeitnehmer weisungsabhängig beschäftigt sind. Dagegen kann eine Beteiligung des Geschäftsführers auch als Gesellschafter ebenso wie eine aus anderen Gründen bestehende unternehmerische Entscheidungskompetenz einem Anspruch auf Insolvenzgeld entgegenstehen. Hier kommt es auf die Umstände des Einzelfalles an. In jedem Fall wird das Insolvenzgeld nur bis zur Höhe der jeweils maßgeblichen gesetzlichen Grenze gewährt. Ein nach dem Anstellungsvertrag bestehender, diese Grenze jedoch übersteigender Vergütungsanspruch kann aufgrund des nur durch eine (spätere) Anmeldung der Forderung zur Insolvenztabelle geltend gemacht werden. Unabhängig hiervon kann ein Organvertreter mit dem vorläufigen Insolvenzverwalter eine Absprache für die Vergütung seiner Tätigkeit (etwa nach Tagessätzen oder Wochenbzw. Monatspauschalen) treffen.

8Dies

folgt aus der gesetzlichen Regelung in § 76 Aktiengesetzes (AktG), wonach Vorstand das von der AG betriebene Unternehmen „in eigener Verantwortung“ und damit nach der Vorstellung des Gesetzgebers automatisch eigenverantwortlich und damit nicht wie als Arbeitnehmer, sondern als bzw. zumindest wie Unternehmer leiten.

13.4  Pflicht zur Unterstützung des Insolvenzverwalters

127

13.4 Pflicht zur Unterstützung des Insolvenzverwalters Geschäftsführer und Vorstände sind während des Eröffnungsverfahrens ebenso wie auch nach Verfahrenseröffnung (Abschn. 13.5) verpflichtet, dem (vorläufigen) Insolvenzverwalter, aber auch dem Insolvenzgericht und den Gläubigern des Unternehmens Auskünfte zu erteilen und den Verwalter bei der Wahrnehmung seiner Aufgaben zu unterstützen. Diese Auskunft- und Unterstützungspflicht besteht auch für bereits einen aus dem Unternehmen ausgeschiedene Organvertreter, es sei denn, dass der Betroffene bereits zwei Jahre oder länger nicht mehr im Unternehmen tätig ist. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass sich ein Geschäftsführer oder Vorstand nicht durch eine kurzfristige Niederlegung seines Amtes (Abschn. 9.5) der Auskunfts- und Mitwirkungspflicht entledigen kann. Daneben trifft die Auskunfts- und Mitwirkungspflicht grundsätzlich auch abberufene Organvertreter (Abschn. 9.5). Das Gesetz ordnet ausdrücklich an, dass sich Organvertreter zur Erfüllung der Auskunfts- und Mitwirkungspflicht zur Verfügung stellen müssen, wenn dies erforderlich ist. Das kann in vielen Fällen eine persönliche Anwesenheit bedeuten, telefonische Erreichbarkeit reicht grundsätzlich nicht aus. Je (zeit-)intensiver sich die Erfüllung der Auskunfts- und Mitwirkungspflicht im Einzelfall für den Betroffenen auswirkt, desto drängender wird sich die Frage nach einer finanziellen Kompensation stellen, insbesondere wenn kein Anspruch auf Insolvenzgeld besteht (Abschn. 13.3). Daher sollten Geschäftsführer und Vorstände immer versuchen, mit dem vorläufigen Insolvenzverwalter eine Regelung über ihre Vergütung zu treffen, vor allem wenn sie – was vielfach der Fall ist – wenigstens vorübergehend weiter in Vollzeit im Unternehmen arbeiten (Abschn. 13.3). Um die Erfüllung der Auskunfts- und Mitwirkungspflicht zu gewährleisten, erlaubt die Insolvenzordnung ausdrücklich den Einsatz juristischer Zwangsmittel wie etwa eine zwangsweise Vorführung und sogar eine Inhaftierung.9 Im Übrigen kann die Erfüllung der Auskunfts- und Mitwirkungspflicht für den Geschäftsführer auch einen positiven Effekt haben. Zwar muss der Organvertreter einerseits auch Tatsachen offenbaren, durch die er sich selbst belastet und die ihn dem Risiko einer Verfolgung wegen einer Ordnungswidrigkeit oder sogar Straftat aussetzen. Andererseits können Umstände, die in Erfüllung der Auskunftspflicht mitgeteilt werden, unter Umständen in einem Straf- bzw. Ordnungswidrigkeitsverfahren nur mit Zustimmung des Betroffenen gegen ihn verwendet werden (Beweisverwertungsverbot).10 Allerdings befreit eine Offenbarung im Insolvenzverfahren den Betroffenen nicht in jedem Fall vom Risiko strafrechtlicher Verfolgung. Die Privilegierung des Geschäftsführers bzw. Vorstands greift etwa nicht ein, wenn die Mitteilung des Auskunftspflichtigen

9Das

ergibt sich aus § 98 Abs. 2 der Insolvenzordnung (InsO). relevante Vorschrift ist § 97 Abs. 1 Satz 3 der Insolvenzordnung (InsO), zu deren Auswirkung bzw. Anwendung im Einzelfall in jedem Fall anwaltlicher Rat eingeholt werden sollte. 10Die

128

13  Ablauf des Insolvenzverfahrens

nicht der einzige Anlass für das konkrete Ermittlungsverfahren ist. Andere Beweismittel als die Mitteilung können gegen ihn verwendet werden, insbesondere wenn diese anderen Beweismittel auch unabhängig von der Mitteilung zugänglich sind. Im Ergebnis kann durch die Offenlegung bestimmter Umstände im Insolvenzverfahren also eine strafrechtliche Verurteilung wegen dieser Umstände nur dann verhindert werden, wenn andere Beweise nicht vorliegen.

13.5 (Eröffnetes) Insolvenzverfahren Nach dem Ende des Eröffnungsverfahrens wird das Insolvenzverfahren (endgültig) eröffnet. Das passiert bei Unternehmen, in denen Arbeitnehmer beschäftigt sind, in aller Regel nach Ablauf des Insolvenzgeldzeitraums, also 2–3 Monate nach der Stellung des Insolvenzantrages (Abschn. 13.2 und 13.3), und zwar durch einen erneuten Beschluss des Insolvenzgerichts (Abschn. 13.1). Mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens wird der vorläufige Insolvenzverwalter zum (endgültigen) Insolvenzverwalter. In den meisten Fällen besteht hier Personenidentität, zwingend ist das aber nicht. So sieht das Gesetz vor, dass die Gläubiger nach der Eröffnung einen neuen Amtsinhaber als Verwalter wählen können. Entsprechendes gilt im Fall der Eigenverwaltung für den Sachwalter. Wie bereits im Eröffnungsverfahren sind Geschäftsführer und Vorstände auch im eröffneten Verfahren zur Erteilung von Auskünften und zur Mitwirkung verpflichtet (Abschn. 13.4). Nach der (endgültigen) Eröffnung des Verfahrens wird das Vermögens des Insolvenzschuldners verwertet.11 Hierbei handelt es sich um das „Herzstück“ des Insolvenzverfahrens, und zwar unabhängig davon, ob es sich um ein Regelverfahren oder ein Insolvenzplanverfahren handelt bzw. ob dem Schuldner die Eigenverwaltung gestattet ist. Wenn zum Vermögen des Schuldners ein Unternehmen gehört, wird der Insolvenzverwalter – oder im Fall der Eigenverwaltung der Schuldner unter der Aufsicht des Sachwalters (Abschn. 10.3) – also versuchen, das Unternehmen durch einen Verkauf im Rahmen einer Übertragenden Sanierung (Abschn. 10.5) oder durch ein Insolvenzplanverfahren (Abschn. 10.4) oder eine Kombination dieser Instrumente zu verwerten und auf diese Weise zu erhalten bzw. zu sanieren. Unabhängig von der Art der Verwertung muss diese in jedem Fall dem Gebot der bestmöglichen Masseverwertung genügen. Hiernach muss die Verwertung des Vermögens so erfolgen, dass im Rahmen der zur Verfügung stehenden Optionen das für

11In

besonders eilbedürftigen Fällen – etwa wenn ein kurzfristiger Wertverfall zu befürchten ist – kann eine Verwertung ausnahmsweise auch schon während des Eröffnungsverfahrens stattfinden oder die Eröffnung wird zeitlich vorgezogen, jedoch um den Preis, dass das Insolvenzgeld womöglich nicht in vollem Umfang als Sanierungsinstrument genutzt werden kann.

13.5  (Eröffnetes) Insolvenzverfahren

129

die Gläubiger wirtschaftlich beste Ergebnis realisiert wird. Falls mehrere Sanierungsoptionen bzw. Kaufangebote vorliegen, muss also immer geprüft werden, welches der Angebote voraussichtlich den größten Erlös für die Gläubiger generieren wird. Zeichnet sich ein Bieterwettstreit um den Erwerb des Unternehmens ab, so ist es unter dem Gesichtspunkt der bestmöglichen Verwertung nicht nur zulässig, sondern sogar notwendig, das Unternehmen im Rahmen einer Auktion oder eines sonstigen strukturierten Prozesses zu verkaufen. Die Realisierung der bestmöglichen Masseverwertung ist für das Insolvenzverfahren von derart hoher Bedeutung, dass der Insolvenzverwalter bzw. Sachwalter persönlich haftbar wird, wenn er die Pflicht zur bestmöglichen Verwertung schuldhaft verletzt. Neben dem „klassischen“ Verfahrensziel der bestmöglichen Masseverwertung ist das moderne Insolvenzverfahren zumindest praktisch auch durch das – im Gesetz nicht ausdrücklich formulierte – Ziel der Unternehmenssanierung geprägt.12 Bei allen wesentlichen Entscheidungen im Rahmen des Insolvenzverfahrens wird der Insolvenzverwalter bzw. der Schuldner in Eigenverwaltung den Gläubigerausschuss einbinden, soweit dieser im konkreten Verfahren besteht. Ist – insbesondere in kleineren Insolvenzverfahren – kein Gläubigerausschuss bestellt, so hat die Gläubigerversammlung zu entscheiden. Die Gläubigerversammlung besteht aus allen am Verfahren beteiligten Forderungsinhabern. Handlungen und Verträge, die der Insolvenzverwalter bzw. eigenverwaltende Schuldner vornimmt bzw. abschließt, sind auch dann juristisch wirksam, wenn eine Mitwirkung von Gläubigerausschuss oder Gläubigerversammlung unterblieben ist. Das gilt auch für Fälle, in denen die Mitwirkung eines Gläubigergremiums gesetzlich vorgeschrieben ist und sogar dann, wenn sich der Verwalter über einen Beschluss der Gläubiger bewusst hinwegsetzen sollte. Für den Verwalter entsteht durch ein eigenmächtiges, also nicht durch eine Beteiligung der Gläubiger abgesichertes Handeln ein erhebliches Haftungsrisiko. Deshalb schließen Insolvenzverwalter bestimmte wichtige Geschäfte in aller Regel nur nach vorheriger Zustimmung des Gläubigerausschusses bzw. der Gläubigerversammlung ab. Häufig anzutreffen ist auch eine Klausel, wonach Verträge vom Verwalter unter der aufschiebenden Bedingung abgeschlossen werden, dass eine Zustimmung der Gläubiger nachträglich erteilt wird. Wird die Zustimmung dann nicht erteilt, so ist das betreffende Geschäft rückwirkend nicht wirksam abgeschlossen.

12Das zeigt sich insbesondere an den Verfahrensvarianten der Eigenverwaltung (Abschn. 10.3) und des Insolvenzplanverfahrens (Abschn. 10.4), aber auch am hohen praktischen Stellenwert, den die Transaktionsform der Übertragenden Sanierung hat (Abschn. 10.5). In welchem Verhältnis das Gebot der bestmögliche Masseverwertung zum Ziel der Unternehmenssanierung steht, ist aber umstritten.

130

13  Ablauf des Insolvenzverfahrens

Zur Verwertung des schuldnerischen Vermögens gehört die Durchsetzung von Ansprüchen, welche der insolventen Gesellschaft gegen Dritte zustehen. Darunter fällt auch die Geltendmachung von Haftungsansprüchen gegen Geschäftsführer oder Vorstände. Die äußerste zeitliche Grenze für den Schwebezustand, während dessen eine Inanspruchnahme eines Managers durch den Insolvenzverwalter drohen kann, wird durch die Verjährung des infrage stehenden Anspruchs definiert. Die Länge der Verjährungsfrist ist je nach Haftungsnorm unterschiedlich. Typische Verjährungsfristen sind die Regelverjährung – drei Kalenderjahre beginnend mit dem Ende des Jahres, in dem der Haftungstatbestand verwirklicht worden ist13 – oder spezifische Verjährungsregelungen wie etwa im Fall der Innenhaftung: fünf Jahre taggenau nach Vornahme der einzelnen Zahlung (Abschn. 11.17). Grundsätzlich sollten Organvertreter, die eine Inanspruchnahme durch den Insolvenzverwalter befürchten, abwarten, bis entsprechende Ansprüche gegen sie erhoben werden (Abschn. 13.2). Die Taktik des Abwartens ist nicht zuletzt ratsam, weil die erfolgreiche Geltendmachung von Ansprüchen oft mit Zeitablauf schwieriger wird. Als potenzieller Anspruchsschuldner sollte der Geschäftsführer oder Vorstand nicht erwarten, dass der Insolvenzverwalter ihm bereits kurz nach Verfahrenseröffnung ein Anspruchsschreiben übersenden wird. Vielmehr beginnt der Verwalter mit der Aufarbeitung von Haftungssachverhalten in aller Regel erst, wenn die Verwertung des Vermögens, insbesondere der Verkauf eines Unternehmens, im Wesentlichen abgeschlossen ist. Möglichst frühzeitig sollte jedoch eine hoffentlich bestehende D&O-Versicherung informiert werden, wenn und sobald sich eine Inanspruchnahme wegen einer Pflichtverletzung abzeichnet (Kap. 16). Andernfalls besteht die Gefahr, dass der Versicherungsschutz eingeschränkt ist oder sogar entfällt. Eine andere Taktik als das grundsätzlich ratsame Abwarten kann unter Umständen dann zweckmäßig sein, wenn der potenzielle Haftungsschuldner möglicherweise auch Gesellschafter, Mitinvestor oder wiederum Organvertreter einer Auffanggesellschaft werden will bzw. soll. Wird die betreffende Person also auch aus Sicht des Verwalters für eine Rettung des Unternehmens gebraucht, so kann es im Einzelfall sinnvoll sein, eine vergleichsweise Regelung bzw. Abgeltung von Haftungsansprüchen zur Bedingung für eine Mitwirkung an der Sanierung zu machen. Das im konkreten Fall taktisch klügste Verhalten muss nach den Besonderheiten des Einzelfalles ermittelt werden. Grundsätzlich abzuraten ist aber von einer „Salamitaktik“. Vielmehr sollte aus Sicht des Betroffenen immer eine Gesamtlösung angestrebt werden.

13Die

Regelverjährung (§§ 195, 199 BGB) gilt beispielsweise für die Haftung wegen Verletzung der Insolvenzantragspflicht (Abschn. 12.7) oder Ansprüche aus Insolvenzanfechtung (Abschn. 15.3).

13.7  Das Ende des Insolvenzverfahrens

131

Das betrifft ebenso einen etwaigen Innenregress, falls eine Haftung mehrerer Organvertreter als Gesamtschuldner im Raum steht (Abschn. 2.1). Wenn es um die Abgeltung von Ansprüchen geht, sollten diese ein für alle Mal erledigt werden, und zwar auch ein mit einer Haftpflichtsache verbundener Rückgriff bei anderen Beteiligten. Eine mit dem Insolvenzverwalter erreichte Einigung sollte also idealerweise immer auch etwaige anderen Haftungsbeteiligten einbinden.

13.6 Kein Insolvenzverfahren wegen mangelnder Masse Vom Stadium des eröffneten Insolvenzverfahrens (Abschn. 13.5) ist der (traurige) Zustand unterscheiden, in dem das verbliebene Vermögen des insolventen Unternehmens nicht einmal ausreicht, um die Kosten des Insolvenzverfahren zu begleichen. In diesem Fall wird ein Insolvenzverfahren mangels Masse gar nicht erst eröffnet oder, falls es zunächst eröffnet worden ist, ohne ordnungsgemäßen Abschluss vorzeitig eingestellt. Da in diesen Konstellationen kein gerichtlich bestellter Insolvenzverwalter mehr tätig wird, ist die erfolgreiche Durchsetzung von Haftungsansprüchen in aller Regel schon deshalb deutlich erschwert. Für Gläubiger ist der Zustand der Masselosigkeit sehr misslich: ihnen bietet das Gesetz keinen besonderen Schutz, obwohl bereits so wenig Vermögen vorhanden ist, dass nicht einmal ein Insolvenzverfahren eröffnet wird und sie also ganz besonders schutzbedürftig sind. Allerdings stellt auch ein erfolgversprechender Haftungsanspruch gegen einen Organvertreter, von dem der (vorläufige) Insolvenzverwalter aus den Akten des Unternehmens oder auf sonstige Weise erfährt, einen Vermögensbestandteil der insolventen Gesellschaft dar. Deshalb kann schon das mutmaßliche Bestehen solcher Ansprüche im Einzelfall die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens rechtfertigen.

13.7 Das Ende des Insolvenzverfahrens Überblick

Das Insolvenzverfahren endet genauso, wie es begonnen hat (Abschn. 13.1), nämlich durch einen Gerichtsbeschluss. Man spricht dann von der Aufhebung des Insolvenzverfahrens. Diese erfolgt, nachdem das Vermögen des Insolvenzschuldners komplett verwertet ist, also auch nach der Realisierung von Haftungsansprüchen gegen Geschäftsführer oder Vorstände. Aus dem Verfahrenserlös

132

13  Ablauf des Insolvenzverfahrens

werden die Verfahrenskosten und bevorrechtigten Forderungen grundsätzlich vollständig bedient.14 Die dann noch verbleibende Masse wird anteilig als Insolvenzquote an die nicht bevorrechtigten Gläubiger verteilt.15 Nach der Aufhebung des Insolvenzverfahrens – und ebenso nach Einstellung eines Verfahrens mangels Masse (Abschn. 13.6) – befindet sich die Gesellschaft, die als solche nach wie vor existiert, im selben rechtlichen Zustand wie vor der Einleitung des Verfahrens. Nach der Vorstellung des Gesetzgebers kann der Insolvenzschuldner jetzt ein neues Leben beginnen und wieder als nicht- (mehr) insolventer Teilnehmer am Rechtsverkehr teilnehmen. Praktisch kommt es hierzu jedoch fast nie. Denn eine Gesellschaft ist nach dem Ende des Insolvenzverfahrens meist auch im Rechtssinn vermögenslos – weil das seinerzeit betriebene Unternehmen verkauft oder anderweitig verwertet ist und das erzielte Barvermögen als Quote an die Gläubiger ausgeschüttet wurde. Als Folge solcher Vermögenslosigkeit wird die Gesellschaft dann aus dem Handelsregister gelöscht. Juristen sprechen jetzt von der Vollbeendigung des Rechtsträgers. Der Schuldner nimmt seine nicht beglichenen Schulden mit „ins (Register-) Grab“. Ist der Insolvenzschuldner dagegen eine natürliche Person, „stirbt“ diese als Folge einer (Privat-) Insolvenz natürlich weder juristisch noch biologisch, sondern genießt weiterhin ihr Dasein, hoffentlich im Zustand der Restschuldbefreiung (Abschn. 17.3).16 Die Vollbeendigung des Rechtsträgers ist nicht zu verwechseln mit seiner Auflösung, die bereits mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens eintritt (Abschn. 13.5). Die Auflösung des Rechtsträgers bedeutet lediglich eine Statusänderung. So bleibt der Rechtsträger mit der Eröffnung des Verfahrens weiterhin existent – jedoch wandelt er sich von einer werbend am Rechtsverkehr teilnehmenden Gesellschaft in eine Abwicklungsgesellschaft. Diese Statusänderung entspricht außerhalb des Insolvenzrechts dem Zustand, in dem eine Gesellschaft einen Beschluss zu einer freiwilligen („solventen“) Liquidation fasst.

