Wunschkinder: Eine transnationale Geschichte der Familienplanung in der Bundesrepublik Deutschland [1 ed.] 9783666356971, 9783525366975, 9783525356975

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Wunschkinder: Eine transnationale Geschichte der Familienplanung in der Bundesrepublik Deutschland [1 ed.]
 9783666356971, 9783525366975, 9783525356975

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Claudia Roesch

Wunschkinder Eine transnationale Geschichte der Familienplanung in der Bundesrepublik Deutschland

Kulturen des Entscheidens Herausgegeben von Jan Keupp, Ulrich Pfister, Michael Quante, Barbara Stollberg-Rilinger und Martina Wagner-Egelhaaf Band 7

Claudia Roesch

Wunschkinder Eine transnationale Geschichte der Familienplanung in der Bundesrepublik Deutschland

Vandenhoeck & Ruprecht

Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummer 252080619 – SFB 1150

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2022 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Laden, Murray, Wanted … Every Baby Should Be, Planned Parenthood Federation of America Records II, Sophia Smith Library, Smith College Northampton, Box 25.21, © Planned Parenthood Federation of America. Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de Umschlaggestaltung: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2626-4498 ISBN (Print) 978-3-525-36697-5 ISBN (PDF) 978-3-666-35697-1 https://doi.org/10.13109/9783666356971

Dieses Material steht unter der Creative-Commons-Lizenz Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International. Um eine Kopie dieser Lizenz zu sehen, besuchen Sie http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/.

Inhalt

Einleitung: Familienplanung als transnationale Geschichte . . . . . . . . 7 1. Margaret Sanger, Hans Harmsen und die Sexualreformbewegung in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus . . . . . . . . . 30 2. »Freedom through Knowledge.« Die Familienplanung als amerikanisches Konzept in der globalen Überbevölkerungsdebatte . . . . . . . . . . . . . . . . 55 3. »Jedes Kind soll ein Wunschkind sein.« Die Gründung der Pro Familia in Westdeutschland . . . . . . . . . . . 81 4. »Bessere Chancen für weniger Nachkommen.« Sterilisierungen und Familienplanung für Minderheiten und arme Familien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 5. Eine »süße und bittere Frucht zugleich.« Die Anti-Baby-Pille in den 1960er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 6. »Wir sind gegen unseren Willen zu Experten in Verhütungsfragen geworden.« Kontroversen zwischen Ärzt*innen und Feminist*innen über Verhütungsmittel . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 7. »Dem mündigen Bürger Entscheidungshilfen zu geben.« Planned Parenthood, Pro Familia und die Abtreibungsreform der 1970er Jahre  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 8. »Im Härtefall eine Waschmaschine.« Die Anti-Abtreibungsbewegung und die Schwangerschafts­ konfliktberatung in den 1980er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Fazit: »Kinder wünschen, Kinder kriegen, Kinder haben.« Der Wandel des reproduktiven Entscheidens von 1952 bis 1992 . . . . . . 280 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297

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Inhalt

Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317

Einleitung: Familienplanung als transnationale Geschichte

»Unsere Kinder sollen Wunschkinder sein« – so lautete 1972 der Name einer Kampagne zur Sexualaufklärung des Bundesministeriums für Jugend, Familie und Gesundheit in Kooperation mit Pro Familia, der (west-)deutschen Gesellschaft für Familienplanung.1 Das Ideal des Wunschkindes konnte man in der Bundesrepublik der 1960er und 1970er Jahre fast überall antreffen. Es tauchte in dem Slogan »Jedes Kind soll ein Wunschkind sein« der Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung (BZgA) auf, genauso wie in der Liste der Forderungen der berühmten Kampagne »Wir haben abgetrieben« gegen den Paragraphen 218.2 Es gab 1964 Vorschläge, die Anti-Baby-Pille als »Wunschkindpille« zu vermarkten, was in der DDR tatsächlich zum Markennamen für orale Kontrazeptiva werden sollte.3 Das Wunschkind war 1962 zentral für die Forderung der Legalisierung der Abtreibung im Falle einer Vergewaltigung und wurde ab 1968 zum Hauptargument der Familienplanungsorganisation Pro Familia in ihren Forderungen nach gesetzlicher Regulierung der Sterilisation und Abtreibung. Das Wunschkind war das positive Gegenmodell zum ungewollten Kind. Letzteres hatten amerikanische Familienplaner*innen in den 1940er Jahren mit Rückgriff auf psychoanalytische Modelle der frühkindlichen Entwicklung als innere Gefahr für die Gesellschaft ausgemacht. Ungewollte Kinder waren ungeliebte Kinder, die zukünftige Kriminelle oder gar Despoten werden konnten. Das Wunschkind hingegen würde geliebt werden und zu einem vollwertigen Mitglied der Gesellschaft heranzuwachsen. Zwar stammte der Begriff Wunschkind aus dem gleichnamigen Roman der Schriftstellerin Ina Seidel von 1930, in dem sie die »Ideologie der deutschen Mutter« des Nationalsozialismus propagierte,4 dennoch entwickelte er sich zu einem zentralen Konzept jeglicher 1 Vgl. Focke, Katharina, Gesamtreform § 218 – Strafrechtsänderung und sozial ergänzende Maßnahmen, in: Wehner, Herbert (Hg.), Frau Abgeordnete, Sie haben das Wort! Bundestagsreden sozialdemokratischer Parlamentarierinnen 1949 bis 1979, Bonn 1980, S. 179–189, hier S. 183. 2 Schwarzer, Alice, Wir haben abgetrieben, in: stern 24 (1.06.1971) H. 24, S. 16–24, hier S. 17. 3 Vgl. Leo, Annette / König, Christian, Die »Wunschkindpille«. Weibliche Erfahrung und staatliche Geburtenpolitik in der DDR , Göttingen 2015. 4 Vgl. Bergmann, Sven, Wunschkind, in: Netzwerk Körper (Hg.), What Can A Body Do? Figurationen des Körpers in den Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main / New York 2012, S. 236–242, hier S. 236–237. Der Roman handelt von der Ehefrau eines preußischen Soldaten während der napoleonischen Kriege, deren erster Sohn stirbt und die ihren Mann bitten, mit ihr ein weiteres Kind zu zeugen, bevor er wieder in den Krieg zieht. Tatsächlich wird sie schwanger und gebährt einen zweiten Sohn, das Wunschkind, während ihr Ehemann in der Schlacht stirbt. Laut gängigen Interpretationen des Romans hat das

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Debatten um reproduktive Rechte in der Nachkriegszeit.5 Da es in dem konservativen Klima der frühen Bundesrepublik nicht möglich war, Reproduktion als Frage des Selbstbestimmungsrechts der Frau zu diskutieren, war das Wunschkind eine positiv konnotierte Figur, auf die sich alle beziehen konnten. Vom reformierten Eugeniker bis hin zur militanten Feministin gab es einen gesellschaftlichen Konsens, dass Kinder geplant und erwünscht sein sollten. Das Wunschkindprinzip setzte voraus, dass Eltern sich bewusst für ein Kind entscheiden konnten. Dennoch ist gerade der Weg zur Elternschaft ein von Kontingenz und Unsicherheiten geprägtes Unterfangen. Selbst in der heutigen Zeit gehen Schätzungen davon aus, dass etwa die Hälfte aller Schwangerschaften in den USA unbeabsichtigt entstehen.6 Auch nahmen Expert*innen schon in den 1950er Jahren an, dass etwa 10 Prozent aller Paare ungewollt kinderlos blieben.7 Die Säuglings- und Muttersterblichkeitsraten waren seit 1900 stetig gesunken, aber zur Mitte des 20. Jahrhunderts immer noch so hoch, dass Schwangerschaften und illegale Abtreibungen ein Risiko für die Gesundheit einzelner Frauen und gesellschaftliche Wohlfahrtsausgaben darstellten. Genau um diese Risiken zu beherrschen, setzten Ärzt*innen, Sozialarbeiter*innen und Bevölkerungsplaner*innen auf die Aufklärung über menschliche Fortpflanzung, Erbkrankheiten und Verhütungsmethoden. Auch förderten sie die Entwicklung und Verbreitung sicherer, einfach anzuwendender Verhütungsmittel und be­tonten die Bedeutung von Freiwilligkeit, Verantwortung und Entscheidungsrechten sowie Pflichten in der Planung der eigenen Familie. Die Kampagnen zur Verbreitung der Familienplanung waren eingebettet in die christliche Moralvorstellung und das soziale Aufstiegsnarrativ der weißen amerikanischen Mittelschicht, wurde aber bald handlungsleitend für die globale Bevölkerungspolitik der Nachkriegszeit. Sie wurden von zivilgesellschaftlichen Wunschkind keine besonderen Eigenschaften, sondern diente nur als Instrument der Protagonistin, um ihre Rolle als deutsche Mutter trotz des Todes ihres Ehemanns und ersten Sohnes auszufüllen, vgl. Cardinal, Agnès, Women’s Writing under National Socialism, in: Catling, Jo (Hg.), A History of Women’s Writing in Germany, Austria and Switzerland, Cambridge 2000, S. 146–158, hier S. 146. 5 Karen Hagemann weist nach, dass der Begriff um 1930 auch in Presseberichten zu Hamburger Arbeiterfamilien, die ihre Kinderzahl beschränken wollten, verwendet wurde, vgl. Hagemann, Karen, Frauenalltag und Männerpolitik. Alltagsleben und gesellschaftliches Handeln von Arbeiterfrauen in der Weimarer Republik, Bonn 1990, S. 196. 6 Laut dem Alan Guttmacher Institut, einem Forschungsinstitut, welches mit Planned Parent­hood assoziiert ist, waren 2011 45 Prozent aller Schwangerschaften in den USA ungeplant. Vgl. N. N., Fact Sheet Unintended Pregnancy (September 2016), online Zugriff: https://www.guttmacher.org/fact-sheet/unintended-pregnancy-united-states, letzter Zugriff: 06.02.2018. 7 Vgl. Godfried, Milton S., Procedures in Infertility, in: Planned Parenthood (Ed.), Infertility and Adoption. Two Papers Read at the National Conference of Social Work 1950 (Broschüre 1951), in: Planned Parenthood Federation of America Records II , Sophia Smith Collection, Smith College, Northampton, Mass. (im folgenden zitiert als »PPFA Records II«), Box 12.14, S. 1.

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Organisationen, wie der Planned Parenthood Federation of America und der Pro Familia  – Deutsche Gesellschaft für Ehe und Familien e. V., verbreitet. Daraus entstand nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs eine transnationale Bewegung zur Propagierung der geplanten Elternschaft, die sich personell und ideologisch aus der amerikanischen Birth-Control-Bewegung und der Sexualreformbewegung der Weimarer Republik speiste. Familienplaner gingen davon aus, dass die Zeugung eines Wunschkindes eine zuverlässige Angelegenheit werden konnte, vorausgesetzt die Familien hatten Zugang zu sicheren Verhütungsmitteln und Wissen über ihre Anwendung. Unter dem Begriff Familienplanung wird hier ein Konzept verstanden, dass in den 1940er und 1950er Jahren in der amerikanischen Planned Parenthood Fed­ eration entwickelt wurde. Dieses besagte, dass Paare schon von Beginn ihrer Ehe an planen sollten, wie viele Kinder sie haben wollten und sich finanziell leisten konnten. Auch der Abstand zwischen zwei Geburten sollte durch die Nutzung von Verhütungsmitteln gesteuert werden. Damit unterscheidet sich das Konzept der Familienplanung von der Geburtenkontrolle, welche die Anzahl der Kinder in Arbeiterfamilien erst begrenzen wollte, wenn schon genug da waren.8 Die Familienplanung wird hier folglich nicht als der Weg zum Kinde verstanden, den Familien tatsächlich einschlugen, sondern als ein Konzept zur bewussten und zukunftsorientierten Planung von Wunschkindern, welche ein transnationales Netzwerk an Sozialarbeiter*innen, Ärzt*innen sowie Bevölkerungsplaner*innern propagierte. Kinderkriegen war nicht allein Teil individueller Selbsterfüllung, Repro­ duktion diente genauso als Garantie des Fortbestands der Nation.9 Familienplanung umfasst daher nicht allein die Umsetzung individueller Wünsche, sondern auch gesellschaftliche Implikationen, wie etwa die Sorge vor Überbevölkerung, eugenisches Denken oder sinkende Geburtenraten.10 Sexualität konnte im Zeitalter der modernen gesellschaftlichen Steuerung nicht privat bleiben.11 Im frühen 20. Jahrhundert begriffen Expert*innen sowohl in demokratischen wie 8 So verwendet Hagemann die Begriffe Familienplanung und Geburtenkontrolle anarchronistisch als Synonyme, um die Wünsche von Familienvätern in der Weimarer Republik zu beschreiben, keine weiteren Kinder mehr zu bekommen. Jedoch, so zeigt Kapitel 2 dieser Arbeit, kam es zwischen 1935 und 1942 zu einer semantischen und diskursiven Verschiebungen von dem Begriff der Geburtenkontrolle zur Familienplanung, vgl. Hagemann, Frauenalltag, S. 198–199. 9 Vgl. Nagel, Joane, Masculinity and Nationalism. Gender and Sexuality in the Making of Nations, in: Ethnic and Racial Studies 21 (1998), S. 242–269, hier S. 252–253. 10 Zu den Kontinuitäten von eugenischen Denken in der Nachkriegsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, siehe unter anderem Hahn, Daphne, Modernisierung und Biopolitik. Sterilisation und Schwangerschaftsabbruch in Deutschland nach 1945, Frankfurt am Main 2000; Herzog, Dagmar, Unlearning Eugenics. Sexuality, Reproduction and Disability in Post-Nazi-Europe, Madison 2018. Die Historiographie zur Eugenik wird in Kapitel 1 dieses Bandes ausführlicher diskutiert. 11 Konzepte moderner Gesellschaftsplanung und Steuerung werden im späteren Teil dieser Einleitung diskutiert.

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auch in totalitären Staaten es als eine Notwendigkeit, die unerwünschte Fortpflanzung von Minderheiten und der urbanen Unterschicht zu kontrollieren und zu regulieren. Zwangsmaßnahmen, wie eugenische Sterilisationen, wurden im sozialdemokratischen Schweden oder den US -Bundesstaaten Kalifornien und Indiana genauso durchgesetzt, wie im Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses im nationalsozialistischen Deutschland.12 Zugleich sollte die Fortpflanzung erwünschter Bevölkerungsteile durch Verbote der Abtreibung und Einschränkungen des Verkaufs und der Werbung für Verhütungsmittel gesteigert werden.13 Erst das Bekanntwerden der nationalsozialistischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit forderte in liberalen demokratischen Gesellschaften langsam eine Abkehr von der Eugenik.14 Wie konnte nun in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts etwas so Essentielles wie der Nachwuchs der Nation bewusst gesteuert werden, ohne zwangsweise in die Persönlichkeitsrechte der eigenen Bevölkerung einzugreifen? Diese Frage stellten sich professionelle Akteure auf Ebene der Zivilgesellschaft in der Nachkriegszeit. Diese Expert*innen agierten nicht im Auftrag einer staatlichen Regierung, beanspruchten aber aufgrund ihrer akademischen Ausbildung und institutionellen Anbindung aktiv an der Gestaltung der Gesellschaft, in der sie lebten, teilzuhaben.15 Da sie jedoch staatliche Politik umsetzten, etwa indem 12 Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses wurde schon 1932 in einer Kommission des preußischen Landtags geplant, erfuhr jedoch erst nach der nationalsozialistischen Machtergreifung die Verschärfung, die auch Zwangssterilisationen erlaubte, vgl. Bock, Gisela, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik, Opladen 1986, S. 87, siehe auch Kapitel 2 dieses Bandes. 13 Vgl. Ebd., S. 149. 14 Laut Zoë Burkholder gab es seit etwa 1939 eine explizite Ablehnung der nationalsozialistischen Rassenideologie in der amerikanischen Bevölkerung. Die Euthanasiemorde wurden laut Thorsten Noack seit der ersten Jahreshälfte 1941 in der amerikanischen Presse veröffentlicht, aber zunächst nicht mit der eigenen Eugenik in Verbindung gebracht, vgl. Noack, Thorsten, NS -Euthanasie und internationale Öffentlichkeit. Die Rezeption der deutschen Behinderten- und Krankenmorde im Zweiten Weltkrieg, Frankfurt am Main 2017, S. 102 und 108; Burkholder, Zoë, Color in the Classroom. How American Schools Taught Race, 1900–1954, Oxford 2011, S. 100; Kline, Wendy, A New Deal for the Child. Ann Cooper Hewitt and Sterilization in the 1930s, in: Currell, Susan / Cogdell, Christina (Hg.), Popular Eugenics. National Efficiency and American Mass Culture in the 1930s, Athens 2006, S. 17–43, hier S. 19. 15 Unter Sozialexpert*innen werden nach Lutz Raphael und Ariane Leendertz akademisch ausgebildete Humanwissenschaftler*innen mit Entscheidungsbefugnis und institutioneller Anbindung verstanden, deren Expertenstatus sich erst aus Fachwissen, beruf­ licher Position und institutioneller Einbindung ergab, vgl. Raphael, Lutz, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 165–193, hier S. 167; Leendertz, Ariane, Experten. Dynamiken zwischen Wissenschaft und Politik, in: Reinecke, Christiane / Mergel, Thomas (Hg.), Das Soziale Ordnen. Sozialwissenschaften und gesellschaftliche Ungleichheit im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2012, S. 337–370, hier S. 344.

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sie Konfliktberatung für ungewollt Schwangere anboten, standen sie an der Schnittstelle zwischen staatlicher und privater Wohlfahrtsfürsorge. Für die Aktivist*innen der Familienplanung stand fest, dass Familie etwas war, was aktiver Planung und Willen zum verantwortungsvollen Entscheiden bedurfte. Wie genau diese Entscheidung zustande kam, auf welche Ressourcen zurückgegriffen werden konnte und wer überhaupt die letztendliche Entscheidung treffen sollte, darum drehten sich die großen Kontroversen der Reproduktionsgeschichte im 20. Jahrhundert: Sollten Frauen über ihren Körper selbst entscheiden dürfen, wenn es um die Frage der legalen Abtreibung ging? Sollten sie ein passendes Verhütungsmittel selbst auswählen oder sich auf die Empfehlung ihrer Ärztin oder ihres Arztes verlassen? Welche Informationen über Nebenwirkungen der Anti-Baby-Pille sollten Patientinnen erhalten? Sollten Unverheiratete überhaupt Zugang zu Informationen und Verhütungsmitteln haben? Dieses Buch untersucht die Ausbreitung des Konzepts der Familienplanung in der Bundesrepublik Deutschland an Hand der Pro Familia e. V. Es handelt sich nicht um eine sozialgeschichtliche Abhandlung über den Wandel der Wege zur Elternschaft in deutschen Familien, sondern beschreibt die Geschichte der Initiativen zur Förderung geplanter Elternschaft in Westdeutschland nach 1945, auf die durch eine Untersuchung der Pro Familia als wichtigste zivilgesellschaftliche Institution der Familienplanung zugegriffen wird. Dieses Buch fragt daher, wie sich im 20. Jahrhundert die institutionellen Rahmenbedingungen für Elternschaft durch Legalisierungsprozesse, Experteninterventionen und die Verbreitung des reproduktiven Wissens wandelten. Es verfolgt dabei zwei Forschungsansätze: Erstens untersucht es die transnationale Produktion, Zirkulation und Institutionalisierung des Wissens über das Konzept der Familienplanung, um herauszufinden, wie zivilgesellschaftliche Aktivist*innen in der Bundesrepublik Deutschland vermehrt Elternschaft entscheidbar machten. Zweitens fragt es, wie sich gesellschaftliche Konzeptionen zur Unterstützung der Familienplanung mit dem technologischen, rechtlichen und medialen Wandel verschoben haben. So lässt sich die die Geschichte der Familienplanung in der Bundesrepublik Deutschland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Geschichte eines lokalen Vereins mit transnationalen Wurzeln erzählen, dessen Entwicklung gesamtgesellschaftliche Wandlungsprozesse widerspiegelt. Die Verflechtungen Pro Familias zur amerikanischen Planned Parenthood Federation wurden ins Zentrum der Analyse gestellt, da es einen engen intellektuellen und finanziellen Austausch zwischen Expert*innen beider Organisationen gab, die die Gründung einer Familienplanungsorganisation in der Bundesrepublik Deutschland erst ermöglichten. Da sich rechtliche Rahmenbedingen und gesellschaftliche Grundvoraussetzungen in den USA und der Bundesrepublik jedoch grundlegend unterschieden, wird an einigen Stellen dieses Buches ein Vergleich zwischen der Ist-Situation und den politischen Entwicklungen beider Länder gezogen. Auch bedarf es dazu einem Kapitel, welches die Entwicklungen in den USA der Nachkriegszeit erklärt, um so zu erläutern, wie ein genuin ame-

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rikanisches Konzept der planbaren Familie in das kriegszerstörte Deutschland übersetzt wurde (Kapitel 2). Nationale Familienplanungsorganisationen nahmen eine Gate-KeeperFunktion in der Verbreitung reproduktiven Wissens ein und bildeten in ihren Kampagne gesamtgesellschaftliche Wandlungsprozess ab. Sie vernetzten Expert*innen und engagierte Laien über den Atlantik hinweg. Auch verbreiteten sie neueste Erkenntnisse der wissenschaftlichen Forschung in der breiten Öffentlichkeit und gaben sie in den Beratungsstellen Informationen an betroffene Frauen weiter. So liefen alle Debatten, etwa über die Familienplanung als Konzept, die Verfügbarkeit und die Nebenwirkungen der Anti-Baby-Pille, sowie das Für und Wider einer Liberalisierung der Sterilisation und Abtreibung in den internen Dokumenten und Publikationen der Pro Familia zusammen. Sowohl Pro Familia als auch Planned Parenthood sind in einer Bundesgeschäftsstelle und Landes- und Ortsverbänden organisiert, die Beratungsstellen und ambulante Frauengesundheitskliniken betreiben. Pro Familia ist auch heute noch ein gemeinnütziger Verein, während Planned Parenthood seit 1971 als Corporation eingetragen ist. Die Bundesgeschäftsstellen koordinierten in beiden Fällen Kampagnen, bündelten wissenschaftliche Erkenntnisse und beteiligten sich an medialen Debatten und Gesetzesreformen. Eine ihrer wichtigsten Tätigkeiten war das Informieren der Öffentlichkeit über Broschüren und Interviews in der Tages- und Wochenpresse. Diese Kampagnen funktionierten als Werbung für bewusste Familienplanung. Um eine breite Öffentlichkeit zu erreichen, bezogen sie sich auf allgemeingültige Werte.16 Deshalb lässt sich anhand ihrer Publikationen ein Wandel bevorzugter Werte einer Gesellschaft nachzeichnen. Zusätzlich zu den Broschüren bieten die internen Korrespondenzen Einblicke in die Art und Weise, wie die Organisationen neue Ideen platzierten und auf aktuelle Debatten und rechtliche Änderungen reagierten. Beide Organisationen stellten in ihrer Doppelfunktion zwischen politischem Lobbyismus und medizinischer Beratungstätigkeit eine Schnittstelle zwischen der Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse und ihrer praktischen Um­ setzung dar. Der transatlantische Austausch über reproduktives Wissen erfolgte durch beide Organisationen und ihre internationale Dachorganisation, die International Planned Parenthood Federation (IPPF), bzw. über Einzel­ personen, die mit einer der beiden Institutionen affiliiert waren. Die Akten des Planned Parenthood National Headquarters und des Pro-Familia-Verbandsarchivs sowie die Nachlässe Margaret Sangers und des Pro-Fa16 Werte werden in diesem Band der soziologischen Wertewandelsforschung folgend als ein Aushandlungsprozess »zwischen einer Privilegierung materieller Werte und kollektiver Sicherheit gegenüber der Förderung immaterieller und individualistischer Pluralisierung« definiert, ohne dabei eine gradlinige Entwicklung von kollektiven Werten hin zu mehr individualistischen Werten vorauszusetzen. Zur soziologischen Wertewandelsforschung siehe Rödder, Andreas, Werte und Wertewandel: Historisch-politische Perspektiven, in: ders. / Elz, Wolfgang (Hg.), Alte Werte – Neue Werte. Schlaglichter des Wertewandels, Göttingen 2008, S. 9.

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milia-Mitgründers Hans Harmsen dienen als Hauptquellen für die hier vorliegende Studie. Die Planned-Parenthood-Akten werden durch die Nachlässe der National Organization for Women (NOW), National Abortion Rights Action League (NARAL) und dem Boston Women’s Health Book Collective (BWHBC), die mit Aktivist*innen auf deutscher Seite im Kontakt standen, ergänzt. Die amerikanische Anti-Abtreibungsbewegung wird durch die Akten, die im Zuge des Prozesses NOW vs. Scheidler et al. (1986–1994) in die Bestände der NOW gelangten, sowie Beschwerdebriefe der deutschen »Lebensschutzbewegung« an Pro Familia erschlossen. Für die Sexualaufklärung und Schwangerschaftskonfliktberatung in der Bundesrepublik wurden auch Bestände der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung gesichtet. Presseartikel wurden nicht systematisch ausgewertet, aber mit in die Analyse einbezogen, wenn sie von den Organisationen gesammelt und weiterverbreitet wurden. Die USA der frühen Nachkriegszeit verstanden sich als Vorreiter einer liberalen, modernen Gesellschaftsordnung und es gab einen Konsens zwischen der Mehrheit der Mediziner*innen und protestantischen und liberalen jüdischen Klerikern über die Sinnhaftigkeit verantwortungsbewusster Familien­ planung. Sowohl der Aufstieg der suburbanen Mittelschicht als auch ein spürbarer Antikatholizismus der frühen Nachkriegsjahre bedingten großen Zuspruch für Maßnahmen zur Ehe- und Familienberatung. Wie die Historikerin Elaine Tyler May schon 1989 gezeigt hat, galt im Kontext des kalten Krieges die (geplante) Kernfamilie mit arbeitendem Vater, Hausfrau und Mutter mit zwei bis drei Kindern als Bollwerk gegen den Kommunismus.17 Zeitgleich entstand eine große zivilgesellschaftliche Bewegung aus Expert*innen, Familienberater*innen und Eugeniker*innen zur Bekämpfung des globalen Bevölkerungswachstums, welche vermehrt auch die eigenen nicht-weißen Unterschichten in den Blick nahm. Während dies einerseits die Entwicklung der Anti-Baby-Pille vorantrieb, entstanden ab den frühen 1960er Jahren wieder Debatten um Zwang und Freiwilligkeit bei der Nutzung hormoneller Verhütung und weiblicher Sterilisation. Die amerikanische Frauenbewegung übernahm ab 1968 die Vorreiterrolle in der Forderung nach reproduktiven Rechten, also den Rechten einer Frau selbst über ihren Körper und eine Schwangerschaft zu entscheiden. Mit dem Aufstieg des evangelikalen Christentums seit den 1970er Jahren18 und der lautstarken Anti-Abtreibungsbewegung19 folgte in den 1980er Jahren ein kon17 Vgl. May, Elaine Tyler, Homeward Bound. American Families in the Cold War Era, New York ²1999, S. XXI . 18 Evangelikalen Christen legen die Bibel wörtlich aus und lehnen moderne Bibelinterpretationen ab, vgl. Williams, Daniel K., Defenders of the Unborn. The Pro-Life Movement before Roe v. Wade, Oxford 2016, S. 67 u. 144. 19 Da die Bezeichnung »Pro-Life-Movement« für Gegner legaler Abtreibungen eine problematische Selbstbeschreibung ist, werden diese als Anti-Abtreibungsbewegung bezeichnet. Die Begriffe »Right-to-Life« und »Lebensschützer« werden nur in den Kontexten benutzt, in denen es um die Benennung bestimmter, feststehender Organisationen geht.

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servativer Rückschritt, in welchem Mutterrechte, Entscheidungsfreiheit und das Personenrecht des ungeborenen Fötus neu verhandelt wurden. Die Präsidentschaft Bill Clintons von 1993 bis 2000 schien konservativen Kräften zunächst den Wind aus den Segeln zu nehmen. Kontroversen der 2000er Jahre, etwa um die Finanzierung von Planned Parenthood, sogenannter Heartbeat Bills oder TRAP-Laws zur Einschränkung des Zugangs zu Abtreibungskliniken, zeigen jedoch, dass diese Aushandlungsprozesse über die gesellschaftliche Anerkennung der legalen Abtreibung noch nicht ausgestanden sind.20 In der Bundesrepublik der 1950er Jahre herrschte im Gegensatz zu den USA ein konservativer Grundkonsens, wonach sich alle gesellschaftlichen Gruppen von der Bevölkerungspolitik des Nationalsozialismus so weit wie möglich distanzieren wollten, aber gleichzeitig auch nicht zu Verhältnissen der Weimarer Republik, in der die Frauenbewegung und linke Parteien eine Abschaffung des Abtreibungsverbots gefordert hatten, zurückkehren wollten. Stattdessen fand zunächst eine Rückbesinnung auf eine konservative Sexualmoral statt, mit der sich christliche Aktivist*innen der frühe Bundesrepublik von den sexuell permissiven Tendenzen des Nationalsozialismus abzugrenzen versuchten.21 So sollte laut Bundeskanzler Konrad Adenauer »der Wille zum Kind« durch eine rückwärtsgewandte Familienpolitik gestärkt werden, die Mehrkindfamilien der Mittelschicht förderte.22 Nur eine Minderheit an Mediziner*innen und Sozialexpert*innen sprach sich zunächst für Familienplanung aus. Seit 1964 debattierten Expert*innen die Ursachen für rückläufige Geburtenraten, gleichzeitig lösten Skandale um weibliche Sterilisationen und die Strafrechtsreform der 1960er Jahre ähnliche Kontroversen aus, wie in den USA . Die 68er-Bewegung hatte in der Bundesrepublik weitreichende gesellschaftliche Folgen für die Verschiebung dessen, was in Bezug auf Sexualität öffentlich sagbar war, und die neue Frauenbewegung erreichte durch ihre Kampagnen gegen den § 218 eine Das National Right to Life Committee ist eine 1972 gegründete Vereinigung moderater, mehrheitlich katholischer Anti-Abtreibungsinitiativen in den USA , die sogenannte »Lebensschutzbewegung«, die gegen Abtreibung, assistierten Selbstmord und neue Reproduktionstechnologien protestiert, formierte sich in Westdeutschland in den 1980er Jahren. Siehe hierzu auch Kapitel 8 dieses Bandes. 20 Heartbeat Bills wollen die legale Abtreibung ab dem ersten messbaren Herzschlag des Embryos in der sechsten Schwangerschaftswoche auf Einzelstaatenebene verbieten. TRAP (Targeted Regulations of Abortion Providers) Laws sind Gesetze, die das Betreiben einer Abtreibungsklinik regeln und dabei über sicherheitsrelevante Regularien hinausgehen, um so den Zugang zu legalen Abtreibungen zu erschweren. Vgl. Alan Guttmacher Institute, Laws and Policies, Targeted Regulation of Abortion Providers (1.2.2018), online Zugriff: https://www.guttmacher.org/state-policy/explore/targeted-regulation-abortionproviders, letzter Zugriff: 06.02.2018. 21 Vgl. Herzog, Dagmar, Die Politisierung der Lust. Sexualität in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, München 2005, S. 128. 22 Vgl. Timm, Annette F., The Politics of Fertility in Twentieth Century Berlin, Cambridge 2010, S. 307; zur ideologischen Einordnung von Adenauers Forderung eines »Wille zum Kind«, siehe auch Herzog, Politisierung, S. 149.

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breite Wirkung.23 Anders als der amerikanische Supreme Court, welcher 1973 mit dem Urteil Roe v. Wade die Entscheidung für eine Abtreibung als Angelegenheit zwischen der Frau und ihrem behandelnden Arzt definierte, forderte das Bundesverfassungsgericht 1975, das Selbstentscheidungsrecht der Frau dem Lebensrecht des Embryos unterzuordnen. So können sowohl die Indikationslösung von 1976 als auch die Reform des § 218 von 1993 als Kompromisse zwischen Abtreibungsgegner*innen und Befürworter*innen der legalen Abtreibung verstanden werden. Nach aktueller Gesetzeslage ist Abtreibung nicht legal, bleibt aber nach verpflichtender Beratung innerhalb einer Frist von zwölf Wochen straffrei. Während in den USA Abtreibungsgegner*innen erst in den 1980er Jahren den Holocaust als Vergleichsobjekt für sich entdeckten, nutzen in der Bundesrepublik alle gesellschaftlichen Schichten von der katholischen Kirche bis zur Partei Die Grünen den Nationalsozialismus als negative Vergleichsfolie für ihre Ablehnung weitreichender Bevölkerungsplanung und bestimmter reproduktiver Technologien. Auch ist die gesellschaftliche Ablehnung und rechtliche Eingrenzung neuer Reproduktionstechnologien in Deutschland stärker ausgeprägt als im vergleichbaren Ausland.24 Der kurze Vergleich zwischen der Bundesrepublik Deutschland und den USA zeigt, dass in beiden Ländern trotz teilweise konträrer gesellschaftlicher Ein­ stellungen Debatten über die Zugänglichkeit von reproduktiven Technologien und deren rechtliche Rahmung zum gleichen Zeitpunkt entstanden. Aufgrund der gegensätzlichen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg repräsentieren die USA und die Bundesrepublik zwei Gesellschaften, die im gleichen politischen System von unterschiedlichen Ansätzen zum Umgang mit der Moderne und deren Herausforderungen geprägt waren. Da beide Länder eine Vorreiterrolle in der technologischen Entwicklung neuer Verhütungsmethoden einnahmen, gab es einen stetigen Austausch zwischen zivilgesellschaftlichen Expert*innen. Aufgrund des technologisch-wissenschaftlichen Wissenstransfers und der unterschied­ lichen gesellschaftlichen Voraussetzungen bieten sich diese beiden Gesellschaften als Untersuchungsgegenstand einer wissensgeschichtlichen Verflechtungsgeschichte besonders an. Sie illustrieren, wie stabil erscheinendes Wissen und 23 Um den »Wellenbegriff« der Frauenbewegung zu vermeiden, wird unter der Frauen­ bewegung die durch landesweite Organisationen institutionalisierte Suffragettenbewegung vor dem Ersten Weltkrieg verstanden. Der Begriff neue Frauenbewegung beschreibt Initiativen, die ab Mitte der 1960er Jahre entstanden. Feministischer Aktionismus zwischen diesen beiden Bewegungen soll mitnichten verdeckt werden, so werden die publizistischen Tätigkeiten zur Verbreitung der Familienplanung von Ilse Léderer und AnneMarie Durand-Wever nach dem Zweiten Weltkrieg als dezidiert feministische Aktionen verstanden, siehe hierzu Kapitel 3 dieser Arbeit. 24 So verbietet zum Beispiel das Embryonenschutzgesetz genetische Manipulation befruchteter Eizellen zu Forschungszwecken oder Eizellenspende. Letzteres wird von deutschen Frauen jedoch in Fertilitätskliniken in Tschechien oder Spanien in Anspruch genommen, siehe hierzu etwa die ethnographische Fallstudie von Bergmann, Sven, Ausweichrouten der Reproduktion. Biomedizinische Mobilität und die Praxis der Eizellenspende, Wiesbaden 2014.

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dazugehörige moralische Debatten ausgetauscht und in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten interpretiert wurden. Beiträge aus anderen Ländern werden in diesem Band nur aufgegriffen, wenn sie von Pro Familia explizit rezipiert wurden. Dies erfolgte etwa in den Debatten um Abtreibungsreisen deutscher Frauen in die Niederlande und nach Großbritannien in den frühen 1970er Jahren. Einen Sonderfall stellt dabei die DDR dar, da zum einen Pro Familia bei ihrer Gründung den Anspruch erhob, eine Vertretung für ganz Deutschland zu sein und gleichzeitig Entwicklungen in der Bundesrepublik immer wieder mit Ostdeutschland verglich. Der Rostocker Sozialhygieniker Karl-Heinz Mehlan, welcher zusammen mit der Leipziger Medizinprofessorin Lykke Aresin Ärzteschulungen anbot und 200 Ehe- und Familien­beratungsstellen aufbaute, war bis in die späten 1960er Jahre aktives Mitglied der Pro Familia und stellte für Planned Parenthood das Bindeglied nach Osteuropa dar.25 Auch waren ostdeutsche Frauen, wie Aresin, nach 1990 die Triebkraft hinter der weiteren Reform des § 218, indem sie nach der Wiedervereinigung eine Angleichung an die liberalere Fristenregelung in der DDR forderten. So wird in dieser Arbeit immer wieder auch der Blick auf Ostdeutschland gerichtet werden. Jedoch haben Annette Leo und Christian König in ihrer Monographie »Die Wunschkindpille« (2015) die Einführung der Pille und die Legalisierung der Abtreibung in der DDR schon ausführlich geschildert.26 Anstatt den Anspruch zu erheben, eine Studie zur Geschichte des gesamten Deutschlands darzustellen und dabei die gut erforschten ostdeutschen Errungenschaften stiefmütterlich zu behandeln, stellt dieses Buch bewusst nur eine Studie zum Wandel der Vorstellung von Familienplanung in der Bundesrepublik dar.

