Tango in Paris und Berlin: Eine transnationale Geschichte der Metropolenkultur um 1900
 9783666301728, 9783647301723, 9783525301722

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Transnationale Geschichte Herausgegeben von Michael Geyer und Matthias Middell Band 5: Kerstin Lange Tango in Paris und Berlin

Kerstin Lange

Tango in Paris und Berlin Eine transnationale Geschichte der Metropolenkultur um 1900

Vandenhoeck & Ruprecht

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Mit 4 Abbildungen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-30172-3 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Umschlagabbildung: Sem, Tangoville sur mer, Paris 1913. Bibliothèque nationale de France © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de Druck und Bindung: w Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1. Forschungskontext und Fragestellung: Eine transnationale Geschichte der Metropolenkultur um 1900 13 2. Tangogeschichte(n) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 3. Methodik: Der Kulturtransfer des argentinischen Tango . . . . 24 4. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 5. Aufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 6. Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 II. Tango in Paris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 1. Paris um 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 1.1 Eine Metropole zur Jahrhundertwende . . . . . . . . . . . . 40 1.2 Zentren der Unterhaltung: Boulevards und bals publics . . 45 1.3 Die Welt auf der Bühne der Music Hall . . . . . . . . . . . . 50 1.4 »Tangoville« – Paris im Tangofieber . . . . . . . . . . . . . 54 2. Tanzlehrer in Paris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 2.1 Zur europäischen Geschichte des Gesellschaftstanzes . . . 61

2.2 Französische Tanzlehrer vor neuen Herausforderungen: Die »Académie Internationale des Auteurs, Maîtres et Professeurs de Danse et Maintien« . . . . . . . . 68 2.3 Der argentinische Tango wird französisch . . . . . . . . . . 70 2.4 Französische Tanzkunst in der internationalen Konkurrenz . . . . . . . . . . . . . . 75 3. Argentinier in Paris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 3.1 Die »argentinische Kolonie« in Paris: Zeitschriftenlandschaft und gesellschaftliche Aktivitäten 80 3.2 Leopoldo Lugones: Tango als Diffamierung der argentinischen Nation . . . . 85 3.3 »Argentinien ist in Mode!« – Lateinamerikanische Befürworter des Tango in Paris . . . 89

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Inhalt

4. Metropolenkultur in Paris in der Kontroverse . . . . . . . . . . 95 4.1 Tangogegner: Kritische Stimmen zu der Welt in der Stadt 97 4.2 Französische Diskurse zu Großstadt und Massenkultur . . 102 4.3 Argentinischer Tango und französische Apachen . . . . . 103 4.4 Tangobefürworter – Jean Richepin: »A Propos du Tango« 107 4.5 Machtvolle Aneignung: Exotisierung und Französierung des Tango . . . . . . . . . 113 4.6 Paris als Portal: Zur Inszenierung der »capitale de plaisir« . . . . . . . . . . 119 5. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 III. Tango in Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 1. Berlin um 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 1.1 Berlin wird Weltstadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124

1.2 Vergnügungsviertel: Tanzlokale zwischen Rixdorf und Friedrichstraße . . . . . 128 1.3 »Tanzepidemien aus Paris und Amerika« . . . . . . . . . . 132 1.4 Französischer Tango in Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 2. Tanzlehrer in Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 2.1 Zur europäischen Geschichte des Tanzlehrers . . . . . . . 144 2.2 Internationale Zusammenarbeit: Der »Bund deutscher Tanzlehrer« und der »Internationale Verband der Tanzlehrer-Vereine« . . . . . 147 2.3 Diskussionen über »Schiebe- und Wackeltänze« . . . . . . 152 2.4 Kontrollversuche: Tangoverbote und Konkurrenzparagraphen . . . . . . . . 155 3. Metropolenkultur in Berlin in der Kontroverse . . . . . . . . . . 160 3.1 Tangogegner: Kritische Stimmen zum französischen Tango und zu den amerikanischen Ragtimetänzen . . . . 161 3.2 Deutsche »Schmutz- und Schunddebatten« . . . . . . . . . 164 3.3 Soziale Ordnungs- und Disziplinierungsversuche . . . . . 167 3.4 Tangobefürworter – Franz Wolfgang Koebner: »Das Tanz-Brevier« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 3.5 Tango und Großstadterfahrung . . . . . . . . . . . . . . . . 175 3.6 Das »typisch weltstädtische Berlin« in Konkurrenz mit Paris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 4. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184

Inhalt

IV. Synthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 1. Tango in Europa im 20. Jahrhundert – ein Ausblick . . . . . . . 186 2. Metropolenkultur als transnationale Kultur . . . . . . . . . . . 189 3. Metropolen als Portale kultureller Transfers . . . . . . . . . . . 197

Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 1. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 1.1 Periodika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 1.2 Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 2. Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203

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Dank

Dieses Buch ist die überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Oktober 2012 an der Fakultät für Sozialwissenschaften und Philosophie der Universität Leipzig im Fach Vergleichende Kultur- und Gesellschaftsgeschichte zur Promotion eingereicht und im Januar 2013 verteidigt wurde. Die Arbeit entstand in dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der französischen Agence nationale de la recherche geförderten Forschungsprojekt »Die transnationale Dimension in der deutsch-französischen Geschichte vom 18. bis zum 20. Jahrhundert« am Global and European Studies Institute der Universität Leipzig. Den Institutionen, die dieses deutsch-französische Projekt und meine Dissertation über drei Jahre hinweg gefördert haben, und den Personen, mit denen ich in dieser Zeit zusammen arbeiten konnte, möchte ich an dieser Stelle danken. An erster Stelle geht mein herzlicher Dank an Matthias Middell, der meine Arbeit betreut und mir als Mitarbeiterin am Global and European Studies Institute die Beteiligung an einem spannenden und herausfordernden Arbeitsumfeld ermöglicht hat. Seine Anregungen und die kritische wie geduldige Lektüre des Manuskriptes haben der Arbeit an manchen Stellen den richtigen Dreh gegeben und mich immer wieder ermutigt, mein Thema im wissenschaftlichen Kontext der Globalgeschichte zu diskutieren und zu verorten. Meinem Zweitgutachter in Paris, Michel Espagne, möchte ich herzlich für die Betreuung meiner Recherchen während meiner Forschungsaufenthalte in Paris danken. Den Veranstaltungen der Forschungsgruppe »Pays germaniques – Transferts culturels« (UMR 8547) an der École normale supé­ rieure in Paris verdanke ich viele wertvolle Anregungen und Gespräche mit französischen Kolleginnen und Kollegen. Hannes Siegrist ist für sein kontinuierliches Interesse, kritische Nachfragen und wohlwollenden Rat zu danken. Der internationale Promotionsstudiengang »Transnationalisierung und Regionalisierung vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart« am Gra­ duiertenzentrum Geistes- und Sozialwissenschaften der Research Academy der Universität Leipzig war eine wichtige institutionelle und wissenschaftliche Voraussetzung für meine Arbeit. Ich bin dankbar für die wertvolle Möglichkeit des internationalen und interdisziplinären Austausches mit­ anderen Doktorandinnen und Doktoranden und für den Freiraum und die

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Dank

Unterstützung gemeinsamer Projekte. Für eine kollegiale wie freundschaftliche Zusammenarbeit und immer wieder auch für aufmunternde Unterstützung zum Gelingen der Dissertation möchte ich hier vor allem Sarah Lemmen, Manuela Bauche, Anne Friedrichs, Johanna Wolf und Adamantios Skordos danken. Großen Anteil am Gelingen dieser Arbeit hatten auch meine Kolleginnen und Kollegen am Arbeitsbereich Neuere Geschichte/Zeitgeschichte am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität Berlin. Im Anschluss an meine Zeit in Leipzig bildete das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Projekt »Metropole und Vergnügungskultur. Berlin im transnationalen Vergleich 1880–1930« dort die Basis einer ergiebigen Zusammenarbeit im Bereich der Stadtforschung und der Geschichte der populären Kultur, die mir viele Impulse für meine Dissertation lieferte. Danken möchte ich hier Daniel Morat, Tobias Becker, Johanna Niedbalski, Anna Littmann und Anne Gnausch für ein überaus anregendes und freundliches Arbeitsumfeld und die stets aufmerksame und kritische Lektüre meiner Texte. In der Anfangsphase der Promotion hat Angelika Epple wertvolle Hinweise zur Konzeptualisierung der Arbeit geliefert. Claudia Valenzuela und Felix Krämer haben diese Arbeit von Anfang an begleitet und unterstützt. Für ein aufmerksames Lektorat schließlich bin ich Rita Clasen zu Dank verpflichtet. Die Arbeit hinter dem Schreibtisch wäre nicht kreativ und erfüllend gewesen, ohne all die Menschen um mich herum, die mich immer wieder ermutigt und bestätigt, unterstützt und auch abgelenkt haben. Stellvertretend für viele in Hamburg danke ich Amanda, außerdem meiner Familie und vor allem meinen Lieben, Daniel und Marlis. Kerstin Lange Hamburg, im Januar 2015

I. Einleitung

Als der frühere französische Ministerpräsident, Publizist und Zeitungsherausgeber Georges Clemenceau 1910 für mehrere Monate Südamerika besuchte und seinen Reisebericht wenig später in Paris veröffentlichte, erwähnte er unter der Überschrift »Les plaisirs du campo« den Tango als Tanz der argentinischen Gauchos, der einer Zeit vor der Erfindung des Grammophons und der Eisenbahn angehöre und den man in seiner authentischen Form nur noch selten erleben könne.1 Denn längst, so Clemenceau, sähe man den Gaucho auf den Straßen im Zentrum von Buenos Aires spazieren gehen, wo er mit jeder Pore seines Körpers die Zivilisation atme. Buenos Aires, »une grande ville d’Europe«, schrieb Clemenceau zu Beginn seines Berichtes. Seit 1880 Hauptstadt Argentiniens, zählte die Stadt zu diesem Zeitpunkt ­bereits über eine Million Einwohner und gehörte damit zu den größten S­ tädten der Welt. 1910 feierte man hier die Hundertjahrfeier der Unabhängigkeit mit einer Weltausstellung, 1913 wurde die erste U-Bahnlinie Südamerikas eröffnet. Buenos Aires, das sich selbst gerne als das »­Paris Lateinamerikas« bezeichnete, hatte nach dem Vorbild des französischen Stadtplaners Georges-­Eugène Baron Haussmann große Boulevards anlegen lassen, die das Stadtbild prägten. Das Teatro Colón, an der Plaza de Mayo im Herzen der Stadt gelegen, bot 3000 Gästen Platz und stand mit seinen international renommierten Programmen den europäischen Pendants in nichts nach. Nur wenige Jahre später, im Dezember 1913, konnte man in der Pariser Wochenzeitung Le Miroir ebenfalls über den Tango lesen. Der deutsche Kaiser Wilhelm II., hieß es dort, habe seinen Staatsbeamten das Tanzen in Uniform verboten.2 Die Tageszeitung Le Petit Journal berichtete gleichermaßen in dieser Sache und stellte in amüsiertem Ton fest, man werde kaum erwarten können, dass sich die Staatsbediensteten in den mondänen Salons durch ein solches Verbot vom Tanzen abhalten ließen.3 Daneben war eine Karika1 Georges Clemenceau: Notes de Voyage dans l’Amérique du Sud. Argentine – Uruguay – Brésil, Paris 1911, S. 150/151. Erstmalig veröffentlicht in: L’Illustration, Nr. 3544 (1911). 2 Guillaume a défendu que ses officiers tanguassent, Le Miroir, 7.12.1913. 3 Le tango et la police. Comment les agents allemands aprennent à reconnaître les danses prohibées, Le Petit Journal, supplément illustré, 21.12.1913. Siehe auch Abb. 3, Kapitel III . 3. 3.

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Einleitung

tur zu sehen, die ein Paar beim Tango tanzen zeigte, umringt von mehreren Polizisten in Uniform. Der Kommentar zur Zeichnung vermerkte, hier würden die deutschen Beamten nicht etwa im Tanzen instruiert, sondern darin, woran sie verbotene Tanzformen in Zukunft erkennen könnten. Zwischen diesen beiden Ereignissen musste etwas passiert sein. In der Zeit zwischen dem eher nostalgisch gefärbten Bericht Clemenceaus, der den Tango als die vermeintlich authentische Kultur der argentinischen Gauchos rühmte, und den Berichten, dass genau dieser Tanz kurz darauf in Berlin von höchster Stelle verboten worden war und damit zum Thema der französischen Presse wurde, hatte ein Kulturtransfer von Buenos Aires nach Paris und Berlin stattgefunden. Einige Dimensionen dessen, worum es im Folgenden gehen wird, sind­ bereits an diesen ersten beiden Beobachtungen abzulesen. Erstens hatte der argentinische Tango offensichtlich einen Weg nach Europa gefunden. Während Georges Clemenceau noch 1910 die Kultur der argentinischen Gauchos verklärte, war der Tango bereits längst zu einem Element der populären Kultur der Großstadt geworden, das im Kontext einer verstärkten Einwanderung aus Europa nach Argentinien entstanden war. Der Tango als Musik und Tanz entwickelte sich im Kontakt der kulturellen Stile und Traditionen europäischer Immigranten und der argentinischen Bevölkerung. Er war in den Arbeiterstadtvierteln von Buenos Aires zu verorten und hatte mit den Traditionen der ländlichen Bevölkerung Argentiniens nur bedingt etwas zu tun. Um 1900 brachten Musiker und Tänzer, Tanzlehrer und Komponisten sowie Unternehmer aus der Unterhaltungsbranche den Tango über den Atlantik nach Europa, wo der Tanz auf den Bühnen und in den Tanzsälen schnell erfolgreich wurde. Eine Tangomanie und ein Tangofieber verbreiteten sich in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg von Paris ausgehend in Berlin und vielen anderen Großstädten. Die Berichte über den Tango in französischen und deutschen Zeitungen zeigen damit zweitens, dass der Tanz in den beiden europäischen Metropolen zum Bestandteil einer populären Kultur wurde, die zu diesem Zeitpunkt durch kulturelle Transfers und globale Verflechtungen geprägt war. Drittens scheint es jedoch Konflikte bezüglich der Präsenz des Tango gegeben zu haben. Die Berichte darüber, dass Wilhelm II. sich veranlasst gesehen hatte, den Tango zu verbieten, deuten darauf hin, dass die Rezeption des Tanzes durchaus kontrovers war. Mehr als nur um einen neuen Modetanz schien es sich um ein Phänomen zu handeln, welches zeitgenössisch Konflikte und in Berlin sogar staatliches Handeln provozierte. Die französische Presse schien diesbezüglich anderer M ­ einung

Forschungskontext und Fragestellung

zu sein, denn die Berichterstattung war hier vielmehr amüsiert ob der drastischen Maßnahmen in Berlin. Der Kulturtransfer des Tango, so wird aus diesen einleitenden Beobachtungen bereits deutlich, war ein komplexer Prozess, der Kontroversen auslöste und dem eine hohe mediale Aufmerksamkeit in Paris und Berlin zukam.

1.

Forschungskontext und Fragestellung: Eine transnationale Geschichte der Metropolenkultur um 1900

Die transnationale Geschichte des Tango ordnet sich in die Entstehung einer modernen Metropolenkultur ein und ist damit gleichzeitig Teil  einer Geschichte der Großstadt und ihrer populären Kultur. Das 19.  Jahrhundert wird in der Globalgeschichte und der Globalisierungsforschung als Zeit einer intensivierten Zunahme von globalen Netzwerken und Interaktionen beschrieben.4 Kolonialismus und Imperialismus, weltumspannende Wirtschaftsnetze sowie neue Verkehrs- und Kommunikationswege bildeten den Rahmen einer zunehmenden politischen und wirtschaftlichen Verflechtung der Welt. Diese Entwicklung, die sich immer mehr durch gegenseitige Abhängigkeiten auszeichnete, hatte gegenüber früheren Epochen an Dichte und Einfluss qualitativ und quantitativ zugenommen.5 Die Jahrhundertwende gilt im engen Zusammenhang hierzu auch als die Zeit der Metropolen.6 Als Zentren imperialer Wirtschaft und Politik, als mächtige Repräsentationsflächen des Nationalstaates und nicht zuletzt als Orte kulturellen Austauschs bildeten sie die Knotenpunkte, in denen sich globale Entwicklungen verdichteten. Um 1900 war daher in vielen Metropolen die Welt für große Teile der Bevölkerung zu einem Erfahrungsraum geworden, der sich nicht nur auf der Ebene internationaler Wirtschaftsnetze und imperialer Politik, sondern auch als kulturelle Wirklichkeit in der eigenen Stadt zeigte. Die Selbstwahrnehmung als Weltstadt und die symbolische Bedeutung, die Ereignissen wie etwa den Weltausstellungen in dieser Zeit zukam, zeigten ein solches »globales Bewusstsein«.7 4 Bayly, Bright u. Geyer; Osterhammel u. Petersson. 5 Osterhammel u. Petersson, S. 26. 6 Lees u. Lees; Sutcliffe; Zimmermann, Die Zeit der Metropolen; Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, darin v. a. Kapitel VI: Städte: Europäische Muster und weltweiter Eigensinn, S. 355–464. 7 Conrad, Globalisierung und Nation, S. 8.

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Die Entwicklung der populären Kultur in den europäischen Metropolen um die Jahrhundertwende war untrennbar mit einer solchen globalen Dyna­ mik verbunden. Die zunehmende Mobilität kultureller Akteure und kultureller Produkte schuf hier neue Märkte und neue Zentren.8 Die Erfindung des Grammophons und des Phonographen veränderte die Produktions- und Rezeptionsbedingungen von Musik und begünstigte eine Verbreitung über weite Entfernungen hinweg.9 Mit großen Music Halls und Varietétheatern in den Vergnügungsvierteln der Großstädte entstanden Orte, die sich wirtschaftlich international organisierten, um mit der Konkurrenz im In- und Ausland mithalten zu können. Darüber hinaus brachten die Programme dieser großen Häuser die Welt auf die Bühne. In einem solchen Kontext gelangten um 1900 US -amerikanische Ragtimemusik und der argentinische Tango nach Paris und Berlin. Die kulturellen Verflechtungen der europäischen Metropolen untereinander sowie die Vorstellungen der außereuropäischen Welt wurden durch die Darbietungen reisender Künstler und Künstlerinnen und durch die Inszenierungen exotischer Bildwelten auf den Bühnen besonders augenscheinlich. In dieser Hinsicht markierte Metropolenkultur immer auch eine machtvolle Repräsentation Europas in der Welt.10 Diese Erfahrungen vermittelten sich dem Publikum in vielen Metropolen in vergleichbarer Weise. Als 1912 am Empire Theatre in London die Revue »Everybody’s doing it« mit dem Untertitel »A Ragtime Opera« erfolgreich aufgeführt wurde, ­rekurrierte der gleichnamige Titelsong in diesem Sinne zum einen auf den großen Erfolg der neuen Ragtimetänze in Europa und verwies zum anderen auch auf die transnationale Dimension der Metropolenkultur: Ragtime und kurze Zeit später auch der argentinische Tango wurden Teil einer populären Kultur, die zwischen den Metropolen zirkulierte.11 Diese Anfänge der modernen Massenkultur des 20. Jahrhunderts spiegel­ ten die veränderten Lebenswelten in den Städten. Bereits zur Jahrhundert8 Geyer u. Paulmann. 9 Miller; Scott. 10 Für Frankreich besonders Evans; für die Weltausstellungen in Paris unter diesem Aspekt Palermo. Für Berlin siehe van der Heyden u. Zeller. 11 Zum Titelbild dieses Bandes: »Everybody’s Doing It!«, Revue von George Grossmith und Charles H. Bovill, Musik von Irving Berlin, Premiere im Februar 1912 am »Empire Theatre« in London. »Everybody’s Doing It« wurde als Titelsong schnell zu einem beliebten Schlager, der die Popularität der neuen Modetänze humorvoll aufgriff. Vgl. Bailey, ›Hullo Ragtime!‹ Der Pariser Karikaturist Sem (George Goursat) verwendete den Titel 1913 für eine seiner Zeichnungen in dem Buch Tangoville. Siehe Sem, Tango­ ville sur mer, Paris 1913.

Forschungskontext und Fragestellung

wende zeichnete jedoch gerade die Ambivalenz ihrer Wahrnehmung die Entstehung der Massenkultur aus. Der Begriff der Masse (la foule), der in den deutschen und französischen gesellschaftlichen Debatten in dieser Zeit verstärkt auftauchte, rekurrierte auf die Wahrnehmung von Menschenmassen in den Großstädten als sozialer und politischer Faktor.12 Die Formen des Vergnügens, die seit dieser Zeit ein massenhaftes Publikum fanden, schienen sich zunehmend bürgerlicher Kontrolle und Deutungsmacht zu entziehen. Auf der einen Seite stellten diese Phänomene in der zeitgenössischen Perspektive einen Angriff auf die Formen einer etablierten bürgerlichen Hochkultur dar. Für viele Vertreter des Bürgertums standen sie sinnbildlich als Ausdruck für die Verkommenheit der Großstadt und waren damit gleichbedeutend mit kulturellem und moralischem Niedergang.13 ­Unter der Bezeichnung »littérature immorale« oder »objets contraires aux b ­ onnes mœurs« sowie dem Vorwurf der Pornographie regte sich in Frankreich dagegen Widerstand.14 In Deutschland formierte sich die Gegnerschaft mit ähnlichen Zielen unter der Sammelbezeichnung als »Schmutz- und Schundkampf«.15 Auf der anderen Seite schufen diese kulturellen Formen neue Märkte und Orte in der Stadt, die den veränderten Arbeits- und Lebensweisen Rechnung trugen und von der Bevölkerung als Publikum aktiv mitgestaltet wurden. Die Herausbildung der Massenkultur in den europäischen Städten wird diesbezüglich auch häufig als Prozess der Demokratisierung beschrieben. Sie wird aus dieser Perspektive durch ihre Fähigkeit charakterisiert »de gommer les différences, de religion, de sexe, de profession, ­d ’origine, voire de couleur, et de faire partager le même type d’émotion, de sentiment ou des raisonnements identiques à des hommes et à des femmes que tout devrait séparer«.16 Damit bedeutete die frühe Form der Massen­kultur zumindest teilweise ein Aufbrechen von Klassen- und Geschlechtergrenzen und eine Kultur, die sich gerade nicht über Bildungsgrenzen definierte.17 Mit der Metropolenkultur verbanden sich daher abseits einer konservativen Kulturkritik auch zeitgenössisch bereits konkrete Interessen, Hoffnungen und Neudeutungen. Die Auseinandersetzungen um Middendorf, hier besonders S. 51 ff. Zimmermann u. Reulecke; Lees; Prochasson. Middendorf, S. 87. Maase, Krisenbewußtsein und Reformorientierung und ders., Die soziale Konstruktion der Massenkünste. 16 Delporte/Mollier u. Sirinelli, S. 218. 17 Maase, Grenzenloses Vergnügen, S. 17.

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die populäre Kultur der Großstadt und um ihre Rolle innerhalb einer deutschen oder auch europäischen Kulturgeschichte bilden nach Kaspar Maase eine der zentralen Konfliktlinien des 20. Jahrhunderts. Zentrale Streitfragen der ­modernen Gesellschaft seien hier verhandelt und ausgekämpft worden.18 Die zeitgenössischen Auseinandersetzungen erklären sich jedoch nicht nur aus den inneren gesellschaftlichen Transformationsprozessen heraus, sondern müssen gerade im Kontext einer zunehmenden weltweiten Vernetzung der Metropolenkultur und der Wahrnehmung dieser globalen Dimensionen interpretiert werden. An dieser Schnittstelle setzt das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit an. Der Tango wurde damals als Teil einer fremden Kultur wahrgenommen, die, vermittelt über die Kanäle eines internationalen Unterhaltungsangebotes, einen Weg nach Paris und Berlin gefunden hatte. Das Tangofieber in Berlin und die Tangomanie in Paris waren kontroverse Phänomene, die vehemente Auseinandersetzungen mit sich brachten. Die Tatsache, dass französische Zeitungen über ein Tangoverbot des deutschen Kaisers berichteten und Berliner Zeitungen sinnbildlich von In­vasion und Eroberung durch den Tango sprachen, war diesbezüglich nur die Spitze des Eisbergs. In den Medien zeichneten sich in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg lebhafte Debatten zwischen verschiedensten leidenschaftlichen Befürwortern und vehementen Gegnern des Tanzes ab. Der Tango war damit nicht nur ein sehr präsentes und erfolgreiches kulturelles Phänomen der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg, sondern auch ein viel diskutiertes. Diese Auseinandersetzungen bilden das grundlegende Gliederungs­konzept dieser Arbeit, die sich auf das Spannungsfeld zwischen Befürwortern und ­Gegnern des Tango konzentriert. Der Fokus richtet sich dabei auf die Debatten in Paris und Berlin, die die Veränderungen der populären Kultur und die Herausforderungen der Stadt durch transnationale Prozesse thematisierten. Die Zunahme globaler Bezüge innerhalb der großstädtischen Kultur, so die Annahme, war keinesfalls ein reibungsloser Prozess und ebenso wenig eine bloße Begleiterscheinung der Transformationsprozesse der euro­päischen Großstädte zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Für die Konstitution von Metro­ polenkultur wurde auf diesem Feld um 1900 die Auseinandersetzung mit dem Fremden zentral. Die leitende These lautet, dass es ein notwendiges Interesse an der Aneignung und Integration des Tango gab, konkrete Mecha­ nismen, die dies zu steuern suchten, und konkrete Akteure, die an diesem Prozess teilhatten. Die transnationale Dimension der populären Kultur, so 18 Maase, Krisenbewußtsein und Reformorientierung, S. 291.

Forschungskontext und Fragestellung

soll dargelegt werden, bedeutete nicht nur einen neuen Erfahrungshorizont, sondern machte eine grundsätzliche gesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Definition der eigenen Kultur bzw. die Suche nach neuen Ordnungsmustern von Metropolenkultur zu einer Herausforderung, der sich die Akteure in der Großstadt stellen mussten. Gerade in den europäischen Metropolen, die sich über ihre nationale Bedeutung im Inneren sowie über ihre machtpolitische Stellung innerhalb eines globalen Kontextes definierten, wurde eine solche Auseinandersetzung virulent. Die Transformation des Verständnisses der eigenen Nation und der eigenen kulturellen Identität, so die Annahme, formte sich hier in enger Abhängigkeit und in einem permanenten Wechselverhältnis zu transnationalen Prozessen.19 In der Geschichtsschreibung galt das 19. Jahrhundert lange Zeit als das Jahrhundert der Nationalisierung. Metropolen, so wurde argumentiert, waren dabei mächtiger Ausdruck nationaler Souveränität und Schauplatz nationaler Repräsentation. Die Herausbildung von Nationen wurde dabei vor allem auch als Prozess einer kulturellen Nationalisierung beschrieben. Diesem Prozess waren die Konstruktion nationaler Stile und die Definition einer eigenen nationalen Kultur als einer homogenen Entität inhärent.20 Im Sinne einer transnationalen Geschichtsschreibung wird jedoch seit einiger Zeit auf die Gleichzeitigkeit von Globalisierungs- und Nationalisierungs­prozessen hingewiesen.21 Im Gegensatz zu der Annahme, Globalisierung und Transnationalisierung seien der Nationalisierung des 19.  Jahrhunderts zeitlich gefolgt, wird hierbei betont, dass diese Prozesse in einem untrennbaren Wechselverhältnis zueinander standen. Gerade für die Zeit der »langen Jahrhundertwende« bis zum Ersten Weltkrieg lassen sich dabei zahlreiche Beispiele finden, um die gegenseitige Bedingtheit dieser Prozesse aufzuzeigen. Eine zunehmende Verflechtung der Welt seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schuf einerseits Formen kultureller Uniformität, denn Austausch und Zirkulation führten in Großstädten überall auf der Welt zu einer Konvergenz von Lebensformen.22 Ein solcher Prozess einer fortschreitenden­ 19 Conrad, Globalisierung und Nation, S. 9. 20 Klassisch: Hobsbawm u. Ranger; Anderson. 21 Middell, On the road to a transnational history of Europe; Middell u. Roura y Aulinas; Für die durch Globalisierungsprozesse hervorgerufenen Suche nach neuen Ordnungsentwürfen, die die globalen Vernetzungen in ihren Widersprüchen, Konflikten und Neuordnungen untersucht, vgl. auch das Konzept der »Bruchzonen der Globalisierung« bei Engel u. Middell. Zur Konjunktur der transnationalen Geschichtsschreibung siehe Iriye u. Saunier, The Palgrave Dictionary of Transnational History. 22 Bayly, S. 241–245.

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Homogenisierung ging jedoch gleichzeitig auch mit Heterogenisierungs­ tendenzen einher, die sich auch auf der kulturellen Ebene manifestierten. Das Bedürfnis nach Partikularität entstand genau dort, wo nationale Kultur und Identität gerade im Angesicht eines globalen Bezugsrahmens herausgefordert wurden.23 Vor allem die populäre Kultur der Metropolen wurde hierbei oftmals zu einer Ausdrucksform für die Suche nach Identität und Exklusivität. Statt daher das Narrativ einer kulturellen Nationalisierung schlicht mit einer grenzüberschreitenden Vervielfältigung kultureller Phänomene zu kontrastieren, sollen in dieser Arbeit vielmehr die wechselseitigen, teilweise widersprüchlichen kulturellen Konstellationen um 1900 untersucht werden, die verdichtet in den Metropolen zu beobachten waren. Dabei richtet sich der Fokus vor allem auf die an einem solchen Projekt beteiligten Akteure. Die Metropolenkultur der Jahrhundertwende, so die Annahme dieser Arbeit, konstituierte sich als ein plurales, mehrschichtiges Feld, auf das verschiedene Akteure mit ihren Interessen einwirkten. Am Beispiel des Tango können diese Aushandlungsprozesse sichtbar gemacht werden, bei denen sowohl über notwendige Neudeutungen einer veränderten urbanen Kultur im Inneren als auch über die kulturelle Repräsentation der Stadt nach außen verhandelt wurde. Eine transnationale Geschichtsschreibung versucht grundsätzlich, die Grenzen des Nationalstaates als Analyseeinheit zu erweitern und sich auf grenzüberschreitende Dynamiken sowie die Konstitution alternativer Raumvorstellungen zu konzentrieren.24 In diesem Sinne stehen zwei Metropolen beispielhaft im Mittelpunkt dieser Arbeit. Um 1900 waren diejenigen Städte als Metropolen zu bezeichnen, die zentrale politische, kulturelle und wirtschaftliche Funktionen vereinten.25 Es waren Städte, die innerhalb eines Städte­systems sowohl in Relation zu anderen Städten der Nation als auch­ innerhalb globaler Netzwerke Zentren darstellten. Insofern ging die Bedeutung einer Metropole über die politische Funktion innerhalb eines dazugehörigen Staates oder eines Imperiums hinaus und manifestierte sich vor allem in einem globalen Kontext.26 Darüber hinaus prägte die kulturelle Repräsentation, die Selbstdarstellung und Fremdwahrnehmung als Weltstadt, wie es bereits zeitgenössisch hieß, um die Jahrhundertwende den Status von Städten als Metropolen. Paris, »die Hauptstadt des 19. Jahrhunderts«, musste sich 23 24 25 26

Ebd., S. 244. Middell u. Naumann, S. 155; Saunier, S. 1047–1055; siehe auch Patel. Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, S. 387. Ebd., S. 382.

Forschungskontext und Fragestellung

zur Jahrhundertwende den Status kultureller Zentralität und Anziehungskraft mit verschiedenen anderen Städten teilen. London blieb mit knapp sieben Millionen Einwohnern die größte Stadt der Welt und das politische und wirtschaftliche Zentrum des britischen Imperiums. Neben Wien als Metropole des Habsburgerreiches hatte vor allem Berlin an Bedeutung gewonnen und stand damit gerade nach 1871 in direkter Konkurrenz zu der franzö­ sischen Metropole. Als ehemalige Hauptstadt Preußens besaß Berlin weder politisch noch wirtschaftlich in vergleichbarem Maße die Geschichte und internationale Bedeutung wie Paris und London. Metropolen definierten sich jedoch stark über die eigene Inszenierung, durch kollektive Bilder und tradierte Mythen und befanden sich in einem ständigen Prozess der Selbstbestätigung und Neuschöpfung.27 Kulturell behauptete man in Berlin sehr wohl, mit der Anziehungskraft der alten europäischen Metropolen im direkten Vergleich mithalten zu können. Der Wettstreit um den Ruf als »Hauptstadt des Vergnügens« schien um 1900 zwischen Paris und Berlin noch nicht entschieden zu sein. Um konkret danach zu fragen, wie eine faktische Zentrierung kultureller Sphären in bestimmten Städten hergestellt wurde, und vor allem, wie deren Anziehungskraft in einem internationalen Kontext historisch messbar sei, hat die französische Forschung die Entstehung der capitales ­culturelles an konkrete historische Gegebenheiten auf der Ebene von Kultur und Wissenschaft zurückgebunden.28 Vor allem die Untersuchung kultureller Transfers und grenzüberschreitender Netzwerke konnte dabei die Herstellung symbolischer Räume durch konkrete Akteure aufzeigen. In dieser Hinsicht wird betont, dass die Spezifika, die Hierarchie und die Konkurrenz von Metro­polen sich vor allem an den Interaktionen zwischen den Städten messen lasse, ein nationaler Erklärungsrahmen zu deren Verständnis also nicht ausreichend sei.29 Die zentralen französischen Arbeiten zu den c­apitales­ culturelles konzentrieren sich vor allem auf das 18.  und das 19.  Jahrhundert und auf hochkulturelle Formen wie das Theater, die bildende Kunst sowie die Bedeutung von Wissenschaft und Universitäten. Um 1900 war jedoch längst auch die populäre Kultur zu einem bedeutsamen Faktor in der ­Inszenierung der Städte als Weltstädte aufgestiegen. Die zunehmenden 27 Joll, S. 24; Reif, S. 4. 28 Vgl. die grundlegenden Ansätze des Institut d’histoire moderne et contemporaine in Paris um Christophe Charle: Charle u. Roche; Charle, Capitales européenes et­ rayonnement culturel; Charle, Le temps des capitales culturelles. 29 Roche, S. 343.

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globalen Verflechtungen, die die populäre Kultur der Jahrhundertwende prägten, stellten ein Potenzial zur Aufwertung der eigenen Kultur durch das Fremde dar. Die Aneignung und Integration kultureller Stile wurden daher zu einer notwendigen Fähigkeit, um im Vergleich und in der Konkurrenz mit anderen Metropolen zu bestehen. Metropolenkultur ist daher als ein zentrales Aushandlungsfeld von kulturpolitischer Bedeutung zu begreifen. Die beiden Metropolen Paris und Berlin waren nicht nur Orte der Verdichtung der Erfahrungen und Auseinandersetzungen mit den Herausforderungen einer internationalen populären Kultur im quantitativen Sinn, sondern auch in qualitativer Hinsicht Portale, in denen der Umgang mit populärer Kultur und kulturellen Transfers verhandelt und erprobt wurde.30 Diese Arbeit zeigt die Auseinandersetzungen um den Tango in zwei Städten und vergleicht zwei kulturelle Transfers miteinander. Die Auswahl der Untersuchungsorte erfolgte dabei aus der historischen Beobachtung, dass der Weg des Tango von Buenos Aires über Paris nach Berlin führte und sich die Entwicklung und die Verbreitung in anderen europäischen Metropolen vor dem Ersten Weltkrieg gegenseitig beeinflussten. Die Ankunft des Tango in Berlin lag zeitlich nach der ersten Rezeption des Tanzes in Paris. Die französische Metropole fungierte, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, dies­ bezüglich als ein Portal, als eine kulturelle Relaisstation, die auf den Tango einwirkte und den Aneignungsprozess in Berlin maßgeblich beeinflusste. Statt verallgemeinernd von einem Transfer des Tango nach Europa zu sprechen, wird die Arbeit daher zwischen einem Transfer von Buenos Aires nach Paris und einem darauffolgenden Transfer von Paris nach Berlin differenzieren. Sie ist damit auch kein Vergleich von Städten, der die Untersuchungseinheiten isolieren würde, sondern versteht sich eher als ein diachroner Vergleich von Transfers, der sich auf einen deutsch-französischen Kontext konzentriert und Spezifika herausarbeitet. Die vergleichende Konzeption dieser Arbeit ermöglicht es gleichwohl, nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten in der Rezeption des Tango in Paris und Berlin zu fragen. Im Mittelpunkt des Interesses steht jedoch gerade der Austausch zwischen Paris und Berlin. Die Arbeit wird zeigen, dass Metropolenkultur nur innerhalb einer dichten Beziehung der Metropolen untereinander zu definieren ist. Metropolenkultur, so die These, soll gerade als eine Kultur zwischen Metro­polen erklärt werden. Aufgrund der engen Beziehungen, in denen Metropolen um 1900 zueinander standen, kann auch ihre Kultur, so die 30 Middell, Erinnerung an die Globalisierung?, S. 301; siehe auch Geyer.

Forschungskontext und Fragestellung

These, nur als eine gemeinsame, sich wechselseitig bedingende verstanden werden. Aus dieser Annahme, dass transnationale Prozesse für die populäre Kultur der Großstadt erstens genuin konstitutiv waren und diese zweitens als ein Produkt der Aushandlungs- und Austauschprozesse zwischen Metro­polen zu verstehen sind, resultiert auch die zentrale Verwendung des Leitbegriffs der »Metropolenkultur«. Ohne die Kultur der Metropole damit auf ihr populäres Vergnügen zu reduzieren, wird hiermit die kulturhistorische Relevanz populärer Formen unterstrichen, die in der Metropole verdichtet aufeinander trafen und dort ihre spezifische Ausprägung erfuhren. Gerade in Abgrenzung zu Arbeiten, denen eine konzeptionelle Trennung von Hoch- und Populärkultur zugrunde liegt bzw. deren Untersuchungsradius einen nationalen Kontext fokussiert, werden die veränderten Produktions- und Rezeptionsbedingungen von Kultur um 1900 aus einer transnationalen Perspektive heraus analysiert werden. »Populäre Kultur« oder auch »Unterhaltungskultur« als weitere leitende Begriffe fokussieren ganz dezidiert in Anlehnung an die weit gefassten englischen Ausdrücke ­»popular culture« und »entertainment« sowohl die Verbreitung, Zugänglichkeit und Teilnahme als auch die Strukturen und die Organisation des kommerzialisierten Angebotes.31 Soziale und sozialräumliche Grenzziehungen kultureller Teilhabe sind durch ein solches Verständnis populärer Kultur gerade nicht  a priori festzuschreiben, sondern als dynamische Felder zu verstehen, auf denen Zuschreibungen und Abgrenzungen wirkmächtig verhandelt wurden. Ein Zugang zur populären Kultur der Großstadt um 1900, so die Forderung dieser Arbeit, kann nicht in einem nationalen Erklärungsrahmen verharren, sondern muss gerade solche Prozesse berücksichtigen, die nationale Grenzen transzendieren. Eine transnationale Perspektive ­fokussiert in diesem Sinne die vielfältigen Bezüge der Metropolen untereinander und nach außen sowie die zeitgenössischen Reflexionen über eine zunehmende Verflechtung der Welt. Ein solches Verständnis populärer Kultur muss daher auch immer nach Bedingungen und Asymmetrien der Zirkulation von Kultur und des Kulturkontaktes fragen. Zentral wird in dieser transnationalen Perspektive sein, die Geschichte des Tango in Paris und Berlin als Teil einer gemeinsamen Geschichte der Metropolen zu schreiben, die durch Austausch und Vernetzung ebenso geprägt war, wie durch Konkurrenz und komplexe Machtkonstellationen. Daraus entsteht an der diszi­ 31 Hügel S. 5. und Storey, S. 7. Alternativ ist auch der Begriff der Vergnügungskultur vorgeschlagen worden, Becker u. Niedbalski, S. 13.

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plinären Schnittstelle zu den Kulturwissenschaften erstens ein Beitrag, um Metropolenkultur in der Forschung zu historisieren, und mit einer solchen transnationalen Geschichte damit zweitens auch ein Vorschlag für eine neue Perspektive auf die populäre Kultur der Großstadt.

2. Tangogeschichte(n) Die Entstehung des Tango in Argentinien fällt in die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts. Sie steht in einem engen Kontext zu der forcierten Einwanderungspolitik Argentiniens, die europäische Immigranten auf der Suche nach Arbeit ins Land brachte, und dem damit einhergehenden rapiden Bevölkerungswachstum und der sozialen Transformation von Buenos A ­ ires. Nach der formellen Unabhängigkeit Argentiniens 1816 und den darauf­ folgenden politischen Konflikten um die Konsolidierung des lateinamerikanischen Staatensystems wurde Buenos Aires 1880 zur Hauptstadt erklärt. In diesen Zeitraum fiel der Beginn einer europäischen Masseneinwanderung, mit der die argentinische Gesamtbevölkerung von etwa 1,8 Millionen im Jahr 1869 auf über 8 Millionen zu Beginn des Ersten Weltkriegs anstieg.32 Im direkten Verhältnis hierzu wuchs die Hafenstadt Buenos Aires als Ankunftsort der europäischen Immigranten sprunghaft von 180.000 Einwohnern im Jahr 1869 auf über zwei Millionen Einwohner bis 1914 an. Die italienischen Einwanderer nach Argentinien stellten mit etwa einer Million den größten Anteil dar und übertrafen die Gruppe der spanischen Einwanderer. Von den Einwanderern nach Argentinien verblieben 50 Prozent in Buenos Aires, statt wie politisch geplant, die argentinische Pampa zu »bevölkern«.33 Der extreme Reichtum Argentiniens, der aus einem expansiven Getreideund Fleischexport resultierte, spaltete das Land um die Jahrhundertwende in eine oli­garchische Oberschicht und eine teilweise verarmte Großstadtbevölkerung. In Buenos Aires lebten europäische Einwanderer, verallgemeinernd als g­ ringos bezeichnet, und die Bevölkerung aus den argentinischen Provinzen, die criollos, unter prekären Lebensbedingungen zusammen. 32 Carreras u. Potthast, S. 107. 33 Von 1 Million italienischer Einwanderer blieben etwa 650.000 langfristig in Argentinien. Aus Spanien wanderten dagegen nur etwa 360.000 Leute ein, von denen sich 250.000 in Argentinien niederließen. Weitere größere Einwanderungsgruppen kamen aus Russland, aus Frankreich und aus dem Osmanischen Reich. Zahlen nach Carreras u. Potthast, S. 106. Siehe auch Devoto.

Tangogeschichte(n)

Vor diesem Hintergrund entstand der Tango als populäre Kultur am Stadtrand von Buenos Aires. Zum Alltag der Bevölkerung in den Vorstädten gehörten einfache Wirtshäuser und Tanzlokale, kleine Theaterbühnen und auch Bordelle. Innerhalb eines populären Repertoires, das dort auf den Bühnen aufgeführt bzw. selbst praktiziert wurde, etablierte sich der Tango als Musik und Tanz. Eine einfache Instrumentierung, die zumeist aus Gitarre, Violine und Flöte bestand, ermöglichte es den Musikern zunächst von einem Ort zum nächsten zu ziehen. Später entwickelten sich Tanzkapellen und rentable Tanzlokale stellten einen festen Pianisten an.34 Musikalisch und choreographisch verbanden sich im Tango unterschiedliche kulturelle Stile von beiden Seiten des Atlantiks. Elemente aus Polka und Mazurka, der­ Habanera und des Tango andaluz sowie die Stile der schwarzen Bevölkerung von Buenos Aires und argentinisch ländliche Traditionen kamen hier zusammen. Als Paartanz entwickelte sich der Tango aus einer freien Kombination dieser diversen Stile, die viel Raum für Improvisationen gaben.35 Aufgrund der sozialräumlichen Verortung des Tango am Stadtrand von Buenos Aires innerhalb eines Kontextes, der durch Migration, Armut und Ausgrenzung geprägt war, distanzierte sich die herrschende Oberschicht im Zentrum von Buenos Aires deutlich von diesem Phänomen. Wirkmächtige Vorstellungen des Stadtrandes als ein soziales Milieu der Prostitution und Kriminalität auf der einen Seite sowie sozialer und politischer Sprengkraft auf der anderen Seite, führten hier zu vehementen moralischen Vorbehalten und politischer Sorge und damit immer wieder auch zu ordnungspolitischen Disziplinierungsversuchen. In seiner Entstehungszeit war der Tango damit in keiner Weise als Teil einer argentinischen Nationalkultur anerkannt, sondern spiegelte vielmehr soziale und politische Konflikte, die mit dem Wandel von Buenos Aires einhergingen. Gleichwohl etablierte sich der Tango als populäre Kultur der Großstadt. Um die Jahrhundertwende hatte er sich bereits zu einem eigenen Genre und zu einem festen Bestandteil der Unterhaltung in den Tanzlokalen und auf den Bühnen der Stadt entwickelt. Vom Stadtrand rückte der Tango nun ins Zentrum von Buenos Aires, wo immer häufiger Musiker engagiert und Tanzformen ausprobiert wurden. Hiermit begann eine Dynamik, die den Tango bald darauf auch über den Atlantik und in die europäischen Metropolen brachte.

34 Salas, S. 82; Reichardt, S. 39. 35 Benarós, S. 207 ff.; Reichardt, S. 66/67.

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Dieser kurze Einblick in den Entstehungskontext des Tango verweist auf­ folgende, für den Kontext dieser Arbeit grundlegende Beobachtungen: Erstens ist für die Geschichte des Tango kein Start- und Zielpunkt festzulegen. Es handelte sich nicht um eine klar abzugrenzende argentinische Nationalkultur, die quasi als Einheit nach Europa transportiert werden konnte. Stattdessen ist die Entstehung des Tango Teil  einer verflochtenen Geschichte Europas mit Lateinamerika, die auf vielfältige kulturelle Austauschbeziehungen und Migrationsbewegungen verweist. Zweitens war der Tango um 1900 Teil  einer populären Kultur, die die Erfahrungen der Großstadt ab­ bildete und in einem Spannungsverhältnis zu bestehenden Vorstellungen einer nationalen argentinischen Kultur und ihrer sozialen Trägergruppen stand. Die Geschichte des Kulturtransfers richtet sich damit drittens auf den Tango als Musik und Tanz in Paris und Berlin, berücksichtigt dabei jedoch ebenso den Entstehungskontext und die variierenden Bedeutungszuschreibungen des Tango.

3.

Methodik: Der Kulturtransfer des argentinischen Tango

Die Frage danach, wie eine historische Erzählung das Narrativ von Nationalstaaten als begrenzende Analysekategorien überwinden und einen Kulturbegriff dynamischer fassen kann, gehört zu den grundlegenden Aufgaben einer transnationalen Geschichtsschreibung. Die Aufmerksamkeit für kulturelle Transfers, für verflochtene Geschichten und Räume der Interaktion und des Kulturkontaktes zeichnet solche Forschungsansätze daher grundlegend aus. Hiermit stellt sich die Frage nach spezifischen historischen methodischen Zugängen und analytischem Handwerkszeug. Im europäischen Kontext ist es gerade die Kulturtransferanalyse, die grundlegende Fragen einer transnationalen Geschichte angestoßen und darüber hinaus die Entwicklung einer konkreten Methodik vorangetrieben hat. In den 1980er Jahren wurden innerhalb der französischen Germanistik erste Überlegungen zu einer Untersuchung kultureller Transfers von M ­ ichel Espagne und Michael Werner formuliert.36 Im disziplinären Feld der Literaturwissenschaften war es zunächst vor allem die Frage danach, wie Wis36 Programmatisch: Espagne u. Werner, La construction d’une référence culturelle allemande en France; dies., Deutsch-französischer Kulturtransfer. Eine erste Zwischenbilanz bei Espagne, Les transferts culturels franco-allemands.

Methodik

sen, Ideen und Konzepte durch den Prozess der Übersetzung als genuiner Transferleistung in einen neuen kulturellen Kontext inkorporiert werden. Im Mittelpunkt des Interesses standen dabei von Beginn an die Rekonstruktion des Transferprozesses und die daraus folgende Entstehung von Mischformen durch den Kulturkontakt. Dieser Ansatz grenzte sich einerseits von der klassischen (literaturwissenschaftlichen) Komparatistik ab, an der vor allem die Beschränkung auf meist nationale und damit statisch erscheinende Untersuchungseinheiten kritisiert wurden. Andererseits resultierte die Neuausrichtung einer Kulturtransferforschung aus einer Kritik an der klassischen Einflussforschung, der vorgeworfen wurde, oftmals von hierarchischen Kulturmodellen auszugehen und sich ausschließlich auf den Ursprungskontext zu konzentrieren, anstatt die Innovationen im Aufnahmekontext mit einzubeziehen.37 Die Transferforschung im Kontext der französischen Germanistik beschäftigte sich in ihrer Anfangszeit mit einem deutsch-französischen Kontext und leistete hier vor allem für eine Geschichte der Geisteswissenschaften im 18. und 19. Jahrhundert Pionierarbeit.38 Sie stärkte die Aufmerksamkeit für das Fremde in der eigenen Kultur und damit auch für die verwischten Spuren einer gemeinsamen, verflochtenen Geschichte von Literaturen und Literaturkontexten, die bis dato von nationalen Erzählungen verdeckt worden war. Ausgehend von diesen ersten Arbeiten kristallisierten sich in interdisziplinärer Zusammenarbeit auch für die Geschichtswissenschaft grundlegende Ansätze und Begrifflichkeiten zur Untersuchung kultureller Transfers heraus. Es entwickelte sich ein hilfreiches Instrumentarium, welches die Vorgehensweise für historische Fragestellungen durch ein spezifisches Erkenntnisinteresse und leitende Fragestellungen strukturiert. Einem Kulturtransfer, das heißt im weiteren Sinne der Bewegung von Ideen und materiellen Gegenständen, liegen gerade keine statischen und klar begrenzbaren kulturellen Einheiten oder nationale Kulturen als Untersuchungseinheiten zugrunde. Die Analyse von Kulturtransfers richtet den Fokus grundsätzlich auf die Rezeption und die Veränderung in einem neuen kulturellen Bedeutungskontext. Sie fragt nach Wegen und Akteuren und zeichnet auf diese Weise den Prozess der Aneignung und Veränderung präzise nach. Kulturelle Mittlerfiguren spielen hierfür eine zentrale Rolle. Reisende und Migranten als Mittler zwischen den Kulturen ermöglichen es, Konzepte 37 Espagne, Les transferts culturels franco-allemands, S. 32. 38 Espagne u. Middell; François.

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und Ideen an konkrete Akteure als Träger des Transfers zurückzubinden.39­ Neben Personen und Personengruppen lässt sich ein solcher Akteursbegriff außerdem auf diejenigen Instanzen, Medien und Institutionen erweitern, die in der Aufnahmegesellschaft auf den Prozess der Aneignung einwirkten. Entgegen älteren Ansätzen der Einflussforschung geht die Untersuchung von Kulturtransfers dabei gerade nicht davon aus, ein vermeintliches Original bleibe in einer ontologisch ursprünglichen Form bewahrt. Stattdessen sollen gerade neue Funktionen und Interpretationen erkannt und gedeutet werden. Die Transferforschung betont in diesem Sinne »die Originalität der Abschrift«.40 Dem liegt eine radikale Umkehr der Perspektive zugrunde, nämlich die Annahme, dass Transferprozesse von einer Bereitschaft zum Import geleitet werden, die die Aufnahme und Integration von neuen Phänomenen steuert.41 Ein Rezeptionsbedürfnis, so die Annahme, entsteht aus einer Defiziterfahrung in der eigenen Gesellschaft, die zum Auslöser des Transfers wird. In diesem Sinne geht es bei der Untersuchung von Transfers weniger um die bloße Beschreibung einer Zunahme von Mobilität und Zirkulation, sondern vielmehr um die ganz konkrete Frage nach dem Interesse am Transfer, den Auswahlkriterien und der aktiven Leistung des Importierens.42 Hieraus entsteht die genaue Beschreibung von Aneignungs- und Inkorporierungsprozessen. Im Mittelpunkt solcher Aneignungsprozesse stehen die Aushandlungen und die möglichen Konflikte, die die Umstände eines erfolgreichen Transfers darstellen. Damit ist ein Transfer ein aktiver und ergebnisoffener Prozess, in dessen Verlauf Akteure über die Bedingungen der Integration verhandeln, auf sie einwirken und sie zu steuern versuchen. Für ein Verständnis kultureller Transfers gilt es daher, auch die Möglichkeit des Scheiterns mitzudenken. Transferforschung ist immer auch eine Frage nach Ablehnung und nach Formen der Ausgrenzung. Solche »missglückten Transfers« unterstreichen einmal mehr die Annahme eines aktiven Aushandlungsprozesses.43 Mit diesen leitenden Fragestellungen stand die Transferforschung in i­ hrer Anfangszeit in einer konfrontativen Opposition zur Methodik des histo­ rischen Vergleichs, die dazu führte, dass zunächst die Notwendigkeit einer sauberen Unterscheidung zwischen vergleichenden Arbeiten und solchen, 39 Espagne u. Greiling. 40 Espagne, Kulturtransfer und Fachgeschichte, S. 43. 41 Middell, Von der Wechselseitigkeit der Kulturen im Austausch, S. 18. 42 Ebd. 43 Kaelble, Herausforderungen an die Transfergeschichte, S. 10.

Methodik

die sich stärker mit Wechselwirkungen und Beziehungen beschäftigten, betont wurde.44 Eine solche Auseinandersetzung wurde in der deutschen Geschichtswissenschaft sehr viel vehementer geführt als in Frankreich.45 In der Folge trugen diese anfänglichen Kontroversen jedoch zu einer An­ nähe­rung der Positionen und darüber hinaus zu einer fruchtbaren Neu­ ausrichtung und Erweiterung der Forschung gegenüber grenzüberschreitenden Fragestellungen bei.46 Mittlerweile ist der historische Vergleich damit, eine entsprechende Fragestellung vorausgesetzt, zu einem wichtigen Instrument der transnationalen Forschung geworden.47 Auch die Methodik der Transferforschung hat sich erweitert und den neueren Forschungsergebnissen einer transnationalen Geschichtsschreibung Rechnung getragen. Vor ­a llem werden nun solche Transferkonstellationen verstärkt berücksichtigt, die sich nicht nur auf einen bipolaren Austausch innerhalb eines euro­päischen Bezugsrahmens beschränken.48 Damit wurde auch die geographische Reichweite der Transferforschung kritisch reflektiert und über spezifische methodische Problemstellungen bei der Anwendung auf außereuropäische Transfers diskutiert.49 Für die Theoriebildung der transnationalen Geschichte kamen wichtige grundlegende Arbeiten aus der postkolonialen Forschung, die dafür plädiert hat, den Fokus für die Untersuchung von Kulturtransfers und Kulturkontakten auf Rahmenbedingungen und Machtasymmetrien zu richten.50 Eine wichtige Leistung der postkolonialen Forschung und damit eine wichtige Bedeutung für die Betrachtung von Kulturtransfers besteht gerade darin, diffusionistische Erklärungsmodelle von Kultur zu hinterfragen, indem die Interdependenzen und Wechselwirkungen zwischen Metropole und Kolonie hervorgehoben werden. Auch die populäre Kultur in den europäischen Städten erscheint in einer solchen Perspektive als ein Feld von konkurrie44 Für die Trennung von Vergleich und Transfer plädierten in der Anfangszeit: Haupt u. Kocka, Geschichte und Vergleich. Die Kritik am historischen Vergleich vor allem bei Espagne, Kulturtransfer und Fachgeschichte. Eine Darstellung der Forschungskontroverse findet sich bei Middell, Kulturtransfer und historische Komparatistik, hier­ besonders S. 31 ff. und bei Paulmann. 45 Middell, Von der Wechselseitigkeit der Kulturen im Austausch, S. 26 ff. 46 Kaelble u. Schriewer. Siegrist. 47 Haupt u. Kocka, Comparative and Transnational History. Vgl. Auch Cohen u. O’Connor. 48 Konzeptionell: Dmitrieva u. Espagne. 49 Osterhammel, Transferanalyse und Vergleich im Fernverhältnis. 50 Grundlegende theoretische Überlegungen für die Geschichtswissenschaft bei Conrad u. Randeria. Siehe auch Langbehn und für Frankreich Evans.

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renden machtvollen Repräsentationen globaler Erfahrungen in der Metropole. Weitere wichtige Anregungen dieser Arbeit folgen den vielfältigen Ansätzen innerhalb der Geschichtswissenschaft, die sich in den letzten Jahren verstärkt transnationalen Fragestellungen geöffnet hat und diesbezüglich kontinuierlich Theoriebildung und Methodik diskutiert. Hier sind neben der Globalgeschichte unter der Bezeichnung histoire croisée oder entangled history Zugangsweisen entstanden, die in diesem Sinne versuchen, Alter­ nativen zu einer eurozentristischen Geschichtsschreibung auszuloten.51 Von diesen kritischen Diskussionen profitiert diese Arbeit, die sich zwar innerhalb einer deutsch-französischen Geschichte verortet, mit der Untersuchung eines Transfers von Buenos Aires nach Paris und Berlin und einem Vergleich zweier europäischer Metropolen jedoch auch einer verflochtenen Geschichte Europas und Lateinamerikas und der Bedeutung von Metropolen in einem globalen Kontext nachgeht.

4. Quellen Die Geschichte des Tango in Paris und Berlin als Geschichte eines kul­ turellen Transfers zu schreiben, wirft methodische Fragen der Quellenlage und des historischen Zugangs auf. Die Erforschung des Tanzes in der Geschichtswissenschaft weist einige spezifische Probleme auf. Zum einen resultieren diese aus einer diffusen Quellenlage. Verschriftlichte Choreo­ graphien und tanztheoretische Abhandlungen vermögen Auskunft über Körperpraktiken zu geben, für die Rekonstruktion des historischen Kon­ textes sind sie jedoch nur bedingt aussagekräftig. Eine Quellenproblematik liegt in der Tatsache, dass das Tanzvergnügen und auch die Tanzlokale zum Alltag der Bevölkerung gehörten und im Gegensatz etwa zu den Programmen der Music Halls und Theater nur selten in der Presse beworben wurden.52 Sind Bühnenvorstellungen also noch über Programmhefte zu rekonstruieren, ist die Spurensuche nach einzelnen Tanzlehrern, Tänzern und Tanzformen außerhalb der Bühnen sehr viel schwieriger. Ein weiterer Aspekt, der den Zugang erschwert, sind die Disziplin­grenzen zwischen der Geschichts- und der Tanzwissenschaft bzw. den kulturwissenschaftlich 51 Zum Ansatz der histoire croisée siehe Werner u. Zimmermann. Zum Konzept einer­ entangled history bei Conrad u. Randeria. 52 Wolffram, S. 10.

Quellen

orientierten Ansätzen der Körpergeschichte. Diesen disziplinären Abgrenzungen ist es geschuldet, dass bisher kaum gemeinsame Fragestellungen entwickelt wurden, geschweige denn ein gemeinsames Instrumentarium zur Verfügung stünde, um sich dem Gesellschaftstanz als historisches Phänomen zu nähern.53 Dabei ist durchaus dafür plädiert worden, die Entwicklung des Gesellschaftstanzes als einen gesellschaftlichen Indikator soziokultureller Veränderungen im 19. Jahrhundert zu begreifen.54 In Frankreich wurde beispielsweise anhand der Herausbildung bürgerlicher Tanzveranstaltungen im Zuge der Französischen Revolution und den damit einhergehenden ordnungspolitischen Reaktionen das Potenzial einer historischen Einordnung von Tanzorten und Tanzpraktiken für eine Sozial- und Gesellschaftsgeschichte bewiesen.55 Auch die kulturellen Nationalisierungen des 19. Jahrhunderts sind entlang der Tanzgeschichte aufgezeigt worden, indem gerade die identitätsstiftenden Elemente des Tanzes in den Mittelpunkt gestellt wurden.56 Um Tanzgeschichte als einen immanenten Teil einer Geschichte der Moderne zu schreiben und sie damit für eine Kulturgeschichte des 19.  und 20.  Jahrhunderts fruchtbar zu machen, bedarf es demnach spezi­ fischer Fragestellungen, die gesellschaftliche Ordnungen und Deutungen in den Mittelpunkt der Analyse rücken. Einer solchen Herangehensweise schließt sich auch diese Arbeit an, indem sie nicht »den Tango selbst« analy­ siert, sondern nach Wahrnehmungen und Bedeutungszuschreibungen fragt und damit den Fokus auf die gesellschaftliche Einordnung des Tanzes richtet. In diesem Sinne verfolgt diese Arbeit keinen tanzhistorischen Ansatz und sie versteht sich auch nicht als Körpergeschichte. Ein solcher Zugang zur Geschichte des Tango, der nach Geschlechterrollen und Körperpraktiken fragt, ist zudem an anderer Stelle bereits überzeugend verfolgt worden.57 Stattdessen wird die Geschichte des Tango als Teil einer transnationalen Geschichte der populären Kultur der Metropole geschrieben werden. In diesem Sinne wird der Tango als Medium interpretiert, welches die Auseinandersetzungen um eine internationale populäre Kultur in Paris und Berlin beispielhaft sichtbar werden lässt.

53 Vgl. zum Forschungsstand der historischen Tanzforschung Dahms. 54 Ebd., S. 249/250. 55 Gasnault zur Sozialgeschichte der bals publics und Hess zur Geschichte des Walzers. Siehe auch Haupt, Forschungen zur neueren Sozialgeschichte Frankreichs, S. 494. 56 Baxmann. 57 Wegweisend hier die Studien von Saikin und Elsner. Siehe auch Hartmann.

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Um den Prozess der Aneignung und insbesondere die Diskussionen um den Tango als Teil der Aushandlung moderner städtischer Kultur zu fokussieren, stehen Zeitungen und Zeitschriften aus Paris und Berlin als Quellen im Zentrum der Arbeit. Die gesellschaftlichen Debatten, die im Zuge der Aneignung um den Tanz geführt wurden, sind vor allem in der zeitgenössischen Presse nachzuvollziehen. Tageszeitungen und vor allem Kulturzeitschriften und Illustrierte waren die Orte, an denen sich verschiedene Stimmen über den Tango äußerten und Standpunkte diskutiert wurden. Seit etwa 1880 stieg der Zeitungen- und Zeitschriftenmarkt in Frankreich und Deutschland stark an. Tageszeitungen wurden für ein breites Publikum verfügbar.58 Es entwickelten sich neue Genres, wie spezielle Frauenzeitschriften oder Sportzeitschriften, die sich an ein heterogenes Publikum wendeten. Vor­ allem in den Großstädten, in denen sich das Presseangebot konzentrierte, entstanden damit neue Formen der Teilnahme am öffentlichen Leben und der Wahrnehmung der populären Kultur.59 Die Entscheidung für Zeitungen und Zeitschriften als Quellengrundlage dieser Arbeit bedeutet auch eine spezifische Sichtweise auf die populäre Kultur der Großstadt, die eine Reduzierung der zeitgenössischen Debatten auf einen Elitendiskurs vermeiden soll. Gerade in der deutschen Forschung standen lange Zeit die sogenannten »Schmutz und Schund«-Debatten sowie die Schlüsselfiguren einer konservativen Kulturkritik mit ihren Schriften im Vordergrund und steuerten die Auswahl der Forschungsfragen. In der französischen Forschung sind ebenfalls vermehrt literarische Genres als Foren des intellektuellen Austauschs kultureller Eliten untersucht worden.60 Viele der bürgerlichen Kulturzeitschriften hatten bereits seit dem 18. Jahrhundert einen transnationalen Wirkungsradius, beschränkten sich in Autorenschaft und Publikum jedoch auf ein gehobenes europäisches Bürgertum.61 Es ist jedoch, so die Annahme, viel mehr die Massenpresse selbst, die Einblick in eine in Transformation begriffene städtische Unterhaltungskultur und deren Rezeption zu geben vermag. Gerade populäre Zeitschriften mit einem breiten Leserkreis hatten einen wichtigen Anteil an der Entstehung und Abbildung einer städtischen Öffentlichkeit. Sie repräsentierten häufig neue Trägergruppen städtischer Unterhaltung und richteten sich an ein heterogenes Publikum der Groß58 Delporte, Presse et culture de masse en France, S. 101. 59 Faulstich, S. 253 ff.; vgl. zu diesem Aspekt auch Schwartz. 60 Delporte, Presse et culture de masse en France, 112 ff. Siehe auch Charle, Le siècle de la presse, S. 169 ff. 61 Espagne, Jenseits der Komparatistik.

Quellen

stadt. Auf diese Weise trug die Zeitungslandschaft der Jahrhundertwende dazu bei, sowohl die Repräsentation der Großstadt nach außen als auch die Selbstwahrnehmung der Bevölkerung zu prägen.62 Die Feuilletons der Pariser Presse seien zu einer »kollektiven Autobiographie« der Stadt geworden, so formulierte es Bernard Marchand, hier sei das Bild, welches sich die Bewohner von Paris von ihrer Stadt machten, kontinuierlich transportiert und geformt worden.63 Vermittelt über Artikel, Fotos, Anzeigentexte und Karikaturen, lässt sich die Präsenz des Tango in Paris und Berlin nachzeichnen. Zum einen ist es möglich, eine Topographie zu erstellen, die den Tanz in der Stadt verortet. Da das Tanzvergnügen wesentlich weniger institutionalisiert war als das Theater oder die Music Hall, versucht eine Spurensuche, den Tanz zu ­lokalisieren und damit auch die Transformation der Orte und des Unter­haltungsangebotes um die Jahrhundertwende darzustellen. Zum anderen ist es möglich, den konfliktvollen Prozess der Aneignung des Tango in ­Paris und Berlin in der zeitgenössischen Presse nachzuzeichnen. Während einige Zeitschriften sich ganz klar einer bestimmten sozialen Trägergruppe und damit spezifischen Interessen zuordnen lassen, zeigen andere gerade die diffusen Reaktionen und verdeutlichen damit die Herausforderungen und Lernprozesse, die mit der Rezeption des Tanzes einhergingen. Die Verbandszeitschriften der Tanzlehrer in Paris und Berlin etwa lassen einen Blick auf die Haltung und Re­ aktionen der Tanzlehrer als Kulturmittler bei der Einführung des Tango in beiden Städten zu. Mondäne Zeitschriften wie La Vie Parisienne in Paris oder die Elegante Welt in Berlin hingegen, die gerade das Publikum einer internationalen Großstadt ansprechen wollten, vermögen vielmehr Auskunft darüber zu geben, welchen Stellenwert dem Tango innerhalb einer internationalen populären Kultur der Großstadt beigemessen wurde und vor allem, mit welchen Argumenten man eine solche befürwortete. Diese Zeitschriften spiegelten damit die Suche nach Einordnungen und Bedeutungszuschreibungen des Tango bzw. allgemein das Feld der Aushandlungen einer neuen Metropolenkultur. Dabei, so wird an diesen Zeitschriften deutlich, beobachtete man sehr genau die Entwicklungen in den anderen Städten. Eine internationale Unterhaltungskultur hatte sich in und mit diesen Zeitschriften eine Plattform geschaffen, die die Entwicklungen in vielen Städten reflektierte und miteinander verband. In erster Linie übernahmen die Zeitschriften eine 62 Fritzsche, hier besonders S. 18 ff. 63 Marchand, Histoire de Paris, S. 62.