14Etwas

anderes gilt nur, wenn Masseunzulänglichkeit vorliegt; dann reicht die Masse für die Verfahrenskosten, jedoch nicht für alle bevorrechtigten Forderungen, die werden anteilig erfüllt; die ungesicherten Gläubiger bekommen dann gar nichts. 15Zur Rangfolge der Ansprüche bei der Verteilung siehe Abschn. 8.9. 16Es ist möglich, dass ein Mensch die Restschuldbefreiung während seines Lebens mehrfach erlangt; insoweit sieht das Gesetz allerdings Sperrfristen vor.

13.9  Haftungsrelevanz der einzelnen Zeitabschnitte

133

13.8 Streitige (gerichtliche) Auseinandersetzung Kann die Inanspruchnahme eines Geschäftsführers oder Vorstands durch den Insolvenzverwalter nicht außergerichtlich erledigt werden, kommt es wahrscheinlich zu einer streitigen Auseinandersetzung. Diese findet in den allermeisten Fällen vor der ordentlichen Gerichtsbarkeit statt (Amts- oder Landgericht, je nach der Höhe des Streitwerts). In selteneren Fällen kann ein solcher Haftungsfall auch vor einem Schiedsgericht verhandelt werden, insbesondere wenn der Anstellungsvertrag des Organvertreters eine entsprechende Schiedsklausel enthält. Auch wenn die Einschaltung eines Gerichts natürlich eine Eskalation der Auseinandersetzung bedeutet, muss eine solche Entwicklung aus Sicht des in Anspruch genommenen Managers nicht zwingend nachteilig sein. Denn der Insolvenzverwalter ist jetzt gezwungen, seine Karten auf den Tisch zu legen – oder eben eingestehen zu müssen, dass vermeintliche „Trümpfe“ gar nicht vorhanden sind. Auf die Vor- und Nachteile typischer Prozeßstrategien soll hier nicht näher eingegangen werden. Im Fall einer gerichtlichen Auseinandersetzung steht dem Organvertreter in aller Regel ein anwaltlicher Prozessbevollmächtigter zur Seite, der sich um die zweckmäßige Taktik kümmern wird. Vielmehr soll hier nur die allgemeine Erfahrung wiedergegeben werden, dass es sich aus Sicht des in Anspruch genommenen Geschäftsführers bzw. Vorstands meistens lohnt, den Vortrag des Insolvenzverwalters in einem Rechtsstreit auf möglichst vielen Argumentationsebenen anzugreifen: Ist überhaupt ein Insolvenzgrund nachgewiesen? Liegt eine Pflichtverletzung vor? Greifen Rechtfertigungsgründe ein? Hat der Organvertreter überhaupt schuldhaft gehandelt? Zusätzlich gibt es weitere mögliche Verteidigungslinien, die vom jeweils geltend gemachten Haftungstatbestand vorgegeben werden. Im Fall einer Haftung wegen verbotener Zahlungen (Kap. 11) dürfte es zum Beispiel um folgende Fragen gehen: Liegt eine relevante Zahlung vor (Abschn. 11.4)? Gibt es haftungsausschließende Gegenleistungen oder Sicherheitenrechte (Abschn. 11.6 und 11.8)? Greift die Rechtfertigungsklausel ein (Abschn.  11.10)? Ist eine mögliche Anfechtung unterlassen worden (Abschn. 15.3 und 15.4)? In jedem Fall ist während der Auseinandersetzung mit dem Insolvenzverwalter – neben der Kontaktaufnahme mit der (hoffentlich vorhandenen) D&O-Versicherung (Kap. 16) – unbedingt auch schon an den etwaigen Regress gegen Dritte, insbesondere ehemalige Mitgeschäftsführer, Aufsichtsratsmitglieder oder womöglich Berater der Gesellschaft zu denken (Abschn. 2.1 und 13.5).

13.9 Haftungsrelevanz der einzelnen Zeitabschnitte Zum Abschluss dieses Kapitels sollen die verschiedenen Zeitabschnitte noch einmal im Hinblick auf ihre „Haftungsgefährlichkeit“ gewichtet werden.

134

13  Ablauf des Insolvenzverfahrens

Die Phase, in der das größte Risiko einer Verletzung von Krisenpflichten besteht, ist mit großem Abstand der Zeitraum bis zur Stellung des Insolvenzantrages. Denn in diesem Stadium bestehen nicht nur quantitativ die meisten Pflichten (Kap. 4 und 5 sowie 9 und 11), vielmehr überschneiden diese sich teilweise auch bzw. stehen womöglich sogar im Konflikt zueinander (Abschn. 9.7, 11.11 und 11.14). Nach der Antragstellung bzw. der Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters und erst recht nach Eröffnung des Verfahrens ist das Risiko einer Haftung wegen Verletzung von Krisenpflichten dagegen deutlich geringer. Geschäftsführer und Vorstände können jetzt in aller Regel nicht mehr ohne Mitwirkung des Verwalters über das Vermögen des Unternehmens verfügen. Ein nennenswertes Haftungsrisiko auch nach Stellung des Insolvenzantrages besteht allerdings, wenn dem Schuldner die Eigenverwaltung seines Vermögens im vorläufigen bzw. eröffneten Insolvenzverfahren gestattet ist (Abschn. 10.3). So hat der Bundesgerichtshof die Haftung der Geschäftsleiter im eröffneten Eigenverwaltungsverfahren mittlerweile weitgehend an die Verantwortlichkeit eines Insolvenzverwalters angelehnt (Abschn. 10.3 und 14.9). Für die vorläufige Eigenverwaltung, also das Stadium zwischen Antragstellung und Eröffnung, ist der Umfang einer Haftung von Geschäftsführern dagegen noch weitgehend ungeklärt. Vorsichtshalber müssen Geschäftsführer und Vorstände damit rechnen, in dieser Phase insbesondere für Verletzungen des Zahlungsverbotes (Kap. 11) haftbar werden zu können.17 Um das Risiko ihrer eigenen potenziellen Haftung im Rahmen der Eigenverwaltung so weit wie möglich zu begrenzen, sollten Organvertreter immer versuchen, möglichst den Sachwalter, den Gläubigerausschuss und äußerstenfalls die Gläubigerversammlung in wesentliche Entscheidungen einzubeziehen. Das erhöht die Chance, dass dem einzelnen Geschäftsführer oder Vorstand später kein persönlicher Verschuldensvorwurf gemacht werden kann.

13.10 Das Wichtigste in Kürze • Das Insolvenzverfahren unterteilt sich in zwei grundsätzliche Abschnitte: zum einen das auf die Antragstellung folgende Eröffnungsverfahren (vorläufige Insolvenz, Abschn. 13.2) und zum anderen das regelmäßig zwei bis drei Monate nach dem Antrag beginnende eigentliche (eröffnete) Insolvenzverfahren (Abschn. 13.5). Das eröffnete Verfahren dauert – abhängig von der Größe des betroffenen Unternehmens – wenigstens zwei bis drei Jahre, oft aber noch deutlich länger.

17Zum Vorschlag einer Haftungsbegrenzung durch die „eigenverwaltungsspezifische“ Interpretation der Rechtsfertigungsklausel Abschn. 10.2.

13.10  Das Wichtigste in Kürze

135

• Während des Eröffnungsverfahrens wird der (vorläufige) Insolvenzverwalter typischerweise das Insolvenzgeld als wertvolles Sanierungsinstrument nutzen. Geschäftsführer von GmbH bzw. GmbH & Co. KG können Insolvenzgeld erhalten, wenn sie wie Arbeitnehmer weisungsabhängig beschäftigt sind. Vorstände von Aktiengesellschaften erhalten grundsätzlich kein Insolvenzgeld. • Organvertreter sind dem Insolvenzverwalter unabhängig von der Rechtsform des Unternehmens zur Auskunft und Unterstützung verpflichtet, und zwar auch dann, wenn sie innerhalb der letzten beiden Jahre vor der Insolvenz aus dem Unternehmen ausgeschieden sind. • Der Insolvenzverwalter ist grundsätzlich verpflichtet, etwaige Haftungsansprüche gegen Organvertreter des Schuldners zu prüfen bzw. geltend zu machen. Zeitlich erfolgt die Diskussion von Haftungsthemen im Allgemeinen erst, nachdem das Unternehmen der insolventen Gesellschaft verwertet worden ist. Potenziell betroffene Manager sollten grundsätzlich abwarten, bis der Insolvenzverwalter Ansprüche gegen sie geltend macht. • Eine hoffentlich bestehende D&O-Versicherung (Kap. 16) sollte so früh wie möglich über eine (drohende) Inanspruchnahme informiert werden. Ebenso sollte ein eventueller (Innen-) Regress gegen mögliche weitere Haftungsschuldner frühzeitig bedacht bzw. vorbereitet werden.

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Strafrecht und weitere Haftungsrisiken

In einer Unternehmenskrise prallen die Interessen der Beteiligten besonders hart aufeinander. Deshalb will der Gesetzgeber die Einhaltung der wichtigsten Krisenpflichten auch durch strafrechtliche Sanktionen sicherstellen. Das folgende Kapitel gibt zunächst einen Überblick über die wichtigsten Strafbarkeitsrisiken für Geschäftsführer und Vorstände und beschreibt anschließend weitere zivilrechtliche Haftungsgefahren.

14.1 Das Legalitätsprinzip im Strafrecht Übersicht

Das in der Verfassung verankerte Legalitätsprinzip („nulla poena sine lege“) bedeutet, dass die Strafbarkeit eines bestimmten Verhaltens ausdrücklich im Gesetz angeordnet sein muss.1 Fehlt eine ausdrückliche gesetzliche Regelung, ist das betreffende Verhalten jedenfalls nicht strafbar. Anders als im Zivilrecht ist es im Strafrecht also nicht möglich, eine Haftungssanktion im Wege einer Analogie oder durch Rechtsfortbildung abzuleiten. Beispielsweise ist die Strafbarkeit einer Verletzung der Insolvenzantragspflicht (Kap. 9) ausdrücklich in § 15a Abs. 4 und 5 der Insolvenzordnung (InsO) angeordnet. Dagegen ist eine Verletzung des Zahlungsverbotes (Kap. 11) als solche nicht strafbar, da es an einer gesetzlichen Regelung hierzu fehlt. Ein Verstoß gegen das Zahlungsverbot zieht deshalb allein zivilrechtliche Konsequenzen nach sich.

1Das

Legalitätsprinzip ist im Grundgesetz (GG) in Art. 103 Abs. 2 formuliert: „Eine Tat kann nur bestraft werden, wenn die Strafbarkeit gesetzlich bestimmt war, bevor die Tat begangen wurde.“

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Poertzgen, Haftungsvermeidung in der Unternehmenskrise, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30083-8_14

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14  Strafrecht und weitere Haftungsrisiken

Die juristische „Gefährlichkeit“ bestimmter Krisenpflichten liegt nun darin, dass sich die Strafbarkeit eines bestimmten Verhaltens nicht schon aus natürlicher Anschauung ergibt – wie etwa bei Totschlag, Körperverletzung, Brandstiftung oder Diebstahl. Dass etwa eine Verletzung der Insolvenzantragspflicht auch strafrechtliche Konsequenzen haben kann, folgt allein daraus, dass der Gesetzgeber eine solche Strafbarkeit ausdrücklich formuliert hat. Man muss also die gesetzlichen Regelungen zu Krisenpflichten kennen, um beurteilen zu können, ob man sich mit einem bestimmten Verhalten schon bzw. auch strafbar macht. Gerade hier gilt der allgemeine Grundsatz: Unwissenheit schützt nicht vor Strafe.

14.2 Strafbarkeit einer Verletzung der Insolvenzantragspflicht Wer die Insolvenzantragspflicht verletzt, indem er trotz bestehender Pflicht einen Antrag auf Eröffnung eines Insolvenzverfahrens gar nicht oder verspätet oder „nicht richtig“ stellt, kann – zusätzlich zur zivilrechtlichen Haftung (Kap. 12) – gemäß § 15a Abs. 4 InsO mit einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit einer Geldstrafe bestraft werden. Fällt dem antragspflichtigen Organvertreter keine vorsätzliche, sondern lediglich eine fahrlässige Verletzung der Antragspflicht zur Last, so droht ihm eine Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr oder eine Geldstrafe (§ 15a Abs. 5 InsO). Auf den ersten Blick scheint es ziemlich unwahrscheinlich, dass ein Geschäftsführer die Antragspflicht überhaupt vorsätzlich, also wissentlich oder gar absichtlich, verletzt. Tatsächlich kommt eine vorsätzliche Insolvenzverschleppung aber gar nicht selten vor. Schließlich reicht es für eine vorsätzliche Begehung aus, dass mit bedingtem Vorsatz (dolus eventualis) gehandelt wird. Die Abgrenzung eines (schon) bedingt vorsätzlichen zu einem (nur) bewusst fahrlässigen Handeln kann im Einzelfall schwierig sein. Als Faustformel kann man davon ausgehen, dass der bewusst fahrlässig handelnde Organvertreter (also der „Täter“ in der strafrechtlichen Terminologie) hofft: „es wird schon gut gehen“, während der bereits bedingt vorsätzlich handelnde Täter denkt: „ich will zwar nicht, dass es passiert, aber im Grunde es mir egal, ob es passiert oder nicht.“ Mit der Begehungsvariante des „nicht richtig“ gestellten Insolvenzantrages sind Fälle gemeint, in denen der gestellte Antrag den inhaltlichen Mindestanforderungen nicht genügt und deshalb vom Insolvenzgericht rechtskräftig als unzulässig zurückgewiesen wird. Insoweit muss nochmals zu großer Sorgfalt bei der Formulierung des Insolvenzantrages und der Zusammenstellung der Anlagen geraten werden (Abschn. 10.1). Täter einer strafrechtlichen Insolvenzverschleppung kann jeder sein, der zur Stellung eines Insolvenzantrages verpflichtet ist (Abschn. 9.4), also auch der faktische Organvertreter (Abschn. 2.2 und 9.4). Insoweit besteht allerdings ein Problem im Hinblick auf das strafrechtliche Analogieverbot (Abschn. 14.1). Denn der nicht im Handelsregister

14.2  Strafbarkeit einer Verletzung der Insolvenzantragspflicht

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e­ ingetragene, eben nur faktische Geschäftsführer ist eben (eingetragener) Organvertreter, welcher in der Strafbarkeitsnorm erwähnt ist. Praktisch muss man aber davon ausgehen, dass eine Strafbarkeit wegen Verletzung der Antragspflicht nach ständiger Rechtsprechung auch den faktischen Geschäftsführer treffen kann. Die Strafbarkeit wegen Verletzung der Insolvenzantragspflicht ist ein abstraktes Gefährdungsdelikt. Das bedeutet, dass die Erfüllung des strafrechtlichen Tatbestandes gerade nicht voraussetzt, dass als Folge der verspäteten oder unterlassenen Antragstellung einzelne oder alle Gläubiger tatsächlich einen Vermögensschaden erleiden. Eine konkrete Gefährdung von Rechtspositionen muss gerade nicht eintreten. Der Straftatbestand der Antragspflichtverletzung ist vielmehr schon erfüllt, wenn und sobald der Verstoß gegen die Antragspflicht begangen ist. Die Frage, ob und inwieweit die Verletzung der Antragspflicht zivilrechtliche Schäden (Kap. 12) zur Folge hat, ist allein für das Ausmaß der strafrechtlichen Schuld bzw. für die Strafzumessung relevant. Zur strafrechtlichen Verfolgung einer Insolvenzverschleppung kommt es meist aus einem Insolvenzverfahren heraus, da Akten des Insolvenzgerichts (Abschn. 10.2) routinemäßig auch der Staatsanwaltschaft vorgelegt werden. Finden sich also in den Berichten des Insolvenzverwalters Hinweise auf das Vorliegen einer Insolvenzverschleppung (Abschn. 12.1), wird die Staatsanwaltschaft regelmäßig auch ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren gegen die zur Antragstellung verpflichteten Personen einleiten. Das Risiko strafrechtlicher Konsequenzen einer Verletzung der Antragspflicht darf keinesfalls unterschätzt werden. Stellt ein Organvertreter fest, dass ein Insolvenzantrag ohne weiteren Aufschub gestellt werden muss, dann sollte wirklich auch passieren – oder aber (sofern zeitlich noch zulässig, Abschn. 9.7) die Zahlungsunfähigkeit (Kap. 7) bzw. Überschuldung (Kap. 8) schleunigst beseitigt werden.2 Von der Konstellation, in der ein Antrag sofort gestellt werden muss, ist die Fallgestaltung zu unterscheiden, bei der in der Vergangenheit gegen die Antragspflicht verstoßen worden ist, der Verstoß aber mittlerweile (wirklich) abgestellt ist. Dann muss kein Insolvenzantrag (mehr) gestellt werden. Im Hinblick auf die strafrechtliche Folge der abgeschlossenen Insolvenzverschleppung hat wahrscheinlich bereits die Verjährung zu laufen begonnen. Das gilt aber nur dann, wenn die Gesellschaft aktuell wirklich nicht mehr zahlungsunfähig (Kap. 7) oder überschuldet (Kap. 8) ist. Andernfalls MUSS der Antrag ohne Wenn und Aber gestellt werden. Sollte im Rahmen eines späteren Ermittlungsverfahrens nämlich festgestellt werden, dass es bereits in der Vergangenheit Phasen der Insolvenzverschleppung gegeben hat, kann sich diese Vorgeschichte nachteilig für die Betroffenen auswirken. Das „Prinzip Hoffnung“ sollte im Kontext der Antragspflicht also ebenso wie bei anderen Krisenpflichten keinesfalls angewendet werden!

2Entsprechende

kurzfristige Maßnahmen sind etwa Stundung (Abschn. 7.3), Einforderungsverzicht (Abschn. 7.4), Rangrücktritt (Abschn. 8.6) und Patronatserklärung (Abschn. 8.7).

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14  Strafrecht und weitere Haftungsrisiken

14.3 Delikte des spezifischen Insolvenzstrafrechts Neben der Strafbarkeit wegen Verletzung der Insolvenzantragspflicht (Abschn. 14.2) gibt es weitere insolvenzbezogene Delikte, die allerdings nicht in der Insolvenzordnung, sondern im Strafgesetzbuch (StGB) formuliert sind. Die entsprechenden Vorschriften finden sich in den §§ 283 ff. StGB. Im Einzelnen geht es hier insbesondere um Bankrott, die Verletzung der Buchführungspflicht sowie Gläubigerbegünstigung und Schuldnerbegünstigung. Diese Delikte, insbesondere Bankrott (§ 283 StGB) und Schuldnerbegünstigung (§ 283d StGB), bestehen aus einer Vielzahl von Begehungsvarianten, die wegen des Legalitätsprinzips (Abschn. 14.1) alle ausdrücklich im Gesetz formuliert sind. So besteht das Delikt des Bankrotts (§ 283 StGB), je nach Zählweise ca. 20 bis 30 verschiedene Tatbestandsvarianten. Allen Begehungsformen ist jedoch gemeinsam, dass Täter nur sein kann, wer für die zivilrechtliche Verbindlichkeit, deren Erfüllung vereitelt oder erschwert wird, persönlich einstandspflichtig ist. Man spricht hier von einem echten Sonderdelikt. Praktisch bedeutet das, dass der Täter aus der Sphäre des potenziellen Insolvenzschuldners stammen muss. Damit sind also insbesondere der oder die Inhaber des schuldnerischen Unternehmens, dessen Gesellschafter oder eben Organvertreter gemeint. Andere Personen können allenfalls als Teilnehmer wegen Bankrotts strafbar werden, also als Anstifter oder Gehilfen. Anders als der Bankrott ist die Schuldnerbegünstigung (§ 283d StGB) kein Sonderdelikt. Die Schuldnerbegünstigung kann vielmehr auch von einem Außenstehenden, beispielsweise einem Gläubiger oder einem sonstigen Dritten, als Täter begangen werden. Inhaltlich geht es hier darum, dass der Täter dem krisenbelasteten Schuldner zum Nachteil der Gläubiger einen unzulässigen Vorteil verschaffen will. Sämtliche Insolvenzdelikte des Strafgesetzbuchs können nur verfolgt werden können, wenn der potenzielle Insolvenzschuldner seine Zahlungen eingestellt hat (Abschn. 7.1), wenn ein Insolvenzverfahren tatsächlich eröffnet (Abschn. 13.5) oder aber wenn die Eröffnung mangels Masse abgewiesen worden ist (Abschn. 13.6).