Nationalsozialistische Vergangenheit, Feminismus und die Kirchen in der Bundesrepublik Im Gegensatz zu der relativ gut erforschten Geschichte der Familienplanung in der DDR gibt es bis auf eine bisher unveröffentlichte Magisterarbeit keine Überblicksstudie zur Geschichte der Familienplanungsorganisation Pro Familia in Westdeutschland.27 Abgesehen von der Dissertation der Soziologin Daphne Hahn, die eugenisches Denken in den Debatten um Sterilisation und Abtreibung im Nachkriegsdeutschland nachzeichnet und dabei auch auf Mitglieder von Pro Familia eingeht, gibt es keine Studie, welche den historischen Entwick-

25 Vgl. Leo / König, Wunschkindpille, S. 120–121. 26 Vgl. Ebd. 27 Altmann, Michael, Der Verein »pro familia – Deutsche Gesellschaft für Ehe und Familie e. V.« von 1952 bis 1974, unveröffentlichte Magisterarbeit Universität Frankfurt am Main 2019.

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lungen innerhalb der Pro Familia nachgeht.28 Robert Jüttes Überblickstudie zur Geschichte der Empfängnisverhütung »Lust ohne Last« widmet der Familienplanung nur wenige Seiten, auf denen er in einem biographischen Ansatz Aktivist*innen vorstellt. Christiane Kullers Untersuchung zur Familienpolitik in der Bundesrepublik erwähnt die Pro Familia nur in wenigen Absätzen als Institution, die bei familienpolitischen Fragen zunächst eine untergeordnete Rolle spielten, die aber aufgrund ihrer Netzwerke ins Ausland mit der Einführung der Pille 1961 zum alleinigen Ansprechpartner in Fragen der Empfängnisverhütung werden konnte.29 Arbeiten zu einzelnen Verhütungsmitteln, etwa Eva-Maria Silies vielfältige Untersuchung zur Anti-Baby-Pille als generationelle Erfahrung und Wolfgang Königs Objektgeschichte des Kondoms, heben einzelne Mitglieder von Pro Familia und deren Rolle in der Vermarktung bestimmter Verhütungsmittel hervor.30 Kris Vera Hartmanns jüngst erschienene Dissertation zu Presseberichterstattung über die Anti-Baby-Pille untersucht einige von Pro-Familia-Mitgliedern verfasste Zeitschriftenartikel zu dem Verhütungsmittel und zeigt, dass die Rezeption der neuen Verhütungsmethode von Beginn an eingebettet war in Debatten über medizinischen Fortschritt, globale Bevölkerungspolitik, (post-)koloniale Verhältnisse auf Puerto Rico und die sogenannte »Sexwelle« der 1960er Jahre.31 Die kontroverse Rolle des Pro-Familia-Mitbegründers Hans Harmsen in der nationalsozialistischen Sterilisationspolitik hat eine Vielzahl von Studien hervorgebracht, bei denen jedoch die weiblichen Mitgründerinnen der Pro Familia und ihre feministischen Motive aus dem Blickfeld der Forschung gerutscht sind. So nennt die heute noch grundlegende Studie Gisela Bocks zur Zwangssterilisationen im Nationalsozialismus von 1986 Harmsen als einen der Akteure, die für die Umsetzung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses verantwortlich waren.32 Sabine Schleiermacher zeichnet in ihrer biographischen Studie Harmsens Karriereweg von der deutsch-nationalen Jugendbewegung zur Mitgliedschaft im Centralausschuß der Inneren Mission nach. Ihre Studie endet jedoch mit Harmsens Rücktritt aus dem Centralausschuß 1937 und be28 Hahn, Modernisierung und Biopolitik. 29 Siehe Jütte, Robert, Lust ohne Last. Geschichte der Empfängnisverhütung, München 2003, S. 246; Kuller, Christiane, Familienplanung im föderativen Sozialstaat. Die Formierung eines Politikfelds in der Bundesrepublik 1949–1975, München 2004, S. 239. Zur Rolle der Pro Familia in der Entwicklungspolitik der Bundesrepublik siehe Hartmann, Heinrich A., »In einem gewissen Sinne politisch belastet«. Bevölkerungswissenschaft und Bevölkerungspolitik zwischen Entwicklungshilfe und bundesrepublikanischer Sozialpolitik (1960er und 1970er Jahre), in: Historische Zeitschrift 303 (2016), S. 98–125. 30 Vgl. Silies, Eva-Maria, Liebe, Lust und Last. Die Pille als weibliche Generationserfahrung in der Bundesrepublik 1960–1980, Göttingen 2010; Leo / König, Wunschkindpille; König, Wolfgang, Das Kondom. Zur Geschichte der Sexualität vom Kaiserreich bis in die Gegenwart, Stuttgart 2016. 31 Vgl. Hartmann, Kris Vera, Pille Macht Diskurs. Hormornelle Kontrazeption im (post-) fordistischen Sexualitätsdispositiv, Opladen 2021, S. 34–35. 32 Vgl. Bock, Zwangssterilisation.

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trachtet nicht mehr seine Nachkriegsaktivitäten.33 Atina Grossmans Studie zur Bewegung für Geburtenkontrolle in Deutschland bis 1950 verfolgt Harmsens Engagement für Geburtenkontrolle und seine Vernetzung zu Margaret Sanger in der Weimarer Republik, endet aber vor der Gründung der Pro Familia 1952.34 Maria Daldrups vergleichende Arbeit zu Nachkriegsbiographien deutscher Bevölkerungswissenschaftler geht zwar über die Zäsur 1945 hinaus, schaut aber nur auf Harmsens akademische Karriere als Professor der Sozialhygiene an der Universität Hamburg.35 Untersuchungen zur Geschichte der Sexualität in der Bundesrepublik Deutschland haben sich vor allem mit sexualisierten Bildern in der Werbung, Skandalen um erotische Filme, Literatur und Versandhandel, oder der Rolle der sexuellen Freizügigkeit in der Studentenbewegung um 1968 beschäftigt.36 Laut der Historikerin Dagmar Herzog strebten sowohl katholische und konservative Kreise, wie auch die Student*innen der 68er-Bewegung eine Abgrenzung von der nationalsozialistischen Verknüpfung von Sexualität mit rassistisch-evaluierender Bevölkerungspolitik an.37 Verhütungsmittel spielen in diesen Studien nur als Auslöser öffentlicher Kontroversen, etwa um die Aufstellung von Kondomautomaten, eine Rolle, nicht aber als Hilfsmittel einer bewussten Familienplanung. Studien zur Abtreibung in Deutschland schauen entweder auf öffentliche Diskurse und Alltagspraktiken in der Weimarer Republik oder auf die Rolle der Frauenbewegung und die Kirchen in den Kontroversen der 1970er Jahre.38 33 Siehe Schleiermacher, Sabine, Sozialethik im Spannungsfeld von Sozial- und Rassen­ hygiene. Der Mediziner Hans Harmsen im Centralausschuß für die Innere Mission, Husum 1998. 34 Siehe Grossmann, Atina, Reforming Sex. The German Movement for Birth Control and Abortion Reform, 1920–1950, New York 1995. 35 Siehe Daldrup, Maria, Biographische Ordnungen vor und nach »1945«. Vergleichende Perspektiven auf Eugen Fischer, Hans F. K. Günther, Gunther Ipsen und Hans Harmsen, in: Etzemüller, Thomas (Hg.), Vom »Volk« zur »Population«. Interventionistische Bevölkerungspolitik in der Nachkriegszeit, Münster 2015, S. 26–51. 36 Siehe Steinbacher, Sybille, Wie der Sex nach Deutschland kam. Der Kampf um Sittlichkeit und Anstand in der frühen Bundesrepublik, München 2011; Reichardt, Sven (Hg.), Das alternative Milieu. Antibürgerlicher Lebensstil und linke Politik in der Bundesrepublik Deutschland und Europa, 1968–1983, Göttingen 2010. Zur Geschichte der Sexualität als Konsumgeschichte siehe Eitler, Pascal, Sexualität als Ware und Wahrheit. Körpergeschichte als Konsumgeschichte, in: Haupt, Heinz-Gerhard / Torp, Claudius (Hg.), Die Konsumgesellschaft in Deutschland 1890–1990. Ein Handbuch, Frankfurt am Main 2009, S. 370–388. 37 Vgl. Herzog, Politisierung, S. 199. Die nationalsozialistische Bevölkerungspolitik war nicht pronatalistisch, sondern ambivalent in der Hinsicht, als dass sie die Fortpflanzung erwünschter Bevölkerungsschichten aktiv förderte und die Reproduktion unerwünschter Schichten durch Zwangssterilisationen und Zwangseinweisungen zu verhindern suchte, vgl. Bock, Zwangssterilisation, S. 56. 38 Siehe Hagemann, Frauenalltag, S. 196–305; Usborne, Cornelie, Cultures of Abortion in Weimar Germany, New York 2007; Annette Timm geht im Abschlusskapitel ihrer Untersuchung zwar bis ins Jahr 1968, schaut jedoch nur auf die Stadt Berlin, siehe Timm, Politics, S. 2.

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Kristina Schulzes vergleichende Studie zur Frauenbewegung in Frankreich und der Bundesrepublik verfolgt, wie die Forderung nach der Freigabe der Abtreibung die westdeutsche Frauenbewegung in den Jahren 1971 bis 1976 zu einer Massenbewegung machte,39 während die Theologin Sabine Mantei die ambivalente Haltung der evangelischen Kirche zur Abtreibungsreform der 1970er Jahre nachvollzieht.40 Der Soziologe Manfred Spieker, der selbst eine christlichkonservative Haltung einnimmt, beschreibt sehr detailreich die katholische Opposition zur Reformierung der Abtreibung.41 Währenddessen untersucht die ethnologische Studie Michi Knechts die deutsche »Lebensschutzbewegung« in den 1980er und 1990er Jahren.42 Ann-Kathrin Gembries laufende Dissertation zu deutschen und französischen Parlamentsdebatten untersucht die Rolle des Wertewandels der 1970er Jahre in den Gesetzgebungsprozessen43 und Isabel Heinemann argumentiert in einem emotionsgeschichtlichen Ansatz, dass die Reform des § 218 von 1976 sowohl für Feministinnen als auch für katholische Opposition eine Enttäuschung darstellte.44 Keine dieser Studien schaut jedoch auf die zentrale Rolle, die Pro Familia in der Reform des § 218 und dem Ausbau der Schwangerschaftskonfliktberatung spielte.45 Anders als zur Bundesrepublik Deutschland gibt es eine Vielzahl an Arbeiten zum Thema Reproductive Rights in den USA .46 Jedoch gibt es auch hier bis39 Siehe Schulz, Kristina, Der lange Atem der Provokation. Die Frauenbewegung in der Bundesrepublik und in Frankreich, 1968–1976, Frankfurt am Main 2002; weitere Studien zur neuen Frauenbewegung in der Bundesrepublik sind Karcher, Katherine, Sisters in Arms. Militant Feminism in the Federal Republic of Germany since 1968, Oxford 2017 und Lenz, Ilse, »Aufbruch ins Reich der Sinne nach dem Überdruss im Käfig der Anforderungen? Der Wandel der Thematisierung von Sexualität und Körpern in der Entwicklung der Neuen Frauenbewegung in Deutschland«, in: dies. u. a. (Hg.), Reflexive Körper? Zur Modernisierung von Sexualität und Reproduktion, Wiesbaden 2004, S. 17–50. 40 Vgl. Mantei, Simone, Nein und Ja zur Abtreibung. Die evangelische Kirche in der Reformdebatte um § 218 StGB (1970–1976), Göttingen 2004. 41 Siehe Spieker, Manfred, Kirche und Abtreibung in Deutschland, Paderborn ²2008. 42 Knecht, Michi, Zwischen Religion, Biologie und Politik. Eine kulturanthropologische Analyse der Lebensschutzbewegung, Münster 2006. 43 Gembries, Ann-Katrin, Von der Fortpflanzungspflicht zum Recht auf Abtreibung. Werte und Wertewandel im Spiegel französischer Parlamentsdebatten über Geburtenkontrolle 1920–1974, in: Dietz, Bernhard u. a. (Hg.), Gab es den Wertewandel? Neue Forschungen zum gesellschaftlich-kulturellen Wandel seit den 1960er Jahren, München 2014, S. ­307–333. 44 Siehe Heinemann, Isabel, »Enttäuschung unvermeidlich«? Die Debatten über Ehescheidung, Abtreibung und das Dispositiv der Kernfamilie in der BRD, in: Gotto, Bernhard / U lrich, Anna (Hg.), Enttäuschung im 20. Jahrhundert, Berlin 2020 (im Erscheinen). 45 Siehe hierzu auch Roesch, Claudia, Pro Familia and the Reform of Abortion Laws in West Germany, 1967–1983, in: Journal of Modern European History 17 (2019) H. 3, S. 297–311. 46 Während die neue Frauenbewegung in den USA zunächst ab 1968 »Reproductive Choice« forderte, wandelte sich die Forderung ab den 1970er Jahren in »Reproductive Rights«, was die Rechte auch Nicht-Weißer Frauen betonen sollte, ihre eigene Reproduktion selbst zu bestimmen. Seit 1994 sprechen Aktivistinnen von »Reproductive Justice«, was die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit für Minderheiten und LGBQT-Gruppen

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lang keine Überblicksarbeit zur Geschichte der Planned Parenthood Federation of America.47 Zu Margaret Sanger, der Gründerin der amerikanischen BirthControl-Bewegung, sind eine Vielzahl an biographischen Arbeiten erschienen.48 Eine große Kontroverse der Forschungsliteratur dreht sich um die Frage, wie eng Margaret Sanger mit der Eugenikbewegung der Zwischenkriegszeit verbunden war. Während die Historikerin Carole McCann 1994 argumentierte, Sanger habe nur die Sprache der Eugenikbewegung übernommen,49 beschreiben die katholische Autorin Angela Franks und die Queer Rights Aktivistin Nancy Ordover aus unterschiedlichen politischen Positionen heraus Sanger als aktive Eugenikerin.50 So stellt Sanger eine kontroverse Person dar, die sowohl von rechts als auch von links angegriffen werden kann. Die Historikerin Cathy Moran Hajos zeigt, wie Sanger und die Birth-ControlBewegung strategische Allianzen zu Mediziner*innen, protestantischen und jüdischen Klerikern suchten, dabei ursprünglich feministische Forderungen ablegten und so Verhütung zu einer medizinischen Angelegenheit machten.51 Frühe feministische Studien, wie Linda Gordons Arbeiten zur Geschichte der Verhütung in Amerika, haben Planned Parenthood sehr stark für diese Zusammenarbeit sowie für ihre Konzentration auf Bevölkerungskontrolle kritisiert.52 Arbeiten zur Entstehungsgeschichte der Anti-Baby-Pille (Tyler May, Siegel-­ Watkins) zeichnen jedoch die Netzwerke nach,53 die Sanger zur Entwicklung der hormonellen Verhütung zwischen Geldgebern*innen, Wissenschaftler*innen, Pharmaunternehmen und Beratungsstellen herstellte.

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mit reproduktiven Rechten kombiniert, vgl. Solinger, Rickie, Pregnancy and Power, A Short History of Reproductive Politics in America, New York 2005, S. 179 und 189; siehe auch die Homepage der afro-amerikanischen Frauenrechtsgruppe Sister Song: http:// sistersong.net/reproductive-justice/, letzter Zugriff: 09.02.2018. Einzig die Studie Manon Parrys zur Werbung für Geburtenkontrolle im Film betrachtet Planned Parenthood in einer Langzeitperspektive, vgl. Parry, Manon, Broadcasting Birthcontrol. Mass Media and Family Planning. New Brunswick, London 2013, S. 2. Siehe unter anderem Chesler, Ellen, Woman of Valor. Margaret Sanger and the Birth Control Movement in America, New York 1992; Coates, Patricia Walsh, Margaret Sanger and the Origins of the Birth Control Movement 1910–1930, Lewiston 2008; Baker, Jean H., Margaret Sanger. A Life of Passion, New York 2011; Kennedy, David M., Birth Control in America. The Career of Margaret Sanger, New Haven 1971. McCann, Carole R., Birth Control Politics in the United States. 1916–1945, Ithaca 1994, S. 11. Vgl. Franks, Angela, Margaret Sanger’s Eugenic Legacy. The Control of Female Fertility, Jefferson 2005; Ordover, Nancy, American Eugenics. Race. Queer Anatomy and the ­Science of Nationalism, Minneapolis 2003. Moran Hajo, Cathy, Birth Control on Main Street. Organizing Clinics in the United States 1916–1939, Urbana 2010, S. 104. Siehe etwa Gordon, Linda, The Moral Property of Women. A History of Birth Control Politics in America, Urbana ³2002, S. 278. Siehe May, Elaine Tyler, America and the Pill. A History of Promise, Peril and Liberation, New York 2010; Siegel Watkins, Elizabeth, On the Pill. A Social History of Oral Contraceptives, 1950–1970, Baltimore 1998.

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Studien zu Familienplanung und Bevölkerungskontrolle im globalen Kontext stellen die Planbarkeit von Reproduktion ins Zentrum ihrer Untersuchungen, etwa indem sie Vorstellungen von Rational Choice und Behavioralismus in Familienplanungskampagnen in Indien (Corinna Unger)54 oder Kolumbien (Teresa Huhle)55 sowie die Rolle internationaler Stiftungen (Matthew Connelly), Menschenrechtsdebatten (Roman Birke)56 und transnationaler Netzwerke von Eugenikern (Stefan Kühl) analysieren.57 Connelly zufolge sorgte die Kombination aus Ängsten vor »race suicide« im Westen und Diskurse um die »gelbe Gefahr« des Bevölkerungswachstums in Asien, für den Anstieg der globalen Bevölkerungspolitik. Dabei lässt er jedoch die Interessen lokaler Aktivist*innen außen vor, die sich in der Verbreitung der Familienplanung oder Sterilisation engagierten. Alison Bashford hingegen argumentiert, dass die Sorge um Hunger Ökolog*innen und Ökonom*innen mit Eugeniker*innen und Aktivist*innen der Geburtenkontrolle verband und so die Entstehung eines globalen Netzwerkes zur Bevölkerungskontrolle erschuf.58 Dementgegen plädieren neueste Arbeiten von Raúl Necochea und Nicole Bourbonnais dafür, auf Aktivist*innen und Sozialarbeiter*innen der mittleren Ebene zu schauen, die Programme umgesetzt und Netzwerke an Kliniken aufgebaut haben, und oft andere Vorstellungen hatten, als die Bevölkerungsaktivist*innen auf globaler Ebene.59 Für den westdeutschen Fall stellen die Ärztinnen und Sozialarbeiterinnen, wie Anne-Marie Durand-Wever, Ilse Brandt und Ilse Léderer, diese Aktivis­ tinnen auf mittlerer Ebene dar, welche eine zentrale Rolle im Aufbau der Beratungsstellen und Ärzteschulungen der Pro Familia einnahmen. In den Untersuchungen, die sich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Hans Harmsens beschäftigen, wurden diese weiblichen Aktivistinnen bisher kaum 54 Siehe Unger, Corinna R., Family Planning. A Rational Choice? The Influence of Systems Approaches, Behavioralism, and Rational Choice Thinking on Mid-Twentieth-Century Family Planning Programs, in: Hartmann, Heinrich A. / dies. (Hg.), A World of Populations. The Production, Transfer and Application of Demographic Knowledge in the Twentieth Century in Transnational Perspective, New York 2014, S. 57–82. 55 Siehe hierzu die Dissertation von Huhle, Teresa, Bevölkerung, Fertilität und Familienplanung in Kolumbien. Eine transnationale Wissensgeschichte im Kalten Krieg, Bielefeld 2017. 56 Siehe Birke, Roman, Geburtenkontrolle als Menschenrecht. Die Diskussion um globale Überbevölkerung seit den 1940er Jahren, Göttingen 2020. 57 Siehe Connelly, Matthew, Fatal Misconception. The Struggle to Control World Population, Cambridge 2008; Kühl, Stefan, Die Internationale der Rassisten. Aufstieg und Niedergang der internationalen Bewegung für Eugenik und Rassenhygiene im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1997. 58 Vgl. Bashford, Alison, Global Population. History, Geopolitics and Life on Earth, New York 2014, S. 5. 59 Bourbonnais, Nicole C., Population Control, Family Planning and Maternal Health Networks in the 1960s/70s. Diary of an International Consultant, in: Bulletin of the History of Medicine 93 (2019) H. 3, S. 335–364, hier S. 338; siehe auch Necochea López, Raúl, Gambling on the Protestants. The Pathfinder Fund and Birth Control in Peru, 1958–1965, in: Bulletin of the History of Medicine 88 (2014) H. 2, S. 344–372, hier S. 346.

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beachtet. Diese Arbeit hebt die Bedeutung dieser Aktivistinnen hervor und ordnet sich in die Reihen der international erscheinenden Studien zur globalen Verbreitung der Familienplanung in der Nachkriegszeit ein. Im Gegensatz zu den Aktivist*innen in den Arbeiten von Necochea und Bourbonnais haben sich die westdeutschen Familienplaner*innen mit einer westlichen Gesellschaft beschäftigt, die aber genauso wie Lateinamerika und die Karibik aufgrund der Kriegsniederlage und der Besatzungspolitik zu einem breiten Betätigungsfeld von amerikanischen Bevölkerungsaktivist*innen wurde. Dieses Buch zeigt, wie hier Aktivist*innen auf mittlere Ebene sich aber größere Handlungsspielräume erschaffen, finanzielle Unabhängigkeit erreichen und eigene Netzwerke knüpfen konnten.

Eine transnationale Wissensgeschichte der Familienplanung Die Etablierung der Familienplanung in der Bundesrepublik Deutschland kann nicht als isolierte nationale Geschichte erzählt werden, da ein ständiger Austausch an Impulsen, Wissen, finanziellen Hilfen und weitere Rückgriffe auf internationale Netzwerke die nationalen Entwicklungen entscheidend vorantrieben. Die hiesige Studie nimmt diese transnationalen Austauschmomente in den Blick, um nachzuzeichnen, wie sich die Vorstellung, dass Familie etwas Planbares ist, zeitgleich in unterschiedlichen Gesellschaften durchsetzte. Transnationale Geschichte wird hierbei als eine Geschichte von Kontakten, Austauschformen, Begegnungen und Bewegungen von Menschen, Ideen, Produkten, Prozessen und Denkmustern über Grenzen hinweg verstanden, wobei der Nationalstaat weiterhin Bezugspunkt bleibt.60 So tauschten sich die deutschen Pro-Familia-Mitglieder mit transnationalen Partnern aus, um die Familienplanung in Deutschland zu etablieren und die deutsche Gesellschaft zu reformieren. Die Akteure agierten auf der Ebene der Zivilgesellschaft und waren keine offiziellen Vertreter*innen der Bundesregierung, die die Interessen des Staates auf der Ebene inter- und supranationaler Institutionen vertraten. Sie pendelten dabei zwischen kollektiven Interessen und der Motivation, die Situation individueller Frauen und Familien zu verbessern.61 60 Canaday, Margot, Transnational Sexualities. Thinking Sex in the Transnational Turn. An Introduction, in: American Historical Review 114 (2009) H. 5, S. 1250–1257, hier S. 1252; Gallus, Alexander u. a., Deutsche Zeitgeschichte transnational, in: ders. u. a. (Hg.), Deutsche Zeitgeschichte transnational, Göttingen 2015, S. 11–23, hier S. 15; Gassert, Philipp, Transnationale Geschichte, Version: 2.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte (29.10.2012), http://docupedia.de/zg/gassert_transnationale_geschichte_v2_de_2012, letzter Zugriff: 13.02.2018. 61 Dieses Buch arbeitet nicht mit Michel Foucaults Konzept der Biopolitik, da dieses den Fokus auf den Staat als Akteur legt und sich mit der Durchsetzung der Kontrolle der Sexualität der Bevölkerung auf politischer Ebene auseinandersetzt, während die hiesige Studie auf die gesellschaftliche Durchsetzung emanzipatorischer Konzepte von Reproduktion

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Die Geschichte der Familienplanung in Deutschland lässt sich weiterhin als eine Verflechtungsgeschichte beschreiben, da nicht einfach einseitig Ideen aus den USA übernommen wurden und es sich mitnichten um eine Amerikanisierung westdeutscher Familienformen handelte. Zwar wurden deutsche Familienplaner*innen weit mehr von amerikanischen Aktivist*innen beeinflusst als umgekehrt, dennoch nahm auch die amerikanischen Partnerorganisation viele Anregungen aus der Sexualreformbewegung in der Weimarer Republik im Exil auf. Auch setzten deutsche Familienplaner*innen nicht alle US -amerikanischen Ideen eins zu eins um und waren bisweilen, etwa in der Beratung nichtverheirateter Frauen, fortschrittlicher. Um diese Verflechtungen kontextuell einordnen zu können, werden an einigen Stellen dieses Buches Vergleiche zwischen den jeweiligen Rahmenbedingungen und Wandlungsprozessen in den USA und der Bundesrepublik angestellt. Dieses Buch soll kein lineares Westernisierungs-, Liberalisierungs-, oder Modernisierungsnarrativ reproduzieren,62 da verschiedene Wellen einer Privilegierung individueller oder kollektiver Werte prägend für die Geschichte der Familienplanung im 20. Jahrhundert waren. Anstatt von einem fundamentalen Umbruch von einer materiellen Werteorientierung zu postmateriellem Individualismus in den 1970er Jahren auszugehen,63 ist es daher dienlicher, ergebnisoffen nach wiederkehrenden Umbrüchen einer Privilegierung materieller oder immaterieller, individueller oder kollektiver Werte zu fragen.64 schaut. Zur Konzeptualisierung der Biopolitik, siehe Foucault, Michel, In Verteidigung der Gesellschaft, Frankfurt am Main 1999, S. 290. 62 Zur Geschichte der Bundesrepublik als Liberalisierungsnarrativ siehe Herbert, Ulrich, Liberalisierung als Lernprozeß. Die Bundesrepublik in der deutschen Geschichte – eine Skizze, in: ders. (Hg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945–1980, Göttingen 2002, S. 7–49; zum Konzept der Westernisierung siehe Doering-Manteuffel, Anselm, Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westerinisierung im 20. Jahrhundert, Göttingen 1999. 63 Laut dem Soziologen Ronald Inglehart ließe sich in westlichen Gesellschaften zwischen 1965 und 1975 ein fundamentaler Wandel von materiellen Pflicht- und Akzeptanzwerten hin zu post-materiellen Werten der individuellen Selbstverwirklichung nachweisen. Während die Mainzer Forschungsgruppe um Andreas Rödder diesen Wandel als evident hinnimmt, haben Rüdiger Graf und Kim Christian Priemel sowie Isabel Heinemann die Repräsentativität von Ingleharts Umfragedaten hinterfragt und fordern Ingleharts Thesen zu historisieren. Vgl. Inglehart, Ronald, The Silent Revolution. Changing Values and Political Styles among Western Publics, Princeton 1977; Rödder, Werte und Wertewandel, S. 9; Heinemann, Isabel, Wertewandel. Version 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte (22.10.2012), URL :http://docupedia.de/zg/Wertewandel?oldid=84709 (Zugriff 9.9.2013), letzter Zugriff: 09.09.2013; Graf, Rüdiger / Priemel, Kim Christian, Zeitgeschichte in der Welt der Sozialwissenschaften, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 59 (2011) H. 4, S. 479–508, hier S. 486. 64 Zur Konzeptionalisierung einer Matrix von materiellen, kollektiven, immateriellen und individuellen Werten in der Entscheidbarkeit von Reproduktion, siehe Roesch, Claudia, Children by Choice. Family Decisions and Value Change in the Campaigns of the American Planned Parenthood Federation (1942–1973), in: Gembries, Ann-Kathrin u. a. (Hg.),

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So wird Modernisierung nicht als linear-teleologischer, sondern als ambivalenter Prozess verstanden,65 da etwa technologische Neuerungen, wie hormonelle oder mechanische Verhütungsmethoden sowie assistierte Reproduktion, dazu dienen konnten, traditionelle Familienformen zu stärken oder eugenische Konzepte in einer demokratischen Nachkriegsgesellschaft umzusetzen. Dennoch verstanden die zeitgenössischen Akteure die Modernisierungstheorie als linearen Prozess der Industrialisierung, Demokratisierung und Anpassung der Familienstruktur an die Kernfamilien mit arbeitendem Vater, zuhause bleibender Mutter und zwei bis drei Kindern, die in der internationalen Umsetzung von Familienplanungsprogrammen handlungsleitend wurde.66 Das Konzept der Modernisierung muss daher historisiert und als Quellenbegriff verstanden werden. Zusammen mit Vorstellungen über die ideale Familiengröße zirkulierte im Austausch der Familienplaner*innen vor allem Wissen über menschliche Reproduktion. Dieses Buch begreift Wissen als historisches Phänomen, welches von Menschen gemacht, und daher komplex, fluide und historisch wandelbar ist.67 Zentrales Charakteristikum von Wissen ist, dass es zwischen unterschiedlichen heterogenen Akteuren zirkuliert,68 aber dennoch lokal verankert ist. In seiner Zirkulation wird Wissen immer wieder transformiert und an verschiedenen Orten unterschiedlich aufgenommen. Der Schweizer Wissenshistoriker Philipp Sarasin beschreibt ein »System rationalen Wissens«, welches er von Kunst und Religion abgrenzt und sich dabei sehr stark an institutionalisiertem Wissen im Sinne von Naturwissenschaft bzw. »Sciences« orientiert.69 An Sarasins Definition ist besonders der Begriff des »Rationalen« problematisch, da zum einen Konzepte dessen, was als rational begriffen wird, einem historischen Wandel unterworfen sind. Zum anderen sind Wissensbestände, die nicht naturwissenschaftlich belegbar sind, bedeutend für reproduktives Entscheiden, etwa das Wissen darüber, wer eine sichere, illegale Abtreibung durchführte. Daher bietet es sich eher an, mit Veronika Lipphardts und Kiran Klaus Patels

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Children by Choice? Changing Values, Reproduction, and Family Planning in the 20th Century, Berlin 2018, S. 58–76, hier S. 60. Zur Konzeptionalisierung der Hochmoderne als ambivalent und kontingent, siehe Herbert, Ulrich, Europe in High Modernity. Reflections on a Theory of the 20th Century, in: Journal of Modern European History 5 (2007) Nr. 1, S. 5–21; zur Übertragung dieser Konzepte auf die USA siehe Welskopp, Thomas / Lessoff, Alan (Hg.), Fractured Modernity. America Confronts Modern Times, 1890s–1940s, München 2012, S. 6. Zum Zusammenhang zwischen einer linearen Modernisierungstheorie und der Bevölkerungsentwicklung im 20. Jahrhundert siehe Murphy, Michelle, The Economization of Life, Durham 2017, S. 36–38. Vgl. Lässig, Simone, The History of Knowledge and the Expansion of the Historical Research Agenda, in: Bulletin of the German Historical Institute Washington DC 59 (Fall 2016), S. 29–58, hier S. 29. Vgl. Sarasin, Philipp, Was ist Wissensgeschichte, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 36 (2011) H. 1, S. 159–172, hier S. 164. Ebd. S. 163.

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Unterscheidung zwischen expliziten (also empirisch belegbaren) und impliziten Wissen, dem scheinbar Selbstverständlichen, zu arbeiten.70 Deshalb gebraucht dieses Projekt einen Wissensbegriff, der sowohl wissenschaftliches, evidenzbasiertes Wissen, als auch soziales und kulturelles Kapital im Sinne Pierre Bourdieus beinhaltet, also Wissen über Netzwerke, gesellschaftliche Konventionen oder kulturelle Phänomene.71 Reproduktives Wissen wird daher verstanden als Wissen über menschliche Fortpflanzung, Verhütungsmittel sowie deren Risiken und Nebenwirkungen, Methoden der assistierten Reproduktion, wie auch über rechtliche Einschränkungen, moralische Implikationen, öffentliche Debatten und Zugänge zu Technologien und Methoden. Reproduktives Wissen ist essenziell für die Planbarkeit von Familien und das Entscheiden über Nachwuchs. Frauen brauchen Wissen über Reproduktion, um über ihren reproduktiven Körper selbst zu bestimmen, wie es ein zentrales Anliegen des Feminismus war. Die Soziologin Kathy Davis versteht Feminismus daher als epistemologisches Projekt, da Feministinnen des amerikanischen Women’s Health Movement bewusst Wissen über Frauenkörper, Reproduktion und Verhütungsmittel verbreiteten, um Frauen zu ermächtigen, selbst über ihren eigenen Körper zu bestimmen.72 Davises Studie bezieht sich auf die globale Verbreitung des Selbsthilferatgebers »Our Bodies, Ourselves«, dessen Ziel es war, die Entscheidungsmacht von Ärzten über Frauenkörper zu brechen, indem die Autorinnen den Frauen selbst medizinisches Wissen vermittelten. Das Beispiel zeigt, dass Wissen intrinsisch mit Macht verknüpft ist. Auf der einen Seite diente die Zirkulation von Wissen zur Ermächtigung subalterner Gruppen, auf der anderen Seite stärkte gleichzeitig das Zurückhalten von Wissen die hegemoniale männliche Macht.73 Indem das Projekt offensiv nach den Rahmenbedingungen des reproduktiven Selbstentscheidungssrechts von Frauen fragt und weibliche Akteure von der Peripherie der Geschichtsschreibung ins Zentrum der Analyse rückt, verfolgt diese Arbeit einen dezidiert geschlechtergeschichtlichen Ansatz. Die Differenzkategorie »gender« wird dabei als intersektional mit den Kategorien »race«, »class« und »disability« verstanden. Dieser Ansatz ermöglicht eine Neuevaluierung der Ausdehnung und Einschränkung reproduktiver Entscheidungsrechte im Zuge von Eugenik, Überbevölkerungsängsten und individualistischer Familienplanung im 20. Jahrhundert. 70 Lipphardt, Veronika / Patel, Kiran Klaus, Neuverzauberung im Gestus der Wissenschaftlichkeit. Wissenspraktiken im 20. Jahrhundert am Beispiel menschlicher Diversität, in: Geschichte und Gesellschaft 34 (2008) H. 4, S. 425–454, hier S. 428. 71 Vgl. Lässig, History, S. 50. 72 Vgl. Davis, Kathy, The Making of Our Bodies, Ourselves. How Feminism Travels Across Borders, Durham 2007, S. 8. 73 Zum Zusammenhang zwischen Wissen, Sexualität und Macht, siehe Foucault, Michel, Sexualität und Wahrheit, Bd. 1: Der Wille zum Wissen, Frankfurt am Main 1977, S. ­18–20; zu hegemonialen Männlichkeiten siehe Connell, Raewyn W. / Messerschmidt, James W., Hegemonic Masculinity. Rethinking the Concept, in: Gender and Society 19 (2005) No. 6, S. 829–859, hier S. 832–835.

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Kulturen des Entscheidens Reproduktives Wissen war die wichtigste Ressource des Entscheidens über die Anzahl der eigenen Kinder. Idealerweise sollte laut den Schriften der Familienplaner*innen der Nachwuchs das Resultat einer bewussten Entscheidung sein, bei der das Wohl der zukünftigen Kinder und die Wahl der rationalsten Option im Zentrum standen.74 Ihre Idealvorstellung einer rationalen Reproduktionsentscheidung basierte auf elaborierten Rational-Choice-Theorien, die die Sozialund Wirtschaftswissenschaften seit den 1950er Jahren entwickelt hatten. Diese gingen davon aus, dass Menschen Entscheidungen basierend auf einer KostenNutzen-Rechnung nach Einholung aller Informationen trafen, gleichzeitig aber von gesellschaftlichen Rahmungen (Frames und Scripten) beinflusst waren. Jedoch belegen Modelle einer Bounded Rationality, dass Menschen gar nicht in der Lage sind, alle für eine Entscheidung relevanten Informationen zu rezipieren und deshalb Zeit und Ressourcenknappheit wichtige Faktoren bei der Entscheidungsfindung sind.75 Familienplaner*innen der 1950er Jahre rezipierten nicht diese Forschungsergebnisse, benutzten aber ihre Begrifflichkeiten wie »Rational Choice« oder »Kosten-Nutzen-Analyse«, was auf einen Übergang von Expertenwissen in Allgemeinwissen im Sinne von Lutz Raphaels Verwissenschaftlichung des Sozialen hinweist.76 Für die Familienplanung bedeutete das etwa, dass nur ökonomische Variablen und keine sozialen, kulturellen oder religiösen Faktoren in die Entscheidung über die Kinderzahl miteinbezogen werden sollten. Reproduktion wurde so als Resultat von Entscheidungen konzeptualisiert, was dazu führte, dass die Frage, wer reproduktive Entscheidungen treffen sollte – ein Paar gemeinsam, die Frau alleine, das Paar zusammen mit seinem Arzt, der Arzt für die Frau – im Zentrum aller Kontroversen über menschliche Fortpflanzung im 20. Jahrhundert stand. Natürlich wollten Paare seit je her ihre Fortpflanzung selbst bestimmen und regulieren. Votivgaben, Fruchtbarkeits­ 74 Siehe hierzu zum Beispiel eine Resolution des Clergymen Advisory Committee der Planned Parenthood Federation: N. N., Draft of a Statemen of the Clergymen’s National Advisory Committee of the Planned Parenthood Federation of America (1959), in: PPFA Records II , Box 114.13. 75 Für einen Überblick über Rational Choice Konzepte seit Max Webers Unterscheidung zwischen Zweckrationalität und Wertrationalität, siehe Esser, Hartmut, Wertrationalität, in: Diekmann, Andreas / Voss, Thomas (Hg.), Rational-Choice-Theorie in den Sozialwissenschaften, München 2004, S. 97–112; Laux, Henning, In Memoriam. Rationalität, in: Behnke, Joachim u. a. (Hg.), Jahrbuch für Handlungs- und Entscheidungstheorie Bd. 6: Neuere Entwicklungen des Konzeptes der Rationalität und ihrer Anwendung, Wiesbaden 2010, S. 13–46. 76 Vgl. Raphael, Lutz, Embedding the Human and Social Sciences in Western Societies, 1880–1980. Reflections on Trends and Methods of Current Research, in: Brückweh, Kerstin u. a. (Hg.), Engineering Society. The Role of the Human and Social Sciences in Modern Societies, 1880–1980, New York 2012, S.41; Unger, Family Planning, S. 12 und 21.