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wichtige Rolle bei der Koordination von Produzenten und Künstlern aus aller Welt. Programme und Anzeigen spiegelten hier eine internationale populäre Kultur, die sich in vielen Städten ähnelte und zwischen den Städten ausgetauscht wurde. Über solche praktischen Informationen hinaus werden in diesen Zeitschriften jedoch vor allem auch die Beobachtungen des kulturellen Lebens der Städte untereinander vermittelt.

5. Aufbau Die Geschichte des Tango in Paris und Berlin ist die Geschichte eines Kulturtransfers. Um die diachrone Abfolge der beiden Transferprozesse, zunächst von Buenos Aires nach Paris und darauf folgend von Paris nach Berlin, vergleichend darstellen zu können, sind die Kapitel dieser Arbeit synchron­ nebeneinander angeordnet. In einem ersten Schritt führt ein Kapitel jeweils unter dem Titel »Paris 1900« und »Berlin 1900« in die Geschichte der beiden Großstädte und ihrer populären Kultur ein. Dabei wird vor allem den transnationalen Prozessen besondere Aufmerksamkeit gewidmet, die auf die Herausbildung der Metropolenkultur um 1900 einwirkten. Europäische Gemeinsamkeiten in der Entwicklung von Großstädten können hierbei ebenso aufgezeigt werden wie die spezifischen Unterschiede in der Entwicklung von Paris und Berlin. In diesen Kontext ordnen sich die Transferwege des Tango, seine Ankunft und die Verbreitung in beiden Städten ein. Die große Popularität des Tango in Paris und Berlin ging mit vehementen Auseinandersetzungen einher. Tango wurde nicht nur zu einem beliebten Modetanz der Zeit, sondern auch zu einer Projektionsfläche gesellschaftlich virulenter Konfliktfelder der Jahrhundertwende. Um diesen unterschiedlichen und teilweise widersprüchlichen Prozessen nachzuspüren, fokussieren die folgenden Kapitel die Trägergruppen des Transfers. Eine ganze Reihe unterschiedlicher Akteursgruppen war am Prozess der Aneignung beteiligt, darunter deutsche und französische Tanzlehrer, Argentinier in Paris sowie verschiedene Stimmen des öffentlichen Lebens in beiden Städten, deren Positionen sich vor allem in Zeitungen und Zeitschriften zeigten. Sie alle waren Instanzen an Schnittstellen, über die sich der Tango vermittelte und an denen Metropolenkultur kommuniziert, bewertet und gesteuert wurde. An dem Zusammenspiel dieser Kräfte entschied sich letztendlich der Erfolg oder Misserfolg eines Transfers.

Aufbau

Die Kapitel zu den Tanzlehrern in Paris und Berlin widmen sich in dieser Hinsicht zunächst zwei zentralen Akteursgruppen, die professionell auf die Veränderungen des Tanzgeschehens in den Städten reagieren mussten. Nach einer Einführung in die Geschichte des Gesellschaftstanzes und in die Geschichte der Figur des Tanzlehrers richtet sich der Blick in diesen Kapiteln auf internationale Verbandsstrukturen und auf die extrem unterschiedlichen Reaktionen der Tanzlehrer in Paris und Berlin. Die Auseinandersetzungen um den Tango beschränkten sich allerdings keinesfalls auf diese relativ kleine Gruppe der Tanzlehrer. Die Arbeit nimmt eine Vielzahl an Akteuren und Interessen in den Blick, um zu verdeutlichen, dass die Debatten um die populäre Kultur der Großstadt ein offenes Konfliktfeld darstellten, auf dem vielfältige Neuordnungen und Deutungen ausgehandelt wurden. In diesem Zusammenhang wird auch die Rolle der Argentinier in Paris analysiert, deren Positionierungen gegenüber dem Tango als einer vermeintlich argentinischen Nationalkultur von grundlegender Bedeutung war. Doch auch innerhalb der sogenannten »argentinischen Kolonie« bildeten sich ­extrem disparate Meinungen gegenüber dem Tango heraus, die aus der Präsenz sehr unterschiedlicher sozialer Gruppen von Argentiniern in Paris resultierten. Konsequenterweise fehlt ein solches Kapitel im zweiten Teil der Arbeit, da diese Trägergruppe des Transfers in Berlin kaum in Erscheinung trat. In welcher Form der Tango zum Spielball unterschiedlicher Diskussionen um Nation, Identität und Kultur wurde, zeigen die Kapitel unter der Überschrift »Metropolenkultur in der Kontroverse«. Basierend auf der Analyse von Zeitschriftenartikeln in Paris und Berlin gehen sie der Frage nach, welche gesellschaftlichen Debatten am Beispiel des Tango über die Veränderungen der populären Kultur und der Erfahrung der Welt in der Großstadt geführt wurden. Leitend ist hierbei die Annahme, dass die globalen Dimensionen der Metropolenkultur eine Herausforderung darstellten, mit der sich verschiedene Akteure auseinandersetzten und ihre Positionen in der städtischen Öffentlichkeit formulierten. Die Gegenüberstellung von Tango­ gegnern und Tangobefürwortern in beiden Teilen zeigt Metropolenkultur als Aushandlungsfeld, in dem Erfahrungen verarbeitet und Handlungs­ entwürfe erprobt wurden. Der Transfer kultureller Phänomene, so soll gezeigt werden, verlief niemals zufällig und gleichmäßig, sondern war immer an kulturelle Mittlerpositionen gebunden und von den gesellschaftlichen Konstellationen des Aufnahmekontextes abhängig. Der Vergleich zweier Transfers, der Rezeption des Tango in Paris und Berlin, zeigt darüber hinaus, in welcher Weise kulturelle Transfers konstitutive Elemente in der

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Einleitung

Insze­nierung der Metropolenkultur waren. Ihre Untersuchung vermag damit sowohl Konkurrenz und Abgrenzung als auch die dichten wechselseitigen Beziehungen der Städte innerhalb einer gemeinsamen Kulturgeschichte der Metropolen aufzuzeigen.

6. Forschungsstand Das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit lässt sich in zwei Forschungsgebieten verorten und führt deren grundlegenden Annahmen zusammen. Zum einen ist dies das Feld einer neueren Kulturgeschichte, die die populäre Kultur bzw. die Massenkultur des 20.  Jahrhunderts als einen grundlegenden­ Bestandteil der Geschichte der modernen Gesellschaft begreift. Zum anderen leiten sich die Fragestellungen dieser Arbeit aus einer transnationalen Stadtgeschichte und der Metropolenforschung ab. In Frankreich konstatierten die beiden Historiker Jean-Pierre Rioux und Jean François Sirinelli einen »gap historiographique« bezüglich der Forschung zur Geschichte der Massenkultur.64 Die Untersuchungen zur Herausbildung einer Massenkultur habe sich erst Anfang der 1990er Jahre den Weg in die Kulturgeschichte Frankreichs geebnet, wohingegen Soziologie und Medienwissenschaften hier bereits viel früher Pionierarbeit geleistet hätten. Dies sei umso frappierender, als die Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht ohne die Einbeziehung ihrer massenkulturellen Ausdrucksformen zu verstehen sei.65 Auch für Deutschland ist diesbezüglich auf eklatante Forschungslücken hingewiesen und die Tatsache kritisiert worden, dass die Geschichtsschreibung zum 19. Jahrhundert jegliche Formen populärer Kultur bisher weitestgehend ausgeklammert habe.66 Die gesellschaftlichen Neu­ bewertungen der Massenkultur sowie die wissenschaftlichen Auseinandersetzungen innerhalb der Kulturwissenschaften seit den 1980er Jahren haben

64 Rioux u. Sirinelli, La culture de masse en France, S. 8. Unter der Herausgeberschaft von Rioux und Sirinelli entstanden in Frankreich die ersten Arbeiten in diesem Feld. Darunter Mollier u. Sirinelli u. Valloton; Delporte u. Mollier u. Sirinelli; grundlegend außerdem auch Kalifa und Corbin, L’avènement des loisirs. 65 Rioux u. Sirinelli, La culture de masse en France, S. 22. 66 Maase, Einleitung: Schund und Schönheit, S.  11. Grundlegende Anstöße zur Geschichte der populären Kultur in Deutschland kamen von Kaspar Maase. Vgl. Maase, Grenzenloses Vergnügen; Maase u. Kaschuba. Und jüngst auch Maase, Die Kinder der Massenkultur.

Forschungsstand

in beiden Ländern auch in der Geschichtswissenschaft zu einer langsamen Öffnung gegenüber der Thematik beigetragen.67 Erst langsam löste sich damit in den letzten Jahrzehnten die Trennung und Reduzierung der Kulturgeschichte auf Formen der Hochkultur auf der einen Seite und eine eher kulturwissenschaftlich geprägte Forschung zur populären Kultur auf der anderen Seite auf. Seitdem kristallisieren sich thematische Schwerpunkte heraus. Sowohl in Frankreich als auch in Deutschland hat vor allem die frühe Massenpresse und die Geschichte des Kinos eine erhöhte Aufmerksamkeit erfahren.68 Auch die klassischen kulturellen Institutionen wie das Theater wurden unter neuen Fragestellungen und mit einem erweiterten Fokus auf ihre populären Formen intensiv untersucht. Cabaret- und Varietégeschichte oder das Interesse an der Music Hall und den populären Musik­theatern haben hier gezeigt, dass sich eine dichotomische Aufteilung in hohe Kunst und populäres Vergnügen längst nicht mehr aufrecht erhalten lässt und sich neue Zugänge entwickelt haben.69 Die Geschichte des Gesellschaftstanzes fristet in diesen Forschungskontexten jedoch weiterhin ein eher stiefmütterliches Dasein. Bisher wurde weitgehend darauf verzichtet, Tanzformen und Tanzorte als einen integralen Bestandteil einer Geschichte der populären Kultur der Stadt zu betrachten.70 Das Themenfeld der populären Tanzmusik hat man dementsprechend bisher ebenfalls ausgehend von einem normativen Kulturbegriff allenfalls als Randgebiet der Jazzgeschichte behandelt.71 Die Untersuchung populärer Musik und ihrer Rezeption ist lange in einer Nische zwischen historischer Musikwissenschaft und dem Interesse an Populärkultur innerhalb der Alltagsgeschichte der 1980er Jahre verblieben und aufgrund methodischer Schwierigkeiten wenig vorangetrieben worden.72

67 Marchart. 68 Mollier, La lecture et ses publics à l’époque contemporaine; Delporte, Au miroir des médias; Zimmermann u. Schmeling. 69 Für eine Geschichte des Cabaret vgl. Jelavich, Berlin Cabaret und ders. Modernity,­ Civic Identity, and Metropolitan Entertainment; zum Theater in Berlin Otte und­ Becker, Inszenierte Moderne. Zur Music Hall siehe Bailey, Popular Culture and Performance in the Victorian City, zu neuen Genres und Aufführungsformen populärer Musik besonders Scott. 70 Einzige übergreifende Darstellung bis heute die populärwissenschaftliche Darstellung bei Eichstedt u. Polster. 71 Vgl. Wolffram, S. 10 und Schröder. 72 Eine Ausnahme bilden Schutte und Schär. In Frankreich hingegen wegweisend die neueren Arbeiten von Ludovic Tournès, u. a. Tournès, New Orleans sur Seine und ders. Reproduire l’oeuvre.

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Einleitung

Erst in jüngster Zeit zeigen sich hier neue Forschungsansätze, die der populären Musik und den Praktiken des Musik hörens einen grundlegenden Stellenwert in der Geschichtswissenschaft einräumen.73 Neben inhaltlichen Schwerpunkten und Leerstellen gibt es einen räumlichen Fokus der Forschungen zur Herausbildung einer modernen Massenkultur. Die meisten grundlegenden Arbeiten heben hervor, dass die Herausbildung massenkultureller Formen in Großstädten ein globaler Prozess gewesen sei, wenn auch, so die übliche Einschränkung, mit zeitlichen Verzögerungen. Die Anfänge lägen in den westeuropäischen und US -amerikanischen Zentren, darauf folgte eine spätere Verbreitung ähnlicher Strukturen in der ganzen Welt. Massenkultur sei ein »globales Element« inhärent, heißt es, welches den Dimensionen heutiger Globalisierungsprozesse in keiner Weise nachstehe.74 Bei genauerem Hinsehen auf die empirische Umsetzung bedeutete eine solche Feststellung lange Zeit in den meisten Fällen eine bloße Anerkennung zeitgleich ablaufender, vergleichbarer Prozesse, die sich häufig auf einen europäischen Bezugsrahmen reduzierten und damit ein diffusionistisches Bild kultureller Entwicklungen suggerierten. Die schlichte Annahme der Gleichzeitigkeit stellte jedoch nationale Erklärungsmuster nicht in Frage. Die Beschäftigung mit der populären Kultur der Großstadt verblieb zunächst innerhalb einer nationalen Geschichtsschreibung. Sie erklärte sich aus dem Inneren heraus, indem sie die nationalen Geschichten von Urbanisierung und Industrialisierung und der damit zusammenhängenden Transformation der Gesellschaft des 19.  Jahrhunderts in sozialer und kultureller Hinsicht fokussierte. Eine Erklärung hierfür liegt auch hier in der häufig angenommenen zeitlichen Abfolge von Nationalisierungs- und Globalisierungsprozessen. Auch die historische Entwicklung der Massenkultur wurde diesbezüglich in einem Zweischritt gedacht, der zunächst nationale Entwicklungen als Erklärungsmodelle ihrer Entstehung im 19. Jahrhundert heranzog und erst darauf aufbauend eine Erweiterung um globale Dimensionen im 20. Jahrhundert konstatierte. »Une naissance purement endogène«75 wurde in einer solchen Betrachtung der Massenkultur konstatiert. Damit einher ging lange Zeit ein holistisches Kulturverständnis, das relativ statisch in Zeit und Raum definiert war.

73 Müller; unter besonderer Berücksichtigung der Großstadt Morat. 74 Rioux u. Sirinelli, La culture de masse en France, S. 16. 75 Ebd., S. 18.

Forschungsstand

Demgegenüber geht diese Arbeit davon aus, dass es zu keinem Zeitpunkt eine Entwicklung gegeben hat, die sich auf einen nationalstaatlichen Rahmen reduzieren lässt, sondern ganz im Gegenteil die Auseinandersetzung mit der Welt und die Interaktionen der Metropolen untereinander für die Entstehung und das Verständnis von Metropolenkultur konstitutiv waren. In diesem Sinne schließt die Arbeit an Forschungen an, die innerhalb einer transnationalen Geschichtsschreibung gerade der Rolle von Metropolen besondere Aufmerksamkeit widmen. Diesbezüglich ist vor allem die Perspektive auf Metropolen als Portale bzw. als Knotenpunkte angeregt worden, die zentrale Bedeutung innerhalb eines Netzwerkes von Städten oder auch innerhalb eines imperialen Bezugsrahmens einnahmen.76 Hierdurch dehnte sich ihre Bedeutung weit über eine nationale politische Funktionalität hinaus aus und macht gerade die Untersuchung von Interdependenzen und Konkurrenzen notwendig. Städte als Portale, so ist der Versuch einer Konzeptionalisierung unternommen worden, wurden in diesen zentralen Positionen zu Lernorten, an denen vor allem globale Erfahrungen verarbeitet wurden. Zu diesen quasi genuin transnationalen Städten gehören neben den imperialen Metropolen des 19.  Jahrhunderts vor allem auch Hafenstädte, wovon in jüngster Zeit auch Buenos Aires als Forschungsgegenstand profitierte.77 Die Verortung von Metropolen innerhalb einer imperialen Geschichte weist außerdem auf deren vielfältige und wechselseitige Verflechtungen hin und stellt diesbezüglich vor allem die Fragen nach Zentrum und Peripherie immer wieder neu zugunsten einer Verflechtungsgeschichte.78 Das Interesse an der Kultur der Metropole ist in diesem Kontext um eine transnationale Perspektive erweitert worden. In der vergleichenden Stadt­ forschung finden sich in jüngster Zeit vermehrt Ansätze, die unter einer solchen Prämisse die kulturellen Dimensionen der Metropolen um 1900 zu­einander in Beziehung setzen und dabei gerade grenzüberschreitende Austauschprozesse und Netzwerke fokussieren. Neuere Forschungen zur Oper haben diesbezüglich beispielsweise die Dynamiken von gleichzeitig ablaufenden Nationalisierungs- und Transnationalisierungsprozessen in den

76 Siehe Saunier u. Ewen. Zum Begriff der Portale Middell, Erinnerung an die Globalisierung und Geyer. Grundlegend auch Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, S. 381 ff. 77 Windus. Für eine solche Perspektive auf Hafenstädten in einem globalen Kontext siehe Amenda u. Fuhrmann; Hein. 78 Driver u. Gilbert.

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Einleitung

Städten Zentraleuropas aufgezeigt.79 In der französischen Forschung hat die Beschäftigung mit den capitales culturelles eine Beziehungsgeschichte europäischer Großstädte vorangetrieben. Hier sind es vor allem die Arbeiten zu Museen, Universitäten und der bildenden Kunst, die auf ein dichtes Netz von kulturellen Transfers hinweisen. Kultureller Wandel und kultureller Austausch, so wurde hier betont, zeigte sich in den Metropolen besonders deutlich, von hier aus verbreiteten sich populäre Formen in den angrenzenden Regionen und in kleineren Städten.80 Die populäre Kultur der Stadt wird darüber hinaus in neueren Arbeiten erfreulicherweise seltener entlang sozialer Grenzziehungen kategorisiert. Die schablonenhafte Trennung zwischen Hoch- und Populärkultur tritt immer mehr zugunsten einer Perspektive auf die Stadt als Gesamtrezeptionsraum zurück, ohne dass dabei soziale und räumliche Differenzen negiert werden. An dieser Schnittstelle einer neueren Geschichte der populären Kultur und einer transnationalen Perspektive auf Metropolen in einem globalen Kontext lassen sich auch einige jüngere Arbeiten zur Geschichte des Tango verorten. Aufgrund seines Entstehungskontextes und seiner weltweiten Verbreitung wird die Geschichte des Tango einerseits oftmals entlang der Leitmotive des Exils, der Migration und der Reise beschrieben. Titel wie »Tango nómade« oder »Alte atlantische Tangos« verdeutlichen, dass der Aspekt der Bewegung des Tango zwischen kulturellen Kontexten für sein Verständnis von grundlegender Bedeutung ist.81 Der Stellenwert, den der Tango andererseits als nationale Kultur Argentiniens im Verlauf des 20. Jahrhunderts angenommen hat, manifestiert sich in der mittlerweile kaum noch einzugrenzenden wissenschaftlichen und populären Literatur zum Thema.82 Historische, literaturwissenschaftliche und musikwissenschaftliche Arbeiten zeigen hier ein breites Feld unterschiedlichster Zugänge. Die Geschichte 79 Grundlegend zu einer transnationalen Forschung der Oper: Ther; siehe auch Stachel u. Ther. 80 Charle, Le temps des capitales culturelles, S. 12. 81 Der Sammelband »Tango nómade« führt Studien zur Geschichte des Tango aus unter­ schiedlichen Ländern zusammen, Pelinski, El tango nomade. Ensayos sobre la diáspora del tango; darin zu Paris Humbert. Siehe auch die Überlegungen zu Tango und Globalisierung bei Pelinski, Tango nómade. Una metáfora de la globalización. Musikwissenschaftlich analysiert Torp das Zusammenspiel verschiedener Stile bei der Entstehung des Tango. 82 Zu den klassischen Werken der Tangoforschung in Argentinien gehören vor allem die 19 Bände der Historia del tango, an der mehr als 120 Autoren mitwirkten, siehe­ Pampin. Außerdem grundlegend Gobello; García Jiménez, El tango; Salas.

Forschungsstand

des Tango in Europa hat jedoch erst seit den 1990er Jahren verstärkt Aufmerksamkeit erfahren. Während in Frankreich grundlegende Arbeiten zur Präsenz des Tango in Paris entstanden sind, ist der Geschichte des Tango in Berlin bisher nur in wenigen Ansätzen nachgegangen worden.83 Diese Arbeit konnte in Paris also auf wertvolle Grundlagen zurückgreifen, wohingegen in Berlin sowohl die Quellen als auch die historische Einordnung erstmalig in diesem Umfang bearbeitet wurden.

83 Für Frankreich kamen grundlegende Arbeiten von französischen und argentinischen Autoren: Zalko; Hess, Le tango; Humbert. Für Berlin bildet der Ausstellungsband­ »Melancholie der Vorstadt«, der einige Artikel zur Geschichte des Tango in Deutschland aufgenommen hat, eine Ausnahme. Siehe außerdem die Kapitel zu Paris und Berlin bei Elsner.

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II. Tango in Paris

1.

Paris um 1900

1.1 Eine Metropole zur Jahrhundertwende Auf den Weltausstellungen 1889 und 1900 präsentierten sich Paris als Weltstadt und die Welt in der Stadt gleichermaßen. Als singuläre urbane Er­ eignisse von jeweils etwa sechsmonatiger Dauer erfüllten die Ausstellungen nicht nur ihr vordergründiges Ziel, industriellen Fortschritt und technische Errungenschaften vorzuführen. Die symbolische Bedeutung und die Ausstrahlungskraft dieser Großereignisse gingen weit über die Darbietung von Waren und Maschinen hinaus. Der Eiffelturm war daher nicht nur ein Meisterwerk der Baukunst im Zeichen der Moderne und prägte seit 1889 das Stadtbild von Paris, sondern wurde auch zu einem Sinnbild der wiedererlangten Größe Frankreichs als Nation nach der Niederlage im deutschfranzösischen Krieg.1 Die Eröffnung der ersten Metrolinie und der Ausbau der städtischen Infrastruktur sowie die Errichtung zahlreicher Ausstellungsgebäude waren Teil der Modernisierungsprozesse des 19. Jahrhunderts und veränderten den städtischen Raum langfristig. Paris präsentierte sich 1900 als imperiale Metropole, als Zentrum einer machtvollen Aufteilung der Welt, die sich in der Anordnung »nationaler Pavillons« und »kolonialer Dörfer« auf dem Ausstellungsgelände manifestierte.2 In Abgrenzung und im Gegensatz zu London, das als Zentrum des britischen Empires über das gesamte 19. Jahrhundert hinweg für sich in Anspruch nahm, die wirtschaftlich wichtigste Stadt der Welt zu sein, behauptete Paris diesen Status in kultureller Hinsicht für sich. Unter dem emblematischen Titel »Le­ bilan d’un siècle« unterstrich die Stadt in der Konkurrenz der europäischen Metropolen ihren Führungsanspruch als capitale culturelle.3 Die 50 Millionen Besucher der Weltausstellung von 1900 kamen jedoch auch in die »Hauptstadt des Vergnügens«, in der eine internationale Unterhaltungs1 Loyrette, S. 121/122. 2 Hancock, S. 76; siehe auch Ory und Geppert, S. 62–100. 3 Prochasson, Paris 1900, S. 94.

Paris um 1900

kultur ebenfalls ihren Anteil daran hatte, die Welt in der Stadt erfahrbar werden zu lassen. Um 1900 hatte Paris etwa 2,8 Millionen Einwohner und war damit nach London und New York die drittgrößte Stadt der Welt. Industrialisierung und Urbanisierung hatten im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu einem verstärkten Anstieg der städtischen Bevölkerung geführt. Um 1800 lebten in Paris nur etwa 500.000 Einwohner. Das explosionsartige Wachstum der Stadt führte zu einer Verdoppelung der Bevölkerung, sodass Paris um 1850 bereits eine Millionenstadt war. Das Bevölkerungswachstum von Paris war dabei vor­ allem in der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts auf einen starken Zuzug aus den französischen Provinzen zurück zu führen. Im Jahre 1886 war nur etwa ein Drittel der Einwohner von Paris auch in der Stadt geboren, mehr als die Hälfte der Pariser Bevölkerung kam aus den französischen Regionen, etwa 8 Prozent aus dem Ausland.4 Den zahlenmäßig größten Anteil der Zuwanderer aus dem Ausland stellten Migranten aus Italien sowie aus Russland und Polen dar, unter ihnen auch viele osteuropäische Juden.5 Paris war damit zu einer stark durch Migration geprägten Stadt geworden. Im Vergleich der europäischen Metropolen lebte in keiner Stadt ein so hoher Anteil an ausländischer Bevölkerung wie in Paris.6 Innerhalb Europas blieb Frankreich im Vergleich jedoch ein Agrarland, über die Hälfte der Franzosen lebte weiterhin in Dörfern und Kleinstädten, nur wenige Städte erreichten am Ende des 19. Jahrhunderts eine Einwohnerzahl von über 500.000.7 Die politische Macht und die Repräsentation Frankreichs konzentrierte sich einzig auf Paris. Der rapide Anstieg der Einwohnerzahl führte zu einer steigenden Bevölkerungsdichte und der Notwendigkeit der kontinuierlichen Erweiterung und Modernisierung des städtischen Lebensraums. Größere Industrieunternehmen siedelten sich seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend an den Stadträndern von Paris an. Diese wirtschaftliche Entwicklung in Zusammenhang mit den städtebaulichen Maßnahmen unter dem Präfekten und Stadtplaner Georges-Eugène Baron Haussmann führte zu einer Umstrukturierung der innerstädtischen Viertel und einer verstärkten Ver4 Marchand, Paris, histoire d’une ville, S. 134. Siehe auch Crubellier u. Agulhon, S. 357–470, S. 381. 5 Der Bedeutung der Migration für die Stadtgeschichte von Paris widmet sich unter dem Titel »Comment devenait-on Parisien?« ausführlich Faure, S. 37- 58. 6 Robert, S. 31. 7 Kaelble, Nachbarn am Rhein, S. 33.

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Tango in Paris

drängung der Arbeiterbevölkerung aus dem Zentrum von Paris. Als grande dissymétrie parisienne hat Bernard Marchand eine solche zunehmende Pola­ risierung der Stadt in einen eher wohlhabenden Westen und die Arbeiterstadtteile im Osten der Stadt bezeichnet.8 Am Stadtrand entstand so ein ceinture rouge, innerhalb dessen die Arbeits- und Lebensbedingungen der größtenteils proletarischen Bevölkerung zu einer drängenden sozialen und politischen Frage wurden.9 Die Topographie von Paris wurde über Jahrhunderte hinweg von der Teilung durch die Seine und der kontinuierlichen Präsenz einer Stadtmauer geformt. Mit dem Wachstum der Stadt und der Eingliederung der ehemaligen Vorstädte, der faubourgs, sowie den Eingemeindungen von mehreren Dörfern, darunter Montmartre und Belleville, entstanden um 1860 die Strukturen, die die Stadt bis heute formen.10 Dabei blieb die linke Seite der Seine mit dem quartier latin von Bildung und Wissenschaft geprägt, während sich das Geschäftsleben von Paris auf der rechten Seite des Flusses ansiedelte. Entlang des Verlaufs der alten Stadtmauer entstanden im 18. Jahrhundert die Pariser Ringstraßen, von denen vor allem die Grands Boulevards auf der Rive Droite zu Zentren der städtischen Öffentlichkeit und des kulturellen Lebens wurden. Die Repräsentation von Paris nach außen und die Wahrnehmung durch Fremde in der Stadt hingen eng mit diesen breiten Prachtstraßen zusammen. Hier formte sich der Mythos des gai Paris oder der ville lumière um 1900 vor allem durch die Kultur der Metropole. Mit der Transformation der sozialen und wirtschaftlichen Strukturen der Großstadt Paris entstand eine urbane Unterhaltungskultur, die sich grundlegend von einer populären Kultur des 19. Jahrhunderts und der französischen Provinzen unterschied und als spezifisch städtisch zu beschreiben ist.11 Dabei veränderten vor allem die zunehmend geregelten Arbeitszeiten und eine dadurch entstehende Freizeit die Gestaltung des Alltags. Seit 1906 arbeiteten viele Betriebe nicht mehr am Sonntag und 1912 zeigten die Forderungen nach einem 10-Stunden-Tag die ersten Erfolge.12 In diesem Kontext entwickelten sich zunehmend kommerzialisierte und professionalisierte 8 Marchand, Paris, histoire d’une ville, S. 101. 9 Ebd., S.  164. Siehe auch Willms, S.  314 ff. Zur Arbeiterbevölkerung von Paris im 19.  Jahrhundert vgl. grundlegend immer noch das klassische Werk von Chevalier, Classes laborieuses et classes dangereuses. 10 Die prägende Struktur der Stadtmauern bzw. den Wandel der faubourgs beschreibt eindrücklich, wenn auch auch eher literarisch Hazan. 11 Rioux, S. 94. 12 Ebd., S. 93.

Paris um 1900

Unterhaltungsunternehmen bzw. -angebote sowie neue Formen des Konsums und der Gestaltung von Freizeit. Die Presse bzw. die Medien einer städtischen Öffentlichkeit, einschließlich Werbung, Litfaßsäulen, Anzeigenblättern oder spezialisierte Zeitschriften, waren für eine solche Entwicklung von großer Bedeutung. Über sie vermittelte sich die Kommunikation und die Wahrnehmung des kulturellen Angebotes der Großstadt. Eine Voraussetzung hierfür waren die Erfolge in der Alphabetisierung und der Ausdehnung der Schulbildung. Die Analphabetenquote in Frankreich sank innerhalb der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts rapide von noch 43 Prozent im Jahr 1872 auf nur noch 11 Prozent im Jahr 1912.13 Eine dadurch erweiterte Leserschaft korrespondierte mit einem sich ausdifferenzierenden Zeitungs- und Zeitschriftenangebot, welches sich neben Politik und Wirtschaft auch zunehmend den Aspekten des täglichen Lebens in der Stadt und damit auch der populären Kultur widmete. Der Entstehung einer komplexen Presselandschaft wird bei der Herausbildung einer modernen Massenkultur besonderes Gewicht zugemessen.14 Zu einer sprunghaften Entwicklung der Presse in Paris hatte vor allem die Liberalisierung der Politik des Second Empire beigetragen. Nach der Einführung der Pressefreiheit 1868 entstand eine große Anzahl neuer Tageszeitungen.15 Dieses Angebot an Tageszeitungen, die einem breiten Publikum preiswerten Zugang zu Informationen über das politische und gesellschaftliche Geschehen ermöglichten, sowie die Ausdifferenzierung der Presselandschaft mit einer Vielzahl von spezialisierten Zeitschriften, waren Parameter einer Kultur, die potenziell allen Bevölkerungsschichten offen stand. In ­Paris entstanden die vier großen dominierenden Tageszeitungen Le Petit Journal (1863), Le Petit Parisien (1876), Le Journal (1892), und Le Matin (1883), die mit i­ hrer Auflagenstärke zwischen jeweils einer halben und knapp über einer Million Exemplaren täglich und einem Einheitspreis von 5 Sou bereits Ende des 19. Jahrhunderts im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung Frankreichs eine Leserschaft erreichten, die mit den heutigen Zahlen der französischen Presse­ landschaft mithalten konnte.16 Seit Mitte des 19.  Jahrhunderts etablierte sich in Abhängigkeit der Fortschritte in der Produktionstechnik auch die­ 13 Mollier, Un parfum de la Belle Époque, S. 77. 14 Kalifa, S. 6. 15 Allgemein zur französischen Geschichte der französischen Presse vgl. Bellanger/Gode­ chot/Guiral u. Terrou. Darin v. a. Albert, S. 239. Außerdem Charle, Le siècle de la presse. 16 Mollier, Un parfum de la Belle Époque, S. 73. Vgl. auch Martin, Médias et journalistes de la République.

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Tango in Paris

illustrierte Presse.17 1890 erschienen in Paris bereits 250 wöchentliche oder monat­liche Illustrierte, obwohl in bürgerlichen Kreisen die Ansicht vertreten wurde, dass illustrierte Publikationen ausschließlich für das nicht lesende Volk seien und daher nur geringen Wert hätten.18 Der Herausgeber Pierre Lafitte brachte 1901 die erste aufwendig gestaltete Frauenzeitschrift auf den Markt.19 Femina war ein »magazine de luxe«, das mit einem Preis von 50 Centimes bei zweiwöchigem Erscheinen und einer Auflage von etwa 130.000 Exemplaren nur einem ausgewählten Publikum offenstand.20 Die Mitarbeiter vieler Kulturzeitschriften dieser Zeit kamen aus dem Literaturbetrieb und so schrieben auch für Femina bekannte zeitgenössische Autoren und Autorin­nen. Als Zielgruppe richtete sich Femina an die mondäne wohlhabende Bevölkerung, an das gehobene Bürgertum von Paris. Daneben war es vor allem die Zeitschrift La Vie Heureuse (seit 1892), die zu einem Spiegel des weiblichen Lebens in der Stadt wurde und spezifische Themen aufgriff.21 Den »Esprit von Paris« hingegen fand man in der Zeitschrift La Vie Pari­sienne, die bereits seit 1869 erschien und auch im Ausland einen Einblick in das kulturelle Leben von Paris versprach.22 In Paris war damit um 1900 ein Pressewesen entstanden, in dem sich die Komplexität und Diversität der städtischen Lebensrealitäten vermittelte. Doch nicht nur das Angebot einer solchen differenzierten Zeitschriftenlandschaft hatte sich erweitert, sondern auch der Verbreitungsgrad von Zeitschriften hatte sich stark vergrößert. Am Ende des 19. Jahrhunderts war es dem französischen Geschäftsmann in einem Hotel in Kairo ohne Weiteres möglich, sich über die neuesten Moden der Pariser Boulevards oder den Spielplan der Opéra comique zu informieren. Veranstaltungshinweise sowie Kritiken oder Werbeanzeigen machten die urbane Unterhaltungskultur weltweit zugänglich und ermöglichten damit auch die Zirkulation des Wissens darüber, welche Phänomene in anderen Metropolen gerade »en vogue« waren. Um 1900 war somit eine moderne Form medialer Kommunikation entstanden, die weit über einen nationalen Bezugsrahmen hinaus wirkte. 17 Lachenicht, S. 65. 18 Ebd., S. 66/67. 19 Femina. Elégances, Littératures. Mondanités. Modes. Théâtres. Sports. Musiques. ­Paris, 1904–1922. Danach fusionierte die Zeitschrift mit La Vie Heureuse. Vgl. von Kulessa und Albert, S. 388. 20 Vgl. Cosnier. 21 La Vie Heureuse. Paris, 1902–1922. Siehe von Kulessa, S. 135 ff. 22 Albert, S. 386.

Paris um 1900

1.2 Zentren der Unterhaltung: Boulevards und bals publics Die Vorgeschichte der Pariser Unterhaltungskultur, die sich um 1900 durch eine beschleunigte mediale Kommunikation, eine zunehmende Kommerzialisierung des Angebotes und damit durch veränderte Formen der Wahrnehmung und Teilhabe auszeichnete, begann auf den großen Pariser Jahrmärkten des Mittelalters, Saint Germain und Saint Laurent. Hier boten neben Händlern und Handwerkern immer auch reisende Schausteller ein vielfältiges Jahrmarktvergnügen, ein Programm aus Zirkus, Pantomime, Gesang, Tanz und Theater. Aus den saisonalen Darbietungen entstanden nach und nach feste Jahrmarkttheater in wetterfesten Räumen. Unter der strengen Aufsicht und in zunehmender Konkurrenz zu den höfischen An­ geboten entwickelte sich hier ein regulärer Spielbetrieb, der von bürgerlichen Unternehmern professionell betrieben wurde.23 Im Verlauf des 18. Jahrhunderts siedelten sich diese Orte entlang der Grands Boulevards an. Bis heute ist diese Entstehungsgeschichte der französischen bürgerlichen Theater an ihrer ringförmig angeordneten Lage entlang der ehemaligen Stadtmauer­ abzulesen.24 Der Boulevard du Temple, zwischen dem Place de la R ­ épublique und dem Place Pasdeloup, wurde bis zu seiner Zerstörung im Zuge der Umstrukturierungen unter Baron Haussmann zu einem ersten Zentrum der ­sogenannten Boulevardtheater, die einem sozial heterogenen Publikum Unterhaltung versprachen und sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend von den anspruchsvolleren Formen der Opéra comique und der Operette differenzierten.25 Auf dem Boulevard du Temple fanden sich einfache Vaudeville- und Varietétheater, Pantomime, Puppenspiel und Zirkus sowie einfache Tanzlokale, cafés-chantants und Restaurantbetriebe. Zu einem weiteren Zentrum der Unterhaltungskultur wurde im Verlauf des 19. Jahrhunderts neben den Boulevards vor allem das Dorf Montmartre. 23 Zu dieser »Vorgeschichte« des städtischen Vergnügens im 18.  Jahrhundert vgl. v. a.: Martin, Le théâtre de la Foire. 24 Vgl. grundlegend: Charle, Théâtres en capitales. Zur Topographie der Theater in Paris hier vor allem S. 33. 25 Eine solche Trennung der französichen Theatergenres geht auf das napoleonische Theaterdekret von 1807 zurück, das die Pariser Theaterlandschaft in »große Theater« (Grands théâtres) und »zweitrangige Theater« (Théâtres secondaires) einteilte und auf einzelne Gattungen festlegte. Zu letzteren gehörten u. a. Vaudevilletheater, Jahrhmarktstheater und Varietétheater. Obwohl das Dekret nach 1815 nicht fortbestand, prägte es langfristig sowohl die inhaltliche Entwicklung als auch die soziale Ausrichtung des französischen Theaters bzw. allgmein der Bühnengenres. Vgl. Hillmer, S. 219 ff.

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Tango in Paris

Auf einem Hügel oberhalb der Stadt gelegen, profitierte es bis zu seiner Eingemeindung 1860 als 18. Arrondissement von Paris vor allem von seiner Lage außerhalb der Stadtmauer, die als Zollgrenze auch die steuerlichen Vorschriften des Alkoholkonsums regelte. Die günstigen Bestimmungen führten in Montmartre zu der Entstehung eines vielfältigen populären Vergnügens in dörflicher Atmosphäre, die durch Weinberge und ­Tavernen, einfache Lokale und Ballhäuser sowie eine proletarische Bevölkerung und zugezogene Künstler geprägt war.26 1881 eröffnete Rodolphe Salis hier das ­Cabaret »Le Chat Noir«, mit dem eine Entwicklung begann, die Montmartre auch zum Zentrum des französischen Cabarets und der dort lebenden B ­ oheme werden ließ.27 Aufgrund seiner vielfältigen Vergnügungsmöglichkeiten, zu denen zunehmend auch große cafés-concerts und die ersten Pariser ­Music Halls gehörten, war Montmartre um 1900 bereits weltweit bekannt und prägte auf seine Art die Außenwahrnehmung der Stadt. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts begannen die cafés-concerts das Unterhaltungsangebot entlang der Boulevards im Zentrum von Paris zu dominieren und wurden zum Inbegriff einer neuen, spezifisch großstädtischen Unterhaltung unter bürgerlicher Direktive und in kommerzieller Organisation.28 In einfachen Cafés und Wirtshäusern hatte die Unterhaltung der Gäste durch kurze Darbietungen eine lange Tradition. In kleinen Räumen ohne eigene Bühne, zwischen den Tischen oder in Hinterräumen bot sich hier oftmals in direkter Interaktion mit dem Publikum ein improvi­ siertes Programm aus Gesang und Tanz, das parallel zum gastronomischen Betrieb ablief. Aus diesen sogenannten cafés-chantants und parallel zum Aufschwung der französischen Theater entstand durch die Vergrößerung der Räumlichkeiten und der Erweiterung der Angebote das café-concert, der französische Vorläufer der Music Hall des 20. Jahrhunderts. Zur Hochzeit des café-concert existierten in Paris etwa 360 Säle, die in Programm und Ausstattung die sozialen Unterschiede der Stadt spiegelten.29 Während in den proletarischen und kleinbürgerlichen Stadtteilen im Nordosten von ­Paris eher bescheidenere Säle zu finden waren, konnte man entlang der­ 26 Hewitt, S. 31. Grundlegend zum Stadtteil Montmartre Chevalier, Montmartre du plaisir et du crime. Mit einem Schwerpunkt auf der Pariser Bohème siehe auch Weisberg. 27 Zur Entstehung des französischen Cabarets siehe Richard. 28 Grundlegend: Condemi. 29 Zeitgenössische Chronisten sprachen von bis zu 100 Sälen um 1885. Als café-concert behördlich registriert waren jedoch nur etwa 360 Säle. Condemi, S.  60. Vgl. auch Chauveau u. Sallée, S. 16.

Paris um 1900

Boulevards im Zentrum der Stadt große cafés-concerts finden, deren Erfolg den Theatern und der Oper Konkurrenz zu machen begann. Seit 1874 fand sich auf dem Boulevard de Strasbourg im 10. Arrondissement beispielsweise die »Scala«, die auf knapp 350 qm Platz für mehr als 1500 Gäste bot, etwas nördlich des Boulevard Poissonnière eröffnete 1872 »Les Folies-Bergère«, das bis zu 800 Plätze hatte. Weitere große erfolgreiche Häuser dieser Zeit waren das »Café Les Ambassadeurs« auf der Champs-Elysées oder auch das »Eldorado« auf dem Boulevard Strasbourg.30 Da der Eintritt in das café-concert traditionell frei war, finanzierten sich die Säle über den Konsum von Speisen und Getränken und schufen hier mit den Preisen auch eine deutliche Auswahl des Publikums. Im »Café Les Ambassadeurs« konnten die Kosten für das obligatorische Getränk bis zu 3 Franc betragen, das entsprach dem Tages­gehalt eines einfachen Arbeiters.31 Ab 19 Uhr bot sich dem Publikum im café-concert ein Bühnenprogramm aus Theater und Tanz, akrobatischen Zirkusvorstellungen sowie Orchesterdarbietungen populärer Melodien. Im café-concert konzentrierte sich das Geschehen auf die Bühne. Tanzvorstellungen blieben hier eine Attraktion neben vielen anderen, die vom Publikum aus der Entfernung betrachtet wurden. Die Pariser Bevölkerung selbst tanzte an anderen zahlreichen Orten in der Stadt, die von glamourösen Tanzsälen entlang der Boulevards bis zu kleinen Tanzböden in einfachen Cafés und Wirtshäusern reichten und sowohl einmalige Ballveranstaltungen zur Karnevalszeit als auch ein tägliches Tanzvergnügen boten, das zum Alltag in den einzelnen Stadtteilen dazugehörte. Aus der Perspektive des Tanzgeschehens teilte sich das Jahr in Paris zunächst noch in zwei Hälften. Die Wintersaison von Oktober bis April wurde vor allem durch die vielfältigen Maskenbälle des Karnevals geprägt. Veranstaltungen, die die ganze Nacht andauerten, waren nur in den Wochen um Karneval erlaubt.32 Im Sommer dominierten Tanzvergnügen im Freien vom Nachmittag bis in den frühen Abend das Angebot, darunter vor allem auf den Tanzböden der guinguettes. Ursprünglich als Lokale außerhalb der Stadtmauern entstanden, bezeichnete der Volksmund am Ende des 19. Jahrhunderts alle etwas abseits der städtischen Verkehrsachsen gelegenen Ausflugslokale, auch innerhalb der Stadtgrenzen, als guinguettes. Viele davon lagen entlang der Seine und waren an 30 Condemi, S. 59. 31 Ebd., S.  83. Ausführlich zur Preispolitik der Pariser Theater und der cafés-concerts siehe Mollier, Un parfum de la Belle Époque, S. 96/97. 32 Gasnault, S. 17/18.

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den Wochenenden Ziele von Ausflugsfahrten und stellten damit ein großstädtisches Vergnügen dar, das gerade die ländliche Atmosphäre suchte.33 Die einfachen bals populaires, die in das tägliche Leben eines Stadt­viertels integriert waren, stellten hingegen einen festen Bestandteil des Alltags und des populären Vergnügens der proletarischen und kleinbürgerlichen Bevöl­ kerung von Paris dar. Oftmals waren dies nur kleine Säle oder Hinterräume eines Gastronomiebetriebes, in denen die Arbeiter mit ihren Familien ihre freie Zeit verbrachten. Die zunehmende Teilung von Paris, in einen vornehmlich wohlhabenden Westen und in die ärmeren Arbeiterstadtteile im Osten, ließ sich auch an der Verteilung dieser bals populaires ablesen. Im Zentrum und im Westen fand man zum Ende des 19. Jahrhunderts deutlich weniger dieser einfachen Lokale als im Osten der Stadt.34 In einigen dieser Stadtviertel war das populäre Vergnügen zudem stark von den kulturellen Formen französischer Regionen geprägt. Besonders augenscheinlich spiegelten sich die Traditionen des ländlichen Frankreichs im 11. Arron­dissement, dem Viertel rund um die Bastille im Zentrum von Paris, wo sich seit dem 18. Jahrhundert Einwanderer aus der Auvergne niedergelassen hatten und sich entlang der Rue Lappe vor allem kleinere Handwerksbetriebe angesiedelt hatten.35 Die musette, im Dialekt der Auvergne gleichbedeutend mit dem Wort cabrette, war ein Dudelsack, das Instrument der Viehhirten der Auvergne. Die Bezeichnung bal musette wurde in Paris damit zunächst zu einem Synonym für die Orte, an denen der Dudelsack die Musik dominierte. Bald verwendete man in der Umgangssprache die Bezeichnung bal musette jedoch für eine Vielzahl von einfachen Etablissements. In dem Viertel rund um die Bastille zählte man 1879 in einem Polizeibericht 26 bals musette, insgesamt mehr als 130 in ganz Paris.36 Die bals publics, die in den Revolutionsjahren entstanden waren, unterschieden sich als bürgerliche Institutionen von höfischen Bällen und privaten Tanzveranstaltungen grundsätzlich durch die Tatsache, dass der Zugang nicht durch Einladungen reguliert wurde, sondern zumeist der Konsum von Speisen und Getränken den freien Eintritt ausgleichen sollte. Die bals ­publics entsprachen damit in ihrer Idee und Entwicklung den 33 Grundlegend zum Phänomen der guinguettes und ihrer Blütezeit Ende des 19. Jahrhunderts vgl. Bauby/Orivel u. Pénet. 34 Gasnault, S. 282 ff. 35 Um 1911 lebten etwa 82.000 Auvergnates in Paris. Zu Kultur der Auvergne in Paris mit einem Fokus auf den bals musette siehe Blanc-Chaléard. 36 Dubois, S. 52.

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Veränderun­gen der französischen Theaterlandschaft und der Entstehung der cafés-concerts und spiegelten damit ebenfalls eindrücklich die Innova­ tionen bürgerlicher Unternehmer innerhalb einer städtischen Unterhaltungskultur.37 1844 öffnete am Quai d’Orsay nahe der Champs-Elysées der »Bal Mabille«. Die Brüder Victor und Charles Mabille erschufen hier ein Außengelände, welches als einer der ersten großen Orte einer modernen Vergnügungskultur bezeichnet werden kann.38 Tanzveranstaltungen gab es hier an fast allen Tagen der Woche, die sich, für einen Sommerort bis dahin unüblich, bis in die späten Abendstunden zogen. Mit seinen durch aufwendige Lichtinstallationen dekorierten Gärten, den dazugehörigen Restaurants und mehreren Tanz­böden näherte sich der »Bal Mabille« in seinen Ausmaßen bereits den zukünftigen großen Music Halls des 20. Jahrhunderts an.­ »Mabille est à la tête de tous les bals publics, non seulement de ­Paris, mais du monde. Mabille est plus qu’un bal: c’est un concert, un spectacle, un jardin, un marché, un palais, toute une ville, une féerie des Mille et une Nuits«, schrieb man 1862 und behauptete gar, der »Bal Mabille« sei für den Reisenden in Paris beeindrucken­der als Paläste, Kathedralen und Museen.39 Dem wirtschaftlichen Erfolg des »Bal Mabille« folgten bald darauf weitere ehrgeizige Neugründungen und immer größere Veranstaltungsorte. Neben dem »Bal Mabille« ging vor allem der »Bal ­Bullier« als einer der größten und aufwendigsten Bälle in die Geschichte von Paris ein, der etwas abseits auf dem Boulevard St. Michel auf der Rive Gauche, in der Nähe des Jardin du Luxembourg gelegen war. Sein Besitzer, François Bullier, hatte diesen Ort schon 1804 eröffnet, doch wuchs das Gelände erst in den 1850er Jahren zu seiner vollen Größe heran. Auch hier handelte es sich um ein Außengelände mit einem vielfältigen Angebot, das dem Publikum Tanzflächen, Restaurants und Cafés bot. Der »Bal B ­ ullier« war das ganze Jahr hindurch geöffnet und stand mit weitaus niedrigeren Preisen einem breiteren Publikum offen als der »Bal Mabille«.40 In die Reihe der großen Bälle und Ball­häuser reihten sich im Viertel Montmartre das »Elysée Montmartre«, »La Reine Blanche« und die »Moulin de Galette«. Die Darstellung der verschiedenen Orte der Unterhaltung des 19.  Jahrhunderts verdeutlicht die kontinuierliche Präsenz des Tanzes in der Gestal37 Zur Einordnung der bals publics in die französische Kulturgeschichte vgl. grundlegend Gasnault. 38 Ebd., S. 195. 39 Jean Rousseau, Paris dansant, Paris 1862, S. 75/76. Siehe auch Gasnault, S. 246. 40 Joannis-Deberne, S. 65.

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tung der Freizeit und als integraler und vielfältiger Bestandteil der städtischen Unterhaltungskultur von Paris. Auf den Bühnen der cafés-concerts und in den Tanzsälen und Tanzlokalen zeigt sich der Beginn einer Entwicklung, die zur Jahrhundertwende zum Aufkommen der Music Hall und der Ankunft der neuer Tänze in Paris führte.

1.3 Die Welt auf der Bühne der Music Hall Um die Jahrhundertwende wurde auf den Boulevards im Zentrum von P ­ aris eine neue Dimension des städtischen Lebens augenscheinlich, die sowohl das Angebot der Unterhaltung als auch dessen Wahrnehmung durch das Publikum betraf. Eine zunehmende Verflechtung der Welt auf politischer und wirtschaftlicher Ebene spiegelte sich auch in der Kultur der Metropole. Neue Verkehrs- und Kommunikationswege beschleunigten die Mobilität kultureller Akteure und die Diffusion kultureller Güter, sie schufen neue Märkte und neue Austauschbeziehungen. Solche transnationalen Prozesse veränderten die urbane Kultur um 1900 grundlegend. Besonders die cafés-concerts machten in diesem Kontext eine tiefgreifende Veränderung durch, an deren Ende das café-concert des 19. Jahrhunderts von der internationalen Music Hall des 20. Jahrhunderts abgelöst wurde.41 Als­ internationales Phänomen setzte sich die Music Hall gegen Ende des 19. Jahrhunderts in vielen Großstädten durch, löste bisherige Aufführungs- und­ Organisationsformen ab und brachte neue Künstler und Unternehmer auf den Plan. Als Ideal diente vielen französischen Gründungen dabei das Unterhaltungsprogramm der ersten Music Halls in England. Nachdem dort im industrialisierten Norden bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts professionelle Unterhaltungsgewerbe entstanden waren, öffnete Charles Morton 1852 die »Canterbury Hall« in London, nach deren Vorbild sich die Music Hall in England innerhalb kürzester Zeit als »prototype modern entertainment industry« etablierte.42 Eine klare Differenzierung des café-concert von der Music Hall ist nur schwer möglich, da sich sowohl die Inhalte als auch die zeitliche Erscheinung überschnitten. Gleichwohl setzte zur Jahrhundert41 Grundlegend zu einer internationalen Geschichte der Music-Hall in Frankreich:­ Feschotte; Jando; Chauveau u. Sallée; Jacques-Charles, Cent ans de Music-Hall. Zeit­ genössisch bereits Fréjaville. 42 Bailey, Popular Culture and Performance in the Victorian City, S.  80/81. Zur englischen Music Hall siehe auch Kift und Feschotte, S. 12 ff.

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wende ein Übergang ein, der die traditionellen cafés-­concerts verdrängte. Die Music Hall entwickelte sich mit einer veränderten Ausrichtung des Programms zumeist in den gleichen Sälen und unter den gleichen Namen der cafés-concerts, so zum Beispiel »Les Folies-Bergère« und die »Scala«, die zu den ersten Music Halls von Paris zählten. Der Begriff des »café-conc’« verschwand jedoch bis 1914 und wurde auch damals kaum mehr verwendet.43 Viele der kleineren cafés-concerts, aber auch viele der großen Ballhäuser des 19.  Jahrhunderts mussten der Konkurrenz der großen Unternehmen der Music Halls weichen oder fielen den Umstrukturierungen durch Baron Haussmann zum Opfer, darunter 1875 auch der »Bal Mabille«.44 Rund um die großen Boulevards eröffneten nach und nach neue Häuser, die in ihrer Größe und luxuriösen Ausstattung neben den Theatern und der Oper das Stadtbild prägten. Hierzu gehörte unter vielen anderen das 1893 eröffnete »Olympia« auf dem Boulevard des Capucines. Die großen Music Halls verbanden ein vielfältiges Unterhaltungsprogramm mit einer prunkvollen Architektur. Oftmals bestanden sie aus mehreren Bühnen, Restaurants, Cafés und Gärten und verfügten auch über glamouröse Tanzsäle. Einige der alten Ballhäuser konnten sich erfolgreich den neuen Gegebenheiten anpassen. Sie wurden im Zuge dieser Entwicklung modernisiert und ihre Gebäude oder Grundstücke von neuen Besitzern übernommen. Der Ballsaal »La Reine Blanche« wurde 1889 von den Unternehmern Charles Zidler und Joseph­ Oller als »Moulin Rouge« wiedereröffnet. Den »Bal Tabarin« übernahm 1904 der beliebte Orchesterleiter Auguste Bosc und bot dem Publikum dort ein Programm der neuesten Tanzmusik.45 Die Music Hall des 20.  Jahrhunderts unterschied sich vom café-concert vor allem durch ihre Internationalität. Als einen »caractère international – ou, plutôt, ›supra-national‹ du music hall« hat Jacques Feschotte dieses entscheidende Definitionsmerkmal der Music Hall bezeichnet.46 Während das Programm des café-concert zumeist aus lokalen Darbietungen bestanden hatte, wurde ein internationales Programm in der Music Hall konstitutiv. In den zeitgenössischen Programmankündigungen ging die Selbstbezeichnung als Music Hall in diesem Sinne meist mit der Aufführung der ers43 Condemi, S. 61. In diesem Kontext ist zu bemerken, dass der französische Ausdruck Varieté für die Erscheinungsform der Music Hall in Paris zeitgenössisch ebenfalls nicht verwendet wurde. 44 Montorgueil, S. 140. Rearick, Pleasures of the Belle Époque, S. 183. 45 Jando, S. 73; Jacques-Charles, Cent ans de Music-Hall, S. 150. 46 Feschotte, S. 27; siehe auch Kalifa, S. 45.

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ten Revue einher.47 Dies war eine Gesamtinszenierung, in der die einzelnen Nummern innerhalb einer losen Rahmenhandlung aufeinander Bezug nahmen. Die Revue zeichnete sich durch aufwendige technische Ausstattungen und durch eine Standardisierung des Ablaufs aus und konnte so als Gesamtprogramm in zahlreichen Städten gastieren. Der internationale Erfolg der Revue bedeutete eine zunehmende Angleichung der Programme und eine weltweite Zirkulation von Darbietungen und Künstlern. In diesem Kontext erschien um die Jahrhundertwende der US -amerikanische Ragtime auf den europäischen Bühnen und brachte neue Tanzmusik und neue Tanzformen mit, die sich bald auch in den Tanzlokalen ausbreiteten. Nach den ersten Erfolgen des Cakewalk, der in den USA vor allem innerhalb der Minstrel Shows populär geworden war, folgten eine ganze Reihe sogenannter Tiertänze, wie Grizzly Bear, Bunny Hop oder Turkey Trot, die mit ihren skurrilen Tanz­ formen das Publikum unterhielten.48 Eine Verbreitung neuer Tanz- und Musikstile war immer gebunden an konkrete Akteure und damit vor allem an die Mobilität von Künstlern und Unternehmern. Das Programm der Music Halls setzte sich aus international tätigen Künstlern und Künstlerinnen zusammen, die als direkte Mittler bei der Einführung und Verbreitung kultureller Formen auf der Bühne fungierten. Die zunehmende Anwesenheit außereuropäischer Künstler stellte diesbezüglich eine grundlegende qualitative Veränderung der Programme dar. Daneben prägten innovative Unternehmer das Programm der erfolg­ reichen Music Halls. Joseph Oller (1839–1922), »le père du Music-Hall«, hatte das »Olympia« erbaut und kreierte gemeinsam mit dessen Direktor, Charles Zidler, den »Jardin de Paris« und »Moulin Rouge« aus dem alten Ballhaus »La Reine Blanche«.49 Bis zu seiner Schließung 1914 galt das »Olympia« mit dem dazugehörenden Palais de Danse als eine der größten und elegantesten Music Halls von Paris. 1911 übernahm Jacques-Charles die Direktion des »Olympia«. Als Unternehmer reiste er auf der Suche nach neuen Attrak­tionen selbst in die USA um neue Künstlerinnen und Künstler zu engagieren. Er war Produzent vieler Revuen die zwischen »Olympia«,­ »Moulin Rouge« und dem »Casino de Paris« zirkulierten.50 Jacques-Charles 47 Legrand-Chabrier, S. 254. 48 Ritzel, Synkopen-Tänze. Zur Geschichte des Cakewalk in Europa vgl. auch Kusser, Körper in Schieflage. Ausführlich zu den neuen Tanzmoden und den Veränderungen des Gesellschaftstanzes vgl. Kapitel II. 2.1 dieser Arbeit. 49 Chauveau u. Sallée, S. 31. 50 Jando, S. 44.

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und ­Joseph Oller gehörten damit zu einer Reihe erfolgreicher Unternehmer, die zu wichtigen Figuren in der Internationalisierung der Programme der­ Music Halls vor dem Ersten Weltkrieg wurden.51 Auch auf den Weltausstellungen 1889 und 1900 in Paris bot sich dem Publikum ein Programm, das die Welt nach Hause zu bringen schien. Mit bis zu 50 Millionen Besuchern wurden diese Ereignisse Teil  eines massenkulturellen großstädtischen Vergnügens. Ihre Bestimmung, industrielle Produkte vorzustellen, wurde von der Idee eingerahmt, die Ausstellungen gleichzeitig auch zu einem temporären Ort metropolitaner Kultur und kultureller Repräsentationen der teilnehmenden Nationen zu machen. Die Ausstellungen gehörten daher zu den ersten Orten, an denen auch Tänze aus der ganzen Welt präsentiert und als exotische Attraktionen inszeniert wurden. Für ein europäisches Publikum stellten die Weltausstellungen damit einen wichtigen ersten Kontaktpunkt mit außereuropäischen Kulturen dar.52 Während die Ausstellungen jedoch nur einmalige und relativ kurzfristige Erlebnisse waren, wurden die Music Halls zu einem dauerhaften Zentrum einer solchen Präsentation von Exotik. Sie übernahmen die erfolgreichsten oder spektakulärsten Tänze der Weltausstellungen für ihr Bühnenprogramm und machten sie einem breiten Publikum zugänglich.53 Die Music Halls wurden damit für das Publikum mehr und mehr zu einem Schaufenster zur Welt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts veränderte sich damit auch der Blick auf die entfernten Weltregionen. Die Wahrnehmung globaler Verflechtungen vermittelte sich nunmehr über kulturelle Repräsentationen auf den Bühnen und über die Präsenz von Künstlern und Künstlerinnen in Paris. Die Metro­ polenkultur um 1900 bedeutete für die Menschen in der Stadt daher eine neue Erfahrung. Für den Tanz wurden die Bühnen der Music Halls in Paris in doppelter Weise zu einer Plattform. Sie boten zum einen mit einem internationalen Programm an Tanzvorführungen ein visuelles Angebot, darüber hinaus waren sie jedoch vor allem exklusive Orte, an denen das Publikum auch selbst tanzte. Dies war die städtische Bühne, auf der der Tango seinen Auftritt hatte.

51 Eine (transnationale)  Geschichte dieser wichtigen Akteure innerhalb der Unterhaltungskultur ist für Paris noch nicht geschrieben. Vgl. jedoch beispielhaft die autobiographischen Schilderungen bei Jacques-Charles, La revue de ma vie. 52 Décoret-Ahiha, Les danses exotiques en France, S. 19. 53 Ebd., S. 115. Siehe auch dies., Les danses cambodgiennes, S. 73.

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1.4 »Tangoville« – Paris im Tangofieber »Tangoville« betitelte der bekannte französische Zeichner und Karikaturist Sem (Georges Goursat) sein im Sommer 1913 erschienenes Album, welches die Pariser Bevölkerung beim Tango tanzen in den Seebädern der Normandie humorvoll porträtierte.54 »Mais Tangoville ne se trouve pas que sur les­ rivages fortunés de la Manche«, schrieb die Zeitschrift L’Illustration in einer Ankündigung dieser Neuerscheinung. »Elle est, cet été, à la mer, comme aux champs, comme à la montagne. Partout où les Parisiens se sont installés, aux quatre coins de la France, ils ont amené avec eux le germe de cette m ­ aladie dansante qui nous vient, dit-on, d’Argentin.«55 Neben den US -amerikanischen Ragtimetänzen hatte sich auch der Tango einen Platz auf den Bühnen der Music Halls und die Aufmerksamkeit des Publikums im Ballsaal erobert. 1912 und 1913 war Paris im Tangofieber. »Les Possédeés« – die Besessenen hieß darum eine weitere Artikelserie aus der Feder Georges Goursats, in der die Tangomanie dieser Jahre beschrieben wurde.56 »Sachez donc qu’à Paris, ce ne sont que leçons de tango, thés-tango, conférences-tango, tango-exhibitions, surprises-tango, dîners-tango, champagne-tango, tangos dans l’intimité, tangos dans la charité, etc…, etc…« schrieb in der Zeitschrift La Vie Heureuse ein junger Mann einen fiktiven Brief an eine Cousine auf dem Land, um ihr die neue Mode zu erklären und ein urbanes Vergnügen zu schildern, das es seiner Ansicht nach nur in der französischen Metropole, nicht aber in der Provinz geben konnte.57 Die französische Tänzerin und Sängerin Gaby Deslys veranstaltete im Sommer 1912 im Theater Femina in Anwesenheit der Prominenz aus Politik und Gesellschaft eine Wohltätigkeitsveranstaltung unter dem Titel »Gala du ›Pas de l’Ours‹«, die in der Tagespresse ausführlich besprochen wurde. »Un programme très éclectique et qui réunissait les danses les plus améri­caines et les plus espagnoles et les plus montmartroises, permit d’applaudir les meilleurs artistes des music-halls de Paris«, war zu lesen.58 Zum ersten Mal wurde hier auch ein Preis in der Kategorie Tango vergeben, und zwar an ein argentinisches Tanzpaar, das in traditioneller Gauchokleidung aufgetreten 54 Sem, Tangoville sur mer, Paris 1913. 55 Tangoville, in: L’Illustration, Nr. 3677, 16.8.1913, 56 Les Possédeés, Artikelserie aus dem Jahr 1912, veröffentlicht in Sem, La Ronde de Nuit, Paris 1923, S. 32–47. 57 Jacques de Villemenard, Peut-on le Danser?, La Vie Heureuse, (1913), S. 310/311. 58 Le gala de ›Pas de l’ours‹ et des danses de genre, Excelsior, 12.7.1912.

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war. In der Jury saß unter anderem der Gesellschaftskritiker André de Fouquières, der sich in der Folgezeit häufig in der Öffentlichkeit als Für­sprecher der neuen Tänze zu Wort meldete. Seit Beginn des Jahres 1913 erschienen in der Zeitschrift Femina aus seiner Feder regelmäßig Artikel, in denen er über die US -amerikanischen Ragtimetänze, Pas du Dindon ­(Turkey Trot) oder Danse de l’ours (Grizzly Bear), den argentinischen Tango oder die brasilianische Maxixe berichtete.59 Auch die Ankündigungen der internationalen Music Halls im Zentrum von Paris zeigten, dass der Tango für einige Zeit im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand. Tangovorführungen wurden in fast jedes Programm integriert und einige Häuser schufen spezielle TangoRevuen mit Titeln wie »Le tango roi« oder »La Tangomanie« im »Olympia« oder »Tangui-Tango« in der »Scala«. Als argentinische Pioniere des Tango in Paris gelten der Musiker, Komponist und Tänzer Alfredo Gobbi und seine Frau, die Schauspielerin und Sängerin Flora Gobbi sowie der Komponist und Sänger Ángel Villoldo, die 1907 zu Plattenaufnahmen nach Paris gekommen waren. Oftmals wird der Anfang der Geschichte des Tango in Europa mit diesen drei argentinischen Musikern gleichgesetzt, deren Spuren zurück verfolgt werden können.60 Eine Personalisierung der Transferwege des Tango von Buenos Aires nach Europa durch Einzelpersonen verhüllt jedoch die Vielfältigkeit der Vermittlungswege eines kulturellen Phänomens über nationale Grenzen hinweg. Innerhalb einer internationalisierten Unterhaltungskultur war es vor allem die Mobilität der Künstlerinnen und Künstler, die an der Diffusion kultureller Stile entscheidenden Anteil hatte. Die technischen Möglichkeiten der Schallplattenaufnahmen sowie die Einkommensmöglichkeiten als Musiker, Tänzer und Tanzlehrer brachten viele dieser Protagonisten der Geschichte des Tango in Europa zunächst nach Paris.61 Dort rühmten sich die großen ­Music Halls mit original argentinischen Orchestern und argentinischen Tänzern. Einer der ersten international erfolgreichen Tangotänzer war Casimíro Aín mit seiner Partnerin, der deutschen Tänzerin Edith Peggy. Aín eröffnete eine eigene Tanzschule auf dem Montmartre und trat zusammen mit dem 59 André de Fouquières, Artikelserie in Femina, Nr. 288–293 (1913). 60 So bei Bates u. Bates, La Historia del Tango, S. 198 ff.; Humbert, S. 100; Salas, S. 119; Zalko, S. 58. 61 Der schwierige Versuch der Rekonstruktion einiger Namen von Musikern, Tänzern und Tanzlehrern findet sich bei einigen argentinischen Autoren: Gobello, S. 107/108 und bei García Jiménez, Estampas de tango, S. 96 ff. Siehe auch Savigliano, S. 120 und Elsner, S. 330 ff.; Humbert, S. 110 ff.