14.4 Weitere Strafbarkeitsrisiken Neben den ausdrücklich insolvenzbezogenen Delikten drohen Managern in der Unternehmenskrise auch die „üblichen“ Strafbarkeitsrisiken, vor allem im Hinblick auf die sog. (allgemeinen) Vermögensdelikte. Diese werden in der Unternehmenskrise nicht selten durch bedingt vorsätzliches Handeln (dolus eventualis) verwirklicht (Abschn. 14.2), auch wenn nach landläufigem Verständnis keine kriminelle Energie zur Anwendung kommt oder gar ein „böser“ Vorsatz vorliegt. Es kommt allerdings gar nicht darauf an, ob bzw. dass die Beteiligten ein legitimes („gutes“) Fernziel wie die Unternehmensrettung etc. anstreben.

14.4  Weitere Strafbarkeitsrisiken

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Das betrifft beispielsweise den Betrug (§ 263 StGB) als Folge einer Täuschung über Vermögensverhältnisse3 oder die Pfandkehr (§ 289 StGB), welche als strafrechtlich relevante Verletzung eines Pfand-, Nutzungs- oder Zurückbehaltungsrecht umschrieben werden kann. Das wohl größte Risiko für Geschäftsführer und Vorstände besteht in der Begehung von Untreue (§ 266 StGB). Dieses Vermögensdelikt kann in vielfältigen Erscheinungsformen verwirklicht werden. Die Frage, ob der Tatbestand der Untreue erfüllt ist, hängt meist von zivilrechtlichen Vorfragen ab und weist daher besondere Komplexität auf. Deshalb ist die strafrechtliche Relevanz eines bestimmten Verhaltens für Laien oft besonders schwierig zu erkennen. Tatbestandlicher Kern der Untreue ist die Verletzung einer Vermögensbetreuungspflicht. Diese kennzeichnet gerade das Verhältnis zwischen einer Kapitalgesellschaft und ihren Geschäftsführungsorganen (Abschn. 3.1 und 9.2). Da in der Unternehmenskrise die Verwaltung des verbliebenen Vermögens im besonderen Fokus der Organvertreter stehen muss, ist das Risiko einer Verletzung der Vermögensbetreuungspflicht hier besonders hoch. Für die Begehung von Untreue spielt es keine Rolle, ob der Geschäftsführer reiner Fremdmanager oder gleichzeitig auch Gesellschafter des Unternehmens ist.4 Untreue kann sogar vom Alleininhaber einer Kapitalgesellschaft zulasten seines eigenen Unternehmens begangen werden, eben weil eine GmbH, AG oder GmbH & Co. KG ein von ihrem Inhaber zu unterscheidender Rechtsträger ist und deshalb auch strafrechtlich geschädigt werden kann. Als einen Spezialfall der Untreue stellt das Gesetz in § 266a StGB die Nichtabführung bzw. das Vorenthalten von Beiträgen zur Sozialversicherung unter Strafe. Diese sind für den Arbeitgeber bzw. dessen Organvertreter fremdes Vermögen und unterliegen daher besonderem Schutz5 – hier erkennt man die inhaltliche und systematische Nähe zur Untreue. Wie der Gesetzeswortlaut ausdrücklich betont, besteht ein strafrechtliches Risiko gemäß § 266a StGB unabhängig davon, ob Arbeitsentgelt tatsächlich gezahlt wird.6 Lediglich bestimmte Fälle rechtlicher oder tatsächlicher Unmöglichkeit in Bezug auf

3Indem

Täuschungen über Vermögensverhältnisse als Betrug strafbar sein können, besteht auf den ersten Blick ein Konflikt zu dem Grundsatz, dass die Krise des Unternehmens grundsätzlich nicht gegenüber Dritten offengelegt werden soll (Abschn. 5.4); dieser Konflikt ist in aller Regel so aufzulösen, dass einzelne Vertragspartner informiert werden können bzw. müssen, soweit die Information für das Vertragsverhältnis relevant ist, ihrerseits aber gegebenenfalls wieder zu Verschwiegenheit verpflichtet werden müssen. 4Zur Unterscheidung vom Fremd- und Selbstorganschaft Abschn. 3.1. 5Die Nichtabführung von Beiträgen zur Sozialversicherung kann neben ihrer strafrechtlichen Folge auch eine erhebliche zivilrechtliche Haftungsfolge nach sich ziehen (Abschn. 14.8). 6Tendenziell etwas großzügiger ist hier die steuerrechtliche Verantwortlichkeit von Managern; so kann die persönliche Verantwortlichkeit für nicht abgeführte Lohnsteuer entfallen, wenn gar keine Löhne und Gehälter ausgezahlt werden können (Abschn. 14.7).

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14  Strafrecht und weitere Haftungsrisiken

die Zahlung der fälligen Beiträge können das für eine Haftung des Geschäftsführers erforderliche Verschulden entfallen lassen. Schließlich kann sich für Geschäftsführer und Vorstände in der Unternehmenskrise in vielfältiger Weise auch das Risiko einer Strafbarkeit wegen Steuerhinterziehung nach § 370 der Abgabenordnung (AO) realisieren. Das gilt vor allem, weil Organvertreter als gesetzliche Vertreter ihrer Gesellschaft auch für deren Steuerschulden persönlich haftbar werden können.7

14.5 Besonderes insolvenzrechtliches Beweisverwertungsverbot Das bereits angesprochene besondere insolvenzrechtliche Beweisverwertungsverbot (Abschn. 13.4), kann sich gerade auch im Rahmen einer Strafverfolgung auswirken. Hiernach muss der Organvertreter im Insolvenzverfahren zwar selbst Tatsachen offenbaren, durch die er sich selbst belastet und die ihn der Verfolgung wegen einer Ordnungswidrigkeit oder Straftat aussetzen können. Allerdings dürfen Umstände, die der Manager in Erfüllung seiner Auskunftspflicht dem Insolvenzverwalter mitgeteilt hat, unter bestimmten Voraussetzungen im Straf- oder Ordnungswidrigkeitsverfahren wiederum nur mit seiner Zustimmung gegen ihn verwendet werden (Abschn. 13.4).

14.6 Weitere zivilrechtliche Haftungsrisiken Neben der Haftung wegen Verletzung der Insolvenzantragspflicht (Kap. 9) und der Innenhaftung (Kap. 11) gibt es eine Reihe von Tatbeständen, die zu einer persönlichen zivilrechtlichen Haftung von Managern in der Unternehmenskrise führen können. Dabei handelt es sich um allgemeine, also auch außerhalb einer Krise anwendbare Haftungsregelungen, die aber vielfach gerade in Insolvenznähe gefährlich werden. So kann die Verletzung strafrechtlicher Vorschriften auch zu einer zivilrechtlichen Haftung auf Schadensersatz führen, wenn die jeweilige Strafvorschrift ein (deliktisches) Schutzgesetz darstellt (Abschn. 12.2). Das ist unter anderem bei den strafrechtlichen Vermögensdelikten der Fall (Abschn. 14.4). Deshalb hat etwa die Begehung einer strafrechtlichen Untreue (Abschn. 14.4) neben der Strafverfolgung auch die Konsequenz, dass der Beschuldigte den durch die Tat entstandene Vermögenseinbuße gegenüber dem Geschädigten ausgleichen muss. Neben der Haftung wegen Verletzung eines Schutzgesetzes können Manager in der Unternehmenskrise auch nach allgemeinen Regeln des Zivil- und Gesellschaftsrechts

7Auch

die steuerliche Verantwortung der Organvertreter kann sich nicht nur strafrechtlich, sondern auch im Hinblick auf eine Haftung für die Steuerzahlung auswirken (Abschn. 14.7).

14.6  Weitere zivilrechtliche Haftungsrisiken

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haftbar werden, wenn sie ihrer Gesellschaft oder einem Dritten schuldhaft einen Schaden verursachen. So besteht etwa das Risiko einer Haftung aus einem vertragsähnlichen bzw. vorvertraglichen Schuldverhältnis (culpa in contrahendo), das immer dann zum Tragen kommt, wenn im Vorfeld eines Vertragsschlusses ein haftungsrelevantes Fehlverhalten stattfindet. Zwar würde diese vorvertragliche Haftung grundsätzlich nicht den Geschäftsführer, sondern die von ihm vertretene Gesellschaft treffen, da diese ja auch Partei des zu verhandelnden Vertrages werden würde. Allerdings sieht das Gesetz ausdrücklich vor,8 dass neben dem künftigen Vertragspartner auch ein in die Verhandlungen eingeschalteter Dritter – und damit insbesondere auch Geschäftsführer und Vorstände – haftbar werden können. Das gilt vor allem, wenn der handelnde Organvertreter „in besonderem Maße Vertrauen für sich in Anspruch nimmt“ und dadurch die Verhandlungen oder den Geschäftsabschluss maßgeblich beeinflusst. Daraus ergibt sich der praktische Rat, dass Manager bei der Verhandlung mit Dritten für ihr Unternehmen immer nur innerhalb ihrer Funktion als Geschäftsführer und Vorstand handeln sollten. Beispielsweise sollten Organvertreter jegliche Aussage unterlassen, die sie auch persönlich betreffen oder verpflichten würden (also nicht: „Ich garantiere, dass …“ oder „Mir können Sie doch vertrauen, wir kennen uns nun schon seit so vielen Jahren“, sondern höchstens „Unser Unternehmen wird …“). Das gilt entsprechend für Aussagen, die auf eine etwaige zusätzliche Rolle des handelnden Organvertreters hindeuten („Wie Sie wissen, bin ich ja auch Jurist / Experte für (…) / Geschäftsführer bei unserer Muttergesellschaft“ o.ä.). Solche auf die Einforderung von Vertrauen abzielenden Aussagen sollten grundsätzlich immer, ganz besonders aber in der Unternehmenskrise unterbleiben. Neben der Fallgruppe einer Inanspruchnahme besonderen Vertrauens kann eine Eigenhaftung des Managers auch eingreifen kann, etwa wenn dieser ein „gesteigertes wirtschaftliches Eigeninteresse“ am Geschäftsabschluss hat. Ein solches Eigeninteresse muss allerdings erhebliches Gewicht haben, um haftungsbegründend zu wirken. Das generelle Interesse des Managers am Erhalt seiner Gesellschaft und seiner Rolle als Organvertreter ist hier nicht ausreichend. Vielmehr geht es um Fälle, in denen der Geschäftsführer auch in nennenswertem Umfang Gesellschafter, Vermieter oder Sicherheitengeber des Unternehmens ist (etwa als Bürge). Besteht ein solches Eigeninteresse des Geschäftsführers oder Vorstands, sollte es in Verhandlungen so weit wie möglich ausgeblendet werden. Idealerweise sollte die Verhandlung im Interesse der Gesellschaft so geführt werden, als gäbe es die wirtschaftlichen Eigeninteressen des Managers nicht. Sofern das gelingt, kann eine persönlichen Haftung des Geschäftsführers grundsätzlich mit dem Argument abgewehrt werden,

8Die

relevante Vorschrift ist § 311 Abs. 3 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB).

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14  Strafrecht und weitere Haftungsrisiken

dass die Vertragsverhandlung jedenfalls im Ergebnis nicht durch das Eigeninteresse des Organvertreters beeinflusst worden ist. Hat die Gesellschaft mehrere Geschäftsführer, kann es im Einzelfall auch ratsam sein, die Verhandlungen so weit wie möglich auch durch einen Organvertreter führen zu lassen, der kein Eigeninteresse am konkreten Geschäftsabschluss hat.

14.7 Haftung für Steuerschulden der insolventen Gesellschaft Werden in der Unternehmenskrise die Steuerverbindlichkeiten des Unternehmens nicht ordnungsgemäß erfüllt, können Geschäftsführer und Vorstände auch insoweit gegenüber der Finanzverwaltung selbst persönlich haftbar werden. Diese (weitreichende) Haftung ist die Konsequenz des Umstands, dass Organvertreter von Gesetzes wegen auch für die Erfüllung der steuerlichen Pflichten ihrer Gesellschaft verantwortlich sind.9 So hat ein Geschäftsführer zur Vermeidung seiner persönlichen Haftung für Steuerschulden einerseits dafür zu sorgen, dass die Gesellschaft über hinreichende finanzielle Mittel verfügt, um ihre steuerlichen Verpflichtungen bei Fälligkeit zu begleichen (Mittelvorsorgepflicht). Andererseits setzt eine schuldhafte, also vorwerfbare Verletzung der steuerlichen Verantwortung voraus, dass das Unternehmen tatsächlich über hinreichende Mittel verfügt und der Geschäftsführer über diese auch verfügen kann. An einer solchen Verfügbarkeit fehlt es insbesondere, wenn bereits ein Insolvenzantrag – womöglich in Erfüllung der Antragspflicht (Kap. 9) – gestellt worden ist. Nach der Rechtsprechung entlastet die Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters den Geschäftsführer allerdings nicht automatisch. Einschränkungen gelten nach einem neuen Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vor allem, wenn lediglich ein schwacher vorläufiger Insolvenzverwalter (Abschn. 13.2) bestellt ist und die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis über das Unternehmensvermögen also formal noch beim Organvertreter liegt.10 Praktisch sollte der Geschäftsführer bzw. Vorstand einen vorläufigen Insolvenzverwalter deshalb ausdrücklich schriftlich zur Erfüllung der Steuerverbindlichkeiten der Gesellschaft auffordern. Zwar wird der vorläufige Insolvenzverwalter eine erforderliche Zahlung schon aus insolvenzrechtlichen Gründen nicht vornehmen (dürfen). Die Aufforderung an den Verwalter wird jedoch regelmäßig das für eine persönliche Haftung des Geschäftsführers erforderliche Verschulden entfallen lassen und ist deshalb ratsam. Im Übrigen hat die Rechtsprechung zur Vermeidung einer persönlichen Haftung von Organvertretern für Steuerschulden den Grundsatz anteiliger Tilgung entwickelt. Hier-

9Die

gesetzliche Grundlage dieser Haftung sind die §§ 34, 69 der Abgabenordnung (AO), zur Strafbarkeit der Steuerhinterziehung Abschn. 14.4. 10Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 26. September 2017 – VII R 40/16.

14.8  Vorenthalten von Beiträgen zur Sozialversicherung

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nach muss der Geschäftsführer Steuerverbindlichkeiten zumindest quotal im Verhältnis der verfügbaren Mittel zu den Gesamtverbindlichkeiten des Unternehmens erfüllen, um nicht selbst haftbar werden. Unabhängig vom Grundsatz anteiliger Tilgung muss vor allem Lohnsteuer nur auf die tatsächlich an Arbeitnehmer ausgezahlten Löhne und Gehälter abgeführt werden. Soweit Arbeitsentgelt dagegen – unabhängig von der arbeitsvertraglichen Verpflichtung – gar nicht an die Arbeitnehmer ausgezahlt wird, fällt zunächst auch keine Lohnsteuer an. Wenn die Liquidität des krisenbelasteten Unternehmens also nicht mehr für einen vollen Lohnlauf ausreicht, sollten die verbliebenen Mittel demnach so verwendet werden, dass damit lediglich gekürzte Löhne und Gehälter ausgezahlt werden und dass auf diese gekürzten Löhne und Gehälter die darauf anfallende Lohnsteuer jedenfalls vollständig abgeführt wird. Gut gemeint, jedoch schlecht gemacht wäre es, wenn man die restliche Liquidität allein zur Auszahlung der Nettolöhne verwendet, die darauf anfallende Lohnsteuer jedoch nicht entrichtet. Eine solche Situation, in der für die tatsächlich gezahlten Gehälter nicht die vollständige Lohnsteuer beglichen wird, sollte unbedingt vermieden werden. Andernfalls würde der Geschäftsführer persönlich haftbar. Die Arbeitnehmer stehen im Hinblick auf eine solche faktische Lohnkürzung auch nicht schutzlos da. Denn sie erhalten rückständige Teile ihrer vertraglich geschuldeten Vergütung in Form des Insolvenzgeldes, wenn im Zug der Unternehmenskrise ein Insolvenzantrag gestellt werden muss (Abschn. 13.3). Das bereits erhebliche Spannungsfeld zwischen den Vorgaben des Gesellschaftsrecht (außergerichtliches Sanieren solange es geht, Abschn. 5.2 und 9.3) und den insolvenzrechtlichen Anforderungen an eine punktgenaue Erfüllung der Antragspflicht (Abschn. 9.3 und 9.7) wird damit zu einem haftungsrechtlichen Bermuda-Dreieck erweitert. Hiernach sollte der Geschäftsführer den Insolvenzantrag zur optimalen Ausnutzung des Insolvenzgeldzeitraums jedenfalls so bald wie möglich nach dem letzten auf eigener Kraft zu bewältigenden Lohnlauf stellen (Abschn. 9.3 und 10.2), wenn und soweit bei Antragstellung für alle dann (wenn auch möglicherweise gekürzt) ausgezahlten Löhne und Gehälter die erforderliche Lohnsteuer entrichtet ist. Zumindest muss der Organvertreter den vorläufigen Verwalter schnellstens nachweisbar zur tatsächlichen Erfüllung der steuerlichen Zahlungspflicht auffordern, um auch insoweit eine persönliche Haftung zu vermeiden.

14.8 Vorenthalten von Beiträgen zur Sozialversicherung Ein weiteres Haftungsrisiko besteht für Geschäftsführer und Vorstände, wenn sie in der Unternehmenskrise geschuldete Beiträge zur Sozialversicherung nicht abführen. Neben der bereits angesprochenen strafrechtlichen Konsequenz (Abschn. 14.4) kann die Verletzung von sozialversicherungsrechtlichen Pflichten auch zivilrechtliche Folgen für Manager haben. Denn als Organvertreter ihrer Gesellschaften haben sie die Rolle

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14  Strafrecht und weitere Haftungsrisiken

als funktionelle Arbeitgeber inne.11 Damit können Träger der Sozialversicherung die nicht ordnungsgemäß abgeführten Beiträge vom Organvertreter aus dessen Privatvermögen verlangen. Dieser muss also persönlich dafür einstehen, dass auf die vom Unternehmen gezahlten Löhne und Gehälter auch die Arbeitnehmer- und Arbeitgeberanteile ordnungsgemäß an die jeweiligen Sozialversicherungsträger abgeführt werden.

14.9 Haftung des Managers bei Eigenverwaltung Schließlich können Manager auch haftbar werden, wenn das Insolvenzgericht die vorläufige oder endgültige Eigenverwaltung der Insolvenzmasse angeordnet hat (Abschn. 10.3) und der Geschäftsführer bzw. Vorstand also auch während des Verfahrens weiter für die Unternehmensleitung zuständig ist. Hierzu hat die Rechtsprechung die Haftung der Geschäftsleiter im eröffneten Eigenverwaltungsverfahren weitgehend an die Verantwortlichkeit eines Insolvenzverwalters angelehnt (Abschn. 10.3 und 13.9). Dagegen ist die Ausgestaltung der Haftung von Organvertretern im Rahmen einer vorläufigen Eigenverwaltung – also zwischen der Antragstellung und der Eröffnung – nach wie vor weitgehend ungeklärt (Abschn. 13.9).

14.10 Das Wichtigste in Kürze • Neben den zivilrechtlichen Konsequenzen einer Insolvenzverschleppung (Kap. 12) kann die Verletzung der Insolvenzantragspflicht für Geschäftsführer und Vorstandsmitglieder auch erhebliche strafrechtliche Konsequenzen haben. Neben einer vorsätzlichen Begehung ist auch die fahrlässige Insolvenzverschleppung strafbar, und zwar selbst dann, wenn den Gläubigern im Einzelfall kein zivilrechtlicher Schaden entsteht (abstraktes Gefährdungsdelikt). • Ermittlungsverfahren wegen Insolvenzverschleppung sind praktisch häufig, da Insolvenzgerichte ihre Akten regelmäßig bei Verdachtsmomenten an die Staatsanwaltschaft weiterleiten. • Weitere typische Strafbarkeitsrisiken ergeben sich in einer Unternehmenskrise für Organvertreter insbesondere im Hinblick auf den Tatbestand der Untreue sowie andere Vermögensdelikte, spezifische Insolvenzdelikte wie den Bankrott sowie unter dem Gesichtspunkt des Nichtabführens von Sozialversicherungsbeiträgen oder der Steuerhinterziehung.