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götter oder die Einnahme pflanzlicher Mittel bezeugen seit der Antike, dass Menschen schon lange vor dem sogenannten »Wertewandel« der 1970er Jahre aus höchst individuellen Gründen Entscheidungen trafen, ihre Fruchtbarkeit zu beeinflussen. Trotz der historischen Konstanz individueller Reproduktionsentscheidungen im Privaten wurde Familie konzeptionell erst seit Mitte des 20. Jahrhunderts als etwas Planbares verstanden. Kinderkriegen war nicht mehr etwas, was Paare versuchen konnten zu kontrollieren, sondern etwas, was sie bewusst planen mussten. Die sozialwissenschaftliche Forschung spricht daher von den Gesellschaften des 20. Jahrhunderts als Entscheidungsgesellschaften, da die Anzahl an Entscheidungen, die der Einzelne treffen musste, in der Moderne immer weiter anstieg.77 Diese Form der Planbarkeit verlangt von den Paaren Entscheidungen: Wie viele Kinder will ich bekommen? Wann will ich sie bekommen? Nutze ich Verhütungsmittel? Wenn ja, welche? Was mache ich im Fall einer ungewollten Schwangerschaft – abtreiben oder das Kind behalten? Was mache ich bei Ausbleiben einer Schwangerschaft, nutze ich neue Reproduktionstechnologien, wenn ja, wie weit bin ich bereit zu gehen? Dieses Buch fragt daher, welche Konzepte des Entscheidens der Bewegung zur Familienplanung unterlagen. Die Fragen, wer entscheiden durfte und wie entschieden wurde, waren zentral für die Durchsetzung, Legitimation und die Anerkennung der Familienplanung. Diese Arbeit versteht Entscheiden als das reflektierte und bewusste Auswählen zwischen zwei oder mehr Alternativen,78 und geht davon aus, dass Entscheiden eine soziale Interaktion ist und nicht allein ein individueller mentaler Prozess. Während das Treffen von Entscheidungen eine anthropologische Konstante ist, werden die sozialen Dimensionen des Entscheidens durch kulturelle und rechtliche Faktoren gerahmt, welche unterschiedliche »Kulturen des Entscheidens« konstituieren.79 Diese umfassen erstens die Emergenz von Entscheidungssituationen  – also zum Beispiel die Frage, wann Nachwuchs etwas rational Planbares wurde. Zweitens sind Modi des Entscheidens bedeutend, etwa, ob Menschen »Rational Choice« Theorien praktisch angewandt, pro- und contra-Listen angefertigt, Rat gesucht haben, gebetet, gelost oder die Entscheidung externalisiert haben. Drittens werden Ressourcen des Entscheidens benötigt, wie Expert*innen und Wissen über medizinische und rechtliche Aspekte der Reproduktion, Bilder oder Werbung für Verhütungsmittel. Viertens haben Narrative des Entscheidens stets auch 77 Siehe Schimank, Uwe, Die Entscheidungsgesellschaft. Komplexität und Rationalität der Moderne, Wiesbaden 2005, S. 12. 78 Vgl. Stollberg-Rilinger, Barbara, Cultures of Decision-Making, in: German Historical Institute London Bulletin (2016), S. 5–51, hier S. 6. 79 »Kulturen des Entscheidens« in unterschiedlichen historischen Epochen und geographischen Räumen hat der gleichnamige Münsteraner Sonderforschungsbereich 1150 von 2015 bis 2019 untersucht, im dessen Rahmen diese Arbeit konzipiert wurde, siehe hierzu https://www.uni-muenster.de / SFB1150/.

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eine normative Funktion.80 Dabei handelt es sich zum einen um Narrative von Frauen, die berichten, wie sie Entscheidungen getroffen haben, zum anderen aber auch um öffentliche Verhandlungen darüber, wie eine Reproduktionsentscheidung idealerweise getroffen werden sollte. Die fünfte Dimension ist die Performativität des Entscheidens, welche in einer Beratungssituation bedeutend ist, etwa wenn der Beratende sich durch Kleidung oder akademische Titel als Expert*in inszenierte. Eine sechste Dimension umfasst die Frage, wer die Entscheidung trifft – etwa die Frau, ihr Arzt / ihre Ärztin oder ihr Partner. Während man relativ einfach diese Dimensionen kollektiver Entscheidungsprozessen untersuchen kann, muss man sich für individuelles Entscheiden auf Narrative (etwa in Autobiographien, Interviews oder Testimonials) beziehen. Diese Narrative sind durch kulturelle Diskurse bestimmt. Das heißt, dass Historiker*innen nicht unbedingt genau rekonstruieren können, wie eine individuelle Entscheidung getroffen wurde. Aber sie können normative Vorstellungen und soziale / kultuelle Praktiken des Entscheidens nachvollziehen. Aus den Narrativen über reproduktives Entscheiden lassen sich vier Ebenen von Entscheidungen herauskristallisieren, die zur Leitlinie der Gliederung dieses Buches dienen. Nach einem Prologkapitel, welches die Netzwerke der amerikanischen Birth-Control-Bewegung und der Weimarer Sexualreformbewegung nachzeichnet und die Rolle Hans Harmsens im Nationalsozialismus neu evaluiert (Kapitel 1), wird die erste Entscheidungsebene untersucht werden. Diese Ebene umfasst die Entscheidung zur Familienplanung, das heißt, überhaupt seine Familie bewusst zu planen und Fortpflanzung nicht mehr dem Zufall zu überlassen. Diese Entscheidung stand im Zentrum der frühen Kampagnen von Planned Parenthood (Kapitel 2), in denen das Konzept der Familienplanung hergestellt wurde. Mit der Gründung der Pro Familia in den 1950er und 1960er Jahren wurden dieses Konzept nach Deutschland exportiert (Kapitel 3). Die Entscheidung stellt eine Entscheidungsprämisse dar,81 da sie weitere Entscheidungssituationen der zweiten Ebene bedingte, etwa die Frage, mit welchen Mitteln Familienplanung betrieben werden sollte. Dies beinhaltete sowohl Debatten darüber, ob eine Sterilisation zulässig war, besonders, wenn die Betroffenen arm waren, an einer Behinderung litten oder einer Minderheit zugehörten waren (Kapitel 4). Und welche Verhütungsmittel angewendet werden sollten, eine Frage, die sich besonders mit der Markteinführung der Anti-Baby-Pille 1961 stellte (Kapitel 5). Kontroversen in den 1960er und 1970er Jahren zwischen der neuen Frauenbewegung, Mediziner*innen und Pharmaunternehmen über die Sicherheit der Anti-Baby-Pille und die Freiwilligkeit von Sterilisationspraktiken verhandelten die Frage der Entscheidbarkeit über die Nutzung von Verhütungsmitteln (Kapitel 6). Eine dritte Entscheidungsebene 80 Zu den sozialen Dimensionen des Entscheidens, siehe Stollberg-Rilinger, Cultures, S. 5; zur normativen Funktion von Narrativen siehe Bruner, Jerome, The Narrative Construction of Reality, in: Critical Inquiry 18 (1991), S. 1–21, hier S. 16. 81 Vgl. Schimank, Entscheidungsgesellschaft, S. 30.

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ergibt sich aus der Frage, wann man ein Kind bekommt, ob man zu einem bestimmten Zeitpunkt ein Verhütungsmittel absetzt oder im Falle einer ungeplanten Schwangerschaft eine Abtreibung durchführen lässt. Diese Frage wurde besonders virulent mit der Reform der Abtreibungsgesetzgebung von 1971 bis 1976 (Kapitel 7). Während die Frage nach dem Zeitpunkt einer gewollten Schwangerschaft kaum kontrovers diskutiert wurde, blieb die Frage nach der Entscheidbarkeit über einen Schwangerschaftsabbruch eine der umstrittensten Kontroversen in den 1970er und 1980er Jahren (Kapitel 8). Die vierte Entscheidungsebene umfasst Entscheidungen bei Ausbleiben einer Schwangerschaft und die Frage, ob man neue Reproduktionstechnologien in Anspruch nimmt, und wenn ja, welche. Letztere Debatten, welche vermehrt seit den 1990er Jahren geführt wurden, können leider aufgrund des Zeitrahmens dieses Projektes nicht mit in die Analyse einfließen. Während die Entscheidung darüber, überhaupt seine Familie zu planen, als Entscheidungsprämisse über die anderen Entscheidungsebenen fungiert, müssen diese für einzelne Paare nicht chronologisch aufeinander folgen. So können Frauen mit der Entscheidung über eine Abtreibung konfrontiert sein, ohne jemands eine bewusste Entscheidung für ein bestimmtes Verhütungsmittel getroffen zu haben. Auch können Paare von Unfruchtbarkeit betroffen sein, ohne sich jemals bewusst für Familienplanung entschieden zu haben. Dass die Debatten und technologischen Entwicklungen einer Chronologie folgen, ist historischen Faktoren geschuldet. Diese werden in den folgenden acht Kapiteln diskutiert.

1. Margaret Sanger, Hans Harmsen und die Sexualreformbewegung in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus

Zum Glück hat uns das ›puritanische‹ Amerika nicht bloß das Girl, sondern auch die Frau Margaret Sanger herübergeschickt. Diese kluge und energische Frau hat unseren prüden Herren bewiesen, daß ein Staat es sehr wohl vertragen kann, wenn die Bevölkerung über Empfängnisverhütung aufgeklärt wird […]. In dem gesunden Amerika existieren seit langem Beratungsstellen für Frauen, in denen ihnen nicht bloß Lehren und Mittel zur Empfängnisverhütung gegeben werden, sondern wo man auch auf Grund der erzielten Erfolge forscht und feststellt, welche Mittel die besten und sichersten sind.1

Dies kommentierte die Berliner Wochenzeitung »Montag Morgen« am 2. Juli 1928, als sie von der Eröffnung einer Ehe- und Sexualberatungsstelle im Berliner Arbeiterkiez Neukölln berichtete. Die Beratungsstelle, in der die Sexualreformerin Helene Stöcker (1869–1943), sowie die Ärzte Max Hodann (1894–1946) und Richard Schmincke Aufklärung über Empfängnisverhütung für Arbeiterfrauen betrieben, war nach einem Besuch der amerikanischen Gründerin der Bewegung zur Geburtenkontrolle, Margaret Sanger (1879–1966), mit Hilfe amerikanischer Fördergelder gegründet worden.2 Dies war jedoch nicht die erste Beratungsstelle dieser Art. Der Pionier der Sexualwissenschaften Magnus Hirschfeld (1868–1935) hatte schon seit 1920 Beratungen in seinem Institut für Sexualwissenschaften in Berlin angeboten. Neben finanziellen Hilfen hatte Sanger den Berliner Sexualreformer*innen vor allem praktisches Wissen über den Aufbau einer Beratungsstelle vermittelt. Der Zeitungsartikel spielte dabei auf die Erfahrungen aus dem 1923 eröffneten Birth Control Research Bureau in Brooklyn an. Unter dem Deckmantel der Forschung, um die strenge Zensurgesetzgebung zu umgehen, berieten dort Sanger und ihre Mitstreiter*innen verheiratete Frauen aus dem New Yorker Einwandererviertel über Verhütungsmittel und allgemeine Fragen der Sexua­ lität. Die Gründung dieser ersten Beratungsstelle in den USA gilt als Meilen­stein

1 N. N., Der Erste Schritt zur Geburtenkontrolle in Deutschland, Zeitungsausschnitt Montag Morgen (02.07.1928), in: Margaret Sanger Papers, 1900–1960, Library of Congress, Box 234. 2 Unter Sexualreformer*innen werden Aktivist*innen der Weimarer Republik subsumiert, die sich für sexuelle Aufklärung, die Forschung im Bereich der menschlichen Sexualität, die Legalisierung der Homosexualität oder die Freigabe der Abtreibung einsetzten. Siehe die Definition weiter unten in diesem Kapitel.

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des amerikanischen Birth Control Movement, welches sich seit 1914 konsti­ tuierte.3 Neben Beratungsstellen für Geburtenkontrolle zeichnete sich Sangers Aktivismus in den 1920er und 1930er Jahren besonders durch die Annäherung an die amerikanische Eugenikbewegung aus, was seit den 1970er Jahren kontrovers unter Historiker*innen diskutiert wurde. Dieses Kapitel zeichnet daher die Ursprünge der Bewegung zur Geburtenkontrolle in den USA und ihre Verbindungen zur Eugenikbewegung sowie zur Sexualreformbewegung in der Weimarer Republik nach. In einem zweiten Teil wird die Rolle des späteren Pro-Familia-Mitgründers Hans Harmsen (1899–1988) im Nationalsozialismus gesondert beleuchtet, bevor im Fazit die Gemeinsamkeiten in Vorstellungen Sangers und Harmsens zur Wissensvermittlung über Reproduktionskontrolle diskutiert werden.

Margaret Sanger und das Birth Control Movement Die internationale Bewegung zur Familienplanung in der Nachkriegszeit ging auf die Initiativen der amerikanischen Birth-Control-Bewegung und der Sexualreformbewegung in der Weimarer Republik zurück. Die Birth Control Federation of America, welche sich 1942 in Planned Parenthood Federation of America umbenennen sollte, war 1939 aus der Zusammenlegung des Birth Control Research Bureau und der American Birth Control League entstanden.4 Beide Institutionen gründeten sich aus Initiativen Margaret Sangers. Die New Yorker Krankenschwester und Gewerkschaftsaktivistin stammte aus einer irisch-katholischen Arbeiterfamilie. Ihre Mutter war nach der 18. Geburt im Kindbett gestorben und ihr Vater hatte sich in der anarchistischen Arbeiterbewegung engagiert. Laut ihrer Autobiografie und unzähligen Broschüren von Planned Parenthood wurde Sanger auf das Thema Verhütung aufmerksam, als sie 1912 in New York einem Arzt assistierte, der die dreifache Mutter Sadie Sachs nach einer illegalen Abtreibung behandelte. Als Sachs ihn nach einer Möglichkeit fragte, eine weitere Schwangerschaft zu verhindern, empfahl der Arzt ihr einzig die Abstinenz: »Tell Jake to sleep on the roof.« Als Sanger einige Monate später nach der Familie sah, war Sachs an den Folgen einer weiteren Schwangerschaft gestorben.5 Sanger war so geschockt von dem Tod der Patientin, dass sie beschloss, selbst Informationen über Verhütungsmittel zu veröffentlichen. Deshalb wurde 3 Vgl. Moran Hajo, Cathy, Birth Control on Main Street. Organizing Clinics in the United States 1916–1939, Urbana 2010, S. 11; Gordon, Linda, The Moral Property of Women. A History of Birth Control Politics in America, Urbana ³2002, S. 81–82 und 159. 4 Vgl. Moran Hajo, Birth Control, S. 17. 5 Sanger, Margaret, An Autobiography, New York 1938, S. 91, online: https://ia802607.us.​ archive.org/1/items/margaretsangerau1938sang/margaretsangerau1938sang.pdf, letzter Zugriff: 26.03.2018.

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sie anschließend wegen Verstößen gegen die Comstock Laws, dem Verbot der Verbreitung obszöner Schriften per Post, angeklagt, entzog sich aber der Strafverfolgung, indem sie in die Niederlande und nach Großbritannien reiste.6 Sanger veröffentlichte diese Anekdote erstmalig in ihrer 1931 erschienen Monographie »My Fight for Birth Control«.7 Die Veröffentlichung fällt in die Zeit, als Sanger sich sehr stark um die Anerkennung der Verhütung als medizi­ nische Expertenangelegenheit bemühte.8 Die Historikerin Linda Gordon bezweifelt daher, dass sich diese Episode tatsächlich so zugetragen habe, da sowohl Frauen als auch Ärzte über informelle Kanäle Zugang zu Wissen über Verhütungsmethoden gehabt hätten und Sanger bestehende lokale Initiativen sowie Debatten über Geburtenkontrolle innerhalb der US -amerikanischen Ärzteschaft ignoriert habe.9 Dennoch zeigt die Anekdote, dass für Sanger zu diesem Zeitpunkt die Verbreitung von Wissen zur Eindämmung illegaler Abtreibungen im Vordergrund stand. Sangers Darstellung der Frau und des Arztes als komplett unwissend belegt, dass sie informelle Wissenskanäle für unzuverlässig hielt und stattdessen den Aufbau formeller Wissensnetzwerke durch eine Zusammenarbeit zwischen Zivilgesellschaft und Expert*innen fördern wollte. Sangers Aktivismus war ursprünglich eingebettet in die Kampagnen der ersten Frauenbewegung zur »Voluntary Motherhood«, welche ein Selbstbestim­ mungsrecht der Frauen über die Anzahl ihrer Kinder forderte.10 Das von Sanger gegründete Birth Control Movement spaltete sich jedoch 1928 aufgrund von Unstimmigkeiten über die Prioritäten der Bewegung. Für einige Mitstreiter*in­ nen in der 1921 gegründeten American Birth Control League hatte die Bekämpfung der Comstock Laws Priorität.11 Währendessen hatte Sanger, die 1914 in Amsterdam den Betrieb einer Frauengesundheitsklinik kennengelernt hatte, beschlossen nach diesem Vorbild eine Klinik in Brownsville, Brooklyn, zu gründen, die im Oktober 1916 nach einigen Tagen von der Polizei geschlossen wurde. Die erste dauerhafte Klinik wurde 1923 eröffnet und gab unter dem Decknamen »Research Center« Verhütungsmittel an bedürftige Frauen aus.12 Durch eine 6 Vgl. McCann, Carole R., Birth Control Politics in the United States, 1916–1945, Ithaca 1994, S. 60. 7 Vgl. Sanger, Margaret, My Fight for Birth Control, New York 1931, S. 53. 8 Laut Carole McCann leitete Sanger aus der Anekdote über Sadie Sachs die Lektion ab, dass mangelhafter Zugang zu Verhütungsmitteln die Ursache für die schlechtere Gesundheit von Müttern sei, vgl. McCann, Birth Control, S. 10. 9 Vgl. Gordon, Moral Property, S. 144–145. 10 Zum Konzept der Voluntary Motherhood, siehe Ebd., S. 65. 11 Vgl. Moran Hajo, Birth Control, S. 14. 12 Vgl. Parry, Manon, Broadcasting Birth Control. Mass Media and Family Planning, New Brunswick NJ 2013, S. 13; Gordon, Moral Property, S. 177 und 181–182; Moran Hajo, Birth Control, S. 56; zum Amsterdamer Vorbild von Sangers Klinik, siehe Bosch, Mineke, Aletta Jacobs and the Dutch Cap. The Transfer of Knowledge and the Making of a Reputation in the Changing Networks of Birth Control Activists, in: Bulletin of the German Historical Institute Supplement 13 (2017), S. 167–183, hier S. 176–177.

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Annäherung des Birth Control Research Bureaus an Ärztevertreter und die Eugenikbewegung versuchte Sanger wissenschaftliche Respektabilität für ihr Anliegen zu gewinnen und verlor dabei – so ihre Kritiker*innen – feministische Ideale aus den Augen.13 Jedoch gelang es Sanger und ihrer Kollegin, der Ärztin Hannah Stone, mit ihrem Versuch Verhütungsmittel aus Japan zu importieren, diese zu legalisieren. In dem Urteil U. S. v. One Package of Japanese Pessaries (1936) entschied ein amerikanisches Bundesgericht, dass Informationen über Verhütungsmittel nicht als obszön, sondern als medizinische Notwendigkeit anzusehen seien.14 Zudem billigte 1937 die American Medical Association die Ausgabe von Verhütungsmitteln als therapeutische Maßnahme.15 1938 vereinigten sich die American Birth Control League, welche in ver­ schiedene Landesverbände gegliedert war, und das Netzwerk einzelner landesweit verstreuter Kliniken zur Birth Control Federation of America.16 Diese gliederte sich von nun an in eine »national federation«, »state leagues« und »local committees«. Der Bundesverband berief Beratungskomitees ein, koordinierte landesweite Spendenkampagnen und verwaltete Spendengelder, während die ambulanten Kliniken den lokalen Komitees unterstanden und bis zu einem gewissen Grade unabhängig agieren konnten.17 Die State Leagues organisierten öffentlichkeitswirksame Ausstellungen oder koordinierten Proteste gegen Verbote von Verhütungsmitteln in Einzelstaaten. So blieb nach 1936 die Ausgabe von Verhütungsmitteln in Massachusetts und Connecticut weiterhin verboten, während Südstaaten, wie South Carolina, North Carolina und Alabama, selbst Programme zur Ausgabe von Verhütungsmitteln an die vornehmlich arme und afro-amerikanische Bevölkerung initiierten.18 Diese Maßnahmen waren rassistisch und bevölkerungspolitisch motiviert, da sie ein vermeintlich zu großes Wachstum der afro-amerikanischen Bevölkerung und die daraus abgeleitete Umkehrung des Bevölkerungsverhältnisses verhindern sollten. Die Frage, wie eng Margaret Sanger mit der Eugenikbewegung der Zwischenkriegszeit verbunden war, wird in der Forschungsliteratur kontrovers diskutiert. Während die Historikerin Carole McCann 1994 argumentierte, Sanger habe von der Eugenikbewegung nur die wissenschaftliche Sprache übernommen,19

13 Vgl. Franks, Angela, Margaret Sanger’s Eugenic Legacy. The Control of Female Fertility, Jefferson, NC 2005, S. 239. 14 Vgl. Moran Hajo, Birth Control, S. 158. 15 Vgl. Ordover, Nancy, American Eugenics. Race. Queer Anatomy and the Science of ­Nationalism, Minneapolis 2003, S. 139. 16 Vgl. Moran Hajo, Birth Control, S. 17. 17 Die Beratungsstellen, die man im Deutschen als Ambulanzen oder Tageskliniken bezeichnen könnte, werden im Englischen grundsätzlich als »clinics« bezeichnet, vgl. Moran Hajo, Birth Control, S. 47. 18 Vgl. N. N., Minutes of the Workshop Session, June 15 to 20, 1942, in: Margaret Sanger Papers, 1900–1960, Microfilmed, Library of Congress, Reel 120, S. 2. 19 McCann, Birth Control, S. 11.

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um in nicht-anrüchiger Weise über Sexualität sprechen zu können, zeigen die Arbeiten der katholischen Autorin Angela Franks und der Queer Rights Forsche­ rin Nancy Ordover, dass Sanger sich in den 1920er und 1930er Jahren durchaus für Maßnahmen der negativen Eugenik aussprach, um das Bevölkerungswachstum der Einwanderer- und Arbeiterschicht zu begrenzen.20 Cathy Moran Hajos 2012 erschienene Studie zum Verhältnis einzelner Birth Control Clinics zum Hauptsitz in New York zeigt jedoch, dass es zwar Übereinstimmungen, aber auch Konflikte zwischen der Birth Control und der Eugenikbewegung gab, da erstere die positive Eugenik, also die Verhinderung des Zugangs zu Verhütungsmittel für die weiße Mittelschicht, ablehnte.21 Sowohl in Deutschland als auch in den USA war die Eugenik im frühen 20. Jahrhundert zu einer starken Bewegung angewachsen. Zivilgesellschaftliche Aktivist*innen setzten sich dafür ein, die Prinzipien der mendel’schen Vererbungslehre auf menschliche Bevölkerungsgruppen anzuwenden und so durch eine aktive Steuerung der Reproduktion die Verbesserung des Genpools einer Nation zu erreichen. Der Begriff Eugenik ging auf den britischen Statistiker Francis Galton zurück, der zwischen negativer Eugenik – der Verhinderung der Fortpflanzung von als unfit betrachteten Menschen – und positiver Eugenik – der aktiven Förderung der Fortpflanzung »fitter« Menschen unterschied.22 Dem Historiker Frank Dikötter zufolge war die Eugenik »a ›modern‹ way of talking about social problems in biologized terms.«23 Zentrale Grundsätze der Eugenik waren zum einen der Glaube an biologischen Determinismus, dass Intelligenz und Verhaltensweisen vererbbar seien, zum anderen das neo-Malthusische Konzept der Überbevölkerung, welches besagte, dass Bevölkerungswachstum zu Hungerkatastrophen und Armut führe.24 Während die positive Eugenik in den amerikanischen Debatten um »race suicide«, der Befürchtung, dass weiße Amerikaner*innen aufgrund ihrer niedrigeren Geburtenraten aussterben könnten, eindeutig mit dem Faktor »race« assoziiert wurde, debattiert die Forschung weiterhin, ob die negative Eugenik immer rassistisch motiviert sei.25 Die Kategorien »fit« und »unfit« konnten auch über die Differenzkategorien »Klasse«, »gender« und »Behinderung« gefüllt werden, etwa wenn Familien der Unterschicht aufgrund von Alkoholismus und sogenanntem »angebore-

20 Vgl. Franks, Margaret Sanger’s Eugenic Legacy; Ordover, American Eugenics. 21 Moran Hajo, Birth Control, S. 104. 22 Vgl. Bashford, Alison / Levine, Philippa, Introduction. Eugenics and the Modern World, in: dies. (Hg.), The Oxford Handbook of the History of Eugenics, Oxford 2010, S. 3–24, hier S. 5. 23 Dikötter, Frank, Race Culture. Recent Perspectives on the History of Eugenics, in: American Historical Review 103 (1998) H. 2, S. 467–478, hier S. 467. 24 Zur Entwicklung der Überbevölkerungsdebatte aus der Eugenik siehe Kapitel 2 dieser Arbeit. 25 Siehe hierzu Stern, Alexandra Minna, Eugenic Nation. Faults and Frontiers of Better Breeding in Modern America, Berkeley 2005, S. 90.

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nen Schwachsinn« als »unfit« kategorisiert wurden.26 In ihrer Einleitung zum ­»Oxford Handbook of the History of Eugenics« argumentieren die Historikerinnen Alison Bashford und Philippa Levine daher, dass jegliche eugenische Maßnahmen, ob sie sozial oder rassistisch ausgegrenzte Menschen betrafen, im Kern einer evaluierenden Logik folgten, die bestimmte menschliche Leben als wertvoller betrachteten als andere.27 Der Freiburger Historiker Ulrich Herbert beschreibt diese Logik als »Biologisierung des Sozialen.«28 Auch weist Dikötter darauf hin, dass die Eugenik ihre Wirkweise nicht allein aufgrund der aktiven Mitglieder der Bewegung erreichte, sondern eine Semantik der »Rassenhygiene« weit über die Bewegung hinaus in Expertenkreise und linke sowie rechte politische Parteien einbringen konnte, die durch Maßnahmen der Sozialreform die Probleme der urbanen Moderne lösen wollten.29 So sprachen sich in den 1920er Jahren selbst linke Sexualreformer*innen, wie Helene Stöcke und Max Hodann, für eugenisch motivierte Geburtenkontrolle aus.30 Margaret Sanger selbst hatte seit ihrer Reise nach England 1914 Kontakte zur britischen Eugenikbewegung und deren Gründer Havelock Ellis geknüpft. Laut Franks stand sie daher der britischen »progressiven« Eugenikbewegung, für die soziale Schicht und Sexualität als Differenzkategorien entscheidend waren, näher als der amerikanischen Eugenikbewegung, die Erbkrankheiten und »feeblemindedness« (Schwachsinn) mit der Durchmischung unterschiedlicher »Rassen« erklärte und eine Begrenzung der Einwanderung forderte.31 Dennoch nahmen Sanger und andere Mitglieder von Planned Parenthood Kontakt zu führenden Eugeniker*nnen in den USA auf, der über die 1930er Jahre hinaus bestehen blieb.32 Es gab aber auch Konflikte zwischen der Eugenikbewegung und den Birth-Control-Aktivist*innen, da Eugeniker die Ausgabe an Verhütungsmitteln für gesunde, weiße Frauen ablehnten.33 Während Sanger die negative Euge26 So zeigt etwa Wendy Kline, dass auch Frauen der Mittelschicht, die aufgrund ihres Lebensstils für schlechte Mütter gehalten wurden, Opfer von Zwangssterilisationen werden konnten, vgl. Kline, Wendy, A New Deal for the Child. Ann Cooper Hewitt and Sterilization in the 1930s, in: Currell, Susan / Cogdell, Christina (Hg.), Popular Eugenics. National Efficiency and American Mass Culture in the 1930s, Athens 2006, S. 17–43, hier S. 18. 27 Bashford / Levine, Introduction, S.  3. 28 Vgl. Herbert, Ulrich, Traditionen des Rassismus, in: Niethammer, Lutz (Hg.), Bürgerliche Gesellschaft in Deutschland: Historische Einblicke, Fragen, Perspektiven, Frankfurt am Main 1990, S. 472–488. 29 Dikötter, Race Culture, S. 475. 30 Vgl. Braun, Karl, Jugendbewegung, Sexualaufklärung, Sozialhygiene. Das Beispiel Max Hodann (1894–1946), in: Braun, Karl u. a. (Hg.), Avantgarden der Biopolitik. Jugend­ bewegung, Lebensreform und Strategien biologischer »Aufrüstung«, Göttingen 2019, S. 33–60, hier S. 46; Dollard, Catherine L., The Surplus Woman. Unmarried in Imperial Germany, 1871–1918, New York / Oxford 2009, S.147. 31 Vgl. Franks, Margaret Sanger’s Eugenic Legacy, S. 31–32, McCann, Birth Control, S. 106. 32 Siehe hierzu Kline, Wendy, Eugenics in the United States, in: Bashford, Alison / ­Levine, Philippa (Hg.), The Oxford Handbook of the History of Eugenics, Oxford 2010, S. ­511–522. 33 Vgl. Moran Hajo, Birth Control, S. 104; Ordover, American Eugenics, S. 140.

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nik bis hin zu Zwangssterilisationen unterstütze und sich 1933/1934 sehr für das deutsche, nationalsozialistische Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN) interessierte, lehnte sie Maßnahmen der positiven Eugenik durch das Erschweren des Zugangs zu Verhütungsmitteln ab.34 So kritisierte sie beispielsweise öffentlich Benito Mussolinis pronatalistische Politik im faschistischen Italien.35 Sangers Opportunismus, die Ambivalenzen in ihrem Denken und der Wandel ihrer Einstellungen im Laufe der 1910er bis 1940er Jahre erschweren eine klare Einordnung ihres Standpunktes. Ihr Denken beinhaltete einerseits eine evaluierende Logik, da sie für bestimmte Frauen das Recht der Fortpflanzung basierend auf den Differenzkategorien »Klasse« und »Behinderung« einschränken wollte. Andererseits betonte sie aber immer wieder, dass sie das Recht aller Frauen unterstützte, nur so viele Kinder zu bekommen, wie sie selbst wollten. Sie kämpfte für ein Recht der Frauen, keine Kinder bekommen zu müssen. Dabei unterstütze sie reproduktives Selbstentscheiden, aber nur solange dieses in die aus ihrer Sicht richtige Richtung ging. Dies bedeutete, dass Frauen entscheiden durften, nur so viele Kinder zu bekommen, wie sie gesundheitlich, finanziell und psychologisch gut versorgen konnten.

Die Sexualreformbewegung in der Weimarer Republik Wie schon erwähnt, hatte Sanger 1914 Großbritannien und die Niederlande bereist. Ihre erste Reise nach Deutschland fand 1920 statt. Dort traf sie den führenden Sexualreformer Magnus Hirschfeld und die Frauenrechtlerin ­Helene Stöcker, die sich für die Abschaffung des § 218 zum Verbot der Abtreibung einsetzten und erste Beratungsstellen für Sexualität und Eheleben gegründet hatten.36 Auch beobachtete Sanger deutsche Entwicklungen im Bereich Verhütungsmethoden. Sie ließ sich 1925 die spermatötende Lotion der Firma Patentex schicken und verfolgte seit 1927 den Entwicklungsstand des Gräfenberg-Rings, einem Vorläufer der Spirale.37 34 Siehe Korrespondenz zwischen Margaret Sanger und Käte Stützin, (07.05.1934 und 05.06.1934), in: Margaret Sanger Papers, 1900–1960, Microfilmed, Library of Congress, Reel 14; siehe auch Moran Hajo, Birth Control, S. 107. 35 Vgl. Sanger, Margaret, What Margaret Sanger Thinks of Mussolini, in: Plain Talk Maga­ zine, June 1937 (veröffentlicht am 25.05.1937), S. 14–16, in: Margaret Sanger Papers, 1900–1960, Microfilmed, Library of Congress, Reel 130. 36 Zur Rolle Helene Stöckers in der deutschen Mutterschutz- und Friedensbewegung, siehe Gerhard, Ute, Frauenbewegung und Feminismus. Eine Geschichte seit 1789, München 2009, S. 91; Dollard, Surplus, S. 144–150, zu den Kontakten zwischen Sanger und Magnus Hirschfeld, siehe Mancini, Elena, Magnus Hirschfeld and the Quest for Sexual Freedom. A History of the First International Sexual Freedom Movement. New York 2010, S. 10–11. 37 Der sogenannte Gräfenberg-Ring war eine frühe Form der Intra-Uterin-Spirale, die der Berliner Gynäkologe Ernst Gräfenberg (1881–1957) 1927 in seiner Praxis entwickelt hatte. Gräfenberg ging 1940 mit Sangers Hilfe ins Exil nach New York und erhielt eine

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Die Sexualreformbewegung der Weimarer Republik setzte sich vor allem aus Ärzt*innen und Wissenschaftler*innen zusammen, die mit linken Parteien assoziiert waren und eine Abschaffung des § 175 zur Strafverfolgung Homo­sexueller und des § 218 zum Abtreibungsverbot forderten.38 Das Berliner Komitee zur Geburtenkontrolle um die kommunistische Ärztin Martha Ruben-Wolff, mit der Sanger über Stöcker in Kontakt kam, sah in der Abtreibung die einzige Möglichkeit für Frauen der Arbeiterschicht, ihre Familiengröße selbst zu regulieren. Den § 218 thematisierte das Komitee dementsprechend als eine Maßnahme zur Unterdrückung von Arbeiterinnen. Frauen der Mittelschicht besaßen, so Ruben-Wolff, die finanziellen Möglichkeiten und sozialen Netzwerke, um illegale Abtreibungen in einer sicheren Praxisatmosphäre durchführen zu lassen, und waren selten von Strafverfolgung betroffen. Frauen der Arbeiterschaft mussten sich hingegen auf sogenannte »Kurpfuscher*innen « verlassen, die oft keine ausgebildeten Ärzt*innen waren und nicht mal hygienischen Mindeststandards einhielten. Daher forderte das Komitee die Freigabe der Abtreibung nach dem Modell der Sowjetunion, wo die Abtreibung zwischen 1920 und 1936 legal war.39 Nach einem weiteren Besuch Sangers im Herbst 1927 gründete das Komitee 1928 die bereits oben erwähnte Beratungsstelle in Berlin Neukölln.40 Anstellung im Margaret Sanger Research Bureau und im Mount Sinai Hospital unter der Leitung Alan Guttmachers. Gräfenbergs New Yorker Kollegen brachten nach seiner Parkinson-Erkrankung 1957 die Spirale zur Marktreife, vgl. Thiery, Michel, Pioneers of the Intrauterive Device, in: The European Journal of Contraception and Reproductive Health Care 2 (1997) H. 1, S. 15–23, hier S. 16–17. 38 Vgl. Timm, Annette F., The Politics of Fertility in Twentieth Century Berlin, Cambridge 2010, S. 48. 39 In der Sowjetunion waren zwischen 1920 und 1936 Abtreibungen legal, die von einem Arzt im Krankenhaus durchgeführt wurden, nachdem die Frau einer Kommission vorgesprochen hatte. Aufgrund des mangelhaften Zugangs zu Verhütungsmitteln wurde die legale Abtreibung die beliebteste Methode der Begrenzung der Kinderzahl. Sterberaten bei legalen Abtreibungen waren gering, jedoch wurden Abtreibungen aufgrund eines Mangels an Medikamenten ohne Betäubung durchgeführt und die Komplikationsraten lagen bei bis zu 30 Prozent. Der Zugang zu legalen Abtreibungen war durch soziale Faktoren beeinflusst, so dass Frauen der Mittelschicht in urbanen Gegenden leichteren Zugang hatten als Bäuerinnen auf dem Land. Die Zahl illegaler Abtreibungen blieb auch in Zeiten der Legalisierung hoch, vor allem aufgrund des mangelnden Zugangs zu Abtreibungskommissionen und Ärzt*innen in ländlichen Gebieten und dem höheren Vertrauen der Bäuerinnen in Hebammen, vgl. Goldman, Wendy, Women, Abortion, and the State, 1917–1936, in: Evans Clements, Barbara u. a. (Hg.), Russia’s Women. Accomodation, Resistance, Transformation, Berkeley 1991, S. 243–266, hier S. 247–249. Für einen langzeitlichen Überblick über Abtreibungsgesetzgebung in der Sowjetunion im 20. Jahrhundert, siehe Nakashi, Mie, »Abortion is killing us.« Women’s Medicine and the Dilemmas for Postwar Doctors in the Soviet Union, 1944–1948, in: Bernstein, Frances L. u. a. (Hg.), Soviet Medicine. Culture, Practice and Science, DeKalb 2010, S. 195–213, hier S. 195–196. 40 Vgl. N. N., Geburtenregelung. Eine Sexualberatungsstelle in Neukölln, Zeitungsausschnitt Berliner Tageblatt (29.6.1928), in: Margaret Sanger Papers, 1900–1960, Library of Congress, Unfilmed, Box 243.