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argentinischen Pianisten Celestino Ferrer und dem argentinischen Violinisten Eduardo Monelos in Paris und New York auf.62 Einer der bekanntesten Argentinier in Paris sollte der Tanzlehrer und Tänzer Bernabé Simarra werden, der an der Akademie des französischen Tanzlehrers Camille de Rhynal beschäftigt war und mit seiner Partnerin, der kubanischen Tänzerin Isabel Gloria, zahlreiche Tanzturniere gewann.63 Von Beginn an, so zeigt der beispielhafte Blick auf die wenigen Spuren argentinischer Musiker und Tänzer in Paris und auf die ersten französischen Künstler, die das Tangofieber in Paris lancierten, waren es sowohl argentinische als auch französische Protagonisten, die den Tango auf den Bühnen und auf Tanzveranstaltungen einführten und verbreiteten. Populäre Tangokompositionen des Jahres 1913 kamen bereits sowohl aus argentinischer als auch aus französischer Feder. Sie wurden in Paris publiziert bzw. auf Schallplatten aufgenommen.64 Tänzer und Tanzlehrer profitierten unabhängig von ihrer nationalen Zugehörigkeit von der Popularität des neuen Modetanzes und integrierten den Tango in ihr Repertoire. Es war demnach kein einfacher und klar zu rekonstruierender Transferweg, auf dem der Tango Paris erreichte und sich dort verbreitete, sondern es sind gerade die verschiedenen Kanäle einer international organisierten Unterhaltungskultur, die Aufschluss über die Wege und die Protagonisten des Transfers geben können. Der Pariser Bevölkerung boten sich eine Vielzahl an Orten, an denen sie den neuen Modetanz selbst ausprobieren konnte. Nicht nur die Tanzsäle der großen Music Halls, sondern auch Cafés, Restaurants und Hotels boten Tango­vorführungen, Tanzunterricht und vor allem Tanzflächen an und trugen somit zur Tangomanie bei. »On danse partout: dans les salons, au théâtre, au café-concert, dans les restaurants de nuit«, schrieb man in La Vie ­Parisienne, in einem Artikel, der eine »tournée à travers les bals p ­ ublics ou privés de Paris« in einer Nacht schilderte.65 Im Tanzsaal im »­Magic City« sähe man Leute einen »tango idéal« tanzen, die Paare hätten ihre Schritte professionell erlernt, besonders gut tanze vor allem das ausländische­ Publikum, berichtete man. Auch im »Bal Tabarin«, könne man den Tango be­ 62 Vgl. Del Greco, S. 13/14. 63 Savigliano, S. 120. 64 Feschotte, S. 77. Béatrice Humbert hat die französischen Kataloge des Schallplattenunternehmens Odéon ausgewertet und konnte damit bereits für 1909 Tango Aufnahmen der französischen Republikanischen Garde sowie des Orchesterleiters Auguste Bosc nachweisen. Humbert, S. 126. 65 Maurice Letellier, Danse, Dance, Tanz, La Vie Parisienne, Nr, 4 (1914), S. 61.

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wundern und auch hier sei vor allem die Zusammenstellung des Publikums interessant, das aus berühmten Artisten aus dem Theater, dem üblichen touristischen Montmartre Publikum und den tatsächlichen Bewohnern und Bewohnerinnen dieses Stadtviertels bestehe, so der Artikel weiter. Viele Veranstaltungen warben mit der Anwesenheit berühmter Tänzer oder Tanzlehrer, die nicht nur für Tanzeinlagen engagiert wurden, sondern vor ­a llem unterrichten sollten. »Le tango étant la danse en vogue, le dernier cri, la création ›up to date‹. L’Olympia- le plus parisien de nos music-halls – se d ­ evait à lui-même de présenter au public le ›Roi du Tango‹ nous avons nommé le célèbre Duque«, schrieb man beispielsweise in einer Ankündigung für das »Olympia«.66 Die Rede war hier von dem brasilianischen Tanzlehrer L. D ­ uque (Antônio Lopes de Amorim Diniz), der seinen weltweiten Erfolg eigentlich der Verbreitung der brasilianischen Maxixe als Modetanz verdankte, sich darüber hinaus jedoch augenscheinlich auch mit dem Tango eine lukrative Einkommensmöglichkeit erfolgreich angeeignet hatte.67 In dem im Oktober 1913 eröffneten Palais de Danse im »Olympia« fanden am Nachmittag »thés-tango« statt, um Mitternacht folgte täglich ein »tangochampagner«.68 Hier konnte man die erfolgreichen Music Hall-Stars Mistinguett und Maurice Chevalier beim Tanz der neuen Modetänze zunächst bewundern, bevor diese danach das Publikum einige Schritte lehrten.69 Im Ballsaal des »Moulin Rouge« fanden ebenfalls Tanzveranstaltungen unter Anwesenheit argentinischer Tanzlehrer und Tänzer sowie eines argentinischen Orchesters statt. Am Nachmittag bot man einen thé-tango-­apéritif an.70 Folgte man den Veranstaltungskalendern von Paris, dann konnte man, die entsprechenden finanziellen Mittel vorausgesetzt, den Nachmittag beim thé-tango im »Jardin de Paris« auf der Champs-Élysées verbringen, wo Professor Duclos und die Künstlerin Miss Sealby Tango tanzten und auch lehrten. Die sogenannten thés dansants waren kleinere Veranstaltungen, bei denen bereits am Nachmittag in Cafés, Restaurants oder auch in den Vorhallen der Hotels getanzt und Tanzunterricht genommen wurde. Danach konnte man einen apéritif-tango oder ein tango-souper im »Bal Tabarin« anschließen und nach der Vorstellung einer Tango-Revue zum Mitternachts66 Veranstaltungshinweis, Gil Blas, 6.3.1913. 67 Seigel, S. 76. 68 Regelmäßige Ankündigungen in der Tageszeitung Excelsior unter der Rubrik »Attractions«. 69 Maurice Letellier, Danse, Dance, Tanz, La Vie Parisienne, Nr. 4 (1914), S. 64. 70 Veranstaltungshinweis, Le Matin, 18.10.1913.

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tango im »Olympia« erscheinen. Auch der Pariser Vergnügungspark »Magic City« bot Tanzveranstaltungen an. Hier konnte man am Nachmittag beim thé-dansant Privatunterricht nehmen. Der Tanzsaal des »Magic City« sei »comme le Conservatoire du tango« hieß es, dort fanden Matineen mit Tango­konferenzen sowie Tanzvorführungen der berühmtesten Lehrer und Tänzer der Stadt statt.71 André de Fouquières, einer der engagiertesten Förderer des Tango, war dort im Sommer 1913 das Aushängeschild für eine Tanzveranstaltung, die damit warb »tous les Américains chics« und »le vrai Tout-Paris« seien anwesend.72 Diese Exklusivität hatte ihren Preis. 10 Franc Eintritt machten deutlich, wer mit »tout Paris« gemeint war. Eine weitere Kategorie von Orten außerhalb von Paris war für die Verbreitung des Tango von Bedeutung: Die mondänen Seebäder an der Atlantikküste und am Mittelmeer sowie die renommierten französischen Kurorte waren in den Sommermonaten wichtiger Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens der französischen Oberschicht. »(…) de Biarritz à Dinard et de Nice à Deauville, il n’est pas un palace, un hôtel, une auberge, qui n’ait affiché su son enseigne: ›salle de tango‹ plutôt que ›salle de bains‹«, beschrieb der Maler und Schriftsteller Michel Georges-Michel im Rückblick auf die tango obsession des Sommers 1913 in diesen Badeorten.73 Die Bedeutung dieser kleinen, nur saisonal belebten Ortschaften, an denen sich in den Sommermonaten eine internationale Oberschicht traf, kam dem städtischen Leben auf den Boulevards nah.74 In seinem Album Tangoville portraitierte der Zeichner Sem daher nicht zufällig die Tango tanzenden Pariser ausgerechnet in Trouville, Deauville oder Evian und berichtete dabei von der Tätigkeit des argentinischen Tanzlehrers Bayo in Deauville sowie dessen Kontrahenten, dem französischen Tanzlehrer Camille de Rhynal in Trouville.75 Schilderungen in der Zeitschrift La Vie Parisienne zufolge verdiente Bayo in diesem Jahr bis zu 1000 Franc für eine Tanzstunde.76 Im Gegensatz zu den ländlichen Gegenden und den kleineren Städten Frankreichs, in denen sich das Angebot einer spezifisch großstädtisch geprägten Unterhaltungskultur erst sehr viel langsamer durchsetzte, können diese Orte als temporäre Inseln großstädtischen Lebens interpretiert werden. Mehr noch, als internationale 71 Excelsior, 21.10.1913. 72 Veranstaltungshinweis, Gil Blas, 4.7.1913. 73 Michel Georges-Michel, Tout au Tango, La Vie Heureuse, Nr. 1 (1914), o. S.  74 Vgl. Désert, S. 236; Braun u. Gugerli, S. 311. 75 Sem, Tangoville. In Auszügen auch in Gil Blas, 15.8.1913. 76 Floranges, Au Bal, La Vie Parisienne, Nr. 51 (1913), S. 913.

Paris um 1900

Treffpunkte waren sie bis zu einem gewissen Grad selbst Schauplätze und Multiplikatoren des kulturellen Austausches. Während sich der Tango also als Modetanz im Zentrum von Paris sowie an den Orten mit einem internationalen Publikum durchsetzte, ignorierte das Publikum der bals populaires in den Vororten und in den Arbeiterstadt­ teilen von Paris die neuen Modetänze aus den USA und aus Südamerika zunächst weitgehend. Die neuen Phänomene einer internationalen Vergnügungskultur fanden hier keinen Platz, die Bevölkerung tanzte zu altbekannten Walzer- und Polkamelodien. Ein »programme démocratique mais national« fasste die Zeitschrift La Vie Parisienne ein solches Repertoire zusammen, ein einfaches Vergnügen, an dem sich die »gens du monde« ein Beispiel nehmen sollten.77 In »Bals, Cafés & Cabarets« beschrieb André ­Warnod 1913 die Tanzmusik in einem einfachen bal musette im Stadtteil Marais im 3. Arrondissement von Paris: »L’orchestre est très primitif. Il se compose, en tout et pour tout, d’un homme et d’un accordéon« und entwarf damit ein­ Gegenbild zu den aufwendigen großen Tanzorchestern der Music Halls.78 In der populären Kultur der Großstadt zeigte sich damit ein Zusammenspiel regionaler Traditionen und den Innovationen transnationaler Dynamiken, die im städtischen Raum aufeinander trafen. Die soziale und geographische Segregation in Paris und die damit verbundenen unterschiedlichen Alltagswelten der Bevölkerung bedeuteten hier auch ein anderes Erleben der städtischen Kultur. Als »ein Leben in zwei Paris« kann man diese verschiedenartigen Lebensrealitäten durchaus beschreiben.79 Für eine Verortung des Tango ist es daher unerlässlich, sich ebenso den Lebensverhältnissen und den kulturellen Formen der Unterhaltung abseits der großen ­Boulevards zuzuwenden und auch die kleinteilig differenzierte Vergnügungskultur, die von dem Alltag und den Bewohnern der einzelnen Stadtteile geprägt war, mit im Blick zu behalten. Der Tango war in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg durchaus ein Zeichen der Distinktion, eine kulturelle Praxis, deren Orte nicht allen zugänglich waren. Diesbezüglich spekulierte man bereits über seine weitere Entwicklung: »Les causes du déclin du tango seront multiples, mais la principale sera sa trop grande diffusion. Déjà le tango triomphe dans les bals publics, et je gage que les orchestres en plein vent du 14 juillet jouront des tangos pour la joie du populaire. Et ce sera fini«.80 Erst in den 77 78 79 80

Maurice Letellier, Danse, Dance, Tanz, La Vie Parisienne, Nr. 4 (1914), S. 64. André Warnod, Bals, Cafés & Cabarets, Paris 1913, S. 196. Csergo, S. 190. Le Journal, 29.11.1913.

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1920er Jahren sollte der Tango als Tanz auch Bestandteil der bals musette der einfacheren Bevölkerung werden. In Karikaturen baten nun auch Hausangestellte um Erlaubnis, zur Tango-Tanzstunde gehen zu dürfen.81 Obwohl der Tango also nicht überall in Paris gleichermaßen präsent war und der Tanz nicht an allen Orten und von der gesamten Bevölkerung wahrgenommen und getanzt wurde, wurde der Tango zu einem Topos der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg, zu einem Thema, über das geredet und auch gestritten wurde. Viele Music Halls organisierten Veranstaltungen, auf denen die Tanzvorführungen durch Redebeiträge prominenter Fürsprecher des Tango eingeleitet wurden. So fand im »Théâtre Femina« eine Konferenz statt, bei der sogar der argentinische Botschafter in Paris, Enrique Larreta, den Gesprächen über Argentinien und den Schautänzen beiwohnte.82 André de Fouquières sprach am »Théâtre de la Renaissance« ebenfalls über den Tango und wurde dabei durch Tanzvorführungen von bekannten Tanzlehrern, wie M. Duclos und M. Bayo, unterstützt.83 Die Präsenz des Tango in den Medien stieg seit Beginn des Jahres 1913 exponentiell an. In der zeit­ genössischen Presse zeigte sich nicht nur ein breites Spektrum an Ankündigungen von Tangoveranstaltungen und Tanzunterricht, sondern auch eine Vielzahl von Artikeln, die das neue Phänomen beschrieben und bewerteten. In vielen Kulturzeitschriften und Tageszeitungen wurden A ­ rtikel, Foto­serien und Tanzanleitungen veröffentlicht, mehr und mehr Stimmen aus den unterschiedlichsten Bereichen des gesellschaftlichen Lebens meldeten sich zu Wort, um den neuen Tanz zu kommentieren. Parallel zur­ Popularität des Tanzes entstand eine Vielzahl an Produkten, die die Mode als Verkaufsstrategie nutzten. Tango war nicht mehr bloß ein Tanz, sondern ein Modephänomen geworden, das für vieles nutzbar gemacht werden konnte. Auch die Zeitgenossen hatten dies erkannt – es war von einer »industrie-tango« die Rede.84 Zu den Angeboten zählte eine spezielle Tangomode und eine dazugehörende Tangofarbe. Außerdem fanden sich ein Tangoparfüm mit Namen »Tokalon-Tong« und eine Anzahl weiterer Artikel, die in keinerlei Zusammenhang mehr zum Tanz selbst standen, sehr wohl aber ein mit dem Tango in Verbindung stehendes Lebensgefühl vermitteln soll81 »Elles y vont toutes!« Zeichnung von Jeanniot, Le Rire (1919), abgebildet bei Zalko, S. 142. Zu diesem Aspekt siehe auch bei André Warnod, Les bals de Paris, Paris 1922, S. 284 ff. 82 Les Vendredis de Femina, Excelsior, 13.11.1913. 83 Le tango avec M. André de Fouquières à la Renaissance, Excelsior, 11.11.1913. 84 Michel Georges Michel, Tout au Tango, La Vie Heureuse, Nr. 1 (1914), S. 14.

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ten. Die »Marke« Tango löste sich von dem konkreten Tanz, sie wurde zu einem Sinnbild großstädtischer Erfahrung. Mehr als alle anderen Modetänze prägte der Tango das beginnende 20. Jahrhundert, urteilte man schon zeitgenössisch. Der Tanztheoretiker Max Rivera hierzu: »Je viens de le dire, le tango est la grosse vedette moderne des salons, des bals qui empruntent leur succès au prestige de son nom et de tout les lieux de plaisir du Nouveau et de l’Ancien Monde. Il préside en roi (…) c’est par excellence la danse du moment, et je crois qu’il restera la danse répresentative de notre époque.«85 Die Strukturen einer internationalisierten, professionalisierten und kommerzialisierten Unterhaltungskultur am Ende des 19.  Jahrhunderts hatten die Voraussetzungen für die Aufnahme des Tango geschaffen. Durch die Dynamik transnationaler Prozesse hatte sich die Diffusion kultureller Stile vervielfältigt und beschleunigt. Als neuer Modetanz fügte sich der Tanz in eine Metropolenkultur der Jahrhundertwende ein, die sowohl mit neuen Formen der Produktion als auch mit einer veränderten Wahrnehmung durch das Publikum einherging. Damit unterschied sich der Tango grundlegend von den Tänzen des 19. Jahrhunderts, die innerhalb eines regional kleineren Radius zirkuliert waren und darüber hinaus unter der professionellen Kontrolle von Tanzlehrern lanciert und in den bürgerlichen Gesellschaftstanz integriert worden waren. Die neuen Tänze brachen mit a­ lten Traditionen, sie mussten zunächst erlernt und eingeordnet werden. Der Blick richtet sich daher im Folgenden zunächst auf die Geschichte des bürgerlichen Gesellschaftstanzes und die Umbrüche des 19. Jahrhunderts, um darauf auf­ bauend nach der Rolle derjenigen Akteure in der Stadt zu fragen, die professionell mit dem Tanz als gesellschaftlicher Praxis umzu­gehen hatten und diesbezüglich nun zum Handeln aufgefordert waren: Die Tanzlehrer.

2.

Tanzlehrer in Paris

2.1 Zur europäischen Geschichte des Gesellschaftstanzes Die »tangomanie« war nicht das einzige »Tanzfieber«, das in die Geschichte des europäischen Gesellschaftstanzes einging. Bereits seit der mittelalterlichen »Tanzwut« als Krankheitsbild wurden Metaphern ekstatischer, unkontrollierter Tanzpraktiken immer wieder für die Beschreibung von Tanz85 Max Rivera, Le tango et les danses nouvelles, Paris 1913, S. 17.

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formen verwendet, die bestehende Ordnungen zu verunsichern schienen. Die Rede von einer »tangomanie« stellte daher im französischen Kontext die Fortsetzung einer längeren Geschichte des Gesellschaftstanzes dar und rekurrierte überdies auf die gesellschaftliche Bedeutung von Tanzpraktiken.86 Der Tango wurde vor allem als Gesellschaftstanz rezipiert. Im Gegensatz zu vielen anderen der neuen Tänze, die vor allem auf den Bühnen der Großstädte Erfolge feierten, war es gerade seine Aneignung in den Tanzsälen und seine spätere Eingliederung als Gesellschaftstanz, die ihn von der Kurzlebigkeit vieler anderer Modetänze dieser Zeit unterschied. Die Trennlinien zwischen Bühnen- und Gesellschaftstanz hatten sich erst im 19.  Jahrhundert mit der Entstehung des Salontanzes herauskristallisiert.87 Seitdem wurde der Unterricht des Gesellschaftstanzes zu einer professionellen Aufgabe des Tanzlehrers und die Körperpraktik trennte sich vom visuellen Konsum des Tanzes auf der Bühne. Die Definition von Gesellschaftstanz (danse de salon) erfolgte seitdem als Unterscheidung zum theatralischen Tanz auf der Bühne und auch in Abgrenzung zum Volkstanz. Als Überbegriff verstand man darunter nun ein begrenztes Spektrum an Tanzformen des Bürgertums, die einem klaren Reglement folgten und unter Anleitung professioneller Tanzlehrer zu erlernen waren.88 Im Folgenden soll die Ankunft der neuen Tänze in Europa vor dem Hintergrund der Geschichte des Gesellschaftstanzes in Europa seit dem 18. Jahrhundert skizziert werden. Daran anschließend richtet sich der Blick auf die Akteure der Einführung des Tango: Die franzö­ sischen Tanzlehrer. Am Ende des 18. Jahrhunderts dominierte die französische höfische Tanzkunst Europa. Zum Repertoire gehörte das Menuett sowie verschiedene Kontertänze (contredanses), die nicht nur das aristokratische, sondern auch das bürgerliche Leben in den Tanzsälen prägten.89 Zwischen den sozialen Sphären gab es vielfältige Wechselbeziehungen. Aristokratische Tänze schöpf­ 86 Décoret-Ahiha, Les danses exotiques en France, verweist diesbzüglich vor allem auf ein Ballett des französischen Tänzers Pierre Gardel mit dem Titel »La ­Dansomanie«. Das Bühnenstück karikierte eine unbändige Tanzwut des französischen Bürgertums nach der französischen Revolution und führte den Walzer auf den europäischen­ Bühnen ein. S.  63. Zur Pathologisierung der Tanzwut siehe auch Kusser, Körper in Schieflage, S. 41 ff. 87 Dahms, S. 265. 88 Fink, S. 102. 89 Dahms, S. 286. Zu Aspekten der Abgrenzung zwischen höfischem Tanz und bürgerlichen Gesellschaftstanzes siehe auch: Braun u. Gugerli.

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ten immer wieder Elemente aus dem Reservoir der Volkstänze und veredelten sie für den Hof. Von dort aus wirkten diese dann wiederum stilbildend auf die Tänze der einfachen Schichten zurück. Mit der französischen Revolution vollzog sich ein erster Bruch in der europäischen Tanzgeschichte. Der Walzer, der seine Ursprünge in der volkstümlichen Volte des 17.  und 18. Jahrhunderts hatte, erlebte seinen Höhepunkt in Frankreich in den Jahren nach der französischen Revolution und galt in den ersten Jahren als Ausdruck der neuen Republik.90 Seine Aneignung durch bürgerliche Schichten machte ihn zum ersten genuin bürgerlichen Gesellschaftstanz.91 Im Zuge der napoleonischen Kriege verbreitete sich der Tanz schnell in ganz Europa. Er setzte sich in dieser neuen Form sowohl in den bürgerlichen Kreisen als auch in den einfachen Bevölkerungsschichten durch und wurde damit zum vorherrschenden Tanz des 19. Jahrhunderts. Einige Jahrzehnte später sorgte die Polka als neuer Modetanz für Aufregung und ließ aus der Dansomanie eine wahre Polkamanie werden.92 1844 wurde dieser böhmische Tanz bäuerlicher Herkunft von Cellarius, einem der einflussreichsten französischen Tanz­ lehrer dieser Zeit, nach Paris gebracht. Zu dieser Zeit kamen außer der Polka noch eine ganze Reihe von Modetänzen als Importe aus Osteuropa nach Paris und wurden von französischen Tanzlehrern eingeführt.93 Mit der Herausbildung des bürgerlichen Gesellschaftstanzes stieg die Nachfrage nach Tanzunterricht, nach Lehrbüchern und Tanzmusik im Bürgertum an, Tanzlehrer begannen mit dem Verfassen spezialisierter Literatur.94 Zunehmend wurde dem Tanz nun auch gesellschaftliche Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit und in der Presse entgegengebracht. Die Geschichte des Tanzes war seit jeher eine konfliktreiche. Hatte zunächst die Kirche den Tanz als satanisch bzw. heidnisch kritisch beäugt, setzte sich immer mehr auch die weltliche Obrigkeit mit dem Potenzial der Artikulation sozialer Unzufriedenheit auseinander, das dem Tanz innezuwohnen schien.95 In dem Versuch, diese vermeintliche Gefahr zu kon90 Vgl. dazu die grundlegende Untersuchung des französischen Tanzwissenschaftlers Hess, Der Walzer. Siehe auch Gasnault, S. 183–215. 91 Hess, Der Walzer, S. 116. 92 Joannis-Deberne, S. 93. Zu den Reaktionen auf die »Polkamanie« siehe auch Warnod, Les bals de Paris, S. 316. 93 Cellarius, La Danse des Salons, Paris 1849², S. 27. 94 Dahms, S.  290. Eines der ersten solcher tanztheoretischen Werke erschien in Paris, herausgegeben von Georges Desrat: Dictionnaire de la danse historique, pratique et bibliographique depuis l’origine de la danse jusqu’à nos jours, Paris 1895. 95 Hess, Der Walzer, S. 67 ff. und 102 ff.

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trollieren, wurde der Tanz bzw. Tanzveranstaltungen immer wieder Gegen­ stand von Zensur und Verboten. In Frankreich wurden zu Beginn des 19. Jahrhunderts vor allem die bürgerlichen bals publics, an denen sich der Walzer etabliert hatte, zu Orten sozialer Kontrolle.96 Das Aufkommen neuer Tänze wurde dementsprechend oftmals von Diskussionen begleitet. Gesellschaftliche Ordnungsentwürfe fokussierten dabei an erster Stelle Fragen der Moral. In diesem Sinne löste zum Beispiel auch der Chahut in Frankreich den größten Protest gegen die sogenannten danses indécentes aus. Der Tanz, der am Ende des Jahrhunderts als Can Can auf den Bühnen der M ­ usic Halls erfolgreich werden sollte, war zunächst ein ausgelassener Paartanz, der in den einfachen Lokalen von Paris getanzt wurde. Die freizügige Kleidung bzw. die wilden Beinbewegungen der tanzenden Frauen waren dabei nur der augenscheinlichste Ausdruck eines Affronts gegen Moral und Ordnung, der mit diesem Tanz und vor allem mit den Tanzlokalen und der dort tanzenden Bevölkerung assoziiert wurden.97 Es sind daher jeweils gerade die den Tanz begleitenden Diskussionen, die von gesellschaftlicher Aussagekraft sind. In ihnen spiegelten sich gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen und moralische Imperative. Das europäische Tanzleben des 19. Jahrhunderts lebte und erneuerte sich ständig durch Importe. Die Impulse für neue Tänze kamen aus den unterschiedlichen europäischen Regionen. Eine einheitliche Aufzeichnungsmethode sowie die geschäftstüchtige Verbreitung und Vermarktung von Choreographien sorgten dafür, dass Informationen über neue Tanzformen über räumliche Distanzen hinweg ausgetauscht werden konnten.98 Eine solche europaweite Zirkulation von Choreographien ließ enge Verflechtungen und eine gemeinsame europäische Tanzkunst entstehen. Im Zusammenspiel mit den Prozessen der Migration und Urbanisierung im 19. Jahrhundert verbreiteten sich die bürgerlichen Tanzformen außerdem relativ schnell auch innerhalb der ländlichen Gesellschaft und verdrängten dort ein tradiertes Volkstanzgut.99 In der Geschichte des Gesellschaftstanzes spiegeln sich daher regionale Bezüge ebenso wie ein Austausch über spätere nationalstaatliche Grenzen hinweg. Bei der Suche nach der Herkunft oder Zuordnung eines bestimmten Stils stößt man auf Verflechtungen von Regionen und damit vor allem auf verwischte Spuren transnationaler heterogener 96 97 98 99

Gasnault, S. 20 ff. Siehe auch Braun u. Gugerli, S. 216 ff. Joannis-Deberne, S. 90. Dahms, S. 279. Ebd., S. 379.

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­ raditionen. Die Nationalisierung des Gesellschaftstanzes bzw. die ErfinT dung eines »Nationaltanzes« in Rückgriff auf das Repertoire der Volkstänze folgte den kulturellen Nationalisierungsstrategien des 19. Jahrhunderts.100 Das 20.  Jahrhundert beendete eine abendländische eurozentristische Tanzentwicklung.101 Mit der Ankunft neuer Tänze und der Erweiterung des Repertoires über einen europäischen Rahmen hinaus, veränderte sich das Spektrum und die Wahrnehmung des bürgerlichen Gesellschafts­tanzes grundlegend.102 Eine neue Dansomanie ergriff das 20. Jahrhundert. Unter der Bezeichnung danses nouvelles oder danses modernes forderten zunächst die US -amerikanischen Ragtimetänze europäische Gewohnheiten heraus. Ragtime, der sich durch einen starken, stakkato-artigen Rhythmus und eine synkopierte Musikführung auszeichnete, unterschied sich als Vorform des Jazz von der bis zur Jahrhundertwende üblichen bürgerlichen Tanzmusik. Der erste Ragtimetanz, der auf den europäischen Bühnen und bald darauf auch in den Ballsälen große Popularität erreichte, war der Cakewalk, der mit afroamerikanischen Künstlerinnen und Künstlern auf die Bühnen der europäischen Music Halls gelangte.103 Entstanden als Reaktion auf die als steif empfundenen europäischen Tanzformen der herrschenden weißen Elite, wie sie im 18. Jahrhundert vor allem in den höfischen Quadrillen und Promenaden zum Ausdruck kamen, entwickelte sich der afroamerikanische Cakewalk zu einer Persiflage, die humorvoll improvisierte und mit grotesken Körper­ bewegungen experimentierte. Der Tanz löste um 1902 in europäischen Metropolen zunächst große Begeisterung aus, der Erfolg der exzentrischen Figuren in den Tanzsälen war jedoch nur von kurzer Dauer und der Cakewalk wurde schnell von einer ganzen Reihe weiterer Tänze verdrängt. Die weniger auffälligen Formen der US -amerikanischen Tänze hielten dauerhaft Einzug in das Tanzgeschehen der europäischen Großstädte. Zunächst setzten sich der Twostep und seit 1909/1910 der Onestep durch, die dem Publikum einfache und leicht zu erlernende Tanzweisen boten. Viele der neuen Tänze basierten auf der stilistischen Neuerung des Vorwärtstanzens, die sich grundlegend von den bürgerlichen Rundtänzen unterschied.104 Außerdem tanzte man zu 100 Ebd., S. 366. 101 Ebd., S. 290. 102 Décoret-Ahiha, Les danses exotiques, S. 63. 103 Zur Geschichte des Cakewalk in Europa vgl. Kusser, Körper in Schieflage; dies. Cake­ walking the Anarchy of Empire around 1900. Zur Entwicklung in Frankreich siehe auch Jordan, S. 17 ff. 104 Ritzel, Synkopen-Tänze, S. 181.

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Ragtimemusik auch einige sogenannte Tiertänze, die in der Imitation von Tierbewegungen das komische Element stark betonten und ganz im Gegensatz zum klassischen Paartanz unabhängige und improvisierte Figuren der Tanzpartner erlaubten, die ohne vorgeschriebene Bewegungslinien im Raum ausgeführt wurden.105 Der Turkey Trot oder der Grizzly Bear feierten kurze, aber aufsehenerregende Erfolge und verdeutlichten, dass die alten standardisierten Formen des Gesellschaftstanzes ihre Dominanz eingebüßt hatten. In diesem Kontext wurde seit etwa 1910 auch der argentinische Tango als erster südamerikanischer Tanz bekannt und reihte sich in die »danses nouvelles« ein. Mit einer im Gegensatz zum Ragtime viel langsameren Tanzmusik und einer Choreographie, die durch engen Körperkontakt provozierte, setzte dieser Tanz in der Wahrnehmung ganz eigene Akzente. Die mit den neuen Tänzen verbundenen Körperpraktiken verwarfen die bisher vorherrschende Ordnung in den Tanzsälen. Die Tageszeitung Ex­ celsior bildete im Januar 1913 unter der Überschrift »Les danses à la mode nous viennent d’Amérique« die neuen Modetänze ab. Die begleitende Bildunterschrift machte die Kurzlebigkeit der meisten Modetänze deutlich: »Au printemps dernier, nous reproduisions quelques danses exotiques que cherchaient à s’acclimater en France. Depuis lors, certaines de ces danses, trop excentrique, ont disparu après un passager succès de curiosité (…)«.106 Als der Tango schließlich populär wurde, hatte mit den danses nouvelles also bereits eine Entwicklung begonnen, die den europäischen Tanzboden grundlegend veränderte. Tanzhistoriker beschrieben diese Veränderungen zur Jahrhundertwende als eine Renaissance der Tanzkunst. Max Rivera, Tanzlehrer und Verfasser einiger wichtiger tanztheoretischer Werke, fasste in seiner Einleitung zu Le Tango et les Danses Nouvelles die Stimmung prägnant in Worte: »Je ne crois pas qu’à aucune époque la danse ait connu dans le monde une vogue aussi extraordinaire que celle dont elle jouit auprès de nos contemporains. Il n’est pas rare de voir dans les salons les plus fermés et les plus sévères, voir même dans les salons du faubourg Saint-Germain, des gens d’un certain âge s’interesser à la danse, discuter sérieusement des questions choréographiques qui eussent semblé parfaitement futiles il y a seulement une dizaine d’années.«107 105 Schär, hat die US -amerikanischen Tänze diesbzüglich unter die Kategorien Platztänze und Bewegungstänze/Schiebetänze eingeordnet. S. 77. 106 Excelsior, 30.1.1913. 107 Rivera, Le Tango et les Danses Nouvelles, S. 5.

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Abb. 1: Georges Léonnec, C’est la danse nouvelle, mademoiselle, in: La Vie Parisienne, Nr. 8 (1912), abgedruckt in: F. W. Koebner, Das Neue Tanz-Brevier, Berlin 1920.

Die meisten Autoren, die den Tanz in diesen ersten Jahren des neuen Jahrhunderts beschrieben, wählten ein solches Vokabular. Aus einem »langen Schlaf« sei der Tanz zu Beginn des 20. Jahrhunderts erwacht, konstatierte auch Jacques Boulenger 1920 rückblickend, als sein grundlegendes Werk zur Tanzgeschichte unter dem Titel De la Valse au Tango in Paris erschien.108 Man stilisierte den Tango zu einer vollkommen neuen kulturellen Erfahrung, die dem Zeitgefühl einer neuen Epoche Ausdruck zu geben vermochte. Der Tanzkunst kam damit eine neue Bedeutung zu, die bisherige Tanzkunst erschien als defizitär und unzeitgemäß.109 In der Argumentation dieser Autoren folgte der Begeisterung für die Polka, die nun schon fast ein halbes Jahrhundert zurücklag, eine Tanzmüdigkeit, welche aus einem immer gleichbleibenden Angebot an Tänzen resultierte. Angesichts eines internationalen Programms auf den Bühnen der Music Halls entstand das Bedürfnis, auch den Gesellschaftstanz einer internationalen Unterhaltungskultur in Paris anzupassen. Insofern war das Interesse an den neuen Tänzen groß. Die danses nouvelles füllten eine Lücke und ließen das Interesse am Tanz wieder aufleben. Sie lieferten ein neues Spektrum innerhalb eines international gewordenen Angebotes, auf das man gewinnbringend zugreifen konnte. 108 Jacques Boulenger, De la Valse au Tango, Paris 1920, S. 74. 109 Georges Montorgueil, Paris dansant, Paris 1898, S. 39/40.

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2.2 Französische Tanzlehrer vor neuen Herausforderungen: Die »Académie Internationale des Auteurs, Maîtres et Professeurs de Danse et Maintien« »›Tanguez-vous?‹ C’est la question qui s’est posée dans les bals, cet hiver, d’abord un peu timidement, avec un sourire qui excusait d’avance la réponse négative, puis, d’un ton plus assuré et n’admettant pas de défaite, comme si l’on s’informait de la chose la plus naturelle du monde.«110 Tango tanzen zu können war, glaubt man den Zeitschriften des eleganten Pariser Lebens, nicht nur »en vogue«, sondern gehörte zu den erforderlichen Kompetenzen für die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben. »La première préoccupation des femmes élégantes qui se sont dernièrement réinstallées à Paris, est d’aller apprendre, chez un professeur renommé, les danses auxquelles on donne les noms les plus bizarres et les moins poétiques«111, verwies eine Modezeitschrift diesbezüglich auf den hohen Bedarf an Tanzunterricht. Die Tango­ euphorie in Paris rief daher vor allem eines hervor: die Nachfrage nach Tanzlehrern, Tanzschulen und Tanzlehrwerken. Das Geschäft mit dem Tango florierte. Gesellschaftstänze mussten gelehrt und gelernt werden und dazu bedurfte es professioneller Anleitung. Tanzlehrer traten daher in doppelter Hinsicht als Akteure bei der Einführung und der Etablierung des Tango auf. Zum einen oblag ihnen die Aufgabe, den Tango zu unterrichten. Damit verbunden war zwangsläufig die Formung des Tanzes, eine Vereinheitlichung der Choreographie sowie eine schriftliche Fixierung der Schrittabfolge und der Körperhaltung. Zum anderen, und für diesen Untersuchungskontext von viel größerer Bedeutung, oblag den Tanzlehrern die Bewertung des Tango. Kaum eine andere Gruppe konnte sich in dieser Weise die Kompetenz anmaßen, über den Wert des neuen Tanzes zu urteilen. Die öffentlichen Äußerungen der Tanzlehrer prägten die Wahrnehmung des Tango und veränderten seine Bedeutung. Die Tanzlehrer agierten somit nicht nur als Mittler bei der professionellen Weitergabe des Tanzes, sondern sie stellten das gesellschaftliche Bindeglied zwischen dem neuen Modephänomen und dem Publikum her. Sie waren aktiv an der Integration des Tango in die Vergnügungskultur der Stadt und an seiner Aufnahme in das Repertoire der 110 La Leçon de Tango, L’Illustration, 29.3.1913. 111 Comtesse Eliane, La Vie Mondaine, L’Art et la Mode. Journal de la Vie Mondaine, Nr. 46 (1913), S. 1126/1127.

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Gesellschaftstänze beteiligt. Ihnen oblag keine geringere Rolle als die Frage danach, ob der Transfer des Tango aus Buenos Aires gelingen konnte. Als Akteure sind die Tanzlehrer daher von entscheidender Bedeutung. Ihr Wirkungsfeld ist zu rekonstruieren, um solche Aushandlungen kultureller Veränderungen historisch greifbar zu machen. Nachzuvollziehen ist die öffentliche Artikulation einer großen Gruppe von Tanzlehrern anhand eines institutionellen Zusammenschlusses: der »Académie internationale des Auteurs, Maîtres et Professeurs de Danse et Maintien« (A. I. D.) und deren seit 1905 erscheinendem Vereinsorgan, der Zeitschrift Journal de la Danse et du Bon Ton.112 Die A. I. D. war 1901 mit Sitz in Paris gegründet worden. Sie verstand sich als einziger offiziell anerkannter Dachverband für Tanzlehrer aus ganz Frankreich und als wichtige Organisation für Tanzlehrer aus der ganzen Welt. 1910 zählte der Verband 165 Mitglieder. Die meisten von ihnen lebten in westeuropäischen Ländern, jedoch fanden sich darunter auch drei Lehrer aus Buenos Aires und einzelne weitere aus Russland, Ägypten, Australien und den USA .113 Aufnahme als aktives Mitglied konnten nur diejenigen Tanzlehrer finden, die vor einem einmal im Monat tagenden Prüfungsausschuss ein Examen abgelegt hatten. Ohne eine solche Prüfung war lediglich eine passive Ehrenmitgliedschaft möglich. Bei einer Umfrage 1913 konnten über 3000 mit der A. I. D. assoziierte Tanzlehrer befragt werden.114 Gründer, Präsident und Herausgeber der Zeitschrift und prägende Figur der A. I. D. war Eugène Giraudet. Bereits 1886 hatte er eine eigene Tanzschule »Cours de Danse G ­ iraudet« gegründet, die bis 1910 bereits knapp 500 Schüler internationaler Herkunft zu Tanz­ lehrern ausgebildet hatte. Bis 1914 veröffentlichte Giraudet circa 15 Werke zum Thema Tanz, darunter eine »Encyclopédie de la Danse« in 24 Bänden sowie mehrere Lehrbücher. Von Seiten der A. I. D. schrieb man ihm die Kreation von 361 Tänzen zu.115 Anhand der Zeitschrift »Journal de la Danse et du Bon Ton« können die Verhandlungen der Tanzlehrer in Paris über die Entwicklung des Gesellschaftstanzes und konkret über die Beurtei112 Journal de la Danse et du Bon Ton. Journal officiel de L’Académie Internationale des Auteurs, Professeurs, Maîtres de Danse et Maintien. Directeur-Rédaction en chef: E. Giraudet. Nr. 1–260. Paris, 1905–1914. (Im Folgenden Journal de la Danse). 113 Eine vollständige Liste der Mitglieder 1910 findet sich in: Journal de la Danse, Nr. 151–170 (1910), S. 2619–2622. 114 Vgl. Journal de la Danse, Nr. 231–240 (1913), S. 3996. 115 Biographische und bibliographische Angaben zu Eugène Giraudet in: Journal de la Danse, Nr. 251–260 (1914), S. 4255. Vgl. außerdem: Hess, Der Walzer, S. 246 ff.

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lung des Tango nachvollzogen werden. Die A. I. D. veröffentlichte im J­ ournal de la Danse die Ergebnisse der monatlichen Vereinstreffen, darunter Listen mit neuen anerkannten oder abgelehnten Tänzen sowie Tanzlehrern und Tanzschulen, die der Académie angehörten. Darüberhinaus wandte sich die A. I. D. häufig mit Stellungnahmen oder Werbung an die Presse, um ihren öffentlichen Einfluss zu erhöhen. Dieses Kapitel zeigt erstens das Agieren der Tanzlehrer der A. I. D. in Paris. Durch das Einwirken dieser Akteure und den Prozess der Aneignung veränderte sich der Tango und nahm eine neue spezifische Gestalt an, die sich nicht mehr in Bezug auf ein vermeintliches argentinisches Original, sondern nur noch in Abhängigkeit zum französischen Rezeptionskontext erklärte. Zweitens ist dieses Agieren der Tanzlehrer als ein Versuch der Steuerung und der Kontrolle zu begreifen. Der Beruf des Tanzlehrers, sein Aufgabenbereich und sein Selbstverständnis standen vor neuen Herausforderungen. Vor dem Hintergrund der Erfahrung der Welt in der Stadt musste mit den neuen Tänzen ein Umgang gefunden werden. Damit standen die Tanzlehrer vor zweierlei Aufgaben: Ihrer Profession entsprechend mussten sie den neuen Tanz unterrichten, denn ein Ignorieren des neuen Modetanzes wäre ökonomisch widersinnig gewesen. Darüber hinaus sahen sie es jedoch als ihre Aufgabe an, Stellung zu beziehen und aus der eigenen professionellen Position ­heraus den Tanz zu bewerten. Die Frage, ob sich dieser Tanz in das französische­ Repertoire integrieren ließe, hing zu einem wesentlichen Teil von der Entscheidung der Tanzlehrer ab. Zu fragen ist daher, in welcher Absicht, mit­ welchen Argumenten und in welche Richtung die Tanzlehrer den Transfer des Tango zu steuern und zu kontrollieren beabsichtigten. Es soll also im Folgenden darum gehen, die Argumentationen und den Versuch der Einflussnahme der Tanzlehrer zu analysieren und deren Wirkung auf den Tango nachzuvollziehen.

2.3 Der argentinische Tango wird französisch Auf dem Weg von Buenos Aires nach Paris war lediglich ein auf Improvi­ sation beruhender Tanz und die dazugehörende Musik transferiert worden, nicht jedoch eine festgelegte Definition darüber, was Tango sei, und wie man ihn zu tanzen habe. Eine solche Choreographie fehlte in diesen Jahren selbst noch in Buenos Aires. Pragmatisch mussten sich die Tanzlehrer in­ Paris demnach zunächst darauf verständigen, wie man den Tanz unterrich-

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ten wollte. Es bedurfte also einer Vereinheitlichung und der Niederschrift einer verbindlichen Choreographie. Jedoch, so stellte Giraudet fest, »nous avons, il est vrai, autant de Tangos que de professeurs (…)«.116 Unter der Überschrift »Tango Parisien. Démonstration complète« veröffentlichte ­Eugène­ Giraudet zu Beginn des Jahres 1914 im Journal de la Danse eine zwölf­seitige Choreo­graphie des Tango, mit einer detaillierten Schrittanleitung, wie es zum schnellen Erlernen im Selbstunterricht und in der Kommunikation unter Tanzlehrern üblich war.117 Giraudet verfolgte mit diesem Vorhaben das Ziel, eine anerkannte Choreographie festzulegen, die in Zukunft allgemeine Gültigkeit haben sollte. Doch auch wenn Giraudet als Präsident des französischen Dachverbandes eine gewisse Autorität zuzu­gestehen war, gab es viele Tanzlehrer, die mit dieser Argumentation für sich Werbung zu machen suchten. Auch der Tanzlehrer L. Robert, einst Giraudets Schüler, hatte bereits 1911 behauptet, den Tango »kreiert« zu haben und der einzige Lehrer in Paris zu sein, der den »Tango Argentin« unterrichtete. Seine ­»Académie de Danse Mondain« galt derzeit als eine der bekanntesten und luxuriösesten von Paris. Mehrere Tageszeitungen berichteten zeitgleich von Roberts Tango­ kreation, die exklusiv bei ihm zu erlernen sei. Als ­»createur« des Tango, wie Robert in den meisten Berichten bezeichnet wurde, warb er für den Tango mit den Worten: »C’est une danse gracieuse, onduleuse, dit-il, et très convenable, ce qui nous changera nos pas trop ­réalistes. (…) Vous verrez que le tango argentin va conquérir Paris.«118 Etwa zur selben Zeit war Robert mit der berühmten Music Hall Künstlerin Mistinguett Tango tanzend in der Tages­ zeitung Excelsior abgebildet.119 Die Popularität des Tango und die zunehmende Anzahl unterschiedlicher Tangochoreographien, die zwischen 1911 und 1914 in Paris zirkulierten, lässt sich im Journal de la Danse nachvoll­ ziehen. Auf einer Liste der anerkannten Tänze, die die Académie 1912 ver­ öffentlichte, befanden sich unter 67 Tänzen auch sechs Tangos.120 Alle Tänze erschienen mit ausführlichen Angaben zu Autor und Komponist, dem geeigneten Tanzort und einer einseitigen Kurzchoreographie. Unter den sechs 116 Journal de la Danse, Nr. 241–250 (1914), S. 4122. 117 Ebd., S. 4122. 118 Voyez comme on danse…, Paris-Journal, 11.1.1911. (Desweiteren berichteten: Le­ Soleil, 12.1.1911. Le Siècle, 13.1.1911, La Patrie, 11.1.1911, Gil Blas, 10.1.1911, Le Figaro, 10.1.1911, Excelsior, 30.1.1913). 119 Photographie von Henri Manuel: Les danses à la mode nous viennent d’Amérique, Excelsior, 30.1.1913. 120 Journal de la Danse, Nr. 211–220 (1912), S. 3737 ff.

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Tangos waren vier eindeutig französischen Autoren zugeordnet, drei Girau­ det und einer Robert. Außerdem unterschied man zwischen verschiedenen Tanzgelegenheiten: Es gab »Tango des bals publics de Paris«, »Tango à la mode dans les Casinos balnéaires« und »Tango de Salon«. Es existierten also unterschiedliche, von der A. I. D. anerkannte Choreographien, entsprechend der sozialen Zuordnung der Tanzlokalitäten. Eine solche soziale Klassifizierung hatte sich bereits in einer früheren Ausgabe des Journals abgezeichnet, in der auf der jährlichen internationalen Tagung der Tanzlehrer sechs Klassen von Tanzkunst je nach ihrem künstlerischen Wert festgelegt worden waren.121 Während in der ersten Klasse die »art choréographique theâtral pur« logierte, in der zweiten Klasse die Salontänze und in der dritten und vierten Klasse die »danses de familles« und die »danses militaires«, ordnete sich der Tango lediglich in die fünfte Klasse, unter der Kategorie »choréographie fantaisiste des concerts Music Halls, cirques et cafés de nuit« ein, in die vorletzte Kategorie also, der nur noch die einfachen Tanzvergnügen der städtischen Unterschichten folgten. Dies zeigte, dass der Tango noch weit davon entfernt war, zu einem anerkannten Gesellschaftstanz zu werden, und verdeutlichte seine Nähe zum kommerziellen Showgewerbe der Music Halls viel mehr als zum Gesellschaftstanz der höheren bürgerlichen Schichten. Dementsprechend wies eine kurze Einleitung bei der Beschreibung des »Tango de Salon« darauf hin, »quoique très en faveur en ce moment le Tango n’a pas encore eu sont entrée sérieuse dans les familles, car son laisser aller ne lui a pas encore permis d’en faire une danse de salon.«122 Was man an diesem breiten Spektrum unterschiedlichster Tangochoreographien erkennen konnte, war vor allem eines: Der Tango hatte sich vervielfältigt. Unabhängig davon, ob es jemals einen Originaltango gegeben hatte, beanspruchten nun viele Tanzlehrer die Erfinder des Tanzes zu sein oder diesem seine endgültige Gestalt gegeben zu haben. Es gab also eine Vielzahl von Tangochoreographien von unterschiedlichen Autoren, die sich wiederum an ein sozial differenziertes Publikum richteten. Eine solche Personalisierung und Individualisierung von Tänzen bzw. die Bindung an einen Autor war nicht nur für den Tango spezifisch. Die Verfeinerung und Weiterentwicklung der Tänze gehörte von jeher zu den Aufgaben eines Tanzlehrers. Neuschöpfungen wurden auf jährlich stattfindenden Tanzmeisterbällen vorgetragen.123 Die Vervielfältigung 121 Journal de la Danse, Nr. 211–220 (1912), S. 3845 ff. 122 Ebd., S. 3848. 123 Fink, S. 176.

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von Tänzen war daher eher Normalität, denn kleine Veränderungen in der Choreographie führten zu einer Umbenennung des Tanzes unter dem Namen des entsprechenden Autors. Giraudet etwa notierte in seiner »Encyclopédie de la Danse« annähernd 800 Tänze, von denen er für 351 (sic!) selbst als Urheber fungierte.124 Obwohl die argentinische Herkunft des Tango nie geleugnet wurde, fungierten als Autoren in Frankreich vor allem anerkannte französische Tanzlehrer. Lediglich einige bekannt gewordene argentinische Tänzer, wie Roberto Bayo und Bernabé Simarra wurden bei Giraudet als Autoren erwähnt, die den Tango beeinflusst hätten.125 Als Musiker und Komponisten erschienen in der Zeitschrift nur einige wenige argentinische Autoren, unter ihnen mit einer einzigen Nennung der damals bekannteste argentinische Komponist Alfredo Gobbi. Im Gegenteil ist es bemerkenswert, dass die mit der A. I. D. assoziierten argentinischen und südamerikanischen Tanzlehrer nicht in Zusammenhang mit dem Tango erwähnt wurden. Das Bild, welches die A. I. D. damit konstruierte, war das einer vornehmlich französisch geprägten Urheberschaft und Ausformung des Tanzes, hinter der das argen­ tinische Original zurücktrat. Die Präsenz des Tango an unterschiedlichen sozialen Orten bzw. die Zuweisung zu solchen Orten durch die Tanzlehrer, verwies auf deren Eingreifen in die gesellschaftliche Konnotierung des Tanzes. Die Festlegung einer Choreographie unter französischer Direktive wurde als »Reinigung« begriffen, die den ursprünglichen »Vorstadttango« aufwerten sollte. Einigkeit bestand darüber, dass der Tango in seiner angenommenen ursprünglichen Form nicht für den französischen Salon geeignet sei. Max Rivera äußerte sich hierzu: »Il était indispensable de modifier les pas populaires que l’on danse en Argentine et de donner à la danse un caractère moins e­ xcessif, plus mondain.«126 Rivera ging konsequenterweise sogar soweit zu behaupten, die französische bereinigte Form und der »ursprüngliche« argentinische Tango hätten nichts miteinander gemeinsam. »(…) la danse que l’on­ pratique en Europe n’a qu’une assez lointaine ressemblance avec les tangos que l’on exécute dans l’Amérique du Sud«.127 Die Veränderungen des Tango gingen damit über die bloße Anpassung der Choreographie nach französischen Maßstäben hinaus. Die Aneignung des Tango modifizierte nicht nur 124 Journal de la Danse, Nr. 251–260 (1914), S. 4245. 125 Journal de la Danse, Nr. 241–250 (1914), S. 4122. 126 Rivera, Le Tango et les Danses Nouvelles, S. 19. 127 Ebd., S. 19.

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dessen Form, sondern ebenso die Herkunft des Tanzes, die von den französischen Bedeutungszuschreibungen überlagert wurde. In dieser Hinsicht war bereits damals die Rede von einem original tango argentino in Paris nicht mehr möglich. Aus dem Tango wurde ein französischer Tanz, der sowohl in seiner Form, als auch in seinen Bedeutungszuschreibungen an den Rezeptions­kontext angepasst worden war. Auf europäischem Niveau nahm die A. I. D. für sich in Anspruch, Entscheidungen von internationaler Reichweite zu treffen. Ein erster internationaler Tanzkongress, auf dem sich delegierte Tanzlehrer aus über 28 Ländern getroffen hatten, hatte in dieser Absicht bereits 1891 stattgefunden.128 1907 hatte der französische Tanzlehrer Camille de Rhynal ein internationales Tanzturnier in Nizza organisiert. Auf den regelmäßig stattfindenden Konferenzen berichteten Tanzlehrer über Entwicklungen in ihren Ländern, diskutierten richtungsweisend zukünftige Regelungen und veröffentlichten Listen mit anerkannten und abgelehnten Tänzen. Auf diese Weise setzte sich letztendlich auch eine einheitliche Choreographie für den Tango auf europäischer Ebene durch, die auf internationalen Tanzturnieren ausprobiert wurde.129 Um solche Wettbewerbe zu veranstalten, brauchte man schließlich klare Regeln, eine feste Choreographie und geeignete Bewertungsstrukturen. Die Teilnehmer, meist selbst Tanzlehrer mit ihren Partnerinnen, führten eine standardisierte Form des Tango vor, die sich von dem auf Im­provisation beruhenden argentinischen Original entfernt hatte. Bereits 1913 war die Veränderung des Tango in Paris damit soweit fortgeschritten, dass André de Fouquières dazu bemerkte: »(…) les délégués argentins qui­ visitèrent Paris, il y a quelques semaines, trouvèrent des traces de leur danse nationale dans le tango français.«130 Und so musste dann auch E ­ nrique­ Larreta, argentinischer Botschafter in Paris, in einem Interview mit dem Journal de la Danse anerkennen: »Toutefois (…) je dois reconnaître, qu’en passant ­l ’Atlantique, notre tango s’est civilisé, adapté – et puis, il y a la grâce in­comparable des Parisiennes qui transfigure tout ce qu’elles font …«131

128 Desrat, Dictionnaire de la Danse, S. 94. (Es folgten weitere internationale Kongresse, 1893 in Boston und 1894 in Berlin). 129 Ende der 1920er Jahre erfolgte nach englischem Vorbild die Festlegung einer Tangochoreographie, die in dieser Form für die nächsten 50 Jahre ihre internationale Gültigkeit behielt. Vgl. Elsner, S. 393. Siehe Richardson. 130 André de Fouquières, Les Danses Nouvelles, Le Tango, Femina, Nr. 289 (1913), S. 58. 131 Enrique Larreta, Journal de la Danse, Nr. 251–260 (1914), S. 4320.

Tanzlehrer in Paris

2.4 Französische Tanzkunst in der internationalen Konkurrenz Die französischen Tanzlehrer reagierten also mit diesen praktischen und professionellen Schritten auf die Herausforderungen, der sie sich durch die Anwesenheit der neuen Tänze gestellt sahen. Die meisten Tanz­lehrer in­ Paris, und mit ihnen die Tanztheoretiker und Tänzer, sahen in den neuen Tänzen nicht nur eine professionelle Aufgabe, sondern auch eine kommerzielle Notwendigkeit, denn wer die neuen Modetänze nicht unter­richtete,­ geriet auf jeden Fall in Nachteil. Das Repertoire der bis zum Ende des 19. Jahrhunderts europäisch geprägten Gesellschaftstänze hatte sich mit den danses nouvelles erweitert. Zeitgleich erreichten damit auch Künstler, Tänzer und Tanzlehrer Paris, die für die französischen Tanzlehrer eine Konkurrenz darstellten. Eine internationale Unterhaltungskultur und mit ihr die Anwesenheit von Künstlerinnen und Künstlern auf den Bühnen der­ Music Halls, die die neuen Tänze einführten und damit den Erfahrungshorizont des Publikums erweiterten, war zu einer Herausforderung für die Tanz­lehrer geworden, der man sich stellen musste, wollte man mit der eigenen Kompetenz nicht als defizitär gelten. »Les professionnels ne lancent pas toujours la mode, très souvent, le public la leur impose, et ils doivent se soumettre à sa volonté. Ils s’agissait de danses nouvelles qui marquèrent le début de la saison.«132 Längst, so konnte man aus diesen Schilderungen eines fran­ösischen Tanzlehrers lesen, hatten die Tanzlehrer ihr Monopol in der Einführung neuer Tänze und der Bestimmung der Stilrichtungen verloren. Es galt also, sich den neuen Herausforderungen durch andere Akteure zu stellen. Der Tango wurde von den meisten Tanzlehrern als komplexer und schwierig zu erlernender Tanz beschrieben. Max Rivera formulierte dies besonders nachdrücklich: »La quantité de figures, la réelle difficulté de cette danse qui demande une sensibilité spéciale, outre les qualités naturelles de souplesse et de plastique, tout cela fait qu’un petit nombre de per­sonnes­ arrivent seulement à la danser décemment. (…) Et c’est l’art du professeur de rendre claire et de simplifier la mécanique des pas.«133 Vielmehr als auf die tatsächlichen Schwierigkeiten, den Tango zu erlernen, deuteten solche Formulierungen auf das Taktieren der Tanzlehrer hin, ihre Dienste unentbehrlich zu machen. Wer sich glücklich schätzen wollte, zu der kleinen Anzahl an Personen zu gehören, die den Tango wirklich tanzen konnte, sollte 132 Le Tango Argentin, La Liberté, 11.1.1911. 133 Rivera, Le Tango et les Danses Nouvelles, S. 13.

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auf professionellen Unterricht zurückgreifen. Als besondere Konkurrenz wurden in dieser Hinsicht die argentinischen Tanzlehrer betrachtet, die ihr Auskommen in Paris dadurch suchten, dass sie als »authentische« Tanz­ lehrer besonders gefragt waren. Die vermeintliche Authentizität der argentinischen Tanzlehrer brachte diesen einen erheblichen Marktvorteil ein.134 In den Zeitschriften fanden sich dazu Ratschläge von Frauen, die den besten argentinischen Tangolehrer von Paris empfahlen: »Je me suis fait montrer le vrai, le seul, par un Argentin qui a des sourcils bleus, des joues vertres, et qui danse avec des éperons larges comme des soucoupes. Voilà un homme qui tangue, à la bonne heure!«135 Das Pendant zu diesen Artikeln fand sich in Schilderungen von Männern, die das angeblich unmoralische Verhalten vieler dieser Tanzlehrer anprangerten und darüber hinaus sehr deutlich den Verlust des eigenen Status’ gegenüber den vermeintlich attraktiveren Argentiniern beklagten.136 Bald setzte sich dadurch in der französischen Presse das Bild des nach Gewinn strebenden betrügerischen argentinischen Tangolehrers durch, der ausschließlich aufgrund seiner Herkunft, und nicht aufgrund seines Könnens erfolgreich war. Humorvoll und doch despektierlich schrieb man daher über die Argentinier in Paris: »Les uns sont professeurs de tango, les autres sont millionnaires. Quelques mois après, ils ont échangé leurs rôles: les professeurs de tango ont gagné le million et les millionnaires, ruinés, sont devenus professeurs de tango.«137 In dieser Situation gab es auch unter den französischen Tanzlehrern Skeptiker. Einige von ihnen sahen sich durch die neuen Tänze und die Präsenz der argentinischen Tanzlehrer in ihrer traditionellen Stellung verunsichert. Unter der Überschrift »Hommage aux danses mortes« befasste sich ein solcher Tanzlehrer mit den Veränderungen und verwies vor allem auf die entscheidende Rolle, die Frankreich für die Entwicklung des Tanzes bisher gespielt hatte. Aus der Perspektive eines alternden Tanzmeisters, der feststellen muss, dass er nur noch »tote Tänze« unterrichtete, hieß es: »Hélas! que j’en ai vu mourir, de danses qui se croyaient vivantes, et que nous a­ vions naturalisées! La polka, venue de Bohème, et la Scottish, venue d’Ecosse, et la Mazurka, venue de Pologne. (…) Depuis l’invasion du Cake134 Zur Rolle der argentinischen Tanzlehrer siehe auch: Humbert, S. 110 ff. 135 Berlitz, Cours supérieur, La Vie Parisienne, Nr. 21 (1913), S. 368/369. 136 Zum Beispiel bei Roger Boutet de Monvel, L’Argentine à Paris, La Vie Parisienne, Nr. 20 (1912), S. 349–353. 137 Timon de Paris, Ce qu’on dit en soupant à Montmartre, La Vie Parisienne, Nr. 52 (1913), S. 928.

Tanzlehrer in Paris

Walk, la danse a cessé d’être européene. Est-ce un progrès? C’est, à coup sur, un changement.«138 Das ganze etablierte Repertoire sei mit der Ankunft der neuen Tänze durcheinander geraten und hatte die europäischen Tänze, die unter französischer Federführung »naturalisiert« worden waren, verdrängt. Skeptisch folgerte der Autor aus einer solchen Entwicklung: »Mais faut-il aller mendier des exemples de l’autre côté de l’Atlantique? Les Français n’étaient-ils pas, naguère, les législateurs de la danse? Nous imposions des principes de sobre élégance au monde entier.« Zum einen argumentierte man hier im Namen der französischen Tanzlehrerschaft, die ihre Stellung behaupten musste. Zum anderen ging es jedoch vielen Tanzlehrern nicht nur um das eigene Berufsfeld, sondern um die französische Tanzkunst, deren Erhalt sie als ihre nationale Aufgabe betrachteten. Fragt man daher nach den Gründen für das Eingreifen der Tanzlehrer, so standen An­ eignung und Umformung des Tango im Spannungsfeld zwischen einer Nationalisierung des Tanzes Ende des 19. Jahrhunderts und der gleichzeitigen Transnationalisierung der urbanen Unterhaltungskultur. Letztendlich ging es nicht nur um die Stellung der Tanzlehrer in Paris, sondern um eine dezidiert französische Tanzkunst, die man in einem solchen Kontext zu positionieren versuchte. Auch Giraudet forderte in diesem Sinne immer wieder die Anerkennung der nationalen Bedeutung des Tanzes für die Erziehung der Jugend. 1912 veröffentlichte das Journal de la Danse unter der Überschrift »Les Meilleures Sources Terpsichoriennes« eine Rangliste zur Bewertung der Tanzkunst in unterschiedlichen Ländern. Auf den ersten beiden Plätzen fanden sich Italien und England, wobei das eine für seinen Sinn für Schönheit, das andere für seine Disziplin gelobt wurde. Frankreich rangierte mit folgender Bemerkung auf Platz 3: »Si nous sommes tombés au troisième rang, ce n’est pas par manque de qualités et de compétences, mais par faute­ d’encouragements. Il est à prévoir que nous descendrons encore de plusieurs classes si nous n’avons pas un ministre des beaux-arts qui comprenne que l’excercise de la danse est un art véritable qui a le droit de bénéficier d’une part de son budget. L’art choréographique est, de plus, conforme à l’hygiène et salutaire à la nation.«139 Aus diesem Kommentar sprach das Ringen um die gesellschaftliche Wertschätzung des Tanzes innerhalb einer internationalen Konkurrenzsituation im Vergleich und in Abgrenzung zu ande138 Henry Roujon, Hommage aux danses mortes, Femina, Nr. 294 (1913), S. 206/207. 139 Journal de la Danse, Nr. 201–210 (1912), S. 3662.

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ren Ländern. Die französische Tanzkunst, so wurde hier zum wiederholten Male deutlich, wollte sich ihre führende Rolle sichern. Der Gesellschaftstanz stand genauso wie der aufkommende Wettkampfsport im Zeichen einer diskursiven Verbindung von Körper und Nation.140 In dieser Hinsicht erfolgte eine Neubewertung des Tanzes, der nun nicht mehr auf seine Rolle innerhalb der bürgerlichen Kommunikation und Gesellschaftsformen beschränkt blieb, sondern zur nationalen Aufgabe wurde. Während sich daraus zwischen den europäischen Nationen eine Konkurrenzsituation ergab, blieb die kulturelle Hierarchie gegenüber den Kulturen Außereuropas auch hinsichtlich der Tanzkunst erhalten. An vorletzter Stelle der Rangliste, auf Rang 9, zusammengefasst unter »Amériques« fanden sich folglich die beiden Amerikas, deren Tänze keine Wertschätzung erfuhren. »Avec les Améri­ cains nous tombons dans les danses excentriques et épileptiques: elles sont en opposition formelle avec la fragilité feminine. Le cake-walk, la gigue, le tango sont plutôt à dédaigner; ce ne sont en réalité que des courses échevelées desquelles ne peut jamais sortir un charme quelconque.«141 Diese generell negative Einordnung aller neuen Tänze zeigte, dass man bei der Bewertung des Tango sowie der anderen danses nouvelles eine kulturelle Hierarchie innerhalb eines imperialen Kontextes aufrechterhielt. Die Erarbeitung einer Tangochoreographie und die Tangokreationen französischer Tanzlehrer auf der einen Seite bedeuteten auf der anderen Seite keinesfalls, dass die transatlantischen Tänze auf eine Stufe mit der europäischen Kultur gehoben wurden. An letzter Stelle folgte in dieser Rangliste daher auch lediglich die Kategorie »Océanie«, deren Kultur auf eine koloniale englische Prägung reduziert wurde. Auf dem letzten internationalen Zusammentreffen der Tanzlehrer vor Beginn des Ersten Weltkrieges verschärfte sich daher auch die Bewertung gegenüber den neuen Modetänzen. Während sich der One Step und der Two Step als Gesellschaftstänze in ein anerkanntes Repertoire integrierten, hieß es über die exzentrischen Tiertänze und auch über den Tango: »Les Danses Exclues sont: Le Pas de l’Ours, le Turkey Trot, le Tango, qui nous viennent des bouges argentins et espagnols.«142 Trotz der Formung durch die französischen Tanzlehrer und einer zunehmend geregelten Choreographie, war der Weg des Tango hin zu einem wirklich anerkannten Gesellschaftstanz 140 Vgl. Baxmann, S. 181. 141 Journal de la Danse, Nr. 201–210 (1912), S. 3668. 142 Journal de la Danse, Nr. 251–260 (1914), S. 4250.

Tanzlehrer in Paris

1914 noch weit. Die Eingliederung in das Repertoire der Standardtänze erfolgte erst in den 1920er Jahren. Zeitgleich zu den praktischen Prozessen der Aneignung des Tango im Zuge der Anpassung an die Notwendigkeiten einer städtischen Unterhaltungskultur, in der man konkurrenzfähig bleiben musste, fand daher weiterhin auch seine Ausgrenzung aus einem so definierten europäischen Repertoire statt. Die Gruppe der Tanzlehrer war eine der ersten in Paris, die mit dem Tango als neuem Modetanz in Berührung kam und einen sehr direkten Einfluss auf die weitere Entwicklung des Tanzes ausübte. Anhand der Veränderungen, die der Tanz dadurch durchlief, konnte aufgezeigt werden, in welcher Weise ein kulturelles Phänomen dem Aufnahmekontext angepasst wurde, sodass ein zuvor angenommenes Original in einem solchen Prozess verschwand. Das Beispiel der Tanzlehrer zeigt, dass es möglich ist, für eine solche Veränderung von Kultur konkrete Akteure aufzuzeigen und deren Handlungen sowie auch die dahinterstehenden Absichten und Argumentationen transparent zu machen. Die Ziele der Tanzlehrer standen in einem engen Zusammenhang mit­ ihren Erfahrungen in der Großstadt. Der Beruf des Tanzlehrers war in Veränderung begriffen und stand vor neuen Herausforderungen. Insgesamt ist bei den französischen Tanzlehrern, geprägt durch die Linie Giraudets, eine starke Pragmatik im Umgang mit dem Tango und der selbstbewusste Glaube an den Fortbestand einer französischen Vorherrschaft in der Tanzkunst festzustellen. Ihre Motivation resultierte aus der Wahrnehmung von Veränderungen. So gut es ging versuchten die französischen Tanzlehrer die neuen Tänze unter Kontrolle zu halten und zu steuern. Dahinter verbarg sich die Auffassung, dass die eigene Position machtvoll genug sei, um über Integration oder Ablehnung des Tango entscheiden zu können. Die Argen­ tinier selbst waren an diesem Prozess kaum beteiligt. Das Transferobjekt hatte sich von seinen ersten Mittlern gelöst und war von den französischen Tanzlehrern vereinnahmt worden. Die Veränderungen der populären Kultur nahm man pragmatisch an und stellte sich der Herausforderung, indem man den Tango als Tanz nach französischen Maßstäben zurecht bog. Die französische Tanzkunst wollte stilbildend bleiben und musste sich in Konkurrenz zu anderen euro­ päischen Nationen behaupten. Die französischen Tanzlehrer beanspruchten auf europäischer Ebene, die Entwicklung zu dominieren. Aus einem selbstbewussten Verständnis heraus verstand sich die A. I. D. als internationale Plattform unter französischer Vorrangstellung. Der gelungene Trans-

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fer des Tango verdankte sich in entscheidendem Maße der A. I. D., die mit­ Giraudet die Integration der Tänze vorantrieb und dabei vor allem mit der stilbildenden Verantwortung und der kulturellen Führungsposition Frankreichs argumentierte.