11Arbeitgeber

im formellen Sinn ist die Gesellschaft, mit der die Arbeitnehmer ihren Arbeitsvertrag abgeschlossen haben. Als juristische Person ist der formelle Arbeitgeber jedoch darauf angewiesen, dass die Funktion des Arbeitgebers durch die Organvertreter der Gesellschaft ausgeübt wird, daher der Begriff des funktionellen Arbeitgebers.

14.10  Das Wichtigste in Kürze

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• Im Übrigen können Manager neben der Haftung wegen Verletzung des Zahlungsverbotes (Kap. 11) oder zivilrechtlicher Insolvenzverschleppung (Kap. 12) weitere Tatbestände persönlicher Vermögenshaftung treffen, unter anderem für offene Steuerschulden der Gesellschaft sowie für nicht abgeführte Sozialversicherungsbeiträge.

15

Insolvenzanfechtung

Die Anfechtung von Rechtshandlungen durch den Insolvenzverwalter hat auf den ersten Blick keine Berührungspunkte mit der Haftung von Managern. Tatsächlich kann sich die Anfechtung jedoch entscheidend auf die Haftung wegen verbotener Zahlungen (Kap. 11) auswirken. Deshalb werden im folgenden Kapitel die Wechselwirkungen zwischen Insolvenzanfechtung und Innenhaftung beleuchtet.

15.1 Begriffliche Einordnung Einführung

Soweit in diesem Kapitel von „Anfechtung“ gesprochen wird, ist damit die Insolvenzanfechtung nach der Insolvenzordnung (InsO) gemeint. Diese darf nicht mit der Anfechtung von Willenserklärungen nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) verwechselt werden. Während die Anfechtung von Willenserklärungen von jeder Vertragspartei vorgenommen werden kann, wenn bei der Abgabe einer Erklärung ein Willensmangel (Irrtum, Täuschung oder Drohung) vorgelegen hat, steht das insolvenzrechtliche Anfechtungsrecht, um das es hier allein geht, exklusiv dem Insolvenzverwalter zu.1

1Neben

der Anfechtung nach der Insolvenzordnung (InsO) gibt es auch noch die (ebenfalls insolvenzrechtliche) Anfechtung durch einen Gläubiger nach dem Anfechtungsgesetz; diese ähnelt der Anfechtung nach der InsO in vielen Punkten. Die folgende Darstellung beschränkt sich auf die Anfechtung durch den Insolvenzverwalter.

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Poertzgen, Haftungsvermeidung in der Unternehmenskrise, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30083-8_15

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15 Insolvenzanfechtung

15.2 Das Grundprinzip der Insolvenzanfechtung Mit der Insolvenzanfechtung kann der Insolvenzverwalter bestimmte Transaktionen und sonstige Rechtsgeschäfte, an denen das insolvente Unternehmen beteiligt ist, rückgängig machen. Das geschieht mit dem Ziel, die Insolvenzmasse anzureichern, damit die (ungesicherten) Gläubigern am Verfahrensende eine erhöhte Insolvenzquote erhalten. Mit der Insolvenzanfechtung wird der Insolvenzverwalter insbesondere Geschäfte angreifen, die sich im Nachhinein für den Schuldner bzw. die Insolvenzmasse als wirtschaftlich nachteilig herausstellen. Diese Nachteiligkeit im Sinn des Anfechtungsrechts kann sich bereits daraus ergeben, dass kurz vor dem Insolvenzantrag noch eine vollständige Leistung an einen Vertragspartner erbracht worden ist. Denn mit der vollständigen Leistung hat der Vertragspartner aus insolvenzrechtlicher Sicht „zu viel“ erhalten, da er aus dem Insolvenzverfahren nur eine Quote erhalten hätte. Die Anfechtung der an den Gläubiger erbrachten Leistung führt dann dazu, dass dieser Gläubiger das über die Quote hinaus erhaltene „Mehr“ wieder an die Masse zurückgeben muss – und zwar obwohl ein wirksamer zivilrechtlicher Anspruch auf die volle Leistung bestanden hat! Die Insolvenzanfechtung durchbricht also das Prinzip der Vertragsfestigkeit (pacta sunt servanda). Hierdurch soll das im Insolvenzrecht besonders wichtige Ziel der Gleichbehandlung aller Gläubiger (par conditio creditorum) realisiert werden. Wenn die große Mehrheit der Gläubiger aus dem Verfahren nur eine Quote erhält, soll nicht ein einzelner Gläubiger eine komplette Leistung behalten dürfen. Das Anfechtungsrecht will also eine Vermögensverschiebung zugunsten eines individuellen Gläubigers, die in zeitlichem Zusammenhang zur Insolvenz erfolgt ist, zugunsten der Gläubigergesamtheit korrigieren. Praktisch wird dem Gläubiger, der eine volle Leistung erhalten hat, diese wieder weggenommen, damit alle Gläubiger – auch die, die noch überhaupt keine Leistung erhalten haben – eine anteilige Leistung erhalten können. Eine erfolgreiche Insolvenzanfechtung verbessert damit die aus dem Verfahren erzielbare Quote auf Kosten einzelner Gläubiger. Mit der Möglichkeit der Insolvenzanfechtung, die schon im Römischen Recht bekannt war (actio pauliana), hat die Rechtsordnung eine sehr grundsätzliche Wertungsentscheidung getroffen, welche die enorme Bedeutung des Gleichbehandlungsgrundsatzes erkennen lässt. Zum Glück für Vertragspartner krisenbelasteter Unternehmen unterliegt nicht jede Transaktion des Schuldners automatisch der Insolvenzanfechtung. Die Insolvenzanfechtung stellt eine juristische Ausnahme und nicht den Regelfall dar – auch wenn sie in der Praxis häufig vorkommt. Eine erfolgreiche Anfechtung setzt voraus, dass die anzufechtende Rechtshandlung einen der im Gesetz abschließend aufgezählten Anfechtungstatbestände erfüllt. Diesen Anfechtungstatbeständen ist gemeinsam, dass die fragliche Leistung in einer bestimmten Frist vor dem Insolvenzantrag erbracht worden sein muss. Hinzu kommen in den meisten Fällen noch weitere Merkmale, die sich entweder auf die Art der Leistung und/oder

15.3  Verhältnis der Insolvenzanfechtung zur Innenhaftung

151

einen subjektiven Tatbestand beim Anfechtungsgegner (Wissen oder Wissenmüssen) beziehen. Anfechtungsgefährdet sind insoweit vor allem solche Leistungen, bei deren Entgegennahme der Empfänger von einer mehr oder weniger ausgeprägten Krise des Leistungserbringers weiß. Hier gilt das Sprichwort: „was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß“. Auch wenn heute in vielen Bereichen ein Trend zu möglichst weitreichender Transparenz und Information über Geschäftspartner besteht, ist im Anfechtungsrecht eher das Gegenteil richtig. Wer über möglichst wenig Kenntnis vom (insbesondere) finanziellen Innenleben seines Geschäftspartners verfügt, hat bei einer späteren Insolvenzanfechtung bessere Karten als ein Vertragspartner, dem die wirtschaftliche Situation seiner Gegenpartei detailliert bekannt war. Als Faustformel kann man sich merken: wer lediglich die vertraglich geschuldete Leistung zur vereinbarten Zeit in Empfang nimmt und keine weitere Kenntnis von einer Krise seines Geschäftspartners hat, muss in aller Regel keine Anfechtung der empfangenen Leistung befürchten, auch wenn der Vertragspartner in der Folgezeit einen Insolvenzantrag stellt. In der Praxis muss man allerdings damit rechnen, dass Insolvenzverwalter das Instrument der Anfechtung taktisch einsetzen, um zu versuchen, bei bestimmten Geschäften im Nachhinein bessere Konditionen für die Insolvenzmasse durchzusetzen. Deshalb enden viele Anfechtungsstreitigkeiten auch im Abschluss eines Vergleichs. In aller Regel will der Insolvenzverwalter die vom Schuldner in anfechtbarer Weise weggegebene Leistung gar nicht wirklich zurückerhalten. Vielmehr wird ein bestehender Anfechtungsanspruch meist durch eine Geldzahlung an die Masse abgegolten, und der Anfechtungsgegner behält im Gegenzug die angefochtene Leistung.

15.3 Verhältnis der Insolvenzanfechtung zur Innenhaftung In zeitlicher Hinsicht erfasst die Insolvenzanfechtung insbesondere Transaktionen, die vor der Stellung eines Insolvenzantrags erfolgt sind. Hieraus ergibt sich die folgenreiche Nähe zwischen der Insolvenzanfechtung und der Haftung für verbotene Zahlungen (Kap. 11). Die beiden Haftungssysteme zielen nämlich in vielen Fällen auf dasselbe wirtschaftliche Interesse. Sofern die anfechtbare Transaktion in einer Leistung des Schuldners an einen Dritten besteht, kann diese Leistung gleichzeitig eine Zahlung im Sinn der Innenhaftung darstellen (Abschn. 11.4). Umgekehrt bedeutet das: eine Zahlung kann unter den jeweiligen Voraussetzungen sowohl mit der Insolvenzanfechtung als auch mit der Innenhaftung rückgängig gemacht werden. Die wichtigste Konsequenz dieser inhaltlichen Überschneidung von Innenhaftung und Insolvenzanfechtung besteht darin, dass die Rückgewährung einer anfechtbaren Leistung gleichzeitig die verbotene Zahlung rückgängig macht und damit eine Innenhaftung entfallen lässt!

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15 Insolvenzanfechtung

Eine Inanspruchnahme sowohl des Leistungsempfängers als auch des Organvertreters verbietet sich, da die Insolvenzmasse dieselbe Leistung bzw. Zahlung sonst zweifach zurückerhalten würde und dann besser stehen würde, als wenn das Insolvenzverfahren gar nicht eröffnet worden wäre. Im Innenverhältnis zwischen dem Empfänger der anfechtbaren Leistung und dem Organvertreter ist primär der Leistungsempfänger und nicht der Organvertreter verantwortlich. Schließlich hat der Geschäftspartner die Leistung des Schuldners erhalten und dadurch eine Bereicherung seines Vermögens erfahren. Dagegen hat der Geschäftsführer lediglich eine Zahlung von der Gesellschaft an den Leistungsempfänger vermittelt, ohne dass sein persönliches Vermögen hiervon in irgendeiner Weise berührt worden ist, geschweige denn, dass er persönlich profitiert hat. Im Außenverhältnis zum Leistungsempfänger bzw. Geschäftsführer oder Vorstand steht es dem Insolvenzverwalter jedoch frei, ob er wegen der fraglichen Leistung bzw. Zahlung den Leistungsempfänger oder Organvertreter in Anspruch nimmt. Der Verwalter kann also wählen, ob er gegen den Empfänger der Leistung mit der Insolvenzanfechtung vorgeht oder ob er die Leistung als Zahlung im Wege der Innenhaftung vom Geschäftsführer zurückverlangt. Nimmt der Verwalter also den Leistungsempfänger in Anspruch, so entlastet die Rückzahlung der anfechtbaren Leistung an die Insolvenzmasse auch den Geschäftsführer. Denn der Verwalter darf die Auffüllung der Masse wie gesagt nur einmal verlangen, und mit dem Anfechtungsgegner ist ja bereits der richtige Beteiligte belastet. In dieser Sachverhaltsvariante droht also dem Geschäftsführer oder Vorstand weder eine Inanspruchnahme durch den Verwalter noch ein Regress durch den Anfechtungsgegner. Die Frage der Innenhaftung hat sich „in Luft aufgelöst“. Für den Organvertreter ist das der Idealfall. Entscheidet sich der Verwalter aber dafür, den Geschäftsführer bzw. Vorstand wegen verbotener Zahlungen haftbar zu machen, so kann der erfolgreich in Anspruch genommene Organvertreter – der die wirtschaftliche Belastung ja nicht endgültig zu tragen hat – Regress beim Anfechtungsgegner nehmen. Dieser Regress läuft so ab, dass der Geschäftsführer, der im Rahmen der Innenhaftung bezahlt, den vom Verwalter noch nicht realisierten Anfechtungsanspruch abgetreten erhält. Damit wird der Organvertreter also Inhaber des Anfechtungsanspruchs und kann nun versuchen, sich beim Anfechtungsgegner schadlos zu halten. Das Risiko, dass ein solcher Regress gelingt, trägt der Geschäftsführer. Die mit der Regressmöglichkeit verbundene Problematik besteht nun darin, dass der Anfechtungsanspruchs in aller Regel zeitlich vor der Innenhaftung verjährt. Während die an die verbotene Zahlung anknüpfende Innenhaftung taggenau fünf Jahre nach der Vornahme der einzelnen Zahlung verjährt (Abschn. 11.17), tritt die Verjährung des

15.4  Praktische Konsequenzen

153

Anfechtungsanspruchs schon drei Jahren nach dem Schluss des Kalenderjahres ein, in welchem das Insolvenzverfahren eröffnet worden ist.2 Wird zum Beispiel ein Insolvenzverfahren Anfang Februar des Jahres Eins nach einem im November des Vorjahres (Null) gestellten Insolvenzantrages eröffnet, so verjährt ein Anfechtungsanspruch erst zum 31. Dezember des Jahres Vier, also erst mit dem Ende des dritten vollen Kalenderjahres nach dem Jahr, in dem das Verfahren eröffnet worden ist. Sind aber im September und Oktober des Jahres Null verbotene Zahlungen geleistet worden, so verjährt die Innenhaftung deswegen erst im September bzw. Oktober des Jahres Fünf. Hier gibt es eine Vielzahl denkbarer Varianten, in denen aber regelmäßig die Verjährung der Innenhaftung erst nach der Verjährung des Anfechtungsanspruchs eintritt. Vor diesem Hintergrund besteht die Gefahr, dass der Verwalter den Geschäftsführer bzw. Vorstand erst nach Eintritt der Verjährung des Anfechtungsanspruchs aus der Innenhaftung in Anspruch nimmt, und der Organvertreter – weil der Anfechtungsanspruch dann bereits verjährt ist – keinen Regress mehr beim Anfechtungsgegner nehmen kann. Dann bleibt der aus der Innenhaftung in Anspruch genommene Geschäftsführer „auf dem Schaden sitzen“, obwohl er im Verhältnis zum Anfechtungsgegner die endgültige Belastung gar nicht tragen sollte.

15.4 Praktische Konsequenzen Das Gesetz bietet bislang keinen Ausweg aus diesem für den Organvertreter oftmals teuren Dilemma. Naheliegend wäre es, die Verjährung der Innenhaftung mit der Verjährung des Anfechtungsanspruchs zu synchronisieren, damit eine Geltendmachung der Innenhaftung erst nach Verjährung des Anfechtungsanspruchs gar nicht mehr möglich ist. Hierzu müsste allerdings der Gesetzgeber tätig werden. Bis das passiert, müssen die unterschiedlichen Verjährungsregelungen angewendet werden. Auch die Rechtsprechung hat das Problem einer Innenhaftung nach Verjährung des Anfechtungsanspruchs noch nicht geklärt. Insbesondere fehlt es an einer Entscheidung zu der Frage, ob der Organvertreter wirklich uneingeschränkt für verbotene Zahlungen ersatzpflichtig ist, wenn der Insolvenzverwalter eine insoweit haftungsmindernde Insolvenzanfechtung gegen den Empfänger der Zahlungen unterlassen hat. Unter Wertungsgesichtspunkten dürfte es nicht richtig sein, dass der Geschäftsführer hier ohne Regressmöglichkeit voll haften muss. Allerdings gibt es hierzu noch keine belastbaren Urteile, sodass auf absehbare Zeit eine erhebliche Unsicherheit für Geschäftsführer und Vorstände bleiben wird.

2Der

Anfechtungsanspruch unterliegt nämlich wie die Haftung wegen Insolvenzverschleppung der Regelverjährung (Abschn. 12.7).

154

15 Insolvenzanfechtung

Praktisch sollte sich ein wegen verbotener Zahlungen in Anspruch genommener Geschäftsführer deshalb immer darauf berufen, dass seine Verantwortlichkeit anteilig zu kürzen ist, wenn der Verwalter nicht wenigstens versucht hat, mit der Insolvenzanfechtung gegen den oder die Empfänger der Zahlungen vorzugehen. Einzuräumen ist hier allerdings, dass der Insolvenzverwalter nicht zwingend immer persönlich gegenüber dem Geschäftsführer verantwortlich ist, wenn er eine mögliche Anfechtung unterlassen hat bzw. diese verjährt ist. Trotzdem kann und sollte man eine entsprechende Verteidigungslinie in der Diskussion mit einem Insolvenzverwalter immer aufbauen. Ist der Anfechtungsanspruch dagegen noch nicht verjährt – und ein Regress also noch möglich, – so sollte der Geschäftsführer, der wegen verbotener Zahlungen in Anspruch genommen wird, dringend auf die tatsächliche Geltendmachung der Anfechtung, wenigstens aber auf die Einleitung verjährungshemmender Maßnahmen hinwirken.3 Auf diese Weise bleibt dem Organvertreter zumindest die Regressmöglichkeit gegen den Empfänger der Zahlungen erhalten oder es wird ihm eben das potenziell haftungsreduzierende Argument gesichert, dass der Verwalter den Anfechtungsanspruch „sehenden Auges“ hat verjähren lassen. Als Konsequenz erwirbt der Organvertreter wegen des abgeschnittenen Regresses möglicherweise einen Schadensersatzanspruch, der hoffentlich weitgehend gegen die Haftung wegen verbotener Zahlungen aufgerechnet werden kann.4 Teilweise wird in der juristischen Literatur dazu geraten wird, der Geschäftsführer oder Vorstand solle die Geschäftspartner des Unternehmens ausdrücklich auf die bestehende Krise hinweisen, um auf diese Weise eine spätere Insolvenzanfechtung zu erleichtern. Dahinter steckt die Überlegung, dass mit der erleichterten Anfechtung das Risiko einer Haftung wegen verbotener Zahlungen verringert wird, soweit den Zahlungen anfechtbare Rechtshandlungen zugrunde liegen. Dieser Ratschlag ist grundsätzlich nachvollziehbar, er passt aber nicht für alle Fälle und sollte immer erst nach sorgfältiger Abwägung in die Tat umgesetzt werden. Schließlich gehört es auch zu den Pflichten des Geschäftsführers bzw. Vorstands, über die wirtschaftliche Situation der Gesellschaft gegenüber Dritten Stillschweigen zu bewahren (Abschn. 5.4). Ein ausdrücklicher Hinweis auf die Krise der Gesellschaft durch den eigenen Organvertreter kann den Abwärtstrend des Unternehmens erst recht verschärfen. Insoweit kann der Geschäftsführer wegen entsprechender Äußerungen sogar haftbar werden (Abschn. 5.4). Hier ist also Vorsicht geboten, auch weil eine anfecht-

3Die

Aufforderung an den Verwalter zur Einleitung verjährungshemmender Maßnahmen (vertraglicher Verjährungsverzicht, Mahnbescheid, Klage) sollte schriftlich dokumentiert werden. 4Eine echte Aufrechnungskonstellation liegt hier freilich nicht vor: den Schadensersatz wegen unterlassener Anfechtung würde der Insolvenzverwalter persönlich schulden, wohingegen der Geschäftsführer die Haftung wegen verbotener Zahlungen an die Insolvenzmasse (und nicht den Verwalter persönlich) schuldet. Im Ergebnis kommt es jedoch allein darauf an, dass der Geschäftsführer möglichst wenig an die Masse zahlen muss.