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Hierfür erhielt das Komitee von Sanger einen Check über 500 $, bis 1932 folgten weitere regelmäßige Finanzspritzen.41 Neben kommunistischen und sozialistischen Ärzt*innen, die Reproduktions­ steuerung als wichtiges Element im Klassenkampf begriffen, beschäftigten sich in der Weimarer Republik auch Bevölkerungsexpert*innen und Eugeniker*innen mit der Frage der Geburtenkontrolle, vor allem der Berliner Sozialhygieniker und SPD -Abgeordnete Alfred Grotjahn (1869–1931) und sein Doktorand, der spätere Pro-Familia-Mitgründer und erste Vorsitzende Hans Harmsen (1898–1988).42 Grotjahn interpretierte den Rückgang der Geburtenraten in Europa als eine »rationale« Anpassung an soziale Verhältnisse und forderte eine durchschnittliche Kinderzahl von drei Kindern pro Familie, um das Bevölkerungswachstum stabil zu halten.43 Unter »rational« verstand er die Anpassung der Kinderzahl an die ökonomischen Verhältnisse im Kapitalismus. Einer Liberalisierung der Abtreibung stand er kritisch gegenüber, da er dies als Unterwanderung einer expertengesteuerten Geburtenplanung verstand.44 So betrachtete er Geburtenkontrolle nicht als individuelle, sondern als soziale Frage, die von den Wohnverhältnissen einzelner Familien ausgehend die Bevölkerungsentwicklung der europäischen Länder als Ganzes in den Blick nahm. Sanger hatte auf Vorschlag des amerikanischen Gynäkologen Robert L. Dickinson Kontakt zu Grotjahn in Berlin aufgenommen, der daraufhin zusammen mit seinem Doktoranden Hans Harmsen an dem von Sanger organisierten World Population Congress vom 30. August bis 03. September 1927 im Genf teilnahm.45 In diesem Rahmen traf Harmsen das erste Mal persönlich auf

41 Vgl. Sanger, Margaret, Brief an Martha Ruben-Wolff (05.01.1928), in: Margaret Sanger Papers, 1900–1960, Microfilmed, Library of Congress, Reel 13. 42 Zu Grotjahns Konzepten von Sozialhygiene, Bevölkerung und Eugenik, siehe Ferdinand, Ursula, »Health like Liberty is Indivisible.« Zur Rolle der Prävention im Konzept der Sozialhygiene Alfred Grotjahns (1869–1931), in: Landwiler, Martin / Madarász, Jeanette (Hg.), Das präventive Selbst. Eine Kulturgeschichte moderner Gesundheitspolitik, Bielefeld 2010, S. 115–136, hier S. 119–120. 43 Vgl. Ebd. S. 127; Hagemann, Karen, Frauenalltag und Männerpolitik. Alltagsleben und gesellschaftliches Handeln von Arbeiterfrauen in der Weimarer Republik, Bonn 1990, S. 272. 44 Siehe den Bericht über die Genfer Konferenz in der französischsprachigen Presse: N. N., »La Conspiration Néo-malthusienne«, Zeitungsausschnitt Journal de Genève, 7. November 1927, in: Margaret Sanger Papers, 1900–1960, Microfilmed, Library of Congress, Reel 122; siehe auch N. N., Journal of the World Population Conference No 2 (02.09.1927), S. 19, in: Margaret Sanger Papers, 1900–1960, Microfilmed, Library of Congress, Reel 123. 45 Dickinson, Robert L., Brief an Margaret Sanger (11.10.1927), in: Margaret Sanger Papers, 1900–1960, Microfilmed, Library of Congress, Reel 13. Für mehr Informationen zum World Population Congress in Genf, siehe Kühl, Stefan, Die Internationale der Rassisten. Aufstieg und Niedergang der internationalen Bewegung für Eugenik und Rassenhygiene im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1997, S. 134; Bashford, Alison, Global Population. History, Geopolitics and Life on Earth, New York 2014, S. 2.

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Sanger, die ihm auf einem Empfang im Rahmen der Tagung von der Notwendigkeit der Geburtenkontrolle durch Verhütungsmittel überzeugte.46 Nach dem Genfer Kongress erfolge Sangers eingangs erwähnte Reise nach Berlin, um vor dem Komitee für Geburtenkontrolle einen Vortrag zu halten. Als Übersetzerin für Sangers Vortrag engagierte sich die Gynäkologin Anne-Marie Durand-Wever (1889–1970), die erst kurz zuvor aus München nach Berlin gezogen war. Durand-Wever war als Diplomaten-Tochter in Frankreich und den USA aufgewachsen und hatte zunächst an der University of Chicago und in Marburg Medizin studiert, bevor sie 1917 an der Universitäts-Frauenklinik München im Fach Geburtshilfe promoviert wurde.47 1927 zog sie mit ihrem Ehemann nach Berlin, wo sie in Charlottenburg eine eigene Praxis und Eheberatungsstelle eröffnete. Laut Harmsens 1982 verfasster Gedenkschrift für Durand-Wever im Zuge des 30-Jährigen Jubiläums der Pro Familia, wurde sie aufgrund ihrer persönlichen Erfahrung zur Aktivistin auf dem Gebiet der Geburtenkontrolle. Nach der Geburt ihres Sohnes riet der behandelnde Arzt ihr von einer weiteren Schwangerschaft aus gesundheitlichen Gründen ab, ohne dass er ihr Informationen über Verhütungsmethoden vermitteln konnte bzw. wollte.48 Diese Erzählung, die sehr an die oben diskutierte Anekdote von Sadie Sachs erinnert, perpetuierte das Narrativ des Informationsmangels auf Seiten des Arztes. Jedoch war Durand-Weverals promovierte Medizinerin  – anders als die beratungsbedürftige Sadie Sachs – in einer privilegierten Position und konnte sich aufgrund ihrer Ausbildung akademisches Wissen aneignen, welches sie in der Broschüre »Verhütung der Schwangerschaft« (1931) an andere Frauen weitergab.49 Nach Sangers Besuch beschlossen die Berliner Aktivist*innen eine Ärzte­ fortbildung abzuhalten und die nächste internationale Bevölkerungstagung in Berlin zu organisieren. Jedoch kam es zu Konflikten zwischen den kommunistischen und den nicht parteipolitisch engagierten Mitgliedern der Planungskommission, so dass die angedachte Tagung letztendlich 1930 in ­Zürich stattfand. Laut den Berichten Martha Ruben-Wolffs wollte die Mehrheit der Komitee-Mitglieder nicht mit Durand-Wever, Harmsen, Grotjahn und der Krankenschwester Käte Stutzin zusammenarbeiten.50 Ruben-Wolff behauptete, 46 Vgl. Grossmann, Atina, Reforming Sex. The German Movement for Birth Control and Abortion Reform, 1920–1950, New York 1995, S. 40. 47 Vgl. Oertzen, Monika von, »Nicht nur fort sollst du dich pflanzen, sondern hinauf.« Die Ärztin und Sexualreformerin Anne-Marie Durand-Wever (1889–1970), in: Brinkschulte, Eva (Hg.), Weibliche Ärzte. Die Durchsetzung des Berufsbildes in Deutschland, Berlin 1993, S. 140–152, hier S. 140. 48 Vgl. Harmsen, Hans, Von der Schwangerenberatung zur »pro familia«, in: Berliner Ärzteblatt 95 (1982) H. 9, S. 290–291. 49 Die Broschüre wurde 1933 unter dem regimekonformen Titel »Rassen-Hygiene. Sterilisation und Nachkommenschaftsbeschränkung« neu aufgelegt, vgl. Oertzen, Ärztin, S. 145. 50 Ruben-Wolff, Martha, Brief an Margaret Sanger (19.08.1929), in: Margaret Sanger Papers, 1900–1960, Microfilmed, Library of Congress, Reel 13.

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dass Durand-Wever angeblich in ihrer Charlottenburger Beratungsstelle nicht über Verhütungsmittel aufkläre.51 Außerdem seien Harmsen und Grotjahn gegen das Selbstbestimmungsrecht der Frau und ihre Schriften über die Sowjetunion »schmutzig«.52 Stutzin vertrete, so Ruben-Wolff, aufgrund der Stellung ihres Ehemannes Joaquin Stutzins als Leiter der Urologie am Kaiserin Auguste Victoria Krankenhaus in Berlin Lichtenberg bürgerliche Moralvorstellungen.53 Tatsächlich hatte Harmsen in seiner Publikation »Die Befreiung der Frau. Sowjet­rußlands Ehe-, Familien- und Geburtenpolitik« (1926) die Legalisierung der Abtreibung in der Sowjetunion kritisiert, da aufgrund unhygienischer Verhältnisse und einem Mangel an Krankenhausbetten Komplikations- und Muttersterblichkeitsraten extrem hoch seien.54 Stutzin war nach eigenen Angaben für einen Ausbau der Sexualaufklärung, aber gegen die Abschaffung des § 218, da dieser Frauen vor der Ausbeutung durch sogenannte »Kurpfuscher« schützen würde.55 Laut Stutzins Berichten an Sanger bestand der Konflikt zwischen Durand-Wever und Ruben-Wolff darin, dass erstere die Beratungsstelle in Charlottenburg auch für Frauen der Mittelschicht öffnen wollte, während letztere die Beratung nur für die Arbeiterschicht anbieten wollte.56 Der wesentliche Unterschied zwischen den Ansichten der beiden Ärztinnen lag also darin, an wen reproduktives Wissen vermittelt werden sollte: Während Durand-Wever Wissen über Verhütungsmittel allen Frauen gleichermaßen zugänglich machen wollte, diente reproduktives Wissen in Ruben-Wolffs Ansatz als Werkzeug zur Ermächtigung der Arbeiterfrau im politischen Klassenkampf.

51 Vgl. Ruben-Wolff, Martha, Brief an Margaret Sanger (16.01.1929), in: Margaret Sanger Papers, 1900–1960, Microfilmed, Library of Congress, Reel 13. 52 Vgl. Ruben-Wolff, Martha, Brief an Margaret Sanger (23.09.1929), in: Margaret Sanger Papers, 1900–1960, Microfilmed, Library of Congress, Reel 13. 53 Joaquin Stutzin war chilenischer Staatsbürger, der die von Sanger finanziell unterstütze Zeitschrift Vox Medicae herausgab, in der er Konzepte der Eugenik und Geburtenkon­ trolle nach Spanien und Lateinamerika vermitteln wollte, vgl. Sanger, Margaret, Brief an Käte Stutzin (07.09.1931), in: Margaret Sanger Papers, 1900–1960, Microfilmed, Library of Congress, Reel 13. 54 Harmsens und Grotjahns Informationen über die Situation in der Sowjetunion stammen wahrscheinlich von dem sowjetisch-stämmigen Arzt Serge Krassilnikian, dessen Dissertation »Russische Erfahrungen mit der Freigabe der Abtreibung – Eine Lehre für Deutschland« (1930) auch von Grotjahn betreut wurde. Darin argumentierte Krassilnikian, dass trotz der Freigabe weiterhin illegale Abtreibungen in der Sowjetunion durchgeführt wurden, die allgemeinen Abtreibungsraten gestiegen, Daten zu Infektionen geschönt seien und auch legale Abtreibungen beträchtliche Risiken beinhalteten, vgl. Solomon, Susan Gross, The Soviet Legalization of Abortion in German Medical Discourse. A Study of the Use of Selective Perception in Cross-Cultural Scientific Relations, in: Social Studies of Science 22 (1992) H. 3, S. 455–485, hier S. 467–468. 55 Vgl. Stutzin, Käte, Brief an Margaret Sanger (15.11.1929), in: Margaret Sanger Papers, 1900–1960, Microfilmed, Library of Congress, Reel 13. 56 Vgl. Stutzin, Käte, Brief an Margaret Sanger (13.02.1929), in: Margaret Sanger Papers, 1900–1960, Microfilmed, Library of Congress, Reel 13. 

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Die Unterschiede in der politischen Einstellung machten eine Zusammenarbeit zwischen Stutzin, Durand-Wever und Ruben-Wolff unmöglich, so dass Stutzin im Dezember 1930 die »Arbeitszentrale für Geburtenkontrolle« gründete. Diese konkurrierte mit dem kommunistischen »Komitee für Geburtenkontrolle« um Fördergelder von Sanger, was ein Grund für die Diffamierung durch Ruben-Wolff gewesen sein mag. Gründungsmitglieder der Arbeitsgemeinschaft waren Durand-Wever, der sozialistische Sexualreformer Max Hodann,57 der Arzt Hans Lehfeldt, die Ärztin und Sexualreformerin Lotte Wolff, Helene Stöcker, Käte Stutzin und ihr Ehemann Joaquin.58 Hans Harmsen und Alfred Grotjahn nahmen laut den Sitzungsprotokollen ab April 1931 an der Arbeitszentrale teil.59 Auch Durand-Wevers Mitarbeiterin, die jüdische Berliner Ärztin Ilse Brandt, gehörte dem Dunstkreis der nichtkommunistischen Aktivistinnen und Aktivisten an.60 Die Arbeitszentrale beschäftigte sich zunächst mit der Erstellung und Auswertung einer Umfrage unter deutschen Gynäkolog*innen über deren Einstellung zur Geburtenkontrolle. Die Mehrheit der 1600 befragten Ärzt*innen sprach sich für Verhütungsmittel zur Bekämpfung illegaler Abtreibungen aus, forderte aber die Festlegung bestimmter (medizinischer, eugenischer und sozialer) Indikationen, bei denen Frauen über die Anwendung von Verhütungsmitteln informiert werden sollten. Daraufhin verfasste die Arbeitszentrale im Oktober 1931 eine Resolution, in der Ärzt*innen in die Pflicht genommen wurden, Patientinnen nach dem neusten Stand der Wissenschaft aufzuklären.61 Die Beschaffenheit der Umfrage und ihre Auswertung zeigen, dass sowohl die Arbeitszentrale als auch die Weimarer Ärzte57 Hodann war auch Doktorand Alfred Grotjahns gewesen und arbeitete als ärztlicher Leiter der Sexualberatungsstelle des Instituts für Sexualwissenschaften von Magnus Hirschfeld. Er war Autor des 1928 erschienenen Aufklärungsbuchs »Bringt uns wirklich der Klapperstorch?«, vgl. Sauerteig, Lutz H. D., Representations of Pregnancy and Childbirth in (West) German Sex Education Books, 1900s–1970s, in: Sauerteig, Lutz D. H. / Davidson, Roger (Hg.), Shaping Sexual Knowledge. A Cultural History of Sex Education in Twentieth Century Europe, London 2009, S. 129–160, hier S. 133; zu Hodanns Verhältnis zu Alfred Grotjahn und der Eugenik, siehe Braun, Jugendbewegung, S. 46, 52 und 56. Zu mehr Informationen über Hodanns Rolle in der Sexualpädagogik der Weimarer Republik, siehe auch Hagemann, Frauenalltag, S. 229–231. 58 Wolff, Charlotte (Lotte), Erste Sitzung der Arbeitszentrale für Geburtenregelung (05.12.1930), in: Margaret Sanger Papers, 1900–1960, Microfilmed, Library of Congress, Reel 13. 59 Durand-Wever, Anne-Marie, Zweite Sitzung der Arbeitszentrale für Geburtenregelung (20.04.1931), in: Margaret Sanger Papers, 1900–1960, Microfilmed, Library of Congress, Reel 13. 60 Da die spätere Gründerin des Berliner Pro-Familia-Landesverbands Ilse Brandt (geb. 1896) Jüdin und Mitarbeiterin in Durand-Wevers Beratungsstelle war, wurde diese 1933 geschlossen, da sich Durand-Wever weigerte die Kollegin zu entlassen, vgl. Harmsen, Schwangerenberatung, S. 290–291. 61 Siehe Lehfeldt, Hans / Durand-Wever, Anne-Marie / Harmsen, Hans, Ein Fragebogen der Arbeitszentrale für Geburtenregelung, in: Die Medizinische Welt 48 (28.11.1931), S. 1727–1729; siehe auch Durand-Wever, Arbeitszentrale für Geburtenregelung.

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schaft Empfängnisverhütung als medizinische Angelegenheit begriff. Diese wurde meist als Geburtenkontrolle, eine direkte Übersetzung des amerikanischen Begriffs Birth Control, bezeichnet und hatte die semantische Implikation eines auf die Gegenwart ausgerichteten Eingreifens in pathologisierte Familien.62 Verhütungsmittel sollten nicht zur Planung eines individuellen Lebensstils genutzt werden, sondern nur in Ausnahmesituationen schwerwiegende soziale oder medizinische Nöte therapeutisch lindern. Es ging nicht darum, Geburten von Anfang an zu planen, sondern Geburten in prekären Situationen zu begrenzen. Mit der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 stellte die Arbeitszentrale ihre Arbeit ein, da die Mehrheit der Mitglieder gezwungen war, ins Exil zu gehen. Joaquin Stutzin wurde als Jude und chilenischer Staatsbürger im April 1933 aus Deutschland ausgewiesen. Er konnte mit Sangers Hilfe zunächst nach Spanien ins Exil gehen und 1935 nach Chile zurückkehren. Seine Ehe zu Käte Stutzin wurde 1938 annulliert, sie selbst ging 1935 zunächst nach London, später nach Italien ins Exil und folgte erst 1946 nach Chile. Max Hodann ging zunächst ins spanische Exil, wo er als Feldarzt im Spanischen Bürgerkrieg auf Seiten der Republik kämpfte, später zog er wie Helene Stöcker nach Schweden und übersetzte dort in Zusammenarbeit mit der schwedischen Familienplanungsgesellschaft seine Aufklärungsbücher ins Schwedische. Lotte Wolff flüchtete zunächst nach Frankreich und gelangte mit Hilfe der Familie des britischen Eugenikers Julian Huxley 1936 nach England. Hans Lehfeldt emigrierte 1934 in die USA , wo er eine gynäkologische Praxis in New York betrieb und 1973 Gutachter in Roe v. Wade, dem berühmten Prozess zur Legalisierung der Abtreibung, wurde. Ernst Gräfenberg gelang mit Sangers Hilfe erst 1940 die Flucht nach New York.63 Anne-Marie Durand-Wever legte alle politischen Ämter nieder und beschränkte sich in ihrem Praxisbetrieb auf die Geburtshilfe.64

Hans Harmsens Rolle im Nationalsozialismus Über Hans Harmsens Rolle im Nationalsozialismus gibt es seit den 1980er Jahren große Kontroversen unter Mitgliedern der Pro Familia und Historiker*innen. Eine Untersuchung der Professorin für Soziale Arbeit, Monika Simmel-Joachim, für die Pro Familia kam 1984 zu dem Ergebnis, dass Harmsen nicht am Judenmord beteiligt gewesen war und seine Schriften im Nationalsozialismus 62 Zu den semantischen Implikationen des Begriffs Birth Control, siehe Kapitel 2 dieses Bandes. 63 Vgl. Stutzin, Joaquin, Brief an Margaret Sanger (26.04.1933), in: Margaret Sanger Papers, Reel 14; Lennerhed, Lena, Taking the Middle Way. Sex Education Debates in Sweden in the Early Twentieth Century, in: Sauerteig, Lutz D. H. / Davidson, Roger (Hg.), Shaping Sexual Knowledge. A Cultural History of Sex Education in Twentieth Century Europe, London 2009, S.55–70, hier S. 60. 64 Vgl. Oertzen, Ärztin, S. 145; Harmsen, Schwangerenberatung, S. 290–291.

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aufgrund seines sozialdemokratischen Doktorvaters verboten gewesen seien. Er habe zwar ein konservatives Familienbild vertreten und sich für Zwangssterilisationen ausgesprochen, dies sei aber selbst von Sozialdemokraten wie Alfred Grotjahn gefordert worden.65 Dem widersprach die Medizinsoziologin Heidrun Kaupen-Haas, die dem Bremer Soziologen Gunnar Heinsohn folgend Harmsen als »führenden NS -Rassehygieniker, der nach dem Krieg als angesehener Sozialhygieniker« weiterwirken konnte, beschrieb.66 Ähnlich charakterisiert die Historikerin Atina Grossman Harmsen als einzigen Sexualreformer der Weimarer Republik, der mit dem Nationalsozialismus kooperiert habe.67 Laut der Medizinhistorikerin Sabine Schleiermacher lehnte Harmsen »eine selbstbestimmte Geburtenregelung schon aus bevölkerungspolitischen Erwägungen ab«, seine Unterstützung der Geburtenkontrolle in der Weimarer Republik sei allein eine eugenisch motivierte Maßnahme zur Prävention gegen Abtreibungen gewesen.68 Dementgegen argumentiert Maria Daldrups vergleichende biographische Studie zu Kontinuitäten der Karrieren deutscher Bevölkerungs­ wissenschaftler im 20. Jahrhundert, dass Harmsen »am NS -System unbeteiligt« und kein »NSDAP-Parteimitglied« gewesen sei. Dennoch sei er der einzige Wissenschaftler seiner Generation gewesen, dessen Karriere in den 1980er Jahren von »Vergangenheitsbewältigung tangiert wurde,« weswegen er 1984 seinen Pro-Familia-Ehrenvorsitz niederlegte.69 Formell gesehen wurde Harmsen nie NSDAP-Mitglied. Nach eigenen Angaben wollte er seine wissenschaftliche Tätigkeit nicht mit parteipolitischem Engagement vermischen.70 Im Vorwort einer 1969 erschienen Denkschrift für seinen Doktorvater Alfred Grotjahn gab Harmsen jedoch zu, vor 1933 durchaus mit der NSDAP sympathisiert zu haben, da er die Nationalsozialisten für die 65 Vgl. Simmel-Joachim, Monika, Brief an die Pro-Familia-Mitglieder (16.05.1984), in: Bundesarchiv Koblenz, Hans Harmsen Nachlass Akte 436 (im Folgenden zitiert als »BArch N 1336«). 66 Kaupen-Haas, Heidrun, Eine deutsche Biographie  – der Bevölkerungspolitiker Hans Harmsen, in: Ebbinghaus, Angelika u. a. (Hg.), Heilen und Vernichten im Mustergau Hamburg. Bevölkerungs- und Gesundheitspolitik im Dritten Reich, Hamburg 1984, S. 41–44, hier S. 44. 67 Vgl. Grossmann, Reforming, S. 190. 68 Schleiermacher, Sabine, Sozialethik im Spannungsfeld von Sozial- und Rassenhygiene. Der Mediziner Hans Harmsen im Centralausschuß für die Innere Mission, Husum 1998, S. 128. 69 Daldrup, Maria, Biographische Ordnungen vor und nach »1945«. Vergleichende Perspektiven auf Eugen Fischer, Hans F. K. Günther, Gunther Ipsen und Hans Harmsen, in: Etzemüller, Thomas (Hg.), Vom »Volk« zur »Population«. Interventionistische Bevölkerungspolitik in der Nachkriegszeit, Münster 2015, S. 26–51, hier S. 43–44. Der Rücktritt Harmsens wird in Kapitel 7 noch eingehender diskutiert, tatsächlich war die oben zitierten Recherchen von Kaupe-Haas und ihrer Doktorandin Sabine Schleiermacher der Auslöser für Harmsens Rücktritt. 70 Vgl. Daldrup, Maria, Hans Harmsen, in: Stambolis, Barbara (Hg.), Jugendbewegt geprägt, Essays zu autobiographischen Texten von Werner Heisenberg, Robert Jungk und vielen anderen, Göttingen 2013, S. 341–355, hier S. 353.

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Partei hielt, unter der er am ehesten seine Visionen einer eugenisch geplanten Gesellschaft umsetzen können würde, er sei aber aufgrund von Warnungen seines Doktorvaters der Partei nicht beigetreten.71 1927 hatte Harmsen auf Anraten Grotjahns eine Anstellung als wissenschaftlicher Berater im Centralausschuß der evangelischen Inneren Mission angenommen, parallel dazu verfasste er eine Habilitationsschrift zu Thema »Möglichkeiten und Grenzen der Eugenik«, welche im Frühjahr 1933 abgelehnt wurde. Harmsen selbst vermutete, dass dies aus politischen Gründen geschah, da er die Schrift seinem 1931 verstorbenen, sozialdemokratischen Doktorvater gewidmet hatte, und in der Arbeit die Euthanasie und Abtreibung aus eugeni­ schen Gründen missbilligte.72 Die Historikerin Schleiermacher hingegen mutmaßt, dass schlichtweg nach der Amtsenthebung seines jüdischen Habilitations­ betreuers Martin Hahn kurzfristig kein neuer Betreuer zur Verfügung stand.73 Im Rahmen seiner Tätigkeit für die Innere Mission hatte Harmsen 1931 die Evangelische Fachkonferenz für Eugenik ins Leben gerufen.74 Über das 1934 in Kraft getretenen Gesetz zur Verhütung Erbkranken Nachwuchses (GzVeN) hatte er Informationsschriften für Klinikmitarbeiter*innen verfasst und war durch das Deutsche Reich gereist, um Klinikpersonal in der Erkennung von Erbkrankheiten zu schulen, damit diese entscheiden konnten, welche Patient *innen sterilisiert werden sollten.75 Laut dem Medizinhistoriker Henning Tümmers wurden 1934 in evangelischen Anstalten 2399 Menschen sterilisiert, im ersten Halbjahr des Folgejahres 3140.76 Damit hatte Harmsen aktiv, wenn auch nicht als praktizierender Arzt, zu Zwangssterilisationen von Menschen mit Behinderungen beigetragen. Anders als der Rassehygieniker Otmar Freiherr von Verschuer oder Hans Nachtsheim, der in den 1950er Jahren selbst in der Pro Familia aktiv war, war Harmsen als Wissenschaftler nicht an Menschenexperimenten mit Konzen71 Vgl. Harmsen, Hans, Manuskript: Hans Harmsen, Erinnerungen an Alfred Grotjahn * 25. November 1869 + 4. September 1931 (1969), in: BArch N 1336/378, S. 4. 72 Siehe Harmsen, Hans, Brief an Walter Schreiber (17.05.1965), in: BArch 1336/455. Schreiber war ehemaliger Militärarzt der Wehrmacht, der nach 1945 zunächst in die USA und dann nach Argentinien emigrierte, nachdem er bei den Nürnberger Prozessen zu Menschenversuchen zur Entwicklung eines Fleckfieberimpfstoffs im KZ Buchenwald ausgesagt hatte. Er hatte Harmsen kontaktiert, weil er in die Bundesrepublik zurückkehren wollte und stellte sich selbst als moralisch-kritisches Opfer der NS -Verbrechen dar. Harmsen berichtete ihm daraufhin über Konflikte mit dem NSDAP Gauinspektor Erich Hilgenfeldt aufgrund seiner Habilitationsschrift, worüber ihn der SS Oberarzt Leonardo Conti, mit dem er gemeinsam studiert und in der Kommission zur Findung eines Sterilisationsgesetzes gesessen hatte, informiert hatte. Harmsen bot Schreiber aber keine Hilfe zur Rückkehr in die Bundesrepublik an. 73 Vgl. Schleiermacher, Sozialethik, S. 62–63. 74 Vgl. Tümmers, Henning, Anerkennungskämpfe. Die Nachgeschichte der nationalsozialistischen Zwangssterilisationen in der Bundesrepublik, Göttingen 2011, S. 36–37. 75 Vgl. Schleiermacher, Sozialethik, S. 247. 76 Vgl. Tümmers, Anerkennungskämpfe, S. 37.

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trationslagerinsass*innen beteiligt gewesen.77 Als Sozialhygieniker, der sowohl einen Doktortitel in der Medizin als auch in der Volkswirtschaftslehre besaß, hatte er sich in seiner wissenschaftlichen Forschung auf die Auswertung von Statistiken und Gesetzestexten im internationalen Vergleich beschränkt; er hatte für seine Dissertationen die Geburtenpolitik in Frankreich analysiert, in einer zweiten Publikation die Abtreibungsregelung der Sowjetunion.78 Harmsen selbst hatte sich schon in der Weimarer Republik für die Legalisierung der Sterilisation aus eugenischen Gründen ausgesprochen und 1932 war er Teil einer Kommission des preußischen Landtages zur Ausarbeitung eines solchen Sterilisationsgesetzes gewesen.79 Laut Tümmers lehnte die Kommission den Vorschlag des späteren Reichsgesundheitsführers, Reichsärzteführers und SS Obergruppenführer Leonardo Conti ab, eine »rassenideologische Indikation« für Sterilisierungen einzuführen. Auch gab es Konflikte zwischen Conti und dem Rest der Kommission über die Freiwilligkeit der Maßnahmen.80 Der von der Kommission 1932 erarbeitete Gesetzentwurf unterschied sich laut der Historikerin Gisela Bock von dem letztendlich verabschiedeten Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses darin, dass erst in dem nationalsozialistischen Gesetz die Anwendung von Zwang explizit vorgesehen war, da man dies nur in einem totalitären Regimes so durchsetzen konnte.81 Harmsen selbst hatte sich jedoch beim Reichsinnenministerium 1934 dafür eingesetzt, dass die Kliniken der Inneren Mission Sterilisationen nur durchführten, wenn die Betroffenen keinen »öffentlichen Widerstand« leisteten.82 In Schulungen von Klinikpersonal im Jahre 1935 betonte er, man solle einen »Anschein von Freiwilligkeit« bewahren.83 Jedoch entsprach sein Verständnis von Einvernehmen nicht einem Konzept von Freiwilligkeit, welches das Recht auf reproduktive Selbstbestimmung betonte. Einvernehmen umfasste nur das Einverständnis eines Patienten/einer Patientin oder seines/ihres rechtlichen Vormundes zur 77 Der Mediziner und Genetiker Otmar Freiherr von Verschuer (1896–1969) war von 1942 bis 1945 Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthologie, menschliche Erblehre und Eugenik (KWI-A) gewesen, ab 1951 baute er das Institut für Humangenetik an der Universität Münster neu auf. Der studierte Zoologe Hans Nachtsheim (1890–1979) war Leiter der Abteilung für experimentelle Erbpathologie am KWI-A, ab 1946 erhielt er zunächst eine Professur für Genetik an der Humboldt-Universität Berlin, ab 1949 einen Lehrstuhl für Humangenetik an der neugegründeten Freien Universität Berlin. Beide hatten von Verschuers ehemaligen Doktoranden Josef Mengele Blut- und Gewebeproben aus dem Konzentrationslager Auschwitz erhalten, siehe Kühl, Internationale, S. 228 und 240. 78 Vgl. Daldrup, Biographische, S. 37; Tümmers, Anerkennungskämpfe, S. 27. 79 Vgl. Ebd., S. 201. 80 Vgl. Tümmers, Anerkennungskämpfe, S. 28. 81 Bock argumentiert, dass aufgrund kritischer Stimmen, besonders der Kirchen, ein Gesetz zur Legalisierung von Zwangssterilisationen in einem demokratischen Staat nicht hätte durchgesetzt werden können, vgl. Bock, Gisela, Zwangssterilisation im Nationalsozialismus. Studien zur Rassenpolitik und Frauenpolitik, Opladen 1986, S. 89. 82 Vgl. Ebd., S. 255. 83 Vgl. Ebd., S. 193.

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Expertenempfehlung zur Sterilisation, keine bewusste Entscheidung des / der Betroffenen. Ein von Harmsen herausgegebener Leitfaden für Klinikpersonal ging davon aus, dass Betroffene nach Darlegung der ärztlichen Diagnose aus rationalen Gründen einer Sterilisation zustimmen würden, notfalls unter Androhung von Asylierung auf eigene Kosten. Da die meisten Betroffenen einem Vormund unterstellt waren, sah er in der Erlangung der Zustimmung kein großes Problem.84 Harmsen spielte in der Umsetzung des GzVeN folglich eine ambivalente Rolle, da er einerseits Klinikpersonal auf zu sterilisierende Menschen aufmerksam machte, andererseits die gewaltsame Durchführung von Zwangssterilisationen zu verhindern suchte. Sein Handeln entsprach nicht unbedingt dem eines linientreuen Nationalsozialisten, lässt aber auch keine generelle Ablehnung einer diskriminierenden Bevölkerungspolitik erkennen. Schleiermacher geht in ihrer 1998 erschienenen Dissertation davon aus, dass Harmsens Unterstützung der Verbrechen des Nationalsozialismus darin bestand, dass er eigenmächtig die Innere Mission auf einen bevölkerungspolitischen Kurs eingeschworen habe, was nach seinem Ausscheiden 1937 zur Teilnahme an den 1940 begonnen Euthanasieprogramm geführt habe.85 Laut Schleiermacher habe Harmsen während seiner Tätigkeit im Centralausschuß der Inneren Mission die nationalsozialistische Rassen- und Bevölkerungsideologie nicht nur rezipiert, sondern auch aktiv verbreitet. Jedoch zeigen Harmsens Veröffentlichungen, dass er der Euthanasie öffentlich regelmäßig widersprach.86 So lehnte er aus einem christlichen Moralverständnis heraus neben dem direkten Zwang bei Sterilisationen, die Abtreibung aus eugenischen Gründen und die Euthanasie ab.87 Seine Einstellung zur Abtreibung veröffentlichte er im Februar 84 Vgl. Matzner, Hans Joachim, Inhalt und Ablauf des Verfahrens beim Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, in: Harmsen, Hans (Hg.), Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses. Eine Handreichung für die Schulung der in unseren Anstalten und in der Wohlfahrtspflege wirkenden Kräfte, Verlag Dienst am Leben, Berlin 1935, S. 13–19, hier S. 17, in: BArch N 1336/112. 85 Vgl. Ebd., S. 15. Jedoch zeigt der Historiker Theodor Strohm, dass auch nach Harmsens Ausscheiden der Centralausschuß der Inneren Mission im März 1940 gegen die Krankenmorde der eigenen Patientinnen und Patienten protestierte, vgl. Strohm, Theodor, Bestandaufnahme. Die Haltung der Kirchen zu dem NS -»Euthanasie«-Verbrechen, in: Rotzoll, Maike u. a. (Hg.), Die nationalsozialistische »Euthanasie«-Aktion »T4« und ihre Opfer, Paderborn 2010, S. 125–133, hier S. 127. 86 So kritisierte Harmsen noch 1940 öffentlich die »Zwangsvorstellung einer Überbevölkerung, »Volk ohne Raum««, da die deutschen Geburtenziffern seit 1926 sanken. Auch argumentierte er, dass die Lage unehelicher Mütter sich mit der Einrichtung der Lebensbornheime zunächst verschlechtern würde, vgl. Harmsen, Hans, Methodische Beurteilung der biologischen Bestandserhaltung von Volksgruppen, in: Sonderdruck Archiv für Bevölkerungswissenschaft und Bevölkerungspolitik X (1940), H. 1, S. 49–51, hier S. 49, in: BArch N 1336/292; Harmsen, Hans, Zur ungeklärten Lage der ledigen Mutter und des unehelichen Kindes, in: Sonderdruck Archiv für Bevölkerungswissenschaft und Bevölkerungspolitik X (1940), H. 1, S. 145–153, hier S. 152, in: BArch N 1336/292. 87 Vgl. Harmsen, Hans, Geistig Tote?, in: Mitteilungen der Arbeitsgemeinschaft für Volksgesundung e. V. 5 (03. März 1934), S. 2, in: BArch N 1336/33.