3.

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3.1 Die »argentinische Kolonie« in Paris: Zeitschriftenlandschaft und gesellschaftliche Aktivitäten Nicht erst mit der Ankunft des Tango in Europa verknüpfte sich die Geschichte Argentiniens eng mit Frankreich. Bereits die Ideen der europäischen Aufklärung waren im 18. Jahrhundert in Lateinamerika auf fruchtbaren Boden gefallen. Frankreich wurde für viele lateinamerikanische Länder zum positiven Gegenbild der spanischen Metropole, von der sich die Kolonien zu distanzieren suchten. Unter dem Eindruck der Französischen Revolution und in Folge der napoleonischen Kriege, die Spanien geschwächt hatten, erklärte Argentinien am 25. Mai 1810 seine Unabhängigkeit.143 In einer Formation, die in den folgenden Jahrzehnten von Auseinandersetzungen um die Machtinteressen der Regionen geprägt war, ehe sich der argentinische Staat in seiner heutigen Form konsolidierte, bildete Buenos Aires das politische und wirtschaftliche Zentrum. Reisen und längere Aufenthalte in Europa wurden für die geistige Elite Argentiniens ein unerlässlicher Bestandteil der Bildung  – Paris blieb dabei das erste Ziel.144 Diejenigen Argentinier, die Frankreich bereist und dort studiert hatten, wurden zu Kulturmittlern philosophischer, künstlerischer und literarischer Strömungen, die die Entwicklung der kulturellen und wissenschaftlichen Landschaft Argentiniens be­einflussten.145 Die kulturelle Affinität zu Frankreich zeigte sich unter anderem deutlich an der Adaption der französischen Sprache, die im 19. Jahrhundert in Argentinien vor allem zur Literatursprache wurde. Bei der Erzie143 Zunächst handelte es sich dabei um die Absetzung des spanischen Vizekönigs Bal­ tasar de Cisnero. Nach einer Serie von Unabhängigkeitskriegen erfolgte die endgültige Unabhängigkeit des 1777 gegründeten Vizekönigreichs Río de la Plata, das die Gebiete des heutigen Argentinien, Uruguay, Bolivien und den Norden von Chile umfasste am 9. Juli 1816. 144 Vgl. Pagni; Jitrik. 145 Hierzu grundlegend Pelosi.

Argentinier in Paris

hung der höheren Söhne und Töchter wurde Französisch als erste Sprache und ein Studienaufenthalt in Paris für die gesellschaftliche Anerkennung unabdingbar. Innerhalb der argentinischen Gesellschaft diente das Französische zur Distinktion gegenüber einer zunehmend als minderwertig empfundenen eigenen spanischsprachigen Landbevölkerung, von der sich die Eliten distanzierten. Um die Jahrhundertwende wurde die Mobilität der Argentinier durch den enormen wirtschaftlichen Aufschwung und Reichtum Argentiniens begünstigt. Das Land zählte zu den größten Getreideexporteuren der Welt, die wirtschaftliche Prosperität, die erst mit dem Börsenzusammenbruch von 1929 ein jähes Ende fand, prägte die Phrase »riche comme un argentin« und das Image von Argentinien als Land der Pampa, der Gauchos und des unermesslichen Reichtums.146 Als Repräsentanten Argentiniens und Lateinamerikas in Europa sah sich die geistige und politische Elite der hispanoamerikanischen Länder, die in Paris ein reges kulturelles Leben unterhielt und gesellschaftlich zu partizipieren strebte. Waren die Bildungsreisen und Studienaufenthalte in ­Paris während des 19.  Jahrhunderts von sporadischer und kurzfristiger Natur geblieben, hatte sich nun eine Gemeinschaft von Latein- und Mittelamerikanern in Paris etabliert, deren kulturelles und politisches Leben sich mehr und mehr vernetzte und institutionalisierte. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte sich in Paris damit eine »hispanoamerikanische Kolonie« heraus­gebildet. Diese Elite, die sich zu großen Teilen aus Literaten, Politikern und Diplomaten sowie aus Journalisten, die als Korrespondenten großer südamerikanischer Zeitungen tätig waren, zusammensetzte, verkehrte in den Salons der französischen Oberschicht und etablierte eigene Orte des gesellschaftlichen Lebens.147 Gegenüber jenen neureichen Argentiniern, die ihr Geld in Paris ausgaben, ohne jedoch wirklich an der französischen Kultur interessiert zu sein, herrschte eine kritische Distanz. Ihr offen zur Schau getragener Wohlstand brachte ihnen auch die abfällige Bezeichnung »­ rastaquouère« ein, was soviel wie Hochstapler bedeutete.148 Von den argentinischen Frankreichreisenden, den »beef barons«, wie sie nun genannt wurden, die sich nur zu ihrem eigenen Vergnügen in der französischen Metropole aufhielten, grenzte man sich ab. Der argentinische Schriftsteller Lucio Vicente López hatte sich bereits in seinen Werken Ende des 19.  Jahrhun146 Carreras u. Potthast, S. 113. 147 Pelosi, S. 44/45. Zur Präsenz von Lateinamerikanern in Paris siehe auch Streckert. 148 Pelosi, S. 27.

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derts literarisch mit dieser Thematik auseinandergesetzt. In seinen Reise­ erinnerungen sprach er von jenen, die über die Städte Europas herfielen und nach Paris führen, ohne ein Wort französisch zu können, nur um ihr Geld auszugeben. López schrieb eine polemische Abrechnung mit den »rastaquouères«, ihr Verhalten war in seinen Augen eine Diffamierung der argentinischen Nationalität.149 Die längerfristige Anwesenheit von Lateinamerikanern in Paris begünstigte gegen Ende des 19.  Jahrhunderts die Gründung von Zeitschriften in spanischer und französischer Sprache, die sich an die Angehörigen der latein­amerikanischen Gemeinschaft in Paris wendeten. Mit diesen Publikationen verband sich jedoch auch die Hoffnung auf Interesse und Anerkennung von Seiten Frankreichs. Der nicaraguanische Dichter, Essayist und Journalist Ruben Darío (1867–1916), der vor dem Ersten Weltkrieg in­ Madrid und Paris lebte, gründete zwei spanischsprachige Kulturzeitschriften: Mundial Magazine und Elegancias.150 Beide erschienen von 1911 bis 1914 monatlich in spanischer Sprache bei Alfred & Armand Guido, einem kleinen Verlag zweier uruguayischer Brüder in Paris, und waren auch in fast allen lateinamerikanischen Ländern sowie in England, Spanien, Deutschland und der Schweiz in Buchhandlungen und großen Hotels erhältlich. Obwohl sich das Mundial Magazine und die Elegancias schon allein aufgrund der Sprache weniger an eine französische Leserschaft richteten, lassen Werbeanzeigen für die beiden lateinamerikanischen Zeitschriften in der französischen Presse durchaus vermuten, dass sich diese Publikationen auch in der französischen Öffentlichkeit bemerkbar machten. Inhaltlich bestand das Mundial Magazine aus einem weiten Spektrum, das von literarischen Essays, Reiseberichten und historischen Abhandlungen der lateinamerikanischen Geschichte bis zu Sportberichten reichte und am Ende stets von einer Seite »Elegancia masculina« abgeschlossen wurde. Die Zeitschrift Elegancias, die mit dem Untertitel »la revista feminina« erschien, stellte das Pendant zum Mundial Magazine dar. Als Illustrierte für die Frau lieferte sie neben kulturellen Artikeln ausführliche Berichte zur 149 Lucio Vicente Lopéz, Recuerdos de viaje, Buenos Aires 1915 [1881], S. 349 und 361. In ähnlicher Weise kritisierte auch Miguel Cané (1851–1905) bei seiner Europareise die lateinamerikanischen Touristen in Europa. Vgl.: Ders., En Viaje, Buenos Aires 1996. [1884]. Siehe auch Pagni, S. 230 ff. 150 Mundial Magazine. Arte, Ciencias, Historia, Teatros, Actualidades, Modas, Paris 1911–1914. Elegancias. Revista mensual ilustrada artística, literaria, modas y actualidades, Paris 1911–1914.

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Damen­mode sowie Werbeanzeigen. Beide Zeitschriften standen den französischen Kulturzeitschriften der Zeit in Aufmachung und Inhalt also in nichts nach. Der Schriftsteller und Journalist Leopoldo Lugones (1874–1938) gründete in Paris La Revue Sud-Américaine, eine Zeitschrift, die in französischer Sprache erschien.151 Lugones gehörte zu der sogenannten »Generación del ›80«, der konservativ denkenden aristokratischen Oberschicht in Buenos Aires, die zwischen 1880 und 1916 die regierende Elite Argentiniens stellte. Lugones, in Argentinien zu dieser Zeit bereits erfolgreicher Schriftsteller, Journalist der Tageszeitung La Nación und Mitglied der sozialistischen Partei, hielt sich seit der Jahrhundertwende des Öfteren auch für längere Zeit in Europa und vor allem in Paris auf. Zwischen Januar und Juni 1914 publizierte er sechs umfangreiche Ausgaben der Revue Sud-­Américaine mit jeweils circa 100 Seiten, bevor auch er zu Beginn des Ersten Weltkriegs Frankreich verließ und die Zeitschrift damit einstellte. Stärker als das Mundial Magazine und die Elegancias legte die Revue Sud-Américaine den Fokus auf einen intensiven intellektuellen Austausch zwischen Lateinamerika und Frankreich. Sie war eine der Publikationen in französisch-hispanoamerikanischer Koproduktion, die es sich am deutlichsten zur Aufgabe gesetzt hatte, ein Instrument der Verständigung zwischen Frankreich und den lateinamerikanischen Ländern zu werden.152 In der ersten Nummer veröffentlichte dementsprechend kein geringerer als der frühere französische Minister­ präsident Georges Clemenceau einen Artikel über die Entwicklung der Demokratie in Amerika.153 In der kurzen Zeit ihres Erscheinens publizierte die Revue Sud-Américaine intensiv zur politischen und wirtschaftlichen Lage Lateinamerikas und widmete sich der französischen und spanischsprachigen Literatur. Die Anwesenheit der kulturell regen lateinamerikanischen Oberschicht in Paris begünstigte die kulturelle Vernetzung zwischen Argentinien und Frankreich. Während auf lateinamerikanischer Seite zwar oftmals die andauernde Unkenntnis der französischen Gesellschaft gegenüber den Ländern Latein­amerikas festgestellt und beklagt wurde, setzte mit dem beginnenden 20. Jahrhundert ein steigendes Interesse Frankreichs an Lateinamerika ein, 151 Revue Sud-Américaine, Paris 1914. 152 Vgl. die einleitenden Worte des Geschäftsführers Henry D. Davray zur Gründung der Zeitschrift. Henry D. Davray, Faits et Opinions, Revue Sud-Américaine, Nr. 2 (1914), S. 320. 153 Georges Clemenceau, Le Démocratie en Amérique, Revue Sud-Américaine, Nr.  1 (1914), S. 1–11.

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welches nicht nur die kulturelle Sphäre betraf, sondern vor allem auch aus machtpolitischen und wirtschaftlichen Interessen resultierte.154 Dies ist an einem Aufleben der französischen Hispanistik und einer dementsprechenden Übersetzungstätigkeit abzulesen sowie an einer vielfältigen institutionellen Zusammenarbeit, wie beispielsweise Instituts- und Zeitschriftengründungen.155 Diese Entwicklungen schufen für Lateinamerikaner als Korrespondenten oder als Experten für hispanoamerikanische Literatur Positionen an Universitäten und in der Presse. Eine der ersten solcher französischen Publikationen die sich Lateinamerika öffneten, war der Mercure de France, der bereits 1897 eine Rubrik für hispanoamerikanische Literatur einrichtete.156 Diese gemeinsame Geschichte von Buenos Aires und Paris hat nur auf den ersten Blick nichts mit dem Tango zu tun. Sie zeigt zunächst einmal ein dichtes Netzwerk wissenschaftlicher, gesellschaftlicher und kultureller Kontakte und Aktivitäten bzw. die intellektuelle Verbundenheit von Latein­ amerikanern mit Paris auf der einen sowie das französische Interesse an­ Lateinamerika auf der anderen Seite. Doch als der Tango als »argentinischer Tanz« in Paris erfolgreich wurde, waren auch diese Argentinier herausgefordert, sich gegenüber ihrer vermeintlich eigenen Kultur in Paris zu verorten. Neben den Künstlerinnen und Künstlern und den Tangotanzlehrern waren also auch ganz andere Argentinier in Paris präsent, die aufgrund ihrer Herkunft zwangsläufig in der französischen Wahrnehmung mit dem Tango in Verbindung gebracht wurden. Innerhalb der hispanoamerikanischen bzw. innerhalb des argentinischen Teils dieser Elite gab es dabei durchaus unterschiedliche Reaktionen auf den neuen Modetanz in der französischen Metropole. Der argentinische Botschafter in Paris, Enrique Larreta, stellte fest, die Tangomusik erwecke für argentinische Ohren überaus unangenehme Vorstellungen.157 Während Larreta damit sicherlich nicht nur auf die musi­ kalische Qualität des Tango anspielte, sondern ebenso auf dessen soziales Milieu, feierten andere den Erfolg des Tango in Europa. »Aus der argentinischen Pampa oder aus der Vorstadt von Buenos Aires gibst du in der Metropole der Mode die Richtlinie des Geschmacks an!«, konnte man in der 154 Pelosi, S. 22. 155 Molloy, S. 19 ff. 156 Mercure de France, Paris 1890–1940. 157 Enrique Larreta zitiert bei Vicente Rossi, Cosas de negros, Buenos Aires 1926, S. 160. Soweit nicht anders vermerkt, stammen alle folgenden Übersetzungen der spanischen Zitate von der Verfasserin.

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Zeitschrift Elegancias eine Lobrede auf den Tango lesen.158 Im Folgenden wird daher zu zeigen sein, wie sich die Angehörigen dieser argentinischen Elite in Paris gegenüber dem Tango verorteten, mit welchen Interessen sie für oder gegen den Tanz argumentierten und welchen Einfluss sie damit auf den Transfer des Tango nach Paris ausübten.

3.2 Leopoldo Lugones: Tango als Diffamierung der argentinischen Nation Als Korrespondent der argentinischen Tageszeitung La Nación schickte Leopoldo Lugones Ende 1913 eine bittere Polemik gegen den Tango von Paris nach Buenos Aires. Sein Artikel war die öffentliche Replik auf eine Rede des französischen Schriftstellers Jean Richepin am Institut de France, bei der dieser kurz zuvor den argentinischen Tango gegen alle Kritik verteidigt und damit einen in der französischen Presse viel beachteten Beitrag zur posi­tiven Beurteilung des Tanzes geliefert hatte.159 Im Mercure de France­ erschien im Februar 1914 der Nachdruck dieses Artikels von ­Lugones, denn es sei, so die Einleitung, interessant zu erfahren, was die Argentinier selbst über diesen tango argentin dächten.160 Leopoldo Lugones war ein vehementer Gegner des Tango, daran ließ dieser Artikel keinen Zweifel. Der Erfolg dieses obszönen Tanzes, der in die Bordelle von Buenos Aires gehöre, schade der argentinischen Nation, so die Hauptargumentation von Lugones, der auf den folgenden Seiten versuchte, die niedere Herkunft und die damit verbundene moralische Verwerflichkeit des Tango herauszustellen. Darüber hinaus war es ihm jedoch vor allem ein Anliegen, die nationale Identität Argen­tiniens zu verteidigen und in diesem Sinne den Tango als Ausdruck argentinischer Kultur abzulehnen. »Le nom Argentin ne peut pas servir d’enseigne au b ­ ordel«, formulierte Lugones vehement seine Befürchtungen.161 Er verurteilte den Tanz aufgrund seiner sexuellen Konnotation ebenso wie aufgrund seiner Herkunft. Die französischen Damen müssten wissen, dass sie sich wie Prostituierte verhalten würden, wenn sie den Tango 158 Antonio G. de Linares, El Tango en Paris, Elegancias, Nr. 31 (1913), S. 3. 159 Vgl. hierzu ausführlich Kapitel II. 4.4 Tangobefürworter – Jean Richepin: »A Propos du Tango«. 160 Leopoldo Lugones, Le Tango (Introduction par Lucile Dubois: La France jugée à l’étranger), Mercure de France, Nr. 400 (1914), S. 871–875. 161 Ebd., S. 873.

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tanzten, so seine Auffassung. Die von Lugones geprägte Bezeichnung des Tango als »Bordellreptil« gehört bis heute zu einer der am meisten zitierten Äußerungen, wenn es um die anfänglichen Vorbehalte gegen den Tango und seiner vermeintlichen Zugehörigkeit zu einer Welt der Prosti­tution und Kleinkriminalität geht.162 Lugones sprach als Angehöriger der »Generación del ’80«, der konservativen argentinischen Elite, die die populäre Kultur der Großstadt ablehnte. Der Tango, der sich zunächst an den Stadträndern von Buenos Aires entwickelt hatte und durch Immigration und Landflucht geprägt worden war, hatte zu diesem Zeitpunkt zwar bereits erfolgreich Eingang in die Unterhaltungskultur im Zentrum von Buenos ­Aires gefunden, galt jedoch nicht als Teil  einer national definierten argentinischen Hochkultur. Die Immigranten aus den ärmeren Gegenden Europas waren selbstredend nicht das, was die argentinische Oberschicht als »europäische Aufwertung« der eigenen Kultur definieren wollte. Vielmehr setzte sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Argentinien eine Beurteilung der euro­päischen Immigration als sozialer Faktor durch, der das Land vor innenpolitische Herausforderungen stellte. Eine Gleichsetzung der populären Kultur mit Kriminalität, Gewalt und Prostitution war daher vor allem ordnungspolitisch motiviert.163 Entgegen den Ansichten französischer Tanzlehrer, man könne den Tango formen und ihn so moralischen und ästhetischen Vorstellungen anpassen, war Lugones daher entschieden der Meinung, es gäbe keine Möglichkeit, diesen Tanz in eine gereinigte Form zu bringen. Er fragte kritisch: »Ainsi donc, nous sommes les palefreniers, les gauchos, les nègres du tango; tandis que sa grâce, son intention, son charme sont, naturellement, originaires de Paris.«164 Die selbstbewusste Auffassung der französischen Tanzlehrer, den Tango von seiner argentinischen Herkunft bereinigen zu können, interpretierte Lugones als Reduzierung Argentiniens auf ländlich rückständige Traditionen. Am heftigsten agitierte Lugones gegen die a­ rgentinischen Tanzlehrer und all diejenigen, die den Tanz in Paris weitervermittelten. Denn gerade sie waren es seiner Meinung nach, die dem Ruf und dem Ansehen der Argentinier in Paris nachhaltig schadeten. »(…) il est des sots qui s’en réjouissent, et de petits jeunes gens sans vergogne qui f­ réquentent les bals publics, exhibant de cette manière leur nationalité de ›singes des Andes‹, comme on dit par ici; sans compter ce qui revient de cette 162 Im spanischen Original »reptil lupanar«. Vgl. Leopoldo Lugones, El Payador, Obras en prosa, Madrid 1962, S. 1077–1345, S. 1192f; siehe auch Reichardt, S. 29 ff. 163 Reichardt, S. 31. 164 Lugones, Le Tango, Mercure de France, Nr. 400 (1914), S. 874.

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dénomination à tous les Argentins.«165 Unverantwortlich sei, welches Bild der argentinischen Kultur und Moral man mit diesem Verhalten vermitteln würde. Der ganze Erfolg des Tango kam laut Lugones nur daher, dass der so stark ausgeprägte Exotismus der Franzosen für alles »einen Passierschein« bereithalte. Mehrere lateinamerikanische Staaten wehrten sich gegen eine solche Einordnung ihrer Kulturen als exotisch. Dies war bereits 1889 auf der Pariser Weltausstellung deutlich geworden, bei der Argentinien, Chile und Mexiko sich geweigert hatten, Menschen und deren Gebräuche zu exponieren, um in der Repräsentation nicht mit den afrikanischen Kolonien auf eine Stufe gestellt zu werden.166 Diesen Ländern war es daran gelegen, sich gerade nicht als exotisch und damit innerhalb einer kulturellen Hierarchie zu präsentieren, sondern die Modernität und den Kosmopolitismus ihrer jungen Nationen zu betonen. Die Politik auf den Weltausstellungen stand stell­ vertretend für die ambivalente Position Lateinamerikas in der Welt, dessen Eliten in den Metropolen sich in ihrer Orientierung nach Europa von der eigenen Bevölkerung abgrenzten. Die Betonung einer »modernen« euro­ päischen Haltung bedeutete gleichzeitig in der Umkehrung die Behauptung der Abwesenheit indigener Bevölkerung im eigenen Land.167 In diesem Sinne war auch Leopoldo Lugones darauf bedacht, auf die Bedeutungszuschreibungen der argentinischen Kultur Einfluss zu nehmen. Für ihn handelte es sich beim Tango nicht um eine bloße Mode, sondern um eine kulturelle Fehlentwicklung von politischer Bedeutung. »Une semblable façon d’être à la mode n’est certainement pas très flatteuse pour le patriotisme argentin.« Man dürfe sich jedoch von einer solchen Mode­ erscheinung und auch nicht von deren Anerkennung in Paris die Deutungsmacht über die eigene argentinische Kultur nehmen lassen. »L’accepter comme nôtre, parce qu’ainsi Paris le baptisa, ce serait tomber dans le plus m ­ éprisable servilisme.«168 Lugones setzte dem Tango die Wiederentdeckung einer veredelten Gauchokultur in Argentinien gegenüber. Im Verlauf des 19.  Jahrhunderts noch Inbegriff des unzivilisierten Viehhirten, wurde der Gaucho nun zu einer zentralen Bezugsfigur auf der Suche nach einer argentinischen Identität. 1913 hielt Lugones im Theater »Odéon« in Buenos Aires eine Vor­tragsreihe unter dem Titel »El Payador«, in der er das ländlich geprägte Argentinien der wachsenden Stadt Buenos Aires und einer schein165 Ebd., S. 873. 166 Fey, S. 22. 167 Ebd., S. 19. 168 Lugones, Le Tango, Mercure de France, Nr. 400 (1914), S. 873.

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bar übermächtig zu werdenden Immigration gegenüberstellte.169 Die früheren Viehhirten wurden so zum Gegenbild der Stadt. Bei Lugones war der städtische Tango klar von der argentinischen Volkskultur zu trennen. Er selbst verfasste in der Revue Sud-Américaine eine längere Abhandlung über die Geschichte der Musik Argentiniens, in der er den Reichtum der argen­ tinischen Traditionen unterstrich.170 Die Figur des Gaucho stand darin für ein unabhängiges Argentinien mit einer eigenen Tradition. Der französische Schlusskommentar am Ende des Abdrucks des Artikels von Lugones im Mercure de France zeigte höchstes Verständnis für die­ argentinischen Intellektuellen, die sich mit solchen modischen Albernheiten auseinanderzusetzen hätten. Lugones war sicherlich einer der vehementesten und konservativsten Tangogegner, der seine Anerkennung als Schriftsteller in Paris zu nutzen wusste, um gegen den Tango zu polemisieren. In der von ihm geleiteten Zeitschrift Revue Sud-Américaine erschien während ihres halbjährigen Bestehens nur ein einziger weiterer Artikel, der sich dem Tango widmete. Er stammte aus der Feder von R. B. Cunninghame Graham (1852–1936), einem schottischen Literaten, der zu dieser Zeit ausgedehnte Reisen um die Welt unternahm. Dieser befasste sich im Februar 1914 mit dem Phänomen in Paris und traf dabei genau den Ton, den ­Lugones bereits im Mercure de France angeschlagen hatte.171 Die Schilderung des Lebens in den Metropolen Europas und Amerikas war bei Graham distanziert, überaus kritisch schilderte er das internationale Publikum von Paris. Die Südamerikaner seien zahlreich vertreten, die Argentinier unter ihnen, »de riches rastaquouères«, übertrieben gekleidet und sie sprächen schlechtes Französisch. Graham beobachtete die Vorführung eines Tangopaares, dessen Tanzstil auch er für geschmacklos hielt. Dem Publikum um ihn ­herum schien die Vorführung jedoch gefallen zu haben, denn es applaudierte und rief »vivent les Espagnoles«, was Graham zu der aufgebrachten Bemerkung verleitete: »Car ce judicieux public, insoucieux des luttes pour l’indépendance et des changements politiques, paraissait croire que Buenos-Aires était en Espagne et n’avait jamais entendu parler de San Martín, de Bolivar, de Paez et des autres libérateurs de la Patrie. Pour cette cohue de snobs, le monde se composait de Paris, de Londres et de New-York, sans rien d’autre, 169 Lugones, El Payador, S. 1077–1345. 170 Leopoldo Lugones, La musique populaire en Argentine, Revue Sud-Américaine, Nr. 5 (1914), S. 183–207. 171 R. B. Cunninghame Graham, Le Tango Argentin, Revue Sud-Américaine, Nr. 1 (1914), S. 22–31.

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sinon tziganes et les danseurs de tango, personnages un peu barbares et par delà le rideau«.172 Die Kritik an der Großstadt, an der Ignoranz des Publikums in Paris und an der niveaulosen Vorführung des Tango stellte Graham dem Bild einer Erinnerung an ein Erlebnis in der argentinischen Pampa gegenüber, wo in einer geselligen Runde von Gauchos Tango getanzt worden wäre. Tatsächlich hatte er bei dieser Gelegenheit wahrscheinlich ländliche argentinische Volkstänze beobachten können, von denen einige Elemente sich auch im Tango wiederfanden. In seinen Schilderungen konstruierte Graham jedoch ganz wie Lugones eine argentinische Kultur, die nicht von städtischen oder fremden Einflüssen verschmutzt worden war. Er versuchte daher diese ländlichen Traditionen zu protegieren, indem er bemerkte: »El tango argentino – pensai-je, (…) il s’est diablement transformé en tra­ versant les mers!«173 Hier war es nun die populäre Kultur der europäischen Metropolen und deren Fehlinterpretation des Tango, der die Schuld für die negative Wahrnehmung Argentiniens zugeschoben wurde, wodurch abermals das Land als Ort des Bewahrens von Tradition und nationaler Identität hervorgehoben wurde. Leopoldo Lugones bzw. die Revue Sud-Américaine standen stellvertretend für diejenigen Argentinier, deren Interesse eine gleichwertige Anerkennung argentinischer Kultur neben der europäischen war. Der Tango bzw. die französische Rezeption des Tango waren ihnen dabei im Weg. Obwohl diese Argentinier sich damit explizit davon distanzierten, als Kulturmittler des Tango in Paris angesehen zu werden, waren sie dennoch wichtige Akteure, die auf den Prozess des Kulturtransfers einzuwirken versuchten.

3.3 »Argentinien ist in Mode!« – Lateinamerikanische Befürworter des Tango in Paris 1936 schrieben die Brüder Hector und Luis Bates in Buenos Aires eines der ersten Werke zur Geschichte des Tango.174 Rückblickend resümierten sie, »der größte Feind, dem der Tango in Paris, in London, in Berlin und in allen großen europäischen Städten, in denen er für die gleiche Aufregung wie 172 Cunninghame Graham, Le Tango Argentin, Revue Sud-Américaine, Nr.  1 (1914), S. 25. 173 Ebd. 174 Hector Bates u. Luis J. Bates, La Historia del Tango. Primer Tomo: Sus Autores, Buenos Aires 1936.

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in der Lichterstadt sorgte, begegnete, war die argentinische Kolonie«.175 Lugones hatte, stellvertretend für viele andere, versucht, auf die französische­ Rezeption des Tango einzuwirken und den Tanz als populäre Kultur der Unterschichten von Buenos Aires zu diskreditieren. Doch auch schon um 1900 war die absolute Abwehrhaltung gegenüber dem Tango nicht bei allen Lateinamerikanern bzw. Argentiniern in Paris verbreitet. Eine Ablehnung oder Befürwortung des Tango verlief nicht immer geradlinig entlang politisch konservativer oder liberaler Haltungen und spiegelte auch nicht zwingend soziale Unterschiede. Während innerhalb der lateinamerikanischen Elite in Paris die einen Stimmen versuchten, die Integration des Tango zu verhindern bzw. sich zu distanzieren, gab es andere Akteure, die sehr wohl zugunsten des Tango argumentierten. Zu dem Zeitpunkt, als die Brüder Bates die erste Geschichte des Tango präsentierten, hatte sich die Bedeutung und Wahrnehmung des Tango auch in Argentinien bereits grundlegend verändert. »Der Tango hat die Welt erobert«, schrieben die Brüder Bates 1936 und konnten nun sogar rückblickend die Formulierung wählen: »(…) er war unser größter Botschafter«.176 Aus dieser Perspektive wählten die Brüder Bates eine andere Erzählung als Lugones, um die Ankunft und den Erfolg des Tango in Europa zu erklären. Sie verwiesen auf die Rolle der Argentinier in den französischen Salons und­ betonten deren Rolle als Vermittler. Gerade die jüngere Generation, zumeist die Kinder der argentinischen Oberschicht, die als obligatorischer Teil i­ hrer höheren Bildung häufig eine Zeit in Paris verbrachten, wurden zu Mittlern des Tango. »Niños bien« nannte man diese auch, denn sie nutzten den Wohlstand ihrer Eltern und den Aufenthalt in Paris oft genug dafür, das Leben in der Metropole zu genießen. Sie seien es gewesen, die den Brüdern Bates zufolge bereits in Buenos Aires Tango tanzten und ihre Kenntnisse daher mit nach Paris brachten.177 Der Tango als Teil der populären Kultur sei zu diesem Zeitpunkt bereits soweit etabliert gewesen, dass er, wenn auch offiziell abgelehnt und teilweise verboten, von diesen jüngeren Angehörigen der­ höheren Schichten in Buenos Aires getanzt wurde. Exemplarisch für diese »niños bien« war der Schriftsteller Ricardo Güiraldes. 1886 in Buenos Aires geboren, verbrachte er seine ersten Lebensjahre in Paris. Seine erste Sprache, in der er auch später schreiben sollte, war das Französische. Mit 24 Jahren 175 Ebd., S. 63. 176 Ebd., S. 61. 177 Ebd.

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kehrte er 1910 für zwei Jahre nach Paris zurück, wo er sich im Folgenden immer wieder für längere Zeit aufhalten sollte. Güiraldes war ein typischer Vertreter der jungen lateinamerikanischen Schriftsteller, die Paris als Inspiration nutzten. In seiner 1917 erschienenen Novelle »Raucho« hieß es symptomatisch: »Paris! Stadt des Rausches, in der es zwischen all den Ereignissen, die ohne Pausen aufeinanderfolgen, kaum Momente der Konzentration gibt!«178 Es ist vor allem eine Szene, die sich in die Erzählung über den Weg des Tango nach Europa am stärksten eingeschrieben hat: In einem privaten Salon der Madame de Rezké seien junge argentinische Männer, unter ­ihnen auch Ricardo Güiraldes, nach dem Tanzstil ihrer Heimat befragt worden und hätten daraufhin den Tango vorgeführt. Begleitet wurden sie dabei auf dem Klavier von dem katalanischen Pianisten José Sentís. Dieser habe die Szene dem argentinischen Korrespondenten der Zeitung La Prensa in ­Paris, Antonio Riqueni, übermittelt, dessen Berichterstattung von dem Tango­chronisten Francisco García Jiménez aufgenommen worden sei. »Die jungen Argentinier entfernten sich um untereinander ›cortes‹ und ›quebradas‹ zu tanzen und die Choreographie zu dem unbekannten Rhythmus zu illustrieren. Die anderen Kameraden waren enthusiastisch, probierten Tanz­ figuren aus und entschieden, den Tango als übermütiges Abenteuer in Paris zu ­›lancieren‹.«179 Diese kurze überlieferte Szene fand Eingang in fast alle Werke, die seitdem über die Geschichte des Tango verfasst wurden. Historiograpisch könnte man einer solchen Version unterstellen, sie sei der Versuch, die Geschichte des Tango rückblickend dadurch zu veredeln, dass man ihn direkt in die französischen Salons verlegte, wo man seine Einführung dem Engagement junger argentinischer Literaten zu verdanken habe. Abgesehen jedoch von der Glaubwürdigkeit und den Absichten, mit der sich eine solche Erzählung hartnäckig als einzige Version des Transfers des Tango nach Paris bis heute gehalten hat, verweist dieses Beispiel jedoch tatsächlich auf die­ jenigen argentinischen Akteure, die den Transfer des Tango begünstigten. Ein solcher Weg des Tango zeigt, dass an der Rezeption der populären Kultur in Paris verschiedene Akteure unterschiedlicher sozialer und nationaler Herkunft beteiligt waren und die Strukturen einer kommerzialisierten Unterhaltungskultur auf den Bühnen und in den Tanzsälen der Music Halls nicht die einzigen Eingangstore des Tango in die europäischen Metropolen 178 Ricardo Güiraldes, Raucho, Buenos Aires 1968 [1917], S. 73. 179 Ausführlich bei García Jiménez, S.  90 f. Ebenfalls bei Bates u. Bates, Historia del Tango, S. 60 ff.

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darstellten. Auch die Erzählung der Brüder Bates stellt demnach nur eine von vielen möglichen Konstruktionen des Transfers zwischen Buenos Aires und Paris dar, die mit anderen Deutungen konkurriert. Positive Positionierungen gegenüber dem Tango zeigten sich auch innerhalb der lateinamerikanischen Zeitschriftenlandschaft in Paris. Die A ­ rtikel der Kulturzeitschriften Elegancias und Mundial Magazine nahmen eine sehr viel positivere Stellung gegenüber dem argentinischen Tanz ein als die von Lugones geleitete Revue Sud-Américaine. Da man erkannt hatte, dass es kaum möglich war, die Existenz und den Erfolg des Tango in Paris zu verhindern und seine Herkunft aus Argentinien zu leugnen, verlegte man sich hier sehr viel mehr darauf, zugunsten des Tango zu argumentieren und diesen im eigenen Interesse aufzuwerten. Bezeichnenderweise waren es hierbei weniger argentinische als Autoren aus Spanien und anderen lateinameri­ kanischen Ländern, die die Verteidigung des Tango stellvertretend für die lateinamerikanische Kultur gegenüber Europa betrieben. »Der Einfluss Argentiniens gehört gegenwärtig zu Paris und dieser Einfluss hat dem mondänen Leben den Tango gebracht, der in die Salons eingefallen ist, überall hingelangt und das Geschehen mit absoluter Macht dominiert«, schrieb während der Ballsaison zu Beginn des Jahres 1913 unter dem lautmale­ rischen Pseudonym Juan de Bécon der spanische Schriftsteller Cristobal­ Botella in Elegancias.180 Hiermit bestätigte er zum einen die Wahrnehmung der starken Präsenz des Tango innerhalb der städtischen Unterhaltungskultur, zum anderen verwies er damit auf die nicht ausschließlich mit dem Tango verbundene Sichtbarkeit der Argentinier in Paris. »Argentinien ist in Mode« fasste Juan de Bécon die Stimmung in Worte. In der Elegancias argumentierte man, der Tango müsse als Zeichen einer modernen internationalen Metropolenkultur anerkannt werden. Er sei ein Symptom grundlegender kultureller Veränderungen. Wer in Paris dieser Tage keinen Tango tanzen könne, zeige sofort, dass er nicht modern und vor allem nicht städtisch eingestellt sei.181 Die Wahrnehmung des Tango erschloss sich demnach im Kontext einer veränderten Kultur der Großstadt. Die Zeitschrift selbst tat alles andere, als sich von dieser Mode abzugrenzen. Im Gegenteil: Angel G. Villoldo, ein früh erfolgreicher argentinischer Musiker, Komponist und Textdichter des Tango, hatte der Zeitschrift einen Tangotitel­ »Elegancias  – n ­ ouveau tango argentin« gewidmet, der großformatig unter 180 Juan de Becon, Cosas de Paris, Elegancias, Nr. 28 (1913), S. 387. 181 Antonio G. de Linares, El Tango en Paris, Elegancias, Nr. 31 (1913), S. 2.

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dem Titel »Überall triumphiert der Tango« angekündigt wurde.182 Jedoch konstatierte man in der Elegancias besorgt, dass niemand wirklich etwas über Lateinamerika wisse. Die Autoren betonten, dass es neben dem wirtschaftlichen Reichtum, der in Europa wahrgenommen werde, auch noch argentinische Kultur und Geschichte gäbe, die man nicht auf den Tango reduzieren dürfe. Diesbezüglich war man sich dementsprechend auch von lateinamerikanischer Seite darin einig, dass der Tango aufgrund seiner Herkunft zunächst »zivilisiert« werden müsse, bevor man ihn in Europa tanzen könne. Ganz im Sinne der französischen Tanzlehrer sprach man hier von »europeizar«, um den Prozess der Anpassung an europäische Moralvorstellungen zu erfassen.183 Derselben Meinung war auch der peruanische Botschafter in Paris, Ventura García Calderón, der im Feuilleton des Mundial Magazine regelmäßig über gesellschaftliche Ereignisse schrieb. Natürlich tanze man den Tango in Paris nicht auf die gleiche Weise wie in Argentinien auf dem Land, betonte er. Der Tango gehöre hier auf den Boulevard und werde in einer verfeinerten Form getanzt.184 Calderón unterstrich damit den Gegensatz zwischen einem ländlichen argentinischen und einem städtischen französischen Tango, wobei er nicht die Entstehung des Tango in Buenos Aires berücksichtigte, sondern die »zivilisierende« Kraft von Paris hervorhob. Calderón äußerte sich zum Tango ganz im französischen Sinne: »Tanzt ihn, wenn Ihr nicht ohne ihn auskommen könnt, aber französisiert ihn wenigstens.«185 Ganz ähnlich ließ sich kurze Zeit später eine zwei­seitige Zeichnung interpretieren, die unter der Überschrift »Die Evolution des Tango« im Mundial Magazine erschien. Auf der einen Seite war ein argentinisches Paar zu sehen, das in einfacher Gauchokleidung tanzte, auf der anderen Seite sah man ein elegantes Tanzpaar aus Paris und den Kommentar: »Vom argentinischen Vorstadttango zum aristokratischen Tango in Paris«. Trotz der Forderungen nach einer notwendigen »Europäisierung« des Tango war den meisten Artikeln ein selbstbewusster Ton gemeinsam, der den argentinischen Tango explizit als moderne, großstädtische Kultur definierte. Ein ausführlicher Artikel im Mundial Magazine zur Geschichte des Tanzes ordnete den Tango dementsprechend gleichberechtigt in eine allgemeine Entwicklung nationaler Tänze verschiedener Länder ein, in der der 182 Anzeige, Elegancias, Nr. 33 (1913). 183 Antonio G. de Linares, El Tango en Paris, Elegancias, Nr. 31 (1913), S. 3. 184 Ventura García Calderón, Crónica de Paris, Mundial Magazine, Nr. 26 (1913), S. 186. 185 Ebd., S. 187.

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Abb. 2: Federico Ribas, La Evolución del Tango …, Mundial Magazine, Nr. 28 (1913).

Tango nun neben anderen erfolgreichen Gesellschaftstänzen des 19.  Jahrhunderts stand.186 An anderer Stelle hieß es, die französische Sehnsucht nach der Rückkehr des Menuetts könne man nachvollziehen, doch man müsse sich an die veränderten Zeiten anpassen.187 Stolz betonte man diesbezüglich, dass Paris den Tango aus Argentinien importiert habe: »Das in­ teressanteste an der Sache ist, dass es nicht Argentinier waren, die den Tango nach Paris eingeführt haben. In Wirklichkeit war es Paris, das gekommen ist, um sich den argentinischen Tango zu holen.188 Die Autoren der ­Elegancias und des Mundial Magazine sprachen der argentinischen Kultur damit einen eigenen Wert innerhalb einer internationalen Metropolenkultur zu. Sie taten dies, um sich gegen die Vorwürfe der Kulturlosigkeit des Tango zu verwehren und damit gleichzeitig auch die lateinamerikanische 186 Juan Redondo (Pseudonym), Danzas y Bailes, Mundial Magazine, Nr.  14 (1912), S. 137–144. 187 Antonio G. de Linares, El Tango en Paris, Elegancias, Nr. 31 (1913), S. 3. 188 Juan de Becon, Cosas de Paris, Elegancias, Nr. 28 (1913), S. 387.

Metropolenkultur in Paris in der Kontroverse

Kultur aufzuwerten. Darüber hinaus definierten sie den Tango als Teil der städtischen Unterhaltungskultur und trugen somit zum Integrationsprozess des Tango in Paris als Akteure bei. Die Analyse der argentinischen Akteure verweist auf folgende Zusammenhänge: Neben den bereits erwähnten argentinischen Tanzlehrern, Tänzern und Musikern ist hier mit den argentinischen Intellektuellen auf eine zweite Gruppe hingewiesen worden, die auf die Rezeption des Tango einwirkte. Es ist gezeigt worden, dass der Tango für Argentinien durchaus von kulturpolitischer Bedeutung war und argentinische Intellektuelle und Politiker es für notwendig erachteten, sich gegenüber dem Tanz, der plötzlich zum Sinnbild argentinischer Kultur in Paris geworden war, zu positionieren. Dabei ist auch deutlich geworden, dass sich Stimmen aus anderen lateinamerikanischen Ländern zum Tango äußerten und diesen stellvertretend für die Wahrnehmung der Kulturen Lateinamerikas verteidigten. Die Metropole Paris war damit ein Raum, der eine verdichtete Öffentlichkeit kultureller Auseinandersetzungen darstellte. Metropolenkultur konnte bis hierher als Aushandlungsfeld dargestellt werden, auf dem verschiedene Akteure mit verschiedenen Interessen wirkten. Tango, Tangotänzer und Musiker, reisende Argentinier und die intellektuelle argentinische Gemeinschaft waren Teil  einer internationalen populären Kultur, die in Paris als zentralem Ort verhandelt und gestaltet wurde.

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In der Zeitschrift L’Art et la Mode, einer eher exquisiten Illustrierten, die seit den 1880er Jahren vor allem die weibliche Bevölkerung von Paris in Modefragen informierte, äußerte sich eine Autorin 1913 in ihren Beobachtungen besorgt über die Auswirkungen der Tangomode auf das gesellschaftliche­ Leben: »Déjà, dans les salons, existent le clan qui proteste contre celui qui agit; on se toise, on s’évite, bien près, semble-t-il, de se mépriser, et cela pourquoi? Eh bien, simplement pour le Tango, pour cette danse nonchalante et exquise des pays lointains que trop de mécréants taxent d’impudique ou de grotesque.«189 Nicht nur innerhalb der in sich relativ geschlossenen Sphäre der Tanzlehrer und in den Kreisen der scheinbar direkt betroffenen Argenti189 Parisiana, Art et Chiffons, L’Art et la Mode. Journal de la Vie Mondaine, Nr. 22 (1913).

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nier war der Tango zum Diskussionsthema geworden. Von der Tages­zeitung über das Sportjournal bis zur Modezeitschrift gab es 1912/1913 in Paris kaum eine Publikation, die sich nicht mit dem Thema aus der einen oder anderen Perspektive auseinandersetzte. Ein Gradmesser für die Tatsache, dass man sich hier keineswegs einig war, wie das neue Phänomen zu bewerten sei, waren Umfragen, bei denen Zeitschriften die Prominenz von Paris um ihre Meinung zum Tango baten. Die Zeitschrift La Vie ­Parisienne beispielsweise interviewte den Gesellschaftskritiker André de Fouquières und den Schriftsteller Maurice Rostand, den russischen Balletttänzer V ­ aslav ­Nijinsky, die Künstlerin Gaby Deslys und den Karikaturisten Sem.190 Die Ergebnisse kommentierte die Zeitschrift ironisch: Sem habe empört geantwortet, »Le tango, monsieur, est une abomination«, sei aber kurz darauf selbst beim Tanzen gesehen worden. Die Tänzerin Gaby Deslys habe zu verstehen gegeben: »Je ne le danserai jamais. C’est trop laid«, um dann hinzuzufügen, ihre Mutter hätte es ihr verboten. Der Friedensnobelpreisträger Baron Paul Henri d’Estournelles de Constant hatte die Gelegenheit zu einer pazifistischen Äußerung genutzt: »…si les jeunes Français pouvaient danser le tango avec de blondes Gretchens, et les jeunes Françaises avec d’aimables A ­ llemands, il est certain que cette pratique rapprocherait sensiblement les deux n ­ ations.« Diese Umfragen, deren Wahrheitsgehalt aufgrund der karikaturistischen Darstellung durchaus angezweifelt werden durfte, zeigten ein breites Spektrum an Meinungen. Es gab Äußerungen, die eher humorvoll mit dem Thema umgingen, aber auch Stimmen, die in den Auseinandersetzungen eine bedrohliche Größe sahen. Die mondänen Unterhaltungszeitschriften gaben sich überwiegend liberal und humorvoll. Doch die Tangomanie in Paris stieß nicht nur auf begeisterte Tänzer und ein wohlwollendes Publikum. Im Gegenteil, der Tango verselbständigte sich offensichtlich zu einem Topos, über den vehement diskutiert wurde. Hinter den teilweise heftigen Auseinandersetzungen, die über den Tango geführt wurden, schien mehr zu stehen als nur Meinungsverschiedenheiten über einen neuen Modetanz. Bereits bei den Argentiniern in Paris und auch bei der französischen Tanzlehrerschaft zeichnete sich die Rezeption des Tango durch eine Vielzahl von Kontroversen aus, die die unterschiedlichen Interessen dieser Akteure spiegelten und dabei auch gezeigt haben, dass virulente Themen in der Auseinandersetzung mit der populären Kultur der Metropole sich am Tango exemplarisch ablesen ließen. Im Folgenden werden diese Auseinanderset190 Hervé Lauwick, Notre Enquête sur le Tango, La Vie Parisienne, Nr. 30 (1913), S. 538/539.

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zungen in der französischen Presse nachgezeichnet. Die Diskussionen, die in den Jahren 1911 bis 1914 geführt wurden, belegen eindrücklich, dass die Entscheidung darüber, ob und wie der Tango sich in Paris etablieren konnte, öffentlich verhandelt wurde. Die weltweite Zirkulation, so die leitende Annahme, führte selten zu zufälligen Aneignungsprozessen und einer gleichmäßig ansteigenden Verbreitung kultureller Formen. Kulturelle Transfers waren immer bedingt durch spezifische Dispositionen in neuen Kontexten und das Einwirken von Akteuren. Über Erfolg, Misserfolg und Veränderung wurde so erst im Moment der Rezeption entschieden. Um ein solches Feld von Aushandlungsprozessen aufzuzeigen, wird dieses Kapitel die Argumentationen der Tangogegner und der Tangobefürworter gegeneinander ausloten und nach ihren jeweiligen Beweggründen fragen. Metropolen waren Orte des Lernens, der Steuerung und der Kontrolle neuer kultureller Formen. Die Frage danach, wie mit »dem Fremden« als konstitutivem Bestandteil einer populären Kultur der Großstadt umzu­gehen sei, wurde hier ausgehandelt. Der Versuch, die eigene national definierte Kultur vor dem vermeintlich Fremden zu schützen, sowie die Inszenierung der Metropole durch die Attraktivität und Exklusivität eines internationalen Programms waren zwei Seiten einer Medaille, die das spannungsgeladene Feld der Aushandlung populärer Kultur markierten. Die Auseinandersetzungen können daher als notwendige und letztendlich erfolgreiche Reaktion auf zunehmende globale Verflechtungen gedeutet werden, in der Metropolen als Portale im Dialog und in Konkurrenz zueinander standen. Gerade die erfolgreichen Strategien der Aneignung kultureller Transfers, so wird im Folgenden deutlich werden, zeigten dabei eine machtvolle Positionierung von Paris innerhalb eines globalen Kontextes.

4.1 Tangogegner: Kritische Stimmen zu der Welt in der Stadt Die Rezeption des Tango in Paris war eng mit dessen argentinischen Akteuren verknüpft. Nicht nur von lateinamerikanischer Seite wurde die Präsenz argentinischer Reisender oder Tangokünstler aufmerksam beobachtet, sondern auch die französische Presse kommentierte ausführlich die Tatsache, dass Argentinier einen nicht zu übersehenden Stellenwert innerhalb des kulturellen Lebens von Paris einnahmen. La Vie Parisienne, die Zeitschrift, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, über das moderne internationale Leben der Stadt zu berichten, formulierte eindrücklich: »Les Américains du nord,

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ils sont loin! Nous en sommes à présent aux Américains du sud et l’Argentine triomphe; elle triomphe sur toute la ligne.«191 Die französische Wahrnehmung des Tango war daher nicht nur von dessen direkten Mittlern, von Musikern und Tänzern geprägt, sondern resultierte aus einem Gesamtbild, das man sich von der Anwesenheit der verschiedenen Gruppen von Argentiniern in Paris machte. Dabei fielen vor allem jene wohlhabenden Argen­ tinier auf, für die sich die Bezeichnung »rastaqouères« auch in den französischen Medien bald sinnbildlich etablierte. Deren Präsenz an den Orten des Vergnügens und deren augenscheinlich selbstgefälliges Auftreten führte dazu, dass sich auch in der Zeitschrift La Vie Parisienne zuweilen kritische Töne in die Formulierungen mischten. »Ils nous ont imposé leur musique et leur danses, el tango, el choclo, el parraguaye, el panpan, et tandis qu’à l’Opéra, vous et moi nous sommes rélégués à l’orchestre – Dieu sait pourtant si je suis peu jaloux de ma nature! – eux, délibérément, trônent danse les­ loges et les avant-scènes.«192 Nicht nur die französischen Tanzlehrer bewegte also ein Konkurrenzgefühl gegenüber ihren argentinischen Kollegen, sondern insgesamt spiegelte sich in dieser Äußerung eine missgünstige Skepsis gegenüber jenen Fremden, von denen man sich von den besten Plätzen in der eigenen Stadt verdrängt fühlte. Globale Verflechtungen waren keine abstrakte oder verborgene Qualität der populären Kultur von Paris. Sie manifestierten sich auf den Bühnen der großen Music Halls und innerhalb des Publikums durch Touristen und die zahlreichen in Paris lebenden Menschen verschiedenster Herkunft und wurde damit zu einer konkreten Alltagserfahrung, die beobachtet und beschrieben wurde. André Warnod, ein Kenner der Pariser Vergnügungskultur, der bis in die 1920er Jahre detaillierte Milieustudien des Pariser Lebens veröffentlichte, schilderte einen Abend auf dem Montmartre folgendermaßen: »C’est plein d’Argentins! Il y en a à toutes les tables, ils ont les cheveux bleus à force d’être noirs et le teint mat. (…) Ils boivent du champagne qu’on leur vend très cher et mènent grand tapage. Ils s’interpellent de table à table; ils gesticulent, ils font de grands gestes et se démènent. (…) Tous parlent un espagnol qu’ils agrément de cris guttureaux, les voix sont rauques; ils parlent très vite, les syllabes se précipitent avec des rebondissements de cailloux roulés dans un torrent.«193 Die Argentinier stellten einen bedeutenden Anteil­ 191 Roger Boutet de Monvel, L’Argentine à Paris, La Vie Parisienne, Nr. 20 (1912), S. 349. 192 Ebd., S. 352. 193 Warnod, Les affaires vont bien, Bals, Cafés & Cabarets, Paris 1913, S. 15.

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innerhalb eines solchen internationalen Publikums. Unüberhörbar war in diesen Formulierungen der negative Unterton, der den zur Schau getragenen Reichtum und das auffällige Auftreten kritisierte. Der Tango war ­dabei bloß eine Komponente eines als »kulturlos« empfundenen Verhaltens der Argentinier in Paris. Warnod schrieb in diesem Sinne: »Les tziganes commençent un tango et ici c’est véritablement une danse nationale. Un des Argentins le danse avec une compatriote qui arbore trop de diamants et une aigrette trop éblouissante. (…) Maintenant, c’est un air à la mode, un air d’on ne sait quel pays- peut-être des Batignolles. C’est un air tout à la fois langoureux, saccadé et d’une crapulerie très vulgaire.«194 Um zu verdeutlichen, dass man es beim Tango wohl kaum mit einer modernen städtischen Kultur zu tun haben könne, diente Warnod als Vergleichsgröße das ehemalige Dorf Batignolles, das an den Montmartre grenzte und ebenso wie dieser erst seit 1860 offiziell als Stadtteil zu Paris gehörte. Dabei war es ohne Zweifel nicht der Verweis auf eine tatsächliche Ähnlichkeit des Tango mit einem Tanz aus Batignolles, sondern das Ausklammern einer als fremd und »unzivilisiert« wahrgenommenen argentinischen Kultur aus einer so formulierten französischen städtischen Modernität. Batignolles stand hier sinnbildlich für ein gedachtes ländlich-rückständiges Frankreich bzw. für die französischen Unterschichten, die sich an den Stadträndern von Paris als Arbeiterbevölkerung angesiedelt hatten. Auch an anderer Stelle äußerte man sich in diesem Sinne gegen den Tango: »En outre, c’est une invention libidineuse et révoltante, une espèce de cancan qu’on danse en Argentine, dans les mauvais lieux, dans les bouges… Enfin, ce n’est pas une danse française…«.195 All diese Äußerungen ließen keinen Zweifel an den negativen Zuschreibungen, die sich auf den Tango und die Argentinier insgesamt bezogen und diesbezüglich eine klare kulturelle Hierarchie im Verhältnis zwischen Frankreich und Argentinien unterstrichen. Eine solche negative französische Wahrnehmung bestätigte die Befürchtungen, die auch von Teilen der argentinischen Oberschicht geäußert worden waren, nämlich der Diffamierung derjenigen, die sich als kulturelle Vertreter der argentinischen Nation betrachteten und ihr Ansehen durch das Verhalten der »rastaqouères« und den Erfolg des Tango gefährdet sahen. In der französischen Öffentlichkeit steckte hinter diesen Stimmen über den Tango und die Argentinier jedoch noch etwas mehr als die bloße Missbilligung eines einzelnen Phänomens. Am Tango, so konnte 194 Warnod, Bals, Cafés & Cabarets, S. 15. 195 Berlitz, cours supérieur, La Vie Parisienne, Nr. 21 (1913), S. 369.

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man den Eindruck gewinnen, spiegelte sich die Sorge darüber, welche negativen Auswirkungen auf die eigene Stadt und die eigene Kultur mit einer internationalen Vergnügungskultur einhergehen konnten. »Les Argentins ont envahi Montmartre«196, hieß es in La Vie Parisienne auf dem Höhepunkt der Tangomanie zum Ende des Jahres 1913, und damit war nicht nur die große Popularität des Tanzes gemeint, sondern gleichsam von einer Invasion die Rede, mit der sich Paris konfrontiert sah. Das Unbehagen, welches sich gegenüber dem Tango und den Argentiniern formulierte, war bei genauerem Hinsehen von größerem Ausmaß, denn es betraf das Selbstverständnis französischer Kultur in Paris. Die Skepsis gegenüber den Argentiniern und dem Tango stand hier beispielhaft für eine Stadt, in der man sich aufgrund zu vieler Touristen und zu viel exotischer Attraktionen nicht mehr zu Hause fühlte. Die Zeitschrift Femina brachte im Juni, am Ende der Saison, als sich das gesellschaftliche Leben von der Stadt in die Seebäder verlegte, erschöpft auf den Punkt: »Après trop de spectacles exagérément modernes, exagérément cosmopolites, exotiques, agaçants de faste et de bizarrerie, – pour la première fois, on a le sentiment qu’on est encore à Paris!«197 In einer solchen Fomulierung zeigte sich Paris weniger als eine Stadt, die die eigene Kultur exportierte und sich zeitgleich als Schauplatz einer internationalen Unterhaltungskultur inszenierte, als vielmehr als Ort, an dem die Rückwirkungen dieser Einflüsse zu einer herausfordernden Erfahrung geworden waren. »Un siècle  a passé, et je songe qu’aujourd’hui ce ne sont plus des Français qui exportent en Amérique leur rythme et leur danse, mais que ce sont des sauvages ›civilisés‹ qui, par un étrange retour des choses, nous apprennent le Tango et la danse de l’Ours«198, schrieb man diesbezüglich auch in der Zeitung Excelsior und spielte damit auf eine »verkehrte Welt« an, in der nicht mehr Frankreich seine Kultur exportierte, sondern nun selbst mit den Kulturen seiner Kolonien oder den Importen von anderen Erdteilen konfrontiert zu sein schien. Einige Jahre zuvor war die koloniale Ordnung auf den Weltausstellungen machtvoll inszeniert worden. Paris hatte der Welt eine Repräsentationsfläche geboten und damit auch seinen eigenen Status als Zentrum gegenüber anderen europäischen Mächten symbolisch untermauert. Die kulturellen Darbietungen der Ausstellung waren dabei für die Besucher in einem bisher unbekannten Aus196 Timon de Paris, Ce qu’on dit en soupant à Montmartre, La Vie Parisienne Nr.  52 (1913), S. 928. 197 Albert Flamant, Paris de Juin, Femina, Nr. 273 (1912), S. 313. 198 Hélène Mikropolsky, Considérations sur la danse, Excelsior (29.4.1913).

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maß zu einem Moment der Teilhabe an einer politisch, wirtschaftlich und kulturell zunehmend verflochtenen Welt geworden. Nun zeigte sich jedoch auch Verunsicherung gegenüber den Folgen einer solchen Popularisierung fremder kultureller Formen. »Voilà l’héritage de cinq Expositions Universelles«, schrieb La Vie Parisienne im Mai 1911 und veröffentlichte eine karikaturistische Zeichnung zur europäischen Tanzgeschichte seit der Antike.199 Die Chronologie begann mit der Darstellung der griechischen Antike und zeichnete eine Linie über den höfischen Tanz des 18. Jahrhunderts und den bürgerlichen Gesellschaftstanz des 19.  Jahrhunderts. Seine nationale Größe und den Status als Hauptstadt Europas verdanke Frankreich auch dem Tanz, konnte man hierzu lesen. Die Zeichnung der exzentrischen Bühnentänze des beginnenden 20.  Jahrhunderts begleiteten die Worte: »Tango et fandango, tarentelle et saltarelle, gigue, bamboula et pilou-pilou, voilà l’héritage de cinq Expositions Universelles! Les danses françaises, dont l’élégance était la parure de toutes les cours, succomberont-elles à cette invasion de barbares?« Ohne aus einer solchen Karikatur die Formulierung einer realen Bedrohung zu lesen, zeigte sich hier doch aufschlussreich ein Aspekt der zeitgenössischen Wahrnehmung des internationalen Vergnügens in Paris. La Vie Parisienne wählte hier ebenfalls die Formulierung einer »Invasion« durch »die Barbaren«, um der Tatsache Ausdruck zu verleihen, dass die langfristigen Auswirkungen dieser globalen Verflechtungen noch nicht absehbar seien. Bezeichnend ist dabei vor allem die Tatsache, dass hier überhaupt die Frage gestellt wurde, inwiefern die kontinuierliche Präsenz »des Fremden« innerhalb der eigenen Stadt zu qualitativen Veränderungen der eigenen Kultur führen könnte. Die als­ exotisch wahrgenommenen Tänze, die den gesicherten Rahmen der Bühne verlassen hatten und nun nicht mehr nur visuell konsumiert wurden, sondern Eingang in ein französisches Repertoire zu finden schienen, wurden zu einer Herausforderung, die gesellschaftlich durchaus wahrgenommen wurde und für die augenscheinlich erst noch ein Umgang gefunden werden musste. Die globale Dimension der städtischen Unterhaltungskultur, dies zeigte sich am Tanz besonders deutlich, löste Reflexionen über Konse­ quenzen und notwendige Neuordnungen aus, die aus einer Verunsicherung alter Ordnungsmuster resultierten.

199 Vingt Siècles d’Entrechats: De Bacchanales aux Ballets Russes. Dessin de Léonce­ Burret, La Vie Parisienne, Nr. 19 (1911).

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4.2 Französische Diskurse zu Großstadt und Massenkultur Die Debatten um die neuen Modetänze, an denen sich der Wandel der populären Kultur in der Metropole ablesen ließ, standen in einem engem Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen der Jahrhundertwende, die sich auf zwei verschiedene, jedoch eng miteinander verknüpfte Prozesse richteten: Zum einen stand der grundlegende Wandel kultureller Formen zur Diskussion, aus denen schließlich eine moderne Massenkultur des 20.  Jahrhunderts hervorging. Zum anderen, und damit untrennbar verbunden, hatten diese Debatten ihren Fluchtpunkt in der Großstadt, die zur Bezugsgröße kulturkritischer Auseinandersetzungen geworden war.200 Die populäre Kultur der Großstadt stand seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Fokus bürgerlicher Kritik. Die Vorführungen auf den Bühnen der Music Halls und der populären Theater, das frühe Kino und auch die zahlreichen Ballsäle und Tanzlokale – all diese Formen, die ein professionalisiertes und kommerzialisiertes Programm der Freizeitgestaltung boten, standen unter dem Verdacht, geltende moralische und ästhetische Wertvorstellungen zu unterlaufen und gesellschaftliche Normen damit zu gefährden.201 Hatte zunächst die populäre Presse und Literatur unter Anklage gestanden, die durch die allgemeine Schulpflicht gestiegenen Rezeptionsmöglichkeiten der unteren Bevölkerungsschichten durch unsittliche und qualitativ minderwertige Erzeugnisse auf falsche Wege zu leiten, erweiterten sich die Debatten bald auf fast alle Genres und Medien und trieben so eine Entwicklung voran, die immer mehr »ernste K ­ ultur« von »leichter Unterhaltung« trennte. Die Formen der Rezeption und die Zugänglichkeit von Kultur schienen sich der Deutungsmacht bürgerlicher Schichten zunehmend zu entziehen. Der Unterton der primär moralischen und ästhetischen Auseinandersetzungen über die Wertigkeit neuer kultureller Formen trug jedoch die Angst vor der sozialen und politischen Sprengkraft der Massen in sich. Die Kritik speiste sich daher nicht nur aus einer bürgerlich idealisierten Vorstellung nationaler Hochkultur, sondern ebenso aus einer Unsicherheit gegenüber der proletarischen Bevölkerung, der man spätestens seit der Pariser Kommune 1871 misstrauisch 200 Marchand, Les ennemis de Paris, S. 73 ff. 201 Rearick, Pleasures of the Belle Epoque, S.  27. Grundlegend zur französischen Geschichte und Kritik der Massenkultur seit dem späten 19. Jahrhundert Middendorf; Kalifa, hier vor allem S. 95 ff.

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gegenüberstand.202 Diese Erfahrungen resultierten aus einem grundlegenden gesellschaftlichen Wandel, der vor allem in den Städten verdichtet zu beobachten war. Menschenmassen waren dort zu einer neuen Kategorie in der Wahrnehmung gesellschaftlicher Kräfte geworden, die politisch, sozial und kulturell neue Deutungen und Ordnungen erforderten. »Massification, médiation et consommation«203 wurden in der Großstadt zu einer macht­ vollen Trias, die es zu kontrollieren und zu steuern galt. In welchem Zusammenhang die Kritik an der populären Kultur, die Angst vor den Massen in der Großstadt und der Tango als Beispiel einer internationalisierten Unterhaltungskultur standen, wird im Folgenden deutlich werden, wenn sich der Blick zunächst auf einen ganz anderen Schauplatz richtet: auf die populäre Kultur am Stadtrand von Paris.

4.3 Argentinischer Tango und französische Apachen In den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurden in Paris die »Apachen« zu einem drängenden Phänomen. Diese schillernde Bezeichnung traf zunächst im engeren Sinne auf kleine Gruppen von Männern aus den Arbeiterstadtteilen im Nordosten von Paris zu, die durch ihr unkonformes Auftreten auffielen und häufig in gewalttätige kriminelle Handlungen verwickelt waren. Durch einen eigenen Kleidungsstil und eine vom französischen Argot geprägte Redeweise grenzten sich diese jungen gesellschaftlichen Außenseiter ab.204 Mehr als eine tatsächliche Gefahr für die soziale Ordnung stellten die sogenannten Apachen eines der ersten Medienphänomene dar, mit dem gesellschaftliche und soziale Gegensätze als Bedrohung inszeniert wurden.205 Die zeitgenössische Presse prägte die Bezeichnung »Apachen« und griff damit die Faszination für US -amerikanische Geschichten aus dem »Wilden Westen« und die Popularität der »Buffalo Bill Show« 202 Für die französische Geschichtsschreibung hierzu das klassische Werk von Chevalier, Classes labourieuses et classes dangereuses. 203 Rioux, S. 70. 204 Bernard Marchand schätzt die Anzahl der »Apachen« auf circa 20.000 bis 30.000 vornehmlich junge Männer, vgl. Marchand, Paris, S. 211. Zeitgenössische Schilderungen des Milieus entwarf der Schriftsteller Francis Carco. Sein Roman »Jésus la Caille« von 1914 schildert einen von Kriminalität und Prostitution geprägten Alltag im Stadtteil Montmartre. Vgl.: Francis Carco, Jésus-la-Caille, Paris 1914. Siehe außerdem auch die Aufzeichnungen von Amélie Hélie, Chroniques du Paris Apache (1902–1905). 205 Marchand, Paris, S. 211.