15.5  Das Wichtigste in Kürze

155

bare Zahlung womöglich bereits das Zahlungsverbot verletzt und den Geschäftsführer also bewusst einem Haftungsrisiko aussetzt (Kap. 11). Deshalb sollte immer überlegt werden, ob nicht statt einer anfechtbaren Leistung lieber überhaupt keine Zahlung mehr vorgenommen wird – insbesondere wenn der Gang zum Insolvenzgericht ohnehin bereits unausweichlich ist, weil etwa die Sanierungsfrist kurzfristig abläuft (Abschn. 9.7).

15.5 Das Wichtigste in Kürze • Die Innenhaftung wegen verbotener Zahlungen (Kap.  11) hat oft erhebliche wirtschaftliche Überschneidungen mit der Insolvenzanfechtung, die vom Insolvenzverwalter gegen die Empfänger der Zahlungen geltend zu machen ist. • Die erfolgreiche Anfechtung gegen den Zahlungsempfänger entlastet den Organvertreter, der die verbotene Zahlung vorgenommen hat, in Bezug auf die Innenhaftung (Kap. 11). Hat der Verwalter aber – wozu er berechtigt ist – den Geschäftsführer bzw. Vorstand wegen der Zahlung haftbar gemacht, so kann dieser vom Insolvenzverwalter die Abtretung des Anfechtungsanspruchs verlangen, um beim Empfänger der Zahlung Regress zu nehmen. • Ein Regress beim Zahlungsempfänger wird praktisch allerdings oft dadurch unmöglich, dass der Anfechtungsanspruch in aller Regel vor der Innenhaftung verjährt. • Der vom Insolvenzverwalter in Anspruch genommene Geschäftsführer oder Vorstand sollte immer darauf drängen, dass der Insolvenzverwalter die Anfechtung gegen den Zahlungsempfänger geltend macht. • Hat der Insolvenzverwalter den Anfechtungsanspruch verjähren lassen und dadurch den Regress vereitelt, sollte der Manager versuchen, diesen Umstand im Rahmen seiner Inanspruchnahme haftungsmindernd geltend zu machen.

D&O – Versicherung

16

Eine Haftpflichtversicherung für Risiken aus beruflicher Tätigkeit ist für Geschäftsführer und Vorstände in jedem Fall empfehlenswert. Gerade im Insolvenzfall kann eine solche Versicherung jedoch dazu führen, dass sich die Wahrscheinlichkeit des Versuchs einer Inanspruchnahme des Organvertreters erhöht.

16.1 Umfang des Versicherungsschutz ist vom Einzelfall abhängig Der Abschluss einer Versicherung zum Schutz vor Haftpflichtschäden wegen Verletzung beruflicher Pflichten – directors’ & officers’ insurance oder abgekürzt ­„D&O“-Versicherung – ist für Geschäftsführer und Vorstände immer sinnvoll. Abhängig von der Größe und wirtschaftlichen Lage des Unternehmens kann das Bestehen einer solchen D&O-Versicherung unter Umständen sogar Voraussetzung dafür sein, dass Manager überhaupt bereit sind, eine prinzipiell haftungsträchtige Organfunktion zu übernehmen. Ob und in welcher Höhe eine D&O-Police auch Haftungsrisiken im Zusammenhang mit Krise oder Insolvenz abdeckt, muss im Einzelfall anhand der konkreten Versicherungsbedingungen geprüft werden. Hier gibt es weder allgemeingültige Regelungen noch einen Marktstandard. So erfassen einige der heute erhältlichen D&O-Policen ausdrücklich auch Haftungsrisiken im Stadium der Krise bzw. Insolvenz. Dagegen wollen andere Versicherer Risiken im Zusammenhang mit der Unternehmenskrise gerade nicht versichern. Deckt eine vorhandene D&O-Versicherung Risiken im Zusammenhang mit Krise und

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Poertzgen, Haftungsvermeidung in der Unternehmenskrise, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30083-8_16

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16  D&O – Versicherung

Insolvenz nicht ab, kann es ratsam sein, eine weitere bzw. eine spezifische Police gerade für solche Risiken abzuschließen.1 Unabhängig davon, ob eine Police Risiken im Zusammenhang mit Krise und Insolvenz versichert oder ausschließt, sind Schäden infolge vorsätzlich begangener Pflichtverletzungen in aller Regel überhaupt nicht versichert (Abschn. 16.4). Dasselbe kann für Schäden gelten, die sich als Folge von grob fahrlässigem Handeln realisieren. Vorsicht ist im Hinblick auf vereinzelte neue Gerichtsentscheidungen geboten, die einigermaßen problematisch sind.2 Hiernach soll gerade die in der Praxis häufig vorkommende Haftung wegen Verletzung des Zahlungsverbotes (Kap. 11) nicht versichert sein, und zwar selbst dann nicht, wenn die Police grundsätzlich Schutz vor Risiken im Zusammenhang mit Krise und Insolvenz gewährt. Im Ergebnis würden die betroffenen Geschäftsführer bzw. Vorstände damit ohne Versicherungsschutz dastehen, wenn sie von einem Insolvenzverwalter wegen einer Verletzung des Zahlungsverbotes in Anspruch genommen werden – und das ist ja praktisch die am häufigsten vorkommende Konstellation der Organhaftung in der Krise (Abschn. 11.2). Zumindest betrifft die neue Rechtsprechung nur Versicherungspolicen, die heute bereits abgeschlossen sind. Neu abzuschließende Verträge werden – gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Rechtsprechung – in aller Regel eindeutige Formulierungen verwenden, nach denen die Innenhaftung (oder andere Haftungstatbestände) ausdrücklich versichert sind oder eben bewusst vom Versicherungsschutz ausgenommen werden. Im Großen und Ganzen wird sich die Anzahl der Policen, die von den neuen Urteilen betroffen sind, also früher oder später „auswachsen“.

Die neue Rechtsprechung wird zu Recht überwiegend kritisch gesehen. Konkret geht es um die Frage, ob die Verletzung des Zahlungsverbots juristisch zu einem „echten“ Schadensersatzanspruch oder einem „sonstigen“ Erstattungsanspruch bzw. einem sog. „Ersatzanspruch eigener Art“ führt (Abschn. 11.4). Die in den neuen Urteilen formulierte Begründung gegen das Bestehen von Versicherungsschutz ist jedenfalls nicht überzeugend und damit angreifbar.3

1In

diesem Fall sind die primäre D&O-Versicherung und eine spezifische D&O-Versicherung für die Unternehmenskrise durch Subsidiaritätsklauseln voneinander abzugrenzen, um eine problematische Mehrfachversicherung („Doppelversicherung“) zu vermeiden. 2Insbesondere geht es hier um das Urteil des Oberlandesgerichts (OLG) Düsseldorf vom 20. Juli 2018 – 4 U 93/16. 3Zur Klarstellung: das Problem betrifft nur Versicherungen, die zwar auch Krisen- und Insolvenzsachverhalte versichern, jedoch ausdrücklich auf eine Haftung für Schadensersatz abstellen – die Innenhaftung als Ersatzanspruch eigener Art (Abschn. 11.4) wäre damit nicht erfasst. Per se nicht betroffen sind dagegen Versicherungspolicen, die eine Haftung für Pflichtverletzungen in Krise oder Insolvenz ohnehin generell ausschließen.

16.2  Das Anspruchserhebungsprinzip („claims made“)

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Wenn sich also ein Versicherer darauf beruft, wegen Verletzung des Zahlungsverbotes nicht zahlen müssen, weil die konkrete Police eine Einstandspflicht lediglich für „Schadensersatz“ vorsieht, muss das nicht ohne Weiteres hingenommen werden. Vielmehr sollte man versuchen, unter Verweis auf die inhaltlichen Schwächen der Entscheidungen und die systematische Sondersituation der Innenhaftung (Abschn. 11.4) den Versicherer zur Zusage von Deckungsschutz zu bewegen. Äußerstenfalls müsste erwogen werden, die Einstandspflicht der Versicherung auch für die Haftung wegen Verletzung des Zahlungsverbotes gerichtlich durchzusetzen (Abschn. 16.3). Unabhängig von der neuen Rechtsprechung wird sich regelmäßig die Frage stellen, ob bzw. inwieweit ein Organvertreter (noch) Einfluss auf die konkrete Ausgestaltung der Police nehmen kann. Das hängt ab, ob die jeweilige Versicherung gerade für einen individuell begünstigen Geschäftsführer oder Vorstand neu abgeschlossen wird oder ob es sich um einen bestehenden (Gruppen-) Vertrag handelt, der dann bei Eintritt eines weiteren Managers auch auf diesen erstreckt wird. Üblich ist hier eine Konstruktion, wonach Versicherungsnehmer – also der eigentliche Vertragspartner der Versicherung – nicht der einzelne Geschäftsführer ist, sondern die ihn beschäftigende Gesellschaft bzw. eine Konzerngesellschaft, welche die Police auf ihre Kosten zugunsten des Führungspersonals abschließt. In jedem Fall sollten die betroffenen Organvertreter im eigenen Interesse immer versuchen, auf eine klare bzw. eindeutige Formulierung der Police hinzuwirken.4

16.2 Das Anspruchserhebungsprinzip („claims made“) Im Zusammenhang mit der D&O-Versicherung taucht immer wieder der Begriff des Anspruchserhebungsprinzips oder claims made – Prinzip auf. Damit ist gemeint, dass für die Zwecke der Versicherung das relevante Ereignis nicht die (zeitlich frühere) eigentliche Pflichtverletzung ist, sondern erst die (zeitlich spätere) Erhebung des Haftungsanspruchs. Am Beispiel einer Verletzung des Zahlungsverbotes (Abschn. 11.3) kann das claims made – Prinzip verdeutlicht werden: Anknüpfungspunkt für die Eintrittspflicht der Versicherung ist nicht die Vornahme der fraglichen Zahlung. Das versicherungsrechtlich relevante Ereignis ist vielmehr die erst deutlich später erfolgende Inanspruchnahme des Organvertreters durch den Insolvenzverwalter in Form einer schriftlichen Zahlungsaufforderung oder der Zustellung eines Mahnbescheids bzw. einer Klage. Da der Anknüpfungspunkt für die D&O-Versicherung also erst die Erhebung und nicht schon die Entstehung des Anspruchs ist, muss der betroffene Geschäftsführer bzw.

4Bei

einem bereits bestehenden Vertrag könnte man beispielsweise mit einer Klarstellung zum Wortlaut in Form eines Begleitschreibens (side letter) arbeiten.

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16  D&O – Versicherung

Vorstand insgesamt drei Zeitabschnitte im Blick haben, um seinen Versicherungsschutz nicht zu gefährden: neben der zivilrechtlichen Verjährung der Haftung geht es zum einen um den Versicherungszeitraum und zum anderen um die (Nach-) Meldefrist. Verjährung bedeutet, dass eine Haftung irgendwann allein aus zeitlichen Gründen nicht mehr geltend gemacht werden kann. Wann Verjährung im Einzelfall eintritt, ist von der maßgeblichen Verjährungsfrist abhängig, die jeweils im Zivilrecht geregelt ist.5 Der Versicherungszeitraum ist der in der Police geregelte, konkret versicherte Zeitraum, also die Vertragslaufzeit der Versicherung. Diese kann sich durch ausdrückliche Erklärung oder – wenn das im Versicherungsvertrag so geregelt ist – automatisch bei Nichtkündigung der Police zu einem bestimmten Datum verlängern. Damit eine Pflichtverletzung versichert ist, muss die Anspruchserhebung (claims made) zeitlich im versicherten Zeitraum liegen, andernfalls besteht kein Versicherungsschutz. Ist die Haftung des Organvertreters dann allerdings schon verjährt, kommt es auf den Versicherungszeitraum gar nicht mehr an. Vom versicherten Zeitraum bzw. der Vertragslaufzeit ist die Meldefrist zu unterscheiden. Innerhalb der Meldefrist muss die Anzeige der Anspruchserhebung (claims made) beim Versicherer erfolgen. Praktisch muss das Anspruchsschreiben des Insolvenzverwalters also vor Ablauf der Meldefrist beim Geschäftsführer eingehen (oder eine Klage zugestellt werden) und der Versicherung angezeigt werden, damit Versicherungsschutz besteht – wiederum vorausgesetzt, dass der Haftungsanspruch dann noch nicht verjährt ist. Die Länge der entsprechenden Meldefrist sollte sich immer an der Verjährungsfrist der versicherten Ansprüche orientieren und idealerweise sogar über die Verjährungsfrist hinaus bestehen. Praktisch können Versicherungszeitraum und Meldefrist aus Sicht des zu versichernden Managers nicht lange genug sein.6 Bedeutsam ist die Meldefrist insbesondere, wenn der Versicherungszeitraum bereits beendet ist (etwa bei Nichtfortführung der Versicherung). Die Meldefrist heißt dann Nachmeldefrist. Innerhalb der Nachmeldefrist muss der Geschäftsführer, der nach dem Ende des Versicherungszeitraums aus einem noch nicht verjährten Sachverhalt in Anspruch genommen wird, dem Versicherer die Inanspruchnahme anzeigen, um den Versicherungsschutz nicht zu verlieren. Die Nachmeldefrist sollte sich auch wiederum nach der längsten der möglicherweise einschlägigen Verjährungsregelungen richten.

5Typische

Verjährungsfristen sind etwa eine fünfjährige Frist für die Haftung wegen verbotener Zahlungen (Abschn. 11.17) oder eine dreijährige Frist bei Verletzung der Insolvenzantragspflicht (Abschn. 12.7) sowie für Ansprüche aus Insolvenzanfechtung (Abschn. 15.3). 6Allerdings werden sich entsprechend lange Fristen, die für den Versicherer ja mit höheren Risiken verbunden sind, auch in der Höhe der Versicherungsprämie niederschlagen. Praktisch wird es vom Einzelfall abhängen, welche Zeiträume zu welchen Konditionen versichert werden können.

16.3  Faktisch erhöhtes Risiko einer Inanspruchnahme

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16.3 Faktisch erhöhtes Risiko einer Inanspruchnahme Auch wenn das Bestehen bzw. der Abschluss einer D&O-Versicherung durchweg ratsam ist, muss man sich über eine (kaum vermeidbare) Entwicklung im Klaren sein, die als typische Folge des Bestehens einer D&O-Versicherung eintritt: So führt oft gerade das Bestehen einer D&O-Versicherung dazu, dass der betreffende Organvertreter tatsächlich auch in Anspruch genommen wird. Der Grund für die „herabgesetzte Hemmschwelle“ in Bezug auf eine Inanspruchnahme liegt darin, dass dem Anspruchssteller, in der Regel also dem Insolvenzverwalter, das Risiko der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Haftungsschuldners durch die Versicherung – jedenfalls im Umfang der Versicherungssumme – abgenommen ist. Der Insolvenzverwalter läuft also bei Bestehen einer D&O-Versicherung nicht in die Gefahr, dass der Geschäftsführer als Folge einer Inanspruchnahme selbst kurzfristig insolvent wird und sich also die Erhebung berechtigter Ansprüche aus wirtschaftlichen Gründen nicht lohnen würde. Dieses Phänomen wird als „Theorie der tiefen Tasche“ (deep pocket theory) bezeichnet; dort, wo etwas „zu holen“ ist (versicherte Person), wird sich mit einiger Wahrscheinlichkeit früher oder später auch jemand einfinden (Insolvenzverwalter), der versuchen wird, den (vermeintlichen) Inhalt der tiefen Taschen zu nutzen (hier: im Interesse der Gläubiger). Selbstverständlich bedeutet das Bestehen einer D&O-Versicherung nicht, dass dem Insolvenzverwalter (oder einem Dritten) der Nachweis einer Pflichtverletzung in irgendeiner Form erleichtert oder gar abgenommen wäre. Vielmehr müssen – unabhängig vom Bestehen der Versicherung – sämtliche Haftungsvoraussetzungen nach wie vor ­materiell-rechtlich bestehen und gerichtsfest bewiesen werden können. Jedoch besteht gerade in Fällen, in denen die Gesellschaft die formelle Anspruchsinhaberin ist – insbesondere also bei Verletzung des Zahlungsverbotes (Abschn. 11.2) – typischerweise ein wirtschaftliches Interesse des Insolvenzverwalters, die zugunsten des Geschäftsführers bzw. Vorstands bestehende Versicherung auch tatsächlich in Anspruch zu nehmen. Denn eine Leistung der Versicherung würde – da es formell um die Realisierung eines Anspruchs der insolventen Gesellschaft geht – unmittelbar in die Insolvenzmasse fließen. Zu deren Anreicherung ist der Insolvenzverwalter ja von Gesetzes wegen beauftragt (Abschn. 13.5), sodass es im Grundsatz auch pflichtgemäß ist, wenn der Verwalter über eine Inanspruchnahme des (versicherten) Geschäftsführers versucht, die Masse zu mehren. In einer solchen Konstellation muss der Insolvenzverwalter also den Organvertreter verklagen, um im Erfolgsfall die Versicherungsleistung „zur Masse“ ziehen zu können. Eine direkte Inanspruchnahme der Versicherung durch den Insolvenzverwalter ist im Fall der D&O-Versicherung meist nicht möglich, da der Verwalter keinen unmittelbaren Anspruch gegen die Versicherung hat. Ein solcher steht nur dem versicherten Geschäftsführer bzw. Vorstand zu. Damit ergibt sich folgende Prozeßsituation: der Insolvenzverwalter verklagt den Geschäftsführer (Haftungsprozess) und dieser muss im Fall

162

16  D&O – Versicherung

seines Unterliegens gegebenenfalls die Versicherung in einem weiteren Rechtsstreit in Anspruch nehmen (Deckungsprozess). An dieser Stelle soll nochmals betont werden, dass der Verwalter mit der Inanspruchnahme des Geschäftsführers seiner gesetzlichen Pflicht zur Realisierung von Ansprüchen zugunsten der Insolvenzmasse nachkommt (Abschn. 13.5). Insoweit ist ihm mit dem Vorgehen gegen den Organvertreter grundsätzlich kein Vorwurf zu machen, zumal Haftungsansprüche gegen die Organvertreter des Schuldners in zahlreichen Verfahren überhaupt oft die einzige realistische Chance bieten, die Insolvenzmasse zugunsten der Gläubiger anzureichern – vorausgesetzt natürlich, der Haftungsschuldner ist hinreichend leistungsfähig. Allerdings zeigt sich in der Praxis auch, dass Verwalter Geschäftsführer und Vorstände dann und wann auch bei eher unklarer Tatsachenlage – also einem auf „wackeligen Füßen“ stehenden Anspruch – verklagen. Das geschieht dann in der Hoffnung, im Rahmen der Auseinandersetzung einen Vergleich unter Einbeziehung der Versicherung abzuschließen und zur Streitbeilegung eine Zahlung von der Versicherung zu erhalten. Ob sich eine solche Taktik auszahlt, hängt von zahlreichen Faktoren ab, vor allem auch von der Bereitschaft des Versicherers, sich auf einen Vergleich mit dem Verwalter einzulassen bzw. von der Frage, wie groß im Einzelfall die Befürchtung ist, dass der von der Versicherung zu erstattende Schaden im Fall einer Verurteilung des Geschäftsführers den im Raum stehenden Vergleichsbetrag übersteigen wird. Für den betroffenen Organvertreter kann eine Inanspruchnahme durch den Verwalter eine substantielle zeitliche und nervliche Belastung bedeuten. Diese ist meist von folgenden Fragen und Unsicherheiten geprägt: Reicht die Versicherungssumme im Fall der Fälle aus, um den Haftungsanspruch des Verwalters zu erfüllen oder bleibt ein erheblicher oder sogar existenzbedrohender Teil des Schadens am Privatvermögen des Organvertreters „hängen“ (Kap. 17)? Muss die Versicherung womöglich im Rahmen eines gesonderten Deckungsprozesses verklagt werden, wenn zwar eine Verurteilung im Haftungsprozess droht, der Versicherer aber nicht für den Schaden aufkommen will? Besteht im Haftungsprozess äußerstenfalls sogar das Risiko, dass eine vorsätzliche Pflichtverletzung (Abschn. 14.2) festgestellt wird, sodass neben dem Wegfall von Versicherungsschutz (Abschn. 16.4) auch eine Restschuldbefreiung im Rahmen einer Privatinsolvenz (Abschn. 17.5) ausscheidet? Kann eine Verurteilung im Haftungsprozess zur Folge haben, dass die Fähigkeit zur Übernahme anderer Geschäftsführerämter verloren geht?7 Skeptisch sollten Organvertreter werden, wenn ihnen vom sprichwörtlichen „schwarzen Schaf“ in der Rolle eines Insolvenzverwalters (sinngemäß) signalisiert wird, man könne/solle doch gemeinsam darauf hinwirken, dass die Versicherung einen im

7Eine

entsprechende Inhabilität kann sich als Folge einer Verurteilung wegen bestimmter Straftaten ergeben, siehe § 6 Abs. 2 Ziff. 3 des GmbH-Gesetzes (GmbHG).