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1935 in einen Artikel des Bochumer Sonntagsblatts, in dem er unter dem Titel »Der Zentralausschuss der Inneren Mission zu Irrwegen der Rassenlehre« ein Urteil des Hamburger Erbgesundheitsgerichtes kritisierte. Das Urteil erlaubte Ärzten, Abtreibungen, die laut der nationalsozialistischen Verschärfung des § 218 eigentlich unter Androhung von Zuchthaus- oder Todesstrafe verboten waren,88 bei »eugenischer« Indikation gegen den Willen der Mutter und ohne richterlichen Beschluss durchzuführen. Er betonte: Unfruchtbarmachung erblich schwer Belasteter ist in gewissen Fällen als sittlich gerechtfertigt anzusehen, aber eine Schwangerschaftsunterbrechung aus rassehygienischer Indikation, d. h. also dann, wenn mit ausreichender Wahrscheinlichkeit die Entstehung eines erbbelasteten Kindes zu erwarten ist, wird abgelehnt. Denn die Innere Mission ist grundsätzlich der Auffassung, daß es einen deutlichen Unterschied zwischen der Verhütung erbkranken Lebens und der Vernichtung bereits entstandenen Lebens zu machen ist.89

Der anonym erschienene Artikel lässt sich Harmsen zuordnen, da einige Passagen wortwörtlich gleich in einem von ihm verfassten Rundschreiben an die Landes- und Provinzialverbände, sowie Fachverbände der Inneren Mission zum Hamburger Urteil erschienen.90 Darin argumentierte Harmsen, dass man nicht sicher wisse, ob ein Kind tatsächlich krank geboren werden würde: »Der Bestand unseres Volkes wird nicht dadurch gefährdet, daß für kurze Zeit noch ein paar erbbelastete Kinder mehr geboren werden – wobei es immer eine offene Frage bleibt, ob diese Kinder auch wirklich erkranken und von der Allgemeinheit versorgt werden müssen.«91 Hier zog er den Begriff »Volk« als Referenzgröße heran, welches im Konzept der Volksgemeinschaft auch rassisch aufgeladen war.92 Auch erwähnte er explizit die Kostenfrage der Versorgung von Menschen mit Behinderungen, was für eine evaluierende Logik, wie Bashford und Levine sie für antirassistische Eugeniker wie Julian Huxley beschreiben, und Präferenz materieller Werte in seinem Denken spricht.93 Jedoch sah er die Gefahren, die 88 Zur Verschärfung des § 218 im Nationalsozialismus, siehe Usborne, Cornelie, Cultures of Abortion in Weimar Germany, New York 2007, S. 216–217. 89 N. N. (Hans Harmsen), Der Zentralausschuß für Innere Mission zu Irrwegen der Rassenlehre, in: Sonntagsblatt Bochum (17.02.1935), in: BArch N 1336/112. 90 Schirmacher, P. / Harmsen, Hans, Rundschreiben an die Landes- und Provinzialverbände sowie Fachverbände der I. M. und die evangelischen Heil- und Pflegeanstalten, Rundschreiben 5 (8.01.1935), in: BArch N 1336/112. 91 Ebd. S. 2. 92 Vgl. Wildt, Michael, Volksgemeinschaft. A Controversy, in: Pendas, Devin O. u. a. (Hg.), Beyond the Racial State. Rethinking Nazi Germany, Cambridge 2017, S. 317–334, hier S. 324. Zum Konzept der Volksgemeinschaft, siehe auch den Sammelband von Steber, Martina / Gotto, Bernhard (Hg.), Visions of Community Nazi Germany. Social Engineering and Private Lives, Oxford 2014. 93 Alison Bashford beschreibt den britischen Eugeniker Julian Huxley als »anti-racist«, der die Kategorie »Rasse« in der Eugenik und die nationalsozialistische Vorstellung von »lebensunwertem Leben« ablehnte, aber dennoch keine demokratischen oder frauen-

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von Kindern mit Behinderungen für die Gesellschaft ausgingen, als nicht so gravierend an, als dass dies die Durchführung einer Abtreibung rechtfertigte. Weitere Argumente gegen die legale Abtreibung bei »eugenischer« Indikation waren für ihn, dass so der illegalen Abtreibungspraxis nur Vorschub geleistet werde, dass Abtreibungen das Leben der Schwangeren gefährdeten, dass die Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen und Unfruchtbarmachungen »notfalls unter Anwendung unmittelbaren Zwanges« den Ansprüchen der Inneren Mission, dem »Willen Gottes« folge zu leisten, widerspreche. Auch würde die Rechtsprechung des Hamburger Erbgesundheitsgerichts »mit der gleichen Begründung, die heute angeblich zur Unterbrechung der Schwangerschaft ausreicht, die Tötung des bereits geborenen, ja auch des erwachsenen und zeugungsfähig gewordenen Erbkranken rechtfertigten.«94 So lehnte Harmsen im Namen der Inneren Mission die Euthanasie explizit ab. Als Argumente gegen Zwangsabtreibungen wog er neben Dammbruchargumenten auch die Gesundheit der schwangeren Frauen, moralische Sorgen und christlichen Glauben gegen den »Bestand des Volkes« ab und wertete diese als bedeutender. Diese Ablehnung der Euthanasie, Abtreibung bei »eugenischen« Indikation und der Einsatz von Zwang bei Sterilisationen waren laut dem Kirchenhistoriker Uwe Kaminsky die einzigen Proteste gegen das nationalsozialistische Regime aus der Inneren Mission.95 Dies zeigt, dass Harmsen sich 1935 durchaus auch halb-öffentlich kritisch gegenüber der nationalsozialistischen Ideologie äußerte. So setzte Harmsen sich innerhalb der Inneren Mission für die Umsetzung der eugenischen Sterilisationsgesetze ein, betonte innerhalb und außerhalb der Insitution aber auch eine scharfte Ablehnung der Euthanasie. Zwar hat die Geschichtswissenschaft in den 1980er Jahren herausgearbeitete, dass eugenische Zwangssterilisationen und Euthanasie zentrale Aspekte des nationalsozialistischen Rassenstaats waren.96 Jedoch ist aufgrund der neuesten Forschung zu den Euthanasiemorden ein alleiniges »rassehygienisches Paradigma«, dass eine direkte Linie von der Eugenik zu den Euthanasiemorden zieht, nicht mehr aufrechtzuerhalten, da Quellenfunde seit der deutschen Wiedervereinigung auf Verschränkungen von ökonomischen und rassistischen Auswahlkriterien hin­ rechtlichen Werte vertrat, da er Menschen aufgrund ihrer physischen und geistigen Leistungsfähigkeit ungleiche Rechte zusprach, vgl. Bashford, Global, S. 331; siehe auch Bashford / Levine, Introduction, S.  5. 94 Schirmacher / Harmsen, Rundschreiben, S. 2, Hervorhebung im Original. 95 Vgl. Kaminsky, Uwe, Eugenik und »Euthanasie« nach 1945, in: Rotzoll, Maike u. a. (Hg.), Die nationalsozialistische »Euthanasie«-Aktion »T4« und ihre Opfer, Paderborn 2010, S. 375–383, hier S. 377. 96 Vgl. Schmuhl, Hans-Walter, Rassenhygiene, Nationalsozialismus, Euthanasie. Von der Verhütung und Vernichtung »lebensunwerten Lebens« 1890–1945, Göttingen 1987, S. 18– 20. Siehe auch ders., Die Genesis der »Euthanasie«. Interpretationsansätze, in: Rotzoll Maike u. a. (Hg.), Die nationalsozialistische »Euthanasie«-Aktion »T4« und ihre Opfer, Paderborn 2010, S. 66–76. Zum Überblick über die jüngsten Forschungsdebatten, siehe auch Herzog, Dagmar, Unlearning Eugenics. Sexuality, Reproduction and Disability in Post-Nazi-Europe, Madison 2018, S. 53.

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deuten.97 So weist Dagmar Herzog in ihrer neuen Studie »Unlearning ­Eugenics« darauf hin, dass die neuste Forschung sich wieder für eine gedankliche Trennung der Ideologie des Euthanasieprogramms von der Eugenik ausspricht, da Euthanasieentscheidungen eher auf ökonomischen Kriterien und der Erwerbsfähigkeit einzelner Menschen mit Behinderung basierten, als auf rassistischen Kriterien.98 Daher lässt sich Harmsen als zentrale Akteur beschreiben, der in der Inneren Mission die Sterilisationspraxis durchgesetzt hat, aber nicht als derjenige, der die Institution auf die Teilnahme am Euthanasieprogramm vorbereitet hat. Harmsen vertrat bis 1937 als wissenschaftlicher Experte im Centralausschuß der Inneren Mission weiterhin die Standpunkte, die er auch schon vor der nationalsozialistischen Machtergreifung vertreten hatte. Im Großen und Ganzen übernahm er die sozialhygienischen Konzepte seines Doktorvaters Alfred Grotjahn, der Eugenik als Präventivmedizin zur Pflege der »Erbqualität« einer »Bevölkerung« begriff, welche alle Einwohner eines bestimmten Staates umfasste, und ergänzte sie während seiner Anstellung in einer konfessionellen Institution mit christlicher Morallehre.99 In einem 1932 erschienenen Aufsatz unter dem Titel »Christentum, Eugenik und Wohlfahrtspflege« hatte er die Euge­nik als rationale Wissenschaft bezeichnet, die die Komplexität der göttlichen Schöpfung offenbare und nachweise, dass die Aufklärung in der Annahme der Gleichartigkeit der Menschen falschgelegen habe. Jedoch gebe es auch eine pädagogische Funktion von Elend und Leid, und erbkranke Menschen könnten auch überdurchschnittliche Leistungen erbringen (er dachte dabei etwa an manisch-depressive Schriftsteller).100 Daher dürfe man »eine Maßnahme dort [bejahen], wo sie der Vorbeugung der Entstehung kranken, erbbelasteten Lebens dienen. Wir haben aber kein Recht zur Vernichtung einmal gezeugten Lebens, weder zur Vernichtung sogenannten lebensunwerten Lebens, noch zur Schwangerschaftsunterbrechung.«101 Die negative Eugenik solle jedoch auch nicht aus rein materiellen oder utilitaristischen Gründen angewandt werden, sondern 97 Vgl. Rotzoll, Maike u. a., Die nationalsozialistische »Euthanasie«-Aktion »T4« und ihre Opfer. Eine Einführung, in: dies. u. a. (Hg.), Die nationalsozialistische »Euthanasie«Aktion »T4« und ihre Opfer, Paderborn 2010, S.13–22, hier S. 21. 98 Für einen Überblick über die Forschungsdebatte um die Frage, wie zentral die Eugenik und Euthanasie im nationalsozialistischen Rassestaat war, siehe Herzog, Unlearning, S. 129–132, hierbei verweist sie besonders auf den Beitrag von Czech, Herwig, Nazi ­Medical Crimes, Eugenics and the Limits of the Racial State Paradigm, in: Pendas, ­Devin O. u. a. (Hg.), Beyond the Racial State. Rethinking Nazi Germany, Cambridge 2017, S. 213–240, hier insbesondere S. 219–220. 99 Zu Grotjahns Eugenikkonzept siehe Ferdinand, Sozialhygiene, S. 128. 100 Als erbkrank zählten laut dem Entwurf zum GzVeN Menschen, die unter angeborenem »Schwachsinn«, Schizophrenie, bipolaren Störungen, Huntingtonscher Chorea, Epilepsie, Blindheit, Taubheit, »schweren körperlichen Missbildungen« oder auch Alkoholismus litten, vgl. Schleiermacher, Sozialethik, S. 241. 101 Harmsen, Hans, Christentum, Eugenik und Wohlfahrtspflege, in: Evangelische Wahrheit 3 (Dezember 1932), S. 43–48, hier S. 46, in: BArch N 1336/112.

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nur um »Gottes Schöpfungswillen« umzusetzen: »Jedenfalls aber bedürfen alle Maßnahmen einer negativen Eugenik zur Gesundung und Stärkung unseres Volkes immer wieder der Reinigung und Läuterung durch jene Liebe, die auch dort nicht endet, wo es keine Heilung mehr gibt.«102 Neben der christlichen Einbettung der Eugenik als rationale Fortsetzung der göttlichen Schöpfung, macht der Text deutlich, dass Harmsen schon vor 1933 eine qualitative Einteilung der Bevölkerungen in diejenigen, die sich fortpflanzen und diejenigen, die sich nicht fortpflanzen sollten, vornahm, aber die Kategorie des »lebensunwerten« Lebens für schon gezeugte Embryonen oder geborene Menschen ablehnte. Harmsens Einteilung kann man als Kategorisierung in »fortpflanzungswertes« und »nicht fortpflanzungswertes« Leben bezeichnen, die nicht auf der Differenzkategorie »Rasse«, sondern auf dem Faktor »Behinderung« basierte. Harmsens illiberale Denkweise folgte hier einer evaluierenden Logik, die Menschen mit Behinderungen als gesellschaftlich weniger wertvoll, aber nicht als völlig wertlos, abklassifizierte. Gisela Bocks bahnbrechende Studie hat gezeigt, dass im Nationalsozialismus auch Zwangssterilisationen von Menschen mit Behinderungen letztendlich rassistisch motiviert waren, da sie zur »Stärkung« der deutschen »Rasse« dienen sollten.103 Harmsen selbst vollzog diesen Gedankenschritt von der Eugenik zum Rassenstaat in seinen Publikationen nicht. Stattdessen vertrat er ein eigenes Rassekonzept, welches weder den Befürwortern des Konzeptes einer »deutschen Rasse« um den Anthropologen Karl Saller, noch den Anhängern der Theorie einer überlegenen »nordischen Rasse« um Hans K. F.  Günther entsprach.104 So kritisierte Harmsen in einer Sammelrezension zu bevölkerungspolitischen Publikationen von 1932 Günthers »Rassekunde des deutschen Volkes« aus dem Jahre 1922 als »Irrweg«. Er hielt dessen Einteilung der europäischen Bevölkerung in »mehr- oder minderwertige Rassen« und die daraus resultierende Forderung nach Zwangssterilisationen »minderwertiger« Rassen und »Bastarde« als falsche Politik, da dies nicht nur das deutsche Volk, sondern auch die »Arier«, mit denen hier wohl das Konzept einer »nordischen Rasse« gemeint war, auseinanderreißen würde.105 Dies zeigt, dass Harmsen einer Gleichsetzung von »Volk« und »Rasse« in der Ideologie der »deutschen Rasse« nicht zustimmte, da beide Kategorien in seinem Denken unterschiedliche Referenzgrößen waren. 102 Ebd., S. 48. 103 Vgl. Bock, Zwangssterilisationen, S. 107. 104 So gab es nach dem Historiker Richard F. Wetzell kein einheitliches Rassekonzept unter den nationalsozialistischen Rassehygienikern. Zur Unterscheidung zwischen Konzepten einer »deutschen Rasse« und einer »nordischen Rasse« in der nationalsozialistischen Rassewissenschaft, siehe Wetzell, Richard F., Eugenics, Racial Science, and Nazi Biopolitics. Was there a Genesis of the »Final Solution« from the Spirit of Science, in: Pendas, Devin O. u. a. (Hg.), Beyond the Racial State. Rethinking Nazi Germany, Cambridge 2017, S. 154–155. 105 Vgl. Harmsen, Hans, Neues Bevölkerungspolitisches Schrifttum, in: Mitteilungen der Arbeitsgemeinschaft für Volksgesundung e. V. 20 (30.07.1930), S. 4, in: BArch N 1336/30.

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Anstatt einer Hierarchisierung von »Rassen«, argumentierte Harmsen 1930, bräuchte es eine bessere »Rassenlehre«, um »das Gefüge des Volksganzen zu festigen und die grosse symbiotische Harmonie [zu] beleuchten, die zwischen Volk und Nachbarvolk und zwischen Rasse und Menschheit waltet.«106 Dies zeigt, dass sich »Volk« für Harmsen als Referenzgröße auf die Einwohner des deutschen Reiches bezog, während »Rasse« eine größergefasste Entität be­ deutete. Auch sprach er positiv von einer bestehenden Harmonie zwischen verschiedenen Völkern und Rassen und stellte einen Bezug auf die Menschheit allgemein her. Dies impliziert zusammen mit seiner Bezugnahme auf die göttliche Schöpfung, dass sein Konzept einer eugenischen Bevölkerungspolitik die Menschheit als Ganzes umfasste und das Ziel hatte, auf globaler Ebene genetisch bedingte Behinderung innerhalb einiger Generationen zu eliminieren. Harmsens Schriften für die Innere Mission nach 1933 nutzten nicht mehr den Begriff »Rasse«.107 Noch 1936 kritisierte er in einem unveröffentlichten Manuskript Alfred Rosenbergs »Rassetheorien« als unwissenschaftlich, da man größere Intelligenzunterschiede zwischen Stadt- und Landbevölkerung feststellten könne als zwischen unterschiedlichen »Rassen«. Das wiederum impliziert, dass er Intelligenz bzw. deren Mangel als Kategorie für den gesellschaftlichen Wert eines Menschen hielt und nicht dessen »rassische« Zugehörigkeit.108 So hatte er sich etwa auch für eine Sterilisierung ausländischer Patient*nnen in den Kliniken der Inneren Mission ausgesprochen, während das Regime dies ablehnte. Die Patienten sollten stattdessen abgeschoben werden, um in dieser Logik die »Qualität« der Bevölkerung in ihren Heimatländern zu untergraben.109 Daher ist anzunehmen, dass Harmsen auch im Nationalsozialismus euge­ nische Denkweisen vertrat, die auf den Differenzkategorien »Klasse« und »Behinderung« basierten und sich dem Nationalsozialismus aus opportunistischen 106 Ebd. 107 Schirmacher, P. / Harmsen, Hans, Rundschreiben an die Landes- und Provinzialverbände sowie Fachverbände der I. M. und die evangelischen Heil- und Pflegeanstalten, Rundschreiben 3 (18.07.1934), Rundschreiben 4 (18.08.1934), Rundschreiben 5 (08.1.1935), Rundschreiben 6 (13.2.1935), Harmsen Handreichung, in: BArch N 1336/112; jedoch sprach er in der Einleitung zu seiner 1938 verfassten und 1939 veröffentlichten, zweiten Habilitationsschrift über »Gesundheitssicherung und Gesundheitsfürsorge für die weiblichen Krankenpflegekräfte« von der »Erb- und Rassenpflege« als zentrales Element der nationalsozialistische Innenpolitik, ohne jedoch auf den Punkt einzugehen. Stattdessen beschäftigte sich die Habilitationsschrift mit Infektionskrankheiten und hoher Arbeitsbelastung als gesundheitliche Gefährdungen für Krankenschwestern, siehe Harmsen, Hans, Gesundheitssicherung und Gesundheitsfürsorge für die weiblichen Kranken­pflegekräfte, (Johann Ambrosius Barth Verlag Leipzig 1939), Druckfahnen vom 9.11.1938 in: BArch N 1336/314. 108 Vgl. Harmsen, Hans, Denkschrift über die weltanschauliche Lage des abendländischen Kulturkreises (undatiert ca. 1936), in: BArch N 1336/112. 109 Vgl. Schirmacher, P. / Harmsen, Hans, Rundschreiben an die Landes- und Provinzial­ verbände sowie Fachverbände der I. M. und die evangelischen Heil- und Pflegeanstalten, Rundschreiben 4 (18.08.1934), in: BArch N 1336/112.

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Gründen bis zu einem gewissen Grad anpasste. Er begriff das Regime als Ermöglichkeitsraum seiner eigenen gesellschaftsplanerischen Ziele, die eugenischen Vorstellungen seines Doktorvaters Alfred Grotjahns umzusetzen. Dennoch machte er sich so zu Handlanger des nationalsozialistische Rassestaates, da die von ihm unterstützten Sterilisationsmaßnahmen in der Logik des Regimes letztendlich zur »Stärkung der deutschen Rasse«, wie auch immer sie definiert wurde, dienen sollten. Aber anders als es Kaupen-Haas annimmt, war er dabei kein Vordenker einer nationalsozialistischen Rassenideologie. Da er sich bis 1935 in Rundbriefen an die Innere Mission gegen Abtreibung und Euthanasie aussprach, stellte er die evangelischen Kliniken nicht in direktem Wege auf die Teilnahme am Euthanasieprogramm ein, indirekt hatte er die Weichen schon durch die Einrichtung der Fachkonferenz für Eugenik 1931 gelegt. Er selbst schied 1937 aus der Inneren Mission aus, um einen erneuten Versuch zu unternehmen, sich zu habilitieren. Diesmal war es mit dem unverfänglicheren Thema »Gesundheitsfürsorge für Krankenschwestern« erfolgreich.110 Ähnlich wie Margaret Sanger folgte Harmsen einer Denkweise, die der britischen Eugenikbewegung nahestand, welche Menschen anhand der Differenzkategorien »Behinderung« und »Klasse« unterteilte und universell angewendet werden konnte.111 Diese Denkweise ließ sich in die internationalen Debatten um Eugenik und Sexualreform der Zwischenkriegszeit genauso teilintegrieren, wie in die nationalsozialistische Rassenideologie. Anders als Sanger sprach er sich aber auch für Maßnahmen der positiven Eugenik aus. So erwähnte Harmsen in einem Lexikonartikel, dessen Erscheinen noch 1944 geplant war, das GzVeN und die Nürnberger Gesetze zu Verboten von Ehen zwischen Juden und Nichtjuden nur beiläufig, was impliziert, dass er sie für nicht effektiv hielt. Stattdessen lobte er die Ehestandsdarlehen als »genial« und den Himmler’schen Polizeierlass zum Verbot von Verhütungsmitteln und Abtreibungen, welchen er nach 1945 vehement bekämpfte, als »zur Hebung der Geburtenzahlen dienen[d].« Dies zeigt, dass er zum damaligen Zeitpunkt eine erzwungene pronatalistische Familienpolitik befürwortete. Jedoch forderte er die Einführung eines Familienlastenausgleichs, das heißt Steuererleichterungen als positive Ermutigung für Familien mehr Kinder zu bekommen, da sonst die Einschränkungen des Zugangs zu Reproduktionskontrolle, »so wertvoll diese Maßnahmen auch sind«, nicht effektiv seien.112 Mit einer Wende weg vom »Volk« und hin zum Wohle der individuellen Familie fanden Harmsens eugenische Forderung auch im Sozialstaat der Bundesrepublik Anknüpfungspunkte, wie im Verlauf dieser Untersuchung dargelegt 110 Siehe Harmsen, Gesundheitssicherung, in: BArch N 1336/314. 111 Vgl. Bashford, Global, S. 331. 112 Vgl. Harmsen, Hans, Aufbau und Wandlung des Deutschen Volkskörpers, in: Prof. Dr. Six. Handbuch des großdeutschen Reiches (Druckfahnen 1944, wahrscheinlich nie erschienen), in: BArch N 1336/302.

Fazit 

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werden soll. Harmsen war demnach kein Vordenker der nationalsozialistischen Rassenpolitik. Er war aber auch bei weitem kein Oppositioneller oder liberaler Humanist, da er Menschen in Kategorien basierend auf ihren reproduktiven Wert einteilte und nicht als gleichwertig betrachtete. Er war ähnlich wie Margaret Sanger ein pragmatisch agierender Opportunist, der die Vorstellung einer biologistischen Gesellschaftsordnung durchsetzen wollte, indem er nationale und internationale Allianzen knüpfte. Er unterstützte die negative Eugenik so lange sie keinen gewaltvollen Zwangscharakter annahm. Auch versuchte er seine Forderungen an sich wandelnde Wertvorstellungen des herrschenden Regimes anzupassen, beanspruchte aber auch weiterhin das Recht, halb-anonym Dissens zu äußern, so lange es nicht zu riskant war. Seine größte politische Wirkung erreichte er mit dieser Strategie jedoch erst in der Bundesrepublik.

Fazit In der amerikanischen Birth-Control-Bewegung und der Sexualreformbewegung der Weimarer Republik wurde Empfängnisverhütung vor allem mit der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Schicht verknüpft. Ärzt*innen als Expert*innen aus der Mittelschicht sollten formelle Netzwerke zur Beratung von Frauen der Arbeiterschicht aufbauen. Die Kontrolle der Reproduktion wurde dabei nicht als individuelle Entscheidungssituation, sondern als gesellschaftlicher Wert verhandelt. Das zentrale Element der Narrative Sangers und Durand-Wevers über den Beginn ihres Aktivismus für die Geburtenkontrolle ist die Unwissenheit über Methoden sowohl bei Ärzt*innen als auch bei Müttern. Beide setzten sich für eine Verbreitung von wissenschaftlich validem Wissen über Empfängnisverhütung ein. Die Aktivistinnen nahmen an, dass Frauen, sobald sie das Wissen und die Mittel hatten, diese auch anwenden würden. Schließlich ging es in beiden Anekdoten um Frauen, die aus gesundheitlichen oder finanziellen Gründen keine Kinder mehr bekommen sollten. Sangers Nichterwähnen von informellen Netzwerken zur Vermittlung von Reproduktionswissen, sowie auch der Ansatz der Berliner Arbeitszentrale für Geburtenkontrolle, erst eine Umfrage unter Ärzt*innen zu starten, zeigen, dass es den Aktivist*innen um 1930s vor allem um den Aufbau formeller Wissenskanäle und zu einer Zusammenarbeit zwischen Expert*innen und Zivilgesellschaft zur Etablierung einer Bevölkerungskontrolle nach rationalen Kriterien ging. Dabei sollten Expert*innen Patientinnen nach Kategorien, wie etwa sozialer Schicht, Gesundheit oder Behinderung auswählen, und nur ihnen das Wissen über Verhütungsmittel zukommen lassen. Ärzt*innen wurden so zu Gate-Keepern über reproduktives Wissen und Entscheidern darüber, wer seine Fortpflanzung selbst steuern können sollte. Durand-Wevers Ansatz auch Frauen der Mittelschicht zu beraten und Sangers Ablehnung der positiven Eugenik deuten zwar darauf hin, dass sie allen Frauen die Kontrolle über ihre eigene

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Margaret Sanger, Hans Harmsen und die Sexualreformbewegung

Reproduktion zusprechen wollten. Jedoch gab es keine Ansätze, die Frauen in prekären Situationen dazu ermächtigen sollten, sich aktiv für das Kinderkriegen zu entscheiden. Hans Harmsens Vorstellungen einer rationalen Bevölkerungssteuerung durch Geburtenkontrolle in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus, die er seinem Doktorvater folgend vornehmlich als Anpassung an ökonomische Verhältnisse verstand, stellten keine Abweichung von den Forderungen der amerikanischen Birth-Control-Bewegung und der Weimarer Sexualreformbewegung dar, sondern die Hoffnung, dass eine rationale, expertengesteuerte Bevölkerungspolitik in einem totalitären Regime besser umsetzbar sei. Dabei behielt er ein anderes Rasse- und Bevölkerungskonzept bei als der Nationalsozialismus, indem er den Fokus auf die Differenzkategorien »Klasse« und »Behinderung« legte. Anstelle einer qualitativen Klassifizierung von Menschen als »lebensunwert«, sollten hier weiterhin Menschen anhand von kollektiven materialistischen Werten als »fortpflanzungswert« klassifiziert werden, was zeigt, dass in Harmsens Denken Menschen mit Behinderungen oder Angehörige der Unterschicht nicht als gleichwertig und gleichberechtigt betrachtet wurden. Seine Ausführungen zur Notwendigkeit von Zustimmung zu eugenischen Sterilisationen zeigen, dass Reproduktionssteuerung in den 1930er Jahren nicht als selbstbestimmtes Entscheidungsrecht, sondern als bloße Annahme einer Expertenentscheidung verstanden wurde. Nicht der Betroffene selbst traf nach eigener Reflexion aller Alternativen einen bewussten Entschluss zur Sterilisation, stattdessen wurde die Entscheidung an Ärzte, Gutachter und Erbgesundheitsgerichte externalisiert. Alternativen wurden den Betroffenen durch die Androhung von Zwangseinweisungen verwehrt. Die Reproduktion der Bevölkerung wurde so sowohl in der Weimarer Republik, den demokratischen USA als auch im Nationalsozialismus als aus der Kontrolle geraten begriffen, was durch Experteneingriffe nachträglich gesteuert werden müsse. Erst in Abgrenzung zum Nationalsozialismus sollten in der Folge der 1940er Jahre Konzepte von Geburtenkontrolle entstehen, die das Selbstentscheidungsrecht der individuellen Familie zur Planung ihres Nachwuchses betonten. Dennoch blieben die Kategorien »Klasse« und »Behinderung« weiterhin entscheidend für die Expert*innen, die Empfehlungen zur Familienplanung abgaben. Das so entstehende Konzept der Familienplanung soll im folgenden Kapitel diskutiert werden.

2. »Freedom through Knowledge.« Die Familienplanung als amerikanisches Konzept in der globalen Überbevölkerungsdebatte

»[M]y life would be happier if I could space my kids farther [sic] apart at least a two years so I can see after the other ones as I see in the magazines.«1 Dies schrieb eine anonyme Frau aus Florida in einem Brief an Planned Parenthood im Oktober 1942. Sie bat um eine Anleitung, wie man Geburtenkontrolle praktizieren könne, da sie nicht ein Kind nach dem anderen bekomme wolle, bis ihre Gesundheit in Mitleidenschaft gezogen wurde. Planned Parenthood veröffentlichte den Brief im Zuge der ersten landesweiten Kampagne von 1942 als Beispiel für die Millionen von Anfragen, welche die Organisation regelmäßig bekam. Die Anfrage wich dabei von dem in den 1920er und 1930er Jahren etablierten Narrativ ab, Frauen erst über Verhütungsmittel aufzuklären, wenn sie schon zu viele Kinder hatten oder ihre Gesundheit schon belastet war. Hier forderte die Briefschreiberin bewusst vorbeugende Informationen über Verhütungsmittel an. Sie wollte nicht die Mutterschaft an sich umgehen oder ihre Fruchtbarkeit begrenzen. Stattdessen wollte sie ihren Nachwuchs bewusst planen, um so jedem einzelnen Kind mehr Aufmerksamkeit widmen zu können und ihre Gesundheit zu schonen. Hierfür dienten ihr bewusst geplante Kleinfamilien in Magazinen und der Werbung als Beispiel. Der Brief illustriert einen Wandel von der Idee der Geburtenkontrolle in der Zwischenkriegszeit hin zur geplanten Familie, welche Planned Parenthood seit 1942 bewarb. Dieses Kapitel untersucht, wie das Konzept der Familienplanung in den USA der 1940er Jahre entstand und mit Debatten um die globale Überbevölkerung verknüpft wurde. Es zeigt, dass die Idee seine Familie aktiv zu planen tief im Moralverständnis und kulturellen Selbstverständnis der weißen amerikanischen Mittelschicht verwurzelt war und so selbstverständlich in die Debatten um Überbevölkerung exportiert wurde, wie Coca Cola oder Mickey Mouse. Dazu wird zunächst analysiert, wie Reproduktion und Konzepte der Planbarkeit der Gesellschaft in den 1940er Jahren zusammengebracht wurden. In einem zweiten Teil wird untersucht, wie Familienplanung mit dem Aufstieg in die weiße Mittelschicht assoziiert wurde, bevor der dritte Teil sich mit der Debatte um Überbevölkerung in den USA befasst.

1 N. N., Children by Choice not by Chance (1943), in: PPFA Records II , Box 5.13.

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Familienplanung als Konzept in der globalen Überbevölkerungsdebatte

Die Etablierung der Familienplanung in den USA 1940–1970 »You plan for everything, why not plan for the most important event  – your ­family?«2 So lautete der Slogan eines Werbeposters von Planned Parenthood im Jahre 1951. Im Hintergrund des Posters befand sich eine Collage aus Zeitungsauschnitten, in denen das Wort »Planned« in der Überschrift vorkam. Geplant wurde in den frühen Nachkriegsjahren nicht nur der Finanzhaushalt der Regierung Harry S. Trumans, ein Staatsbesuch des belgischen Königs oder die Restauration historischer Stadtteile, auch die Aktivitäten von Kultureinrichtungen, Industrievertretungen und Gewerkschaften, bis hin zu privaten Ereignissen wie dem Bau eines Einfamilienhauses, die Aufnahme eines Kredits, eine Bergsteigertour oder der eigenen Hochzeit. Die amerikanische Nachkriegsgesellschaft war eine planende und eine geplante Gesellschaft. Kinder kriegen wurde in der Kampagne nicht mehr als anthropologische Konstante angesehen, sondern als etwas, auf das man sich aktiv vorbereitete. Die Gründung einer Familie wurde in den frühen Kampagnen von Planned Parenthood oft gleichgesetzt mit der Erstellung eines Haushaltsplans oder dem architektonischen Entwurf eines Hauses. Das Ziel war, zu zeigen, wie weit verbreitet das Prinzip des individuellen, rationalen Planens in der amerikanischen Gesellschaft war. Daher, so die Logik der Kampagne, sollte auch die Familie als das Wichtigste im Leben bewusst geplant werden. Selbst der Name der amerikanischen Familienplanungsorganisation Planned Parenthood unterstrich die Bedeutung des rationellen Überlegens und Entscheidens für Elternschaft. Die Birth Control Federation of America benannte sich 1942 in Planned Parenthood Federation of American (PPFA) um. Das britische National Birth Control Council hatte schon 1939 seinen Namen in Family Planning Association (FPA) geändert.3 Margaret Sanger selbst gebrauchte den Begriff »Family Planning« erstmals in einer Radioansprache 1935.4 Als die Firma Rhythmetics, die Hilfsmittel zur Berechnung der fruchtbaren Tage verkaufte, in einer Urheberrechtsklage behauptete, als erste 1937 den Begriff »Planned Parenthood« genutzt zu haben, antwortete das PPFA Executive Committee 1948 »that the 2 N. N., You plan for everything why not plan for the most important event – your family (1951), in: PPFA Records II , Box 26.29. 3 Siehe die historische Selbstdarstellung der britischen Family Planning Association, FPA , Our Achievements, https://www.fpa.org.uk/our-history/our-achievements#timeline, Letzter Zugriff: 26.03.2018; siehe hierzu auch Heinemann, Isabel, Geburtenkontrolle als Voraussetzung für die gesunde Familie. Margaret Sanger, Marie Stopes und die Pädagogisierung von Verhütungswissen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: De Vincenti, Andrea u. a. (Hg.), Pädagogisierung des »guten Lebens«. Bildungshistorische Perspektiven auf Ambitionen und Dynamiken im 20. Jahrhundert, Bern 2020, S. 41–67, hier S. 54. 4 Siehe Sanger, Margaret, Family Planning. A Radio Talk by Margaret Sanger, CBS New York 11.04.1935, in: Margaret Sanger Papers, 1900–1960, Microfilmed, Library of Congress, Reel 129.

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phrase was first used by its Massachusetts State League in 1935 and was in widespread use by the Federation in 1937.«5 Historiker*innen, die sich mit Planned Parenthood aus der Sicht der Frauengeschichte beschäftigen, gehen davon aus, dass die Umbenennung ein taktisches Manöver männlicher Eugeniker innerhalb von Planned Parenthood war. Diese wollten den feministisch konnotierten Begriff »Birth Control« durch einen Namen ersetzen, der die Familie und nicht die individuelle Frau in den Mittelpunkt stellte.6 Jedoch deuten Berichte der State Federations aus Massachusetts und New York darauf hin, dass der Begriff »Birth Control« mit Eugenik und Sexualität assoziiert wurde. So berichtet etwa der Managing Director Kenneth Rose in einer ersten Debatte über die Umbenennung 1938, er habe in Massachusetts, einem Staat mit einem hohen und einflussreichen katholischen Bevölkerungsanteil, schlechte Erfahrungen beim Gebrauch des Begriffs »Birth Control« in Spendenkampagnen gemacht. Dennoch schlug er nicht vor, den Begriff »Birth Control« komplett aus dem Namen der Organisation zu streichen, sondern durch Phrasen wie »Population Advancement« oder »Fertility and Sterility« zu ergänzen, um deutlich zu machen, dass die Organisation nicht nur die Begrenzung von Geburten, sondern auch Bevölkerungsplanung und die Bekämpfung von Unfruchtbarkeit umfasse.7 Die New York State Federation of Planned Parenthood, welche ihren Namen schon 1941 vor dem nationalen Dachverband geändert hatte, erklärte 1943 man habe sich umbenannt, da »Birth Control« mit Eugenik assoziiert wurde und »its connotations may be unpopular at this time.«8 Das zeigt, dass das Bekanntwerden des nationalsozialistischen Euthanasieprogramms im März 1941 tatsächlich ein Auslöser für Planned Parenthood war, sich von Konzepten der Eugenik zu distanzieren. Auch wenn Euthanasie und Eugenik nicht deckungsgleich sind, wie Kapitel 2 darlegt, wurden sie in der amerikanischen Öffentlichkeit dennoch miteinander assoziiert.9 Während die Dokumente aus Massachusetts und New York erklären, warum der Begriff »Birth Control« ersetzt werden sollte, erklären sie nicht, warum sich die Organisation für den Begriff »Planned Parenthood« entschied. Die Histori5 N. N., Minutes of the Executive Meeting 04.05.1948, in: Margaret Sanger Papers, 1­ 900–1960, Microfilmed, Library of Congress, Reel 120, S. 1. 6 Vgl. Gordon, Linda, The Moral Property of Women. A History of Birth Control Politics in America, Urbana ³2002, S. 244; McCann, Carole R., Birth Control Politics in the United States, 1916–1945, Ithaca 1994, S. 6–7. 7 Rose, Kenneth, Memorandum to the Joint Committee. Suggested Name for New Organization (28.12.1938), in: Margaret Sanger Papers, 1900–1960, Microfilmed, Library of Congress, Reel 120. 8 N. N., Revisions of the New York State Federation for Planned Parenthood (Januar 1943), in: Margaret Sanger Papers, 1900–1960, Microfilmed, Library of Congress, Reel 120. 9 Zum Bekanntwerden des deutschen Euthanasieprogramms in den USA ab März 1941, siehe Noack, Thorsten, NS -Euthanasie und internationale Öffentlichkeit. Die Rezeption der deutschen Behinderten- und Krankenmorde im Zweiten Weltkrieg, Frankfurt am Main 2017, S. 40.