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in Europa auf. Sinnbildlich konnte man nun den »Wilden Westen« auf den »wilden Osten« von Paris übertragen.206 Nachdem die Arbeiterstadtviertel in Folge der Pariser Kommune 1871 verstärkt in den Fokus politischer Kontrolle gerückt waren, war der dortige Anstieg der Kriminalität ein weiteres Anzeichen, das die Wahrnehmung eines sozialen Konfliktfeldes steuerte. Die Randbezirke von Paris wurden zu einem ceinture rouge, eine Markierung, die die sozialräumliche Verteilung der Arbeiterstadtteile ebenso wie deren politische Positionierung umschrieb. Die Lebenswelt der sogenannten Apachen zeichnete sich unter diesen Bedigungen nicht nur durch Kriminalität und Prostitution, sondern ebenso durch lokale soziale Strukturen und den Alltag in den proletarisch geprägten Stadtvierteln von Paris aus. Hierzu gehörten auch einfache Tanzveranstaltungen, darunter vor allem die bals musette. André Warnod beschrieb den »Bal des Gravilliers« im 11.  Arrondissement bereits damals als einen düsteren Ort des Zusammentreffens der Apachen: »C’est le bal des apaches du Sébasto, un bal qui dans cette obscure et sinistre rue des Gravilliers est indiqué par une boule lumineuse portant en lettres noires ce simple mot: Bal.«207 Und auch Claude Dubois, der die Lebensumstände rund um das Pariser Bastilleviertel rekonstruierte, formulierte diesbezüglich, »(…) les trois termes: accordéon, musette et apaches sont restés indissociés dans la mémoire du Paris populaire et voyou.«208 Diese Etablissements, sowohl nahe der Bastille als auch in Belleville und auf dem Montmartre gelegen, befanden sich oftmals unter polizeilicher Kontrolle. Sie standen zumeist unter dem generellen Verdacht, Orte der Prostitution und der Kleinkriminalität zu sein, und wurden daher im Volksmund auch »bal de voyou« (Ganoven­ bälle)  genannt.209 Armut und Kriminalität verschränkten sich an diesen­ Orten zu wirkmächtigen Vorstellungen der Stadt.210 Dieser Exkurs, der von der internationalen Kultur im Zentrum von Paris zu der lokalen populären Kultur der Pariser Stadtteile geführt hat, legt einige Gemeinsamkeiten zur Geschichte und zu den Bedeutungszuschreibungen des Tango nahe. Der französische Apache ähnelte dem argentinischen Compadrito, der in den Tanzlokalen von Buenos Aires zum Sinnbild des Tango206 Dubois, S. 82. 207 Warnod, Bals, Cafés et Cabarets, Le Bal des Gravilliers, S. 195 ff. 208 Dubois, S. 89. 209 Joannis-Deberne, S. 73. 210 Csergo, S. 189. Zur Kultur der Vorstädte im 20. Jahrhundert vgl. auch Gérôme/Tarta­ kowsky u. Willard.

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tänzers geworden war. In Abgrenzung zu der Figur des argentinischen Gauchos liefen in der Figur des Compadritos all jene negativen Zuschreibungen zusammen, die den Tango als Kultur der städtischen Unterschichten von Buenos Aires markierten.211 Kriminalität und Prostitution, verkörpert in der Lebensweise des Compadrito, dienten als wirkmächtige Vorstellungen, um eine argentinische nationale Identität von den Einwanderern am Stadtrand abzugrenzen. In Paris, wie in Buenos Aires, ging die Wahrnehmung der Lebensweisen sowie der kulturellen Ausdrucksformen der Arbeiter­ bevölkerung mit der Entstehung solcher Figuren einher, in denen sich Vorurteile und Klischees sammelten. Darüber hinaus waren auch die französischen bals musette genau wie der argentinische Tango ein von Migration geprägtes Phänomen.212 Als italienische Immigranten zu Beginn des 20.  Jahrhunderts das Akkordeon mit nach Paris brachten, begann dieses bald den Dudelsack (musette)  als Instrument der Auvergne zu verdrängen. Die Musette als eigenes Genre enstand damit als eine neue Mischform, in der sich die regionale Kultur der Auvergne mit der Kultur der zugewanderten Italiener verband. Im Journal L’Auvergnat de Paris wurde diesbezüglich zunächst ein erbitterter Kampf darüber geführt, ob das Akkordeon die »authentische« Musette zerstören würde.213 Doch die alltagsweltlichen Verbindungen zwischen den italienischstämmigen Zuwanderern und der Bevölkerung aus der Auvergne ließen in Paris gemeinsame kulturelle Formen entstehen.214 Auch die Musette war demnach ein kulturelles Phänomen, das sich unter den spezifischen Bedingungen der Großstadt entwickelt hatte und hierbei sowohl aus regionalen als auch aus transnationalen kulturellen Einflüssen zehrte, die in der Stadt aufeinandertrafen. Der Vergleich von Tango und Musette bzw. der­ Figur des Compadrito und des Apachen weist zunächst vor allem auf ähnliche soziale Strukturierungen des Stadtraumes hin, in dem sich kulturelle Formen vor allem aufgrund ihrer sozialen Ausgrenzung ähnelten. Die proletarischen Stadtviertel von Buenos Aires und Paris bzw. die populäre Kultur der dortigen Bevölkerung waren jedoch nicht nur vergleichbar, sie standen auch in Beziehung zueinander. Argentinische Tangotitel wie »El apache argentino« belegen, dass diese Zuschreibungen auch zwischen den Städten 211 Vgl.: Ein Gaucho ohne Pferd – Der Compadrito, Birkenstock u. Rüegg, S. 53 ff. Reichardt, S. 31. 212 Blanc-Chaléard. 213 Dubois, S. 92–94. 214 Blanc-Chaléard, S. 78.

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transportiert und aufgenommen wurden.215 Ende der 1920er Jahre entstanden mit dem tango musette weitere musikalische und kulturelle Überschneidungen. Diese Analogien zwischen dem Tango in Buenos Aires und der Präsenz der Apachen auf den bals musette verweisen auf ähnliche Wahrnehmungsmuster und Bedeutungszuschreibungen der populären Kultur in den beiden Metropolen. Sie zeigen die Verschränkungen von Diskursen nationaler Identität und sozialer Exklusion. Bereits 1842 hatte Eugène Sue in seinem Fortsetzungsroman »Die Geheimnisse von Paris« seine Leser mit »zu den Wilden von Paris« genommen und dabei noch die Gegend auf der Île de la Cité gemeint, den ältesten Teil der französischen Hauptstadt, in dem damals die ärmste Bevölkerung lebte.216 Am Ende des 19.  Jahrhunderts hatte sich die sozialräumliche Segregation von Paris verschoben. »Die Wilden« lebten nun rund um die Bastille, in Belleville und auf dem Montmartre und damit mehrheitlich in den Randbezirken von Paris. Als »fremd« konnten daher sowohl die französischen Apachen als auch der argentinische Tango erscheinen. Die Begegnung mit dem vermeintlich Fremden war daher immer auch eine Auseinandersetzung mit der eigenen Stadt und ihren Rändern.217 Fremdheit war daher in keinem Fall an eine geographische Dimension gebunden – auch die eigene Kultur in Paris wurde zunehmend durch die Linse des Fremden gesehen. Die Auseinandersetzungen mit der Metropolenkultur der Jahrhundertwende, so kann hier zusammenfassend festgestellt werden, resultierten zu einem zentralen Teil  aus den gesellschaftlichen Transformationen in der Großstadt, wobei vor allem die sozialen Unterschiede und die damit einhergehenden voneinander abweichenden Formen der Teilnahme an der Metropolenkultur bedeutsam waren. Diese Konfliktlinien müssen jedoch über einen nationalstaatlichen Bezugsrahmen hinaus durch den Blick auf solche Auseinandersetzungen erweitert werden, die eine Verflechtung der Metropolenkultur in globale Zusammenhänge thematisierten. Am Beispiel der Tangogegner wurden diesbezüglich gesellschaftliche Debatten sichtbar, die eine Verunsicherung gegenüber den zunehmenden globalen Bezügen der populären Kultur zeigten. Die Kritiker, so ist gezeigt worden, offenbarten in ihren Formulierungen gegenüber dem Tango bzw. gegenüber den Argentiniern 215 »El apache argentino« von Manuel Gregorio Aróztegui (1888–1938). Vgl. Bates u. Bates, S. 97. 216 Eugène Sue, Les Mystères de Paris, Paris 1842–1843. 217 Zu diesem Aspekt siehe auch Klopp u. Müller-Richter.

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in der Stadt häufig eine Unsicherheit hinsichtlich der veränderten Realitäten des kulturellen Lebens in Paris. Der vergleichende Blick auf den argentinischen Tango und die Pariser Apachen bzw. die französische Musette hat gezeigt, dass sich in der Wahrnehmung des Fremden soziale und nationale Kriterien überlagerten und sich die Kategorie der Fremdheit innerhalb der Stadt dadurch vervielfältigte. Das leitende Interesse dieser Arbeit richtet sich auf die Schnittstelle der Auseinandersetzungen zwischen Tangogegnern und Tangobefürwortern und fokussiert Metropolenkultur damit als konfliktgeladenen Aushandlungsprozess. Die Argumente der Gegner können in diesem Sinne auch als produktiv interpretiert werden, denn sie waren ein Zeichen einer aktiven Auseinandersetzung, die den kulturellen Transfer bedingte. Indem im Folgenden der Blick auf die Tangobefürworter gerichtet wird, zeigt sich, inwiefern die populäre Kultur der Metropole immer alternative und miteinander konkurrierende Deutungsmuster generierte, die einen aktiven Prozess des Aushandelns einforderten. Im Gegensatz zu der Ablehnung des Tango wird daher gerade die Inszenierung des Tanzes als Phänomen einer modernen Metropolenkultur im Mittelpunkt stehen.

4.4 Tangobefürworter – Jean Richepin: »A Propos du Tango« Am 25.10.1913 hielt Jean Richepin als Mitglied der Französischen Akademie am Institut de France eine glühende Verteidigungsrede für den Tango.218 Jean Richepin (1849–1926), Schriftsteller, Dramatiker und Lyriker, der in Algerien geboren und in seiner Jugend viel durch Europa gereist war, lebte seit den 1870er Jahren in Paris und verkehrte dort in den Salons und Cafés des Quartier Latin.219 Richepins naturalistische Prosa und seine Lyrik riefen aufgrund ihrer provokanten Sprache und Themen gegenteilige öffent­ liche Reaktionen hervor. Zeitweilige Veröffentlichungsverbote, Geld­strafen und kurzfristige Haftstrafen trugen in den frühen Jahren jedoch eher zur Popularität seiner Person bei.220 Seine Theaterstücke feierten an der Comédie-­ Française bereits seit den 1880er Jahren große Erfolge, 1908 erfolgte die Auf218 Jean Richepin, »A propos du Tango«, Institut de France. Séance publique annuelle des cinq académies. 25 octobre 1913, Paris 1913. 219 Sutton, S. 26. 220 Ebd., S. 18.

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nahme Richepins in die Französische Akademie. Mit Jean Richepin hatte es sich demnach kein Unbekannter zur Aufgabe gemacht, vor einem ausgewählten Publikum über den Tango zu sprechen. Das Thema hatte nun also seinen Weg bis in eine der höchsten Ebenen des französischen gesellschaftlichen Lebens gefunden. Seit ihrer Gründung 1635 auf Initiative Kardinal Richelieus unter Ludwig XIII. galt und gilt die Französische Akademie bis heute als wichtigste französische Gelehrtengesellschaft, deren 40 Mitglieder auf Lebenszeit berufen werden. Sie widmet sich der Pflege der französischen Sprache und Kultur und nimmt daher von jeher eine zentrale Rolle im kulturellen Leben Frankreichs ein. In einem solchen Kontext sorgte die Rede Richepins über den Tango dementsprechend für eine umfangreiche Resonanz in der französischen Öffentlichkeit. Zu einem Zeitpunkt, zu dem sich die Tangomanie in Paris augenscheinlich auf einem Höhepunkt befand und in den großen Music Halls häufig­ Vorträge stattfanden, trat Richepin nicht auf die Bühne eines Unterhaltungslokals, sondern vor das ausgewählte Publikum der französischen Akademie. Einerseits war Richepin nur einer von vielen, die das Wort zugunsten des neuen Modetanzes ergriffen. Die Tatsache jedoch, dass es sich in diesem Fall bei Veranstaltungsort und Publikum nicht um eine Music Hall handelte, verweist auf den Stellenwert, den die Reflexionen über den Tango zu diesem Zeitpunkt angenommen hatten. Die Rede Jean Richepins verdichtete die Aspekte, die zu diesem Zeitpunkt die Debatten um den Tango bestimmten. Es war eine weit ausholende Lobrede auf den neuen Tanz, die die Argumente der Tangogegner zusammenführte und zu widerlegen suchte. Sie dient im Folgenden daher zum einen beispielhaft dazu, den kritischen Stimmen eine alternative Interpretation des Tango entgegenzustellen, zum anderen zeigt aber diese Rede auch eine Systematisierung der Konfliktfelder. Sie steht daher einleitend für die Argumentationen derjenigen, die sich in Paris für den Tango einsetzten und deren Beweggründe und Ziele nicht nur bezüglich des Tango, sondern auch in einem weiteren Rahmen hinsichtlich der Auseinandersetzung mit der populären Kultur der Stadt aussagekräftig sind. Die Rede gliederte sich in zwei Teile. Zunächst sprach Jean Richepin über die französische Tanzkunst. Er begann mit allgemeinen Ausführungen zur Geschichte des Tanzes, sprach in Anlehnung an die griechische Mythologie über die Kontinuität der Tanzkunst in der Geschichte der Menschheit und verwies damit auf den Tanz als anthropologische Konstante.221 In eine 221 Richepin, A propos du Tango, S. 81.

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solche Geisteshaltung, die den Tanz als hohe Kunst und als Ausdruck von Zivilisation wertschätzte, schrieb Richepin dann im Folgenden auch den Tango ein. Dieser sei eine umfassende Kunstform, die den schönen Künsten genauso angehöre wie der Philosophie und der Geschichte, aufgrund der Rhythmik und der überaus komplexen Schrittfolge sogar auch der Mathematik.222 Der Einordnung des Tango in die französische Hochkultur schien mit dieser Lesart daher nichts entgegen zu stehen. Die Rede Richepins zielte darauf, die Vorwürfe gegen den Tango, die in der französischen Presse laut geworden waren, zu entkräften. Mit diesem Ziel setzte er sich im zweiten Teil konkret mit den Diskussionen um den Tango auseinander und systematisierte die gegenwärtigen Vorbehalte gegenüber dem neuen Tanz, die er in folgenden Worten zusammenfasste: »Les trois grands reproches dont on accable le Tango ont pour causes son origine étrangère, son origine­ populaire, et son caractère inconvenant.«223 Die Beschwerden hinsichtlich des »caractère inconvenant« hielt Richepin nicht für ernst zu nehmen und erledigte sie mit der einfachen Bemerkung, es käme immer auf die Tänzer an, denn jeder Tanz könne begeistern und empören, je nachdem wie er ausgeführt werde. Der Charakter des Tanzes, seine Choreographie und seine Körperlichkeit hatten dem Tango kritische Vorwürfe der Nähe zur Pornographie und des Verstoßes gegen geltende Moralvorstellungen eingebracht. Die Tanzlehrer hatten diesbezüglich schon formend auf die Choreographie eingewirkt. Richepin hingegen griff diese Diskussionen nicht auf, sondern konzentrierte sich auf zwei andere Vorwürfe, deren Widerlegung er weitaus mehr Aufmerksamkeit widmete. Gegen den zweiten Vorwurf, der fremden Herkunft des Tango, verwahrte sich Richepin mit folgenden Worten: »Quant à l’origine étrangère du Tango, il est bizarre qu’on l’incrimine dans ce Paris si hospitalier où tour à tour ont flori la contredanse anglaise, la valse allemande, la mazurka polonaise, la polka hongroise, la scottish lithuanienne, la redowa tchèque et le boston américain.«224 Er verwies damit auf die Geschichte des Tanzes und seine europäische Prägung. Die französische Gastfreundschaft hätte all diese unterschiedlichen Nationalkulturen willkommen geheißen und es wäre ganz und gar unverständlich, wenn diese Ehre nun nicht auch dem Tango zuteil werde, formulierte Richepin. Die Betonung der Gastfreundschaft von P ­ aris 222 Ebd., S. 80. 223 Ebd., S. 85. 224 Ebd., S. 85.

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zeigte implizit die Absurdität der Forderung nach einer »reinen« französischen Tanzkunst. Sie unterstrich aber vor allem die Bedeutung von Paris, in der all diese kulturellen Strömungen aufeinandertrafen und die Fähigkeit der Stadt, diese Einflüsse aufzunehmen. Die globalen Dimensionen der Unterhaltungskultur in Paris wurden hiermit von Richepin, ganz im Gegenteil zu den Tangogegnern, als eine wichtige Bereicherung interpretiert, die den tradierten kulturellen Führungsanspruch der Stadt innerhalb Europas unterstrichen. Der dritte Aspekt, dem Richepin ebenfalls viel Raum widmete, war der Vorwurf des Populären. »Et ici, les détracteurs du Tango on beau jeu, semble-­ t-il, et ne se privent pas d’en abuser, se voilant pudiquement la face à l’idée que, pour lui, ce pelé, ce galeux, populaire n’est pas assez dire, et doit se prononcer péjorativement populacière. Pensez donc! Une danse qui a eu pour berceaux les bouges les plus immondes de l’Amérique! Une danse de bouviers, de palefreniers, de gauchos, de demi-sauvages, de nègres! Fi! l’horreur!«225 Mehr noch als die fremde Herkunft war es das Wissen um die Verortung des Tango innerhalb der städtischen Unterschichten, die von den Gegnern des Tanzes zu dessen Verurteilung herangezogen wurde. Auch Richepin konnte eine solche Herkunft des Tango nicht leugnen und entwarf stattdessen ein historisches Erklärungsmodell zur Beschwichtigung dieser Vorwürfe. Die Moralisten, so Richepin, die die alten französischen Tänze zurückforderten, seien daran erinnert, dass auch diese aus dem einfachen Volke stammten. Alle Tänze, selbst die aristokratischen, wie das Menuett und die Gavotte, hätten beim einfachen Volk ihren Ursprung und bis heute könne man in den Vororten von Paris sehen, wie sehr das französische Volk den Tanz liebe und neue Tänze erschaffe, die vielleicht sogar noch komplexer seien als der Tango. Worauf es ankomme, sei die Metamorphose, die der Tanz auf seinem Weg von der Volkskunst in die hohe Kunst durchliefe. Um den Tango in den Kanon der anerkannten Tänze aufnehmen zu können, argumentierte Richepin demnach mit der Notwendigkeit einer Hebung der kulturellen Ausdrucks­ formen des Volkes und bewegte sich damit ganz im Rahmen bürgerlicher Vorstellungen von Erziehung und Bildung der unteren Schichten. Das Bemerkenswerte an dieser Argumentation war ihre Widersprüchlichkeit. Ganz im Geiste der Zeit verband sich in Richepins Argumentation eine nationa­ listische Hinwendung zur Volkskultur mit der Ablehnung der populären Kultur der Großstadt. Der innere Widerspruch lag jedoch darin, dass es in seiner 225 Ebd., S. 86.

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Rede keinesfalls um die ländliche Kultur des einfachen französischen Volkes ging, für dessen Anerkennung Richepin eintrat. Er verteidigte ganz im Gegenteil den Tango und damit ein genuin städtisches Phänomen. Die Erklärung hierfür liegt weder in der Unkenntnis Richepins über die tatsächliche soziale Herkunft des Tango noch ging es hier um einen rhetorischen Trick, der die Gegenstimmen verstummen lassen sollte. Wie schon Cunninghame Graham in der Revue Sud-Américaine bezog sich auch Richepin mit einer solchen Formulierung auf eine Verortung des Tango innerhalb einer argentinischen Gauchokultur und stellte damit ein »edles wildes« Landleben der durch Migration geprägten Großstadt Buenos Aires gegenüber. Obwohl diese Argumentationskette logisch falsch war und der tatsächlichen Herkunft des Tango nicht gerecht wurde, muss man nicht darüber urteilen, ob Richepin sich diese Begründung intentional zunutze gemacht hatte. Prägnant scheint im Rückblick eher die Formbarkeit der Erzählungen über die Herkunft des Tango, an der auch Richepin mitwirkte. Soweit zu den Vorwürfen der Tangogegner, die Richepin argumentativ zu widerlegen suchte. Richepins daraus folgende Synthese kann man als eine Art Leitsatz im Umgang mit dem Tango in Frankreich verstehen: »Et, pour conclure, qu’importe, en somme, l’origine étrangère et populaire d’une danse? Et qu’importe, même, son caractère et sa figure? Nous francisons tout, et la danse, que nous aimons à danser devient française.«226 »Franzö­ sierung« meinte hierbei einen umfassenden Prozess, der den Tango nach Überzeugung Richepins zu einem Teil der französischen Kultur werden lassen sollte. Hinter einer solchen Formulierung stand eine hegemoniale Auffassung von französischer Kultur, der die Fähigkeit zugesprochen wurde, kulturelle Importe zu »veredeln« und dem eigenen Geschmack anzupassen. Diese Überzeugung schlug unverkennbar einen nationalistischen Tonfall an, der sich noch einmal besonders deutlich in einem Plädoyer am Ende der Rede zeigte. Die Einheit von Tanz, körperlicher Ertüchtigung und der Wehrhaftigkeit eines Volkes, so Richepin, seien am antiken Griechenland beispielhaft abzulesen, sodass die Förderung des Tanzes eine patrio­tische Aufgabe sei. Schon allein deshalb dürfe Frankreich kein Land werden, in dem man nicht tanze, so die unmissverständlichen pathetischen Schlussworte Richepins, die am häufigsten in der französischen Presse zitiert wurden. Richepin argumentierte mit der nationalen Größe Frankreichs, die sich in Paris präsentierte. Er sah weder in der populären Kultur der Stadt noch 226 Ebd., S. 87.

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in den zunehmenden globalen Verknüpfungen eine Gefahr für die franzö­ sische Nation, sondern im Gegenteil den Beweis für ihre Stärke. Es sei unwichtig, woher die Tänze kämen, betonte Richepin am Ende seiner Rede noch einmal, da der Einfluss der französischen Kultur so stark sei, dass diese dadurch vollständig »gereinigt« und eingegliedert werden könnten. Diese Argumentation und die Rede von einer Französierung zeigten, dass die Aneignung des Tango ein aktiver Prozess war, in dem das Original verändert und dem neuen Kontext angepasst wurde. »Französierung« meinte bei R ­ ichepin mehr als die bloße Veränderung der Musik und der Choreographie des Tango. Diese Rede vor der französischen Akademie war nicht das einzige, wenn auch eines der öffentlichkeitswirksamsten Engagements Richepins für den Tango. Als Künstler wusste er die Beliebtheit des neuen Modetanzes durchaus zu nutzen. Im Januar 1914 feierte das Theaterstück »Tango« aus der Feder Richepins am Théâtre de l’Athénée Premiere, welches mit Modeschöpfungen Paul Poirets aufwendig inszeniert worden war. In der Zeitschrift La Vie Heureuse berichtete seine Frau, der Tango solle in diesem Stück, das von der Lebenslust eines jungen Paares handele, als ein »tieferes kulturelles S­ ymbol der Zeit wahrgenommen werden«.227 Obwohl das Stück in der französischen Presse eher ablehnend beurteilt wurde, so war hier doch sehr deutlich zu erkennen, dass Richepin ein ganz praktisches Interesse am Tango hatte bzw. sich auch einen persönlichen Nutzen von dem Erfolg des Tanzes versprach.228 Jean Richepin machte sich mit seinem Engagement und vor allem mit der Rede vor der französischen Akademie zum Fürsprecher der Aufnahme des Tango in Paris. Die Resonanz in vielen französischen und auch in deutschen Zeitungen und Zeitschriften zeigte, dass ihm damit große öffentliche Aufmerksamkeit zuteil wurde. Insgesamt war Richepin bei der Aufnahme des Tango in einen französischen Kontext als Künstler und als Person des öffentlichen Lebens damit ein wichtiger Akteur, dessen Deutungen in einem Gegensatz zu den kritischen Stimmen standen, die im Tango bzw. in der Metropolenkultur eine Gefährdung sahen. In Richepins Argumentationen spiegelte sich der Prozess der Aneignung des Tango und die Entstehung neuer Bedeutungszuschreibungen wider.

227 Annie Benson, Les Modes du Tango, La Vie Heureuse, Nr. 1 (1914), S. 8–13. 228 De Grézis, Le Tango, Comœdia Illustré. Journal artistique bi-mensuel. Nr. 8 (1914).

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4.5 Machtvolle Aneignung: Exotisierung und Französierung des Tango Mit dem Begriff der »Französierung« hatte Richepin einen Terminus in die Debatten um den Tango eingebracht, der all die Forderungen nach Veredelung, Formung oder Modifizierung, die von Tanzlehrern und einigen Argentiniern geäußert worden waren, auf einen Begriff komprimierte. Die Vorwürfe, die Richepin in seiner Rede zu widerlegen meinte, wurden hierdurch mit der ebenso pragmatischen wie selbstbewussten Überzeugung­ beantwortet, dass der Tanz letztendlich »französisch« werden würde und damit gegenüber allen Zweifeln erhaben sei. Richepin hatte betont, dass bei einem solchen Prozess der Französierung sowohl die fremde Herkunft des Tango umgedeutet als auch die moralischen und sozialen Vorbehalte relativiert werden würden. Der Prozess der Aneignung des Tango in Paris erforderte demnach Strategien, sich mit einer internationalen populären Kultur der Metropole auf unterschiedlichen Ebenen auseinander zu setzen. Richepin war diesbezüglich keine Einzelperson. In seiner Rede verdichteten sich lediglich beispielhaft die inhaltlichen Aspekte, die auch in der französischen Presse diskutiert wurden. Die Auffassung der Formung, verbunden mit der Kontrolle dessen, was in Paris rezipiert wurde, zeichnete sich auch in Zeitungen und Zeitschriften ab. Auch André de Fouquières formulierte eindrücklich: »Le tango, c’est la danse des fameux gauchos (…): ces ­rudes hommes ne peuvent évidemment se contenter des manières pré­ cieuses de nos salons, leur personnage va de la galanterie brutale à un corps à corps qui semble une lutte. Aussi le tango est-il une danse qui ne peut être im­portée directement. Il faut lui faire subir à la douane une sérieuse visite et y apporter des modifications radicales.«229 Das Bild einer »Zollkontrolle« evozierte die Vorstellung von Paris als einer Stadt, die Entscheidungen über Aufnahme, Modifizierung oder Ablehnung fremder Kultur treffen konnte. Programme und Künstler aus der ganzen Welt sowie ein internationales Publikum prägten das Bild und die Wahrnehmung der populären Kultur im Zentrum von Paris. Je spektakulärer und je exotischer, desto lukrativer – dies konnte man über die Programme der Music Halls und die luxuriöse Ausstattung vieler Etablissements zusammenfassend feststellen. Während kritische Stimmen hierin jedoch eine Gefährdung der eigenen Kultur sahen, wussten die Befürworter des Tango und der neuen Tänze diesen Wandel des urbanen Lebens ganz anders zu interpretieren. »Une danseuse ­moscovite, 229 André de Fouquières, Les Danses Nouvelles: Le Tango, Femina, Nr. 289 (1913), S. 58.

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exécutant une danse persane, dans un décor grec, sur le rythme d’une valse autrichienne: Voilà ce qui est, aujourd’hui, le dernier mot du raffinement parisien!« unterschrieb La Vie Parisienne die Zeichnung einer Tänzerin, deren Kleider die Elemente dieser kulturellen Stile in sich vereinigten.230 Eine willkürliche Vermischung exotischer Sujets, so vermittelte dieses Bild, war zum einen kommerziell attraktiv und versprach zum anderen die Teilhabe an einer einzigartigen Kultur von Paris. Obwohl die steigende Zunahme an exotischen Sujets auf den Bühnen von Paris mit der Ausdehnung des französischen Kolonialreichs parallel verlaufen war, spiegelte der Publikumsgeschmack nur begrenzt den französischen Besitz in Übersee. Die Auswahl der exotischen Sujets hing dabei nicht von der geographischen Entfernung oder der Zugehörigkeit zu den französischen Kolonien ab. Sie verlief vielmehr »willkürlich« und nivellierte kulturelle Differenzen. Die exotischen Imaginationen von Reisenden in den Orient waren um 1900 in der französischen Bevölkerung sehr viel präsenter.231 Es schien sogar nicht unmöglich, die Faszination für den Orient auch auf den Tango zu über­tragen. »Souvenons-nous que c’est d’une colonie espagnole que descendent les Argentins, et que c’est une race qui a des origines primitives orientales par les Arabes qui ont occupé l’Espagne durant plusieurs siècles. Il est très facile d’apercevoir toute la parenté qui existe entre le tango et les danses orien­tales (…).«232 Max Rivera, der ein großer Anhänger des Tango war, fasste die historische Entwicklung Spaniens und Lateinamerikas im Schnelldurchlauf zusammen und kam zu diesen Einschätzungen kulturellen Austausches. In seinem Buch Le tango et les danses nouvelles konstruierte Rivera »maurische Wurzeln« des Tango und bewies hiermit ganz ähnlich wie Richepin, dass der Entstehung von neuen Herkunftsmythen kaum Grenzen gesetzt waren. Die Tangotänzer und die argentinischen Orchester selbst traten auf den Bühnen von Paris in der Kleidung der argentinischen Gauchos auf. Obwohl die Figur des ländlichen Gauchos nur bedingt in Zusammenhang mit dem städtischen und stark durch Migration geprägten Kontext des Tango stand, wurde eine solche stereotype Vorstellung Argentiniens als Land der Pampa und der Rinderzucht zum Erkennungsmerkmal des Tanzes. Nicht umsonst hatte sich die argentinische Oberschicht in Paris und im Zentrum von 230 Le rêve d’une nuit de ballets russes. Dessin de C. Martin, La Vie Parisienne, Nr. 22 (1914). 231 Moura, S. 77. 232 Rivera, Le tango et les danses nouvelles, S. 11.

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Buenos Aires von einer solchen Reduzierung argentinischer Nationa­lität­ distanziert. Die argentinische Kulturwissenschaftlerin Marta E. Savigliano hat diesbezüglich argumentiert, dass der Erfolg des Tango in Europa ausschließlich innerhalb des Machtverhältnisses zwischen Europa und der außereuropäischen Welt interpretiert werden könne. Die Inszenierung der Argentinier als Gauchos auf der Bühne bezeichnete sie diesbezüglich als­ Autoexotisierung, als eine Übernahme europäischer Stereotype, ohne deren Symbolgehalt die Aufführung nicht funktionieren konnte.233 Der Tango trat auf einer vermachteten Bühne auf, auf der das hierarchische Verhältnis zwischen Paris und Buenos Aires markiert wurde. Obwohl Argentinien de facto ein unabhängiges Land war, zeigte eine solche Wahrnehmung und Repräsentation des Tango eine imperiale Ordnung der Welt, in der Frankreich für sich in kultureller Hinsicht Deutungsmacht in Anspruch nahm. Exotismus und Imperialismus waren am Ende des 19.  Jahrhunderts untrennbar miteinander verknüpft. Die Strategien der Exotisierung des Tango durch die Repräsentationen auf der Bühne, wie auch die willkürliche Interpretation seiner Herkunft durch französische Autoren scheinen der Idee einer Französierung zunächst diametral gegenüberzustehen. Die Vorstellung, einen französischen Tango zu erschaffen und gleichzeitig dessen exotische Anziehungskraft zu bewahren, scheinen sich auf den ersten Blick gegenseitig auszuschließen. Jedoch handelte es sich hier durchaus um zwei eng miteinander verknüpfte Strategien, um den globalen Dimensionen der populären Kultur in der Großstadt zu begegnen und Phänomene wie den Tango im eigenen Interesse umzudeuten. Dahinter stand das Vertrauen in eine französische Kultur, die sich aus dem kulturhistorischen Hintergrund der kolonialen Erfahrung Frankreichs speiste. Französierung meinte auch in der Metropole Paris nichts anderes als Zivilisierung – eine Auffassung der Überlegenheit französischer Kultur und ein diesbezügliches Sendungsbewusstsein, das auch der fran­zösischen Kolonialpolitik zugrunde lag. Die kulturelle Erfahrung in den Kolonien übertrug sich so auf die Erfahrung der Welt in der eigenen Stadt. Unter dem Prozess der Französierung war damit noch viel mehr als die konkrete Veränderung des Tanzes, wie sie die Tanzlehrer vornahmen, eine machtvolle Aneignung zu verstehen, welche eine vermeintlich fremde Kultur unter französischer Ägide in Paris »zivilisierte« und in die städtische Vergnügungskultur als exotisches Produkt französischer Veredelung einschrieb. Eine solche For233 Savigliano, S. 119.

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mung ging mit neuen Bedeutungszuschreibungen einher, die die Wahrnehmung in Paris prägten und auch in anderen Metropolen transportiert wurden. Dabei war man davon überzeugt, dass die eigene Kultur dadurch unangetastet bleiben und sich der französische Geschmack durchsetzen würde. André de Fouquières formulierte auch bezüglich der neuen Modetänze zuversichtlich, »(…) à travers toutes les excentricités, le bon goût français reparaît toujours et finit par avoir le dernier mot«.234 Französierung war damit eine diskursive Absicherung des Eigenen. Was die Tangogegner als Gefahr betrachteten, sahen die Befürworter in diesem Sinne als eine notwendige Auseinandersetzung mit der populären Kultur und vor allem als einen wertvollen Bestandteil der Metropolenkultur, deren exotische Attraktivität diese qua definitionem auszeichnete. Französierung und Exotisierung des Tango waren daher durchaus keine gegensätzlichen, sondern sich gegenseitig bedingende Prozesse, denn die Exotisierung des Tango war Teil seiner Formung als exotisches Raffinement einer spezifisch französischen Unterhaltungskultur in Paris, die sich gerade durch die Vielfältigkeit ihrer Attraktionen exponierte. Die Welt in der Stadt zu repräsentieren, war in diesem Sinne eine Dimension der populären Kultur von Paris, die in Konkurrenz mit anderen Metropolen die stilbildende Rolle der Stadt abzusichern suchte. Aus einer solchen Perspektive veränderten sich auch die Vorbehalte gegen die soziale Zuordnung des Tango. Richepin hatte in seiner Rede die Kritik gegenüber der Herkunft des Tango damit zu entkräften versucht, dass er diesen mit den französischen Volkstänzen verglich. Diese Tänze würden ebenfalls veredelt und damit in den Kanon der anerkannten Tänze aufgenommen, hieß es. Auch hier waren »kulturelle Hebung« und »Zivilisierung« die Grundgedanken. Während Richepin dabei jedoch die Veredelung französischer Volkstänze im Sinn hatte, wendeten sich die Vorwürfe gegen die soziale Herkunft des Tango gerade gegen seine Zugehörigkeit zu einer städtischen Unterschicht in Buenos Aires. Die Argumentation Richepins lief diesbezüglich also ins Leere. Entlang der Argumentation der Tangogegner ist gezeigt worden, wie auch gegenüber der populären Kultur der proleta­ rischen Bevölkerung von Paris Exotisierungs- und Verfremdungsstrategien wirkten, die den Ausgrenzungsversuchen gegenüber dem Tango sehr ähnlich waren. Inwiefern genau diese kulturellen Ausdrucksformen der eigenen Unterschicht auch zu einem inhärenten Teil  der Metropolen­kultur in Paris um- bzw. aufgewertet werden konnten, zeigt ein erneuter Blick auf die 234 André de Fouquières, Le Double Boston & Le One Step, Femina, Nr. 291 (1913), S. 106.

Metropolenkultur in Paris in der Kontroverse

Pariser Apachen – diesmal jedoch aus einer anderen Perspektive. Die schillernde Präsenz der sogenannten Apachen in den französischen M ­ edien hatte dazu geführt, dass unter dem Namen »Apachentanz« eine Bühnenvorstellung entstanden war, die die vermeintlich rauen Umgangsformen mit akrobatischen Kampfszenen persiflierte. Der berühmteste Vertreter dieses Apachentanzes wurde Maurice Mouvet (1889–1927), der den Tanz für sich professionalisierte und damit internationale Erfolge feierte. In seinen Aufzeichnungen berichtete er 1915, wie er mit dem französischen Künstler Max Dearly in einem französischen Café den Apachentanz beobachtete und davon so fasziniert war, dass er sechs Wochen Unterricht nahm, um diesen aufführen zu können. Wenige Monate später trat er damit in New York auf und gab dort auch Unterricht im Apachentanz.235 Diese erfolgreiche Inszenierung der Apachen führte zu weiteren Adaption des Phänomens auf den Bühnen der Music Halls und auch im Film. Bereits 1916 erschien der Kurzfilm »The Quest of Life«, in dem Maurice Mouvet mit seiner Partnerin­ Florence Walton die Hauptrolle spielte. Auch Apachenbälle als Kostümfeste wurden zu beliebten Veranstaltungen. »Les bals costumés, les bals de têtes, ces fantaisies si amusantes, et malgré tout de bon ton, furent remplacés par des ›bals d’apaches‹«, berichtete eine französische Zeitschrift.236 Die Faszination, die eine solche verfremdete und exotisierte Inszenierung des Lebens der Arbeiterbevölkerung von Paris im Publikum auslöste, wurde bereits damals erkannt und kommentiert. André Warnod vermerkte dazu in seinen Schilderungen der Pariser Lokale: »Les gens qui n’y sont jamais allés, et qu’un dîner ou quelque autre aventure a attardés dans ce quartier, pressent le pas en passant devant ce bouge, ces gens-là s’en font une idée terrifiante, très romantique et très peu exacte.«237 Diese »gezähmte« Form der Apachen und der Apachentänze wurde für die wohlhabenden Schichten und die Besucher von Paris zu einer Attraktion. Statt einer vermeintlichen Gefährdung durch das Fremde zeigte sich hier vielmehr die Anziehungskraft des Fremden im Eigenen. Die »Unterwelt« wurde in Paris in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem Topos, der sich in die Genres der populären Kultur einschrieb. Der Erfolg von Kriminalliteratur, die Entstehung von Gerichtsreportagen und das mediale Interesse für Kriminalität zeigten deutlich, dass 235 Maurice Mouvet, Maurice’s Art of Dancing: an autobiographical sketch with complete descriptions of modern dances, New York 1915. Kapitel VI: The Dance of the Apache. Siehe auch: Groppa, S. 5/6; Lange, The Argentine Tango, S. 161 ff. 236 Un Bal d’Apaches, Femina, Nr. 269 (1912), S. 203. 237 André Warnod, Bals, Cafés & Cabarets, S. 195.

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sich populäre Ausdrucksformen herausbildeten, in denen das Fremde eine kontrollierte Größe blieb.238 Sowohl der Tango als auch der Apachentanz wurden auf diese Weise machtvoll angeeignet. Die Verschiebung der Bedeutung »exotisch« verdeutlichte in diesem Zusammenhang anschaulich ein Zeitungsartikel unter dem Titel »Noël des Exotiques à Paris«. In einer anekdotischen Erzählung schilderte man hier, wie ausgerechnet eine Gruppe von Argentiniern und anderen Südameri­ kanern, die sich als Touristen in Paris aufhielten, in einem Lokal auf dem Montmartre versuchten, zu ihrer Unterhaltung einen »echten« Apachen an ihren Tisch zu bestellen.239 Wer oder was in verschiedenen Zusammen­ hängen als exotisch wahrgenommen wurde, hing also sehr vielmehr mit dem sozialen Status als mit kulturellen Zuschreibungen zusammen. Für die Einordnung des Tango spielte die Präsenz der Argentinier in Paris dies­ bezüglich eine wichtige Rolle. Ihre Anwesenheit stellte eine Verbindung­ zwischen einem vermeintlich exotischen Tanz bzw. einer fremden Kultur und dem französischen Publikum her. Diese tendenziell engere und mehrdimensionale Verbindung unterschied den Tango von anderen exotischen Darbietungen der Music Halls und prägte die französische Wahrnehmung. Zwischen den wohlhabenden Argentiniern und dem französischen Publikum gab es vielfältige Berührungspunkte, da man sich innerhalb der Unterhaltungskultur an den gleichen Orten bewegte. Dieser Kontext bildete in Paris die Voraussetzung für einen sozialen Transfer des Tango, der den Tanz unter bestimmten Umständen aus seinem ursprünglichen Entstehungskontext herauslöste. Marta Savigliano definierte den ambivalenten Status des Tango in Paris aufgrund dieser Tatsache folgendermaßen: »In the early twentieth century, tango brought novelty into the exotic genre – a ›distinguished‹ and demimonde, urbane exoticism from the already in/dependent colonial world.«240 In der Metropole konnten kulturelle Zuschreibungen durchaus ambi­ valent sein. Das Zusammentreffen transnationaler Dynamiken in einem solchen verdichteten Raum ließ soziale und kulturelle Grenzziehungen innerhalb eines Spannungfeldes verschiedener Akteure bzw. verschiedener­ Interessen und Interpretationen wirkmächtig werden. Der Stadtrand von Paris, in diesem Sinne eher symbolisch als geographisch verstanden, konnte 238 Vgl. Pike. Siehe auch das Kapitel »Public Visits to the Morgue« in Schwartz. 239 Jacques Cézembre, Noël des Exotiques à Paris, Le Miroir, Nr. 39 (1912), S. 4. 240 Savigliano, S. 110.

Metropolenkultur in Paris in der Kontroverse

damit ins Zentrum von Paris rücken und Teil  der Metropolenkultur werden. Überdies hatte auch der Tango aus einer solchen Perspektive mit dem französischen Apachentanz sehr viel mehr gemeinsam, als seine vermeintlich exotische Herkunft zunächst hatte vermuten lassen. Eine dichotomische Trennung in fremde und eigene Kultur im Erfahrungsraum der Metropole ist daher nur auf den ersten Blick möglich und löst sich bei genauerem Hinsehen entlang vielschichtigerer Deutungsmuster auf. Im Folgenden soll daher abschließend gezeigt werden, welchen Stellenwert kulturelle Transfers für die Inszenierung der Metropole nach außen und in Konkurrenz mit­ anderen Metropolen einnahmen.

4.6 Paris als Portal: Zur Inszenierung der »capitale de plaisir« Orientierte man sich an den Reiseführern und der Reiseliteratur der Jahrhundertwende, so hielt Paris trotz der Konkurrenz durch die »alten« Metropolen London und Wien und trotz der Verfolgungsjagd durch den Parvenu Berlin unbestritten die Ausnahmestellung als Metropole des 19.  Jahrhunderts. Der Mythos der Stadt trug sich in den Selbstbeschreibungen in Literatur und Kunst weiter, deren vorläufigen Höhepunkt die Veröffentlichung des zweibändigen Reiseführers »Paris-Guide« darstellte, in dem 125 fran­ zösische Schriftsteller anlässlich der Weltausstellung 1867 die Stadt ehrten, unter ihnen Victor Hugo, der ein ausführliches Vorwort schrieb.241 Die Entstehung von Paris als capitale culturelle reichte mehrere Jahrhunderte zurück. Die kulturelle Anziehungskraft der Stadt erhielt sich durch die Akkumulation von Institutionen und kultureller Produktion, die Christophe Charle als Charakteristika der Herausbildung europäischer ­capitales culturelles bezeichnet hat. »Nous avons retenu comme capitale culturelle des espaces urbains dont suffisamment d’indices convergents permettent d’etablir qu’ils sont, a l’époque considerée un lieu d’attraction et de pouvoir structurant de tel ou tel champ de production symbolique.«242 Den Arbeiten aus dem Kreis um Christophe Charle ist zum einen zu verdanken, den Fokus auf die Orte gelenkt zu haben, an denen sich die symbolische Wirkung kultureller Produktion manifestierte. Dabei sind literarische, künstlerische und 241 Paris-Guide par les principaux écrivains et artistes de la France, Paris 1867. Eine­ Anthologie der Literatur zum Mythos Paris hat auch Citron zusammengestellt. 242 Charle, Le temps des capitales culturelles, S. 15

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wissenschaftliche Sphären und somit besonders der intellektuelle Austausch und die gesellschaftliche Kommunikation in den französischen ­Salons sowie die Attraktivität der Universitäten untersucht worden. Zum anderen haben diese Forschungen – ausgehend von der Feststellung, dass eine kulturelle Konkurrenz zwischen dominanten Städten in Europa bereits seit dem Mittelalter zu beobachten sei – vergleichend gearbeitet und damit auf Netzwerke zwischen Städten hingewiesen. Der Status einer capitale cultu­ relle manifestierte sich demnach immer in Relation zu anderen Städten und war innerhalb einzelner kultureller Sphären durchaus umstritten. Wendet man den Blick den Reiseführern als zeitgenössischen Quellen zu, so fällt auf, dass sich die Aufmerksamkeit und die Außenwahrnehmung der Städte im Verlauf des 19.  Jahrhunderts zunehmend auf die populäre Kultur der Metropole verlagerte. Während sich der Status von Paris über Jahr­ hunderte hinweg an einem Kanon hochkultureller Repräsentationen und politischer Machtstellung gemessen hatte, rückte nun das Vergnügen in den Mittelpunkt. Paris wurde »la capitale de plaisir«.243 Die Erfahrung der Welt in der Stadt nahm hierbei einen zentralen Stellenwert ein. »Les mœurs du Parisien bien parisien sont des plus curieuses. Il passe l’hiver au Caire, le printemps à Florence, l’été à Deauville ou Aix-les-Bains, l’automne dans des châteaux entourés de grandes chasses. Mais il vient fréquemment à ­Paris pour y applaudir des spectacles belges, russes, italiens, américains, anglais, viennois ou japonais«244, schrieb La Vie Parisienne 1911 und fasste damit die Attraktivität der Stadt in Worte. War für den wohlhabenden Teil der Pariser Bevölkerung mit einem aufkommenden Tourismus die Ferne in erreichbare Nähe gerückt, so schienen doch die Attraktionen aus aller Welt in Paris von mindestens genauso großer Anziehungskraft zu sein. In einen solchen Kontext ordnete sich auch die Konjunktur für den Transfer des Tango ein. Obwohl der neue Modetanz faktisch beinahe zeitgleich in London erfolgreich wurde und kurze Zeit später auch in Berlin »entdeckt« wurde, übernahm die französische Presse nachdrücklich die Erzählung, dass die Attraktivität der französischen Metropole den Tanz als erstes von Buenos Aires nach Paris gebracht hatte und dieser sich erst von dort aus in den meisten anderen europäischen Städten verbreitet habe – eine Interpretation, die vor allem für Berlin wirkungsvoll wurde. Eine solche Reihenfolge entsprach konsequent der Inszenierung kultureller Anziehungskraft und der Überzeugung einer 243 Rearick, Paris Dreams, Paris Memories, S. 26. 244 Maurice Pran, Petit Guide de Paris, La Vie Parisienne, Nr. 26 (1911).

Fazit

kulturellen Vormachtstellung der französischen Metropole in einem glo­ balen Kontext. Die Stimmen in Paris, die den Tango befürworteten, hatten erkannt, dass es bei dem Prozess der Französierung durchaus auch um die Status­sicherung von Paris ging. Hinter dem Prozess der An­eignung des Tango stand die symbolische Inszenierung von Metropolen­kultur, für die eine aus transnationalen Dynamiken hervorgegangene populäre Kultur konstitutiv geworden war. Paris fungierte als Portal, als eine Metropole, in der globale Erfahrungen verdichtet präsent waren und die darüber hinaus vor allem die Kapazität besaß, die erforderlichen Kompetenzen und das Wissen im Umgang mit den daraus resultierenden Herausforderungen zu vermitteln. Die Fähigkeit der Kontrolle und Formung des Fremden war hierfür maßgeblich. Die Befürworter des Tango in der französischen Presse suchten daher nicht nur, wie die Tanzlehrer, nach pragmatischen Lösungen im Umgang mit dem Tanz, sondern schrieben diesen in eine internationale Metropolenkultur unter französischer Prägung ein. Den Transfer des Tango in die französische Metropole konnte man in diesem Sinne kaum besser in Worte fassen als ein Autor der Zeitschrift La Vie Parisienne, der zufrieden feststellte: »Créée à Paris, elle a triomphé à Londres, à Berlin, à New York. Bref, elle a eu tant de succès dans le demi-monde et dans le monde entier, qu’on prétend qu’elle est parvenue jusqu’à Buenos-Ayres, et que les Argentins eux-mêmes vont commençer à la danser…«.245 Aus dem argentinischen Tango war ein französischer Tango geworden, der die Metropolenkultur von Paris in der Welt repräsentierte. Bereits 1781 hatte Louis-Sébastien ­Mercier von Paris als »Mikrokosmos der Welt« gesprochen.246 Nun hatte sich ein­ solcher Kosmos um die Darbietungen einer populären Kultur erweitert, die für die Repräsentation der Stadt eine zunehmende Bedeutung erfuhr.

5. Fazit In diesem Teil der Arbeit ist der Kulturtransfer des Tango von Buenos ­Aires nach Paris und damit die Rezeption und der Aneignungsprozess in der französischen Metropole nachgezeichnet worden. Dabei war die Idee leitend, dass an diesem Prozess unterschiedliche Akteure mit unterschiedlichen In245 Hervé Lauwick, Le Vrai Tango, La Vie Parisienne, Nr. 19 (1913). 246 »(…) c’est l’abrégé de l’univers.« Louis-Sébastien Mercier, Tableau de Paris, Paris 1781, S. XI.

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Tango in Paris

teressen und auch ganz unterschiedlichen Einflussmöglichkeiten mitwirkten. Beispielhaft am Tango konnte gezeigt werden, wie der Umgang mit dem vermeintlich Fremden in der Metropole in einem konfliktgeladenen Aushandlungsprozess aktiv und öffentlich verhandelt werden musste. Der Transfer des Tango nach Paris erfolgte über verschiedene Mittlerfiguren, die auf die Rezeption des Tanzes in einem neuen kulturellen Kontext einwirkten. Den französischen Tanzlehrern oblag dabei als erstes die Aufgabe, den neuen Tanz einzuführen. Diese Gruppe nutzte die Deutungsmacht ihrer tradierten Stellung, um grundlegende Veränderungen in der Choreo­ graphie vorzunehmen und auf die Bedeutungszuschreibungen des Tanzes einzuwirken. Die argentinische Elite in Paris war neben den argentinischen Tanz­lehrern und Tangomusikern eine weitere Personengruppe, die Einfluss auf die Rezeption des Tango nahm und damit auch versuchte, die Wahrnehmung und den Status der argentinischen Nation in Europa zu verhandeln. Die Interessen und Argumentationen von Tangobefürwortern und Tangogegnern in der französischen Presse zeigten zunächst Stimmen, die die internationalen Programme und die kulturellen Innovationen kritisch kommentierten. Demgegenüber stand jedoch eine Vielzahl von alternativen Deutungsversuchen, die von dieser neuen Qualität der Unterhaltungskultur profitierten und an der kulturellen Inszenierung der Metropole Paris mitwirkten. Die Konfliktlinien deuteten auf die Wahrnehmung einer defizitären Situation hin, in der die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit den globalen Dimensionen der populären Kultur in der Metropole unumgänglich geworden war. Diesbezüglich hat sich für den Prozess der Aneignung des Tango in Paris die Strategie einer machtvollen Französierung abgezeichnet, die das Original veränderte, exotisierte und in die Metropolenkultur schließlich passend einschrieb. Der Perspektivenwechsel auf die gleich­zeitig ablaufenden und hiermit eng verzahnten Diskussionen um die kulturellen Formen der städtischen Unterschichten zeigte darüber hinaus, dass auch hier neue Verortungen und Interpretationen gefunden bzw. ausgehandelt werden mussten. Diese Vervielfältigungen in den Auseinandersetzungen um die populäre Kultur der Metropole um 1900 wurden erst dadurch sichtbar, dass der Fokus auf die transnationalen Dimensionen der Entwicklungen gerichtet wurde. Erst die Spuren der Verflechtung unterschiedlicher Interessen, die von Akteuren in Paris verhandelt wurden, verdeutlichten, dass die Transformation der populären Kultur der Großstadt kein Prozess war, der sich innerhalb nationalstaatlicher Grenzen vollzog und daher auch nicht innerhalb eines

Fazit

solchen nationalen Erklärungsrahmens interpretiert werden kann. Metropolen waren für diese Prozesse zentrale Orte. Die Welt in der Stadt stellte hier nicht bloß eine quantitativ messbare Realität dar, sondern sie wurde qualitativ zu einer neuen Erfahrung der Stadt und ihrer populären Kultur. Auf die damit verbundenen Herausforderungen musste man reagieren. Metropolen wurden damit zu Portalen, in denen der Umgang mit der Welt erlernt und neue Bedeutungszuschreibungen verhandelt wurden. Diejenigen, die den Transfer des Tango nach Paris befürworteten und vorantrieben, argumentierten in dieser Hinsicht vor dem Hintergrund einer­ Inszenierung der Stadt und der kulturellen Führungsposition von Paris, das damit nicht nur zum Schauplatz eines Kulturtransfers, sondern selbst zum Akteur wurde. Die folgende Untersuchung des Transfers des Tango von Paris nach Berlin soll den Fokus verstärkt darauf richten, inwiefern eine solche Metropolenkultur immer als eine Kultur zwischen den Städten zu deuten ist, die sich durch Austausch und Kommunikation, aber auch durch Konkurrenz und Machtverhältnisse auszeichnete. Zu fragen ist, in welcher Weise die Portalfunktion von Paris die Rezeption des Tango bzw. die Verhandlungen der populären Kultur in Berlin beeinflusste und in welchem wechselseitigen Verhältnis diese beiden Metropolen diesbezüglich standen.

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III. Tango in Berlin

1.

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1.1 Berlin wird Weltstadt Berlin galt als »der Parvenu der Großstädte«.1 Die Entwicklung Berlins glich einer Aufholjagd, die die Stadt erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als eine der jüngsten Hauptstädte Europas zu einer Metropole werden ließ. Bevölkerungswachstum, Migration und Industrialisierung sowie die wachsende Bedeutung nationaler Hauptstädte waren gesamteuropäische Prozesse der Verstädterung.2 Im Unterschied zu den »alten« imperialen Metropolen London und Paris zeigte sich in Berlin jedoch vor allem die zeitliche Verschiebung und die Schnelligkeit der Veränderung der Stadtstrukturen auf der einen und die Auswirkungen auf Alltag und Kultur der Bevölkerung auf der anderen Seite.3 Auch aus der Perspektive seiner Einwohner wurde Berlin bis 1900 zu einer Weltstadt, eine Entwicklung, die teils stolz propagiert, teils mit Sorge begleitet wurde, vor allem jedoch eine veränderte Wahrnehmung der Stadt und eine neue Dimension der Repräsentation mit sich brachte. Die Entstehung einer spezifischen Metropolenkultur unterschied Berlin von anderen deutschen Städten. Im Gegensatz zu Paris blickte Berlin jedoch nicht auf eine lange Geschichte nationaler Zentralität zurück, vielmehr bildeten München, Leipzig oder Köln wichtige kulturelle Zentren des 19. Jahrhunderts. Erst durch den Bedeutungszuwachs der Stadt nach 1871 und der damit einhergehenden Verknüpfung politischer Macht und kultureller Repräsentation festigte sich der Anspruch Berlins als Hauptstadt im Inneren und als Metropole nach außen. Die Selbstwahrnehmung und die Fremdbeschreibung von Berlin als Weltstadt wurde erst innerhalb eines globalen Netzwerkes von Metropolen wirkmächtig.4 Eine solche Bedeutungssteigerung Berlins manifestierte sich zu einem entscheidenden An1 Walther Rathenau, Die Schönste Stadt der Welt, Die Zukunft 26 (1899), S. 36. 2 Lenger, S. 50–83; Lees u. Lees; Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, S. 355–464; Pinol. 3 Large, S. 62 ff. 4 Osterhammel, Die Verwandlung der Welt, S. 385.

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teil auch in der populären Kultur der Stadt und den vielfältigen kulturellen Austauschbeziehungen der Metropolen untereinander. Als Haupt- und Residenzstadt des preußischen Hofes zählte Berlin noch bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts weniger als eine halbe Million Einwohner. Eine beschleunigte Entwicklung der Stadt begann seit 1850 mit der Indus­ trialisierung und dem Ausbau von Gewerbe und Handel sowie dem politischen und kulturellen Bedeutungszuwachs Berlins als Zentrum von Kultur und Wissenschaft. Bereits 1861 versuchte man mit der Eingemeindung mehrerer Vorstädte dem rasanten Wachstum der Stadt eine administrative Form zu geben. Die Erweiterung des Stadtgebietes vergrößerte Berlin mit einem Schlag um fast 70 Prozent. Bis 1871 war Berlin jedoch immer noch keine Millionenstadt und lag damit zahlenmäßig weit hinter Paris, das zu diesem Zeitpunkt bereits 2 Millionen Einwohner zählte.5 In den Jahren bis zum Ersten Weltkrieg wuchs die Bevölkerung weiterhin stark an. Die extrem schnelle Veränderung der urbanen Strukturen Berlins im Vergleich zu anderen europäischen Großstädten erklärte sich vor allem durch den sprunghaften politischen Bedeutungszuwachs sowie aus den Wechsel­wirkungen aus rapider Bevölkerungszunahme und Industrialisierung der Stadt. Berlin überschritt in den 1880er Jahren die Millionenmarke und zählte zu Beginn des Ersten Weltkriegs schon knapp 2 Millionen Einwohner.6 Bis 1914 war Berlin damit im internationalen Vergleich nur wenig kleiner als Paris. Die größte Stadt der Welt blieb mit 7 Millionen Einwohnern London, gefolgt von New York mit einer Bevölkerung von 4 Millionen Einwohnern.7 Das Bevölkerungswachstum in Berlin war vor allem auf eine starke Binnen­ migration zurückzuführen, die Arbeitssuchende aus den östlichen Provinzen, vor a­ llem aus Brandenburg und Schlesien, in die Stadt brachte. Auch in Berlin gingen Industrialisierung und massive Immigration Hand in Hand. Die ­Industrie rückte an die Stadtränder und schuf dort neue Arbeiterviertel. Dabei war das Anwachsen der Bevölkerung in den südöstlichen Vorstädten von Berlin am stärksten – im Stralauer Viertel und in der anschließenden Luisenstadt lebte 1870 ein Drittel der Berliner Gesamtbevölkerung.8 Der Zustrom an Arbeitskräften aus den Provinzen überstieg die Zahl der ge­ bürtigen Berliner. 1904 waren nur 40 Prozent der Berliner Bevölkerung auch 5 Richter, Zwischen Revolution und Reichsgründung, S. 660. 6 Erbe, S. 693. 7 Vergleichende Darstellungen der Entwicklungen von Berlin, Paris und London bei: Brunn u. Reulecke; Robert. 8 Richter, Zwischen Revolution und Reichsgründung, S. 661.

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in der Stadt geboren.9 Während die Bevölkerung in den Industrievororten stark anstieg, sank die Einwohnerzahl in der Innenstadt. Das Zentrum von Berlin wandelte seinen Charakter und wurde zum Mittelpunkt politischer, wirtschaftlicher und kultureller Repräsentation. Am Boulevard von Berlin »Unter den Linden« lagen Regierungsgebäude, Oper und Universität vereint. Die Friedrichstraße, eine zentrale Achse zwischen dem Bahnhof Friedrichstraße und dem Bahnhof Potsdamer Straße, wurde mit den angrenzenden kleineren Straßen zum Vergnügungsviertel. Daneben entwickelte sich der Westen von Berlin zu einem bürgerlichen wohlhabenden Gebiet. Der Grunewald sowie der Stadtteil Charlottenburg wurden zu begehrten Wohngebieten, während sich der Kurfürstendamm mit Cafés, Restaurants und Warenhäusern zu einem zweiten Zentrum der Unterhaltungskultur neben der Friedrichstraße herausbildete. Zur Unterhaltungskultur der Großstadt gehörte um 1900 in zunehmendem Maße auch eine Presselandschaft, deren Angebot sich ausdifferenzierte um ein sozial heterogenes Großstadtpublikum zu bedienen. Mit der weitgehenden Abschaffung der Zensur von Tageszeitungen stieg die Zahl der Zeitungs- und Zeitschriftengründungen in Berlin seit den 1870er Jahren stark an.10 Berlin als »Zeitungsstadt« entstand in dieser Zeit mit den großen Verlagshäusern Scherl, Ullstein und Mosse, die der Massenpresse zum Durchbruch verhalfen.11 Zu den größten Berliner Tageszeitungen gehörten um die Jahrhundertwende die Berliner Morgenpost (seit 1898) aus dem Hause Ullstein mit einer Auflage von bis zu 400.000 Exemplaren, das Berliner ­Tage­ blatt (seit 1871) aus dem Verlagshaus Rudolf Mosse, das Auflagen von bis zu 250.000 Exemplaren erreichte sowie der eher konservative Berliner ­Lokal-­ Anzeiger (seit 1883) aus dem Hause Scherl.12 Die Berliner Illustrierte Z ­ eitung, die 1892 gegründet wurde und seit 1894 vom Ullstein Verlag herausgegeben wurde, war die erste deutsche Wochenzeitung, die zu einem Preis von 10 Pfennig auf den Berliner Straßen verkauft wurde und dadurch auch für Arbeiterfamilien erschwinglich war. Vor allem die großformatigen Illustrationen, die durch technische Innovationen nun preisgünstig möglich ge­ worden waren, lenkten die Aufmerksamkeit auf eine sensationelle Bericht9 Erbe, S. 696. 10 Grundlegend zur Pressegeschichte Deutschlands Fischer, Deutsche Zeitungen des 17.–20. Jahrhunderts und ders., Deutsche Zeitschriften des 17.–20. Jahrhunderts. 11 Mendelssohn. 12 Wilke, S. 269 ff.

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erstattung und vermittelten ein Gefühl der Teilhabe am Weltgeschehen. Dies war auch das erklärte Ziel der seit 1904 von Ullstein herausgegebenen BZ am Mittag, die im Straßenverkauf sowohl das Stadtbild von Berlin prägte als auch die Schnelllebigkeit von Nachrichten in der Metropole spiegelte.13 Während die deutsche Zeitschriftenlandschaft des 19. Jahrhunderts durch eine Familien- und Unterhaltungspresse geprägt war, die sich in ihrer inhaltlichen Ausrichtung nach den moralischen Wertvorstellungen des bürgerlichen Familienlebens richtete, zeigten sich die soziokulturellen Umbrüche in Berlin vor allem auch in der Presselandschaft. Die wichtigen ­Familienzeitschriften der Jahrhundertmitte, wie die seit 1853 erscheinende Gartenlaube, die gegen 1875 mit Auflagenzahlen von fast 400.000 Exem­ plaren noch Rekordzahlen erzielte, hatten zur Jahrhundertwende ihren Zenit bereits längst überschritten.14 Neue illustrierte Zeitungen, die mit einer größeren Aktualität aufwarten konnten und neue Zeitschriften mit einem »moderneren«, ausdifferenzierten Angebot liefen der Gartenlaube den Rang ab. Zeitschriften wie Sport im Bild, Die Praktische Berlinerin oder die Illus­ trierte Frauen-Zeitung setzten auf Themen, die vor allem großstädtische Lebenswelten abbildeten und wurden damit im Berlin der Jahrhundertwende erfolgreich. Aus der Illustrierten Frauen-Zeitung ging 1912 die Zeitschrift Die Dame hervor, mit der sich Ullstein an dem französischen Vorbild der Femina orientierte und eine Zeitschrift »für die moderne Frau« auf den Markt brachte. Sprachrohr einer internationalen Metropolenkultur wollte die Zeitschrift Elegante Welt sein. Bereits zur Gründung der Zeitschrift zur Jahreswende 1911/1912 schrieb der Herausgeber Paul Kraemer in diesem Sinne: »Ich verlange vielmehr auch von Ihnen das Eingeständnis der Tatsache, wie stark und radikal sich das Weltbild der Großstadt in den letzten Jahrzehnten verändert hat; wie entschieden sich an der Seite Berlins das ganze Deutschland auf die Füße einer eigenen, von internationalen Vorbildern nicht ganz unabhängigen, aber schon tüchtig herangereiften Gesellschaftskultur zu stellen im Begriff ist. Gerade eine Pariserin war es, die mich jüngst darauf hinwies, daß der Berliner Boulevard der aussichtsreichste Konkurrent des Pariser geworden ist.«15 Seit Januar 1912 erschien die Elegante Welt w ­ öchentlich im Verlag Dr. Eysler & Co in Berlin. Sie kostete 35 Pfennig und erschien mit einer regelmäßigen Auflage von 32.000 bis 13 Ebd., S. 270. 14 Stegemann, S. 23. 15 Dr. Paul Kraemer, Silvestertoast, Elegante Welt, Nr. 1 (1912), S. 2.

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35.000 Exemplaren. Über die Reichweite und den internationalen Anspruch der Zeitschrift las man in Werbeanzeigen: »Jede Firma, die für den Bedarf und Luxus der oberen Gesellschaftskreise arbeitet, wird die E. W. mit bestem Erfolg als Inser­tionsorgan nutzen. Elegante Welt liegt in den vornehmen Hotels, Restaurants, Konditoreien, Cafés, Klubs, Offizierskasinos sowie auf den transatlantischen Dampferlinien aus und wird von Hunderttausenden gelesen. Die Verbreitung ist international.«16 Sowohl der Anspruch Berlins als Hauptstadt des Deutschen Reiches als auch die Selbstdarstellung als­ Metropole von internationalem Rang kam in diesen Sätzen deutlich zum Ausdruck. Die Metropolenkultur spielte bei der Inszenierung der Stadt eine immer größere Rolle.

1.2 Vergnügungsviertel: Tanzlokale zwischen Rixdorf und Friedrichstraße Das populäre Vergnügen von Berlin fand bis weit in das 19. Jahrhundert hinein außerhalb der Stadtgrenzen statt. Reisenden Schaustellern blieb das Stadtrecht verwehrt, ihre Auftrittsmöglichkeiten fanden sie innerhalb der Stadtgrenzen nur sporadisch während der großen Jahrmärkte. Ansonsten zogen Musikanten, Komödianten und Artisten von Stadt zu Stadt bzw. traten in den Schankwirtschaften und Tanzlokalen auf, die sich außerhalb der Stadtgrenzen niedergelassen hatten.17 Mobilität war für die populäre Kultur des 18. und noch des frühen 19. Jahrhunderts mehr die Normalität als die Ausnahme. Rund um Berlin bot sich der Bevölkerung ein reichhaltiges Angebot von Ausflugszielen und Vergnügungsmöglichkeiten. Man fuhr in die umliegenden Dörfer, in den Grunewald oder in den Zoologischen Garten. Einfache Wirtshäuser und Ausflugslokale fanden sich entlang der Ufer der Spree, der Kreuzberg bot den kleinen Vergnügungspark Tivoli und zahlreiche Unter­ haltungsangebote und Sommergaststätten sammelten sich entlang der Hasenheide, einem Waldgebiet im Süden von Berlin.18 Besonders Rixdorf, im Süden der Stadt gelegen, wurde Ende des 19. Jahrhunderts zum Inbegriff des populären Vergnügens. In diesem stark proletarisch geprägten und dicht besiedelten Dorf, das durch eine Pferdebahnlinie eng an das Berliner Stadt16 Werbeanzeige in Elegante Welt, Nr. 19 (1914). 17 Jansen, S. 17. 18 Jansen, S. 23; Richter, Der Berliner Gassenhauer, S. 40.