16.4  Haftungsausschluss bei vorsätzlichem Handeln

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Raum stehenden Haftpflichtschaden zugunsten der Insolvenzmasse regulieren werde. Hier ist große Vorsicht geboten. Da die Versicherung bei Bestehen eines Versicherungsfalles schließlich den sprichwörtlichen Scheck ausstellen muss, sollten Geschäftsführer bzw. Vorstände die Versicherung tatsächlich als Freund und nicht als Feind ansehen. Umgekehrt kann eine „gemeinsame Sache“ des Verwalters und des Organvertreters das Bestehen von Versicherungsschutz erheblich gefährden und unter Umständen sogar strafrechtliche Konsequenzen haben. Für versicherte Manager ist es in jedem Fall ratsam, die Verteidigung gegen Haftungsansprüche nur in enger zeitlich und inhaltlicher Abstimmung mit der Versicherung zu betreiben. Auch wenn die Versicherung aus taktischen Gründen vielfach nicht direkt mit dem Anspruchsteller verhandelt, empfiehlt sich für den in Anspruch genommenen Manager, lieber einmal mehr als weniger jegliche Stellungnahme gegenüber dem Insolvenzverwalter mit dem Versicherer abzustimmen bzw. diesen jedenfalls detailliert zu über den Verlauf der Auseinandersetzung zu informieren. Keinesfalls sollte das faktisch erhöhte Risiko einer Inanspruchnahme bei Bestehen einer D&O-Versicherung dazu verleiten, auf den Abschluss einer entsprechenden Police von Vorneherein zu verzichten. Zum einen wird die Versicherung dem Geschäftsführer oder Vorstand – in ihrem eigenen Interesse – bei der Abwehr der geltend gemachten Ansprüche in der Sache helfen. Zum anderen stellen Krisenpflichten und zugehörige Haftungsrisiken regelmäßig nur einen Ausschnitt des Schutzspektrums einer typischen D&O-Versicherung dar. Der im Großen und Ganzen durch eine D&O-Versicherung bewirkte Schutz dürfte die unvermeidbaren Begleiterscheinungen ihres Bestehens mehr als deutlich aufwiegen.

16.4 Haftungsausschluss bei vorsätzlichem Handeln Ausdrücklich soll nochmals darauf hingewiesen werden, dass vorsätzliches Verhalten – und auch hier reicht bedingt vorsätzliches Handeln oder Unterlassen (Abschn. 14.2) – den Versicherungsschutz regelmäßig entfallen lässt. Entsprechendes kann für eine grob fahrlässige Pflichtverletzung gelten. Deshalb sollte jegliche Argumentation im Rahmen einer Auseinandersetzung mit dem Insolvenzverwalter immer auch dahin gehend überprüft werden, dass nicht ein auf den ersten Blick geeignet erscheinender Vortrag bei zweitem Hinsehen als bewusstes bzw. vorsätzliches Handeln (womöglich im Hinblick auf einen ganz anderen Tatbestand) verstanden werden kann. Denn dann hätte der eigene Vortrag im Haftungsprozess unangenehme Konsequenzen für den Deckungsschutz. Eine sorgfältige Verteidigung gegen die Inanspruchnahme durch einen Insolvenzverwalter sollte daher immer auch versicherungsrechtliche Anforderungen und potenzielle Deckungsausschlüsse im Blick haben.

164

16  D&O – Versicherung

16.5 Das Wichtigste in Kürze • Eine D&O-Versicherung ist für Geschäftsführer oder Vorstände immer sinnvoll; allerdings kann schon das Bestehen einer Versicherung auch das Risiko einer Inanspruchnahme faktisch erhöhen, da der Insolvenzverwalter versuchen wird, mit der Versicherungsleistung die Insolvenzmasse anzureichern. • Kommt es zu einer Inanspruchnahme durch den Verwalter, sollte der Organvertreter die Versicherung als Verbündeten betrachten und sämtliche Schritte eng mit ihr abstimmen. • Beim Abschluss einer D&O-Police sollte immer darauf geachtet werden, dass Ansprüche wegen der Verletzung von Krisenpflichten vom Versicherungsschutz umfasst sind. Bei älteren Policen kann unter Umständen fraglich sein, ob insbesondere die Haftung wegen verbotener Zahlungen (Kap. 11) mitversichert ist. Vereinzelte neuere Gerichtsentscheidungen, die das verneinen, sollten im Hinblick auf ihre Reichweite bzw. Auswirkungen auf den konkreten Fall kritisch hinterfragt werden. • Bei der D&O-Versicherung ist das relevante Ereignis nicht schon die Pflichtverletzung, sondern erst die Erhebung des Haftungsanspruch (claims made – Prinzip). Deshalb sollte große Sorgfalt auf die Einhaltung von Melde- bzw. Nachmeldefristen gelegt werden. • Bei vorsätzlichem oder grob fahrlässigem Handeln besteht in aller Regel kein Versicherungsschutz. Der Vortrag im Prozess mit dem Insolvenzverwalter sollte daher immer auch im Hinblick auf den Erhalt des Versicherungsschutzes justiert werden.

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Persönliche Haftungsschuld

Das folgende Kapitel behandelt die heikle Situation, in der eine substanzielle persönliche Haftungsschuld nicht mehr „wegdiskutiert“ werden kann.

17.1 Haftungsschuld wegen Pflichtverletzung oder Haftungsübernahme Als Folge einer zunehmenden Verrechtlichung der Wirtschaft wird auch die Tätigkeit als Geschäftsführer bzw. Vorstand immer haftungsanfälliger. Deshalb gibt es mehr und mehr Fälle, in denen ein Manager letztlich auf einer substanziellen persönlichen Haftungsschuld „sitzen bleibt“. Gemeint sind Konstellationen, in denen die Inanspruchnahme des Organvertreters – sei es durch einen Insolvenzverwalter, einen Gläubiger oder die Gesellschaft selbst – dazu führt, dass die festgestellte Haftung nicht mit Eigenmitteln des Betroffenen ausgeglichen werden kann. Eine solche Situation ergibt sich typischerweise aus einem rechtskräftigen Urteil bzw. der Entscheidung eines Schiedsgerichts oder als Folge eines Schuldanerkenntnisses. Hintergrund

Die Entstehung einer solchen Haftungsschuld kann verschiedene, nicht selten unglücklich zusammentreffende Ursachen haben. In Betracht kommt etwa, dass eine Pflichtverletzung im Einzelfall einen ungewöhnlich hohen Vermögensschaden zur Folge hat oder dass eine Versicherung fehlt oder nicht eingreift (Kap. 16). Oft resultiert eine Haftungsschuld auch aus einem ungünstigen Verlauf der streitigen Auseinandersetzung oder aus strukturellen Gründen. So kann

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Poertzgen, Haftungsvermeidung in der Unternehmenskrise, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30083-8_17

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17  Persönliche Haftungsschuld

i­nsbesondere die problematische Konstruktion der Haftung wegen Verstoß gegen das Zahlungsverbot schnell zu einem erschreckend hohen Haftungsvolumen führen (Abschn. 11.3 und 11.7). Im Übrigen ist eine Haftungsschuld keineswegs immer die Folge einer Pflichtverletzung. Ebenso kann die Haftung Folge einer ausdrücklichen Haftungsübernahme (etwa in Form einer Bürgschaft oder eines Schuldbeitritts) oder eines vertraglichen oder gesetzlichen Regresses sein, der sich im Zusammenhang mit dem Zusammenbruch eines Unternehmens ergibt. Oft handelt es sich hier um Konstellationen, die ihre Ursachen in einer Zeit haben, als es dem Unternehmen noch gut ging und ein späteres tatsächliches Haftenmüssen nur als eine vage, theoretische Möglichkeit erschien. Das Ergebnis ist in allen diesen Fällen aber leider dasselbe: eine persönliche Haftung des Organvertreters.

17.2 Privatinsolvenz als Ausweg Steht eine substanzielle Haftungsschuld irgendwann fest, wird sich früher oder später die Frage stellen, ob für den Betroffenen die Einleitung eines Insolvenzverfahrens über sein privates Vermögen sinnvoll ist. Ein solches Insolvenzverfahren wird landläufig als „Privatinsolvenz“ bezeichnet. Dieser Begriff ist aber irrführend. Tatsächlich geht es um ein Insolvenzverfahren über das gesamte Vermögen einer natürlichen Person,1 also des (ehemaligen) Geschäftsführers bzw. Vorstands. Dieses Vermögen kann neben persönlichen Gegenständen, Geldvermögen, Immobilien und Wertpapieren auch sämtliche etwaigen sonstigen Vermögenswerte wie Beteiligungen an Gesellschaften, ein Unternehmen, eine freiberufliche Praxis oder einzelkaufmännische Tätigkeit umfassen. Ziel eines Insolvenzverfahrens über das Vermögen einer natürlichen Person ist immer, die bestehenden Schulden nicht bzw. nur teilweise begleichen zu müssen. In der Sprache des Gesetzes heißt die Realisierung dieses Ziels Restschuldbefreiung. Deren Erlangung ist die eigentliche Wirkung des Insolvenzverfahrens über das Vermögen einer natürlichen Person und dessen primärer Zweck. Restschuldbefreiung bedeutet, dass Schulden, die bis zum Abschluss des Insolvenzverfahrens nicht beglichen worden sind, nach dem Ende des Verfahrens auch nicht mehr beglichen werden müssen, und zwar unabhängig davon, wie hoch die Schuld dann noch ist. Den Gläubigern steht als Haftungsmasse also nur das bei Beginn des Insolvenzverfahrens vorhandene sowie das während des Verfahrens erworbene Vermögen des 1Als

natürliche Person bezeichnet das Gesetz einen Menschen aus Fleisch und Blut im Unterschied zu juristischen Personen (unter anderem GmbH oder Aktiengesellschaft) oder Personengesellschaften (BGB-Gesellschaft = Gesellschaft bürgerlichen Rechts, GmbH & Co. KG etc.), siehe Abschn. 3.1.

17.3  Erwerb der Restschuldbefreiung

167

Schuldners zur Verfügung. Ist das Insolvenzverfahren dann eines Tages beendet, können die Gläubiger die dann noch bestehende (Rest-) Schuld nicht mehr vom Schuldner erfüllt verlangen. Das vom Betroffenen nach Abschluss der Privatinsolvenz neu erworbene Vermögen gehört diesem wieder ganz allein. Er kann, muss es aber nicht zur Abtragung der Restschuld verwenden. Nicht selten stellt sich vor diesem Hintergrund die Frage, ob/wie das künftige Erwerbs- bzw. Geschäftsleben des Betroffenen strukturiert werden kann, damit möglichst geringe Einnahmen während des Verfahrens und möglichst hohe Einnahmen nach Erteilung der Restschuldbefreiung anfallen. In welchem Umfang hier eine Gestaltung möglich ist, hängt vom Einzelfall ab. Grundsätzlich ist jedoch Vorsicht geboten. Umgehungen der gesetzlichen Regelungen sind unzulässig und können auch strafrechtliche Relevanz haben.

17.3 Erwerb der Restschuldbefreiung Nach der Anfang 2020 (noch) gültigen Rechtslage erwirbt eine natürliche Person die Restschuldbefreiung im Rahmen eines deutschen Insolvenzverfahrens spätestens nach sechs Jahren. Ein entsprechender Antrag auf Erteilung der Restschuldbefreiung kann direkt zusammen mit dem Insolvenzantrag gestellt werden. Bereits nach fünf Jahren erwirbt der Schuldner die Restschuldbefreiung, wenn wenigstens die Kosten des Insolvenzverfahrens beglichen werden, entweder aus der vorhandenen Insolvenzmasse oder aus einer Erwerbstätigkeit des Schuldners. Gelingt es dem Schuldner sogar, 35 % der Forderungen seiner Gläubiger zu begleichen, kann er die Restschuldbefreiung sogar schon nach drei Jahren erlangen.

Künftig soll die Restschuldbefreiung für natürliche Personen generell nach drei Jahren erteilt werden, und zwar ohne dass es auf die Deckung der Verfahrenskosten oder eine teilweise Begleichung der Gläubigerforderungen ankommen würde.2

Im Rahmen des Privatinsolvenzverfahrens ist der Schuldner grundsätzlich verpflichtet, eine angemessene Erwerbstätigkeit zu entfalten und so zum Abtragen seiner Schulden beizutragen (Erwerbsobliegenheit). Letztlich kann die Restschuldbefreiung aber auch dann erlangt werden, wenn im Einzelfall während des Insolvenzverfahrens keine (weiteren) Einnahmen erzielt werden. Es darf nur kein Versagungsgrund im Hinblick auf die Restschuldbefreiung vorliegt. Versagungsgründe sind unter anderem eine

2Siehe

dem im Internet abrufbaren Entwurf eines „Gesetzes zur weiteren Verkürzung des Restschuldbefreiungsverfahrens“ (Februar 2020).

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17  Persönliche Haftungsschuld

rechtskräftige Verurteilung wegen bestimmter Insolvenzdelikte, unrichtige Angaben des Schuldners zu seinen wirtschaftlichen Verhältnissen oder die Verletzung von Auskunftsund Mitwirkungspflichten.3 Bei Einzelkaufleuten und nicht-unternehmerisch tätigen natürlichen Personen kann die Erteilung der Restschuldbefreiung versagt werden, wenn trotz Fehlens einer Antragspflicht ein Insolvenzantrag verzögert und dadurch die Befriedigung von Gläubigern schuldhaft beeinträchtigt worden ist (Abschn. 9.4). Die Erlangung der Restschuldbefreiung ist nicht nur im Rahmen eines deutschen Insolvenzverfahrens möglich. Die Rechtsordnungen zahlreicher Staaten enthalten vergleichbare Vorschriften, die manchmal sogar attraktiver als die deutschen Regelungen erscheinen, indem sie geringere Voraussetzungen, insbesondere kürzere Fristen, formulieren. Allerdings setzt die Anwendbarkeit eines ausländischen Insolvenzregimes grundsätzlich die Verlagerung des Lebensmittelpunktes in den räumlichen Geltungsbereich der anderen Rechtsordnung, also das Ausland, voraus. Ein lediglich halbherziges bzw. urlaubsähnliches „Auswandern“ – pointiert bezeichnet als „Insolvenztourismus“ – kann dazu führen, dass eine Restschuldbefreiung gar nicht gewährt wird bzw. dass die im Ausland erlangte Restschuldbefreiung im Inland, also letztlich gegenüber den deutschen Gläubigern, nicht anerkannt wird. Fehlt es an einer solchen Anerkennung, können die Gläubiger ihre Forderungen gegen den Schuldner weiterhin verfolgen. Wichtig ist, dass eine Restschuldbefreiung nur von natürlichen Personen im Rahmen eines Insolvenzverfahrens über ihr jeweiliges Vermögen erlangt werden kann. Ist der Insolvenzschuldner dagegen eine Gesellschaft, so bleiben die im Rahmen des Insolvenzverfahrens nicht beglichenen Schulden nach dessen Ende bestehen und können – zumindest theoretisch – weiter vollstreckt werden (Abschn. 13.7). Hintergrund

Der Umstand, dass eine natürliche Person ihre Verbindlichkeiten nach Erteilung der Restschuldbefreiung nicht weiter abtragen muss, sondern noch zu Lebzeiten einen wirtschaftlichen Neuanfang starten kann, ist ein Meilenstein des juristischen und sozialen Fortschritts. Die bereits zu Lebzeiten zu erlangende Restschuldbefreiung ist nichts anderes die Weiterentwicklung der erbrechtlichen Konzeption, wonach die Erben die noch offenen Schulden des Erblassers nicht persönlich weiter abtragen müssen, sondern ihre Haftung insoweit auf den Bestand des Nachlasses begrenzen können.4

3Der

vollständige Katalog der Versagungsgründe findet sich in § 290 der Insolvenzordnung (InsO). Möglichkeit einer Beschränkung der Erbenhaftung kommt uns heute selbstverständlich vor, ist aber ebenso wie die Restschuldbefreiung das Ergebnis einer jahrtausendelangen Entwicklung, in deren Verlauf diverse, aus heutiger Sicht archaisch anmutende Konzeptionen (etwa die unter anderem im Römischen Recht bekannte Schuldknechtschaft bzw. Formen von Sippenhaft) überwunden werden mussten.

4Die

17.4  Privatinsolvenzverfahren vs. außergerichtliche Schuldenbereinigung

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Bedeutet diese begrenzte Erbenhaftung, dass spätestens mit dem Tod des Schuldners eine Beschränkung der Haftung auf das dann noch vorhandene Vermögen eintritt, ist die Restschuldbefreiung nichts anderes als eine zeitliche Vorverlagerung dieses Effekts. Indem der Schuldner zu Lebzeiten ein Insolvenzverfahren durchläuft und die Restschuldbefreiung erlangt, muss er gar nicht mehr bis an sein biologisches Ende – und die Inanspruchnahme der begrenzten Nachlasshaftung durch seine Erben – warten, um die Beschränkung seiner Haftung gegenüber den Gläubigern zu erreichen. Vielmehr kann erhält er schon zu Lebzeiten eine „zweite Chance“.5

17.4 Privatinsolvenzverfahren vs. außergerichtliche Schuldenbereinigung Auf die „Gretchenfrage“, ob ein Insolvenzverfahren mit dem Ziel der Restschuldbefreiung nun also die richtige Strategie zum Umgang mit einer substanziellen Haftungsschuld ist, gibt es keine allgemeingültige Antwort. Vielmehr kommt es auf eine sorgfältige Abwägung vieler Aspekte an, die anhand der konkreten Situation der betroffenen Person im Einzelfall gewichtet werden müssen. Insbesondere geht es wahrscheinlich auch um folgende, keineswegs abschließend aufgezählten Gesichtspunkte: • Größe des (vorhandenen) Vermögens des Haftungsschuldners sowie aktuelle und künftig zu erwartenden Einkommens- und Vermögenssituation im Verhältnis zur Höhe der Haftungsschuld (Abschn. 17.2); • Lebensalter und familiäre Situation des Haftungsschuldners – hat der Schuldner Unterhaltspflichten? Steht er am Anfang, in der Mitte oder eher in der Endphase seiner beruflichen Tätigkeit bzw. seines Erwerbslebens? • Berufliche Situation des Haftungsschuldners – welche Berufs- und damit Erwerbsaussichten hat der Schuldner? • Gefahr eines Reputationsschadens und entsprechende Auswirkungen auf die künftige berufliche, soziale und private Situation des Haftungsschuldners; • Folgen einer Insolvenzeröffnung – hätte diese im Einzelfall für den Betroffenen das Ausscheiden aus Ämtern oder einen Ausschluss als Gesellschafter zur Folge? Wie

5Dieser

Begriff ist nicht wörtlich zu verstehen; tatsächlich kann eine natürliche Person die Restschuldbefreiung zu Lebzeiten – vorbehaltlich des Ablaufs gesetzlicher Sperrfristen – mehrfach erlangen.