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kerin Linda Gordon leitet den Planungsbegriff aus einer Intensivierung staatlicher Eingriffe in das Leben seiner Bürger seit der New Deal Ära ab.10 Während Gordon vom Staat und den Frauen als antagonistische Akteure ausgeht, argumentiert der Architekturhistoriker Andrew M.  Shanken, dass Planung ein kulturelles Phänomen in den Kriegsjahren von 1941 bis 1945 war, das weit über Ideen staatlicher Eingriffe in die individuellen Rechte der Bürger*innen hinausging. So hat er die weitreichende Verbreitung des Begriffs »Planning« in Zeitschriftentiteln und Werbung, aber auch in der Psychologie oder der Familienplanung nachgewiesen.11 In dieser Kultur des Planens sollten individuelle Lebensentwürfe und nationale Interessen miteinander verknüpft werden, so dass gesellschaftliches Planen nicht im Gegensatz zum Individualismus stand, sondern dem Individuum mehr Entfaltungsmöglichkeiten innerhalb eines demokratisch-liberalen Rahmen geboten wurden.12 Auch ging es bei den Planungskonzepten nicht darum, dass der Nationalstaat als konkrete Institution das Leben seiner Bürger*innen aktiv gestaltete, sondern dass zivilgesellschaftliche Akteure freiwillig Planungsaufgaben zum Wohle der Nation übernahmen. Für Shanken ist die Umbenennung in Planned Parenthood eines der illus­ trativsten Beispiele des inflationären Gebrauchs des Planungsbegriffs auf zivilgesellschaftlicher Ebene.13 Die Verwendung des neuen Namen diente der Modernisierung der Organisation, da Planung eine progressive Maßnahme sei, die persönlichen und nationalen Interessen in Kriegszeiten zusammenzubringen, während der Name »Birth Control« eine negative Konnotation hatte, da er zum einen mit Eugenik, zum anderen mit der großen Depression und umgreifenden Vorstellungen von sozialer Kontrolle der 1920er und 1930er Jahre assoziiert wurde.14 So bezeugt die Umbenennung nicht nur einen linguistischen, sondern auch einen programmatischen Wandel, da der Begriff »Kontrolle« eine Gegenwartsorientierung und einen Eingriff von außen implizierte. Der Zweck der Kontrolle ist es, etwas, das sich in eine falsche Richtung entwickelt, von außen in die richtige Richtung zu leiten. Planung umfasste hingegen eine Zukunftsorientierung und die Emergenz einer Entscheidungssituation. Es gab ein Ziel, auf das es hinzuarbeiten galt. Das setzte aber voraus, dass zunächst eine Entscheidung getroffen werden musste, welches Ziel erreicht werden sollte, und welchen Weg man dahin gehen wollte.15 10 Vgl. Gordon, Moral Property, S. 245. 11 Siehe Shanken, Andrew M., 194X. Architecture, Planning, and Consumer Culture on the American Home Front, Minneapolis 2009, S. 56. 12 Vgl. Ebd., S. 16. 13 Ebd., S. 41. 14 Ebd., S. 41–43. Siehe hierzu auch Heinemann, Isabel, Wert der Familie: Ehescheidung, Frauenarbeit und Reproduktion in den USA des 20. Jahrhunderts, Berlin 2018, S. 138. 15 Gordon argumentiert außerdem, dass der Begriff »birth control« Individualismus impliziere, während der Begriff »Planung« auf kollektive, nationale Ziele hinarbeite. Diese scharfe Trennung kann im Quellenstudium nicht aufrechterhalten werden. Zur Unterscheidung der negativen Konnotation des Begriffs »control« und des positiven Planungsbegriffs, siehe Gordon, Moral Property, S. 244.

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Zeitgleich mit dem semantischen Umbruch wandelten sich die Narrative, an Hand derer Verhütungsmittel beworben wurden. Im Jahre 1918 hatte Sanger in der Broschüre »Morality and Birth Control« von einem »sober, serious and hard working man« berichtet, der bei ihrem ersten Besuch sechs Kinder hatte, die alle die Schule besuchten und nicht arbeiten mussten.16 Vier Jahre später hatte die Familie fünf weitere Kinder, von denen zwei eine geistige Behinderung hatten. Zwei Töchter mussten sich prostituieren, drei Söhne waren im Gefängnis, eine Tochter war bei einem Unfall schwer verletzt worden. Die Mutter musste als Putzfrau arbeiten, der Vater war Alkoholiker. Nur eine siebenjährige Tochter, die ihre behinderte Schwester pflegte, und ein neunjähriger Sohn, der anstatt zur Schule zu gehen Kaugummis in der U-Bahn verkaufte, wären »of any use to society.« Sanger interpretierte der Familientragödie folgendermaßen: »Here was an opportunity for society to develop and preserve six children for human service; but prudery and ignorance added five more to this group, with the result that two out of eleven are left to fit the struggle against pauperism and charity.«17 Die Lehre, die Sanger aus diesem Fallbeispiel zog, war, dass für die Familie alles gut ausgegangen wäre, wenn die Eheleute nach dem sechsten Kind aufgehört hätte sich fortzupflanzen. Sanger ging es hier eindeutig um eine Gegenwartsorientierung und die Eingrenzung der Fortpflanzung. Bis in die frühen 1930er Jahre lehnte Sanger die Beratung unverheirateter, aber verlobter Frauen mit der Begründung ab, bei Frauen mit noch intaktem Hymen könne kein Diaphragma angepasst werden. Die Frauen sollten erst ihre Hochzeitsnacht erleben ohne zu verhüten und dann nach einiger Zeit in die Beratungsstelle kommen.18 In den 1940er Jahren wandelten sich diese Empfehlungen. So erzählte die 1945 erschienene PPFA-Broschüre »The Soldier Takes a Wife« die Geschichte von »Flash Edwards«, einem draufgängerischen Kriegshelden der Pazifikfront, der mit der Einstellung »Planning – that was for sissies« sowohl seine Kampfeinsätze, wie auch seine Ehe anging.19 Er heiratete »a little wisp of a blue-eyed blonde«, die im Kindsbett starb, nachdem sie vier Schwangerschaften in vier Ehejahren durchlitten hatte. Flash wurde so zu einem alleinerziehenden Vater von vier Kindern. In der Broschüre lautete die Lehre deshalb: »With a little planning – a little time between births to give his wife a chance to build up her strength, they might have had their four babies and the fun of raising them together.«20 Anstatt die Situation unter Kontrolle zu bringen, in dem man die Reproduktion irgendwann stoppte, war hier die Empfehlung von Planned Parenthood, dass die Familie von Anfang an den Abstand zwischen den Geburten hätte planen sollen, so dass sie eine gemeinsame, glückliche Zukunft 16 Sanger, Margaret, Morality and Birth Control (Februar 1918), https://www.nyu.edu/ projects/sanger/documents/speech_morality_and_bc.php, Letzter Zugriff: 28.02.2018. 17 Ebd. 18 Siehe Sanger, Margaret, Brief an Käte Stützin (22.03.1932), in: Margaret Sanger Papers, 1900–1960, Microfilmed, Library of Congress, Reel 14. 19 Stein, Ralph, The Soldier Takes a Wife (1945), in: PPFA Records II , Box 22.55. 20 Ebd.

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Abb. 1: Cover der Planned-Parenthood-Broschüre »The Soldier Takes A Wife«, Ralph Stein, 1945.

erwarten konnten. Die Broschüre zitierte den Expertenrat, dass idealerweise 24 Monate zwischen zwei Schwangerschaften liegen sollten. Die Empfehlung sei jedoch abhängig von der Gesundheit, der Kraft und dem Alter der jeweiligen Mutter. So wurde die individuelle Entscheidungsebene in der Familienplanung betont. Es gab keine Blaupause nach der jede einzelne Familie geplant werden konnte, stattdessen sollte jedes Paar selbst reflektieren und rational entscheiden, wie viele Kinder es in welchem Abstand bekommen wollte und konnte. Richard N. Pierson, der Vorsitzenden des Planned Parenthood Medical Committee, gab 1945 zu bedenken, dass vor allem zurückkehrende Soldaten und ihre Partnerinnen eine voreheliche Beratung benötigen, da sonst wie nach dem Ersten Weltkrieg die Scheidungsrate ansteigen würde. Den Veteranen würde die Anpassung an ein normales Familienleben schwerfallen, weshalb sie und ihre Bräute sich die Zeit nehmen sollten »to find out whether they can make

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their marriage succeed before they begin to have children.«21 Daher empfahlen die Expert*innen eine Eingewöhnungszeit von einem Jahr zwischen der Heirat und der ersten Schwangerschaft. Die Paare benötigten dafür allerdings nicht nur eine entsprechende Sexualaufklärung, sondern auch den Zugang zu Verhütungsmitteln. Sorgen um hohe Scheidungsraten in Kriegszeiten begünstigten also den Umschwung von der Vermittlung der Geburtenkontrolle zu einer aktiven Familienplanung. Aufgrund des Zweiten Weltkriegs und der Notwendigkeit die Heimatfront abzusichern gelang es, so Shanken, den Planned-Parenthood-Kampagnen der frühen 1940er Jahren Parallelen zwischen dem persönlichen und dem nationalen Planen zu ziehen. Die Kampagnen hätten so die Verknüpfung von Familien und Planungskonzepten normalisiert. Das Kampagnenposter von 1944, welches Shanken als Beispiel analysiert, zeigt eine perfekt geplante Familie mit drei Kindern im Alter von etwa drei und sechs Jahren sowie ein Neugeborenes unter dem Slogan »Planned Parenthood: Its Contribution to Family, Community and Nation.«22 Die Eltern und der älteste Sohn blicken kraftstrotzend in Richtung Horizont, was erstens einen optimistischen Blick in die Zukunft und zweitens eine Widerstandskraft gegenüber Bedrohungen von außen suggeriert. Diese Familie wirkt stark und resilient, gerade zu einem Zeitpunkt, als tatsächliche Familien durch steigende Scheidungsraten und illegale Abtreibungen bedroht waren und aktiver Planung bedurften.23 Planned Parenthood versprach durch die vorausschauende Familienplanung die Gefahr des Zerfalls der Familie abzuwenden und so die amerikanische Gemeinschaft zu stärken. Daher, so erklärte es der Mediziner Richard N.  Pierson in einer Rede zur Jahrestagung 1945, sei Familienplanung nicht nur ein Bürgerrecht, sondern eine Bürgerpflicht: Stated in the simplest terms that philosophy holds that married people have not only the right but the social obligation to plan the size of their families and the rate of their growth. It is a philosophy that rejects the primitive notion of ›letting nature take its course‹ in the most vital aspect of civilized living; the promotion of a healthy, wellbalanced family.24

Familienplanung sah Pierson hier als Gegensatz zur Natur und als wichtigsten Bestandteil der Zivilisation, also des Fundaments der modernen, amerikanischen Gesellschaft. Die Pflicht zur Familienplanung ergab sich hierbei nicht aus einem nationalstaatlichen Kontrollbedürfnis, sondern aus einer gesellschaft­ lichen Notwendigkeit heraus, welches das allgemeine Zusammenleben der Men21 Pierson, Richard N., Planned Parenthood Comes of Age, in: Responsibility for the Health of Tomorrow’s Family (Tagungsband Jahrestagung 1945), in: Margaret Sanger Papers, 1900–1960, Microfilmed, Library of Congress, Reel 118, S. 25. 22 N. N., Planned Parenthood, Its Contribution to Family, Community and Nation (1944), in: PPFA Records II , Box 17.25. 23 Vgl. Shanken, 194X, S. 41. 24 Pierson, Planned Parenthood Comes of Age, S. 25 (Hervorhebung im Original).

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Abb. 2: Cover der Broschüre »Planned Parenthood: Its Contribution to Family, Community and Nation«, 1944.

schen regelte. Familienplanung war folglich keine staatliche Angelegenheit, sondern eine Pflicht der einzelnen Familie zum Wohle der Gemeinschaft. Da Familienplanung in den Augen der Planned-Parenthood-Aktivist*innen so zentral für die Aufrechterhaltung der modernen Gesellschaft war, musste Wissen über die Prinzipien der Familienplanung, über die Methoden der Verhütung und die Verbesserung der Fruchtbarkeit vermittelt werden. Die ­Broschüre der ersten landesweiten Spendenkampagne von 1942 mit dem Titel »Planned Parenthood in Wartime« befasste sich mit der Wissensvermittlung.25 Die Kampagne forderte unter der Überschrift »Freedom through Knowledge«, dass Radiosendungen und Presseberichte die amerikanische Öffentlichkeit vor 25 N. N., Planned Parenthood in War Time (1942), in: PPFA Records II , Box 18.14, ohne Seitenzahlen.

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den Gefahren der ungeplanten Elternschaft warnten und die gesundheitlichen, ökonomischen, sozialen und religiösen Vorteile der Familienplanung betonen sollten. Die Kampagne gab an, dass die Geburtenraten in den USA , wo Frauen Kinder »by choice and not by chance« gebären könnten, höher seien als im »system of frightened Germany and Italy combined.«26 Dies sollte betonen, dass die liberale Demokratie dem Faschismus bzw. Nationalsozialismus weit überlegen war. Frauen würden mehr Kinder bekommen, wenn sie sich freiwillig dazu entschieden, als wenn sie vom Staat dazu gezwungen würden. Dennoch erhielt Planned Parenthood jährlich tausende Briefe »by war brides or by their husbands, by women industrial workers, by mothers in rural, slum and migrant areas, and by mothers from every part of the country.«27 Ihre Anfragen lauteten alle ähnlich: »They begged for health and happiness for their children – themselves. They wanted freedom through medical knowledge to choose when and under what conditions they would have their babies.«28 Den Schreiberinnen ging es auch hier nicht darum, Mutterschaft zu vermeiden, stattdessen wollten sie ihre Familiensituation verbessern. Wenn Frauen keinen Zugang zu Wissen über Verhütungsmittel hatten, dann würden sie auf illegale Abtreibungen zurückgreifen, deutete die Broschüre an. Denn die Fehlzeiten von Frauen in der Kriegsindustrie seien aufgrund illegaler Abtreibungen doppelt so hoch wie die der männlichen Arbeiter.29 Die Broschüre implizierten so, dass in der Verbreitung von Wissen über Verhütungsmittel individuelle und staatliche Interessen zusammenliefen. Wissen über Familienplanung würde sowohl die Gesundheit und das Glück der individuellen Familie stärken, als auch die nationale Verteidigung absichern. Jedoch gebe es drei »obstacles to the victory of Planned Parenthood«: erstens eine Tabuisierung von Wissen über Sexualität, zweitens die unzureichende Ausbildung von Ärzt*innen und drittens »the reactionary, militant attitude of the hierarchy within one religious denomination«, womit die katholische Kirche gemeint war.30 Papst Pius XI hatte 1930 als Antwort auf die Anerkennung der Geburtenkontrolle in der anglikanischen Kirche in der Enzyklika Casti Connubii jegliche Form der künstlichen Empfängnisverhütung unter Katholiken verboten. Erst 1951 ließ er in seinem Brief an die Italienischen Hebammen die Rhythmus-Methode als Möglichkeit der Begrenzung der Kinderzahl in katho­lischen Familien zu. Margaret Sanger kritisierte die päpstliche Haltung als unlogisch, unwissenschaftlich und »definitely against social welfare and race improvement.«31 Während der Katholizismus hier als anti-modern und in Kriegszeiten als anti-patriotisch dargestellt wurde, betonte die oben genannte Broschüre, dass es 26 Ebd. 27 Ebd. 28 Ebd. 29 Ebd. 30 Ebd. 31 Sanger, Margaret, The Pope’s Position on Birth Control, in: The Nation (27.01.1932), in: Margaret Sanger Papers, 1900–1960, Microfilmed, Library of Congress, Reel 130, https:// www.thenation.com/article/popes-position-birth-control/, Letzter Zugriff: 26.03.2018.

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die Aufgabe von Ärzt*innen und Beratungsstellen sei, konkrete Informationen über Verhütung zu vermitteln. Die Angaben in der Broschüre selbst waren eher vage und es gab keine spezifischen Aussagen zu einzelnen Verhütungsmitteln. Anstatt Informationen über konkrete Methoden, sollten die Kampagnen Wissen über das Konzept der Familienplanung an sich verbreiten. Sie sollten die Idee vermitteln, dass Familie etwas Planbares war, dass das Prinzip des »child spacing« die Gesundheit der Mütter und Kinder verbesserte und es eine Bürgerpflicht war, seine Familie von Anfang an zu planen. Die Broschüren der Planned Parenthood dienten daher als Werbung für das Produkt Familienplanung und nicht als konkrete Handlungsanweisungen für Paare. Die Paare mussten selbst aktiv werden, um Informationen zu erhalten. Sie mussten eine Ärztin, einen Arzt oder eine Beratungsstelle aufsuchen. Ihnen wurde so eine gewisse Handlungsmacht bzw. Agency gegenüber der staatlichen Steuerung zugesprochen, aber sie wurden auch weiterhin in die gesellschaftliche Pflicht genommen.

Kampagnen zum Aufstieg in die weiße Mittelschicht Während Planned Parenthood bis 1945 Einwandererfamilien in Großstädten als ihr Hauptklientel begriff und die Mittelschicht nur ansprach, um Spenden für Beratungsstellen zu akquirieren, richtete sich die Organisation nach dem Zweiten Weltkrieg an eine Klientel der gesunden, finanziell stabilen Mittelschicht.32 Aufgrund des Aufstiegs vieler weißer Familien in die suburbane Mittelschicht wurde diese Schicht das Zielpublikum der Beratung. So war das bevorzugte Verhütungsmittel in der Beratung von Planned Parenthood das Diaphragma. Obwohl Sanger es seit 1916 in ihren Beratungsstellen an arme Frauen ausgegeben hatte, galt das Diaphragma laut der Historikerin Johanna Schoen als Verhütungsmittel für die Mittelschicht, da es das Vorhandensein eines separaten Badezimmers voraussetzte, in dem die Frau es einsetzen und reinigen konnte.33 Auch musste es von einer Ärztin oder einem Arzt angepasst werden, so dass der Zugang zu einer medizinischen Angelegenheit wurde. Der Vorteil war jedoch, dass es keine Kooperation des männlichen Sexualpartners erforderte und weibliche Beraterinnen Männern es nicht zutrauten, Kondome auch tatsächlich zu benutzen.34 Expert*innen innerhalb der Organisation, wie der Mediziner Christopher Tietze, lehnten das Kondom auch aus öffentlichkeitswirksamen Gründen ab, da es mit Prostitution und Geschlechtskrankheiten assoziiert wurde.35 32 Vgl. Moran Hajo, Cathy, Birth Control on Main Street. Organizing Clinics in the United States 1916–1939, Urbana 2010, S. 136. 33 Vgl. Schoen, Johanna, Choice and Coercion. Birth Control, Sterilization, and Abortion in Public Health and Welfare, Chapel Hill 2005, S. 28. 34 Vgl. Moran Hajo, Birth Control, S. 50. 35 Vgl. Tietze, Christopher, The Condom as A Contraceptive, in: Advances in Sex Research 1 (1963), S. 88–102, hier S. 88–89.

Kampagnen zum Aufstieg in die weiße Mittelschicht 

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Abb. 3: Logo der Planned Parenthood Federation ca. 1947

Um die aufstrebende neue Mittelschicht zu erreichen, wurde ein Zusammenhang zwischen Familienplanung und der Teilhabe an der Konsumgesellschaft betont. Das Logo der zweiten nationalen PPFA-Kampagne von 1947, welches bis 1951 das offizielle Briefpapier zierte, zeigt eine fünfköpfige weiße Familie, die von einem Band zusammengehalten wurde, auf dem die Worte »affection, health, security and opportunity« zu lesen sind.36 Die Familie trägt moderne Freizeitkleidung und die Kinder sind etwa zehn, fünf und ein Jahr alt. Die Altersspanne suggeriert, dass der Abstand zwischen den Kindern rational geplant wurde. Die Werte »Zuneigung, Gesundheit, Sicherheit und Aufstiegschancen« waren die Werte, welche die Familie zusammenhielten, gleichzeitig aber auch die Werte, die Planned Parenthood durch eine rationale Familienplanung versprach. Die geplante Familie sollte allen Mitgliedern Gesundheit und Sicherheit, genauso wie Liebe und die Möglichkeit zum sozialen Aufstieg bieten. Damit schützte sie die Familie als Basis der amerikanischen Nation vor der Desintegration, wie der Slogan »Planned Parenthood – Saves Lifes, Saves Homes« verdeutlichte, der im Logo um die Familie herum geschrieben steht. In diesen Kampagnen wurde also die Forderung, Wissen über Verhütungsmittel zu verbreiten, um illegale Abtreibungen zu bekämpfen durch positivistische Kampagnen, die Gesundheit und sozialen Aufstieg in die Mittelschicht in den Vordergrund rückten, ersetzt. Dieser Aspekt wurde zentral für die Kampagnen der 1950er Jahre und bezog sich nun nicht mehr allein auf die physische Gesundheit der Mütter. Familienplanung solle auch dem Erhalt der psychischen Gesundheit der neuen Generation dienen, wie der Psychiater Oliver Spurgeon English in einer Rede auf der Planned-Parenthood-Jahrestagung 1947 erklärte: 36 Vgl. zum Beispiel den Flyer der landesweiten Spendenkampagne 1947: N. N., Today…In Your Country (1947), in: PPFA Records II , Box 24.21.

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Familienplanung als Konzept in der globalen Überbevölkerungsdebatte

Obviously, from the studies of psychiatrists, psychologists, social workers and those in allied fields, unplanned parenthood, unwanted parenthood and inadequate emotional preparation for parenthood are the greatest threats to peace and the advancement of the human race. Let a child start life feeling unwanted, unloved, and inferior, and there are no lengths to which he will not go to seek revenge upon a world, which had neglected him and made him feel inferior. This can take the form of marital tyranny, religious or racial bigotry, industrial tyranny, cruelty, or the despotic rule and destructive aggression of a dictator.37

Der Psychiatrieprofessor, der an der Temple University in Philadelphia zu Kindheitstraumata und psychosomatischen Krankheiten forschte, zeichnete hier ein dämonisches Bild einer ungeplanten Familie: wenig Liebe und schlecht vorbereitete Eltern verursachten Minderwertigkeitskomplexe bei Kindern, die zu sozialer Zersetzung führen würden. Er bezog sich auf die Freud’sche Psychoanalyse, die Kindheitstraumata als Ursache für Neurosen und Unangepasstheit im Erwachsenenleben deutete.38 English identifizierte so ungeplante Familien als innere Bedrohung des amerikanischen Liberalismus und universell als Bedrohung des Weltfriedens. Gleichzeitig produzierte er im Kontrast dazu das Bild der idealen Familie, das die Familienplanung versprach: Wunschkinder, die geliebt wurden, Eltern die reif waren und die emotionale Anpassung jedes Kindes unterstützen, so dass diese aufwachsen und eine auf Moral, Gleichheit und Frieden basierende Gesellschaft erschaffen konnten. Für ihn war es deshalb unerlässlich, dass sich Eltern bewusst für Nachwuchs entschieden. Laut einer Broschüre des Citizen Committee for Planned Parenthood sprachen sich schon Anfang der 1940er Jahre 79 Prozent der amerikanischen Frauen in einer landesweiten Umfrage für Familienplanung aus.39 80 bzw. 81 Prozent der klein- und großstädtischen Frauen und 71 Prozent der landwirtschaftlich beschäftigten Frauen befürworteten die Familienplanung. Jedoch verschwieg 37 English, Oliver Spurgeon, On the Psychology of Parenthood, in: N. N., The Parent ­Problem. Addresses Delivered at the 26th Annual Meeting of the Planned Parenthood Federation of America (22.01.1947), in: PPFA Records II , Box 20.42, S. 18–20, hier S. 20. 38 In dem 1945 erschienenem Lehrbuch »Emotional Problems of the Living«, stellte English die These auf, dass in der oralen Phase eines Säuglings das Gefühl geliebt zu werden genauso wichtig sei, wie Ernährung. Mangelnde Mutterliebe oder zu schnelle Bedürfnisbefriedigung würde zu Alkoholismus, Anorexie, Depressionen, Schizophrenie, oder Angststörungen im späteren Leben führen. Laut dem Historiker Eli Zaretsky erlangte die Psychoanalyse in den USA der Nachkriegszeit an Popularität, da sie das Innenleben der Familien untersuchte und beeinflussen konnte. So wurden soziale Probleme wie Narzissmus ursächlich auf interne Familienstrukturen zurückgeführt, vgl. Zaretsky, Eli, Freuds Jahrhundert, München 2009, S. 420–421; English, Oliver Spurgeon / Pearson, Gerald H. J., Emotional Problems of the Living, New York 1945, S. 26–27. Für die Bedeutung der Freudschen Psychoanalyse im Nachkriegsdeutschland siehe Herzog, Dagmar, Cold War Freud. Psychoanalysis in the Age of Catastrophes, Cambridge 2016, S. 102. 39 N. N., Facts Presented by the Citizens Committee for Planned Parenthood (o. D., ca. 1940), in: Planned Parenthood Federation of America Records I, Sophia Smith Collection, Smith College, Northampton, Mass., Box 55.2 (im Folgenden zitiert als PPFA Records I).

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Abb. 4: Cover der Broschüre »The Story of Two Families«, Planned Parenthood, 1948.

die Broschüre, wie die Umfrage zustande kam oder ob die Einstellungen nach Religion oder Bildungsgrad zu differenzieren seien. In einer 1947 von Alan Guttmacher durchgeführten Umfrage unter 1500 Ärzt*innen sprachen sich 88,6 Prozent der Befragten für das Konzept des »Child Spacing« aus.40 Während die Umfragen sicher nicht repräsentativ sind, sagte sie dennoch aus, dass Planned Parenthood die Mehrheit der betroffenen, weiblichen Bevölkerung und der medizinischen Expertinnen und Experten hinter sich sah. Die populärste Broschüre von Planned Parenthood war die 1948 erschienene »The Story of Two Families«, die Comic-Zeichnungen von zwei weißen Familien nebeneinanderstellte: »one family is happy, healthy, strong, the other one is sad, 40 Guttmacher, Alan F., Conception Control and the Medical Profession, reprint from Human Fertility 12 (März 1947), in: PPFA Records II , Box 5.30, S. 1–12, hier S. 3.

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sickly, weak.«41 Beide Ehepaare litten zunächst an Syphilis. Während das eine Paar jedes Jahr ein weiteres Kind bekam, und viele davon blind, mit körperlichen oder geistigen Behinderungen oder tot geboren wurden, suchte das zweite Paar einen Arzt auf, nachdem ihr erstes Kind tot geboren wurde. Der Arzt behandelte die Geschlechtskrankheit und verwies das Paar an eine Planned-ParenthoodBeratungsstelle, wo ein weiterer Arzt ihre Bedenken gegenüber Verhütungsmitteln entkräftete. Auch diese Broschüre blieb nur sehr vage, was das technische Wissen über die Verhütung von Geschlechtskrankheiten und Schwangerschaft anging. Stattdessen erschuf sie ein soziales Aufstiegsnarrativ durch aktive Familienplanung und die Inanspruchnahme von Expertenrat. Die ungeplante, kranke Familie erschien in den Zeichnungen als schmutzig und ungepflegt, alle Familienmitglieder hatten ungekämmte Haare. Das alte Haus der Familie stand kurz vor dem Zusammenbruch. Der Ehemann, der laut der Broschüre aufgrund seiner Erkrankung antriebslos geworden war, lag faul in der Sonne, während die Mutter vor dem Haus die Wäsche mit der Hand wusch. Das suggerierte, dass die Familie keinen Zugang zu modernen Konsumgütern wie einer Waschmaschine hatte. Die andere Familie, die die Beratungsstelle aufsuchte, wurde hingegen sauber und ordentlich dargestellt, sie lebte in einem »neat, clean, house«, welches der modernen Architektur amerikanischer Vorstädte entsprach. Ihr zweites, gesundgeborenes Kind hatte Spielzeuge, die Familie war modisch gekleidet und hübsch frisiert. Der Familienvater trug einen Anzug, was darauf hindeutet, dass er Büroangestellter war. Diese Darstellung zweier Familien stand stellvertretend für die Versprechen von Planned Parenthood: den Aufstieg in die Mittelschicht und die Teilhabe an der Konsumgesellschaft, selbst für diejenigen, die sich vorher mit einer Geschlechtskrankheit angesteckt hatten. Jedoch mussten Paare sich aktiv dafür entscheiden und selbst eine Beratungsstelle auf­ zusuchen. Um die Reichweite seiner Beratungsstellen zu verbessern, knüpfte Planned Parenthood seit den 1940er Jahren Allianzen mit mainline-protestantischen und liberalen jüdischen Klerikern.42 Die anglikanische Kirche hatte 1930 als erste Religionsgemeinschaft Verhütungsmittel zur Armutsbekämpfung für Verheiratete akzeptiert. Mainline-Protestanten sahen sich seit der Social-GospelWelle der 1920er und 1930er als progressive Mitte der religiösen Landschaft der USA und wollten die weiße Mittelschicht repräsentierten. Jedoch hatten sie im Zuge der Suburbanisierung mit dem Verlust ihrer Gemeindemitglieder zu 41 N. N., The Story of Two Families (1948), in: PPFA Records II , Box 23.26. 42 Unter Mainline-Protestantismus werden protestantische Denominationen verstanden, die im Gegensatz zu evangelikalen Christen, welche die Bibel wörtlich auslegen, einer modernen Bibelexegese folgen, vgl. Hochgeschwender, Michael, Amerikanische Religion. Evangelikalismus, Pfingstlertum und Fundamentalismus, Frankfurt am Main 2007, S. 29; siehe hierzu auch Hoffmann, Jana Kristin, Die Sexualisierung der Religion im 20. Jahrhundert. Diskurse um Sexualität, Familie und Geschlecht in der Methodistischen Kirche in den USA , 1950–1990, Berlin 2021.

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kämpfen.43 Deshalb präsentierten sich diese Kirchen möglichst modern und patriotisch, um attraktiv für alte und neue Gemeindemitglieder zu bleiben. 1943 richtete Planned Parenthood ein Clergyman Advisory Council ein, welches aus protestantischen Pfarrern verschiedener Denominationen, Theologieprofessoren und Rabbinern bestand.44 In dem Beratungskomitee nahmen die Kleriker, ähnlich wie Mediziner*innen, eine dauerhafte Präsenz in der Organisation ein. Die Hauptgabe des Councils bestand darin, Informationsbroschüren zu publizieren, Artikel in Zeitschriften zu platzieren und einen Leitfaden für Seelsorger zur Eheberatung zu entwerfen. Ihre Aufgabe erklärte der metho­ distische Bischof von New York, George Bromley Oxnam, in der Broschüre »The Duty of Family Planning« vom April 1949: »When we make available to mothers scientific information which is used for the high moral purpose of bringing to our families healthy, happy children, we are wisely using scientific means for moral ends.«45 Das Council verschickte das Schreiben an Gemeinden im ganzen Land mit der Bitte, junge Paare in Familienplanung zu unterrichten, denn die Kirchen würden sich als »spiritual leaders«, nicht als »spiritual dictators« verstehen. Deshalb sollten sie Paaren das Wissen bieten, um nach ihrem eigenen Gewissen freie Entscheidungen über ihre Familiengröße treffen zu können. So versuchte das Council eine Einheit zwischen Wissenschaft und religiöser Moral in Fragen der Familienplanung herzustellen. Die Broschüre argumentierte, Gott habe den Menschen die Fähigkeit zur Rationalität gegeben und die Familie sei die Basis für gesellschaftlichen Fortschritt. Daher sei die Anwendung wissenschaftlichen Fortschritts ganz im Sinne Gottes. Technologischer Fortschritt diente hierbei zum Erhalt der heteronormativen Kleinfamilie, nicht zu einer Pluralisierung gesellschaftlicher Normen. Die Beteiligung an Planned Parenthood bot den Klerikern die Möglichkeit, sich als modern und progressiv, sowie als Unterstützer des amerikanischen Liberalismus im Kontext des Kalten Krieges zu präsentieren. Der Katholizismus wurde in den Publikationen des Councils als unamerikanisch abgelehnt, denn die katholische Kirche galt als größtes Hindernis für die Durchsetzung ihrer Ideen von Familienplanung. Eine im November 1946 veröffentlichte und von 3200 Geistlichen und Theologen unterschriebene Resolution verurteilte eine »religious minority opposition«, die in Aufsichtsräten von Krankenhäusern und Wohlfahrtsbehörden verhindere, dass verheiratete Paare Zugriff auf Informationen über Familienplanung bekamen.46 Die Paare müssten auf kommerzielle Anbieter von Verhütungsmitteln ausweichen, anstatt professionellen Rat zu er43 Vgl. Balmer, Randall / Winner, Laura F., Protestantism in America, New York 2002, S. 32. 44 Siehe die Gründungsresolution des National Clergymen Advisory Council of Planned Parenthood: N. N., Statement by Religious Leaders in Recognition of National Family Week, May 3–9, 1943, in: PPFA Records I, Box 19.10. 45 National Clergymen’s Advisory Council, The Duty of Family Planning (April 1949), in: PPFA Records II , Box 7.2. 46 N. N., A Resolution on Planned Parenthood by American Religious Leaders (1947), in: PPFA Records II , Box 21.31.

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halten. Eine zweite Resolution des Exekutivkomitees spezifizierte, dass es sich bei der religiösen Minderheit um die »Catholic Hierarchy« handle, die die Redeund Religionsfreiheit von Mediziner*innen einschränken würde, indem sie ihnen verbot, über Verhütungsmittel aufzuklären.47 Die katholische Lehre, dass jegliche Form der Schwangerschaftsverhütung außer der Abstinenz Sünde sei, basiere zudem auf nicht-medizinischen Argumenten.48 Unter Protestant*innen hingegen wurden Kontrazeptiva als Präventivmedizin definiert, die nur für Verheiratete zugänglich sein sollten. Sowohl das Recht der Patient*innen auf Information, wie auch das Recht der Ärzt*innen Auskunft zu geben, seien Aspekte der Redefreiheit. Versuche von katholischer Seite, diese einzuschränken, seien ein Angriff auf die »fundamental American freedoms.«49 Planned Parenthood fürchtete katholische Einflüsse auf die Politik einzelner Bundesstaaten, lokaler Behörden oder von Aufsichtsräten einzelner Krankenhäuser, besonders in Neuengland. So war der Verkauf von Verhütungsmitteln in Connecticut und Massachusetts bis 1965 verboten, die Ausgabe an Unver­ heiratete sogar bis 1972.50 Der Planned-Parenthood-Vizepräsident Alan F. Guttmacher berichtete in seinem Aufklärungsbuch »Babies By Choice, Not By Chance« (1959) ausführlich von einer Kontroverse in New York in den Jahren 1957 bis 1958 »over the right of physicians to provide birth control information and devices for patients in these [municipal – C. R.] hospitals.«51 Städtische Krankenhäuser durften Patientinnen nicht an Planned-Parenthood-Kliniken verweisen, oder selbst Verhütungsmittel ausgeben, da der New Yorker Stadtrat als Aufsichtsbehörde der Kliniken den Verlust der katholischen Wählerschaft fürchtete. Der jüdische Gynäkologe (und spätere Staatssekretär im Gesundheitsministe47 N. N., Resolution Adopted by the Executive Committee of the National Clergymen’s Advisory Council of the Planned Parenthood Federation of America, Inc., in: PPFA Records  II , Box 21.31. 48 Siehe hierzu auch die Kritik des unitaristischen Pfarrers Roy A. Burkhart an der katholischen Sexuallehre, welche Sexualität nur zum Zwecke der Fortpflanzung erlaube und missachte, dass Gott Ehepaaren Sexualität als Ausdrucksform ihrer Liebe und Partnerschaft geschenkt habe, vgl. Burkhart, Roy A., Ministerial Counselling and Planned Parenthood (1945), in: PPFA Records II , Box 14.34, S. 28. 49 N. N., A Resolution on Planned Parenthood by American Religious Leaders (1947), in: PPFA Records II , Box 21.31. 50 In dem Gerichtsurteil zu Griswold v. Connecticut (1965) entschied der amerikanische Oberste Gerichtshof, dass ein Verbot von Verhütungsmitteln für Erwachsene ein verfassungswidriger Eingriff in die Privatsphäre der Ehe sei. 1972 urteilte der Supreme Court in Eisenstadt v. Baird, dass das Recht auf Privatsphäre in der Nutzung von Verhütungsmitteln auch für nicht-verheiratete Paare gelte, siehe Tone, Andrea, Devices & Desires. A History of Contraceptives in America, New York 2001, S. 238–239. 51 Alan F. Guttmacher (1898–1974) war Sohn deutsch-jüdischer Einwanderer und Gynäkologe am Mount Sinai Krankenhaus in New York. Von 1962 bis zu seinem Tod 1974 war er Vorsitzender der Planned Parenthood Federation of America. Er war auch Mitglied der Human Betterment Foundation und Association for Voluntary Sterilization. Zitat aus Guttmacher, Alan F., Babies by Choice or By Chance, New York 21961 [1959], S. 92.

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rium) Louis Hellman kämpfte gegen diese Regelung an,52 indem er im Juli 1958 öffentlich bekannt gab, einer Patientin, »a Protestant diabetic woman,« die zwei ihrer drei Kinder per Kaiserschnitt zur Welt gebracht hatte, in einem städtischen Krankenhaus ein Diaphragma anzupassen. Der Stadtrat entzog Hellman zunächst die Erlaubnis, gab aber im September 1958 nach großen Protesten von Planned Parenthood und der Lokalpresse nach. Hellmann war es nun freigestellt »to provide such medical advice, preventive measures and devices for female ­patients under their care whose life and health in the opinion of the medical staff may be jeopardized by pregnancy and who wish to avail themselves of such health services.«53 Einerseits interpretierte Guttmacher den Konflikt als eine Kontroverse um die Bürgerrechte jüdischer und protestantischer Bürger*innen auf Zugang zu Informationen über Geburtenkontrolle, der durch Katholiken eingeschränkt wurde.54 Andererseits stellte er die Familienplanung als eine medizinische Angelegenheit dar. So zeigt seine Zusammenfassung der Stadtratsentscheidung, dass letztendlich Mediziner*innen das Recht zugesprochen wurde, zu entscheiden, ob Frauen aufgrund medizinischer Indikationen Informationen und Verhütungsmittel erhalten sollten. Als Entscheidungsgrundlage sollte allein die gesundheitliche Notwendigkeit dienen, so dass Verhütung als rein medizinische Maßnahme begriffen wurde. Dem Stadtrat ging es nicht um die bewusste Familienplanung eines Ehepaars, sondern um den Erhalt der Gesundheit einer Mutter von drei Kindern, deren eigener Wunsch lediglich zweitrangig hinter der Entscheidung des Experten war. Das Recht des Arztes eine Behandlungsmethode zu wählen wurde hier zur Vorbedingung für das Bürgerrecht jüdischer und protestantischer New Yorker*innen ihre Familien zu planen. Eine mögliche Ausweitung der Beratung auf unverheiratete Frauen in Großstädten löste 1957 eine weitere Kontroverse innerhalb von Planned Parenthood aus. Die Organisation hatte bis dahin die Politik verfolgt, nur verheiratete bzw. verlobte Frauen zu beraten, auch wenn oft nicht genau nachgefragt wurde, solange die Frau einen Ehering trug.55 1956 wurde jedoch auf Empfehlung des Medical Advisory Councils die Satzung von Planned Parenthood dahingehend geändert, dass die Beratung unverheirateter Frauen gestattet wurde, insofern diese von einer »social welfare agency« oder einer Ärztin bzw. einem Arzt überwiesen worden waren.56 Dieser Empfehlung lag die Annahme zugrunde, dass unehe­ 52 Siehe hierzu den Nachruf auf Louis Hellman (1908–1990) in der New York Times: Fowler, Glenn, Dr. Louis M. Hellman Dies at 82. A Champion of Family Planning, in: New York Times (25.07.1990), S. B 18, https://www.nytimes.com/1990/07/25/obituaries/dr-louism-hellman-dies-at-82-a-champion-of-family-planning.html, letzter Zugriff: 23.03.2018; siehe auch Davis, Tom, Sacred Work. Planned Parenthood and its Clergy Alliance, New Brunswick 2005, S. 79. 53 Guttmacher, Babies, S. 97–98. 54 Ebd., S. 96. 55 Vgl. Bailey, Beth, Sex in the Heartland, Cambridge 1999, S. 135. 56 Vgl. Planned Parenthood Medical Committee, Recommendations RE Planned Parent­ hood Service to Unmarried Women (29.11.1956), in: PPFA Records II , Box 25.6.