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gebiet angeschlossen war, fanden sich eine Vielzahl einfacher Wirts­häuser, Brauereien und Tanzböden, die nicht nur bei den Einwohnern, sondern auch bei der Berliner Bevölkerung als Ausflugsziele beliebt waren.19 1880 öffnete hier der Vergnügungspark »Neue Welt«, der aus einem der zahlreichen Brauereigärten der Hasenheide hervorging. Dem Publikum boten sich auf einem großen Gelände Fahrgeschäfte, Theater- und Konzertbühnen und natürlich auch Tanzflächen. Um 1900 empfahl der Reiseführer »Berlin für Kenner« Touristen diese Orte, an denen man »ein typisches Berliner Sonntagsbild« kennenlernen konnte und beschrieb die einfachen Tanzsäle in den Vororten: »In ihnen tanzt des Sonntags nicht nur die Berlinerin, die ›Samstags ihren Besen führt‹, sondern es tanzt all das junge Volk, das in der Woche hinter dem Ladentisch steht oder hinter der Schreibmaschine sitzt.«20 Der Stadtmauer bzw. der Stadtgrenze kam also auch in Berlin für die Geschichte der städtischen Unterhaltungskultur eine grundlegende Bedeutung zu. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts führte die Ansiedlung großer Industrien am Stadtrand und die damit einhergehende Verschiebung der Wohngegenden der proletarischen Bevölkerung bzw. deren Verdrängung aus dem Zentrum der Stadt und der verstärkte Zuzug aus den ländlichen Regionen an den Stadtrand zu einer Umgestaltung des städtischen Raumes. Mit dem rasanten Wachstum der Stadt seit den 1870er Jahren entwickelten sich sowohl Geschäfts- und Regierungsviertel als auch ein Vergnügungsviertel in der Gegend rund um die Friedrichstraße, das die Kultur der Metropole repäsentierte. Eine solche Ausdifferenzierung lässt sich nicht nur in Paris und Berlin beobachten, sondern als europäische Gemeinsamkeit der Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozesse feststellen, die auch die populäre Kultur der Städte nachhaltig veränderte.21 Das Zentrum Berlins war lange Zeit dem höfischen Vergnügen vorbehalten geblieben. Rund um die Prachtstraße Unter den Linden residierten die Königliche Oper und das Königliche Schauspielhaus. Angehörige des preußischen Hofes und des höheren Bürgertums besuchten hier in der Karnevalszeit beispielsweise den Subskrip­ tionsball, einen der zahlreichen Bälle, die einen obligatorischen Teil  des gesellschaftlichen Lebens darstellten.22 Die Reform der Gewerbeordnung, die seit 1869 die Konzessionierung von bürgerlichen Theatern entscheidend vereinfachte, und der wirtschaftliche Aufschwung der Gründerjahre 19 20 21 22

Federspiel, S. 69. Berlin für Kenner, S. 138. Lees u. Lees, S. 206 ff.; Becker, Das Vergnügungsviertel; Gunn, S. 101. Pomplun, S. 5.

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nach dem deutsch-französischen Krieg 1870/1871 gab vor allem der Berliner Theater­landschaft wichtige Impulse und führte zu einer großen Zahl an Theatergründungen rund um die Friedrichstraße.23 Die Dynamik der wirtschaftlichen Blütezeit und einer politisch liberaleren Gesetzgebung brachten Unternehmensgründungen und Innovationen auf dem Gebiet der Unterhaltungskultur. Entlang der Friedrichstraße und ihrer angrenzenden Querstraßen eröffneten zahlreiche Tanzpaläste, Restaurants und Cafés. Auch die Geschichte der Berliner Varietétheater verlief in einem engen Zusammenhang mit dieser Dynamik. Unternehmer, oder Gastwirte, die ihren Gästen ein Bühnenprogramm oder musikalische Unterhaltung durch Tanz­ kapellen anbieten wollten, waren aufgrund strenger Vergabevorschriften von Konzessionen stark eingeschränkt gewesen. Die Reform der Gewerbe­ ordnung begünstigte jedoch die Professionalisierung und den Ausbau vieler Veranstaltungsorte. In enger Anlehnung an die englische und französische Entwicklung nannte man diese seit der Mitte des 19.  Jahrhunderts auch »Singspielhallen« und lehnte sich damit bereits an den Begriff der englischen Music Hall an.24 Auch in Berlin wurde damit die Transformation der alten Singspielhalle des 19.  Jahrhunderts zum internationalen Varieté des 20. Jahrhunderts eingeleitet. Dass das Tanzvergnügen eine Konstante im Alltag der Berliner Bevölkerung darstellte und ein grundlegendes Element des Unterhaltungsangebotes war, zeigte sich in Berlin an einer Vielfalt von einfachen Tanzböden, denen Hans Ostwald eine eigene Ausgabe der »Großstadt-Dokumente« widmete, die er mit den Worten einleitete: »Was dem Berliner Leben eine besondere Note zuführt, ist das Bestehen der vielen Tanz- und Ballsäle. Jeder Stadtteil hat seine eigenen Tanzlokale, in jedem Vorort laden mehrere ›Etablissements‹ mehrmals wöchentlich zum Tanz ein.«25 In der Alten J­akobstraße, 23 Vgl. Becker, Inszenierte Moderne und Freydank. 24 Bei der Bezeichnung der Orte zeigte sich auch ein Bezug zu der französischen Entwicklung: 1861 eröffnete in Berlin das erste »café-chantant«. Die beiden Begriffe Singspielhalle und Café Chantant wurden in Berlin zunächst synonym verwendet, bevor sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts der Begriff des Varietétheaters durchsetzte. Die Bezeichnung Music Hall wurde in Berlin vor dem Ersten Weltkrieg noch nicht verwendet. Jansen, S. 47/48. 25 Ostwald, Berliner Tanzlokale, S.  3. Der Journalist und Schriftsteller Hans Ostwald (1873–1940) gab zwischen 1904 und 1908 die »Großstadt-Dokumente« heraus. In insgesamt 51 Bänden schilderten darin er und andere Autoren, darunter beispielsweise Magnus Hirschfeld, Julius Bab und Max Winter, den Alltag und die populäre Kultur von Berlin und Wien und widmeten sich dabei oft den sozial marginalisierten Bevölkerungsgruppen. Vgl.: Thies.

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etwas abseits der Friedrichstraße gelegen, befand sich eines der größten und beliebtesten Berliner Tanzlokale des 19. Jahrhunderts. Der Gastronom Friedrich Bente unterhielt hier das »Orpheum«, das viel mehr war als ein bloßes Tanzlokal und bereits von den Zeitgenossen selbstbewusst mit der Konkurrenz in anderen Metropolen verglichen wurde. »Nach einer Viertelstunde hielt der Wagen in einer schmalen Straße vor dem glänzend erleuchteten Thore des berühmtesten und prächtigsten Tanzlokals der Stadt. Ich kenne keine europäische Stadt, welche ein ähnliches Tanzlokal aufzuweisen hat, wie das Orpheum. Berlin übertrifft darin Paris, London, Marseille, Neapel und Petersburg.«26 Wasserkünste, Statuetten und vor allem zahl­ reiche Gasflammen schmückten zwei große Tanzsäle, daneben gab es einen Speisesaal, eine Gartenanlage und zahlreiche Séparées. Der Taumel der Gründerzeit sei hier zum Ausdruck gekommen, formulierte auch Hans Ostwald rückblickend.27 Neben dem »Orpheum« prägten im 19.  Jahrhundert zahlreiche kleinere Tanzlokale das populäre Tanzvergnügen. Diese nahmen häufig kein Eintrittsgeld. Hier gab es einen Tanzmeister, der in der Mitte der Tanzfläche nach jedem Tanz 10 Pfennig von den tanzenden Herren ein­sammelte. Hier spielten die Tanzkapellen Walzer und Polka und es fand sich ein populäres Tanzvergnügen, das zum alltäglichen Bestandteil des geselligen Beisammenseins gehörte. Das Nachtleben und das Treiben in den Tanz­lokalen sei geradezu die notwendige Ergänzung zum anstrengenden Arbeitsleben des Berliners, so Ostwald, der dem Grundgedanken der »Großstadt-Dokumente« folgend vor allem den Alltag und die Umgangs­ formen der einfachen Leute detailliert schilderte.28 Dementsprechend zeigten sich bei ihm auch die »Schattenseiten« des Tanzvergnügens, denn die meisten Tanzlokale, so Ostwald, seien Märkte der Prostitution. In dieser Hinsicht erfuhr man über »Mundt’s Ball-Saal« in der Köpenicker Straße, der täglich bis 2 Uhr morgens geöffnet war: »(…) gleich vorn am Eingang sitzen mehrere Gruppen von Mädchen, die jeden Eintretenden anlachen, ansprechen und locken. Mädchen in grellen, billigen Demimondekleidern.«29 Aufgrund des Verdachtes der Prostitution standen viele dieser einfachen Tanzlokale unter ständiger Aufsicht der Sitten- und Gewerbepolizei. Das Vergnügen der unteren Schichten war jedoch nicht auf ordnungspolitische Dimensionen zu beschränken. Vielmehr bestand vor allem in den Berliner 26 27 28 29

Rasch, Berlin bei Nacht, S. 102. Ostwald, Das galante Berlin, S. 245. Siehe auch Nalli-Rutenberg, S. 105. Ostwald, Berliner Tanzlokale, S. 6. Ebd., S. 18.

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Arbeitervierteln, im Wedding oder in der Stralauer Vorstadt, ein dichtes Netzwerk von Orten, die der dortigen Bevölkerung einen Ausgleich zu den harten Arbeitsbedingungen versprachen. Hier fanden sich kleine Kinos, Theater und Tanzlokale sowie eine große Anzahl von Schankwirtschaften, die aufgrund der engen Wohnverhältnisse rege genutzt wurden.30 Das Tanzvergnügen spiegelte eindrücklich die unterschiedlichen Formen der Gestaltung der Freizeit einer heterogenen Großstadtbevölkerung. Erst im Zusammenspiel dieser Komplexität würde man das Gesamtbild Berlins verstehen, argumentierte der Reiseführer »Berlin für Kenner«. Hierfür sei ein Ausflug nach Rixdorf oder ein Blick in die Hinterhöfe der Arbeiterstadtteile genauso bedeutsam wie ein Abend im »Palais de Danse« und auf der Friedrichstraße. Neben diesen spezifisch lokalen Prägungen der populären Kultur wurde die Welt in der Stadt seit 1900 jedoch vor allem in dem Vergnügungsviertel rund um die Friedrich­straße augenscheinlich.

1.3 »Tanzepidemien aus Paris und Amerika« Unter der Überschrift »Berlin tanzt« hieß es im September 1912 in der Spezialbeilage »Der Tanz« in der Zeitschrift Cabaret-Revue: »Die Vorort-Tanzlokale, der ›Schwof‹ von Halensee und Wilmersdorf genügen schon längst nicht mehr dem verwöhnten Geschmack der Berliner jeunesse dorée. Man ist auch zu bequem geworden, erst weit herauszufahren und sich bei der Rückfahrt sein Plätzchen auf dem überfüllten ›Lumpensammler‹, der letzten Straßenbahn, erkämpfen zu müssen.« Stattdessen, so schwärmte der Autor weiter, ginge man in die Etablissements »du dernier cri« im Zentrum, wo es üblich geworden sei, auch während des Menüs zwischen den Tischen zu tanzen und wo »nicht nur ganz Berlin, sondern auch Halb-Berlin verkehrt«.31 Im Zentrum von Berlin fand man um 1900 ein Angebot an Unter­ haltung, das in der Aufwendigkeit der Ausstattung und der internationalen Programme den Boulevards in Paris um nichts nachstand. Vor allem die Varieté­theater prägten nun auch hier das Bild und gewannen für den Fremdenverkehr, für die Attraktivität der Berliner Unterhaltungskultur und­ damit für den Ruf von Berlin als Weltstadt zunehmend an Bedeutung. 30 Vgl. beispielsweise für die populäre Kultur des Arbeiterstadtviertels Berlin Friedrichshain: Hochmuth u. Niedbalski, S. 105–136. 31 Roué, Berlin tanzt, Der Tanz. Spezialbeilage zur »Cabaret-Revue«, Nr. 42 (1912), S. 28.

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In die Varietétheater gingen »alle« Berliner. Obwohl Klassengrenzen durch Eintrittspreise und Sitzordnungen aufrecht erhalten werden konnten, wurde das populäre Vergnügen der Großstadt hier generell zu einer Erfahrung, die nicht vordergründig durch Bildung und Einkommen reguliert wurde. »Am Abend aber findet sich all das in den Vergnügungslokalen beisammen, was sich am Tage nicht angesehen hätte. Wie streng voneinander getrennt wohnen die verschiedenen Volksklassen! (…) Nur im Nachtleben fluten die Klassen noch ein wenig ineinander über«, beobachtete Hans Ostwald.32 Der »Wintergarten« an der Friedrichstraße war das größte und bekannteste Berliner Varietétheater. Das 1877 neu errichtete »Central-Hotel« am Bahnhof Friedrichstraße beherbergte einen Wintergarten für Konzerte, dessen größte Attraktion bei seiner Eröffnung ein Glasdach war, durch das man den Berliner Nachthimmel sehen konnte, ein Effekt der später durch künstliche Sterne aus Glühbirnen ersetzt wurde. Nachdem der »Winter­ garten« in den ersten Jahren vor allem Konzerte gezeigt hatte, erweiterte man das Programm im Sinne der nun lukrativeren Varietétheater und engagierte vor allem Tänzerinnen und Sängerinnen. Der Eintritt im »Wintergarten« kostete zwischen 6 Mark in den Logen und 1 Mark unten im Saal, sodass dieser Ort zwar nicht »allen«, aber einem großen Publikum offenstand.33 Der »Admiralspalast« in der Friedrichstraße warb vor allem mit seinem vielseitigen Unterhaltungsangebot, dessen größte Attraktion zweifelsohne die Eisarena mit ihren Eisballetten war. Nach Abriss und Neubau war aus dem einstigen »Admiralsgartenbad« 1911 ein großer Gebäude­ komplex geworden, der mehrere Cafés, Bars und Restaurants, den Ballsaal, eine Bäderanlage, ein Lichtspieltheater und die Eisarena vereinigte und täglich von mehreren tausend Menschen besucht wurde.34 Getanzt wurde im »Admiralspalast« im selben Saal, der auch als Lichtspieltheater diente oder auf der abgetauten Fläche der Eisarena. Hieran zeigte sich die Vielseitigkeit des Gebäudes ebenso wie die Tatsache, dass das Kino zu dieser Zeit noch in den Anfängen steckte und daher noch keinen speziellen Kinosaal zugedacht bekommen hatte. Der Tanzsaal des »Admiralspalastes« fasste etwa 300 Personen.35 Die Hauptattraktion der Varietétheater war zweifelsohne ihr Bühnenangebot, welches internationale Künstler und Künstlerinnen nach Berlin 32 33 34 35

Ostwald, Berliner Tanzlokale, S. 6. Jansen, S. 89 ff. Siehe auch Kiaulehn, S. 391 ff. und Festschrift 50 Jahre Wintergarten. Lehne, S. 23. Lehne, S. 34.

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holte. Jedoch lag der Reiz dieser großen Häuser gerade in ihrer Multifunktionalität. Das Unterhaltungsangebot ging an diesen Orten weit über den Besuch einer Bühnenvorstellung hinaus und bot für Tanzveranstaltungen oftmals eine glamouröse Spielfläche. Im Sommer 1913 veröffentlichte die Zeitschrift Elegante Welt eine Son­ dernummer mit dem Titel »Berlin als Fremdenstadt«, in der die Internationalität und die Schnelllebigkeit des Berliner Lebens betont wurden.36 Unter der Überschrift »Berliner Nächte« hieß es dort, die Stadt hätte sich so verändert, dass jemand, der fünf Jahre weg gewesen wäre, sie nicht wiedererkennen würde. In der folgenden Beschreibung des Vergnügungs­ angebotes standen die vielfältigen Tanzlokale im Zentrum der Stadt im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. »Drinnen in der Stadt ist inzwischen Hochflut. Alle Tanzlokale sind jetzt gefüllt  – viele ziehen dem lauten Palais de danse die intimeren Tanzstätten vor. Tabarin und Moulin Rouge, ja sogar im Alten Ballhaus ist Hochbetrieb.«37 Rund um die Friedrichstraße fanden sich Tanzsäle verschiedenster Größe und Exklusivität. Vor dem Ersten Weltkrieg gehörte dazu vor allem der »Metropol-Palast«. In der Behrenstraße, einer Parallelstraße zum Boulevard Unter den Linden gelegen, errichteten die erfolgreichen Eigentümer des »Metropol-Theaters«, die Unternehmer Richard Schultz und Paul Jentz, 1909/1910 den »Metropol-Palast«. Das »Metropol-Theater« war zu diesem Zeitpunkt als Revue- und Operettentheater bereits durch seine aufwendigen Ausstattungsrevuen international bekannt geworden und richtete sich an ein sehr viel wohlhabenderes Publikum als der »Wintergarten«.38 Der »Metropol-Palast«, »ein weltstädtisches, für die vornehmste Lebewelt bestimmtes Etablissement«, beherbergte neben einem Konzertsaal und einem Weinrestaurant vor allem den Palais de Danse, der zum beliebtesten Tanzsaal der Vorkriegszeit werden sollte.39 In Ausstattung und Größe setzte dieser Tanzpalast neue Maßstäbe, sodass man kurz nach der Eröffnung schrieb: »Dann kam der große Schlag, die große Wende  – die Eröffnung des Palais de danse. Und das war ein Ereignis so großer Tragweite, daß es das ganze nächtliche Programm über den Haufen 36 Elegante Welt, Berlin als Fremdenstadt, Nr. 24 (1913). 37 Franz Wolf, Berliner Nächte, Elegante Welt, Nr. 24 (1913), S. 16. 38 Zu den Revuen des Metropoltheaters: Baumeister, Theater und Metropolenkultur; siehe auch Otte, insbesondere Kapitel III, The Loneliness of the Limelight: Jewish Identities in Revue Theater, 1898–1933, S. 201–280. 39 Der Metropolpalast in der Behrenstraße, Die Bauwelt, Nr. 75 (1911), S. 21. Wolffram, S. 88/89. Zum Palais de Danse siehe auch Geisthövel, S. 141–150.

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warf.«40 An Luxus war dieses Etablissement kaum zu überbieten. Die Tanzfläche sähe aus wie »ein in einer Zaubergrotte tief liegender Teich«, Berlin erreiche hier seinen raffinierten und luxuriösen Höhepunkt, schrieb ein Reise­führer.41 Dementsprechend verkehrte im Palais de Danse für einen Eintrittspreis von 5 Mark nur ein ausgewähltes Publikum. Als der Direktor der Pariser Music Hall »Olympia«, Jacques-Charles dann im Oktober 1913 ebenfalls einen Palais de Danse eröffnete, schrieb der Korrespondent der Varietézeitschrift Das Organ aus Paris, es möge überraschen, aber Paris habe bis zu diesem Zeitpunkt noch kein so elegantes Etablissement wie Berlin vorzuweisen gehabt.42 Zu den ebenso beliebten wie aufwendigen Tanzsälen Berlins gehörte außerdem das Luxusrestaurant »Grand Gala« in der Potsdamer Straße, welches 1912 eröffnete und vor allem mit seinem kosmopolitischen Flair warb. »Denn verblüfft sind selbst die blasiertesten, die diese Räume betreten, denn sie finden hier etwas für Berlin so absolut Neues und Eigen­ artiges, etwas was nur die kennen, die Newport, St. Sebastian, Rom ständig besuchen, und Trouville, Ostende, Aix-les-Bains, Algier, Brighton genauer kennen, als durch einmaligen Besuch.«43 Das »Grand Gala« erinnere an »die luxuriösesten Stätten mondainer Lebenskultur, die seit Jahren in den Weltstädten und Kurorten die internationale Gesellschaft vereinen«, schrieb die Elegante Welt. Die »Rosensäle«, die in der Jägerstraße unweit der Friedrichstraße zu finden waren, seien »architektonisch nicht ganz so betörend«, konnte man in dem Reiseführer »Berlin für Kenner« lesen. Für einen Eintrittspreis von 2 Mark tanzte man hier jedoch auch »Wackeltanz und Twostepp« und stand dem internationalen Angebot der großen Häuser damit in nichts nach.44 Den »echten Berliner Typus«, so der Reiseführer weiter, würde man hingegen im »Alten Ballhaus« in der Joachimstraße antreffen, einem einfachen Tanzlokal, das etwas abseits der Friedrichstraße gelegen war. Dort gab es jeden Tag einen Ball, der für einen Eintritt von 1,50 Mark immer gut gefüllt war und »sowohl von der ›Halbweltdame‹ als auch von den jungen Berliner Mädeln in Rock und Bluse das sich im Tanz ausleben will«, besucht würde.45

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Franz Wolf, Berliner Nächte, Elegante Welt, Nr. 24 (1913), S. 14–16. Berlin für Kenner, S. 171. Fr. Bondy, Courrier de Paris, Das Organ der Variétéwelt, Nr. 246 (1913), S. 17. Franz Wolf, Grand Gala, Elegante Welt, Nr. 23 (1912), S. 10. Berlin für Kenner, S. 174. Ebd. S. 177.

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In Abgrenzung zu den Darbietungen des Varietés entstand in Berlin seit der Jahrhundertwende mit dem Cabaret ein neues Genre.46 Ernst von Wolzogen hatte 1901 im »Bunten Theater« nahe dem Alexanderplatz sein »Überbrettl« eröffnet und damit den ersten Versuch unternommen, dem Varietéprogramm eine »veredelte« Form der Darbietung entgegenzustellen. Eine Mischung aus Varieté, ernstem Theater und politischer Satire sollte dieses erste Cabaret sein und dabei vor allem ohne die spektakulären artistischen Formen des Varietés auskommen.47 Dem französischen Vorbild des Cabaret »Le Chat Noir« von Rodolphe Salis folgend, wollte man hier dem Publikum eher literarisch musikalische Unterhaltung bieten. In den kommenden Jahren etablierte sich die Bezeichnung Cabaret in Berlin für eine ganze Reihe von Orten. Als Überbegriff diente sie für relativ kleine Hallen mit einer kleinen Bühne, die einen wesentlich direkteren Kontakt zwischen Künstlern und Publikum erlaubten.48 Dahinter stand jedoch eine ganze Bandbreite höchst unterschiedlicher Etablissements. Auf der einen Seite der Skala gehörten dazu Cabarets wie das ebenfalls 1901 eröffnete »Schall und Rauch« unter Max Reinhardt oder das »Le Chat Noir« unter Rudolf Nelson, die sich stark dem Theater annäherten. Auf der anderen Seite sammelten sich unter dem Begriff des Cabaret auch eine ganze Reihe einfacher Lokale mit Bühnenunterhaltung, deren Darbietungen sich kaum von dem gemischten Nummernprogramm der Varietés unterschied. Gemeinsam war jedoch den meisten Berliner Cabarets, dass auch sie Tanzdarbietungen auf der Bühne einen Raum boten. Die Cabaretbetreiber erkannten schnell die finanziellen Chancen, die aus dem Erfolg der neuen Modetänze resultierten. Seit 1911 erschien die Zeitschrift Cabaret-Revue mit Sitz in Köln und einer zweiten Zentrale in Berlin. Sie war nach eigenen Angaben die erste und umfassendste Zeitschrift zur Vertretung der Interessen dieses neuen Gewerbezweiges und dessen offizielles Fachorgan. Die Cabaret-Revue änderte ihren Namen bereits Anfang des Jahres 1913 in Cabaret-Tanz-Revue. Im April 1912 erschien dementsprechend zum ersten Mal die neue Beilage »Der Tanz«. In der Ankündigung der neuen Beilage hieß es, man wolle einem wachsenden Publikum, dem immer noch zu wenige Räume zur Verfügung stünden, Rechnung tragen und die gesellschaftliche Entwicklung des Tanzes fördern. Man wolle alle Nachrichten aus den Tanzlokalen zusammenbringen sowie ein Ver46 Grundlegend: Jelavich, Berlin Cabaret. 47 Ebd., S. 36 ff. 48 Ebd., S. 2.

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zeichnis der Programme erstellen, welches sowohl für Direktoren wie auch Artisten bald unentbehrlich sein solle.49 In den Adresslisten der CabaretTanz-Revue erschienen nunmehr Kennzeichnungen, ob in den jeweiligen Räumen eine Bühne vorhanden sei bzw. wie groß der zur Verfügung stehende Tanzboden sei. Diese Tanzbeilage erschien von April 1912 bis zu Beginn des Kriegs jeweils zweiwöchentlich mit einem Umfang von mindestens 5 bis zu 15 Seiten und widmete sich ausführlich dem Tanz im Cabaret, einzelnen Künstlern und Künstlerinnen, neuen Gesellschaftstänzen und neuen Orten in ganz Deutschland. Damit wurde die Cabaret-Tanz-Revue zu einer Zeitschrift, die Information und Reflexion über Bühnentanz und Gesellschaftstanz eng miteinander verband. Das Cabaret spiegelte in Berlin symptomatisch die neue Wertschätzung des Tanzes bzw. dessen neue kommerzielle Formen innerhalb der großstädtischen Unterhaltungskultur wider. Der Ausbau und die Vervielfältigung der Orte, die der Berliner Bevöl­ kerung Tanzsäle oder Tanzvorführungen auf der Bühne anboten, zeigten, dass dieser Form der Freizeitgestaltung in der Großstadt nicht nur großes Interesse entgegengebracht wurde, sondern sich hier auch lukrative Einkommensmöglichkeiten für die Betreiber der Unterhaltungsgewerbe ver­bar­ gen. Hieraus ergab sich eine wechselseitige Dynamik, die den Erfolg neuer Mode­tänze auch in Berlin begünstigte. Unter der Überschrift ­»Groteske Gesell­schaftstänze« resümierte die Elegante Welt die Ball­saison des Winters 1911/1912 und schrieb: »(…) schon auf den letzten Berliner Bällen zeigten sich vereinzelte Vorboten der Tanzepidemie, die von Frankreich und Amerika herüber droht, und die ihre Uranfänge auf den zoologischen Garten zurückführt.«50 Gemeint waren hiermit all die skurrilen Tiertänze, die auch in Paris gemischte Reaktionen zwischen Belustigung und Ablehnung hervorgerufen hatten. Ein Blick auf das Repertoire der Tanzmusik der Saison im Februar 1913 zeigte ein internationales Programm, in dem sich auch in Berlin die US -amerikanischen Ragtimetänze durchgesetzt hatten. »Die Zeit, als der Meister Strauß seinen Fidelbogen schwang, bis alles sich in schmachtenden Walzertönen wiegte, ist lange, lange vorbei. An seine Stelle sind krausköpfige Nigger getreten, die mit Banjo und Gitarre, mit Blechlöffeln und Gongs die Rags spielen. Oder aber pockennarbige, rotröckige Zigeuner, die ihre Geigentöne durch Gröhlen und Klopfen würzen. Aber beide – N ­ igger 49 Ankündigung zur Beilage »Der Tanz«, Cabaret-Revue, Nr. 30 (1912). 50 Franz Wolf, Groteske Gesellschaftstänze. Pas de l’ours und turkey trot, Elegante Welt, Nr. 12 (1912), S. 4/5.

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wie Zigeuner spielen gut und niemand kann widerstehen, wenn sie die ›Pomponette‹ oder den ›danse cubain‹  – den ›welling danse‹ oder die ›Maxixe brésilienne‹ beginnen. Denn diese vier Piecen sind erst vor wenigen Wochen in Paris populär geworden, sie brauchen also noch einige Monate bis sie in Berlin Eingang gefunden haben.«51 Das Repertoire der meisten Tanzkapellen der Varietés und Tanzlokale hatte bisher aus populären Walzer- und Polkamelodien bestanden. Doch mit den ersten Erfolgen der US -amerikanischen Ragtimemusik und den dazugehörenden Tänzen erwartete nun auch das­ Publikum in Berlin von den Orchestern die Adaption der neuen Stile. In Berlin war es vor allem der Kapellmeister Giorgi Vintilescu, der zwischen 1913 und 1922 zum »König des Ragtime« wurde.52 Er leitete in dieser Zeit das­ Orchester des Palais de Danse im »Metropol-Palast« und übernahm als einer der ersten die neuen Tänze in sein Repertoire. Sein Orchester spielte noch vor dem Ersten Weltkrieg Aufnahmen für die größten deutschen Schall­ plattenkonzerne, die Deutsche Grammophon und die Lindström AG, ein.53 Die Erfindung der Schallplatte, die neben dem weltweiten Vertrieb von Noten für die Internationalisierung der populären Musik von entscheidender Bedeutung war, hatte ihren ersten europäischen Schauplatz in Hannover und ihren ersten Protagonisten in der Figur Emil Berliners, ein in die USA ausgewanderter deutscher Unternehmer. Die ersten Ragtime­themen kamen durch Noten und Schallplatten aus den USA nach Europa, bevor die Brüder Emil und Joseph Berliner 1898 die Deutsche Grammophon Gesellschaft gründeten und in Hannover das europaweit erste Werk zur Produktion von Grammophonen und Schallplatten eröffneten. Zwischen 1899 und 1905 brachte die Deutsche Grammophon Gesellschaft die ersten Schall­platten für Deutschland und für den Europa-Export heraus.54 In der Folge entstanden vor dem Ersten Weltkrieg über hundert verschiedene Schallplattenmarken in Deutschland. Ragtimekompositionen wurden bald von vielen deutschen Orchestern adaptiert und auch auf Schallplatte aufgenommen. Bis 1914 waren damit bereits auch zahlreiche deutsche Aufnahmen US -amerikanischer Ragtimekompositionen im Handel.55 Ein internationales System der Produktion und Vermarktung von Stilen, Techniken und Noten war daher eines der 51 Tanz-Musik 1913, Elegante Welt, Nr. 5 (1913), S. 28. 52 Lange, Jazz in Deutschland, S. 10/11. 53 Ebd. 54 Vgl. Gauß. Zu den internationalen Strukturen der frühen Schallplattenindustrie vgl. auch Tournès, Du phonographe au MP3. 55 Lange, Jazz in Deutschland, S. 10.

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grundlegenden Elemente des kulturellen Austausches und der zunehmenden Angleichung und Standardisierung der Metropolenkultur. Für die Repräsentation Berlins nach außen bzw. für die Attraktivität der Berliner Unterhaltungskultur wurden die großen Tanzsäle und Varietés sowie auch die Veranstaltungen in Restaurants und Grandhotels somit immer bedeutsamer. Sie wurden weit über die Grenzen der Stadt hinaus bekannt und blieben bis in die 1920er Jahre das Aushängeschild der Berliner Vergnügungskultur. Damit waren sie von Anfang an Knotenpunkte einer Entwicklung, die die globale Dimension der Weltstadt Berlin spiegelte. Hier traf sich ein Publikum aus aller Welt, hier spielten international renommierte Orchester und hier wurden neue Musik und neue Tänze eingeführt. Hier konnte man sich in einem direkten Vergleich mit den Angeboten a­ nderer europäischer Metropolen messen. Berlin, so vermittelte es sich der Bevölkerung, hatte eine Vergnügungskultur zu bieten, die sich in diesem Ausmaß in keiner anderen deutschen Stadt, wohl aber in anderen europäischen Metropolen finden ließ, mit denen man selbstbewusst in Konkurrenz treten konnte.

1.4 Französischer Tango in Berlin In der Ballnummer der Eleganten Welt 1912 schrieb man über den Palais de Danse: »Was wird nun eigentlich hier getanzt, in diesen heiligen Hallen des Sektes und der Liebe? Hier tanzt man ein Konglomerat von Boston, Walzer, und Two step. Der Amerikaner nennt es ›Turkey trot‹, der Engländer ›one step‹, der Berliner ›Schieber‹. Der Pariser bezeichnet nicht das Schema, sondern die Melodie. Er tanzt die ›Mariette‹ oder den ›Tango argentino‹ den ›Mysterious Rag‹ oder den ›Chili‹.«56 Immer öfter tauchte nun der Tango in den Beschreibungen des Tanzvergnügens auf. Zunächst noch einer von vielen unter all den neuen Modetänzen, wurde er jedoch bald auch in Berlin zu dem erfolgreichsten und aufsehenerregendsten Import vor dem Ersten Weltkrieg. Die ersten Berichte in der deutschen Presse interpretierten den Tanz als Element einer internationalen Metropolenkultur, maßen dabei jedoch dem Einfluss der neuen Modetänze aus Paris einen besonderen Stellenwert zu. Im Januar 1913 schrieb die Cabaret-Revue: »In jüngster Zeit war viel von 56 F. W. Koebner, Die Bälle der Behrenstraße. Metropol-Palais de Danse, Elegante Welt, Nr. 8 (1912), S. 10.

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einem neuen Tanz die Rede, den die Pariser aus Südamerika hatten kommen lassen. Außer dem ›Tango‹ hat die vornehme Pariser Gesellschaft jedoch noch einige andere neue Tänze eingeführt, die sich, wie die ›Daily Mail‹ angibt, wachsender Beliebtheit erfreuen. (…) Alle drei Tänze aber sind dem Pariser Geschmacke besonders angepasst worden.«57 Ganz offensichtlich erfolgte der Transfer des Tango von Buenos Aires in einer solchen Wahrnehmung zunächst nach Paris und erst dann von dort aus nach Berlin. Einen direkten Weg des argentinischen Tango von Buenos Aires nach Berlin schien es laut dieser Erzählung nicht gegeben zu haben. In diesem Sinne fungierte Paris nicht bloß als Zwischenstation, das zeitlich zum ersten Ort des Tango in Europa wurde, sondern die französische Metropole wurde eindeutig zum Leitbild im Umgang mit den neuen Modetänzen. Was die Rezeption in Berlin also grundsätzlich von Paris unterschied, war die Wahrnehmung des Tango als französischer Tanz. Die Attraktivität der Programme der französischen Metropole war für Berlin eine klare Orientierungsgröße. Hier bemerkte man zwar, dass es sich um einen südamerikanischen Tanz handelte, jedoch stand die Formung des Tango in Paris eindeutig im Vordergrund und schien die Rezeption in Berlin grundlegend zu leiten. Der Tango in Berlin war also zuallererst einmal ein französischer Tango, der sich in das Repertoire der Metropolenkultur einschrieb. Der Kulturtransfer erfolgte hier nicht von Buenos Aires ausgehend, sondern von Paris nach Berlin. Die Rekonstruktion der Aufnahme des Tango in Berlin wird daher im Folgenden zeigen, dass der Transfer des Tanzes durchaus nicht an allen Orten gleich verlief, sondern dass sich in jeder Stadt spezifische Besonder­heiten im Prozess der Aneignung zeigten, die zum einen dem jeweiligen gesellschaftlichen Kontext geschuldet waren und zum anderen das Verhältnis der Metropolen untereinander spiegelten. Paris spielte dabei für die Rezeption in Berlin eine besondere Rolle. Die Verbreitung des Tango erfolgte auch in Berlin über die internationalen Varietétheater, deren Programme in enger Wechselwirkung mit den­ Innovationen in den Tanzsälen standen. Künstler und Künstlerinnen bzw. international erfolgreiche Revueprogramme trugen von den Varietés ausgehend zur Diffusion des Tanzes von den Bühnen in die Tanzsäle bei. Vor­ allem französische Tangotänzer bzw. diejenigen, die zuvor in Paris erfolgreich gastiert hatten, wurden auch in Berlin erfolgreich. Im Programm des 57 Die jüngsten Modetänze, Der Tanz, Spezialbeigabe zur Cabaret-Revue, Nr. 50 (1913), S. 24.

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»Wintergarten« waren unter anderen die französische Tänzerin Gaby ­Deslys und der brasilianische Tangotänzer L. Duque sowie Maurice Mouvet mit seiner Partnerin Leonora Hughes zu sehen.58 Der Komponist Jean ­Gilbert widmete dem Tango die Posse »Die Tango-Prinzessin«, die in der Saison 1913/1914 sechs Monate lang am »Thalia-Theater« erfolgreich aufgeführt wurde und deren Übernahme durch den bekannten Londoner Produzenten George Edwardes geplant war, jedoch nach Beginn des Ersten Weltkriegs nicht mehr zustande kam.59 Die Handlung der Posse führte die Zuschauer in ein fiktives Ostseebad Krabbendorf, wo die Wahl der Tangoprinzessin für einige Verwirrungen sorgt. Außer einem einzigen Stück unter dem Titel »Ich tanz’ so gern den Tango« dominierten bei Jean Gilbert jedoch zumeist Walzermelodien das Repertoire, was ihm wenig später Kritik für die Jahresrevue »Die Reise um die Erde in 40 Tagen« am »Metropol-Theater« einbringen sollte. » (…) denn man deutet da auf die ganz unglaubliche Tatsache hin, daß in dem ganzen Stück nicht ein einziger moderner Tanz vorkommt. Das klingt unglaublich. In einer Zeit, wo das Schlagwort ›Tango‹ heißt, wo die Revuen der Ausstattungsbühnen Londons und Paris’ sich moderne Tänzerpaare engagieren, sehen wir im Metropol einen ›Mondscheinwalzer‹«, schrieb die Elegante Welt und verwies damit abermals auf die Konkurrenz der Metropolen untereinander.60 Wie sehr die Präsenz des Tango und der anderen Modetänze sinnbildlich für die Metropolenkultur Berlins und der Welt auf den Bühnen der Varietétheater standen, zeigten die Ankündi­ gungen des »Wintergartens«. »Die rassige Verve der Akrobaten und grazile Liebenswürdigkeit des russischen Tänzers, die brutale Wucht der Muskeln, jene herbe Grandezza eines spanischen Troubadours, betörend schmiegsame Exotik und Erotik der Schlangentänzerin vereinigen sich vor dem Pult des Komponisten modernster Musik, der die neuesten Tangos mit hin­ reißendem Schwung dirigiert«, schrieb man hier über die exotisch inszenierten ­Attraktionen des Programms.61 Das Tanzgeschehen war jedoch nicht nur ein Spiegel der zunehmenden globalen Strukturen der städtischen Unterhaltungskultur, sondern damit gleichzeitig immer auch ein Parameter der Konkurrenz der Metropolen untereinander. Abgrenzungs- bzw. Nationalisierungstendenzen auf der einen 58 Durchs Opernglas. Wintergarten, Elegante Welt, Nr.  48 (1912), S.  20 und Durchs Opernglas. Wintergarten, Elegante Welt, Nr. 38 (1913), S. 16. 59 Gänzl, S. 1424. 60 Die Reise um die Erde in 40 Tagen, Elegante Welt, Nr. 39 (1913), S. 4. 61 Wilbod, Varieté, Elegante Welt, Nr. 47 (1913), S. 16.

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und globale Verflechtungen auf der anderen Seite schlossen sich in diesem Sinne nicht aus, sondern sie bedingten sich in ihrer Dynamik wechsel­ seitig. Dies zeigte sich besonders an der Bedeutung, die der Veranstaltung von Tanzturnieren zugemessen wurde. Im Februar 1913 traten im Admirals­ palast 87 Paare zur »Meisterschaft von Groß-Berlin« an.62 Getanzt und bewertet wurden hier die neuen Modetänze Boston, Two Step, One Step und Tango. Der erste Preis (eine goldene Uhr und ein Handkoffer mit Einrichtung) ging schließlich an den Sohn des früheren serbischen Ministerpräsidenten, den Tänzer Niki Georgewitsch (Nicolaus Georgevicz) mit seiner Partnerin, der zweite Preis an den Berliner Zeichner Robert L. Leonard und der dritte Preis an den US -amerikanischen Tennismeister Dr. Cribben, wobei die jeweiligen Tanzpartnerinnen immer namenlos blieben. Eine illustre Gesellschaft also, die verdeutlichte, dass der Tango zu diesem Zeitpunkt zu einem Amüsement der höchsten Gesellschaftsschichten und wohlhabenden Touristen in Berlin geworden war. Die Jury, der unter anderem eine Tänzerin des »Metropol-Theaters«, der Herausgeber der Zeitschrift Elegante Welt, Franz Wolfgang Koebner, sowie ein Ballettmeister und zwei Sportreporter angehörten, hob bei der Bewertung hervor, Georgewitsch sei der bessere Gesellschaftstänzer, Leonard sei eher ein Tanzkünstler des Varietés. Das­ Resümee dieses erfolgreichen Abends lautete: »In keiner Stadt wird so gut getanzt wie in Berlin.«63 Bereits kurze Zeit später folgte im »Admiralspalast« das »Tanzmatch Paris-Berlin«. Diesmal hatte man den erfolgreichen Tänzer und Tanzlehrer L. Duque aus Paris nach Berlin eingeladen, der gegen die Sieger des ersten Turniers antreten sollte. L. Duque, eigentlich brasilianischer Staatsbürger, trat hier als Vertreter des französischen Tango auf und siegte souverän. Paris verbannte damit die Siegerpaare des ersten Tanzturnieres in Berlin diesmal auf Platz zwei und drei.64 Die Elegante Welt resümierte im März 1913 zum Ende der Saison: »Noch nie haben wir eine so tanzfreudige Saison hinter uns gehabt, wie die von 1912/1913. Tanz – getanzt haben wir eigentlich schon immer. Aber doch nicht in Konkurrenz mit französischen Meisterschaftstänzern, doch nicht nach den bisher so gut wie unbekannten 62 F. W. Koebner, Tanz-Turnier, Elegante Welt, Nr. 7 (1913), S. 8–10. Vgl. außerdem den Bericht von M. C. F., Tanzturnier, Der Tanz. Spezialbeigabe zur Cabaret-Revue, Nr. 52 (1913), S. 21/22. 63 F. W. Koebner, Tanz-Turnier, Elegante Welt, Nr. 7 (1913), S. 10. 64 F. W. Koebner, Tanzmatch Paris-Berlin, Elegante Welt, Nr. 11 (1913), S. 10/11. Ein weiterer Bericht von M. C. F., Paris-Berlin, Der Tanz. Spezialbeigabe zur Cabaret-Revue, Nr. 54 (1913), S. 21/22.

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Weisen des Tango, des Rags – die man als höhere Tochter nach ›Grammo­ phönchen‹ heimlich in den Salons des Kurfürstendamms übte, als besserer Herr öffentlich in den Tanzlokalen.«65 Das internationale Tanzturnier, das anlässlich der Pferderenntage in Baden-Baden vom 25. bis 27. August 1913 stattfand, erregte in dieser Zeit die größte Aufmerksamkeit.66 Von allen Tanzturnieren, die in Berlin, Paris und London stattfänden, sei dieses das größte, internationalste, amüsanteste. Die besten Tänzer aller Erdteile schienen sich hier ein Rendezvous gegeben zu haben, beschrieb Koebner, der in der Eleganten Welt über mehrere Ausgaben hinweg aus Baden-Baden berichtete, das Geschehen.67 Das Turnier war nur für Amateure gedacht, Berufstänzer wurden nicht zugelassen. Am Ende sollte der »Batschari-Weltmeister­ schafts-Preis« im Tango im Wert von 2000 Goldmark vergeben werden. In Koebners Einschätzung lagen die Berliner Tanzpaare dabei weit vorne: »Der Tag der Entscheidung ist noch nicht gekommen. Eins aber ist nun mal ganz sicher und von der gesamten Jury anerkannt. Die Deutschen schneiden am besten ab. Das Berliner Team besteht aus etwa zwanzig Paaren, unter denen die Hälfte Hervorragendes leistet und weit über dem Durchschnitt steht.«68 Letztendlich ging der erste Preis dieses Mal wirklich an den Berliner Tänzer Leonard, während Niki Georgewitsch den zweiten Platz belegte. Solche internationalen Tanzturniere standen beispielhaft für eine zunehmende Vernetzung und gleichzeitige Konkurrenz der Städte untereinander. Sie zeigen die europaweite Popularität des Tanzes und die Anfänge einer Vereinheit­ lichung der Tangochoreographie, wie sie von den französischen Tanzlehrern bereits diskutiert worden war. Darüber hinaus lässt sich an den Tanzturnieren jedoch auch ablesen, wie die Konkurrenz der europäischen Metropolen sich in solchen Aktivitäten manifestierte und die Berichterstattung dementsprechend aufgeladen wurde. Die Dienste von professionellen Tanz­ lehrern waren in dieser Zeit stark nachgefragt. In zahlreichen Anzeigen warben Tanzlehrer für ihren Unterricht bzw. Tanzsäle mit der Anwesenheit berühmter Lehrer. Das Restaurant »Grand Gala« beispielsweise konnte Unterrichtsstunden von L. Duque und Mme. Amélie S. anbieten, der eine bekanntermaßen Gewinner des Tanzmatches im Admiralspalast, die andere Teilnehmerin der Tangoweltmeisterschaft in Baden-Baden. Von »echten«­ 65 Franz Wolf, Der Ausklang der Saison, Elegante Welt, Nr. 12 (1913), S. 10. 66 Mehrere Anzeigen und Berichte in: Elegante Welt, Nr. 34–37 (1913). Siehe auch: Tanz. Von überall her!, Der Tanz. Spezialbeigabe zur Cabaret-Revue, Nr. 65 (1913), S. 12. 67 F. W. Koebner, Internationales Tanzturnier, Elegante Welt, Nr. 35 (1913), S. 13. 68 Ebd., S. 13.

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argentinischen Tanzlehrern, die in Paris mit ihrer vermeintlichen Authentizität werben konnten, fehlte in Berlin jede Spur. Die begehrtesten Tanz­lehrer kamen hier aus Paris. Die Schnelllebigkeit der Metropolenkultur, die auch vor der Entwicklung des Tanzes nicht Halt machte, zeigte sich in Berlin jedoch bereits wenig später. Im Frühjahr 1914 erschienen erste Berichte über neue Modetänze, die den Tango ablösen sollten. Aufsehen erregte dabei zunächst die sogenannte brasilianische Furlana, von der man die Anekdote zu berichten wusste, der Papst selbst habe sie als Ersatz für den unsittlichen Tango vorgeschlagen und sich vortanzen lassen.69 Als Erfinder der Furlana stellte die Elegante Welt dazu niemand anderen als den Meistertänzer und Tanzlehrer L. ­Duque aus Paris vor, der sich augenscheinlich mit der Einführung neuer Tänze ein lukra­tives Geschäftsmodell entwickelt hatte.70 Kurze Zeit später schon berichtete man in Berlin von dem Pariser Tanzlehrerkongress bei dem der­ Ta-Tao »an Stelle des zu Tode gehetzten Tango« für die kommende Saison vorgeführt worden sei.71 Mit dem Beginn des Ersten Weltkriegs wurde diese rasante Entwicklung zunächst unterbrochen, bevor in den 1920er Jahren die Jazzmusik eine neue Welle von Tänzen mitbrachte. Während sich Foxtrot, Charleston, Shimmy und später die Swingtänze im Berlin der 1920er Jahre entwickelten, blieb der Tango eine prägende Erinnerung an die letzten Jahre vor dem Ersten Weltkrieg.

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2.1 Zur europäischen Geschichte des Tanzlehrers Die neue Tangomode aus Paris ließ die Nachfrage nach geeigneten Tanz­ lehrern in Berlin in die Höhe schnellen. Tango zu unterrichten wurde zu einer lukrativen Einkommensmöglichkeit und zu einer erforderlichen Kompetenz jedes Tanzlehrers. Tanzlehrer standen vor neuen Aufgaben, die ihr Selbstverständnis und die tradierten Formen ihrer Lehrtätigkeit herausforderten. Im Folgenden soll daher zunächst die Geschichte des Tanz­lehrers 69 Casanova und die Furlana, Elegante Welt, Nr. 10 (1914), S. 12/13. 70 Photoserie von Talbot, Elegante Welt, Nr. 11 (1914), S. 7. 71 Kyrill d’Orval, Ta-Tao oder die Wiederkehr des Menuetts, Elegante Welt, Nr. 17 (1914), S. 22.

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umrissen werden, um auf die gesellschaftliche Bedeutung und den Wirkungskreis dieser Berufgruppe hinzuweisen. Vor diesem Hintergrund werden anschließend die Herausforderungen, mit denen sich die Tanzlehrer in Berlin bei der Einführung der neuen Modetänzt konfrontiert sahen, fokussiert und vergleichend nach unterschiedlichen Reaktionen und Handlungsoptionen mit der Tanzlehrerschaft in Paris gefragt.72 Der Beruf des Tanzlehrers in Europa blickte auf eine lange Tradition zurück, die sich vor allem mit den soziokulturellen Entwicklungen in den Städten im 19. Jahrhundert grundlegend veränderte.73 Die Figur des Tanzmeisters (maître de danse) war lange Zeit eng mit dem gesellschaftlichen Leben und der Repräsentation der europäischen Höfe verbunden, zu der auch die Inszenierung festlicher Bälle zählte. Die Aufgaben der Hoftanzmeister waren vielfältig und reduzierten sich keinesfalls auf den Tanzunterricht. Sie waren verantwortlich für die Organisation und den Ablauf von Bällen und vermittelten eine Vielzahl von wichtigen Fähigkeiten des gesellschaftlichen Umgangs, darunter Sprach- und Konversationsunterricht und sportliche Kompetenzen wie das Fechten. Darüber hinaus gehörten das Verfassen von anleitender Tanzliteratur sowie die Kreation neuer Tänze, die auf speziellen Tanzmeisterbällen vorgetragen wurden, zu ihrem Aufgabenspektrum. Im 16. und 17. Jahrhundert hatten sich daraus bereits ein Berufsbild und ein Selbstverständnis entwickelt, welche den Tanzmeister als Transporteur gesellschaftlicher Normen über den begrenzten Raum des Balls hinaus auszeichnete. An den europäischen Höfen dominierte die französische Tanzkunst. Wie viel Aufmerksamkeit dabei auch von französischer Herrscherseite dem Tanz zuteil wurde, lässt sich an der Einrichtung der »Académie Royale de Danse« 1661 in Paris unter Louis XIV ablesen, die der Etablierung des Tanzes als selbstständige Kunstform neben der Musik dienen sollte.74 Dreizehn erfahrene Tanzmeister bekamen hiermit die finanziellen Mittel und vor allem die institutionelle Unterstützung zur Verfügung gestellt, um die französische Tanzkunst zu fördern. Der Wirkungskreis der Tanzmeister orientierte sich an den höfischen Strukturen in Europa. Französische Tanzmeister waren im deutschsprachigen Raum beschäftigt, sie vermittelten Umgangsformen des französischen Adels und gaben Unterricht in Französisch, das sich in weiten 72 Zur Geschichte des Tanzlehrers siehe auch Lange, Der Transfer des argentinischen Tango. 73 Grundlegend Salmen und Fink. 74 Salmen, S. 36.

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Teilen Europas zunehmend zur gehobenen Umgangssprache und zur Sprache der Diplomatie herausbildete.75 Blieb der Tanzunterricht somit zunächst dem Hof und damit den Ange­ hörigen der adeligen Oberschicht und deren festtäglicher Repräsentation vorbehalten, bildete sich seit dem 18.  Jahrhundert der zivile Tanzmeister heraus, der vor allem das städtische Bürgertum unterrichtete. Um den Bruch zwischen der Bewahrung höfischer Gepflogenheiten und einer eigenen bürgerlichen Auffassung von Erziehung und Bildung zu verdeutlichen und eine pädagogisch ausgerichtete Vermittlung der Tanzkunst in den Vordergrund zu stellen, veränderte sich damit auch die Selbstbezeichnung von Tanzmeister zu Tanzlehrer (professeur de danse).76 Im Verlauf des 19. Jahrhunderts entstanden immer mehr Tanzschulen und Tanzlehrbücher für den Selbstunterricht, um einer zunehmenden Nachfrage an Tanzunterricht im Bürgertum nachkommen zu können. Die Herausgabe von Tanzmusik­ notationen und Choreographien wurde für Tanzlehrer zu einer wichtigen Einnahmequelle. Dies führte gleichzeitig zu einer Vereinfachung der Gesellschaftstänze.77 Die großen Tanzmeister des 19. Jahrhunderts zeichneten sich gerade dadurch aus, dass sie ihr Wissen in Handbüchern weitervermittelten bzw. neue Tanzlehrer ausbildeten, die in ihrem Sinne unterrichteten. Zu diesen prägenden Figuren der Geschichte des Gesellschaftstanzes gehörte der französische Tanzlehrer Cellarius, der 1847 La danse de salons publizierte, das zu einem Standardwerk des Tanzunterrichtes in ganz Europa werden sollte. Cellarius trug maßgeblich dazu bei, das Berufsbild des Salontanz­ lehrers zu formen und den Salontanz bzw. den modernen Gesellschaftstanz neben dem Bühnentanz zu etablieren.78 Während die höfische Tanzmeisterkultur ein weitgehend nach außen abgeschlossener Bereich war, hatten die bürgerlichen Tanzlehrer von Beginn an mit Konkurrenz und unlauterem Wettbewerb zu kämpfen. Von der Möglichkeit, ohne Konzession Tanzschulen zu eröffnen bzw. ohne Lehrerlaubnis zu unterrichten, wurde häufig von arbeitssuchenden Künstlern oder ­Studenten Gebrauch gemacht. Kontrollmechanismen und Reglementierungen fehlten hier lange Zeit und wurden von der Tanzlehrerschaft zunehmend eingefordert.79 Eine solche Professionalisierung des Berufsfeldes, ver75 76 77 78 79

Fink, S.73; siehe auch Hoyer, S. 24. Salmen, S. 121. Dahms, S. 286. Hess, Der Walzer, S. 202. Fink, Der Ball, S. 72.

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bunden mit der Notwendigkeit, auf Konkurrenz zu reagieren und für die eigenen Dienste zu werben, führte in der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts zu einem verstärkten Bedürfnis nach Interessenverbänden und einer dadurch vorangetriebenen Institutionalisierung der Tanzlehrerschaft. Als eine der ersten Interessenvertretungen entstand 1856 in Paris die »Académie Impériale de Danse«. Diesem Vorbild folgte 1873 die Gründung der deutschen »Akademie der Tanzlehrer« und weitere ähnliche Zusammenschlüsse in anderen europäischen Ländern. In diesem Zuge entstanden nun auch vermehrt Fachperiodika, in denen berufliche Interessen formuliert wurden und der Austausch über neue Tanzformen und Choreographien sehr viel schneller vermittelt werden konnte. In Paris erschien seit 1883 La Danse. Journal et guide des Danseurs et Danseuses, in Berlin seit 1892 Der Tanz­ lehrer und ab 1898 die Allgemeine Deutsche Tanzlehrer-Zeitung.80 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte sich der Beruf des Tanzlehrers bereits sowohl in Paris als auch in Berlin in Institutionen und Medien etabliert. Die Tanzlehrerschaft war international tätig und konnte über einen nationalen Rahmen hinaus zunehmend auf internationale Netzwerke zurück­ greifen. Gesellschaftlich stellten Tanzlehrer traditionell eine relevante Instanz in der Kontrolle von Normen und Moralvorstellungen dar. Ihr Wirkungskreis hatte sich in den Jahrhunderten kontinuierlich erweitert, sodass ihr Einfluss, der lange Zeit auf die höfische Kultur beschränkt geblieben war, zu Beginn des 20. Jahrhunderts durchaus von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung war.

2.2 Internationale Zusammenarbeit: Der »Bund deutscher Tanzlehrer« und der »Internationale Verband der Tanzlehrer-Vereine« 1898 gründete Max Geißler-Meves in Berlin den Bund deutscher Tanzlehrer. Dieser vereinte fünf große deutsche Vereine unter einem Dach und nahm für sich in Anspruch, von Berlin aus die Tanzlehrerschaft innerhalb Deutschlands und auch international zu repräsentieren.81 1913 zählte der Bund etwa 80 Salmen, der Tanzmeister, S. 130. 81 Vor dem Ersten Weltkrieg bestanden in Deutschland fünf Tanzlehrervereinigungen. Der Bund Deutscher Tanzlehrer war mit Sitz in Berlin der größte Dachverband. Ihm gehörten an: die Akademie der Tanzlehrkunst, der Allgemeine Sächsische TanzlehrerVerband, der Bund deutscher Tanzlehrer, die Genossenschaft Deutscher Tanzlehrer und der Verein Berliner Tanzlehrer.

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200 Mitglieder. Im Gegensatz zur A. I. D. in Paris war der deutsche Bund kein loser Zusammenschluss einzelner Tanzlehrer, sondern eine nach dem Vereinswesen geordnete Struktur, deren Mitglieder auf regelmäßig statt­ findenden Bundestagen, Delegiertenversammlungen und in Fachschulen den Gesellschaftstanz in Deutschland einheitlich organisierten. Als Verbandszeitschrift des Bundes deutscher Tanzlehrer erschien monatlich die Allgemeine Deutsche Tanzlehrer-Zeitung (ADTZ) als »Fachblatt für die Berufs-Interessen aller Deutschen Tanzlehrer«.82 Die Fachzeitschriften der Tanzlehrerschaft waren eine wichtige Plattform der Kommunikation. In der Allgemeinen Deutschen Tanzlehrer Zeitung zeigte sich eine breite Beteiligung von Tanzlehrern aus dem gesamten Gebiet des Deutschen Reiches. Oftmals liefen hier die Berichterstattungen der­ kleineren, regionaler orientierten Zeitschriften zusammen. Trotz der föderativ geprägten Strukturen der deutschen Tanzlehrerschaft zeigte sich hierin eine Orientierung an den Entscheidungen, die in Berlin getroffen wurden. Darüber hinaus beobachtete die ADTZ aufmerksam die Entwicklungen in anderen Ländern, vor allem in Frankreich und England und berichtete regelmäßig über die Sitzungen der französischen Tanzlehrerschaft der A. I. D. in Paris. Ein solcher internationaler Fokus der Zeitschrift war Ausdruck eines sich zunehmend internationalisierenden Berufsfeldes. Als Organ des Bundes Deutscher Tanzlehrer steht mit der ADTZ im Folgenden eine Zeitschrift als Quelle zur Verfügung, in der sich das Wirken der deutschen Tanzlehrerschaft inhaltlich, aber auch institutionell abzeichnete. Die Berichterstattung der ADTZ kann damit vergleichend zu dem französischen Journal de Danse analysiert werden, um die Frage zu beantworten, inwiefern es Ähnlichkeiten und Unterschiede in der Handlungsweise und den Zielsetzungen der Tanzlehrerschaft in Paris und Berlin gab und in welcher Weise sich diese Akteure in den beiden Städten gegenseitig beeinflussten. Die Verbandsarbeit und die Interessen des Bundes der deutschen Tanz­ lehrer waren international ausgerichtet. 1908 entstand in dieser Absicht der »Internationale Verband der Tanzlehrer-Vereine«, in dem sich Vereine aus Großbritannien, den USA, Ungarn, den Niederlanden und Österreich organisierten. Die fünf deutschen im Bund organisierten Tanzlehrer­vereine do82 Allgemeine Deutsche Tanzlehrer-Zeitung. Fachblatt für die Berufs-Interessen aller Deutschen Tanzlehrer. Gegründet am 15.  Juli 1898 von Max Geißler-Meves. Organ des Bundes Deutscher Tanzlehrer. Brandenburg (seit 1912 Hannover), 1898–1922.

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minierten diesen Zusammenschluss und machten rein zahlenmäßig schon den weitaus größten Anteil der Mitglieder aus. Ein französischer Verein war im »Internationalen Verband« nicht vertreten, die A. I. D. hatte ihren Beitritt jedoch für 1912 in Aussicht gestellt.83 Anlässlich der Gründung des internationalen Verbandes fand 1908 in Berlin ein erster internationaler Tanzlehrertag statt, an dem 500 Tanzlehrer aus der ganzen Welt teilnahmen. Das größte und wichtigste Ereignis während des Bestehens des internationalen Verbandes war der im Juli 1911 in Wien stattfindende 2. Inter­nationale Tanzlehrer-Kongress. An diesem nahmen die fünf deutschen Verbände sowie Tanzlehrervereine aus den USA, England, Ungarn, Österreich und den Niederlanden teil.84 Ein Thema erwies sich dabei als zentral in der internationalen Zusammenarbeit: Bereits im Vorfeld des Kongresses hatte sich eine Kommission gebildet, die an einer internationalen Vereinheitlichung von Tänzen arbeitete und diesbezüglich Tanzlehrwerke der einzelnen Länder auswertete. Der dreistündige Bericht dieser »Kommission zur Feststellung der einheitlichen Tanzweise des Konter und der Lanciers-Quadrille« fiel enttäuschend aus. Die Mitglieder der Kommission beklagten einen unüberschaubaren Umfang des Materials und fehlende Mitarbeit der Vertreter aus dem Ausland, wohingegen sich einige Konferenzteilnehmer unzufrieden mit dem überaus langwierigen Prozess der Vereinheitlichung zeigten.85 Trotzdem bekräftigte man die gemeinsame Aufgabe, »einheitliche, für die ganze Welt geltende Tänze zu schaffen«.86 Etwas konkreter und erfolg­reicher war in dieser Hinsicht der Tagesordnungspunkt, der sich mit dem einheitlichen Lehren des Two Step und des Boston befassen sollte. Unter Anwesenheit der US -amerikanischen Tanzlehrer wurden diese Tänze vorgeführt und die Schrittabfolgen erläutert. Des Weiteren berichtete ein deutscher Tanzlehrer, der diese Tänze während des Aufenthaltes US -amerikanischer Tanzlehrer in Kiel studiert hatte, von seinen Eindrücken. In der anschließenden Fachschule wurden die Choreographien von allen anwesenden Delegierten als gültig angenommen. Diese Beschlüsse, die in der ADTZ veröffentlicht wurden, galten seitdem als verpflichtend für alle dem Bund angeschlossenen 83 Sitzung der Vorstände und Delegierten der dem Internationalen Verbande der Tanzlehrer-Vereine angehörenden fünf deutschen Vereine, 3.4.1912, ADTZ , Nr. 6 (1912), S. 36. 84 Bericht über den 2. Internationalen Tanzlehrer-Kongreß in Wien am 16. bis 19. Juli 1911, ADTZ , Nr. 10 (1911), S. 59–61 und Nr. 11 (1911), S. 70–72. 85 Ebd., S. 60. 86 Bericht über den XIII. Bundestag des Bundes Deutscher Tanzlehrer in Kassel, ADTZ , Nr. 8/9 (1911), S. 54.

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Tanzvereine und legten die nunmehr gültigen Choreo­graphien fest.87 Der Kongress 1911 in Wien war eines der wichtigsten Ereignisse in der kurzen Geschichte einer sich als international begreifenden Tanzlehrerschaft unter deutscher Führung. Für 1915 war ein weiterer internationaler Tanzlehrertag in Hamburg geplant. Dieser kam jedoch nicht zustande, da sich der internationale Verband bereits 1912 aufgrund interner Unstimmigkeiten, bei denen es um die Verteilung des Mitspracherechts zwischen deutschen und öster­ reichischen Verbänden kam, auflöste. Der im direkten Anschluss an den internationalen Kongress in Wien stattfindende XIII. Bundestag des Bundes Deutscher Tanzlehrer in Kassel, mit etwa 60 Teilnehmern, griff die Ergebnisse aus Wien auf.88 Eine Vereinheitlichung der Gesellschaftstänze war auch hier eines der vorrangigen Themen. In der Fachschule, die alljährlich dazu diente, das Repertoire der deutschen Tanzlehrer untereinander abzustimmen, unterrichtete man ausschließlich bekannte europäische Tänze. Neben einer dreistündigen Einheit, die dem klassischen Menuett gewidmet war und einer achtstündigen Einheit zum Unterricht der Quadrille, umfasste das Programm auch jeweils acht Stunden Walzerunterricht und weitere sechs Stunden für verschiedene Polkatänze. Die Tanzlehrerin Dora Eberle aus Kassel wurde bei dieser Gelegenheit für ihre zehnjährige Lehrtätigkeit mit der Ehrenmitgliedschaft des Bundes ausgezeichnet. Dies war, wie man auch in der ADTZ hervorhob, die erste Ehrenmitgliedschaft einer Frau seit Bestehen des Verbandes.89 Den Two Step und den Boston unterrichtete man in der Fachschule in Kassel in Anlehnung an die Beschlüsse in Wien. Jedoch wurden diesen beiden Tänzen unter Anleitung des Hamburger Tanzlehrers Hugo Florenz Dequine lediglich zwei Stunden des Gesamtprogrammes eingeräumt. Die Rubrik »Neue Tänze«, unter die diese beiden US -amerikanischen Tänze fielen, blieb eine Randerscheinung des Kongresses in Kassel, der die sich anbahnenden Entwicklungen, die das Repertoire des Gesellschaftstanzes sehr bald grundlegend verändern und in Frage stellen sollten, noch ignorierte. In der letzten Ausgabe des Jahres 1911 berichtete die ADTZ von dem Tanzlehrerkongress Eugène Giraudets in Paris, an dem neben den französischen 87 Bericht über den 2. Internationalen Tanzlehrer-Kongreß in Wien am 16. bis 19. Juli 1911, ADTZ , Nr. 10 (1911), S. 61. 88 Bericht über den XIII. Bundestag des Bundes Deutscher Tanzlehrer in Kassel, ADTZ , Nr. 8/9 (1911), S. 54. 89 XIII. Bundestag des Bundes Deutscher Tanzlehrer in Kassel, ADTZ , Nr. 8 und 9 (1911), S. 53.

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Tanzlehrern und internationalen Kollegen auch eine auffallend große Zahl deutscher Tanzlehrer teilgenommen hatte.90 Der Kongress in Paris sei im Großen und Ganzen eine Bestätigung der Beschlüsse, die auch die deutschen Tanzlehrer gefasst hätten, hieß es, die Ignoranz, die sich schon in Wien und Kassel gegenüber den neuen Tänzen abgezeichnet hatte, schien sich hier zu bestätigen. Unter dem Titel »die neuen Gesetze des Ballsaals« schrieb man daher in der ADTZ: »Der große Pariser Tanzlehrerkongreß, an dem alle französischen Meister der Tanzkunst und auch eine stattliche Zahl ausländischer Tanzmeister teilnahmen, ist nun zu Ende, die Gesetze des Ballsaals sind für die kommende Saison festgestellt, und sie bilden im Wesentlichen eine Be­stätigung der Beschlüsse, die auch die deutschen Tanzmeister bei ­ihren jüngsten Beratungen gefasst haben. Alle exotischen Tänze mit komplizierten Rumpfbewegungen, alle Schiebetänze und Varianten der Apachen­reigen werden in der nun beginnenden Zeit der großen Bälle verpönt sein.«91 Zwei Aspekte zeichneten sich bis zu diesem Zeitpunkt an der Entwicklung der Verbandsstrukturen und in den Diskussionen der deutschen Tanzlehrerschaft ab. Mit der Gründung des internationalen Verbandes der Tanzlehrer-Vereine hatte sich auch der Deutsche Bund kurzfristig eine Organisationsstruktur mit internationaler Reichweite geschaffen. Während mit der französischen A. I. D. einzelne Tanzlehrer aus der ganzen Welt assoziiert waren, umfasste der Wirkungsbereich des internationalen Bundes zur Zeit seines Bestehens einen regional kleineren Radius. Die Mehrheit der­ assoziierten Vereine des Bundes war mittel- und osteuropäischer Herkunft. Diese Ausrichtung des internationalen Bundes nach Mitteleuropa spiegelte den Einfluss einer kulturellen Zirkulation des Repertoires im europäischen Raum, in dem Tanzlehrer im 19.  Jahrhundert grenzüberschreitend tätig­ waren. Die Entwicklungen in Paris und die Beschlüsse der A. I. D. wurden in Deutschland rezipiert und als leitend angenommen. In der Kommunikation der Verbände untereinander nahm vor allem die Suche nach »weltweit« gültigen Tänzen einen zentralen Platz ein. Nachdem der internationale Verband gescheitert war, verblieb die Verbandsarbeit des Bundes bis zum Ersten Weltkrieg zunächst auf die Vereinigung der deutschen Verbände beschränkt. Die neuen Tänze waren zu diesem Zeitpunkt noch kein Thema. Sowohl auf der internationalen Tagung in Wien als auch in Kassel beschäftigte man sich mit einem bekannten europäischen Repertoire bzw. mit Innovationen 90 Aus aller Welt. Die neuen Gesetze des Ballsaals, ADTZ , Nr. 12 (1911), S. 79/80. 91 Ebd., S. 79.