170

17  Persönliche Haftungsschuld

würde sich ein Insolvenzverfahren auf Verträge und andere Rechtsbeziehungen, an denen der Haftungsschuldner beteiligt ist, auswirken? • etwaige Besonderheiten der Jurisdiktion, in der sich der Lebensmittelpunkt des Schuldners befindet. Im Ausgangspunkt muss sich der Betroffenen immer darüber bewusst sein, dass ein Privatinsolvenzverfahren immer sein gesamtes persönliches Vermögen umfassen wird. Abhängig von der Größe dieses Vermögen ist zu überlegen, ob ein Insolvenzverfahren bzw. künftig ein vorinsolvenzliches Sanierungsverfahren (Abschn.  10.8) wirklich zweckmäßig ist oder ob nicht eher eine (private) außergerichtliche Schuldenbereinigung (workout) als Alternative zu einem gerichtlichen Insolvenzverfahren versucht werden sollte. Eine solche außergerichtliche Schuldenbereinigung kann unter Umständen den gewünschten Effekt einer Entschuldung mit einer nicht-öffentlichen bzw. privaten und damit diskrete(re)n sowie kurzfristigeren Abwicklung kombinieren. Im Rahmen der vorzunehmenden Abwägung wird es entscheidend auf das Verhältnis zwischen vorhandenem Vermögen einerseits und Größe der Haftungsschuld andererseits ankommen. Grundsätzlich dürfte ein vergleichsweise geringes Vermögen in Relation zur Haftungsschuld auf der einen Seite eher für die Einleitung eines Privatinsolvenzvermögens sprechen. Umgekehrt kann eine außergerichtliche Schuldenbereinigung typischerweise in einem Szenario wie dem folgenden sinnvoll sein: der Schuldner verfügt zumindest über ein gewisses Maß an Eigenvermögen, das zur vergleichsweisen Abgeltung von (unbesicherten) Schulden, die sich auf relativ wenige Gläubiger verteilen, verwendet werden könnte. In einer solchen Konstellation kann erfahrungsgemäß oft argumentiert werden, dass ein Teil dieses Vermögens unweigerlich schon durch Einleitung eines Insolvenzverfahrens für die Verfahrenskosten (Gerichtsgebühr und Verwaltervergütung) verbraucht würde. Aus Sicht der Gläubiger ist es dann in aller Regel besser, wenn entsprechende Verfahrenskosten vermieden werden, sodass im Ergebnis dann eine größere Haftungsmasse zur Verteilung an die Gläubiger zur Verfügung steht. Den Gläubigern wird also vorgerechnet, dass sie im Fall einer außergerichtlichen Schuldenbereinigung – gegebenenfalls unter Vereinbarung eines Besserungsscheins – eine höhere Befriedigungsquote erhalten werden als bei Durchführung eines Insolvenzverfahrens. Falls eine Situation vorliegt, in der eine solche Vergleichsrechnung ein Ergebnis zugunsten der Gläubiger liefert, sollte der Versuch einer außergerichtlichen Schuldenbereinigung zumindest erwogen werden. Soweit wegen der festgestellten Haftungsschuld mehrere Personen haften – etwa als Gesamtschuldner, weil die Geschäftsführung bzw. der Vorstand seinerzeit aus mehreren Personen bestanden hat (Abschn. 2.1) – muss im Rahmen einer außergerichtlichen Schuldenbereinigung auch ein etwaiger Innenregress zwischen den Haftungsschuldnern berücksichtigt werden. Das kann beispielsweise durch Einbindung weiterer Personen

17.5  Ausnahmen von der Restschuldbefreiung

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in einen Vergleich oder Freistellungsregelungen geschehen.6 Es wäre nämlich unglücklich, als wenn ein (an sich erträglicher) Vergleich mit Gläubigern anschließend durch Rückgriffe von dritter Seite wirtschaftlich ausgehöhlt wird und dann letztlich doch zu einer deutlich höheren Gesamtbelastung führt (Abschn. 13.8). Deshalb sollten etwaige Regressfragen im Rahmen eines außergerichtlichen workout immer mitbedacht und erledigt werden.

17.5 Ausnahmen von der Restschuldbefreiung Zum Schluss dieses Kapitels muss noch darauf hingewiesen werden, dass (unter anderem) Forderungen aus unerlaubten Handlungen, also zivilrechtlichen Deliktsforderungen, soweit sie vorsätzlich begangen worden sind, nicht Gegenstand einer Restschuldbefreiung sein können.7 Das ist im Grundsatz unmittelbar einleuchtend: Wer eine Bank überfällt, soll nicht den Haftungsanspruch im Rahmen eines Insolvenzverfahrens abschütteln können. Weitere Ausnahmen von der Restschuldbefreiung betreffen Unterhaltsverpflichtungen und bestimmte Steuerverbindlichkeiten, sofern der Schuldner rechtskräftig wegen bestimmter Steuerdelikte verurteilt ist. Problematisch ist die Ausnahme von Forderungen aus vorsätzlich unerlaubter Handlung jedoch, weil damit schon eine (nur bedingt) vorsätzliche Verletzung der Insolvenzantragspflicht (Abschn. 9.8 und 14.2) oder eine wenigstens mit bedingtem Vorsatz erfolgte Nichtabführung von Arbeitnehmeranteilen zur Sozialversicherung (Abschn. 14.4 und 14.8) nicht der Restschuldbefreiung unterliegt. Ob das wertungsgerecht ist, darf man bezweifeln. Allerdings ist die Entscheidung des Gesetzgebers hinzunehmen. Auch unter diesem Gesichtspunkt – und weil insoweit keine D&O-Versicherung Schutz bietet (Abschn. 16.4) – sollte man anstreben, jedenfalls die Feststellung einer vorsätzlichen Pflichtverletzung unter allen Umständen abzuwenden.8

6Dieses

Thema ist bereits mehrfach angesprochen worden, siehe Abschn. 2.1 und 13.5 sowie 13.8 und auch später noch Abschn. 18.2. 7Hier geht es nicht um die Versagung der Restschuldbefreiung an sich (Abschn. 17.3), sondern um zwingende Ausnahmen von einer Restschuldbefreiung, selbst wenn deren Voraussetzungen im Übrigen erfüllt sind. 8Deshalb kann es für den Haftungsschuldner – wenn er sich in einem Insolvenzverfahren befindet – ratsam sein, die Anmeldung von Ansprüchen jedenfalls im Hinblick auf die Rechtsnatur als vorsätzlich unerlaubte Handlung anzugreifen.

172

17  Persönliche Haftungsschuld

17.6 Das Wichtigste in Kürze • Steht einmal eine substanzielle Haftungsschuld zulasten eines (früheren) Geschäftsführers oder Vorstands fest, kann die Einleitung eines Privatinsolvenzverfahrens mit dem Ziel der Restschuldbefreiung eine denkbare Option sein. • Von einer Restschuldbefreiung sind Forderungen aufgrund vorsätzlich unerlaubter Handlung ausgenommen. Auch aus diesem Grund muss größte Sorgfalt auf die Vermeidung einer vorsätzlichen Pflichtverletzung bzw. Haftungsverwirklichung gelegt werden. • Abhängig von den Umständen des konkreten Falles kann als schnellere, jedenfalls aber diskretere Alternative zu einem (gerichtlichen) Privatinsolvenzverfahren eine außergerichtliche Schuldenbereinigung (workout) in Betracht kommen.

Interessenkonflikt für Berater

18

Im letzten Kapitel geht es um einen Interessenkonflikt, der auftreten kann, wenn Manager in einer Unternehmenskrise rechtliche Beratung in Anspruch nehmen wollen und nach einem geeigneten Anwalt suchen.

18.1 Auswahl des Krisenberaters Die Auswahl des „richtigen“ Beraters hängt von zahlreichen (harten und weichen) Faktoren ab. Sie kann ebenso das Ergebnis einer glücklichen Fügung wie eines strukturierten Auswahlprozesses sein. Da die Inanspruchnahme eines Krisenberaters allerdings für die meisten Geschäftsführer und Vorstände glücklicherweise nicht zum Tagesgeschäft gehört, ist die Mandatierung in aller Regel mit einem besonderen Entscheidungsprozess verbunden. Häufig stellt sich dabei die Frage, ob die erforderliche juristische Unterstützung nicht schon durch einen vorhandenen bzw. den regelmäßig durch die Gesellschaft mandatierten Anwalt erfolgen kann. Dahinter steht meist die Überlegung, dass der regelmäßig für das Unternehmen tätige Anwalt dieses bereits kennt und daher keine lange Einarbeitung erfolgen muss. Gegen eine solche Erweiterung des bestehenden Mandatsverhältnisses spricht grundsätzlich nichts – vorausgesetzt, der betreffende Anwalt ist fachlich geeignet und bereit, das Mandat zu übernehmen. Alternativ zu einem externen Anwalt kommt grundsätzlich auch der im Unternehmen angestellte Syndikusanwalt als Krisenberater infrage; für

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Poertzgen, Haftungsvermeidung in der Unternehmenskrise, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30083-8_18

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18  Interessenkonflikt für Berater

diesen gelten aber im Unterschied zu einem externen Rechtsanwalt Beschränkung bei der Vertretung seines Arbeitgebers in gerichtlichen Verfahren.1 Vorsicht ist allerdings geboten, wenn der (externe oder Syndikus-) Rechtsanwalt des Unternehmens irgendwann im Verlauf der Krise des Unternehmens auch zu Aspekten beraten soll, die persönliche Haftungsrisiken des Geschäftsführers oder Vorstands betreffen. Ein solche Entwicklung ist oft zwangsläufig, da sich in der Krise des Unternehmens früher oder später immer auch die Frage stellt, was die drohende Insolvenz für den oder die Organvertreter individuell bedeutet. Grundsätzlich ist es zwar zulässig, dass ein Anwalt mehrere Mandanten (konkret: die Gesellschaft und deren Manager) berät. Sobald jedoch die rechtlichen Interessen des Unternehmens und seines Managements nicht (mehr) hundertprozentig identisch sind, droht ein Interessenkonflikt, der für den Berater erhebliche standes- und sogar strafrechtliche Folgen haben kann und deshalb unbedingt zu vermeiden ist.2 Auch für die zu beratende Partei ist ein solcher Interessenkonflikt in jedem Fall schädlich. Schließlich will jeder Mandant sicher sein, dass „sein“ Berater ausschließlich sein juristisches Wohl im Blick hat und nicht mit einem Auge immer auch auf die – womöglich gegenläufigen – Interessen anderer Beteiligter schielt. Konkret bedeutet dies, dass der Anwalt entweder das Unternehmen oder aber dessen Geschäftsführer beraten kann und dass die jeweils andere Partei einen eigenen (anderen) Berater mandatieren muss. Auch wenn die Suche nach einem eigenen Anwalt zusätzliche Arbeit, Zeitaufwand und regelmäßig weitere Kosten bedeutet, lohnt sich die Mühe. Ist ein Interessenkonflikt nämlich abgewendet und hat der Berater des Geschäftsführers „den Kopf frei“, sich allein auf die rechtlichen Interessen des einzelnen Organvertreters zu konzentrieren, dient das dem Ziel der unbedingten Vermeidung jeglicher persönlichen Haftung. Sofern es Zeit und Krisenstadium zulassen, ist es für einen Geschäftsführer oder Vorstand in aller Regel gewinnbringend, wenn er vor einer Mandatserteilung verschiedene Beraterkandidaten kennenlernt, also den im Einzelfall passenden Berater im Rahmen eines casting oder beauty contest ermittelt. Denn abgesehen von der fachlichen Eignung wird ein erfolgreiches Mandatsverhältnis entscheidend davon abhängen, dass Mandant und Anwalt „dieselbe Sprache“ sprechen und dass die Chemie zwischen den Beteiligten stimmt.

1Diese

Beschränkungen ergeben sich aus § 46c der Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO). droht eine Strafbarkeit wegen Parteiverrats gemäß § 356 des Strafgesetzbuchs (StGB); nach Abs. 1 dieser Vorschrift kann ein Anwalt, der im Rahmen eines ihm erteilten Mandats „in derselben Rechtssache“ beiden Parteien durch Rat oder Beistand pflichtwidrig dient, mit einer Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft werden.

2Insbesondere

18.2  Interessenkonflikt in Krise und/oder Haftungsprozess

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18.2 Interessenkonflikt in Krise und/oder Haftungsprozess Das Risiko eines Konflikts zwischen den Interessen des Unternehmens auf der einen Seite und der Geschäftsführung auf der anderen Seite rührt vor allem daher, dass es sich bei den Krisenpflichten um höchstpersönliche, also in eigener Verantwortung der Organvertreter zu erfüllende Handlungsge- und -verbote handelt (Abschn. 9.9 und 11.11). Wie erläutert können solche höchstpersönlichen Pflichten nicht haftungsentlastend durch einen Beschluss oder eine Weisung der Gesellschafter beeinflusst werden (Abschn. 9.9 und 11.11). Eine Haftung eines Organvertreters wird also nicht dadurch ausgeschlossen, dass er in Befolgung einer Weisung der Unternehmensinhaber gehandelt hat. Umgekehrt hat es im Bereich höchstpersönlicher Pflichten für einen Geschäftsführer bzw. ein Vorstandsmitglied keine negativen Konsequenzen, wenn eine Weisung der Unternehmensleitung nicht befolgt wird, um eine Verletzung der dem Geschäftsführer oder Vorstand durch das Gesetz auferlegten persönlichen Pflicht zu vermeiden (Abschn. 9.9 und 11.11). In der Praxis kann es allerdings schwierig sein, eine trennscharfe Abgrenzung zwischen berechtigter Weisung und gesetzlicher Pflicht vorzunehmen. Denn in typischen Konfliktfällen besteht oft kein Konsens mehr zwischen den Beteiligten darüber, ob beispielsweise ein Insolvenzgrund tatsächlich vorliegt und welche rechtlichen Konsequenzen sich hieraus ergeben. Die Differenzierung zwischen reinen Fremdorganen (also nicht am Unternehmen beteiligten Managern) einerseits und geschäftsführenden Gesellschaftern andererseits macht juristisch keinen Unterschied in Bezug auf Umfang und Inhalt der in der Krise zu beachtenden Pflichten (Abschn. 3.1). Die Krisenpflichten sind unabhängig davon zu erfüllen, ob ein Geschäftsführer „nur“ Manager des Unternehmens ist oder auch dessen Inhaber bzw. Gesellschafter. Die Unterscheidung zwischen Fremdorganen und geschäftsführenden Gesellschaftern hat allein Auswirkung auf die Intensität bzw. Erscheinungsform des Konflikts zwischen Unternehmens- und Geschäftsführungsinteressen. So ist dem angestellten Manager regelmäßig der Aspekt einer Vermeidung persönlicher Risiken näher, wohingegen der geschäftsführende Gesellschafter vielfach auch von der Sorge um sein Lebenswerk bzw. den zu erwartenden Verlust seiner Beteiligung am Unternehmen beeinflusst sein wird. Im Fall des Fremdgeschäftsführers sind die aufeinandertreffenden Interessen personell klar zuzuordnen: Manager auf der einen Seite, Gesellschafter/Unternehmensinhaber auf der anderen. Im Fall eines auch am Unternehmen beteiligten Geschäftsführers kann sich der Interessenkonflikt dagegen versteckt „im Kopf“ des Managers abspielen (Soll ich die Zahlung lieber vornehmen, um das Unternehmen hoffentlich noch zu retten, oder soll ich die Zahlung besser unterlassen, um nicht als Geschäftsführer haftbar zu werden ?). Eine solche Konstellation ist auch für den Berater problematisch: hat sein Ansprechpartner eine Doppelrolle als Inhaber und Geschäftsführer, muss sich der Anwalt deutlich darüber im Klaren sein, ob er sein Gegenüber als Inhaber oder als

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18  Interessenkonflikt für Berater

Geschäftsführer berät. Gerade bei mittelständischen Unternehmen, bei denen der Organvertreter auch (Mit-) Inhaber ist und die Rolle des Krisenberaters vielfach zunächst dem Anwalt des Unternehmens zufällt, besteht oft die Gefahr, dass juristischen Interessensphären gefährlich verschwimmen. Inhaltlich wird ein Interessenskonflikt vor allem in Bezug auf die Antragspflicht (Kap. 9) bzw. das Zahlungsverbot (Kap.  11) auftreten. Wird beispielsweise der Geschäftsführer von den Gesellschaftern angewiesen, einen Insolvenzantrag einstweilen nicht zu stellen, muss der Organvertreter die Antragspflicht trotzdem erfüllen, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen der Antragspflicht vorliegen. Eine ähnliche Konfliktsituation kann in Bezug auf das Zahlungsverbot entstehen: will der Unternehmensinhaber, dass eine bestimmte Zahlung geleistet wird, riskiert der Organvertreter die Entstehung seiner persönlichen Haftung, wenn der Transfer unter Verstoß gegen das Zahlungsverbot tatsächlich vorgenommen wird (Abschn. 11.11). Ein Interessenkonflikt kann auch auftreten, wenn das krisenbelastete Unternehmen über mehrere Geschäftsführer oder Vorstände verfügt. Hier sind zwar nach außen alle Manager in gleicher Weise als Gesamtschuldner für die Erfüllung der Krisenpflicht verantwortlich (Abschn. 2.1). Im Rahmen des Innenregresses können sich jedoch als Folge unterschiedlicher Verantwortungsbeiträge im Innenverhältnis unterschiedliche Haftungsquoten ergeben (Abschn. 2.1). Diese können dann, unter Umständen verschärft durch eine Doppelrolle einzelner Geschäftsführer als Gesellschafter und Organvertreter, unterschiedliche Interessen im Hinblick auf die Erfüllung der Krisenpflichten zur Folge haben. Auch hier ist der Interessenkonflikt dadurch aufzulösen, dass jeder Organvertreter einen eigenen Berater beauftragt, der allein dem Interesse seines Mandanten verpflichtet ist (Abschn. 18.1). In zeitlicher Hinsicht kann ein Interessenkonflikt zunächst in der eigentlichen Unternehmenskrise auftreten. Davon unabhängig kann sich eine Interessenskollision aber auch erst deutlich später im Rahmen eines Haftungsprozesses ergeben, wenn das Verhalten der Manager in der Krise im Nachhinein auf dem Prüfstand steht (Abschn. 4.4 und 13.5). Muss sich einer der beteiligten Geschäftsführer erstmals im Rahmen eines Haftungsprozesses einen eigenen Berater suchen, wird es vielfach als psychologischer Nachteil empfunden, dass dieser Berater die eigentliche Krise womöglich nicht selbst miterlebt hat und sich komplett neu in die Geschehnisse einarbeiten muss. Tatsächlich ermöglicht der „frische Blick“ eines in der Krise noch nicht tätigen Beraters aber oft eine unvoreingenommene, neue Sicht auf die Dinge. Dieser ist einer Verteidigung gegen die im Raum stehende Haftung eher förderlich als nachteilig. Zwar mag ein bereits in der Krise mandatierter Berater insoweit zunächst über einen Informationsvorsprung verfügen. Dessen Bedeutung schrumpft jedoch angesichts der Dauer eines Haftungsprozesses meist erheblich.3

3Im

Übrigen sollte ein Informationsgefälle als Argument dafür verwendet werden, die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast zugunsten des in Anspruch genommenen Managers zu beeinflussen (Abschn. 4.4).