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liche Mütter psychisch nicht in der Lage seien, ihre Kinder gut zu versorgen, und deshalb davon abgehalten werden sollten, weitere Kinder zu bekommen. Als Gegner dieser Satzungsänderung trat der anglikanische Bischof von Phoenix und Ehrenvorsitzender der Planned Parenthood State League in ­Arizona, Arthur B. Kingsolving, hervor. Er forderte, eine unverheiratete Frau nur dann zu beraten, wenn ein Brief ihres Arztes oder Pfarrers bestätigte, dass sie vorhabe zu heiraten. Beratung für ledige Frauen würde nur zu mehr Promiskuität, Prostitution und unehelichen Kindern führen.57 Im Gegensatz dazu verwies der episkopale Bischof von Minneapolis, Hamilton H. Kellogg, immer mehr unverheiratete Frauen an die örtliche Beratungsstelle von Planned Parenthood, so dass diese sich bei dem Bundesverband über den Mehraufwand durch die Satzungsänderung beschwerte.58 Aufgrund dieser Proteste startete Planned Parenthood eine Umfrage in den internationalen Schwesterorganisationen, die ergab, dass die Mehrheit der europäischen Institutionen, inklusive der deutschen Pro ­Familia, unverheiratete Frauen beriet.59 Margaret Sanger mischte sich aus ihrem Ruhestand in die Debatte ein und fürchtete, dass die Ausgabe von Verhütungsmitteln an Unverheiratete nur die katholische Opposition gegen Familienplanung stärken würde.60 Abgesehen von diesem taktischen Argument kreiste die Kontroverse, um die Frage, ob man außereheliche Sexualität und Mutterschaft als Sünde oder als Ausdruck psychischer Krankheit betrachtete. Während die Wahrnehmung von abweichender Sexualität als Sünde den Akteuren einen eigenen Entscheidungsspielraum einräumte, erschienen in der neuen Sichtweise der Mediziner*innen uneheliche Mütter als unfähig, eigene Entscheidungen zu treffen. Außereheliche Schwangerschaften wurden so pathologisiert und die Reproduktionsentscheidungen unverheirateter Mütter wurden zu Fragen, die paternalistisch von Ärzt*innen, Klerikern und Wohlfahrtsverbänden für sie getroffen werden sollten.

Die Bekämpfung der Überbevölkerung im Inland Trotz der Betonung der Freiheit und der Mittelschicht als Zielgruppe der Familienplanung, wurde bald nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Bekämpfung der globalen Überbevölkerung das Hauptziel der Initiative von Planned 57 Vgl. Kingsolving, Arthur B., Brief an Loraine Campbell (15.11.1957), in: PPFA Records  II , Box 25.6. 58 Siehe Veerhusen, Pamela (Executive Director PP Minneapolis) an Doris Rutledge (Field Department PPFA , 19.09.1958), in: PPFA Records II , Box 25.6. 59 Laut der Umfrage wurden in Europa und der Karibik unverheiratete Frauen immer beraten, in Neuseeland, Großbritannien und Puerto Rico, wenn die Frau Heiratspläne hatte. In asiatischen Partnerorganisationen wurde die Beratung Unverheirateter abgelehnt. Siehe Houghton, Vera, Brief an William Vogt (11.02.1958), in: PPFA Records  II , Box 25.6. 60 Vgl. Sanger, Margaret, Brief an William Vogt und Loraine Campbell (29.12.1957), in: PPFA Records II , Box 25.6.

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Parenthood. 1962 benannte sich die Organisation sogar in Planned Parenthood World Population um, nachdem sie sich mit der World Population Emergency Campaign zusammengeschlossen hatte. Deshalb wurde ein Wettbewerb für einen neuen Namen ausgerufen, der sowohl die Ziele der individuellen Familienplanung als auch der globalen Geburtenkontrolle beinhalten sollte.61 Schon der Namensgebungswettbewerb zeigte das Spannungsverhältnis zwischen der Betonung der Freiheit der Familienplanung und einer Dringlichkeit der Begrenzung von Nachwuchs, die Überbevölkerungskampagnen entwarfen. Margaret Sanger war eine treibende Kraft hinter den Kampagnen zur Bekämpfung der Überbevölkerung. Sie hatte sich seit 1942 aus dem Tages­ geschäft der amerikanischen Planned Parenthood Federation zurückgezogen und konzentrierte sich auf den Aufbau internationaler Netzwerke zur Bevölkerungssteuerung.62 Überbevölkerung wurde so seit den 1940er Jahren zum bestimmenden Thema der US -dominierten internationalen Initiativen zur Familienplanung. Der Historikerin Michelle Murphy zufolge wurden seit 1927 Überbevölkerung und Makroökonomie zusammengedacht, seitdem der amerikanische Zoologe Robert S. Pearl auf dem Weltbevölkerungskongress in Genf anhand von Drosophila-Experimenten nachgewiesen hatte, dass zu große Populationen an Fruchtfliegen in einem Glass aufhörten sich zu vermehren und ausstarben.63 Anhand von Daten der französischen Kolonialverwaltung in Algerien und der Wiederentdeckung der Lehren des britischen Ökonomen Thomas Malthus übertrug er seine Erkenntnisse auf menschliche Populationen und stellte die Bevölkerungsentwicklung sowie den Zivilisierungsgrad einer Nation als umgedrehte S-Kurve dar.64 Auch der makroökonomische Shootingstar der Zeit, John Maynard Keynes, verurteilte pronatalistische Regime und unterstütze die Geburtenkontrolle aus makroökonomischen Gesichtspunkten. Zusammen mit der in den 1940er Jahren aufkommenden Modernisierungstheorie, welche der amerikanische Soziologe Talcott Parsons 1942 mit der Entstehung der isolierten Kernfamilie assoziierte, entwickelte der Ökonom und spätere Präsident des Population Council, Frank Notestein, auf Pearls S-Kurve basierend ein VierStufen-System, welches den Modernisierungsstand eines Landes anhand seiner Bevölkerungsentwicklung definierte. Eine niedrige Geburten- und Sterblichkeitsrate kennzeichnete einen hohen Zivilisierungsgrad.65 So waren laut der Historikerin Alison Bashford die Sorgen um unkontrolliertes Bevölkerungswachstum schon seit den 1930er Jahren Bestandteil der 61 Vgl. N. N., We have a New Name for PPFA-WPEC (Mitteilung des Information and Education Committee an alle Aufsichtsratsmitglieder und affiliierten Kliniken, 28.06.1963), in: PPFA Records II , Box 77.1. 62 Vgl. Moran Hajo, Birth Control, S. 17. 63 Murphy, Michelle, The Economization of Life, Durham 2017, S. 3. 64 Ebd., S. 12. 65 Vgl. Ebd., S. 36–38; siehe auch Parsons, Talcott, The American Family, in: ders. / Bales, Robert F. (Hg.), Family, Socialization and Interaction Process, New York 1955, S. 3–33.

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internationalen Eugenikbewegung. Durch die Erfahrung des Holocaust und des Atombombenabwurfs ergab sich laut Bashford nach 1945 eine Sensibilisierung für globale Katastrophenszenarien, welche kosmopolitisch denkende Ökolog*innen und Ökonom*innen dazu brachte, das Thema Überbevölkerung wieder zu verfolgen.66 Dabei stand die Sorge um Hungerkatastrophen im Zentrum der globalen Überbevölkerungsdebatte, die ökonomische, ökologische und post-koloniale Sichtweisen mit Familienplanung und Eugenik zusammenbrachte.67 Daher konnten globale Bevölkerungsplaner*innen interessierte lokale Aktivist*innen in postkolonialen Gesellschaften. wie Indien und Südafrika, für sich gewinnen und auf die Überbevölkerung als Erklärungsfolie für die Armut auf Puerto Rico verweisen, was die Insel zu einem Experimentierfeld für Geburtenkontrolle und Sterilisationskampagnen machte.68 Im Kontext des Kalten Krieges beeinflusste die Assoziierung von Bevölkerungsentwicklung und Makroökonomie laut Murphy auch die militärische Planung. General William H. Draper identifizierte 1958 als Vorsitzender des von Präsident Dwight D. Eisenhower einberufenen Committee on Foreign Aid, Military Aid and Economic Aid die Bevölkerungsbegrenzung als wichtigstes Argument der Eindämmung des Kommunismus.69 Er stützte sich in seiner Argumentation auf den Geschäftsmann Hugh Moore, der 1954 das Pamphlet »The Population Bomb« veröffentlicht hatte, in dem er explizit Überbevölkerung als Bedrohung des globalen Weltfriedens beschrieb und kausal argumentierte, dass Überbevölkerung Hunger verursache, hungrige Menschen zornig werden würden und dann Revolutionen und Kriege anzettelten.70

66 Bashford, Alison, Global Population. History, Geopolitics and Life on Earth, New York 2014, S. 17. 67 Vgl. Ebd., S. 15–16. 68 Vgl. Briggs, Laura, Reproducing Empire. Race, Sex, Science and US Imperialism in ­Puerto Rico, Berkeley 2002, S. 155–156; zu Indien siehe Ahluwalia, Sanjam, Reproductive Restraints. Birth Control in India 1877–1947, Urbana 2008; für Südafrika siehe Klausen, Susanne M., Race, Maternity and the Politics of Birth Control in South Africa, 1910–1939, Basingstoke 2004. 69 Kasun, Jacqueline, The War against Population. The Economics and Ideology of World Population Control, San Francisco 1999, S. 217–218; siehe auch Murphy, Economization, S. 35. Zu den persönlichen Motiven Drapers, sich für die Bevölkerungskontrolle zu engagieren und Regierungen dazu zu drängen, die IPPF zu unterstützen, siehe Pieper Mooney, Jadwiga E., »Overpopulation« and the Politics of Family Planning in Chile and Peru, in: Hartmann, Heinrich A. / Unger, Corinna R. (Hg.), A World of Populations. Transnational Perspectives on Demography in the Twentieth Century, New York 2014, S. 83–107, hier S. 83–84. Zu Drapers bevölkerungspolitischen Wirken in der Bundesrepublik Deutschland siehe auch Hartmann, Heinrich A., »In einem gewissen Sinne politisch belastet«. Bevölkerungswissenschaft und Bevölkerungspolitik zwischen Entwicklungshilfe und bundesrepublikanischer Sozialpolitik (1960er und 1970er Jahre), in: Historische Zeitschrift 303 (2016) H. 1, S. 98–125, hier S. 106–107. 70 Siehe Kasun, War, S. 217; Bashford, Global, S. 307.

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Moore selbst bezog sich auf das 1948 veröffentlichte Sachbuch »Road To Survival« des Ornithologen William Vogt.71 Vogt kombinierte in einem holistischen Ansatz von einer globalen Vernetzung ausgehend neo-Malthusische Theorien über Bevölkerungswachstum mit Umweltschutzgedanken. So argumentierte er, dass unbegrenztes Bevölkerungswachstum neben Hunger zu Epidemien und dem Zusammenbruch von Zivilisationen führe.72 Zusammen mit Fairfield Osborns »Our Plundered Planet« (auch 1948) löste Vogt so eine Renaissance der Debatten um Überbevölkerung in der amerikanischen Öffentlichkeit aus.73 Die Überbevölkerungsdebatte beeinflusste auch die Kurse der Planned Par­ enthood Federation, wie die Historikerin Isabel Heinemann gezeigt hat, da ab 1942 männliche Akademiker, wie Alan Guttmacher oder William Vogt, die Leitung der Organisation übernahmen. Die männlichen Experten waren eng mit eugenischen Organisationen, wie der Association for Voluntary Sterilization (ehemals Human Betterment Foundation) sowie der ehemals American Eugenics Society, verbunden, die sich in der Nachkriegszeit auf die Finanzierung von Projekten zur Bevölkerungskontrolle konzentrierten.74 Für sie hatte die Begrenzung der Geburtenkontrolle Vorrang vor den emanzipatorischen Aspekten der Familienplanung. Da die Bevölkerungsaktivist*innen der 1950er Jahre in leitenden Funktionen in Planned Parenthood engagiert waren, reproduzierten ihre Broschüren fast wortwörtlich die Argumentationsweise der oben genannten Monographien. Die Broschüre »Breaking the Vicious Circle«, die einen gleichnamigen, 1954 produzierten Film begleitete, betrachtete die Probleme der Überbevölkerung sowohl in den USA wie auch weltweit als einen Teufelskreis aus »ignorance, poverty, overlarge families.«75 Dagegen beschreibt der »Circle of Family Progress« eine zirkuläre Entwicklung zwischen geplanten Familien, sozialem Aufstieg, der Verbesserung einzelner Gemeinden, verbesserter Schulen und dem »American Way for more People«.76 Hier wurde die weiße Mittelschichtfamilie als erstrebenswerte Lösung der Bevölkerungsfrage präsentiert, welche künftig als globaler Standard gelten sollte. Die Broschüre beschrieb explizit arme Bevölkerungsgruppen im urbanen New York und ländlichen South Carolina als problematisch, da sie ignorant und zu groß seien. Ohne explizit auf den Faktor »race« einzugehen, spielte diese Kampagne auf African Americans in den ländlichen Südstaaten, sowie auf African Americans und Puerto-Ricaner*innen in den ärmsten Vierteln New Yorks an. Die Frage nach der idealen Familiengröße 71 Siehe Vogt, William, Road to Survival, New York 1948. 72 Vgl. Robertson, Thomas, The Malthusian Moment. Global Population Growth and the Birth of American Environmentalism, New Brunswick 2012, S. 6. 73 Osborn, Fairfield, Our Plundered Planet, Boston 1948. 74 Vgl. Heinemann, Wert der Familie, S. 303. 75 N. N., Breaking the Vicious Circle (1954), in: PPFA Records II , Box 4.1, S. 7. 76 Ebd., S. 33.

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Abb. 5.: »Circle of Family Progress«, Graphik aus der Broschüre »Breaking the Vicious Circle«, Planned Parenthood 1954.

und der Gefahr der Überbevölkerung war implizit rassistisch aufgeladen und streifte mit ihrer Betonung der Verbesserung der Qualität von Familien eugenische Debatten der Zwischenkriegszeit. Die Broschüre zitierte Meinungsumfragen aus dem Jahre 1948, laut denen sich Familien mehrheitlich drei Kinder wünschten, so dass rationale Idealwerte und persönliche Wünsche der Ehepaare korrelierten. Während geplantes, geringfügiges Bevölkerungswachstum zur globalen Durchsetzung der amerikanischen Konsumgesellschaft führen würde, würden Diktatoren Überbevölkerung ausnutzen. So sei Überbevölkerung ein »Prologue to Mass Murder«, da sich im Zweiten Weltkrieg sowohl der japanische Überfall auf die Mandschurei, die italienische Besetzung Abessiniens, wie auch der deutsche Überfall auf Polen aus dem Mangel an Ressourcen für eine zu schnell wachsende Bevölkerung erklären ließe.77 Planned Parenthood übernahm hier explizit und unkritisch Hitlers propagandistische Rechtfertigung für den Angriff auf Polen, einen »Lebensraum« für das deutsche Volk im Osten zu erobern, und erklärte: »American young men are dead because Nazis marched under the Lebensraum banner.«78 Amerikanische Männer konnten selbst dann Opfer von Überbevölkerung werden, wenn sie zwar ihre Familien planten, es aber in anderen Ländern ein zu starkes Bevölkerungswachstum gab. In dieser Argumentationslinie betonte die Broschüre der Planned Parenthood globale Zusammenhänge zu einem Zeitpunkt, der von amerikanischen Familienhistoriker*innen oft als Zeitpunkt des Rückzugs in das Private der Familie beschrieben wurde.79 Da die Überbevölkerungskampagne dystopische Zukunftsvorstellungen zeichnete, sorgten sich Aktivist*innen innerhalb von Planned Parenthood besonders um den katholischen Einfluss in der amerikanischen Politik. Als 1960 mit John 77 Vgl. Ebd., S. 26. 78 Ebd. Das Lebensraum-Motiv wird in Kapitel 3 dieses Bandes noch ausführlich diskutiert. 79 Vgl. May, Elaine Tyler, Homeward Bound. American Families in the Cold War Era, New York ²1999, S. 19–20.

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F. Kennedy ein Katholik als Präsidentschaftskandidat antrat, befürchtete Margaret Sanger unter einem katholischen Präsidenten Einfluss und Fördergelder für Planned Parenthood zu verlieren. Die Historikerin Rickie Solinger berichtet, dass Sanger sogar damit gedroht habe, die USA zu verlassen, falls Kennedy zum Präsidenten gewählt werden sollte.80 Soweit kam es jedoch nicht. Im Gegenteil, Kennedys Nachfolger Lyndon B. Johnson war der erste Präsident, der im Amt Familienplanung öffentlich befürwortete und förderte.81 Im März 1966 versprach er Bundesgelder für die Forschung zur menschlichen Reproduktion und für die Beratung zur Familienplanung zur Verfügung zu stellen, um »the integrity of the family and the opportunity for each child« zu fördern. Er erklärte: »it is essential that all families have access to information and services that will allow freedom to choose the number and spacing of their children within the dictates of individual conscience.«82 Johnson assoziierte hier Familienplanung mit der Freiheit des Individuums, dem Zusammenhalt der Familie und den Entwicklungschancen des einzelnen Kindes. Darüber hinaus beschrieb er im Kontext des Kalten Krieges Wissen über Verhütung als essenziell zum Erhalt der amerikanischen Werte der Freiheit, des Individualismus und der Nation. Der Zugang zu Informationen über Familienplanung, die Paare ermächtigen sollte, individuelle Entscheidungen über die Größe ihrer Familie zu treffen, war so im Kontext von Johnsons Great Society zu einer Aufgabe geworden, an der sich nun auch der Staat beteiligte.83 Jedoch ging es Johnson neben der Förderung individueller Freiheiten auch um die Begrenzung des globalen Bevölkerungswachstums. So erklärte er in seiner Rede zur Lage der Nation 1965: »we have it in our power today the ability to protect the children of tomorrow from a world that is tragically overcrowded.«84 Johnson nahm an, dass Paare, wenn sie alle Informationen über Familienplanung und das Selbstentscheidungsrecht hatten, sich für wenige Kinder entscheiden und so das globale Bevölkerungswachstum begrenzen würden. Familienplanung war für Johnson idealerweise eine rationale Entscheidung für zwei bis drei Kinder. Der Präsident sprang hier auf einen Trend auf, den 80 Vgl. Solinger, Rickie, Pregnancy and Power. A Short History of Reproductive Politics in America, New York 2005, S. 167. 81 Dwight D. Eisenhower und Harry S. Truman unterstützten erst nach Beendigung ihrer Amtszeiten Planned Parenthood öffentlich, siehe Fowle, Farnsworth, Eisenhower Backs Birth-Curb Aids, in: New York Times (10.11.1964), S.19, Zeitungsausschnitt in: PPFA Records II , Box 3.2. 82 Johnson, Lyndon B., Additional Statement by President Johnson Concerning Population (1966, Poster von Planned Parenthood World Population), in: PPFA Records  II , Box 1.14. 83 Zu weiteren Informationen über Johnsons Programm der Great Society, siehe Kapitel 4 dieses Bandes. 84 Siehe die Anzeige, die Planned Parenthood mit Zitaten von Johnsons Rede zur Lage der Nation am 2. Februar 1965 in der »New York Times« schaltete: N. N., From President Johnson’s State of The Union Message, Zeitungsausschnitt New York Times (02.02.1965), in: PPFA Records II , Box 12.31.

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Familienplanung als Konzept in der globalen Überbevölkerungsdebatte

Bevölkerungsexpert*innen, Zoolog*innen und Planned Parenthood seit Mitte der 1950er Jahre verfolgt hatten. Jedoch bemerkte die berühmte Anthropologin Margaret Mead in einer Rede auf der Planned-Parenthood-Jahrestagung 1966, dass genau die rational geplante, ideale Familie der weißen Mittelschicht global gesehen selbst problematisch war: If the mass media spread the idea that what every American woman wants is a station wagon filled to the brim with children, complete with a well fed dog then this idea will become part of the aspirations of people everywhere … With such a picture rampant in their minds and ours, we can hardly advocate conception control for other countries.85

Meads konsumorientierte Familie der Mittelschicht, wie Planned Parenthood sie bereits einige Jahre zuvor beworben hatte, besaß eine Familienkutsche und einen Hund. Aber diese Familie hatte zu viele Kinder, so Mead, nämlich drei bis fünf. Die Anthropologin betonte hier, dass die Elterngeneration der 1950er Jahre durchschnittlich jünger heiratete und mehr Kinder bekam als die Generation zuvor,86 und das, obwohl Meinungsumfragen von 1965 zeigten, dass 80 Prozent der verheirateten Amerikaner Familienplanung betrieben.87 Mead ging davon aus, dass das Bild der amerikanischen Mittelschichtfamilie so einflussreich war, dass sie Familien weltweit inspirierte, wie sonst nur Walt Disney88. Dies war jedoch insofern problematisch, als dass es Kampagnen zur Begrenzung des globalen Bevölkerungswachstums unterwanderte, in dem man mehr Nachwuchs und Konsum versprach als es global gesehen nachhaltig war. Da innerhalb der USA die Kernfamilie der weißen Mittelschicht nicht als Problem, sondern als Vorbild für geglückte Familienplanung galt, richtete sich die interne Bekämpfung der Überbevölkerung an andere Familienformen – Familien im globalen Süden, in den Ländern der ehemaligen Achsenmächte und Minderheiten in den USA . Der Widerspruch zwischen der Betonung der Freiheit der Planung der Mittelschichtfamilie und der Dringlichkeit, mit der vor Überbevölkerung in globaler Perspektive gewarnt wurde, auf den Mead aufmerksam machte, wurde dabei nicht aufgelöst. 85 Mead, Margaret, Women as Individuals in the Population Crisis (Rede auf der ­PlannedParenthood-Jahrestagung 1966, 19.10.1966), zitiert nach N. N., Planned Parenthood A ­ nnual Report 1966, in: PPFA Records II , Box 126.9. 86 Vgl. Bianchi, Suzanne M. / Spain, Daphne B., American Women. Three Decades of Change, U. S. Department of Commerce, Bureau of the Census, Washington DC 1983, S. 6. 87 Vgl. N. N., United States. Methods of Fertility Control, 1955, 1960 & 1965, in: Population Council. Studies in Family 17 (Februar 1967), S. 1–12, hier S. 6. 88 Tatsächlich hat Disney 1967 einen 10-minütigen Propagandafilm zum Thema »Family Planning« für das Population Council produziert, siehe Carosso, Andrea, Donald the Family Planner. How Disney Embraced Population Control, in: Zehelein, Eva-Sabine u. a. (Hg.), Family in Crisis? Crossing Borders, Crossing Narratives, Bielefeld 2020, S. 181–191, hier S. 187.

Fazit 

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Fazit Parenthood Kampagnen in den 1940er und 1950er Jahren bewarben das Konzept der geplanten Familie mit zwei bis drei Kindern, die im Abstand von 24 Monaten geboren wurden. Informationen über Verhütungsmittel waren dabei meist recht vage, da erwartet wurde, dass Paare die eigentlichen Informationen von Ärzt*innen erhalten. Nur wenige Publikationen erwähnten explizit einzelne Methoden, wie die Rhythmus-Methode oder das Diaphragma. Stattdessen wurden verheiratete Paare aufgefordert, sich bei ihrem Arzt oder einer Beratungsstelle zu informieren. Medizinische Expert*innen wurden so zu Hütern eines verlässlichen reproduktiven Wissens, welches informelle Netzwerke der Wissensvermittlung ablösen sollte. Es ging Planned Parenthood um den Aufbau formeller Wissensnetzwerke in Kooperation zwischen Expert*innen und Ehepaaren. Das zu vermittelnde Wissen beinhaltet, dass Familie etwas Planbares und die Gestaltung der eigenen Familie eine Bürgerpflicht war. Im Kontext des Zweiten Weltkriegs galt die auf liberalen Werten basierende geplante demokratische Familie der faschistischen Familie als überlegen. Im Kontext des Kalten Krieges der Nachkriegsjahre wurden ungeplante Kinder zu einer internen Gefahr für die US -amerikanische Gemeinschaft. So ging der Blick über den US -amerikanischen Tellerrand hinaus und die globale Überbevölkerung wurde zur Bedrohung der Gesellschaftsordnung, besonders für die idealisierte weiße Wohlstandsfamilie. Die Verbreitung der Familienplanung war jedoch nicht die Aufgabe eines interventionistischen Staates, sondern wurde von zivilgesellschaftlichen Akteuren zum Wohle der Gemeinschaft beworben. Erst ab 1965 wurde mit Präsident Lyndon B.  Johnsons Great Society die Bundesregierung zum Akteur in der Propagierung der Familienplanung. In einem optimistischen Fortschrittsglauben gingen die Akteure davon aus, dass Verhütungsmittel bei richtiger Anwendung immer funktionieren würden. Unzuverlässige Verhütungsmittel und Verhütungspannen wurden in den Kampagnen nicht erwähnt. Die Familie wurde so als Mikroeinheit der Gesellschaft planbar. Dabei oszillierten die Kampagnen zwischen einer Betonung materieller, kollektiver und individueller Werte. Kampagnen, die sich an die weiße Mittelschicht richteten, versprachen sozialen Aufstieg, Teilhabe an der Konsumgesellschaft und Gesundheit für individuelle Familien. Ehepaare wurden als Gemeinschaft begriffen, die gemeinsam über die Familienplanung entscheiden. Negative Folgen der ungeplanten Familie, so die Annahme, schlugen sich vor allem in der psychischen Gesundheit der Kinder nieder. Das ungeplante Kind, welches ungeliebt, kränklich, psychisch krank und potentiell kriminell war, wurde zum Symbol der Gefahren, die der amerikanischen Gesellschaft in den 1950er Jahren drohten. Der Katholizismus, der die Unterscheidung zwischen geplanten und ungeplanten Kindern nicht anerkannte, wurde so als unamerikanisch und als Gefahr für die liberale Gesell-

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schaft angesehen. Der Protestantismus und das Judentum hingegen präsentierten sich aufgrund ihrer Unterstützung der Familienplanung als moderne, pro-amerikanische Glaubensrichtungen. So entstand eine Koalition aus liberalen Klerikern, Mediziner*innen und zivilgesellschaftlichen Akteur*innen, deren Ziel es war, das geplante Kind als Ausdruck des Wohlstandes einer aktiv planenden Gesellschaft zu vermarkten. Dieses zutiefst im amerikanischen Lebensstil eingebettete Konzept wurde mit dem Aufkommen der Überbevölkerungsdebatten in den globalen Süden und das vom Krieg verwüste Europa exportiert. Wie das Wunschkind nach Deutschland kam, soll im nächsten Kapitel analysiert werden.

3. »Jedes Kind soll ein Wunschkind sein.«1 Die Gründung der Pro Familia in Westdeutschland 

In einem Brief an Margaret Sanger im April 1951 berichtete die 70-jährige Anne-Marie Durand-Wever, warum sie im Jahre 1948 trotz ihres Alters und ihrer Krankheit den öffentlichen Kampf für Geburtenkontrolle wiederaufgenommen hatte. Bei einer Razzia im bayerischen Garmisch-Patenkirchen waren 200 Frauen verhaftet worden, die eine illegale Abtreibung hatten durchführen lassen.2 Ähnliches geschah im württembergischen Weinheim, was eine große öffentliche Diskussion über die Bedeutung der ärztlichen Schweigepflicht in diesen Fällen auslöste.3 Nach dem öffentlichen Skandal kontaktierte DurandWever zunächst den deutschen Ärzt*innenbund, der ihrer Forderung nach der Ausgabe von Verhütungsmitteln und Informationen zwar zunächst zustimmte, aber nichts weiter unternahm. Deshalb beschloss Durand-Wever, selbst wieder aktiv zu werden. Im August 1948 nahm sie zusammen mit Sanger und weiteren Vertreter*innen der amerikanischen Planned Parenthood Federation an der International Conference on Population and the Family in Relation to World Resources im englischen Cheltenham teil. Die Konferenz wurde von der britischen Family Planning Association und dem schwedischen Verband zur Sexualpädagogik gemeinsam organisiert. Für die internationale Geschichte der Familienplanung ist sie nicht wegen ihres akademischen Programms, sondern wegen ihrer Netzwerkmöglichkeiten von Bedeutung. So beschlossen die Delegierten aus den USA , Großbritannien, Schweden und den Niederlanden, ein International Com­ mittee for Planned Parenthood zu gründen, welches die Vorläuferorganisation der International Planned Parenthood Federation (IPPF) war.4 Die Aufgabe dieser Organisation sollte es sein, Wissen über menschliche Fortpflanzung und 1 N. N., Sexualerziehung und Familienplanung im Rahmen der Familienbildung und Familienberatung (ca. 1968), in: Pro-Familia-Verbandsarchiv Ordner »Geschichte Pro Familie: Dokumente«, S. 7. 2 Vgl. Durand-Wever, Anne-Marie, Brief an Margaret Sanger (14.04.1951), in: The Margaret Sanger Papers (microfilmed), Sophia Smith Collection, Smith College, Northampton, Mass. 3 Siehe auch den Bericht der britischen IPPF Geschäftsführerin Vera Houghton, der auf Interviews mit Durand-Wever, Harmsen und Léderer beruhte. Houghton, Vera, Birth Control in Germany, in: The Eugenics Review 43 (1952) H. 4, S. 185–187, hier S. 186. 4 Vgl. Weydner, Sara, Reproductive Rights and Reproductive Control. Family Planning, Internationalism and Population Control in the International Planned Parenthood Federation, in: Geschichte und Gesellschaft 44 (2018) S. 135–161, hier S. 140–141; zu Cheltenham siehe auch Bashford, Alison, Global Population. History, Geopolitics and Life on Earth, New York 2014, S. 284–285.

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Die Gründung der Pro Familia in Westdeutschland

deren Kontrolle sowie Fragen der Sexualaufklärung und Bevölkerungsentwicklung zu sammeln und international zu verbreiten.5 Dieses Kapitel zeichnet die Entstehung der Pro Familia im Kontext der internationalen Bewegung zur Geburtenkontrolle und die Etablierung der Familienplanung in der Bundesrepublik der Nachkriegsjahre nach. Dazu wird zunächst analysiert, warum amerikanische Bevölkerungsaktivist*innen direkt nach Ende des Zweiten Weltkriegs ein Interesse an der Etablierung der Familienplanung in Deutschland hatten. Zweitens wird am anhand der Korrespondenzen zwischen Sanger, Anne-Marie Durand-Wever und Ilse Léderer die Situation im direkten Nachkriegsdeutschland rekonstruiert. Dann werden die Gründung der Pro Familia und die Hindernisse der Familienplanung in der frühen Bundesrepublik in den Blick genommen, bevor die programmatischen Unterschiede zur amerikanischen Planned Parenthood Federation diskutiert werden.

Überbevölkerung und Margaret Sangers Angst vor dem nächsten Weltkrieg Die Überbevölkerung im Deutschen Reich und »Hitler’s plan for Lebensraum« hätten den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs ausgelöst, schrieb Margaret Sanger am 9. Mai 1945 an eine potentielle Spenderin.6 Die adressierte Wohltäterin hatte eine Spende an Planned Parenthood abgelehnt, mit der Begründung, die USA dürfe aus militärischen Gründen ihre Bevölkerung nicht begrenzen, solange in Deutschland, Japan und der Sowjetunion die Geburtenraten stiegen. Deshalb müsse man die Familienplanung gerade in diesen Ländern etablieren. In ihrer Antwort übernahm Sanger Hitlers Argument eines deutschen Volks ohne Raum, ohne die rassistischen Fundamente des Nationalsozialismus zu reflektieren.7 Während einer Rede auf der Planned-Parenthood-Jahrestagung 1950 erklärte sie etwas differenzierter, dass gerade hungrige Menschen der Propaganda eines Diktators wie Hitler zur Eroberung eines neuen »Lebensraumes«

5 N. N., Minutes of the Planned Parenthood Executive Meeting 15.11.1949, in: Margaret Sanger Papers, 1900–1960, Microfilmed, Library of Congress, Reel 120. 6 Sanger, Margaret, Brief an Mrs. E. F.  Carey (09.05.1945), in: Margaret Sanger Papers, 1900–1960, Microfilmed, Library of Congress, Reel 119. 7 Ulrike Jureits Studie zu Raumkonzepten im Nationalsozialismus kommt zu dem Ergebnis, dass sich kein Automatismus von malthusisch-inspirierten Raumkonzepten des frühen 20. Jahrhunderts hin zur nationalsozialistischen Vernichtungspolitik ableiten lässt. Stattdessen sei die »Umsiedlung, Vertreibung und Ermordung der rassisch wie politisch unerwünschten Bevölkerungsgruppen nicht Folge, sondern Zweck und Ziel« der Eroberungspolitik in Osteuropa gewesen. Lebensraumkonzepte hingegen wurden immer wieder angepasst und umgearbeitet. Jureit, Ulrike, Das Ordnen von Räumen. Territorien und Lebensraum im 19. und 20. Jahrhundert, Hamburg 2012, S. 387–388; zur Genese des Lebensraumkonzeptes siehe auch Bashford, Global, S. 56.

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bereitwillig folgen würden.8 Diese Interpretation war natürlich extrem zu kurz gegriffen, da sie die rassistische und imperialistische Basis der nationalsozialistischen Expansionspolitik außer Acht ließ und eine direkte Linie zwischen Bevölkerungswachstum und Expansionskrieg herstellte. Ähnliche Argumente finden sich zu Beginn der 1950er Jahre in verschiedenen Berichten amerikanischer Bevölkerungsaktivist*innen in Deutschland und Japan.9 Seit Sanger sich 1942 aus dem Tagesgeschäft der amerikanischen Planned Parenthood Federation zurückgezogen hatte, konzentrierte sie sich auf die internationale Verbreitung ihres Konzeptes der Familienplanung.10 Die Idee zur Etablierung einer internationalen Familienplanungsorganisation, die 1952 mit der Gründung der IPPF umgesetzt wurde, ging jedoch nicht allein auf Sangers Bestreben zurück. Ideen für einen internationalen Verbund hatte es schon seit der Weltbevölkerungskonferenz 1930 in Zürich gegeben, in der sich zum ersten Mal neben Bevölkerungswissenschaftler*innen auch praktisch arbeitete Sozialberater*innen ausgetauscht hatten.11 Neben Sanger als Vertreterin der amerikanischen PPFA , waren britische, schwedische und niederländische Aktivist*innen besonders an einem internationalen Austausch interessiert.12 Bei Sangers internationalen Bestrebungen standen jedoch weder der emanzipatorische Gedanke, Frauen weltweit die Möglichkeit zum reproduktiven Selbstentscheiden zu bieten, noch der eugenische Gedanke, weniger »wertvolle« Bevölkerungsgruppen an der Fortpflanzung zu hindern, im Vordergrund, sondern die Befürchtung, dass unkontrolliertes Bevölkerungswachstum einen weiteren 8 Vgl. Sanger, Margaret, Rede zum Planned Parenthood Annual Luncheon 1950 (25.10.1950), in: Margaret Sanger Papers, 1900–1960, Microfilmed, Library of Congress, Reel 128. Die Sekundärliteratur geht davon aus, dass die nationalsozialistische Bevölkerungspolitik ambivalent zwischen Pronatalismus und Antinatalismus zu verorten ist, da sie die Geburten erwünschter Kinder aktiv förderte und die Geburten unerwünschter Kinder durch Zwangsmaßnahmen zu verhindern suchte, vgl. Hahn, Daphne, Modernisierung und Biopolitik. Sterilisation und Schwangerschaftsabbruch in Deutschland nach 1945, Frankfurt am Main 2000, S. 21; Timm, Annette F., Biopolitics, Demographobia, and Individual Freedom. Lessons from Germany’s Century of Extremes, in: Solinger, Rickie / ​ Nakachi, Mie (Hg.), Reproductive States. Global Perspectives on the Invention and Implementation of Population Policy, Oxford 2016, S. 33–62, hier S. 34; Herzog, Dagmar, Sexuality, Memory, Morality. West Germany in the 1950s-1960s, in: dies. (Hg.), Lust und Verwundbarkeit. Zur Zeitgeschichte der Sexualität in Europa und den USA , Göttingen 2018, S. 7–40, hier S. 18. 9 Siehe hierzu etwa Brush, Dorothy, Overpopulation and Family Planning. Report of the Proceedings of the Fifth International Conference on Planned Parenthood, October 24–29 1955, Tokyo, Japan, in: Eugenics Quarterly 4 (1957) H. 1, S. 40–43, hier S. 40; zur Anwendung des Lebensraumkonzepts auf Japan durch Bevölkerungsplaner, siehe auch Bashford, Global, S. 311. 10 Vgl. Moran Hajo, Cathy, Birth Control on Main Street. Organizing Clinics in the United States 1916–1939, Urbana 2010, S, 17. 11 Vgl. Grossmann, Atina, Reforming Sex. The German Movement for Birth Control and Abortion Reform, 1920–1950, New York 1995, S. 191. 12 Vgl. Weydner, Reproductive, S. 138.