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von europäischen Verbandsmitgliedern. Boston und Two Step waren die einzigen Tänze, die durch die Vermittlung US -amerikanischer Tanzlehrer Aufnahme in den Gesellschaftstanz fanden. Erst seit 1912 begannen in der deutschen Tanzlehrerschaft die Diskussionen darüber, wie man mit den Veränderungen des Gesellschaftstanzes umzugehen habe. Von einer Öffnung nach außen und »vorsichtigen Reformversuchen« war nun die Rede, durch die ein europäisches Repertoire möglicherweise erweitert werden konnte.

2.3 Diskussionen über »Schiebe- und Wackeltänze« Nur langsam öffnete sich die deutsche Tanzlehrerschaft den neuen Mode­ tänzen. Doch mit der zunehmenden Präsenz der Ragtimetänze und der Ankunft des Tango musste man sich auch in Berlin mit den Veränderungen befassen. »Die deutschen Zeitungen werden neuerdings wieder einmal überschwemmt mit Nachrichten aus Paris, London und Amerika über sogenannte neue Tänze. Fast immer handelt es sich dabei um Grotesken, welche dem Varieté, dem Cabaret, ihre Entstehung verdanken,« schrieb Max Geißler-Meves 1912 in der ADTZ und wies damit bereits auf zwei Deutungsmuster hin, die sich im deutschen Kontext durchsetzen sollten. Erstens fühlte man sich in Berlin »überschwemmt« von den neuen Tänzen, für deren Verbreitung man die Metropolen Paris und London sowie die USA verantwortlich machte. Zweitens verortete man diese Tänze auf den Bühnen der Varietés und im Cabaret, jedoch keinesfalls im Repertoire des Gesellschaftstanzes. Geißler-Meves äußerte sich recht deutlich gegenüber all diesen neuen Tänzen, denen er keinen Wert zugestehen wollte. »Da war seiner Zeit der noch frisch in Erinnerung erhaltene Cakewalk- immerhin noch ein Menschen- wenn auch ein Negertanz, dann kamen die Apachen- und jetzt alle möglichen Tiertänze, vom Truthahn bis zum Bärentanz. Es fehlen nur noch die Affentänze! Trotzdem es klar auf der Hand liegt, daß nichts davon, rein gar nichts, in den Rahmen unserer Gesellschaftskreise hinein­ passen könnte, wird solchen Wiedergaben ausländischer Presseerzeugnisse in unseren Zeitungen ein großer Spielraum gelassen, wie allem, was vom Auslande stammt, auch wenn es recht wenig Nutzen bringen kann.«92 Aufgrund der schnellen Verbreitung und des großen Erfolges der Tänze sahen auch die deutschen Tanzlehrer bald ein, dass man dieser Entwicklung Rech92 Max Geißler-Meves, Das Linkstanzen, ADTZ , Nr. 4 (1912), S. 23/24.

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nung tragen musste, sodass auf den folgenden Bundestagen mit den jeweils anschließenden Fachschulen 1912 in Stuttgart und 1913 in Krefeld auch die­ sogenannten neueren Gesellschaftstänze auf dem Programm standen. Jedoch widmete man sich diesen auch hier nur zwei Stunden unter An­leitung des Ballettmeisters Dequine aus Hamburg und schloss den folgenden Bericht in der ADTZ mit der Bemerkung, die Fachschule habe »im Zeichen der Menuetts und Gavotten« gestanden. Über die neuen Tänze urteilte man: »Diese Tänze, wie Christelbewn, Turkitrot und One Step usw. sind weiter nichts als Apachentänze, die von Paris nach Amerika kamen u. von Amerika ganz Europa überschwemmt haben. Diese Tänze wurden gezeigt und beschlossen, sie in Acht und Bann zu tun, da sie sich mit unserer Tanzkunst nicht vereinbaren.«93 Die langanhaltende Ignoranz der deutschen Tanz­ lehrerschaft gegenüber den neuen Modetänzen zog sich bis in den Sommer 1913, als der Tango bereits in Paris und Berlin überaus erfolgreich war. Zu diesem Zeitpunkt konnte die Fachschule des Bundestages in Krefeld stattfinden, ohne dass den US -amerikanischen Tänzen oder dem Tango Aufmerksamkeit gewidmet worden wäre. Das Programm bestand weiterhin aus Quadrille, Holzschuhtanz und einigen polnischen Nationaltänzen. Man einigte sich lediglich darauf, den neueren Tänzen beim nächsten Bundestag vier statt zwei Unterrichtsstunden einzuräumen.94 Ein anderes Thema bereitete den Tanzlehrern offensichtlich zu diesem Zeitpunkt sehr viel mehr Sorgen: Die Berliner Schiebetänze. Die charakteristische Neuerung des Vorwärtstanzens, die auch einigen Ragtime­tänzen zugrunde lag, war bei genauerem Hinsehen kein über den Atlantik gekommenes Novum.95 Sogenannte Schiebetänze konnte man auch in den Ausflugslokalen rund um Berlin und auf den Tanzböden in den Stadtvierteln der Berliner Arbeiterbevölkerung finden. Zu populären Walzer- und Polka­ melodien tanzte man auch hier mit lebhafteren Bewegungsabläufen und engerem Körperkontakt, als es die moralischen und ästhetischen Normen des Gesellschaftstanzes vorsahen.96 Zum einen wurden diese sogenannten Schiebetänze daher zu einem Synonym für alle Tanzformen, die bestehende Ordnungen unterliefen und dabei den Vorwurf der Prostitution und der Sittenwidrigkeit provozierten. Als »erotisch eindeutig« bezeichnete sie E ­ duard 93 Hugo Florenz Dequine, Fachschule zu Stuttgart, ADTZ , Nr. 8/9 (1912), S. 55. 94 Christian Bersch, Bericht über die Fachschule des Bundes deutscher Tanzlehrer in Crefeld, ADTZ , Nr. 8 und 9 (1913), S. 51. 95 Siehe Schär, S: 77 ff. 96 Vgl. Eichstedt u. Polster, S. 17–34.

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Fuchs schon 1912 in seiner Sittengeschichte des bürgerlichen Zeitalters, eine »pornographischere Form des Tanzens« sei kaum denkbar.97 Zum anderen aber galt genau dies bald als »typisch berlinerisch«. Spätestens seitdem der Komiker Littke-Carlsen dem Stadtteil Rixdorf ein Tanzlied gewidmet hatte und mit einem Schiebetanz auf der Bühne des »Winter­gartens« aufgetreten war, konnte man in Berlin nicht nur überall den »­ Rixdorfer Schieber« sehen und hören, sondern die Schiebetänze wurden nun auch von einem bürgerlichen Publikum im Zentrum übernommen, wo nun auch in den Tanzsälen rund um die Friedrichstraße »gewackelt und geschoben« wurde.98 Das Vordringen dieser Tanzformen in den bisher geschützten Raum des bürgerlichen Gesellschaftstanzes wurde von Seiten der organisierten Tanzlehrerschaft scharf kritisiert. Die Präsenz der Schiebetänze konnte jedoch bald ebenso wenig ignoriert werden, wie der Erfolg der US -amerikanischen Tänze, die man aufgrund ihrer grotesken Formen oftmals despektierlich auch als Wackeltänze bezeichnete. Unter dem Oberbegriff »Schiebe- und Wackeltänze« argumentierte die deutsche Tanzlehrerschaft daher gleichermaßen gegen beide Phänomene und grenzte sich damit gegen die »fremden« Tänze ebenso ab wie gegenüber den Tanzformen der eigenen Unterschichten. In dieser Hinsicht ähnelte der Berliner Schieber den französischen Apachentänzen bzw. den bals musette in Paris sowohl in den moralisch provozierenden Körperpraktiken als auch in den daraus resultierenden Disziplinierungsversuchen, die aus der sozialen Verortung der Tänze resultierte.99 Auf der Sitzung der Vorstände 1913 in Berlin stellte man diesbezüglich die Frage: »Können die Tanzlehrer etwas gegen den durch die ­Wackel- und Schiebetänze bewirkten offenbaren Niedergang der Gesellschaftstänze tun?«, und stellte fest: »Die Versammlung neigt allgemein der Ansicht zu, daß gegen die jetzt herrschende unwürdige Tanzart nichts zu machen ist. Wir können höchstens versuchen, die Epidemie einzudämmen, und hoffen, daß diese Tanzseuche von selbst ein Ende nimmt (…).«100 Bald darauf sollte man jedoch erfahren, dass eine solche Hoffnung eine fatale Fehleinschätzung der weiteren Entwicklung war.

97 Fuchs, S. 153. 98 Eichstedt u. Polster, S. 18. 99 Vgl. zu diesem Aspekt ausführlich Kapitel III, 3.3. Soziale Ordnungs- und Diszipli­ nierungsversuche 100 Sitzung der Vorstände der vereinigten 5 Deutschen Tanzlehrer-Vereine am 19. März 1913 in Berlin, ADTZ , Nr. 5 (1913), S. 28–31.

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2.4 Kontrollversuche: Tangoverbote und Konkurrenzparagraphen »Die argentinischen Tänze eroberten sich Paris«, schrieb man zu Beginn des Jahres 1912 in der ADTZ in der Sparte Pariser Allerlei.101 Kurze Zeit später hatte das »Tangofieber« auch Berlin erreicht. Die stilbildende Rolle von Paris spielte in der Wahrnehmung und in den Berichten der deutschen Tanz­lehrer über den Tango eine zentrale Rolle. August Schwindowsky, Tanzlehrerund -theoretiker und einer der aktivsten Autoren der ADTZ meldete sich diesbezüglich zu Wort. Unter der Überschrift »Zur Psychologie des Tangos« konnte man lesen: »Es wird über den Tango viel hin- und hergeredet. Er soll absolut unästhetisch und anstößig sein. Natürlich, weil er aus Paris kommt. Abgesehen davon, dass er gar kein Pariser Tanz ist, trifft auch die Logik nicht den Kern der Sache. Der Tango ist ein weit gereister, alter Herr. Ein Vierteljahrhundert mag vergangen sein, da loderte er in Amerika auf und in Brasilien, in Buenos Aires verknüpfte man mit dem Worte Tango naserümpfend den Abschaum der Menschheit.«102 Schwindowsky war über die soziale Verortung des Tango in Buenos Aires durchaus informiert. Deutlich formulierte er seine Abneigung gegenüber dem Entstehungskontext von Migration und Armut, bevor er jedoch die bedeutsame Mittlerposition von Paris bei der Verbreitung des Tango in Europa deutlich hervorhob. Denn, so der Ar­tikel weiter: »Erst als der verstorbene Eduard VII. sich den Tango als Schautanz vortanzen ließ, und die Pariser Akademie ihn ›schuf‹ und zu einem Gesellschaftstanz erhob, wurde er bekannt und überflutete Europa als Novität.« Paris, das in dieser Hinsicht wie ein Filter zu wirken schien, über den fremde Tänze ihren Eingang nach Europa fanden, wurde von der Tanz­lehrerschaft kritisch beobachtet. Die tatsächliche Herkunft des Tanzes rückte damit in den Hintergrund, stattdessen wurde über die Pariser »Urheberschaft« diskutiert. Hatte man sich auf den Tanzlehrerkonferenzen 1912 und 1913 noch an den Beschlüssen der französischen Tanzlehrerschaft orientiert und diese als leitend angenommen, kehrte sich die Rolle von ­Paris nun bezüglich der neuen Tänze ins Negative. Das ganze deutsche gesellschaftliche Ballleben werde »südamerikanisiert« und »pariserisiert«103, polemisierte man an anderer Stelle in der ADTZ und so blieben die Stim101 Pariser Allerlei, ADTZ , Nr. 3 (1912), S. 19. 102 August Schwindowsky: Zur Psychologie des Tango, in: ADTZ , Nr. 8/9 (1913), S. 54. 103 J. R. Boßhardt-Haab: Ein Zeitbild in der gesellschaftlichen Tanzkunst, in: ADTZ , Nr. 3 (1914), S. 17.

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men gegenüber dem Tango in Berlin innerhalb der Tanzlehrerschaft durchweg kritisch. Hier schien es weniger um die Bewertung eines neuen Tanzes zu gehen, als um die Tatsache, dass man sich von der kulturellen Führungsrolle Paris’ bevormundet fühlte und sich von einem vermeintlich zu starken französischen Einfluss distanzieren wollte. Die »Schiebe- und Wackeltänze«, zu denen auch der Tango zählte, stellten die deutsche Tanzlehrerschaft vor schwierige Herausforderungen. An mehreren Fronten meinte man, sich neu positionieren zu müssen. Neben dem starken französischen Einfluss hatte man auch bereits die US -amerikanischen Tänze kritisiert. Darüber hinaus begünstigten die Varieté­bühnen und die Cabarets die Verbreitung einer großen Anzahl neuer Tänze, die noch nicht professionell reglementiert worden waren. Als Reaktion stilisierten sich viele Tanzlehrer in Berlin zu Opfern unlauterer Konkurrenz gegenüber all jenen, die das alte Monopol ihres Berufsstandes nicht mehr achteten, sondern die Möglichkeiten einer stetig wachsenden kommerziellen Unterhaltungskultur zu nutzen wussten. Während es in Berlin im Gegensatz zu Paris keine direkte Konkurrenz durch argentinische Tanzlehrer gab, wehrte man sich hier sehr viel vehementer gegen deutsche Tanzlehrer, die die professionellen Vorgaben einer institutionalisierten Tanzlehrerschaft nicht achteten. Um gegen diese vorgehen zu können, diskutierte man in der ADTZ kontinuierlich die Schaffung eines Konkurrenzparagraphen, der die Werbung und das Angebot von Tanzunterricht unter eine strenge staatliche Gesetzgebung stellen sollte. Damit hoffte man sich in Zukunft besser vor »schmutzigen Konkurrenzmittelchen« und »Lokal-Treibereien« schützen zu können. Auch eine Petition an den Reichstag verfasste man aus den Reihen des Bundes, in der gefordert wurde, einen strengeren Befähigungsnachweis für Tanzlehrer einzuführen.104 Doch es ging der Tanzlehrerschaft nicht nur um die direkte Konkurrenz zu anderen Tanzlehrern und um die praktische Frage nach Berufsvorteilen. In der ADTZ argumentierte man gegen den Tango und die anderen neuen Modetänze unter dem Vorzeichen der moralischen Verantwortung und des erzieherischen Auftrags. »Die angeführten Mode-Tänze weichen vollständig vom erzieherischen Prinzip ab«105, hieß es in einem Artikel, in dem über die Frage sinniert wurde, wie man in der aktuellen Situation über104 Sitzung der Vorstände der vereinigten 5 Deutschen Tanzlehrer-Vereine am 19. März 1913 in Berlin, ADTZ , Nr. 5 (1913), S. 28–31. 105 J. R. Boßhardt-Haab, Mode-Tänze, ADTZ , Nr. 8 und 9 (1913), S. 54.

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haupt noch die Aufgabe des Tanzlehrers als Jugenderzieher gewissenhaft erfüllen könne. »Tänze, welche in den Lokalen der Lebemänner im Dunkel der Großstädte mit Vorliebe gepflegt werden, eignen sich keineswegs in dem Ballsaal der gebildeten Menschen«, schrieb man diesbezüglich weiter und verortete die Gefahr vor allem in den Tanzlokalen der Großstädte. Die ADTZ , die die Tanzlehrerschaft aus vielen deutschen Städten repräsentierte, zeigte hier deutlich, dass Berlin als Metropole ein sehr viel größerer Anteil an einer negativen Entwicklung gegeben wurde, vor denen man sich in kleineren Städten noch meinte schützen zu können. Konsequenterweise war es dann auch der dem Bund angehörende »Verein Berliner Tanzlehrer 1876«, der im Juli 1913 der ADTZ mitteilte, der Polizeipräsident von Berlin, Traugott von Jagow, habe darüber informiert, dass »gegen die Schiebe- und Wackel­tänze sowie sonstige anstößige Tänze und diejenigen Saalinhaber, die derartige Tänze dulden, im Sinne des Strafgesetzbuches vorzugehen sei«.106 Das rechtliche Vorgehen gegen die »unsittlichen Tänze« stellte nach Auffassung der Berliner Tanzlehrerschaft die konsequente Umsetzung ihrer moralischen Haltung und vor allem ihrer Verantwortung dar. Als Ende des Jahres 1913 in der deutschen Presse die Nachricht für Aufsehen sorgte, der Kaiser selbst habe seinen Soldaten das Tanzen in Uniform verboten, hieß es hierzu in der ADTZ: »Es muss seiner Seele widersprechen, mit ansehen zu müssen, wie das ganze deutsche gesellschaftliche Balleben mehr und mehr Südamerikanisiert und Pariserisiert wird. Eine fremde ›Invasion‹, wenn solche vorherrschend wird, kann mit den Jahren den nationalen Charakter eines Volkes zerstören. (…) Der Tanz soll Nationalsache bleiben.«107 Viele Stimmen in der Tanzlehrerschaft sprachen von der Unvereinbarkeit des Tango mit einem deutschen Repertoire. Tanz, so auch die Auffassung der Tanzlehrer, war nationale Kultur. Doch obwohl man mit den Verboten ein staatliches Eingreifen erwirkt hatte, konnte das Gesamtbild nicht darüber hinwegtäuschen, dass die meisten Versuche der Tanzlehrer zu involvieren schlicht wirkungslos blieben. Die Tanzlehrerschaft befand sich spätestens seit 1913 in einer Krise. Die Haltung der Tanzlehrer, »die Epidemie einzudämmen« und abzuwarten, dass die neuen Tänze von selbst wieder verschwinden würden, wie man noch zu Beginn des Jahres 1913 gehofft hatte, erwies sich als verhängnis106 Abdruck des Schreibens in: ADTZ , Nr. 7 (1913), S. 45. 107 J. R. Boßhardt-Haab, Ein Zeitbild in der gesellschaftlichen Tanzkunst, ADTZ , Nr. 3 (1914), S. 17.

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voll. Zunehmend sah man sich damit überfordert, auf die neuen Heraus­ forderungen adäquat zu reagieren und gemeinsame Entschlüsse zu fassen, die fortan als Leitlinie für einen deutschen Gesellschaftstanz gelten konnten. Unter der Überschrift »Wo ist der Nutzen der fünf deutschen Verbände?« diskutierte man in der ADTZ kontinuierlich über das Dilemma, in das die Tanzlehrer geraten waren. »Die Tangowelle, die alles mit sich fortreißt, war ganz dazu angetan, unseren Stand, unsere Geschäftslage in die Höhe zu­ heben. – Man hätte dieser Woge in corpore begegnen müssen, um ihre fabelhafte Schwungkraft auszunutzen! – Was hat man geleistet? – Der Einzelne sah sich halt- und ziellos einer ganz neuen Bewegung gegenüber, der er nicht gewachsen war«108, klagte August Schwindowsky im ersten einer Reihe von Artikeln, die sich mit diesem Thema seit Beginn des Jahres 1914 beschäftigten. Die Tanzlehrer blieben in der Mehrheit konservativ und verpassten damit ihre Chance, eine eigene Position gegenüber den neuen Rahmenbedingungen zu definieren. So schwankte ihre Argumentation zwischen Abwehr und pragmatischer Schadensbegrenzung. Diese Politik resultierte vor allem aus dem drohenden Bedeutungsverlust der eigenen Position. »Tradition ist Schlamperei  – nichts weiter«109, brachte es Schwindowsky auf den Punkt. Die Tanzlehrer konnten es sich seiner Meinung nach nicht leisten, sich den neuen Entwicklungen zu verschließen. In diesem Sinne pflichtete ihm eine Tanzlehrerin in der nächsten Ausgabe der ADTZ bei, die ebenfalls die Frage stellte, weshalb die deutsche Tanzlehrerschaft nicht in der Lage sei, auf die Entwicklungen zu reagieren. »Warum wehrt man sich in leitenden Fach­k reisen so sehr gegen die gewiß nicht immer schönen modernen Tänze, da sich doch jeder sagen muß, daß es absolut zwecklos ist; was können 30–40 Menschen gegen eine Sturmflut ausrichten?!«110 Vor allem den »Provinzlern«, so die Autorin, müsse man die Chance geben, auf den Bundestagen und in den Fachschulen die modernen Tänze zu erlernen, damit diese sich ein Bild über die Entwicklungen in der Großstadt machen könnten. Zum wiederholten Male zeigte sich hier auch das unterschiedliche Tempo, mit dem der Wandel des Repertoires in den deutschen Städten wahrgenommen wurde. Das Tanzgeschehen in Berlin, an dem sich die deutsche Tanz­lehrerschaft orientierte bzw. vor dem man sich nicht verschlie108 August Schwindowsky, Wo ist der Nutzen der fünf deutschen Verbände?, ADTZ , Nr. 1 (1914), S. 2/3. 109 Ebd. 110 Julia Flechtmann-Springorum, Wo ist der Nutzen der 5 deutschen Verbände?, ADTZ , Nr. 2 (1914), S. 7.

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ßen konnte, stand in einem engen Austauschverhältnis mit anderen europäischen Metro­polen und konnte nur noch bedingt mit den langsameren Veränderungen in kleineren Städten verglichen werden. Gerade diese Forderung nach der Einbindung des Tango in den Fachschulen des Bundes fand jedoch keine Berücksichtigung. Die deutsche Tanzlehrerschaft konnte sich in keiner Weise auf eine Tangochoreographie einigen. Ähnlich wie in­ Paris beklagte man die Verbreitung einer unkontrollierten Fülle an Choreographien, die nicht von professionellen Autoren verfasst worden waren. Im Gegenteil zu Paris verpasste man jedoch in der Konsequenz die Notwendigkeit der Einigung auf eine allgemeingültige Choreographie und gab die Entscheidung damit aus den Händen. Nur wenige deutsche Tanzlehrer nahmen den Tango zu diesem Zeitpunkt in ihr Programm auf und unterrichteten diesen nach französischen Vorgaben. Vor dem Ersten Weltkrieg nationalisierte sich der Ton dieser negativen Erfahrungen in zunehmendem Maße. So formulierte wiederum August Schwindowsky im April 1914: »In solchen Fällen sollte ein Wort unserer maßgebenden Verbände genügen und einem so exotischen Produkt wäre ein für alle Mal der Boden unter den Füßen fortgezogen. Ich verstehe immer und immer wieder nicht, daß Deutschland, das an der Spitze marschiert, oder gehen will, sich eine solche Sache einfach aufbürden läßt, weil es ›draußen‹ gefallen hat.«111 Vehement prangerte Schwindowsky in diesem Beitrag das Versagen der Tanzlehrer an und warf ihnen vor, nicht rechtzeitig ge­ handelt zu haben. Es wäre ein Leichtes gewesen, so der Tanzlehrer, zuverlässigen Kollegen die Aufgabe zu übertragen, den Tango und auch die anderen neuen Tänze zu unterrichten. Nur durch die eigene Zurückhaltung sei man Opfer unlauterer Konkurrenz geworden. Insgesamt verhielt man sich in Berlin also äußerst defensiv. Die deutsche Tanzlehrerschaft argumentierte sehr viel konservativer als in Paris zugunsten eines eigenen nationalen bzw. eines tradierten europäischen Repertoires und versuchte sich dabei von einem zu starken französischen Einfluss abzugrenzen. Die neuen Tänze wurden hier sehr viel öfter als Bedrohung wahrgenommen. Die deutsche Tanzlehrerschaft scheiterte vor dem Ersten Weltkrieg daran, eine eigene Linie zu finden, das ökonomische Potenzial der neuen Tänze zu nutzen und sich damit auch international zu positionieren.

111 August Schwindowsky, Auf dem Wege zur Sezession, ADTZ , Nr. 4 (1914), S. 23.

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Tango in Berlin

3.

Metropolenkultur in Berlin in der Kontroverse

Die Reaktionen der deutschen Tanzlehrerschaft zeigten deutlich, dass die Ablehnung des Tango oder seine mögliche Integration in ein deutsches Repertoire eine Angelegenheit war, die in ihrer Reichweite und Bedeutung über den begrenzten Raum des Gesellschaftstanzes hinausreichte. Divergierende Positionen gegenüber dem Tango spiegelten sich auch innerhalb der Zeitschriftenlandschaft Berlins und verwiesen damit auf den Stellenwert, den der Tango nicht nur als neuer Modetanz, sondern darüber hinausgehend als Symbol einer Metropolenkultur eingenommen hatte, die mit neuen Erfahrungen einherging. Die folgenden Ausführungen zielen daher vor dem Hintergrund des Wandels der populären Kultur der Metropole am Beispiel des Tango auf zwei aufeinander aufbauende Schwerpunkte. Erstens werden auch für Berlin die Auseinandersetzungen zwischen Tangobefürwortern und Tangogegnern nachgezeichnet werden. In Berlin, so viel sei vorweggenommen, agierten die Gegner sehr viel vehementer gegen den Tango und damit insgesamt gegen die Einflüsse von außen auf eine als national definierte populäre Kultur und forderten diesbezüglich ein staatliches Eingreifen. Die Befürworter hingegen versuchten auch in Berlin den Tango als Teil  einer internationalen Metropolenkultur zu inter­pretieren und erkannten die Notwendigkeit in einer internationalen Konkurrenz mit anderen Städten mithalten zu können. Entlang dieser Diskussionen in Zeitungen und Zeitschriften wird zweitens deutlich werden, dass es in Berlin nicht nur Unterschiede im Prozess der Aneignung und Auseinandersetzung gegenüber Paris gab, sondern vor allem Austauschprozesse, die die Geschichte des Tango in Berlin nur in Zusammenhang mit dessen Geschichte in Paris erklären. Der Vergleich der beiden Transfers wird damit zum einen signifikante Ähnlichkeiten der Metropolenkultur in beiden Städten aufzeigen und zum anderen auf Unterschiede hinweisen, die sich aus den jeweils nationalen Kontexten erklären. Metropolenkultur, so die leitende Annahme, kann durch einen solchen vergleichenden Gesamtblick differenzierter beschrieben werden als durch isolierende Einzeldarstellungen und erklärt sich erst durch die Einbeziehung transnationaler Austauschprozesse zwischen den Städten.

Metropolenkultur in Berlin in der Kontroverse

3.1 Tangogegner: Kritische Stimmen zum französischen Tango und zu den amerikanischen Ragtimetänzen »Den Bemühungen der Forscher ist es bisher noch nicht gelungen, den wahren Ursprung des Tango zu ermitteln; die einen leiten ihn von altspanischen Tänzen ab, andere sagen, er käme von den Cowboys Argentiniens her; jedenfalls ist er aber, das steht fest, über Paris in die verschiedenen Länder Europas ›importiert‹ worden.«112 Die Suche nach der »wahren Herkunft« des Tango beschäftigte die Berliner Presse. Während man den Entstehungs­kontext des Tanzes in Buenos Aires nicht ganz einzuordnen wusste, schien der Weg über Paris nach Berlin jedoch belegt zu sein, so ließ es dieser Artikel in der Cabaret-­ Tanz-Revue vermuten. Die deutschen Tanzlehrer hatten überaus skeptisch auf die neuen Tänze reagiert, sich nur in Einzelfällen für die Übernahme der französischen Vorgaben entschlossen und den Tango dann in ihren Tanzschulen nach den Beschlüssen der Académie Giraudets in Paris unterrichtet. Die konservative Presse in Berlin war jedoch keinesfalls bereit, diesen Entwicklungen Rechnung zu tragen. Die ablehnenden Stimmen gegen den Tango argumentierten auf mehreren Ebenen. Sie kritisierten dessen Herkunft – und das hieß in diesem Fall auch den französischen Import des Tanzes – und sie grenzten sich deutlich gegen den sozialen Entstehungskontext des Tango ab. »Schon das Gebiet, aus dem er gekommen, die Menschenklasse, die ihn bevorzugt und tanzt, klären denjenigen, der diesen Tanz noch nicht kennen sollte, über den Wert, das Wesen des Tanzes selbst, auf. Das, was dort aus der wilden Steppe, wo die Begriffe Moral und Aesthetik, Anstand und Sittlichkeit unbekannte Dinge sind, geübt wird, ist auf die Parkettböden unserer großstädtischen Ballsäle gezerrt worden, um hier mit überraschendem Erfolge die alten, eingebürgerten Tänze wie den Walzer, die Reigentänze diverser Art zu verdrängen.«113 Aus diesen Formulierungen der Zeitschrift Bühne und Welt sprach eine deutliche Hierarchisierung bürgerlicher Kultur Europas gegenüber der »wilden Steppe« in die man den Tango sinnbildlich verlagerte. Auch in der französischen Presse war in diesen Punkten Kritik gegen den Tango laut geworden, die Argumentationen sollen hier im Folgenden jedoch in ihrer spezifischen Ausprägung in Berlin untersucht werden. Folgt man den Einordnungen des Tango in der Berliner Presse, so erschien dieser in erster 112 M. C. F., Neues aus aller Welt, Der Tanz. Spezialbeigabe zur Cabaret-Tanz-Revue, Nr. 70 (1913), S. 17. 113 E. R. Braschinger, Tangorausch, Bühne und Welt, Nr. 12 (1914), S. 566.

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Linie als ein französischer Import und zweitens als einer der neuen »Wackeltänze« aus den USA . Während also in Paris die Weltausstellungen, die Anwesenheit der Argentinier in der Metropole und die koloniale Erfahrung den Bezugsrahmen der Tangorezeption boten, stand in Berlin viel mehr der Einfluss innereuropäischer und US -amerikanischer Erfahrungen im Vordergrund. Die konservative Kritik richtete sich daher weniger gegen den Tango als Import aus vermeintlich exotischer Ferne, als vielmehr gegen den scheinbar übermächtigen verderblichen Einfluss der kulturellen Vormachtstellung von Paris. Bei den deutschen Tanzlehrern konnte man diesbezüglich zwar eine Unzufriedenheit, gleichwohl jedoch auch weiterhin eine Orientierung an den französischen Vorgaben nachvollziehen. Die kritischen Stimmen gegen den Tango in der deutschen Presse zeigten hingegen eine konsequente Ablehnung von Paris als Kulturhauptstadt und dessen Funktion als Eingangsplattform für fremde Phänomene, mit denen man sich in der Folge dann auch in Berlin auseinandersetzen musste. Bei einer genauen Betrachtung des Vokabulars, mit dem über diese französische Herkunft des Tango gesprochen wurde, fällt eine solche Haltung deutlich ins Auge. »Denn schon auf den letzten Berliner Bällen zeigten sich vereinzelte Vorboten der Tanzepidemie, die von Frankreich und Amerika herüber droht (…)«114, schrieb man in einer der ersten Nachrichten über den Tango 1912. Mit dem »Tangofieber«, welches in der Folge von den Medien lanciert wurde, radikalisierte sich auch das Vokabular. Von Überschwemmungen, Seuchen und Epidemien war nun die Rede. Die Formulierung, »(…) daß eigentlich doch erst das was rechtes sei, was an der Seine seinen Passierschein bekommt«115, verdeutlichte in diesem Sinne, dass man die populäre Kultur der Großstadt durch Paris dominiert sah. Die Kritiker des Tango grenzten sich von der führenden Position von Paris ab, indem sie diese entweder leugneten oder als schlechten Einfluss verurteilten. Dies bewies jedoch die implizite Anerkennung von Paris, die sich gerade über eine solche gleichzeitige Orien­tierung und Abgrenzung reproduzierte. Neben Paris wurde ein zweiter Bezugspunkt für die Ablehnung des Tango in Berlin immer wieder zentral thematisiert. Die deutschen Tanzlehrer hatten im Gegensatz zu ihren französischen Kollegen die neuen Tänze unter der Kategorie »Schiebe- und Wackeltänze« zusammengefasst und dabei zunächst nicht zwischen US -amerikanischen Ragtimerhythmen und dem ar114 Franz Wolf, Groteske Gesellschaftstänze. Pas de l’ours und turkey trot, Elegante Welt, Nr. 12 (1912), S. 4. 115 Ja, wenn’s aus Paris ist!, Der Kunstwart, Nr. 24 (1912), S. 404.

Metropolenkultur in Berlin in der Kontroverse

gentinischen Tango unterschieden. Erst als die Popularität des Tango beständig wuchs, hatten auch die deutschen Tanzlehrer reagiert und über die Spezifika des Tanzes diskutiert. Eine solche Gleichsetzung erklärte sich aus dem fehlenden Kontakt zwischen Buenos Aires und Berlin. Die Vorstellung von Buenos Aires war in Berlin vage und auch die Anwesenheit von Argen­ tiniern zeigte sich in Berlin in keiner Weise im Stadtbild so präsent wie in Paris. Dadurch unterschied sich die Wahrnehmung von Argentinien in Berlin grundsätzlich, sie war vor allem durch die Abwesenheit von Assoziatio­ nen und Bildwelten geprägt. Es lag also nahe, den argentinischen Tango zunächst unter die neuen Tänze im Allgemeinen zu subsumieren, ähnelten doch auch die Vorbehalte stark den nordamerikanischen Äquivalenten. Für die globale Zirkulation populärer Kultur nahmen die USA zu diesem Zeitpunkt bereits eine zentrale Rolle ein, der US -amerikanische Markt war für europäische Produktionen zu einem wichtigen Abnehmer geworden, gleichzeitig gastierten immer mehr US -amerikanische Programme auch in europäischen Städten.116 In diesem Sinne nahm man auch die Bedeutung der USA für die Diffusion des Tango wahr. »Es ist wohl das: der jüngste Tanzimport hat nicht umsonst den weiten Weg von den farbigen Rassen her durch die Kaschemmen der lateinischen Amerika, über Bowery und China­town gemacht, ehe er schließlich am Broadway sich mäßigen lernte und für die temperierten Zonen der alten Welt vorbereitete.«117 Die Kritik an der populären Kultur der USA war in Berlin um einiges konkreter als die vage Vorstellung des Herkunftskontextes Buenos Aires. Obwohl antiamerikanische Haltungen in Deutschland erst in den 1920er Jahren zur Blüte kommen sollten, so zeigten sich hier vor dem Ersten Weltkrieg bereits deutlich ablehnende Deutungsschemata gegenüber US -amerikanischer Kultur, die aus der Annahme der »Kulturlosigkeit« der USA im Vergleich zu euro­päischen Traditionen resultierten.118 In der Abwehrhaltung gegenüber amerikanischer Kultur verband sich daher die Sorge um den verderblichen Einfluss populärer Formen auf der einen Seite mit einer generellen kritischen Distanzierung gegenüber vermeintlich fremder Kultur, die in einer solchen Lesart seinen Weg von den USA über Paris nach Berlin fand. Diese Abgrenzung entsprach insgesamt der kritischen Distanz des deutschen Bürgertums gegenüber den USA um 116 Siehe Rydell u. Kroes. 117 Doris Wittner, Tango…, Der Tanz. Spezialbeigabe zur Cabaret-Tanz-Revue, Nr.  66 (1913), S. 26. 118 Die meisten Arbeiten zum Phänomen der Amerikanisierung und der Amerika­k ritik setzen erst in den 1920er Jahren an. Vgl. für die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg Klautke.

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die Jahrhundertwende.119 Ein solches bürgerliches Amerikabild entsprach jedoch nicht unbedingt einer gesamtgesellschaftlichen Wahrnehmung. Gerade der Erfolg der populären Kultur spielte bei der breiten Bevölkerung eine wichtige Rolle für eine positive Wahrnehmung der USA .120 Auch in Frankreich erhielt die Furcht vor einer Amerikanisierung der französischen Kultur erst nach dem Ersten Weltkrieg Auftrieb. Die politische, wirtschaftliche und kulturelle Präsenz der USA in Europa machte in den 1920er Jahren eine Auseinandersetzung notwendig. Auf kultureller Ebene war neben dem Kino dabei vor allem die Anwesenheit afroamerikanischer Künstler und Künstlerinnen in Paris von Bedeutung, die dort die Wahrnehmung der USA prägten.121 In diesem Sinne nahmen die Auseinandersetzungen, die am Beispiel des Tango gezeigt werden können, die Debatten um eine kulturelle Amerikanisierung in Deutschland und auch in Frankreich in den 1920er Jahren voraus. Die Abwehrhaltung gegenüber einer amerikanischen Massenkultur, die als kulturlos empfunden wurde und gegen die man meinte eine euro­ päische Kultur abgrenzen zu müssen, deuteten sich hier bereits an. Die tatsächliche Herkunft des Tango aus Argentinien spielte in Berlin nur eine zweitrangige Rolle. Die Tangogegner verurteilten eine französische Dominanz sowie den spürbar steigenden Einfluss US -amerikanischer populärer Kultur. Die Herausforderung durch das Fremde wurde durch die Tangogegner zu einer Bedrohung inszeniert. Dabei zeigte sich gerade für Berlin, dass die globalen Dimensionen der populären Kultur auch innereuropäische Machtverhältnisse spiegelten. Den Tangogegnern ging es weniger um die Kritik an der Welt in der Stadt als um die Vormachtstellung der französischen Metropole.

3.2 Deutsche »Schmutz- und Schunddebatten« Die Kritik am Tango vollzog sich im Kontext der Skepsis gegenüber einem Import aus Paris und der Abwehrhaltung gegenüber einer entstehenden Massenkultur aus den USA . Auch in Berlin standen die Diskussionen um den 119 Schmidt-Gernig, Zukunftsmodell Amerika? Das europäische Bürgertum und die amerikanische Herausforderung um 1900, Geschichte und Gesellschaft. Sonderheft: Das Neue Jahrhundert. Europäische Zeitdiagnosen und Zukunftsentwürfe um 1900, Nr. 18 (2000), S. 79–112. 120 Raithel, S. 86. 121 Klautke, S. 239 ff.

Metropolenkultur in Berlin in der Kontroverse

Tango jedoch an einer Schnittstelle. Sie bewegten sich hier, wie auch in Paris, in einem Spannungsfeld der Auseinandersetzungen mit Metropolenkultur in einem globalen Kontext sowie den generellen Transformationen populärer Kultur in der Großstadt. Im Folgenden soll der Blick auf die sozialen Differenzierungen der populären Kultur in Berlin gerichtet und gezeigt werden, wie in Berlin, im Vergleich zu Paris, der soziale Stellenwert des Tanzes verhandelt wurde. Hierfür sollen die Debatten um den Tango zunächst in die »Schmutzund Schunddebatten« des Deutschen Kaiserreichs eingeordnet werden. Unter dem Schlagwort des »Schundkampfes« sammelten sich seit etwa 1907 gesellschaftliche Kräfte, die gegen die als moralisch verwerflich und qualitativ minderwertig empfundenen Phänomene der populären Kultur vorzugehen suchten.122 Das Begriffspaar »Schmutz und Schund« vereinte dabei so gut wie alle Phänomene der populären Kultur, vom Kolportageroman bis zum Kino, von der »Vergnügungssucht« bis zur jugendgefährdenden Pornographie, deren Ursprung und Ausbreitung vor allem in den degenerierenden Kräften der Großstadt gesucht wurden. Die Träger der Kritik bzw. die Akteure des »Schundkampfes« rekrutierten sich aus dem deutschen Bildungsbürgertum und hier vor allem aus den Reihen der Reformbewegungen und der Erziehungsberufe, die in einer kulturkritischen Grundhaltung ihre theoretische Basis fanden.123 Zur praktischen Aufgabe wurden in diesem Kontext Maßnahmen zur Regulierung bzw. Verbote und damit die disziplinierende Kontrolle der Bevölkerung. Die kulturkritischen Diskurse der Jahrhundertwende bedienten sich in Frankreich und Deutschland ähnlicher Argumentationen und fanden in der Auseinandersetzung mit der populären Kultur in den Großstädten vergleichbare Kontexte. Gleichwohl formierte sich im Deutschen Kaiserreich eine spezifische Ausprägung der Abwehrhaltung gegen die populäre Kultur, die sich vor allem in der starken Institutionalisierung ihrer Trägerschaft manifestierte.124 Der Verein »Dürerbund« unter Ferdinand Avenarius und mit ihm die Zeitschrift Der Kunstwart, nahmen in Deutschland eine führende Rolle im Kampf gegen »Schmutz und Schund« ein.125 Beide hatten sich zur Auf122 Vgl. grundlegend zu den deutschen Schmutz- und Schunddebatten die Arbeiten von Kaspar Maase. Insbesondere: Maase u. Kaschuba sowie Maase, Die Kinder der Massenkultur. 123 Maase, Krisenbewußtsein und Reformorientierung, S. 294. 124 Middendorf, S. 87 ff. Maase, Grenzenloses Vergnügen, S. 164 ff. Zu den europäischen Dimensionen der Kulturkritik siehe auch Mayer, S. 271 ff. 125 Maase, Krisenbewusstsein und Reformorientierung, S. 308.

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gabe gesetzt, im Rahmen der Lebensreformbewegung auf die kulturelle und­ ästhetische Erziehung vor allem der Jugend einzuwirken und beschäftigten sich in dieser Absicht vor allem mit der jugendgefährdenden »Schund­ literatur«. Seit 1912 widmete man sich jedoch auch vermehrt der sogenannten »Schund- oder Ramschmusik«. Im Kern ging es dabei um die grundsätzliche Frage danach, inwiefern die Popularisierung und Kommerzialisierung von Musik, die durch Notenvertrieb, Instrumentenbau und die Entstehung eines internationalen Musikmarktes stark angestiegen war, deren Wert minderte. Die Entstehung des Genres der sogenannten leichten Musik im 19. Jahrhundert, zu der auch die Tanzmusik zählte und die in erster Linie unterhaltsam und verständlich sein sollte, rief auch hier diejenigen Stimmen auf den Plan, die mit solchen Demokratisierungstendenzen einen Verlust der kulturellen Qualität und des bürgerlichen Deutungsmonopols fürchteten.126 Die Suche nach neuen Definitionen und Ordnungen dieser populären Formen, wie der leichten Tanzmusik oder auch dem Berliner Gassenhauer, zielte darauf, »die skrupellose Verbreitung schlechter oder minderwertiger Musik« zu verhindern.127 Die im Kunstwart formulierte Sorge galt dabei immer denjenigen, die – so die Annahme – solche Unterscheidungen nicht selbst zu treffen vermochten. Zu Beginn des Jahres 1913 schaltete sich der Kunstwart auch in die Diskussionen um den Gesellschaftstanz ein. Unter dem Titel »Tanz und Gegenwartskultur« stellte man fest: »Wenn der Tanz, der gesellige Tanz, ein zuverlässiger Kulturmesser ist – und er ist es sicher in etwas ergiebigerem Sinne als der vielberufene Seifenverbrauch – so sagt auch er: es steht nicht sonderlich gut um unsere Kulturherrlichkeit. Er sagt es zunächst freilich nur von dem faulen Zauber der Großstadtkultur, im besonderen der Berliner Luxuszivilisation. Allein hieraus erwächst uns kein starker Trost, da das Berliner Beispiel ja in allen Fragen des äußeren (und womöglich gar des inneren) Lebens vom ganzen Reich mit immer noch wachsender Beflissenheit nachgeahmt wird.«128 In diesen Äußerungen steckte zum einen die allgemeine Sorge um die Qualität des Gesellschaftstanzes, wie sie auch schon von den Tanzlehrern geäußert worden war. Zum anderen standen jedoch die Stadt Berlin und die großstädtische Vergnügungskultur im Mittelpunkt der Kritik, deren »ausschweifendes Leben« solche Auswüchse überhaupt erst ermöglichte und damit negativ auf das ganze Deutsche Reich 126 Giesbrecht-Schutte, S. 116/117; zur »Schundmusik« vgl. auch Widmaier, S. 199 ff. 127 Richard Batta, Schundmusik, Der Kunstwart, Nr. 17 (1912), S. 315/316. 128 Willhelm Rath, Tanz und Gegenwartskultur, Der Kunstwart, Nr. 9 (1913), S. 154–157.

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ausstrahlte. Der Tanz schien prädestiniert dafür zu sein, einer solchen »Genuss­sucht« und einer »Großstadtverkommenheit« Ausdruck zu verleihen und stand daher genauso, wenn nicht sogar schärfer, in der Kritik als die Bühnenvorführungen der Varietés. Den bürgerlichen Vertretern schien die ordnungspolitische Disziplinierung dieser Orte daher dringend notwendig.

3.3 Soziale Ordnungs- und Disziplinierungsversuche Die despektierliche Sammelbezeichnung »Schiebe- und Wackeltänze« umfasste die Tänze der Berliner Unterschichten und die US -amerikanischen Ragtimetänzen gleichermaßen. Diese Tänze vereinte weniger ihre Choreo­ graphie oder die begleitende Tanzmusik, als vielmehr die Herausforderung moralischer und ästhetischer Normen und bestehender sozialer Ordnungen. In der Kategorie der moralisch verwerflichen und durch ihre soziale Verortung als minderwertig eingeschätzten Tänze unterschied den Tango daher zunächst nicht viel von der Kritik am Rixdorfer Schieber oder am US -­amerikanischen Grizzly Bear. Das polizeiliche Verbot »gegen die Schiebeund Wackeltänze sowie sonstige anstößige Tänze«, dass am 31.  Mai 1913 durch den Berliner Polizeipräsidenten Traugott von Jagow erlassen wurde und das sich in der Folgezeit vor allem gegen den Tango richten sollte, hatte daher bereits eine längere Vorgeschichte, in der »unsittliche Tanzformen« mehrfach unter dem Vorwurf der »Erregung öffentlichen Ärgernisses« oder des »groben Unfugs« verurteilt worden waren.129 Noch kurz zuvor hatte der Berliner Lokal-Anzeiger getitelt: Ein Berliner in München wegen Schiebetanzes verurteilt.« Der Artikel berichtete über die Verurteilung eines Korrespondenten des Berliner Tageblattes, der beim Münchener Presse­ball »den Schiebetanz in anstößiger Form getanzt« habe, obwohl er mehrmalig »auf das Unstatthafte dieses Tanzes auf einem Ball der besten Gesellschaft aufmerksam gemacht worden war.«130 Durch die Anordnungen der Berliner Polizei verschärfte sich das Vorgehen, denn man verpflichtete nun die Tanzlokale dazu, Schilder aufzuhängen, die das »Wackeln und Schieben« verboten und lastete etwaige Verstöße der Verantwortung der Inhaber an. Das behörd129 Zur Reglementierung der Unterhaltung und zur Gesetzeslage in Berlin siehe auch Hoelger. 130 Ein Berliner in München wegen Schiebetanz verurteilt, Berliner Lokal-Anzeiger, 2.4.1913.

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liche Einschreiten gegen diese Tanzformen wurde zu einem kontinuierlichen Thema in der Presse. Nicht nur gegen das Tango tanzen, sondern auch gegen den Verkauf von Notationen und vermeintlich unsittlichen Tangopostkarten ging man vor und machte den Tanz damit nach und nach zum Sinnbild aller unliebsamen Tanzformen.131 Die steigende Popularität des Tango stand dabei mit der medialen und behördlichen Aufmerk­samkeit durchaus in enger Wechselwirkung. Ihren öffentlichkeitswirksamsten Ausdruck fanden die Maßnahmen schließlich mit der Nachricht, der K ­ aiser hätte seinen Soldaten das Tanzen in Uniform verboten. »Die Herren von der Armee und der Marine werden hierdurch ersucht, in Uniform weder Tango noch One- oder Twostep zu tanzen und Familien zu meiden, in denen diese Tänze ausgeführt werden«, berichtete die Tagespresse im November 1913 von diesem Beschluss.132 Unabhängig davon, ob eine solche Anordnung durch Wilhelm II. je wirklich erlassen worden war bzw. welche Auswirkungen eine solche Handlung gehabt hätte, unterstrich diese Meldung in der Presse viel mehr die übertriebene Aufladung des Themas. Die Reaktionen auf diese Nachricht waren dementsprechend fast durchweg ironisch, an keiner Stelle fand sich eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dieser Neuigkeit. Selbst die französischen Medien griffen die Nachricht auf und berichteten amüsiert darüber.133 Im Gesamtblick auf die Unterhaltungskultur von Berlin ordneten sich die Tanzverbote in ein allgemeines staatliches System von Reglementierungen durch Zensur und Verbote ein, das fast alle Genres der populären Kultur gleichermaßen betraf.134 Solche Ordnungs- und Disziplinierungsversuche gegenüber den neuen Tänzen wurden in Berlin sehr viel rigider durchgeführt als in Paris. Trotz teilweise heftiger Kritik, fand in der französischen Metropole zu keinem Zeitpunkt ein zielgerichtetes staatliches Eingreifen gegenüber dem Tango statt. Die Abneigung gegenüber den Berliner Schiebetänzen sowie die soziale Verortung des Tango am Stadtrand von Buenos Aires standen bei den Debatten in Berlin in einer engen Beziehung zueinander. Der Tango, so konnte 131 Gerichtliches, Das Organ der Variétéwelt, Nr. 282 (1914). 132 Der Kaiser gegen den Tango. Ein Erlaß an die Offiziere, Berliner Tageblatt, 17.11.1913. Siehe auch: Tango für Offiziere verboten!, Der Tanz. Spezialbeigabe zur Cabaret-­ Revue, Nr. 70 (1913), S. 12. 133 Le tango et la police. Comment les agents allemands apprennent à reconnaître les danses prohibées, Le Petit Journal, supplément illustré, 21.12.1913. 134 Jansen, Das Varieté, S. 63 ff. Diesbezüglich zum Theater siehe auch Becker, Inszenierte Moderne, S. 28 ff.

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Abb. 3: Le tango et la police, in: Le Petit Journal, supplément illustré, 21.12.1913. Bibliothèque nationale de France

man in einem der Berichte lesen, die die Angemessenheit von Verboten unterstrichen, »steht auf derselben Stufe, wie der sogenannte Apachentanz und ist nach Sachverständigenurteil mehr ein sinnliches Reizmittel als ein Tanz.«135 Der Rückgriff auf den französischen Apachentanz überraschte hier kaum. In Paris hatte der Apachentanz als »wilder« und »unzivilisierter« Tanz aus den Vorstädten bereits einige mediale Aufmerksamkeit erfahren und galt als Sinnbild einer populären Kultur der proletarischen Bevölkerung, die in bürgerlichen Kreisen für Unbehagen sorgte. Zwischen der Wahrneh135 Die Münchener Polizei und der Tango, Der Tanz. Spezialbeigabe zur Cabaret-TanzRevue, Nr. 74 (1914), S. 11.

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mung des Apachentanzes in Paris und dem Tango in Buenos Aires gab es daher Analogien, die auf gemeinsame Ausgrenzungsmechanismen gegenüber den städtischen Unterschichten hinwiesen. Gleichwohl kam es in Paris nicht zu einer Gleichsetzung des Tango und des Apachentanzes. Zu sehr hatte sich der argentinische Tanz hier von Anfang an als Modetanz der oberen Schichten etabliert, seine fremde Herkunft und seine sozialen Konnotationen konnten als ungefährliche Exotik konsumiert werden. Der Kulturtransfer des Tango war in Paris in gleichem Maß auch ein sozialer Transfer, der den Tango auf dem Weg über den Atlantik aufgewertet hatte. Dies war bei der Rezeption in Berlin jedoch nicht der Fall. Zum einen zeigte bereits die Subsumierung des Tango unter die Sammelbezeichnung »Schiebe- und Wackeltänze«, dass hier fremde und eigene unliebsame Tänze zusammengefasst werden konnten, indem man auf moralische Imperative und ästhetische Ansprüche zurückgriff. Zum anderen zeigt der zeitgenössische Vergleich des Tango mit dem ­Apachentanz in Berlin, dass hier Zuschreibungen aus Paris übernommen wurden, um sich gegenüber dem sozialen Entstehungskontext des Tango zu distanzieren.136 Unter der Überschrift »Die wahre Heimat des Tango (Aus dem dunkelsten Buenos Aires)« äußerte sich diesbezüglich auch die Cabaret-­Revue im Sommer 1913. Auch wenn man mit dem Tango vielleicht die Lebensweise der argentinischen Gauchos und deren »National­ tanz« am Lagerfeuer assoziieren würde, läge man damit doch gründlich falsch, denn, so die Zeitschrift, der Tango gehöre in die Vorstädte von Buenos Aires: »Diesem fürchterlichen Verbrecherviertel der argentinischen Hauptstadt, von dessen Grauenhaftigkeit sich nur der eine Vorstellung machen kann, der das Zuhälter- und Dirnentum dieser südlichen Metropole kennt. Das Londoner Whitechapel, gewisse nordöstliche Straßenviertel Berlins sind Orte reinster Sittsamkeit, Sauberkeit und Wohlhäbigkeit gegen das ›barrio de las c­ oños‹. […] Hier haust die schlimmste, elendste Prostitution, der Auswurf aller Großstädte Europas, die sich vor der heiligen Hermandad in diesen undurchdringlichen Sumpf geflüchtet hat.«137 Und wenig später, nach weiteren eingehenden Schilderungen der Lebensbedingungen und der Prostitution 136 Eichstedt u. Polster haben die Schiebetänze, zu denen der Tango genauso gehörte wie einige Ragtimetänze und der »Berliner Schieber« als »proletarische Internationale des Tanzes« bezeichnet, um den Entstehungskontext im proletarischen Milieu sowie den vorwärtsgerichteten Bewegungsstil bei geringer Körperdistanz als Gemeinsamkeit dieser Tanzformen zu kennzeichnen. S. 51; siehe auch Polster, S. 36. 137 Die wahre Heimat des »Tango«, Der Tanz. Spezialbeigabe zur Cabaret-Revue, Nr. 59 (1913), S. 12.

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ergänzte man noch: »Meist sind es verkommene italienische Im­migranten, die sich hier ausleben.« Um den Tango zu diskreditieren, verließ man sich hier auf die Beschreibung erschreckend wirkender sozialer Verhältnisse in ­Buenos Aires. Die signifikante Nennung der »zerlumpten Italiener« verwies jedoch noch auf einen weiteren Punkt: Entgegen der Annahme, es handele sich bei den Schöpfern des Tango um Argentinier, fokussierte man hier die kulturellen Formen europäischer Auswanderer in Buenos Aires. Damit wurde der Tango zu einem kulturell minderwertigen Ausdruck der Unterschichten Europas. Hier ging es somit viel weniger um die fremde Herkunft des Tango aus Argentinien, ein Land von dem man in Berlin relativ wenige Vorstellungen hatte, sondern sehr viel mehr um dessen soziale Herkunft – und damit um ein Phänomen, das man auch in Europa sehr gut kannte – die Armut in den Städten sowie die entstehenden Sphären einer populären Kultur, die die bisher gültigen Grenzziehungen überschritten hatte. Vor einer solchen Argumentation erschien die Gleichsetzung des argentinischen Tango mit den Berliner Schiebetänzen konsequent. Der Versuch der Abgrenzung gegen das Fremde verband sich damit auch in Berlin mit den Diskus­ sionen um die eigenen Unterschichten. Das Beispiel des Tango zeigt aus dieser Perspektive deutlich, wie eng die Beschreibungen populärer Kultur als »qualitativ minderwertig« oder »mora­lisch verwerflich« mit einer inszenierten Bedrohung »von außen« verzahnt waren. Nationale und soziale Diskurse überlagerten sich hier in der Deutung, denn die Kritik an den eigenen Unterschichten bzw. an dem moralischen Verfall in der Großstadt verband sich mit der Sorge um den »Volkskörper«.138 Die neuen Tanzformen schienen sich dabei besonders augenscheinlich auf den Körper auszuwirken. In den Debatten um »Schmutz und Schund« bzw. in den behördlichen Maßnahmen äußerte sich das Unbehagen gegenüber einer Metropolenkultur, in der alte Ordnungsmuster nicht mehr gültig waren. Als Gegenstand der Kritik ordnete sich der Tango zum einen in die allgemeinen Auseinandersetzungen um eine populäre Kultur der Großstadt ein, die um 1900 auch das Kino, die Presse oder die leichte­ Musik betrafen. Zum anderen verweist jedoch die Vehemenz, mit der die Debatten um den neuen Modetanz geführt wurden, auf den Stellenwert, den der Tango als kultureller Transfer vor dem Ersten Weltkrieg in Berlin ein­genommen hatte. Die Prozesse einer zunehmenden globalen Verknüpfung der populären Kultur der Metropolen um die Jahrhundertwende, so 138 Maase, Krisenbewusstsein und Reformorientierung, S. 308.

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wird hieran deutlich, verliefen nicht unmerklich und harmonisch, und sie ordneten sich nicht spurlos in bestehende kulturelle Formationen ein, sondern sie waren genuiner Bestandteil gesellschaftlicher Transformationen der Jahrhundertwende. Eine nationalstaatliche Perspektive der Interpretation greift hier zu kurz. Die Auseinandersetzungen um den Tango waren jedoch auch in Berlin geprägt von einem Nebeneinander unterschiedlichster Stimmen und Koalitionen auf der Suche nach neuen Deutungen und Ordnungsmustern. Die Akteure, die auf die Rezeption des Tango einwirkten, taten dies mit unterschiedlichen Absichten und Argumentationen. Ihr gemeinsamer Bezugspunkt blieb die Großstadt, die zu einem verdichteten Raum der Aushandlungen populärer Kultur wurde. Im Folgenden sollen auch in Berlin die Argumente der Tangobefürworter auf die Frage nach der Auseinandersetzung mit dem Fremden innerhalb einer internationalen Metropolenkultur überprüft und dabei vor allem nach der Wahrnehmung von Paris befragt werden.

3.4 Tangobefürworter – Franz Wolfgang Koebner: »Das Tanz-Brevier« Die deutsche Tanzlehrerschaft hatte aus Angst ihren Status zu verlieren­ immer wieder vor Konkurrenz und unlauterem Wettbewerb gewarnt. Im Mittelpunkt der Kritik standen dabei die freien Tanzlehrer, die sich nicht an die Vorgaben der institutionalisierten Tanzlehrerschaft hielten und das Feld der populären Kultur in der Großstadt für ihre Belange zu nutzen wussten. Es war vor allem eine Person, die diesbezüglich von den Tanzlehrern besonders hart angegriffen wurde: Franz Wolfgang Koebner, Redakteur der Zeitschrift Elegante Welt und selbstständiger Tanzlehrer, der regelmäßig Artikel veröffentlichte, in denen er für die neuen Tänze Partei ergriff. Bei der Einführung und Verbreitung des Tango in Berlin war Koebner eine der wichtigsten Figuren, kaum ein Tanzturnier kam ohne seine Fachkenntnisse aus. 1913 veröffentlichte Koebner zusammen mit dem Zeichner und Tänzer R. L. Leonard das »Tanz-Brevier«, eines der ersten und erfolgreichsten Bücher, das sich den neuen Tänzen widmete und ausführliche Anleitungen zum Selbstlernen zur Verfügung stellte.139 Der Erfolg ließ nicht auf sich warten. 139 Das Tanz-Brevier. Herausgegeben von F. W. Koebner und R. L. Leonard, Berlin 1913.

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Bereits zwei Wochen nach dem Erscheinen verkauften sich fünfzehntausend Exemplare, das »Tanz-Brevier« wurde mehrfach neu aufgelegt und bis in die 1920er Jahre von Koebner aktualisiert und erweitert.140 Vom Bund Deut­ scher Tanzlehrer wurde Koebner scharf kritisiert. Seine Werke galten als unlautere Konkurrenz, sie seien bloßer »Abklatsch französischer Autoren« urteilte man gegen ihn.141 Der erste Teil des »Tanz-Brevier« war als Tanzgeschichte konzipiert, die die Entwicklung des Gesellschaftstanzes seit dem 18. Jahrhundert umfasste und die Ankunft der ersten Ragtimetänze aus Nordamerika als den Beginn einer vollkommen neuen Entwicklung beschrieb. Den weitaus größten Teil des »Tanz-Brevier« nahm der Tango ein. Leonard schrieb einen ausführlichen Artikel über dessen Herkunft, die Choreographie und die geeigneten Tanzlokalitäten. Der Tango auf der Bühne, in der Eisarena und ebenso das französische Phänomen des thé-tango erhielten eigene Artikel. Ein weiterer Beitrag widmete sich dem Tanz in der Karikatur und trug eine große Zahl der Zeichnungen zusammen, die in den letzten Monaten in der deutschen und auch in der französischen Presse zum Phänomen der neuen Tänze erschienen waren. Des Weiteren konnte man einen Tanz-Knigge, Moderatschläge und am Ende des Bandes ausführliche Werbeanzeigen rund um den Tanz finden – kurz, das »Tanz-Brevier« lieferte für jeden Aspekt des gesellschaftlichen Lebens einen passenden Modetanz. Koebner und Leonard machten es sich mit dem »Tanz-Brevier« zunächst zur Aufgabe, den Tango von den moralischen Vorwürfen freizusprechen. Den Bedenken gegenüber der Herkunft und der Choreographie des Tanzes entgegnete Koebner, man könne alle Tänze gut oder schlecht, moralisch oder unmoralisch tanzen. Die Frage nach der Qualität der Tänze verschob er damit auf die Fähigkeiten der Tanzenden, eine Argumentation, die entgegen der Auffassungen der konservativen Tanzlehrerschaft verlief, die versucht hatte, den neuen Tänzen jeglichen Wert abzusprechen. »Ein Tango kann ein entzückendes ruhiges Tanzbild geben und kann ein von wüster Gemeinheit strotzender Apachentanz werden«, so Koebner.142 Nicht die Tänze selbst, sondern die Art und Weise, wie man sie tanzte, standen hier zur Debatte. Die Formulierung von Koebner zeigte, wie dicht die Argumentationen in Berlin mit der Rezeption des Tango in Paris verflochten waren. Der Ver140 Vgl. Koebner, Das neue Tanz-Brevier, neue verbesserte Auflage, Berlin 1920. 141 Gemeinsame Sitzung der Vorstände der fünf deutschen Tanzlehrer-Vereine, ADTZ , Nr. 7 (1914), S. 43. 142 Koebner u. Leonard, Das Tanz-Brevier, S. 59.

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weis auf den französischen Apachentanz verdeutlichte auch hier, dass dieser in Berlin zu einem Synonym abzulehnender Tanzformen geworden war. Der Tango dagegen, so waren sich Koebner und Leonard sicher, konnte integriert werden. Der Tanz, unabhängig seiner Herkunft, konnte umgeformt und aufgewertet werden, so hatte auch schon Jean Richepin die französischen Debatten zusammengefasst. Und auch Koebner begegnete im »Tanz-Brevier« den Vorbehalten bezüglich der Herkunft des Tango mit Unverständnis und verwies ebenso darauf, dass man den Tanz in Europa völlig umerzogen habe, nur sein Gerüst sei dasselbe geblieben.143 Die moralischen Vorbehalte schienen somit nicht haltbar, schließlich hatte man hier einen französischen Tanz übernommen. »Aber das, was wir heute Tango nennen, ist ja tatsächlich ein europäischer Tanz. Er wird daher auch in Argentinien Tango parisien genannt.«144 Sehr deutlich grenzte das Tanzbrevier unter der Rubrik »exzen­ trische Tänze« die neuen Gesellschaftstänze von den Bühnentänzen ab.145 Damit sollte zum einen das Genre des Gesellschaftstanzes vor der Kritik an den Vorführungen auf den Bühnen der Varietés verteidigt werden. Zum anderen verlangte man von den Tanzenden damit die richtige Ausführung der neuen Tänze gemäß den Anleitungen des »Tanz-Brevier«, denn exzentrisch konnte schließlich auch »eine gewisse Manier« zu tanzen sein. Sehr viel schneller als die institutionalisierte Tanzlehrerschaft reagierten also die oftmals angefeindeten freiberuflichen Tanzlehrer, die die Tänze mit neuen Bedeutungen unterlegten und trotzdem nicht aus einer professionellen Kontrolle entließen. Das »Tanz-Brevier« wurde damit zu einer der wichtigsten Publikationen, die die neuen Tänze einführten und ihnen Qualität zusicherten. Die Notwendigkeit von Tanzunterricht blieb damit weiterhin erhalten. Für den Kulturtransfer des Tango in Berlin übernahm das »Tanz-Brevier« durch die Aufwertung des Tanzes eine wichtige Funktion. Gegenüber der wertkonservativen Abwehrhaltung eines Großteils der deutschen Tanz­lehrer­ schaft kann die Argumentation von Koebner und Leonard als geschickte Strategie interpretiert werden, den Tango als modern und gleichzeitig doch auch als diszipliniert und anspruchsvoll zu konstruieren. Das »Tanz-Brevier« resümierte gegenüber den Tangogegnern humoristisch: »Doch heute brauchen wir nichts mehr zu fürchten, der Tango ist da und er bleibt, trotz aller Tanzlehrer, trotz aller altmodischen Tanten, trotz Polizeiverordnungen und 143 Ebd., S. 34. 144 Ebd., S. 44. 145 Ebd., S. 59 ff.

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trotz der schlechten Tänzer.«146 Eine solche Konstruktion sollte aus dem Tango auch in Berlin ein moralisch integres und kulturell hochwertiges Phänomen machen. Das vermeintliche Original trat hinter diesen neuen Bedeutungszuschreibungen und den Interessen dieser Tanzlehrer zurück. Laut­ Koebner und Leonard war der Tango der erste der neuen Modetänze, der das Potenzial mitbrachte, in das Repertoire des Gesellschaftstanzes integriert zu werden. Koebner und Leonard gehörten zu einer neuen Gruppe städtischer Akteure, die einen solchen Interpretationsraum für sich zu nutzen wussten und damit neue Bedeutungszuschreibungen populärer Kultur schufen. Es war daher kein Zufall, dass sich die heftigen Anfeindungen der organisierten Tanzlehrerschaft gerade gegen die Figur Franz Wolfgang Koebners richteten, der nicht nur als erfolgreicher Tanzlehrer eine direkte Konkurrenz darstellte, sondern darüber hinaus auch in der öffentlichen Debatte um den Tango eine der prominentesten Stimmen war.

3.5 Tango und Großstadterfahrung Als leitender Redakteur der Zeitschrift Elegante Welt erschien Franz Wolfgang Koebner neben der erfolgreichen Veröffentlichung des »Tanz-Brevier« noch in einer weiteren Funktion kontinuierlich in der Berliner Öffentlichkeit. Die Elegante Welt wurde in den Auseinandersetzungen um den Tango zu einer der führenden Publikationen bei der Verteidigung des Tanzes unter dem Motto der Modernität und der Teilnahme am internationalen Leben der europäischen Metropolen. Die Zeitschrift, die 1912 erstmalig erschien, fokussierte wie kaum eine andere Berlin als Weltstadt. Die Vehemenz, mit der die Auseinandersetzungen um den Tango geführt wurden, zeigten sich in der Eleganten Welt eindrücklich. Im November 1913 reagierte ­R. L. Leonard hier auf einen Artikel, der am 6. Oktober im Berliner Tageblatt erschienen war. Unter der Überschrift »Tangomanie  – ein Pro und Kontra« war der Tango mit dem Veitstanz als einer Krankheit verglichen und seine Kulturund Geschichtslosigkeit beklagt worden.147 Daraufhin veröffentlichte Leonard eine Erwiderung unter dem Titel »Der verlästerte Tango«, in dem er­ sogar von einem Kampf zwischen den begeisterten Anhängern und den noch 146 Koebner u. Leonard, Das Tanz-Brevier, S. 36. 147 Alexander Moszkowskis, Tango-Manie, Ein Pro und Contra, Berliner Tageblatt, 6.10.1913.