18.3  Kosten der Beratung

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18.3 Kosten der Beratung Nimmt ein Geschäftsführer in der Krise seines Unternehmens persönliche Beratung in Anspruch, stellt sich naturgemäß immer auch die Frage, wer die Kosten hierfür zu tragen hat. Sofern nichts anderes geregelt ist, gilt auch hier die allgemeine Regel, dass derjenige die Musik bezahlt, der sie bestellt: die Kosten seiner persönlichen Beratung trägt grundsätzlich der betroffene Manager. Allerdings kann zwischen Gesellschaft und Geschäftsführer vereinbart werden, dass der Organvertreter für eine Beratung im Zusammenhang mit seiner beruflichen Tätigkeit von diesem Kostenfreistellung verlangen kann, – wenn eben die Beratung des Geschäftsführers mehr oder weniger direkt auch den Interessen der Gesellschaft dient. Auf dasselbe Ergebnis (Unternehmen zahlt für die Beratung seines Managers) läuft eine Konstruktion hinaus, in der die Gesellschaft den Anwalt beauftragt, dieser aber im Rahmen eines Vertrages zugunsten Dritter zugunsten des Geschäftsführers tätig wird. Auch wenn der Anstellungsvertrag des Managers zunächst keine Kostentragungsregelung enthält, ist es möglich, dass ein Kostenübernahme nachträglich vereinbart wird, etwa wenn sich eine Krise abzeichnet und ein entsprechender Beratungsbedarf entsteht. In solchen Fällen sollte immer sorgfältig darauf geachtet werden, dass als Mandant – und damit als Adressat professioneller Sorgfalts- und Verschwiegenheitspflichten – direkt der Geschäftsführer bzw. der Vorstand vereinbart wird. Das Unternehmen sollte dagegen im Mandatsvertrag ausdrücklich allein als Kostenträger genannt werden, damit die Gefahr des beschriebenen Interessenkonflikts von vorneherein gebannt ist.4 Besteht eine D&O-Versicherung zugunsten des Organvertreters (Kap.  16), so deckt diese regelmäßig die Kosten anwaltlicher Beratung bzw. Vertretung ab, wenn der Geschäftsführer im Nachhinein wegen einer angeblichen Pflichtverletzung in der Krisenphase in Anspruch genommen wird. Dass eine D&O-Versicherung auch schon die Kosten zur Beratung in einer akuten Unternehmenskrise übernimmt, ist eher unwahrscheinlich, im Einzelfall sollte man es aber auf einen Versuch ankommen lassen. Besteht weder eine D&O-Versicherung noch die Möglichkeit, dass der Manager auf (dienst-) vertraglicher Grundlage Kostenerstattung verlangen kann, muss er die durch die Auseinandersetzung mit dem Insolvenzverwalter entstehenden Anwaltskosten selbst tragen. Soweit er im Rahmen eines Gerichtsprozesses (hoffentlich) obsiegt, erhält er zwar einen Kostenerstattungsanspruch. Dieser erstreckt sich aber lediglich auf die gesetzlichen Anwaltsgebühren nach dem Rechtsanwaltsvergütungsgesetz (RVG), nicht jedoch etwaige weitergehende Kosten – etwa wenn mit dem Anwalt eine Vergütung auf Stundenbasis vereinbart ist.

4Die steuerliche Bewertung entsprechender Vereinbarungen zur Kostenübernahme muss im Einzelfall sorgfältig geprüft werden.

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18  Interessenkonflikt für Berater

Selbst wenn weder das Unternehmen noch eine etwaige D&O-Versicherung für die Kosten einer Beratung des Geschäftsführers aufkommt, so ist die Inanspruchnahme anwaltlicher Beratung in jedem Fall sinnvoll – schließlich stehen das Privatvermögen des Geschäftsführers und gegebenenfalls das Risiko einer Strafverfolgung auf dem Spiel. Die Mandatierung eines Anwalts ist nicht zuletzt deshalb ratsam, weil dem Mandanten im Fall einer (nachgewiesenen) fehlerhaften Beratung bzw. Prozessführung durch den Anwalt dessen berufliche Haftpflichtversicherung als Haftungsmasse bzw. Entschädigungstopf zur Verfügung steht (Abschn. 9.8 und 11.12). Im Ergebnis kann dann die Haftung des Geschäftsführers gegenüber dem Insolvenzverwalter wirtschaftlich durch die Inanspruchnahme des Beraters bzw. seiner Versicherung realisiert bzw. ausgeglichen werden. Und so endet dieses Buch mit einer Wiederholung der Warnung, dass die vorangegangenen Kapitel keinesfalls als Anleitung zum Selbermachen – also des Versuchs einer Bewältigung der Unternehmenskrise ohne fachkundigen Beistand – verstanden werden dürfen (Abschn. 1.1). Wer allerdings die hier skizzierten Überlegungen und Hinweise zu den Krisenpflichten im Großen und Ganzen beherzigt, sollte auf die rechtlichen Untiefen an der Schnittstelle zwischen Gesellschafts- und Insolvenzrecht ordentlich vorbereitet sein und bereits ganz wesentliche Schritte zur Haftungsvermeidung in der Unternehmenskrise getan haben.

18.4 Das Wichtigste in Kürze • Die Inanspruchnahme anwaltlicher Beratung nicht erst im späteren Haftungsprozess, sondern bereits in der Unternehmenskrise ist schon deshalb ratsam, weil die Einschaltung eines Beraters grundsätzlich den Vorwurf haftungsbegründenden Verschuldens entfallen lässt, wenn der beratene Geschäftsführer oder Vorstand in Befolgung des erteilten Rates gehandelt hat (Abschn. 9.8 und 11.12). • Da die Krisenpflichten höchstpersönliche Verpflichtungen des betroffenen Geschäftsführers bzw. Vorstands betreffen, kann ein Interessenkonflikt drohen, wenn der Organvertreter den Anwalt des Unternehmens auch für seine persönliche Beratung mandatieren will. • Ein vergleichbarer Interessenkonflikt kann auftreten, wenn sich mehrere Organvertreter vom selben Berater vertreten lassen wollen. • Falls das Risiko eines Interessenkonflikts besteht, sollte jeder Beteiligte so früh wie möglich nach einem eigenen Berater, der allein den juristischen und taktischen Interessen des individuell betroffenen Organvertreters verpflichtet ist, Ausschau halten. • Da es bei (Haftungs-) Auseinandersetzungen im Umfeld einer Unternehmenskrise oft finanziell und emotional „hoch hergeht“, sollte bei der Auswahl des passenden Beraters neben der fachlichen Kompetenz auch darauf geachtet werden, dass die Chemie zwischen Mandant und Berater stimmt, damit sich ein stabiles Vertrauensverhältnis entwickeln kann.

Annex: Krisenpflichten in der C ­ oronaKrise

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Im März 2020 hat der Gesetzgeber ein umfangreiches Maßnahmenpaket zur Abmilderung der juristischen und wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie beschlossen. Hieraus ergeben sich Konsequenzen für die in der Unternehmenskrise zu beachtenden Pflichten, insbesondere für die Antragspflicht (Kap. 9) und das Zahlungsverbot (Kap. 11).

19.1 Aussetzung der Antragspflicht Durch das „COVID-19-Insolvenzaussetzungsgesetz“ (abgekürzt: COVInsAG) wird die Insolvenzantragspflicht (Kap. 9) vorübergehend ausgesetzt, jedoch doch nur für solche Fälle, in denen die Insolvenzreife des betroffenen Unternehmens erstens gerade auf der Corona-Pandemie beruht und wenn zweitens im Fall von Zahlungsunfähigkeit (Kap. 7) zumindest eine Chance auf deren Beseitigung besteht.1 Hier hilft jedoch eine vom Gesetzgeber direkt im COVInsAG formulierte Vermutung: War das Unternehmen am 31. Dezember 2019 noch nicht zahlungsunfähig, so wird vermutet, dass zum einen die Insolvenz gerade Folge der Corona-Pandemie ist und dass zum anderen noch eine Chance auf Beseitigung der Zahlungsunfähigkeit außerhalb eines Insolvenzverfahrens besteht. Im Klartext bedeutet das: Geschäftsführer und Vorstände von zahlungsunfähigen und/ oder überschuldeten Unternehmen, die zwar durch die Corona-Pandemie in eine Schieflage geraten sind, die aber grundsätzlich wirtschaftlich lebensfähig sind, müssen auch

1Für

den Insolvenzgrund der Überschuldung (Kap. 8) gilt diese zweite Einschränkung nicht.

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Poertzgen, Haftungsvermeidung in der Unternehmenskrise, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30083-8_19

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180

19  Annex: Krisenpflichten in der Corona-Krise

bei Eintritt eines Insolvenzgrundes (Kap. 6) nicht zum Insolvenzgericht gehen2 – und folglich auch nicht die persönlichen zivil- und strafrechtlichen Haftungsfolgen fürchten, die das Gesetz normalerweise an die Verletzung der Insolvenzantragspflicht knüpft (Kap. 12 und Abschn. 14.2). Die Aussetzung der Antragspflicht ist ein schwerer Eingriff in das Wirtschaftsrecht und bedeutet eine erhebliche Reduzierung des Gläubigerschutzes (Abschn. 3.1). Dennoch ist die Aussetzung gerechtfertigt und verhältnismäßig, um noch schlimmere wirtschaftliche Verwerfungen zu verhindern. Der Gläubigerschutz muss zurücktreten, um eine plötzliche Welle von Unternehmensinsolvenzen mit unabsehbaren Konsequenzen zu vermeiden.3 Für die Aussetzung der Antragspflicht gilt wie für die übrigen Regelungen des COVInsAG: Der Zweck heiligt die Mittel! Für natürliche Personen, insbesondere Einzelunternehmer, die ohnehin per se keiner Antragspflicht unterliegen (Abschn. 9.4), stellt das COVInsAG klar, dass die verzögerte Einleitung eines (Privat-) Insolvenzverfahrens keinen Grund für eine spätere Versagung der Restschuldbefreiung bedeutet (Abschn. 17.3).

19.2 Zeitraum der Antragspflichtaussetzung Die Aussetzung der Antragspflicht durch das COVInsAG (Abschn. 19.1) gilt zeitlich nicht unbeschränkt, sondern zunächst bis zum 30. September 2020. Der Gesetzgeber sieht jedoch die Möglichkeit vor, dass der Zeitraum der Aussetzung der Antragspflicht (Aussetzungszeitraum) bei Bedarf bis zum 31. März 2021 verlängert werden kann. Der Aussetzungszeitraum ist nicht nur hinsichtlich der Antragspflicht von Bedeutung, sondern auch für andere Maßnahmen des COVInsAG (Abschn. 19.3 und 19.4). Nach dem Ende des Aussetzungszeitraums wird die Rechtslage (nach heutigem Stand) wieder dieselbe sein, wie sie vor dem Aussetzungszeitraum bestanden hat. Dann ist die Insolvenzantragspflicht (Kap. 9) wieder generell einschließlich ihrer haftungsrechtlichen Konsequenzen (Kap. 12 und Abschn. 14.2) zu beachten.

2Das

heisst nicht, dass für solche Unternehmen die Stellung eines Antrags auf der Grundlage des nach wie vor bestehenden Antragsrechts nicht durchaus sinnvoll sein kann – etwa um im Rahmen eines Insolvenzverfahrens eine Sanierung unter Insolvenzschutz zu durchlaufen, etwa im Wege einer Übertragenden Sanierung (Abschn. 10.5), eines Insolvenzplanverfahrens (Abschn. 10.4) und/ oder durch die Beantragung von Eigenverwaltung (Abschn. 10.3). 3Die Aussetzung der Insolvenzantragspflicht ist kein neues Instrument des Gesetzgebers. In der Vergangenheit gab es immer wieder Fälle, in denen die Antragspflicht ausgesetzt worden ist – etwa in Phasen zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg, bei Währungsumstellungen wie der Einführung der D-Mark und in jüngerer Zeit bei Hochwasserkatastrophen (so etwa 2003 und 2016). Allen diesen Fällen ist gemeinsam, dass die Wirtschaftsordnung bzw. das Funktionieren des Marktes in einer schwerwiegenden Krise landesweit oder zumindest regional grundsätzlich bedroht war.

19.4  Weitere Regelungen und Bewertung des COVInsAG

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A c h t u n g: Sobald bekannt ist, wann der Aussetzungszeitraum tatsächlich enden wird, müssen Organvertreter dafür Sorge tragen, dass spätestens mit der Rückkehr zur früheren Rechtslage wieder die relevanten Fristen – insbesondere der Drei-Wochen-Zeitraum im Rahmen der Zahlungsunfähigkeit (Abschn.  ­ 7.1), der Prognosezeitraum bei Überschuldung (Abschn. 8.4) und drohender Zahlungsunfähigkeit (Abschn. 7.6) und die Sanierungsfrist (Abschn. 9.7) – zu beachten sind. Ab dem Ende des Aussetzungszeitraums (Abschn. 19.2) müssen also wieder alle Voraussetzungen und Regeln des strengeren Rechts (Kap. 9) erfüllt sein. Um sich keinem Fahrlässigkeitsvorwurf auszusetzen, haben Geschäftsführer und Vorstände ihre Unternehmen deshalb rechtzeitig auf das Ende des Aussetzungszeitraums vorzubereiten.

19.3 Aussetzung des Zahlungsverbotes Solange die Antragspflicht nach dem COVInsAG ausgesetzt ist (Abschn. 19.2), wird auch das Zahlungsverbot (Kap. 11) eingeschränkt. Das geschieht in der Weise, dass der Gesetzgeber das Spektrum der nach der Rechtfertigungsklausel erlaubten Zahlungen (Abschn. 11.10) erheblich erweitert. So gelten nach dem COVInsAG alle Zahlungen, die „im ordnungsgemäßen Geschäftsgang erfolgen, insbesondere Zahlungen, die der Aufrechterhaltung oder Wiederaufnahme des Geschäftsbetriebs [des in die Krise geratenen Unternehmens] oder der Umsetzung eines Sanierungskonzepts dienen“, als erlaubte Zahlungen (Abschn. 11.10). Auch insoweit werden Geschäftsführer und Vorstände also deutlich entlastet, indem ihnen das Risiko einer Haftung wegen eines Verstoßes gegen das Zahlungsverbot (Kap. 11) weitgehend abgenommen wird. V o r s i c h t: Auch für das Zahlungsverbot gilt: früher oder später – konkret: mit dem Ende des Aussetzungszeitraums (Abschn. 19.2) – gilt wieder das strengere Recht, also das Zahlungsverbot in der Fassung vor März 2020 und die daran anknüpfende Innenhaftung (Kap. 11). Auch insoweit müssen Geschäftsführer und Vorstände beizeiten Vorkehrungen treffen.

19.4 Weitere Regelungen und Bewertung des COVInsAG Zusätzlich zur Aussetzung der Insolvenzantragspflicht (Abschn. 19.1) und des Zahlungsverbotes (Abschn. 19.3) sind nach dem COVInsAG vorübergehend auch Insolvenzanträge von Gläubigern nur möglich, wenn der Insolvenzgrund bereits am 01. März 2020 bestanden hat. Die ohnehin seltenen, weil mit hohen Hürden und Haftungsrisiken für den Antragsteller verknüpften Fremdanträge (Abschn. 10.1) werden damit nochmals erschwert.

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19  Annex: Krisenpflichten in der Corona-Krise

Im Übrigen reduziert das COVInsAG für Vertragspartner das Risiko der Insolvenzanfechtung (§§ 129 ff. InsO)4 und begünstigt Sanierungsdarlehen sowie bestimmte Gesellschafterdarlehen.5 So wird etwa die Gefahr einer späteren Anfechtung insbesondere für solche Rechtshandlungen verringert, die einem Vertragspartner gewährt werden, um dessen wirtschaftliches Überleben zu sichern (Beispiele: Sanierungskredit, Stundung (Abschn. 7.3), Einforderungsverzicht (Abschn. 7.4), Ratenzahlungsvereinbarung, Sicherheitentausch usw.). Für Organvertreter hat diese Reduzierung des Anfechtungsrisikos auf den ersten Blick aber auch eine Schattenseite. Indem Zahlungen in geringerem Maße angefochten werden können, werden Insolvenzverwalter womöglich vermehrt versuchen, solche Zahlungen von Geschäftsführern bzw. Vorständen über die Innenhaftung zurückverlangen (Abschn. 15.3 und 15.4). Hier hilft aber die durch das COVInsAG eingeführte Erweiterung der Rechtfertigungsklausel (Abschn. 19.3): Tendenziell wird der Organvertreter zwar häufiger haften, wenn eine Insolvenzanfechtung nicht möglich ist (Abschn. 15.3 und 15.4). Da aber gleichermaßen auch mehr Zahlungen als früher ausdrücklich erlaubt sind (Abschn. 19.3), gleichen sich die Einschränkung der Insolvenzanfechtung zum einen und die Aussetzung des Zahlungsverbotes zum anderen praktisch wieder aus. Für Geschäftsführer und Vorstände dürfte sich im Ergebnis damit kein höheres Haftungsrisiko ergeben. Insgesamt sind die – wenn auch nur temporären – Eingriffe und Veränderungen der bisherigen Rechtsordnung durch das COVInsAG so außerordentlich, dass sie noch Anfang 2020, also kurz vor der Eskalation der Corona-Krise in Europa, undenkbar gewesen wären. Die vom Gesetzgeber getroffenen Maßnahmen zeigen, wie ernst der Staat die durch die Corona-Pandemie verursachten Verwerfungen nimmt und wie groß die Entschlossenheit der Politik ist, noch schlimmere wirtschaftliche, soziale und gesellschaftliche Folgen zu verhindern.

19.5 Das Wichtigste in Kürze • Angesichts der Corona-Pandemie hat der Gesetzgeber die Geltung der Insolvenzantragspflicht (Kap. 9) bis zum 30. September 2020 bzw. 31. März 2021 für alle Unternehmen ausgesetzt, deren Zahlungsunfähigkeit (Kap. 7) oder Überschuldung (Kap. 8) auf den durch die Ausbreitung des Covid19-Virus ausgelösten Verwerfungen beruht und bei denen im Fall der Zahlungsunfähigkeit (Kap. 7) noch eine Sanierungschance außerhalb eines Insolvenzverfahrens besteht. Soweit die Antragspflicht ausgesetzt ist, können Organvertreter weder zivil- noch strafrechtlich persönlich für eine Antragspflichtverletzung haftbar werden (Kap. 12 und Abschn. 14.2).

4Zu 5Zu

Grundgedanken und Wirkungsweise der Insolvenzanfechtung Abschn. 15.2. den insolvenzrechtlichen Besonderheiten von Gesellschafterdarlehen Abschn. 8.9.

19.5  Das Wichtigste in Kürze

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• Zeitlich parallel zur Aussetzung der Antragspflicht ist auch das Zahlungsverbot (Kap. 11) für sämtliche Zahlungen im ordnungsgemäßen Geschäftsgang ausgesetzt. Das Risiko einer Inanspruchnahme aus der Innenhaftung (Abschn. 11.2 und 11.3) ist damit für Organvertreter vorübergehend erheblich reduziert. • Für natürliche Personen, insbesondere Einzelunternehmer, die keiner Antragspflicht unterliegen (Abschn. 9.4), stellt eine verzögerte Einleitung eines Insolvenzverfahrens vorübergehend keinen Grund für die Versagung der Restschuldbefreiung im Rahmen eines Privatinsolvenzverfahrens dar (Abschn. 17.3).

Die wichtigsten Vorschriften

Der Gesetzeswortlaut ist kein Herrschaftswissen, sondern frei im Internet zugänglich. Man kann die gewünschte Vorschrift einfach im Internet suchen oder juristische Portale wie dejure.org bzw. gesetze-im-internet.de nutzen. GmbH

Insolvenzantragspflicht:

§ 15a InsO

Innenhaftung wegen verbotener Zahlungen: § 64 GmbHG GmbH & Co. KG

Insolvenzantragspflicht:

§ 15a InsO

Innenhaftung wegen verbotener Zahlungen: § 130a HGB Aktiengesellschaft (AG)

Insolvenzantragspflicht:

§ 15a InsO

Innenhaftung wegen verbotener Zahlungen: § 92 Abs. 2 AktG und § 93 Abs. 3 Nr. 6 AktG Genossenschaft (eG)

Insolvenzantragspflicht:

§ 15a InsO

Innenhaftung wegen verbotener Zahlungen: § 34 Abs. 3 Nr. 4 GenG und § 99 GenG eingetragener Verein (e. V.) Insolvenzantragspflicht:

§ 42 Abs. 2 S. 1 BGB

Innenhaftung wegen verbotener Zahlungen: Nicht vorhanden Außenhaftung bei Antragspflichtverletzung: § 42 Abs. 2 S. 2 BGB Alle Rechtsträger

Strafbarkeitsvorschriften

Insolvenzantragspflicht:

§ 15a InsO

Haftung wegen Schutzgesetzverletzung:

§ 823 Abs. 2 BGB

Haftung für Steuerschulden:

§ 34 und § 69 AO

Insolvenzverschleppung:

§ 15a Abs. 4 u. 5 InsO

Bankrott:

§ 283 StGB

Schuldnerbegünstigung:

§ 283d StGB

Nichtabführung von Sozialversicherungsbeiträgen:

§ 266a StGB

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 C. Poertzgen, Haftungsvermeidung in der Unternehmenskrise, https://doi.org/10.1007/978-3-658-30083-8

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Die wichtigsten Vorschriften Untreue:

§ 266 StGB

Betrug:

§ 263 StGB

Steuerhinterziehung:

§ 370 AO

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