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nicht überzeugten Gegnern sprach. Es ist anzunehmen, dass Leonard zu diesem Zeitpunkt Kenntnis von der Rede Jean Richepins vor der Französischen Akademie hatte, die bereits in mehreren Berliner Tageszeitungen veröffentlicht worden war. Zunächst hob auch Leonard in diesem Artikel den qualitativen Anspruch des Tango und der neuen populären Tanzmusik hervor. »Die wahren argentinischen Tangos sind glänzend komponiert, so gut wie Straußsche Walzer«148, provozierte er und behauptete damit ganz ähnlich wie Richepin die Gleichwertigkeit des Tango gegenüber einem euro­päischen Repertoire. Außerdem argumentierte Leonard, diese neuen Tänze würden ein städtisches Lebensgefühl widerspiegeln, sie seien Abbild und integraler Bestandteil einer modernen Großstadtkultur des 20. Jahrhunderts. Der Tanz von heute müsse sich den Linien, dem Stil und der Wesensart des Lebens anpassen, formulierte Leonard. »Unsere heutige Generation hat enorm viel Sport in sich; und das ist es hauptsächlich, was unsere Linie so völlig verändert hat; wir sind schlanker, biegsamer geworden, wir leben schneller in ­jeder Beziehung, wir sind beherrschter, skeptischer, ganz, ganz unromantisch, ich möchte fast sagen großstädtischer.« Hiermit trat ein wichtiger Aspekt in der Aneignung des Tango in Berlin zutage: Die Verhandlungen über den Tango bzw. die Verteidigung des Tanzes erfolgten mit dem Argument einer notwendigen Anpassung an die Lebensbedingungen der Großstadt und die Herausforderungen der neuen Metropole Berlin. Das Erlernen des Tango wurde in einer solchen Lesart gar zu einer notwendigen körperlichen Fähigkeit des Großstädters. Leonard, der die Rede Richepins von einem »französierten Tango« übernahm, förderte damit die Einschreibung des Tango in eine moderne Metropolenkultur. Eine Umformung des Tanzes zu einem Ausdruck großstädtischer Körperpraktiken, so betonte auch Leonard, war bereits in Paris geschehen. »Was wir heute unter Tango verstehen, ist allerdings über das Große Wasser gekommen; aber in Paris hat man den Tango für unsere europäischen Sitten, unsere mondänen Allüren, unser kosmopolitisches Wesen zugestutzt«. Unter dem Titel: »Von der Quadrille zum ›Turkey Trot‹« ergriff auch Koeb­ner in der Eleganten Welt in diesem Sinne das Wort.149 In der internationalen Lebewelt habe sich in den letzten Jahren eine eigene Art zu tanzen 148 R. L. Leonard, Der verlästerte Tango. Eine Erwiderung auf den sensationellen Artikel Alexander Moszkowskis im »Berliner Tageblatt«: Pro und contra Tango!, Elegante Welt, Nr. 45 (1913), S. 10/11. 149 Von der Quadrille zum »Turkey Trot«. Eine Tanzstudie von K. O. Ebner, Elegante Welt. Ball- und Tanz-Nummer, Nr. 8 (1912), S. 14–16.

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Abb. 4: Leonard, Tangomanie, in: Tango-Rausch. Künstler-Album mit 20 Meisterbildern, Lustige Blätter, Berlin 1913.

eingebürgert. Man habe sich vom Zwang alter Schemen befreit und tanze individueller, so die Ausführungen Koebners, mit denen er die grundlegende Veränderung der Tanzkunst an einen internationalen Kontext zurückband. Auch seiner Ansicht nach erforderten die veränderten Lebensbedingungen in der Großstadt eine neue Tanzkunst. »Ueberall muss sich der One Step gewissermaßen erst Bahn brechen, muß rückständige Gemüter zu der Ansicht bekehren, daß wir eben in einer anderen Zeit leben, als vor fünfzig Jahren, daß die heutige Jugend in anderem Milieu, in modernen Verhältnissen aufgewachsen ist und eben auch gesellige Vergnügungen in anderem Lichte sieht.«150 In den neuen Tänzen sah man somit den zeitgemäßen Ausdruck 150 Franz H. Martin: One Step, Elegante Welt, Nr. 48 (1912), S. 10.

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modernen, städtischen Lebens. Auf den Bühnen der Varietétheater Berlins stellte eine solche Inszenierung der Erfahrungen des Großstadtlebens ebenfalls einen elementaren Bestandteil dar. Das Metropoltheater etwa rückte seit 1903 in seinen Jahresrevuen Berlin als Weltstadt in den Mittelpunkt. Das Nachtleben, das erhöhte Tempo, der Verkehr, die neu eröffneten Vergnügungsparks, all diese Aspekte des gegenwärtigen Lebens wurden auf der Bühne verarbeitet und zeigten Berlin als »Hauptstadt des Vergnügens«.151 Immer wieder wurden dort auch Vergleiche mit Paris und Wien heran­ gezogen. Auch der Bühne und vor allem dem populären Theater kam damit eine wichtige Bedeutung als Medium der Erfahrung und Vermittlung von Großstadt zu. »Die Erfindung der Großstadt beginnt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch die Erfindung des Großstädters auf der Bühne der kommerziellen Unterhaltungstheater«, spitzte der Theaterwissenschaftler Peter W. Marx diese Beobachtung für die Berliner Theater zu.152 Mit dem Tango, so kann man darüber hinaus argumentieren, konnten die Großstadtbewohner selbst Teil des Geschehens werden. Die Weltstadt wurde hier am eigenen Leib erfahrbar, die neuen Tänze schieden das neue vom alten Berlin. Eine solche Verarbeitung der Erfahrungen der Großstadt und die Anpassung an die im doppelten Sinne schnelleren Rhythmen der Stadt ist auch als »innere Urbanisierung« bezeichnet worden.153 Die Elegante Welt stellte überdies die Tatsache in den Mittelpunkt, dass die Integration des Tango eine Notwendigkeit sei, um gegenüber anderen Städten nicht als rückständig zu gelten. In diesem Sinne wurden die Tangoverbote natürlich verurteilt, eine solche repressive Politik schade der eigenen Metropolenkultur und ihrer Konkurrenzfähigkeit gegenüber anderen Städten. »Da [in Paris, d. Vf.] kann sich der moderne Tanzsport natürlich viel besser entfalten als in unserer Stadt der Vorurteile und der Schwerfälligkeit in allen Fragen des Geschmacks. Aber die Bewegung ist eine zu starke – die Popularität des Tango ist eine zu große (…).«154 Die Aneignung der neuen Tänze wurde zu einem Zeichen der Teilhabe an einer internationalen Metro­polenkultur, zu einer notwendigen Fähigkeit, die es in Berlin ebenso zu erlangen galt wie in Paris und London. Die Verbote gegenüber den sogenannten Schiebe- und Wackeltänzen unterstütze man nur inso151 Zu den Aufführungen des Metropoltheaters vgl. Jelavich, Berlin Cabaret, S. 104 ff.; Becker, Inszenierte Moderne; Otte. 152 Marx, S. 95. Siehe auch Baumeister, Theater und Metropolenkultur. 153 Vgl. Korff. 154 F. W. Koebner, Der Tango und Herr v. Jagow, Elegante Welt, Nr. 27 (1913), S. 4.

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weit, als ein »falsches« Tanzen durchaus zu unterbinden sei. Ohne professionelle Anleitung käme es dazu, »daß dann ähnliche Gebilde zur Welt kommen, wie das entsetzliche Wackeln an Stelle des one step, das der Polizei mit einer gewissen Berechtigung Anlaß zum Einschreiten gegeben hat«, konnte man in der Eleganten Welt lesen.155 Von Kontrolle und Tanzverboten waren kleinere Lokale in Berlin, die sich auf das Angebot von Tanzveranstaltungen spe­zialisiert hatten, besonders betroffen. Diese Lokale hatten die ökonomische Nische erkannt, die sich mit der vermehrten Nachfrage an Bühnen und Tanzflächen ergeben hatte. Im eigenen kommerziellen Interesse waren sie daran interessiert, den Vorwurf der Unsittlichkeit der Schiebe- und Wackeltänze und die damit einhergehenden polizeilichen Verbote zu widerlegen. Während in den großen Music Halls der Tango nur eine Bühnendarstellung unter vielen blieb, waren es gerade diese kleineren Tanzlokale, die die Tangomode vorantrieben und für sich zu nutzen versuchten. In der­ Cabaret-­Tanz-­Revue, der Zeitschrift zur Vertretung der Interessen des Cabarets, zeigte sich in dieser Absicht eindrücklich die Suche nach einer geeigneten Interpretation des Tango. Die Zeitschrift war eine lebhafte Plattform für die Frage danach, ob der Tango und andere Modetänze in das Programm zu integrieren seien. In der Spezialbeilage »Der Tanz« widmete man sich der Frage: »Ist der Tango unanständig und ein Tango-Verbot gerechtfertigt?«, und argumentierte, wie zuvor auch schon Koebner und Leonard, das Verbot müsse sich nicht gegen den Tangotanz, sondern gegen diejenigen Tänzer richten, die die modernen Tänze anstößig tanzen würden.156 Mit klaren eigenen ökonomischen Interessen wandte man sich damit gegen generelle Tangoverbote. Die Saalbetreiber in Berlin steckten in einer praktischen und ökonomischen Klemme. Mehrere Saalbesitzer berichteten, dass sie in finanzielle Nachteile geraten seien, weil sie die neuen Tänze nicht geduldet hätten und somit Kundschaft an die Konkurrenz verloren hätten. Tanzlehrer, die das »Wackeln« nicht dulden wollten, wären von den Saalbetreibern entlassen worden.157 So hatten die Lokalbetreiber großes Interesse an Personen wie Koebner, die positiv auf die Bedeutungszuschreibungen des Tango einwirkten. In seiner gemäßigten französischen Form, so waren sich 155 Franz Wolf, Groteske Gesellschaftstänze. Pas de l’ours und turkey trot, Elegante Welt, Nr. 12 (1912), S. 4. 156 Tanz. Ist der Tanz unanständig und ein Tango-Verbot gerechtfertigt?, Der Tanz. Spezial­beigabe zur Cabaret-Tanz-Revue, Nr. 72 (1913), S. 23. 157 Der Tanz- Von überall her, Der Tanz. Spezialbeigabe zur Cabaret-Revue, Nr.  57 (1913), S. 12/13.

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die meisten Autoren der Cabaret-Tanz-Revue einig, könne und müsse man den Tango übernehmen. Und so äußerte man sich über das Tanzturnier im­ »Admiralspalast«: »Was da als Tango getanzt wurde, war nicht der liebeslüsterne argentinische Apachentanz, es war ein abgeklärter, sublim abgezirkelter sogenannter Normaltango, der nichts Sittengefährliches mehr in sich barg, eher kühl liess bis ans Herz hinan, und nur rhythmisch, korrekt und auf Haltung getanzt werden musste.«158 Im Zuge der Aneignung des Tango in Berlin traten zwei Aspekte besonders deutlich hervor. Erstens bemühte man sich, dem Tango einen qualitativen Wert zuzusprechen und ihn damit von den Vorwürfen der Tangogegner freizusprechen. Daran knüpften sich konkrete ökonomische Interessen von Tanzlehrern und Lokalbetreibern, die finanzielle Einbußen und polizeiliche Maßnahmen fürchten mussten. Ein zivilisierter französischer Tango stellte in dieser Hinsicht einen zentralen Bezugspunkt dar, mit dem in Berlin für die Aufnahme des Tanzes argumentiert werden konnte. Über den Tango im Admiralspalast konnte man daher urteilen: »Im Gegenteil, reservierter als unsere alten Tänze stellte sich die hier geübte Form dar, und deshalb braucht man sich der Einbürgerung dieser neuen Erscheinung nicht entgegenzustemmen.«159 Mit der Forderung nach »Einbürgerung« des Tango in die populäre Kultur Berlins kam die Zielsetzung dieser Akteure wohl am besten zum Ausdruck. In der Eleganten Welt setzte sich damit eine andere Lesart als die der deutschen Tanzlehrerschaft und der kritischen Stimmen in den konservativen Medien durch. Der Tango wurde mit dem Rückbezug auf seine »französische Herkunft« zu einem anerkannten Bestandteil einer internationalen Metropolenkultur. Darüber hinaus sah man in Berlin zweitens sehr viel deutlicher als in­ Paris, wie der Tanz nicht nur mit der Herausforderung einer neuen internationalen populären Kultur, sondern generell mit der neuen Erfahrungswelt der Stadt zusammengebracht wurde. Eine solche Funktion der neuen Tänze wurde auch von den Künstlern und Künstlerinnen selbst festgestellt. Die australische Tänzerin Madame Saharet, die auf ihren internationalen Tourneen auch im Berliner Wintergarten gastierte, äußerte sich hierzu: »Die neue Generation hätte den Twostep nicht mit soviel Enthusiasmus a­ kzeptiert, 158 Das Tanzturnier im Admiralspalast, Der Tanz. Spezialbeigabe zur Cabaret-Tanz-­ Revue, Nr. 75 (1914), S. 11. 159 Der Einheitstango, Der Tanz. Spezialbeigabe zur Cabaret-Tanz-Revue, Nr. 76 (1914), S. 15.

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wenn ihr sein Rhythmus nicht schon im Blute geschlummert hätte; denn sie ist unromantisch die neue Generation. Sie will nichts mehr wissen von Träumen und Walzeridyllen. Sie ist auf dem Asphalt erwachsen. Wo man fester auftreten muß. Wo das Leben nach neuen, strafferen Rhythmen pulst.«160 Die Erfahrungswelt der Großstadt sowie deren internationale Unterhaltungskultur gehörten untrennbar zusammen. Während die Großstadt als Ort für die Entstehung einer internationalen Unterhaltungskultur konstitutiv war, stellte letztere die Bühne bzw. den Verhandlungsraum für neue Erfahrungen der Stadt bereit.

3.6 Das »typisch weltstädtische Berlin« in Konkurrenz mit Paris Das schnelle Wachstum und der Bedeutungszuwachs von Berlin stellten für die Bewohner der Großstadt eine neue Erfahrungswelt dar. Mindestens ebenso bedeutsam war in diesem Kontext die Entwicklung Berlins zur Weltstadt, zu einer Metropole, die im europäischen Vergleich mit Paris, London und auch mit Wien zu konkurrieren suchte. Der Status von Berlin als »Parvenu« prägte dabei sowohl die eigene Wahrnehmung als auch die Beschreibungen Berlins aus der Außenperspektive. Gerade so gegensätzliche Sprachbilder wie »Berlin als Sumpfblüte« oder Berlin als das »Chicago an der Spree« zeigten die vielschichtigen Deutungsangebote, in deren Mittelpunkt immer der rasante Wandel der Stadt stand.161 Besonders aus französischer Sicht blieb Berlin jedoch das »ewige Imitat« von Paris, eine Sichtweise, die gerade nach dem verlorenen Krieg 1870/1871 auch eine deutliche machtpolitische Dimension hatte.162 Während das deutsch-französische Verhältnis der letzten Jahrzehnte des 19.  Jahrhunderts insgesamt durch kritische gegenseitige Beobachtung und damit einhergehende vielfältige Transfers in Kultur und Wissenschaft geprägt war, blieb die symbolische Bedeutung von Paris als Zentrum und Berlin als bloßer »Emporkömmling« unangetastet. Französische Berlinreisende, wie der Journalist und Schriftsteller Jules­ Huret, reflektierten über eine Stadt, die »von Norden, von Westen und von Osten allen Winden preisgegeben« sei, »auf einer weiten, einförmigen Sand160 Madame Saharet: Die neuen Tänze, Der Tanz. Spezialbeigabe zur Cabaret-Tanz-­ Revue, Nr. 63 (1913), S. 13. 161 Thies u. Jazbinsek, S. 55. 162 Kiecol, S. 249/250.

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ebene inmitten der Provinz Brandenburg aufgebaut«163 und gaben damit sinnbildlich sowohl der politischen Lage als auch der Unbeständigkeit der neuen Hauptstadt des Deutschen Reichs Ausdruck. Trotz der Bewunderung, die die Berichterstattung Hurets über Deutschland in ihrem Grundton ansonsten durchzog, klang in den Schilderungen von Berlin vor allem bezüglich Kunst und Kultur ein herablassender Gestus an.164 Hinsichtlich der populären Kultur, so ist gezeigt worden, konnte Berlin jedoch zur Jahrhundertwende mühelos mit den »alten« Metropolen London und Paris mithalten. Die Music Halls, die großen Tanzpaläste und die Besucherzahlen von Berlin behaupteten sich in einer internationalen Konkurrenz. Ein solches Angebot war in allen drei Städten vergleichbar und es zirkulierte innerhalb einer internationalisierten und kommerziell organisierten Unterhaltungskultur zwischen den Metropolen, sodass Berlin ebenfalls für sich in Anspruch nahm, die »Hauptstadt des Vergnügens« zu sein. »In Rom, in Paris, in Bukarest wie in Madrid kennt man heute das Schlagwort von der ›Stadt ohne Nacht‹ und überall weiß man, daß Berlin damit gemeint ist«, schrieb man in der Eleganten Welt in einer Sondernummer, die sich ausschließlich den Attraktionen der Stadt Berlin widmete.165 Zur Weltstadt Berlin gehörte auch das Tanzvergnügen. Im Februar 1912, zwei Monate nach Gründung der Zeitschrift, veröffentlichte die Elegante Welt eine sogenannte Ballnummer.166 Ausführlich konnte man sich darin über die Tanzsaison in Berlin informieren und ebenso etwas aus anderen Städten Europas erfahren. Vergleichend wurden die Bälle, ihre Besucher und das Repertoire in London, Paris und Berlin nebeneinandergestellt und auch aus Wien, der klassischen Stadt der festlichen Bälle, wurde selbstverständlich berichtet. Der Tanz selbst, die Tanzlokale und die Attraktivität des Angebotes in den Städten wurden zu einem Konkurrenzfaktor. Über die Tanzsaison in Paris und London schrieb man: »Die große Saison der öffentlichen Bälle, wie wir sie in Berlin haben, kennt man weder in London, noch in Paris. In England, weil alle Vergnügungen den Stempel privater Geselligkeit tragen müssen, um beachtet zu werden, in Frankreich, weil Paris eine Unzahl Lokale hat, die täglich öffentliche Bälle veranstalten und die den ab und zu veranstal163 Jules Huret, Berlin um Neunzehnhundert, Berlin 1909, S. 7. 164 Zu dem Deutschlandbild Hurets siehe auch: Ders.: En Allemagne, Bd. 3: Berlin, Paris 1911. 165 E. Alexander Katz, Die Stadt ohne Nacht, Elegante Welt. Spezialnummer Berlin, Nr. 19 (1914), S. 18–20. 166 Elegante Welt. Ball- und Tanz-Nummer, Nr. 8 (1912).

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teten besonderen Feierlichkeiten zu große Konkurrenz machen.«167 Gerade bezüglich des Tanzvergnügens meinte Berlin also einiges mehr zu bieten zu haben als London oder Paris. Gleichwohl ging es in solchen Berichten vor allem darum, die Gleichwertigkeit des Angebotes von Berlin im euro­päischen Vergleich herauszustellen. Deutlich wurde dies auch in der Eleganten Welt, in einer fiktiven Erzählung über den Tag einer reisenden Frau in Berlin. Nachdem diese an der Litfaßsäule die »Vergnügungsmöglichkeiten des Sündenbabels« studiert hatte, gehörte neben dem Zoo und dem Luna-Park auch ein thé-tango zu ihrem Programm. Abschließend resümierte man: »(…) den Fremden, die nach Berlin kommen, um die Weltstadt kennen zu lernen, geht es hier genau so wie in Paris und London. Sie sehen nur die für sie frisierten und zurechtgemachten Attraktionen, und das typische, weltstädtische Berlin in seiner einzig dastehenden Eigenart geht ihnen erst nach langen Monaten auf.«168 Die Internationalisierung der populären Kultur war mit einer Standardisierung und Angleichung der Programme in den Metropolen einhergegangen. Einen Vergnügungspark, oder den thé-tango konnte man nicht in jeder deutschen Stadt – sehr wohl aber in jeder Metropole finden, zu deren Kreis sich auch Berlin zählte. Das »typisch weltstädtische Berlin« jedoch erschloss sich dem Besucher erst auf den zweiten Blick, so der Bericht und verwies im Folgenden überraschenderweise ausgerechnet auf die US -amerikanischen Tänze: »Angeblich kommt er – wie so manches, beinahe alles andere – aus England oder Amerika; ich glaube aber nicht so recht daran, denn der One Step, wie man ihn heute tanzt, ist etwas derart typisch Berlinisches, daß er eigentlich nur hier so recht gedeihen konnte. Allerdings tanzen ihn die Anglo-Amerikaner sehr geschickt, vielleicht mit mehr Grazie und angeborener Neigung als die Berliner.«169 Aus einer solchen Perspektive hatte man sich die neuen Tänze in Berlin angeeignet und ihnen gewissermaßen einen eigenen Stempel aufgedrückt. Die Teilnahme an einem »weltstädtischen Vergnügen«, so suggerierte man, könne man nirgends so gut erfahren wie in Berlin. Die Herausbildung einer eigenen »typisch berlinerischen« Metropolenkultur sowie die Teilnahme an einer internationalen Vergnügungskultur, standen nicht im Gegensatz zueinander, sondern sie bedingten sich gegenseitig. 167 Franz Wolf, Tanzsaison in Paris und London, Elegante Welt. Ball- und Tanz-Nummer, Nr. 8 (1912), S. 23. 168 F. W. Koebner, Ein Tag in Berlin, Elegante Welt, Nr. 24 (1913), S. 7. 169 Franz H. Martin, One Step, Elegante Welt, Nr. 48 (1914), S. 10.

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Die Integration des Tango in das Repertoire der eigenen populären Kultur spiegelte demnach nicht nur die Suche nach neuen Ausdrucksformen der Erfahrung der Großstadt. Die Befürworter des Tango waren sich ebenso darüber im Klaren, dass die Aneignung des Tango eine Notwendigkeit darstellte, wollte man hinter den anderen Metropolen nicht zurückfallen. Der Tatsache jedoch, dass es sich hierbei bereits um einen französisch geprägten Tango handelte und nicht mehr um ein vermeintliches Original, versuchte man mit der Behauptung zu begegnen, in Berlin könne man den Tango am besten tanzen, nur Berlin habe die prunkvollsten Tanzsäle. In Berlin stand damit im Unterschied zu Paris die Relationalität des eigenen Angebotes gegenüber den anderen Metropolen sehr viel stärker im Mittelpunkt. Der Prozess des »Weltstadtwerdens« ging in Berlin damit einher, dass man sich mit anderen Metropolen verglich und versuchte, eine eigene spezifische Prägung herauszubilden. Die Inszenierung von Berlin als Weltstadt geschah immer in Relation zu anderen Metropolen, allen voran Paris. Der ständige Vergleich unterstrich die eigene Defizitwahrnehmung und wies auf die Notwendigkeit des Lernens und Nachholens hin. Die Metropolenkultur von Berlin, so wird hieran abschließend deutlich, definierte sich durch ihre Konkurrenzfähigkeit im internationalen bzw. im europäischen Rahmen und hierbei vor allem mit Bezug auf Paris.

4. Fazit Der Prozess der Aneignung des Tango in Berlin stand in einem engen Zusammenhang mit dem Erfolg des kulturellen Transfers in der französischen Metropole. Die Auseinandersetzungen um den Tango in Berlin zeigten den Tanz als Teil  des Repertoires einer internationalen Metropolenkultur, die sich durch den Austausch, die Abgrenzung und die Konkurrenz zwischen mehreren Metropolen um 1900 zeitgleich herausbildete. Auch in Berlin wirkten Akteure mit unterschiedlichen Interessen auf den Aneignungsprozess des Tango ein und verhandelten über die Formen und Bedingungen dieses kulturellen Transfers. Die deutsche Tanzlehrerschaft verhielt sich zunächst ganz im Gegensatz zu den französischen Tanzlehrern überaus defensiv und abwehrend gegenüber allen neuen Modetänzen. Statt den Tango in das Repertoire der Gesellschaftstänze zu übernehmen und selbst formend auf die Choreographie einzuwirken, scheiterte man in Berlin an den Herausforderungen durch die veränderten Arbeitsbedingungen

Fazit

in der Stadt. Auch die Tangogegner in der deutschen Presse argumentierten sehr viel stärker als in den französischen Zeitschriften abwehrend gegen das Eindringen einer vermeintlich fremden Kultur von außen und wandten sich überdies gegen einen als übermächtig empfundenen Einfluss von Paris. Die kritischen Stimmen gegen den Tango reihten sich in Berlin in eine K ­ ritik an der Großstadt und der Massenkultur ein, für die man neue Kontroll- und Bewertungsinstanzen einforderte. Den Tangobefürwortern gelang es jedoch, alternative Deutungsangebote zur Verfügung zu stellen. Dabei hatten Akteure wir Franz Wolfgang Koebner oder die Betreiber von Tanzlokalen ein ganz pragmatisches Interesse daran, gegen die staatlichen Verbote und die damit einhergehenden finanziellen Nachteile zu argumentieren. Auch in Berlin lässt sich die populäre Kultur damit als ein Feld interpretieren, auf dem konkurrierende Interessen und Deutungen öffentlich verhandelt wurden. Darüber hinaus ist in diesem Teil deutlich geworden, wie sehr die Selbstinszenierung und die Wahrnehmung von Berlin im Vergleich und in Konkurrenz zu Paris verlief. Die populäre Kultur der Metropole erklärt sich daher auch nur als eine transnationale Kultur zwischen Städten, die sich in Austausch und Abgrenzung mit anderen Metropolen konstituierte. Auf diese Weise nahm die populäre Kultur von Berlin eine bedeutsame Dimension im Selbstverständnis und in der Repräsentation der Metropole im­ internationalen Vergleich ein.

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IV. Synthese

1.

Tango in Europa im 20. Jahrhundert – ein Ausblick

Der Beginn des Ersten Weltkriegs bildete in der Geschichte des Tango in Europa eine Zäsur. Die meisten Argentinier verließen Paris und kehrten nach Buenos Aires zurück oder setzten ihre Karrieren in den USA fort. Obwohl mit Recht dafür plädiert worden ist, den Ersten Weltkrieg bezüglich der populären Kultur in den Städten nicht als Lücke zu beschreiben, ist jedoch sowohl in Paris als auch in Berlin zunächst von maßgeblichen Einschränkungen des kulturellen Lebens auszugehen.1 Der Krieg bedeutete strukturelle Veränderungen in der Organisation des Unterhaltungsgewerbes in den Städten. Er schränkte die Mobilität von Künstlerinnen und Künstlern sowie die Zirkulation von Programmen ein und ging oft mit einer Nationalisierung des Repertoires einher. Ein geglückter Transfer zeichnet sich durch die Integration eines Phänomens in einen neuen Kontext aus. Oftmals verwischen hierbei die Spuren der originalen Herkunft.2 Im Folgenden wird daher der »Moment nach dem Transfer«, das heißt die 1920er Jahre in Paris und Berlin im Mittelpunkt stehen, um danach zu fragen, ob und in welcher Weise der Tango sich hier langfristig als Element der populären Kultur der Großstadt einschreiben konnte. Für die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg hat diese Arbeit die vehementen Auseinandersetzungen aufgezeigt, die die Ankunft des Tango in Paris und Berlin und den Prozess der Aneignung zunächst prägten. Die 1920er Jahre gelten für die Metropolenkultur als Zeit des Jazz und der »kulturellen Amerikanisierung«. Begünstigt durch die Präsenz US -amerikanischer Soldaten in Europa während des Kriegs verhalf die Aufbruchstimmung der 1920er Jahre dem Jazz in den europäischen Metropolen zum Durchbruch. Die mit der Jazzmusik verbundenen neuen Tänze, wie Foxtrot, Shimmy oder Charleston, verdrängten den Tango nicht nur als Modetanz, sie nahmen auch den Debatten um den argentinischen Tanz endgültig den Wind aus den 1 Baumeister, Kriegstheater, S. 19. 2 Espagne, Kulturtransfer und Fachgeschichte, S. 44; Middell, Kulturtransfer und Historische Komparatistik, S. 21.

Tango in Europa im 20. Jahrhundert

Segeln. Die medialen Auseinandersetzungen mit der populären Kultur der Metropole wurden nun verstärkt von dem Phänomen der Amerikanisierung geprägt. In Paris hatten die Importe US -amerikanischer Unterhaltungskultur vor dem Ersten Weltkrieg nur einen Teil eines breiten Repertoires kultureller Stile aus der ganzen Welt ausgemacht. Die Ragtimetänze ebenso wie Künstler und Künstlerinnen aus den USA hatten sich hier in ein Programm eingegliedert, das die Welt auf den Bühnen der Music Halls und in den Tanzsälen erfahrbar werden ließ. Doch nun begann die Anwesenheit afroamerikanischer Künstler, der Jazz und vor allem das US -amerikanische Kino die populäre Kultur in Paris stark zu beeinflussen und löste damit nicht nur ernsthafte Konkurrenzängste, sondern auch grundlegende Debatten um die Vereinbarkeit französischer und US -amerikanischer Kultur aus.3 In Berlin veröffentlichte Franz Wolfgang Koebner 1921 mit »Jazz und Shimmy« das erste Buch über die neuen Modetänze in Deutschland und machte sich damit wieder einmal zum Vorreiter einer neuen Entwicklung.4 Bei dem Tanzhistoriker Heinz Pollack fand sich 1922 in dem Werk »Die Revolution des Gesellschaftstanzes« ein Eintrag zum »Yass« und damit der Beginn einer neuen Welle von Modetänzen.5 Gleichwohl verblieb der Tango als fester Bestandteil im Repertoire der Gesellschaftstänze. Ende der 1920er Jahre einigte man sich nach einer Reihe von Konferenzen in England auf eine international gültige Choreographie, die den Tango endgültig als Wettkampftanz etablierte.6 Auch im Repertoire der deutschen Kapellmeister konsolidierte sich der Tango nun als anerkannte Tanzmusik. Der Spanier Juan Llosas wurde in Berlin in den 1920er Jahren zum »deutschen Tangokönig«. Nach seinem Studium in Berlin gründete Llosas die »Original Spanisch-Argentinische Tango-Kapelle« und trug durch seine Konzertreisen viel zur weiteren Verbreitung des Tango in Europa bei.7 Die deutschen Tangokompositionen, so ist aus musikwissenschaftlicher Perspektive gezeigt worden, näherten sich bekannten und populären Schemata an und auch die Tangotexte behandelten nun zunehmend Themen aus einem deutschen Erfahrungskontext.8 Die exotische Anziehungskraft des Tango trat zurück. Die Integration 3 Middendorf, S. 179 ff. 4 Franz Wolfgang Koebner, Jazz und Shimmy. Brevier der neuesten Tänze, Berlin 1921. 5 Heinz Pollack, Die Revolution des Gesellschaftstanzes, Dresden 1922. Siehe auch Lange, Jazz in Deutschland, S. 15. 6 Richardson, S. 26. 7 Tango-Lexikon, S. 299. 8 Ritzel, »Schöne Welt du gingst in Fransen!«, S. 80.

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in ein deutsches Repertoire führte hier zunehmend zu einer Übernahme, die musikalisch die argentinischen Spuren des Tango überlagerte. Die Geschichte des Tango blieb überdies in keinem Fall eine westeuro­ päische. War seine Popularität in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg geographisch vor allem auf die Metropolen Paris, London und Berlin beschränkt geblieben, so verbreitete sich der Tanz in Europa durch die Kanäle eines international organisierten Musikmarktes und durch die Mobilität von Musikern und Tänzern von Finnland bis in die Türkei.9 Eine Aneignung des Tango in Form einer aktiven Integration der Musik und des Tanzes im Zusammenspiel kultureller Traditionen zeigte sich in den 1920er Jahren vor allem auch in Zentral- und Osteuropa.10 Der Schwerpunkt dieser Arbeit lag auf dem Prozess der Aneignung des Tango in Paris und Berlin. Der Herkunftskontext in Buenos Aires ist demgegenüber zurückgetreten. Gerade die Frage nach den argentinischen Reaktionen auf den Erfolg des Tango in Europa und damit nach den Rückwirkungen des Transfers wird jedoch oft gestellt. Die Transformation des Tango zu einer argentinischen Nationalkultur war eng mit dessen Geschichte in Europa verknüpft und ist von vielen argentinischen Autoren aufgegriffen worden. Während die argentinische Elite den Tango in seiner Entstehungszeit vehement ablehnte und in dieser Hinsicht auch versuchte, auf den Rezeptionskontext in Paris einzuwirken, veränderte sich die Wahrnehmung des Tango als populäre Kultur der Großstadt in der Folgezeit. Eine zunehmende Kommerzialisierung und Professionalisierung des neuen Genres verschaffte den argentinischen Musikern und Tänzern sowohl im Zentrum von Buenos Aires als auch im Ausland zunehmend Anerkennung. Der Erfolg des Tango in der französischen Metropole wirkte auf die Transformation von Musik und Tanz zu einer argentinischen Nationalkultur zurück. Die erfolgreiche Aufnahme und die Formung, die der Tanz in Europa durchlaufen hatte, begünstigten in Buenos Aires eine Aufwertung des Tango durch eine konservative Elite, die nun auch hier begann, sich mit dem Tanz ausein­anderzusetzen. Eine solche Anerkennung argentinischer Kultur durch Europa ist von argentinischer Seite in postkolonialer Perspektive kritisiert worden. Sie entspräche einer andauernden kulturellen Abhängigkeit und einer Auffassung argentinischer Kultur, die sich selbst immer nur 9 Vgl. Pelinski, Tango nomade. 10 Czackis.

Metropolenkultur als transnationale Kultur

im Vergleich mit Europa definiere.11 Demgegenüber stehen jedoch argentinische Autoren, die den Erfolg des Tango durchaus selbstbewusst bewerten, wie die Brüder Hector und Luis J. Bates, die bereits 1936 in einer der ersten Geschichten des Tango von einer »Eroberung Europas« durch den Tango sprachen und den wertvollen kulturellen Beitrag betonten, den Argentinien damit in die »alte Welt« gebracht habe.12 Die grundlegende Bedeutung des Tango für eine argentinische Kulturgeschichte zeigt sich in der anhaltenden Auseinandersetzung in der Forschung, wie zum Beispiel die jüngst erschienene Studie »Politischer Tango«, die den Tango in den politisch-historischen Kontext des Peronismus der 1960er Jahre in Argentinien einordnet.13 Obwohl der Fokus dieser Arbeit nicht primär auf die argentinische Geschichte des Tango gerichtet war, zeigt sich am Beispiel der Rezeption des Tanzes in Paris und Berlin eine verflochtene Geschichte der europäischen Metropolen mit Buenos Aires. Der Blick auf einen kulturellen Transfer fokussierte einen kleinteiligen Aneignungsprozess in einem neuen kulturellen Kontext, der vielfältige Austauschbeziehungen zwischen den Städten bzw. gegenseitige Bezugnahmen der Städte untereinander offenbarte. Mit dem geographischen Zentrum in zwei europäischen Städten konnte vor allem für Berlin eine grundlegende Forschungslücke geschlossen werden, die die Geschichte des Tango und allgemein des Tanzvergnügens erstmalig in eine Kulturgeschichte der Metropole um 1900 einordnet. Damit ist diese Arbeit zwar keine Tangogeschichte im klassischen Sinne, doch nimmt sie für sich in Anspruch, eine globale Geschichte des Tango im 20. Jahrhundert mit einem Beitrag erweitert zu haben.

2.

Metropolenkultur als transnationale Kultur

Diese Arbeit liefert am Beispiel des Tango einen Beitrag zu einer transnationalen Geschichte der Metropolenkultur um 1900. Sie analysiert den Aneignungsprozess des Tango in Paris und Berlin und fokussiert auf diese Weise die Auseinandersetzung mit der Welt in der Stadt in den beiden euro­päischen Metropolen. Die Wahrnehmung dieser neuen Dimension der populären Kultur, so die leitende These, bedeutete für die Städte eine Herausforderung, die 11 Savigliano, S. 137 ff. Siehe auch Herlinghaus u. Walter, S. 252. 12 Bates u. Bates, La Historia del tango, S. 66. 13 Barrionuevo Anzaldi.

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mit Konflikten, Diskussionen und der Suche nach Neuordnungen einherging. An dem breiten Interesse, das dem Tango in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg entgegengebracht wurde, lässt sich ab­lesen, inwiefern dieser über seine Wahrnehmung als neuer Gesellschaftstanz hinaus zu einem Spielball von Auseinandersetzungen um nationale Zugehörigkeit, populäre Kultur und urbane Identität wurde. Die Zeitschriftenartikel, die in dieser Arbeit diskutiert wurden bzw. die Akteure, die mit unterschiedlichen Interessen und Argumentationen auf den kulturellen Transfer des Tango einwirkten, verweisen eindrücklich darauf, dass der Tango beispielhaft für grundsätzliche gesellschaftliche Spannungen stand, die mit den Veränderungen der Metropolenkultur virulent geworden waren. Die Auseinandersetzungen zwischen Tangogegnern und Tangobefürwortern lassen sich nicht allein auf einen nationalen Interpretationsrahmen beschränken, sondern erklären sich erst im Zusammenspiel der Metropolen untereinander. Der Fokus auf den Tango und der Vergleich zweier kultureller Transfers verdeutlicht in diesem Sinne, dass sich Metropolenkultur erst in einer transnationalen Arena konstituierte. Die Arbeit zeigt hiermit, inwiefern die Metropolenkultur der Jahrhundertwende als eine genuin transnationale zu verstehen ist, die entlang vielfältiger Austauschbeziehungen und wechsel­seitiger Bezugnahme der Städte unter­ einander und in der Auseinander­setzung mit der Welt zu untersuchen ist. In Anlehnung an die der Arbeit zugrunde liegende Gliederung, die den Argumentationen von Tangobefürwortern und Tangogegnern folgt, sollen im Folgenden zunächst die Reaktionen der Tangogegner noch einmal zusammengefasst werden. Überaus kritisch standen die Tanzlehrer in Berlin den Entwicklungen gegenüber. Die Ankunft der sogenannten neuen Tänze stellte für den Beruf des Tanzlehrers in mehrfacher Hinsicht eine Herausforderung dar. Um ihren eigenen tradierten Status innerhalb der veränderten Realitäten der Großstadt abzusichern, mussten sie sich mit dem Tango und den US -ameri­ kanischen Ragtimetänzen auseinandersetzen und sich darüber hinaus einer neuartigen Konkurrenzsituation stellen. In Berlin scheiterte die Tanzlehrerschaft jedoch an diesen Aufgaben. Man konnte sich nicht auf eine gemeinsame Linie einigen und blieb dabei, die Präsenz des Tango weitgehend zu ignorieren. Neue, häufig selbsternannte Tanzlehrer, wie beispielsweise der Herausgeber des »Tanz-Brevier«, Franz Wolfgang Koebner, wurden so zu einer ernstzunehmenden Konkurrenz, da sie den Publikumswünschen sehr viel mehr entgegenkamen.

Metropolenkultur als transnationale Kultur

In Paris stand vor allem eine kleine Gruppe von Angehörigen der »argentinischen Kolonie« dem Tango besonders kritisch gegenüber. Leopoldo Lugones und mit ihm einige andere Angehörige der konservativen Elite fürchteten eine Fehleinschätzung argentinischer Kultur im Ausland und lehnten den Tango als populäre Kultur der Arbeiterviertel von Buenos Aires vehement ab. Sie kritisierten vor allem die argentinischen Mittler des Tango in Paris, die die argentinische Nation ihrer Ansicht nach diffamierten. Besonders bemerkenswert war dabei die Tatsache, welchen Stellenwert die Wahrnehmung der populären Kultur der Metropole für die Positionierung Argentiniens bzw. Buenos Aires im Ausland eingenommen hatte. Paris stellte für Argentinien einen zentralen Ort dar, an dem über die Wahrnehmung und die Anerkennung des Tango verhandelt wurde. »Das Fremde« in der Stadt wurde um 1900 Gegenstand von zahlreichen gesellschaftlichen Debatten. In der französischen Presse wandten sich kritische Stimmen gegen eine zunehmende Verflechtung der Metropolenkultur in globale Strukturen, für die der Tango in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg nur eines der augenscheinlichsten Merkmale darstellte. Man ­formulierte Vorbehalte gegenüber einem vermeintlich zu hohen Maß an exotischen Vergnügungen und einer zu großen Zahl an Touristen, die den originären Charakter der Stadt scheinbar zu verändern begannen. In Berlin wandte man sich vor allem gegen die Dominanz der französischen Metropole. Die Suche Berlins nach einer eigenen Identität manifestierte sich in der Abgrenzung und dem Thematisieren eines Konkurrenzverhältnisses gegenüber Paris sowie in der Ablehnung einer bloßen Nachahmung der metropolitanen Kultur des Nachbarn. Die Auseinandersetzungen um den Tango spitzten sich in Berlin zu einer umfassenden Krisenbeschreibung zu. Die Zeitschriften, die von einer Tangoseuche oder einer Tangoepidemie schrieben, suggerierten eine Überforderung der Stadt durch Einflüsse von außen, für die oftmals die französische Metropole verantwortlich gemacht wurde. Eine solche extreme Abwehrhaltung war in Paris zu keinem Zeitpunkt festzustellen. Kritische Stimmen wandten sich hier zwar gegen exotische Darbietungen und gegen zu viele Fremde in der Stadt, die Wahrnehmung dieser Veränderungen ging jedoch nicht mit der Inszenierung einer Bedrohungssituation einher. Demgegenüber resultierten in Berlin aus den abneigenden Haltungen auch konkrete Konsequenzen. Ein staatliches Eingreifen gegen Lokalbetreiber, die die sogenannten »Schiebe- und Wackeltänze« duldeten, sowie ein organisierter Kampf gegen »Schmutz und Schund« zeigten hier, dass die Veränderungen der populären Kultur sehr viel grundsätzlicher

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wahrgenommen wurden. Die Verhandlungen um eine vermeintlich fremde Kultur gingen in beiden Städten eng mit den Auseinandersetzungen um »das Fremde im Eigenen« einher. Die Wahrnehmung der Diskrepanz zwischen einer bürgerlich definierten Hochkultur und den populären Formen der Arbeiterbevölkerung in Paris und Berlin war häufig kaum größer als die Distanz zu dem exotischen Vergnügen aus aller Welt. Die Vorbehalte gegen die französische Musette und gegen die Berliner Schiebetänze ähnelten daher stark den Argumentationen gegen den Tango und offenbarten Überlagerungen sozialer und nationaler Ausgrenzungskriterien. Der Wandel der Metropolenkultur stellte die Akteure in der Stadt vor neue Herausforderungen, denen sie mit Deutungsversuchen und Handlungs­ entwürfen begegneten. Dies geschah in Paris und Berlin jeweils mit spezifischen Unterschieden, die darauf verweisen, dass sich die globale Dimension der populären Kultur keineswegs konfliktfrei herausbildete, sondern immer in Wechselwirkung mit den gesellschaftlichen Konstellationen des Aufnahme­ kontextes stand. Die Argumentationen der Tangogegner, die immer wieder eine vermeintlich moralische Gefährdung und eine kulturelle Minderwertigkeit konstatierten, sind vor dem Hintergrund einer generellen Kritik an der Großstadt und ihrer populären Kultur interpretiert worden. Die Kritik am Tango bzw. an den neuen Tänzen unterschied sich nicht grundsätzlich von den Debatten, die über die Darbietungen auf den Bühnen der Music Halls, das frühe Kino oder die populären Cabarets und Theater geführt wurden. Gleichwohl wohnte dem Genre Tanz innerhalb der populären Kultur eine besondere Qualität inne. Während man den visuellen Darbietungen auf der Bühne mit strengen Zensurbestimmungen beizukommen hoffte, schienen sich die körperlichen Praktiken auf den Tanzböden den Formen behördlicher Kontrolle weitgehend zu entziehen. In diesem Sinne hat die Untersuchung des Tango an grundlegende Arbeiten zur populären Kultur der Jahrhundertwende angeknüpft und hierbei das Genre Tanz, welches bisher eine Forschungslücke darstellte, in diesen Kontext eingeschrieben. Darüber hinaus wurde am Beispiel des Tango aber vor allem die transnationale Dimension der Auseinandersetzungen fokussiert. Die damaligen Debatten, so ist immer wieder betont worden, erklärten sich nicht nur aus den inneren gesellschaftlichen Umbrüchen und den sozialen Realitäten der Stadt. Eine zunehmende Dichotomisierung der Kultur in eine bürgerliche Hochkultur und eine populäre Unterhaltungskultur verlief nicht nur entlang sozialer Ausschlusskriterien, sondern zeigte sich zunehmend auch in der Notwendigkeit, Grenzlinien zwischen dem Eigenen und dem Fremden neu zu definieren. Die Tan-

Metropolenkultur als transnationale Kultur

gogegner in Paris und Berlin, an denen diese Konstellationen verdeutlicht werden konnten, argumentierten demnach nicht nur vor dem Hintergrund innergesellschaftlicher Umbrüche, sondern auch im Hinblick auf globale Entwicklungen, d. h. einer Herausforderung durch eine zunehmende Verflechtung der populären Kultur der Metropolen und einer damit einhergehenden zunehmenden Konkurrenz der Metropolen untereinander. Der Blick auf die Tangogegner stellte in dieser Arbeit nur eine von zwei grundsätzlichen Perspektiven dar. Die Kultur der Metropole zeichnete sich gerade durch die Aushandlungsprozesse aus, in denen Handlungsentwürfe erprobt wurden. Die ablehnende Haltung der Tangogegner, so resultiert aus diesen grundsätzlichen Annahmen, kann nur einen Teil  einer komplexen Entwicklung darstellen. Es gab auf der Bühne der Stadt nicht nur intellektuelle Kulturkritiker und »Schmutz- und Schundkämpfer«. Ein einseitiger Blick auf eine konservative Kulturkritik lenkt davon ab, Metropolenkultur als Erfahrungsraum urbaner Modernität zu erkennen, der den Bewohnern die Möglichkeiten bereitstellte, Erfahrungen zu verarbeiten und neue kulturelle Ausdrucksformen zu erschaffen. Die Krisenbeschreibungen in den zeitgenössischen Quellen beherrschten lange Zeit vor allem die deutsche Geschichtsschreibung zur populären Kultur. Erst in den letzten Jahren ist in dieser Hinsicht versucht worden, den Elitendiskurs der Kulturkritik an alltagsweltliche Praxen zurückzubinden und damit eine Dichotomie zwischen einer intellektuellen Kulturkritik und dem unaufhaltsamen Aufstieg der Massenkultur zu erklären.14 Diesbezüglich konnte diese Arbeit auch von kulturwissenschaftlichen Ansätzen profitieren, die den Fokus der Untersuchungen populärer Kultur auf die kulturellen Rezeptionsformen und Praktiken des Publikums gerichtet und dafür plädiert haben, Massenkultur nicht als einseitig gelenkten Prozess einer »Kulturindustrie« in der Tradition der Frankfurter Schule zu verstehen.15 Populäre Kultur wird aus einer solchen Perspektive als ein dynamischer Prozess interpretiert, für den produktive Konflikte konstitutiv sind und Werte und Bedeutungen immer erst ausgehandelt werden müssen. Diese Arbeit hat ebenfalls darauf verwiesen, dass sich eine Trennung der Kultur der Großstadt in eine bürgerliche Hochkultur und neue populärkulturelle Formen keineswegs durchgängig als klare Dichotomie manifestierte. Die Metropolenkultur um 1900 zeichnete sich 14 Maase, Schund und Schönheit, S. 12. 15 Winter, S. 36.

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insgesamt durch die Notwendigkeit neuer Aushandlungsprozesse aus; ihre Befürworter und Gegner argumentierten nicht geradlinig entlang konservativer Haltungen auf der einen und kommerzieller Absichten auf der anderen Seite. Vielmehr handelte es sich hierbei um einen Prozess, der vor dem Hintergrund tiefgreifender kultureller Transformationen im Inneren und der gleichzeitigen Herausforderung durch eine zunehmende Verflechtung der Metropolen untereinander und mit der Welt eingeordnet werden muss. Die Massenkultur der Jahrhundertwende, so haben auch Andrew und Lynn Hollen Lees argumentiert, diente sehr viel mehr der Integration der städtischen Gesellschaften, als zu ihrer Trennung.16 Aus diesem Grund hat diese Arbeit explizit eine Perspektive gewählt, die die alternativen Deutungsangebote der Großstadt in den Fokus setzt. Scheinbar unvereinbare Gegensätze weichen auf, wenn man den Blick auf die Akteure des städtischen Lebens wirft und nach neuen Bedeutungszuschreibungen populärer Kultur im Inneren ebenso wie nach der Funktion von Metropolenkultur für die Repräsentation der Stadt nach außen fragt. Daher richtete sich das zweite grundsätzliche Interesse dieser Arbeit auf die Tangobefürworter. Im Gegensatz zu der abwartenden und skeptischen Haltung der Berliner Tanzlehrerschaft setzte sich in Paris schnell eine selbstbewusste Auffassung der »Zivilisierung« des Tango unter französischer Ägide durch. Eine Vielzahl französischer Tanzlehrer entwarf hier eigene Tangochoreographien und wirkte damit auf die Formung des Tanzes nach den Maßstäben des­ Gesellschaftstanzes ein. Die Konkurrenz durch argentinische Tanzlehrer in Paris wurde dabei zwar kritisch beobachtet, jedoch nicht als Bedrohung der Deutungsmacht der französischen Tanzlehrerschaft wahrgenommen. Zudem hatten sich schnell französische Tanzlehrer gefunden, die Unterricht gaben und sich ökonomische Vorteile zu sichern suchten. Darüber hinaus gelang es ihnen damit, den Tango zu einem »französischen Tanz« zu formen und damit nicht nur das eigene Repertoire aufzuwerten, sondern auch richtungsweisend in anderen Metropolen anerkannt zu werden. Auch in Berlin hatte es immer wieder Stimmen gegeben, die gegen ein Festhalten an überkommenen Traditionen und für die Notwendigkeit der Anpassung an die neuen Herausforderungen der Großstadt argumentierten, sie waren jedoch gegenüber der ablehnenden Haltung eines großen Teils einer konservativen 16 Lees u. Lees, S. 224.

Metropolenkultur als transnationale Kultur

Tanzlehrerschaft nicht zur Geltung gekommen. Am Beispiel der Tanzlehrer verdeutlichte sich, wie diese Akteure in beiden Städten ihre traditionelle Deutungsmacht verteidigen mussten und damit auf den Aneignungsprozess des Tanzes einwirkten und sich in einem internationalen Kontext verorteten. Die Tanzlehrer in Paris und Berlin mussten in der Auseinandersetzung mit der Welt in der Stadt ihre eigene Rolle neu definieren und dabei im Sinne ihrer nationalen Aufgabe handeln. Die Untersuchung der Reaktionen der Lateinamerikaner zeigte, welche zentrale Rolle die populäre Kultur für die Wahrnehmung einer Stadt bzw. ihrer Positionierung in einem globalen Kontext einnahm. Während auf der einen Seite die Tangogegner der argentinischen Elite in Paris vehement gegen eine vermeintliche Diffamierung der argentinischen Nation argumentierten, hatten auf der anderen Seite einige Lateinamerikaner begriffen, dass die Bedeutungszuschreibungen des Tango längst noch nicht ausgehandelt waren und sie in einen solchen offenen Prozess noch formend eingreifen konnten. In diesem Sinne verteidigten sie den Tango als gleichwertiges ­Element einer modernen Metropolenkultur und hofften, damit auch stellvertretend die Kultur des lateinamerikanischen Kontinents aufzuwerten. Auf der französischen Seite wurde kein geringerer als der Schriftsteller und Dramatiker Jean Richepin zu einer Leitfigur in den Debatten um den Tango. Seine Argumentation der Französierung des Tango bzw. der Assimilationskraft der französischen Kultur gegenüber kulturellen Einflüssen von außen wurde richtungsweisend für den Prozess der Aneignung des Tango in Paris. In der französischsprachigen Presse ließ sich ein machtvoller Diskurs aufzeigen, der die exotische Attraktion des Tango für eine Aufwertung der eigenen Metropolenkultur zu nutzen wusste. Die französische Metropole zeichnete sich nach außen gerade durch ihre Fähigkeit aus, die Welt in die Stadt zu integrieren, ohne dabei die Deutungsmacht über eine französische Prägung eines solchen Angebotes gegenüber anderen Metropolen zu verlieren. Die transnationalen Verflechtungen der populären Kultur trugen damit vielmehr zur Stärkung der Wahrnehmung von Paris als Ort, an dem Innovationen eingeführt und über Bedeutungen entschieden wurde, bei. Exotisierung und Aneignung, so ist gezeigt worden, schlossen sich in Paris nicht gegenseitig aus, sondern standen in einem untrennbaren Wechselverhältnis zueinander. Die kritischen Stimmen in Paris traten gegenüber einer solchen Deutung in den Hintergrund. Um 1900 war die populäre Kultur der Großstadt längst zu einem entscheidenden Element der Inszenierung der Städte geworden. Die Internationalität der französischen Metropole zeichnete diese

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in ihrer Vorbildrolle in der Konkurrenz der Städte untereinander aus. Der Blick auf die Interessen und Argumente der Tangobefürworter hat dies­ bezüglich vor allem gezeigt, in welcher Weise der Mythos der Metropole Paris als capitale de plaisir durch eine kontinuierliche Erneuerung des eigenen Angebotes durch kulturelle Transfers aufrecht erhalten wurde. Diese Bedeutung der Metropolenkultur für eine Inszenierung der Stadt nach außen und im Konkurrenzverhältnis der Städte untereinander leitete auch in Berlin das Interesse am Transfer. Die Presse in Berlin argumentierte dabei auf zwei Ebenen. Zum einen erschien hier die Auseinandersetzung mit den neuen Tänzen als Herausforderung des Lebens in der Großstadt. Die neuen Tänze seien Ausdruck von Modernität, Urbanität und eines neuen Jahrhunderts, schrieb man hier, das Erlernen der Tänze gehöre zu den körperlichen Fähigkeiten des Großstädters. In Berlin wurde der Tango damit zu einem Element des »Großstadt-Werdens« und zu einem Spiegel des Wandels der städtischen Kultur. Zum anderen argumentierten die Tango­befürworter vor dem Hintergrund der Konkurrenz Berlins gegenüber Paris. Um als Weltstadt anerkannt zu werden, so die Ansicht, musste Berlin dem Publikum mindestens ein gleichwertiges Programm bieten. Der kulturelle Transfer des Tango wurde also, trotz der starken kritischen Stimmen, zu einer Notwendigkeit, um in der Konkurrenz der Metropolen untereinander bestehen zu können. Am Beispiel von Franz Wolfgang Koebner konnte dabei für Berlin gezeigt werden, wie eng ein solcher Prozess an einzelne Akteure gebunden war, die den Transfer beeinflussten und steuerten. Koebner erkannte als Tanzlehrer und Redakteur nicht nur seine eigenen kommer­ziellen Vorteile, sondern sorgte maßgeblich für die mediale Präsenz des Tango und trug damit zu einer erfolgreichen Aneignung des Tango in Berlin maßgeblich bei. Insgesamt, so kann hiermit zusammenfassend festgestellt werden, wurde der erfolgreiche Transfer des Tango in Paris und Berlin durch diejenigen Akteure begünstigt, die den Tanz als Teil einer neuen urbanen Kultur interpretierten. »Das Fremde« war um 1900 zu einer alltäglichen, jedoch gleichsam konfliktgeladenen Erfahrung in der Stadt geworden. Die Untersuchung der Rezeption des Tango konnte hierfür beispielhaft zeigen, welche Akteure bzw. Akteursgruppen auf eine solche Dimension der Metropolenkultur reagierten und einen kulturellen Transfer begünstigten  – oder zu verhindern suchten. Dabei ist vor allem aufgezeigt worden, dass eine solche Transformation der populären Kultur nicht gleichmäßig oder zufällig verlief, sondern an spezifische Konstellationen in den Aufnahmekontexten und an das

Metropolen als Portale kultureller Transfers

Einwirken von Akteuren mit unterschiedlichen Interessen gebunden war, sodass hier bewusst von Importen und kulturellen Transfers gesprochen wurde, um auf Mechanismen der Steuerung und der Kontrolle hinzuweisen. Aus diesem Grund ist dafür plädiert worden, Metropolenkultur als ein Aushandlungsfeld zu begreifen und den Fokus auf die produktiven Konflikte der Aneignung gerichtet. Jede Metropole, so lässt sich zusammenfassend feststellen, fand auf unterschiedliche Weise einen Umgang mit dem Fremden bzw. mit den veränderten Erfahrungen in der Stadt. Diese Arbeit bietet damit nicht nur einen Beitrag zu einer transnationalen Geschichte der populären Kultur der Jahrhundertwende und der Historisierung von Metropolenkultur, sondern weist darüber hinaus nachdrücklich darauf hin, kulturelle Transfers als konfliktgeladene Prozesse zu begreifen und den Fokus auf die Medien und Akteure im Verlauf der Aneignung zu richten.

3.

Metropolen als Portale kultureller Transfers

Die Geschichte des Tango ist auch eine Geschichte der Metropolen der Jahrhundertwende. Diese Arbeit hat sich der Welt in der Stadt gewidmet und damit die Tatsache in den Blick genommen, dass Metropolen um die Jahrhundertwende zu Orten geworden waren, an denen eine zunehmende Verflechtung der Welt erfahrbar geworden war. Der Fokus dieser Arbeit richtet sich auf die beiden Metropolen Paris und Berlin und fragt danach, welche Rolle die populäre Kultur in der Wahrnehmung dieser beiden Städte durch ihre Bewohner sowie für ihre Repräsentation nach außen spielte. Eine transnationale Geschichte der Metropolenkultur interessiert sich dabei vor allem für die Bedeutung von Metropolen als Knotenpunkte einer verdichteten Entwicklung in einem globalen Kontext und der damit einhergehenden Funktion von Metropolen als Portale, in denen die Prozesse der Auseinandersetzung mit der Welt verhandelt wurden. Diese Arbeit hat beispielhaft zwei Städte ausgewählt. Die Entscheidung für Paris und Berlin folgte dem Weg des Transfers des Tango von Buenos Aires nach Paris und von dort aus weiter nach Berlin. Um Aussagen über die Metropolenkultur der Jahrhundertwende zu treffen, birgt diese Auswahl selbstverständlich Leerstellen. Im 19.  Jahrhundert war London die größte Metropole Westeuropas und das politische und wirtschaftliche Zentrum des britischen Empire. Die Kultur der Metropole repräsentierte hier bei staatlichen Feierlichkeiten ebenso wie auf den Bühnen der Music Halls

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das Imperium und spielte damit für die britische Politik und die Positionierung Londons in der Welt eine wichtige Rolle.17 Den Prozessen der Professionalisierung und Kommerzialisierung der populären Kultur in England wird aufgrund der frühen Industrialisierung und Urbanisierung und der damit einhergehenden Ausdifferenzierung von Arbeit und Freizeit häufig eine Vorreiterrolle zugeschrieben.18 In London war 1852 die erste Music Hall entstanden, deren Vorbild bald auch die Entwicklungen in Paris prägte. Zwischen den Bühnen in London und Paris herrschte um 1900 ein reger Austausch und eine starke Konkurrenz. Nicht nur Berlin als Parvenu suchte Paris seinen Status als »Hauptstadt des Vergnügens« streitig zu machen, auch London stand in der Wahrnehmung des Unterhaltungsangebotes in einem kontinuierlichen Wettbewerb mit Paris. Am Beispiel von London würde sich daher bei einer genaueren Untersuchung ebenfalls eine gemeinsame Geschichte der populären Kultur der europäischen Metropolen herauskristallisieren, die aufgrund der engen Beziehungen untereinander eine verflochtene Entwicklung verdeutlichen würde. Die Auswahl der Untersuchungsorte ließe sich durch eine ganze Reihe von Städten ergänzen, deren Entwicklung ähnlich verlief und die zu Paris und Berlin zu diesem Zeitpunkt in einem engen Austausch- und Konkurrenzverhältnis standen. Die Geschichte des Tango würde hierdurch um einige Schauplätze bereichert und die spezifischen Aneignungsformen in lokalen Kontexten charakterisiert werden. Gleichwohl würde es sich bei einer solchen Erweiterung doch immer nur um weitere Schlaglichter handeln, die sich auch in anderen vergleichenden Arbeiten zur Kultur der Metropole geographisch häufig auf die westliche Hemisphäre beschränken. Diese Untersuchung zielt jedoch gerade mit dem Verzicht auf ein vergleichendes Nebeneinander vieler Schauplätze und der bewussten Reduktion auf zwei Metropolen auf eine exemplarische und damit gleichsam modellhafte Erkenntis. Der Prozess der Aneignung des Tango in Paris und Berlin hat die Erfahrung des Wandels der Metropolenkultur aufgezeigt und die Notwendigkeit der Suche nach neuen Handlungsentwürfen verdeutlicht. Dadurch standen sowohl die Auseinandersetzung mit der Welt als auch die vielfältigen Austauschprozesse der Städte untereinander im Mittelpunkt des Interesses. In diesem Sinne zielt die Arbeit auch weniger auf die Suche nach Erklärungen für die beobachteten Unterschiede oder Gemeinsamkeiten. Sehr viel mehr ging es um das Aufzeigen von Kommuni17 Lees u. Lees, Cities and the Making of Modern Europe, S. 251. 18 Vgl. Bailey, Culture and Performance.

Metropolen als Portale kultureller Transfers

kation und Austausch auf der einen sowie Abhängigkeiten, Konkurrenz und Machtkonstellationen auf der anderen Seite – mithin um eine verflochtene Geschichte der Metropolenkultur dieser beiden Städte. Die Prozesse, die hier am Beispiel des Tango aufgezeigt wurden, stehen in vielerlei Hinsicht beispielhaft für eine Kultur der Metropole, die um die Jahrhundertwende als transnational zu begreifen ist. In jüngster Zeit hat eine globalhistorische Forschung die Aufmerksamkeit für Prozesse geschult, die aus einer zunehmenden Verflechtung der Welt resultierten und seit der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts in Form von transnationalen Netz­ werken und Organisationsformen in den Städten verdichtet zu beobachten waren. Auf dieser Grundlage hat sich diese Arbeit der populären Kultur der Metropole zugewendet. Am Beispiel des Tango konnte sowohl auf die internationale Zirkulation von Programmen und die zunehmende Mobilität von Künstlerinnen und Künstlern hingewiesen als auch die damit einhergehende Suche nach einheitlichen Regelungen, internationaler Zusammenarbeit sowie nach neuen Deutungsmustern aufgezeigt werden. Die Herausforderungen und auch die Konflikte die mit dem Transfer des Tango einher gingen, wurden nicht innerhalb einzelner Städte, sondern in einer transnationalen Arena ausgehandelt und spiegelten die engen Beziehungen der Metropolen untereinander. Die Arbeit plädiert dafür, Metropolenkultur als Kultur zwischen den Metropolen zu begreifen. Eine solche Konzeption ermöglicht es, den Fokus auf die Defizitwahrnehmungen, die einen Transfer auslösten und die Funktionen, die dem Transfer innerhalb einer Konkurrenz der Metopolen untereinander zugewiesen wurden, zu richten. In den Metropolen der Jahrhundertwende verdichteten sich diese Prozesse des kulturellen Austausches und der Verflechtung. Als capitales culturelles zeichneten sie sich gerade durch die Akkumulation von Institutionen und zentralen Funktionen aus, die an der symbolischen Produktion kultureller Repräsentationen teilhatten.19 Die Arbeit hat ihren Fokus vor allem auf die populäre Kultur der Metropole gerichtet und gezeigt, welcher Bedeutungszuwachs diesen neuen Phänomenen der Unterhaltungskultur in den Städten gegenüber hochkulturellen Formen zukam. Die populäre Kultur, und damit auch der Tango, spielte für die Inszenierung der Metropolen als Weltstädte um die Jahrhundertwende eine zentrale Rolle. Sie war im Vergleich der Metropolen untereinander zu einem wichtigen Faktor der Konkurrenz um den Ruf als »Hauptstadt des Vergnügens« geworden. Die gesellschaftlichen Aus19 Charle, Le temps des capitales culturelles, S. 15.

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einandersetzungen mit der populären Kultur bedeuteten also immer auch ein Ringen um Deutungsmacht und kulturelle Dominanz in einem internationalen Kontext und gingen damit weit über die Notwendigkeit bloßer Neudeutungen innerhalb eines nationalen Rahmens hinaus. Paris suchte seinen Ruf als »Hauptstadt des 19.  Jahrhunderts« gerade durch die Fähigkeit der Integration der Welt in der Stadt zu konsolidieren. Mit der Politik der »Französierung des Tango« schuf Paris eine mächtige Vorlage, an der sich vor allem Berlin im Folgenden orientierte. Auf diese Weise wertete Paris die eigene Metropolenkultur durch einen Transfer von außen auf und sicherte damit auch die eigene Führungsposition ab. Für Berlin hingegen konnte vor allem die Suche nach Deutungsmustern für die Erfahrung der Metropolenkultur im Inneren und eine Aufholjagd gegenüber den »alten« Metropolen Paris und London aufgezeigt werden, die sich auf die Rezeptionsformen des Tango auswirkten. Die Tangobefürworter argumentierten für das Erlernen des Tanzes als einer genuin städtischen Fähigkeit und erklärten den kulturellen Transfer des Tango zu einer Notwendigkeit, die die Defizitwahrnehmung der eigenen metropolitanen Kultur ausgleichen sollte. Darüber hinaus spiegelte sich in dem Aneignungsprozess des Tango vor allem auch die Konkurrenz gegenüber Paris und der Versuch Berlins, eigene kulturelle Formen zu entwerfen, die sich nicht an der französichen Metropole messen lassen mussten. Der kulturelle Transfer des Tango ging in beiden Städten mit Lernprozessen einher, die die Herausforderungen einer neuen Metropolenkultur verarbeiteten. In diesem Sinne hat die Arbeit Metropolen als Orte der Transformation gezeigt, die jeweils auf ihre Weise auf eine zunehmende globale Verflechtung reagierten. Eine solche Zugangsweise über einen kulturellen Transfer bezieht sich nicht auf eine abstrakte Vorstellung der Stadt als Akteur, sondern zeigt demgegenüber eine Vielzahl von Akteuren auf, die an einem solchen Projekt beteiligt waren. In den capitales culturelles mussten kulturelle Repräsentationen immer wieder bestätigt und erneuert werden, damit eine Inszenierung nach außen gelingen konnte. Auf diese Weise offenbart sich die Funktion von Metropolen als Portale, die nicht nur in quantitativer Hinsicht Knotenpunkte bzw. Orte der Verdichtung darstellten, sondern vor allem in qualitativer Hinsicht zentrale Orte des Lernens, der Kontrolle und der Kompetenz im Umgang mit den Herausforderungen durch die Erfahrung der Welt in der Stadt wurden.

Quellen- und Literaturverzeichnis

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