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Die Gründung der Pro Familia in Westdeutschland

Weltkrieg auslösen könne. Diese Assoziation ähnelte in Teilen der Argumentation der im vorigen Kapitel vorgestellten Bevölkerungsaktivisten William Vogt, Hugh Moore und Fairfield Osborn, die Nahrungsknappheit als Ursache für den Ausbruch zukünftiger Weltkriege deuteten.13 Anders als diese verknüpfte Sangers Argumentationsweise jedoch Bevölkerungswachstum nicht mit Umweltproblemen und einem globalen Verteilungskampf um Ressourcen, sondern bezog Überbevölkerung allein auf nationalstaatliche Raumpolitik. Nicht die Welt als Ganzes litt unter dem Bevölkerungsdruck, nur einzelne Nationalstaaten würden unter dem Druck einer wachsenden Bevölkerung Expansionskriege starten, die einen weiteren Weltkrieg auslösen könnten. Deshalb setzten Sangers Lösungsansatz auf Initiativen in einzelnen Staaten, anstelle von transnationalen Netzwerken. Neben Indien, dessen politische Führungsschicht selbst großes Interesse an der Begrenzung des Bevölkerungswachstums im eigenen Land zeigte, wurden so Japan und Deutschland zu wichtigen Betätigungsfeldern der neuen internationalen Initiativen.14

Geburtenkontrolle in der direkten Nachkriegszeit 1946–1952 Die meisten Mitglieder der Weimarer Arbeitszentrale für Geburtenkontrolle hatten den Zweiten Weltkrieg im Exil verbracht. Einzig der Sozialhygieniker Hans Harmsen diente als Militärhygieniker in Afrika und an der Ostfront, und die Gynäkologin Anne-Marie Durand-Wever betrieb so lange es ging ihre gynäkologische Praxis in Berlin Charlottenburg, dann eine Ambulanz für Bombenopfer.15 Sowohl Harmsens Nachruf auf die 1970 verstorbene Durand-Wever, der erst 1982 im Zuge des 30-jährigen Jubiläums der Pro Familia veröffentlicht wurde, als auch die Sekundärliteratur berichten davon, dass die Gynäkologin im Mai 1945 Frauen, die von Besatzungssoldaten vergewaltigt wurden, gegen Geschlechtskrankheiten behandelt und wohl auch illegale Abtreibungen durchführt habe.16 Im März 1946 nahm Durand-Wever Kontakt zu Margaret Sanger auf, die sie 1927 in Berlin das erste Mal persönlich getroffen hatte, und bat sie ihr Diaphragmen zu schicken. Sanger ließ ihr diese über den stellvertretenden 13 Siehe Kapitel 2 dieses Buches. 14 Zu Sangers und Dorothy Brushs Unterstützung der Familienplanung in Japan, siehe Takeushi-Demirci, Aiko, Contraceptive Diplomacy. Reproductive Politics and Imperial Ambitions in the United States and Japan, Stanford 2018, S. 179–180, zu Indien siehe Roman Birke, Geburtenkontrolle als Menschenrecht. Die Diskussion um globale Überbevölkerung seit den 1940erJahren, Göttingen 2020, S. 210–219. 15 Vgl. Oertzen, Monika von, »Nicht nur fort sollst du dich pflanzen, sondern hinauf.« Die Ärztin und Sexualreformerin Anne-Marie Durand-Wever (1889–1970), in: Brinkschulte, Eva (Hg.), Weibliche Ärzte. Die Durchsetzung des Berufsbildes in Deutschland, Berlin 1993, S. 140–152, hier S. 146. 16 Vgl. Oerzten, Ärztin, S. 146; Harmsen, Hans, Von der Schwangerenberatung zur »pro familia«, in: Berliner Ärzteblatt 95 (1982) H. 9, S. 290–291, hier S. 291.

Geburtenkontrolle in der direkten Nachkriegszeit 1946–1952 

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UNRRA Vorsitzenden für Schleswig-Holstein, J.  Forrest Ingle, zukommen.17

Die Polizeierlasse Heinrich Himmlers von 1941 und 1943 zum Verbot von Verhütungsmitteln für Frauen (Kondome waren zum Schutz vor Geschlechtskrankheiten von dem Verbot ausgenommen) galten nach Kriegsende noch weiter, was den Zugang zu Verhütungsmitteln erschwerte.18 Sanger und Durand-Wever trafen sich wie eingangs erwähnt 1948 auf der Weltbevölkerungskonferenz im englischen Cheltenham. Eine weitere deutsche Teilnehmerin der Tagung war die Kassler Sozialarbeiterin Ilse Léderer (1908– 1966), deren jüdischer Vater Albert Peretz 1942 im Konzentrationslager Auschwitz ermordet worden war und deren Großvater, der Chemnitzer Strumpffabrikant Siegfried Peretz 1939 nach der Enteignung seiner Fabrik Selbstmord begangen hatte.19 Léderer war nach Cheltenham gelangt, nachdem sie 1948 die befreundete Pädagogin Hilda Cunnington in Sheffield besucht und mit ihr Familienplanungskliniken in Sheffield und London besichtigt hatte. Léderer beschloss in ihrem Wohnort Kassel eine »marriage guidance clinic« nach eng­ lischem Vorbild einzurichten, in der sie Eheberatung inklusive Sexualaufklärung und Verhütungsmittel anbieten wollte.20 Als Sanger auf der Konferenz erfuhr, dass das nationalsozialistische Verbot von Verhütungsmitteln in einigen deutschen Bundesländern noch in Kraft war, nahm sie über die Hilfsorganisation CARE wieder Kontakt mit Hans Harmsen auf und vernetzte diesen mit Léderer und dem Nürnberger Laienaktivisten Franz Gampe. Dieser war erster Vorsitzender des in Fürth ansässigen, noch aus Weimarer Zeiten bestehenden Reichsverband für Geburtenregelung und Sozialhygiene e. V., welcher 2000 zahlende Mitglieder hatte und hauptsächlich zum Vertrieb von Kondomen diente.21 Auf Léderers Initiative hin wurde 1949 ein Komitee zur Gründung einer deutschen Familienplanungsorganisation einbe17 Vgl. Sanger, Margaret, Brief an Anne-Marie Durand-Wever (30.03.1946), in: The Margaret Sanger Papers (microfilmed), Sophia Smith Collection, Smith College, Northampton, Mass; für die biographischen Informationen zu J. Forrest Ingle, siehe Katz, Esther, The Selected Papers of Margaret Sanger, Bd. 4., Round the World for Birth Control, 1920–1966, Urbana 2016, S. 418. 18 Vgl. Silies, Eva-Maria, Liebe, Lust und Last. Die Pille als weibliche Generationserfahrung in der Bundesrepublik 1960–1980, Göttingen 2010, S. 58. 19 Vgl. Ledérer, G., Brief an Hans Harmsen (23.07.1982), in: BArch N 1336/378; siehe auch die biographischen Angaben zu Albert und Siegfried Peretz auf der Homepage der Chemnitzer Stolpersteine: http://www.chemnitz.de/chemnitz/de/aktuelles/presse/ pressemitteilungen/2015/543.html, letzter Zugriff: 18.05.2018. 20 Die Fallberichte aus ihrer Klinik drehen sich hauptsächlich um sexuelle Probleme in Ehen von Kriegsheimkehrern, vgl. Léderer, Ilse, Für die Hausfrau. Aus der Praxis der Eheberatung, in: Gleichheit. Das Blatt der arbeitenden Frau 14 (August 1951), H. 8, Manuskript in: BArch N 1336/378. 21 Vgl. Houghton, Birth Control, S. 187. Zu Gampes Reichsverband für Geburtenregelung in der Weimarer Republik, siehe Hagemann, Karen, Frauenalltag und Männerpolitik. Alltagsleben und gesellschaftliches Handeln von Arbeiterfrauen in der Weimarer Republik, Bonn 1990, S. 288.

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Die Gründung der Pro Familia in Westdeutschland

rufen, dessen Vorsitz Harmsen aufgrund seiner internationalen Vernetzungen übernehmen sollte.22 Man wollte auch den NS -Eugeniker Fritz Lenz und seine Frau einladen, da diese Kontakte zum amerikanischen Eugeniker und Ehe­ berater Paul B. Popenoe hatten.23 Zunächst entwickelten sich die ersten westdeutschen Beratungsstellen jedoch unabhängig voneinander. Léderer betrieb ihre Beratungsstelle in einem Krankenhaus in Kassel, in der zwei Stunden die Woche Sprechstunden stattfanden, und die Berliner Ärztinnen Durand-Wever und Ilse Brandt richteten Sprechstunden in den Kreuzberger Büros der Allgemeine Versicherungsanstalt (später Allgemeine Ortskrankenkasse, AOK) ein. In Hamburg entstand unter der Initiative des Juristen Hannes Kaufmann 1946 eine Vertrauensstelle für Verlobte und Eheleute, die über medizinisch-eugenische Heiratsberatung hinaus praktische Hilfe in sozialen, juristischen und seelischen Belangen von Ehepaaren anbieten sollte.24

22 Michael Altmann argumentiert in seiner unveröffentlichten Magisterarbeit, dass Hans Harmsen gebeten wurde, den Vorsitz des neuen Vereins zur Familienplanung zu übernehmen, da dieser das Vertrauen der britischen Besatzungsbehörden genoss und damit beauftragt worden war, das Gesundheitswesen in Hamburg neu aufzubauen, weil er für die Besatzungsbehörden als »unbelastet« galt und kein NSADP-Mitglied gewesen war, vgl. Altmann, Michael, Der Verein »pro familia – Deutsche Gesellschaft für Ehe und Familie e. V.« von 1952 bis 1974, unveröffentlichte Magisterarbeit Universität Frankfurt am Main 2019, S. 33–34. 23 Vgl. N. N., Entwurf. Erster Rundbrief des Sekretariats an die Mitglieder des vorbeiratenden Komitees der Deutschen Gesellschaft für Familienfragen (Göttingen, 23.03.1949), in: BArch N 1336/344. Fritz Lenz (1887–1976) war Mitherausgeber des zweibändigen Standardwerkes »Menschliche Erblichkeitslehre und Rassenhygiene (1936)«, besser bekannt als »Fischer-Baur-Lenz«, welches der Rassenhygiene im Nationalsozialismus eine politische Dimension verpasste. Paul B. Popenoe (1888–1979) war kalifornischer DattelFarmer und Eugeniker, der Zwangssterilisationen in Kalifornien wissenschaftlich ausgewertet hatte. In der Nachkriegszeit versuchte er sich von der Eugenik zu distanzieren, in dem er sich als Eheberater und Kolumnist der Zeitschrift »Ladys Home Journal« betätigte, Archivfunde deuten jedoch darauf hin, dass Popenoe auch nach 1945 noch Kontakte zu deutschen Rassehygienikern pflegte, vgl. Heinemann, Isabel, Wert der Familie. Ehescheidung, Frauenarbeit und Reproduktion in den USA des 20. Jahrhunderts, Berlin 2018, S. 138–141 und 148. Zu »Fischer-Baur-Lenz«, siehe Eckart, Wolfgang U., »Ein Feld rationaler Vernichtungspolitik.« Biopolitische Ideen und Praktiken vom Malthusianismus bis zum nationalsozialistischen Sterilisationsgesetz, in: Rotzoll, Maike u. a. (Hg.), Die nationalsozialistische »Euthanasie«-Aktion »T4« und ihre Opfer, Paderborn 2010, S. 25–41, hier S. 32. 24 Die Beratungsstelle wurde durch eine Großspende des Verlags Jahr & Co, der die Frauenzeitschrift »Constanze« herausgab, finanziert. 1953 wurde sie in die Pro Familia integriert, benannte sich jedoch erst 1969 um in Pro-Familia-Landesverband Hamburg. Vgl. N. N., Vereinssatzung »Vertrauensstelle für Eheleute und Verlobte«, in: Pro-FamiliaVerbandsarchiv, Ordner »BAT Protokolle 1952 bis 1978«; Harmsen, Hans, Rechenschaftsbericht für die Mitgliederversammlung des Vereins Beratungszentrum für Geburtenregelung e.V (1969), in: BArch N 1336/404.

Geburtenkontrolle in der direkten Nachkriegszeit 1946–1952 

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Abb. 6: Flyer der Familien- und Eheberatungsstelle im Stadtkrankenhaus Wilhelmshöhe, Kassel, ca. 1948.

Léderer suchte Kontakt zu lokalen und überregionalen Medien, um ihrer Beratungsstelle in Kassel bekannt zu machen. Sie verfasste Artikel unter anderem in der »Kassler Zeitung«, der Frauenzeitschrift »Welt der Frau« und der »Konstanzer Zeitung«.25 In ihren Presseartikeln übersetzte sie den Begriff »birth control«, mit »bewusste Mutterschaft«, was in Leserbriefen gelobt wurde.26 »Bewusste Mutterschaft« durch ärztlich verschriebene Anwendung von Verhütungsmitteln diente zum einen dazu die hohe Anzahl illegaler Abtreibungen zu senken und Frauen vor Last einer ungewollten Schwangerschaft zu schützen, die sie vor die Entscheidung zwischen einer illegalen und gefährlichen Abtreibung oder der Geburt eines weiteren Kindes in Armut stellte. Zum anderen diente es dazu, Frauen die Angst vor Schwangerschaft und Sexualität an sich zu nehmen, so dass Ehen gleichberechtigter werden konnten. Ehen, die durch Scheidung und die Traumata der aus Kriegsgefangenschaft zurückkehrenden Männer belastet waren, sollten nicht durch sexuelle Nöte weiter destabilisiert werden. Im Gegen25 Vgl. Léderer, Ilse, Die Bewusste Elternschaft, in: Konstanzer Zeitung (undatierter Zeitungsausschnitt, ca. 1952), in: BArch N 1336/378; Léderer, Ilse, Familienplanung – neuer Sozialer Begriff, in: Kassler Zeitung, Nr. 246 (21.09.1952), Englische Übersetzung von Lilian Jeffries, in: The Margaret Sanger Papers (unfilmed), Sophia Smith Collection, Smith College, Northampton, Mass, Box 40.14 (im Folgenden zitiert als »The Margaret Sanger Papers (unfilmed)«). 26 Vgl. S., Elke, Leserbrief an Ilse Léderer (21.10.1951), in: BArch N 1336/378.

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satz zu Léderer, die deutlich einem feministischen Ansatz folgte, argumentierte ein Berliner Berater, man wolle sich mit Verhütungsfragen an die Ehefrauen richten, um die fragile Sexualität der deutschen Männer nicht auch noch durch die Sorge um Schwangerschaft zu belasten.27 Hier wurde Empfängnisverhütung allein als Maßnahme zur Verbesserung der Situation von Müttern und zur Stabilisierung von Ehen beworben. Außereheliche Sexualität kam in den Artikeln nicht vor. Während Durand-Wever in einem Artikel für das Ärzte-Journal Paracelsus 1949 die Notwendigkeit der Familienplanung mit der amerikanischen Sorge um Überbevölkerung und dem Wandel von Erwerbstätigkeit in der Industrialisierung verknüpfte,28 stellte Léderer in den Berichten über ihre Beratungstätigkeit keine Bezüge zu globalen Bevölkerungsdebatten her. »Bewusste Mutterschaft« wurde hier als Präventivmaßnahme zum Wohlergehen individueller Mütter und zur Stärkung individueller Familien präsentiert. In einem Bericht an die britische FPA über die ersten drei Jahre der Beratungsstelle in Kassel (1949 bis 1952), beschrieb Léderer, dass sie aufgrund ihrer Presseartikel Anfragen von über 400 Frauen aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und Südwestafrika, dem heutigen Namibia, erhalten habe, die sich Beratungsstellen auch in ihren Wohnorten wünschten.29 Dies war für Léderer die Motivation, sich um den Aufbau einer deutschlandweiten Familienplanungsgesellschaft nach englischem Vorbild zu bemühen. Erst als sie im April 1952 die Vorsitzende des schwedischen Verbandes zur Sexualpädagogik Elise OttesenJensen für eine Vortragsreihe nach Kassel und Berlin einlud, gewann die Idee der Gründung einer deutschlandweiten Gesellschaft wieder an Auftrieb.30 Laut den Berichten Léderers und Durand-Wevers an Sanger kamen zu Elise Ottesen-Jensens Vortrag in Berlin 150 Ärzt*innen, die danach spontan beschlossen, eine deutsche Gesellschaft zu gründen, die vornehmlich Ärzteschulungen zum Thema Empfängnisverhütung durchführen sollte.31 Die erste Arbeitsgruppe zur Erarbeitung einer Vereinssatzung traf sich im Juni 1952 im Wohnzimmer Durand-Wevers, und am 20. Juli 1952 fand die Gründungs­konferenz in Kassel auf 27 Vgl. Timm, Annette F., The Politics of Fertility in Twentieth Century Berlin, Cambridge 2010, S. 248. 28 Vgl. Durand-Wever, Anne-Marie, Geplante Elternschaft, in: Paracelsus: Archiv der praktischen Medizin, Separatdruck als Faksimile 3 vom 01. März 1951, in: The Margaret Sanger Papers (unfilmed), Box 40.14. 29 Vgl. Léderer, Ilse, German Working Committee for Planned Parenthood. Third Year of Advice Centre, Kassel, in: The Margaret Sanger Papers (unfilmed), Box 40.14. 30 Vgl. Brandt, Ilse, Brief an Hans Harmsen (27.03.1982), in: BArch N1336/571. Für weitere Informationen über Elise Ottesen-Jensen und den schwedischen Verband, siehe Lennerhed, Lena, Taking the Middle Way. Sex Education Debates in Sweden in the Early Twentieth Century, in: Sauerteig, Lutz D. H. / Davidson, Roger (Hg.), Shaping Sexual Knowledge. A Cultural History of Sex Education in Twentieth Century Europe, London 2009, S. 55–70, hier S. 59. 31 Vgl. Durand-Wever, Anne-Marie, Report sent to Mrs. Sanger, Mrs. Houghton, Mrs. Brush (07.6.1952), in: BArch N1336/571.

Geburtenkontrolle in der direkten Nachkriegszeit 1946–1952 

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Einladung Ilse Brandts statt.32 Eingetragener Verein wurde die Deutsche Gesellschaft für Ehe und Familie e. V. jedoch erst im Dezember 1952 in Hamburg. Der lateinische Name »Pro Familia« ging laut Berichten der beteiligten Gründungsmitglieder auf Hans Harmsen zurück, der sich damit von negativ konnotierten und mit dem Nationalsozialismus assoziierten Begriffen wie Geburtenkontrolle oder Geburtenregelung abgrenzen wollte.33 Ähnlich wie der amerikanische Begriff »birth control« implizierten Geburtenregelung einen Eingriff von außen in die Einheit der Familie. Dem hingegen blieb der Name »Pro Familia« so vage, dass darunter unterschiedlichste Konzepte von Familienförderung subsumiert werden konnten. Harmsen, der 1946 eine außerordentliche Professur für Sozialhygiene an der Universität Hamburg erhalten und den Vorsitz des 1949 gegründeten Planungskomitees übernommen hatte, musste laut einem Briefwechsel zwischen Léderer und Durand-Wever erst von der Gründung einer gesamtdeutschen Gesellschaft für Familienplanung überzeugt werden, da er der Meinung war, man müsse erst den noch bestehenden Polizeierlass zum Verbot von Verhütungsmitteln bekämpfen, bevor man Beratung oder Ärzteschulungen anbieten könne. Erst ein persönlicher Besuch Léderers in Hamburg im November 1951 konnte Harmsen davon überzeugen, ihre Initiative zu unterstützen.34 Unter den Gründungs­ mitgliedern wurden die Zuständigkeitsbereiche so aufgeteilt, dass Harmsen für die wissenschaftliche Forschung im Bereich Geburtenkontrolle zuständig sein sollte, Durand-Wever und Ilse Brandt für die Einrichtung der Beratungsstellen, Ilse Léderer für die Integration von Laien in die Organisation. Der Hamburger Anwalt Hannes Kauffmann war für die rechtliche Verankerung der Geburtenkontrolle verantwortlich.35 So war die Initiative zur Gründung von Pro Familia von weiblichen Aktivistinnen auf Graswurzelebene ausgegangen, auch wenn männliche Experten Führungsrollen in dem nationalen Verband übernahmen. Es war eher die Nachfrage nach Verhütungsmitteln als der Wunsch sich in die Bewegung zur Reduktion des Bevölkerungswachstums einzuordnen, der die Aktivistinnen zu diesem Schritt bewegte. Zeitgleich mit Léderers Bemühungen um eine deutschlandweite Konferenz, plante Sanger die Gründungskonferenz der International Planned Parenthood Federation (IPPF) in Bombay im November 1952. Als einziger deutscher Repräsentant nahm Harmsen an der Tagung in Indien teil, dessen Reisekosten Sanger aus eigener Tasche zahlte.36 Die Sekundärliteratur hat daher spekuliert, dass Sangers Nominierung eines männlichen, sich offen zur Eugenik und Be32 Vgl. Durand-Wever, Anne-Marie / Harmsen, Hans, Brief an Margaret Sanger (20.07.1952), in: The Margaret Sanger Papers (unfilmed), Box 40.14; siehe auch Brandt, Ilse, Brief an Hans Harmsen (27.03.1982), in: BArch N 1336/571. 33 Vgl. N. N., Einladung zur Gründungskonferenz (1952), in: BArch N 1336/344; siehe auch Grossmann, Reforming, S. 204. 34 Léderer, Ilse, Brief an Anne-Marie Durand Wever (26.11.1951), in: BArch N 1336/344. 35 Vgl. Harmsen, Hans, 30 Jahre Pro Familia (Manuskript 1982), in: BArch N 1336/571. 36 Vgl. Weydner, Reproductive, S. 152.

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völkerungssteuerung bekennenden Professors anstelle einer weiblichen, feministischen und vermeidlich kommunistischen Ärztin (Durand-Wever), beziehungsweise einer jüdischen Aktivistin (Léderer oder Brandt), daraufhin deute, dass Sanger ihre eigenen feministischen Ideale über Bord geworfen habe, um die bevölkerungsplanerische Fraktion in der IPPF zu stärken.37 Jedoch zeigt die Korrespondenz Sangers, dass sie sowohl Harmsen als auch Durand-Wever, die bei weitem nicht die kommunistische Sympathisantin war, als welche sie in Teilen der Sekundärliteratur beschrieben wurde, eingeladen hatte, nach Bombay zu kommen. Durand-Wever musste aber nach einem körperlichen Zusammenbruch die Reise aus gesundheitlichen Gründen absagen.38 Dennoch schienen die britischen und niederländischen Repräsentant*innen in der IPPF, die laut der Historikerin Sara Weydner eher den Ausbau von Kliniknetzwerken fördern wollten, als die globale Bevölkerung zu regulieren, mit der Wahl Harmsens als deutschen Vertreter nicht glücklich zu sein, so dass Sanger ihn als guten, freundlichen und angesehenen Experten verteidigen musste.39 Der Konflikt um die deutsche Repräsentanz auf der IPPF Gründungskonferenz 1952 deutet auf weitreichendere Konflikte über die Ausrichtung der IPPF hin, entweder als transnationales Netzwerk zum Wissensaustausch im Bereich Ehe- und Familienberatung oder als internationale NGO zur Bekämpfung des Bevölkerungswachstums besonders in Asien und Lateinamerika. Letztendlich wurde laut dem Soziologen Stefan Kühl aus der IPPF zunächst ein kleines Netzwerk von Aktivist*innen, welches hauptsächlich durch die Spenden von anglo-amerikanischen eugenischen Institutionen finanziert wurde und sich dementsprechend programmatisch anpasste.40 Bei der Gründung der IPPF und der Pro Familia trafen so Aktivist*innen mit unterschiedlichen Interessen aufeinander. Margaret Sanger unterstützte die Gründung einer (west-)deutschen Familienplanungsorganisation finanziell, um durch die Einhegung der Bevölkerung eines ehemaligen Kriegsgegners den Ausbruch eines weiteren Weltkriegs zu vermeiden. Hans Harmsen sah in der Aushebelung des Himmler’schen Polizeierlasses zur Ausgabe von Verhütungsmitteln einen ersten Schritt hin zur Vision seines Doktorvaters Alfred Grotjahns für eine auf rationalen Expertenrat basierten Bevölkerungspolitik, während Durand-Wever aufgrund der Erfahrungen in ihrer eigenen Praxis 37 Durand-Wever hatte vorgeschlagen auf der Tagung in Bombay ein Panel zu Familienplanung in totalitären Regimen zu leiten, was Sanger zu heikel war. Gerüchten zu Folge sympathisierte Durand-Wevers Sohn mit dem Kommunismus und sie selbst hatte 1948 versucht mit dem Ostberliner kommunistischen Ärztinnenbund zusammen zu arbeiten, vgl. Ebd. und Grossmann, Reforming, S. 207. 38 Durand-Wever, Anne-Marie, Brief an Margaret Sanger (10.02.1953), in: Margaret Sanger Papers, 1900–1960, Microfilmed, Library of Congress, Reel 120. 39 Vgl. Weydner, Reproductive, S. 152–153. 40 Kühl, Stefan, Die Internationale der Rassisten. Aufstieg und Niedergang der internationalen Bewegung für Eugenik und Rassenhygiene im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1997, S. 202.

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die hohe Anzahl illegaler Abtreibungen durch die sexuelle Aufklärung und die Anpassung von Diaphragmen bekämpfen wollte. Ilse Léderer wollte durch »bewusste Mutterschaft« die Situation von Frauen verbessern, Frauen mehr Gleichberechtigung in der Ehe durch gleichberechtigte sexuelle Befriedigung bieten und durch Eheberatung nach britischem Vorbild, die durch Krieg, Gefangenschaft und Wohnungsnot geschwächten Familien stabilisieren. Der erste Schritt, die Bewegung für Geburtenregelung der Weimarer Republik wieder zum Leben zu erwecken, stammte von Durand-Wever. Letztendlich war es aber Léderer, die durch ihre Öffentlichkeitsarbeit und ihr Organisationstalent die Gründung der Pro Familia vorantrieb. Dabei konnte sie auf die finanziellen Ressourcen Sangers und des Bevölkerungsaktivist Clarence Gambles, die professionellen Netzwerke Harmsens, sowie die praktische Erfahrung und professionelle Ausbildung Durand-Wevers und Brandts zurückgreifen. Dass Harmsen und nicht Léderer erster Vorsitzender der neugegründeten Organisation wurde, lag sowohl an seinem männlichen Status als auch an den akademischen Titeln. So wurde die Geschichte der Pro Familia in der medizin-historischen Literatur der 1980er Jahre als eine Fortsetzungsgeschichte der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik beschrieben,41 die ähnlich männliche Akademiker in den Vordergrund rückte und den weiblichen, praxisorientierten Aktivistinnen eine Fußnotenrolle zuschrieb.

Die Ausrichtung der Pro Familia in den Anfangsjahren Die 1952 verabschiedete Satzung der Pro Familia betonte, der Zweck des Vereins sei es »eine gesunde von verantwortlichem Willen zum Kinde getragene Familie« zu fördern.42 Dazu gäbe es zwei »Sektoren« innerhalb des Vereins, zum einen die allgemeine Eheberatung durch Ärzt*innen, Jurist*innen oder Seel­ sorger*innen »im Sinne der Organisationen in anderen Ländern den Bestrebungen des Marriage Guidance.« Die zweite Säule sollte »die leib-seelischen Schäden der Schwangerschaftsunterbrechung bekämpfen, die Kenntnisse verbreiten, die für eine bewußte Führung des Ehelebens nötig sind und dafür sorgen, daß ohne Rücksicht auf die Vermögenslage alle Eheleute aus verantwortlichem Entschluß über die Zeugung eines Kindes entscheiden können, entsprechend den internationalen ›Bestrebungen für Planned Parenthood.‹«43 Umgesetzt werden sollten diese Vereinsziele durch die »Sammlung und wissenschaftliche Auswertung« 41 Siehe hierzu etwa Kaupen-Haas, Heidrun, Eine deutsche Biographie. Der Bevölkerungspolitiker Hans Harmsen, in: Ebbinghaus, Angelika u. a. (Hg.), Heilen und Vernichten im Mustergau Hamburg. Bevölkerungs- und Gesundheitspolitik im Dritten Reich, Hamburg 1984, S. 41–44. 42 N. N., Pro Familia Vereinssatzung (1952), Anhang an Brief von Anne-Marie DurandWever an Margaret Sanger (30.08.1958), in: The Margaret Sanger Papers (unfilmed), Box 40.14, S. 2. 43 Ebd.

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von sozialwissenschaftlichen Daten über Familien, durch »Einflussnahme auf Gesetzgebung und Verwaltung«, durch das Informieren der Öffentlichkeit, durch Ärzteschulungen sowie eigene Beratungsstellen, entweder zur Eheberatung oder zur Familienplanung, und durch Unterstützung anderer Institutionen bei der Einrichtung von Beratungsstellen. Die Vereinssatzung zeigt den Einfluss, den Harmsen und Léderer auf die Ausrichtung der Organisation hatten, da Harmsens Steckenpferd, die statistische Datenauswertung, erwähnt wurde und Léderers Eheberatung nach dem Prinzip der »marriage guidance«, als eigene Säule der Vereinstätigkeit ausgewiesen wurde (die jedoch im Laufe der Jahre verloren ging). Es wurden die eng­ lischen Begriffe »marriage guidance« und »Planned Parenthood« in die Satzung geschrieben, um die internationalen Standards, auf denen das Vereinskonzept beruhte, zu unterstreichen. Die Aufklärung über Verhütungsmittel sollte als Maßnahme zur Bekämpfung illegaler Abtreibungen und zur Ermächtigung von Ehepaaren zum Treffen von verantwortungsbewussten Reproduktionsentscheidungen dienen. Erstaunlich ist, dass finanzielle Aspekte bei der Planung der Familie keine Rolle spielen sollten, was eine Ablehnung utilitaristischer Motive in der Geburtenregelung darstellte. Diese Motive hatte Harmsen schon 1934 als moralisch verwerflich abgelehnt, was implizierte, dass die Satzung der Pro Familia hier in ein christlich-konservatives Moralverständnis eingeschrieben werden sollte.44 Dieses lehnte es ab, Reproduktion aus monetaristischen Gründen einzuschränken, medizinisch-eugenische Gründe hingegen waren akzeptabel. Dies zusammen mit der Einleitung des Paragraphen, dass es der Zweck des Vereins sei, die Gesundheit und Verantwortung der »vom Wille zum Kinde getragenen Familie« zu fördern, betonte, dass Pro Familia durch die Verbesserung der Zugänglichkeit zu Verhütungsmitteln Fertilität nicht unterwandern wollte. Diese präventive Rechtfertigung diente dazu, konservative und kirchliche Kritiker der Familienplanung zu beschwichtigen. Studien zur Geschichte der Sexualmoral im Nachkriegsdeutschland haben nachgewiesen, dass es in den direkten Nachkriegsjahren eine gewisse sexuelle Permissivität gegeben hatte, es Anfang der 1950er Jahre aber zu einer Rückbesinnung auf christlich-konservative Familiennormen kam, die vor allem von der konservativen Bundesregierung und der katholischen Kirche vorangetrieben wurde.45 Auch die evangelischen Landeskirchen entschieden sich anders als die mainline-protestantischen Kirchen in den USA nicht für eine progressive moderne Familienpolitik, sondern suchten eine Rückbesinnung auf konservative Morallehre. Laut Dagmar Herzogs bahnbrechender Studie über Sexualität im Deutschland des 20. Jahrhunderts wurde durch die konservativ-moralische Wende der frühen 44 Vgl. Harmsen, Hans, Geistig Tote?, in: Mitteilungen der Arbeitsgemeinschaft für Volksgesundung e. V. 5 (3.03.1934), S. 2, in: BArch N 1336/33. 45 Vgl. Sauerteig, Lutz H. D., Representations of Pregnancy and Childbirth in (West) German Sex Education Books, 1900s–1970s, in: Sauerteig, Lutz D. H. / Davidson, Roger (Hg.), Shaping Sexual Knowledge. A Cultural History of Sex Education in Twentieth Century Europe, London 2009, S. 129–160, hier S. 138.

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1950er Jahre eine Abgrenzung sowohl zum Nationalsozialismus und dessen ambivalente Sicht auf Sexualität, wie auch zur liberalen, aber instabilen Weimarer Republik vollzogen. So entstand ab ca. 1953 die »Fiktion von vorfaschistischer reiner Zeit«, die ihren Referenzpunkt im Kaiserreich hatte.46 Dabei argumentierte vor allem die CDU einzig durch eine konservative Verbindung von Ehe und Fortpflanzung gelinge eine moralische Erneuerung.47 So forderte laut dem Historiker Robert Moeller Bundeskanzler Konrad Adenauer, der Wille der deutschen Frau zum Kinde dürfe nicht durch Verhütungsmittel oder den Wunsch der Teilhabe an der Konsumgesellschaft gebremst werden.48 Dies impliziert, dass Familien zum Zwecke der Reproduktion und alle Frauen als Mütter imaginiert wurden. Auch der Ressortchef des 1953 neu eingerichteten Familien­ ministeriums Franz-Josef Wuermeling – laut dem Historiker James Chappell ein »devout Catholic« und »furious anti-communist«, der die Familie vornehmlich »in terms of the Volk as a whole« betrachtete – forderte eine Mindestzahl von vier Kindern pro Familie zum Ausgleich des Bevölkerungsverlustes durch den Zweiten Weltkrieg.49 So scheuten sich laut Herzog selbst die SPD und FDP auf liberale Traditionen der Weimarer Republik zu rekurrieren und eine Liberalisierung des § 218 zu fordern.50 Die Diskurshoheit in sexuellen Fragen lag bis dahin bei konservativen Kräften, die Kontroversen um kulturelle Produktionen, wie den Spielfim »Die Sünderin« (1950) oder die Neuübersetzung des Romans »Fanny Hill« (1964), geschickt für einen moralischen Aufschrei zu nutzen wussten.51 Jedoch gab es, so Eva-Maria Silies, große Widersprüche zwischen sexualkonservativen Vorstellungen und dem tatsächlichen Verhalten der Menschen. Die Mehrheit der Ehepaare wünschte sich zwei Kinder anstelle der von Wuermeling geforderten vier und die Hälfte aller Paare praktizierten Verhütung mit Kondomen.52 Präservative waren per Versandhandel erhältlich, wie in dem oben genannten »Reichs­verband für Geburtenregelung e. V.«, welcher an zahlende Mitglieder Kondome, Aufklärungsbroschüren und die Zeitschrift »Die Neue Familie« verschickte.53 Der Versandhandel über Vereine war ein wichtiger Vertriebsweg von Verhütungsmitteln und Aufklärungsschriften in der Weimarer Republik und 46 Herzog, Dagmar, Die Politisierung der Lust. Sexualität in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, München 2005, S. 128. 47 Vgl. Ebd., S. 149. 48 Vgl. Moeller, Robert G., Geschützte Mütter. Frauen und Familien in der Westdeutschen Nachkriegspolitik, München 1997, S. 201. 49 Chappell, James, Nuclear Families in a Nuclear Age. Theorizing the Family in 1950s West Germany, in: Contemporary European History 26 (2017) H. 1, S. 85–109, hier S. 85, 94 und 104. 50 Vgl. Herzog, Politisierung, S. 139. 51 Vgl. Steinbacher, Sybille, Wie der Sex nach Deutschland kam. Der Kampf um Sittlichkeit und Anstand in der frühen Bundesrepublik, München 2011, S. 297. 52 Vgl. Silies, Liebe, S. 57–58. 53 Die »Neue Familie« wurde von 1948 bis 1957 von Gampes Reichsverband herausgegeben, von 1958 bis 1966 war sie die offizielle Vereinszeitschrift der Pro Familia.

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frühen Bundesrepublik. So begann auch die Unternehmerin Beate Uhse damit, Informationsbroschüren über die Funktionsweise der Knaus-Ogino-Methode zu verschicken.54 Während sie ihren Versandhandel in den 1960er Jahren in den Bereichen Sexspielzeug und erotische Literatur ausbaute, schloss sich Gampes Verein 1957 mit der Pro Familia zusammen, was die Anzahl der Mitglieder, die keine Mediziner*innen waren, schlagartig erhöhte.55 Auch ist die hohe Anzahl der sogenannten »Mußehen«, also Ehen die aufgrund einer vorehelichen Schwangerschaft geschlossen wurden, ein Indiz dafür, dass vorehelicher Geschlechtsverkehr weit verbreitet war.56 Laut Hans Harmsens Statistiken wurden bis in die 1960er Jahre, 70 Prozent der erstgeborenen Kinder vor der Eheschließung der Eltern gezeugt.57 Jedoch fand außerhalb der vier ursprünglichen Beratungsstellen der Pro Familia und den Zeitschriften diverser Versandhändler wenig sexuelle Aufklärung statt. Kirchliche Initiativen, wie die Mitglieder der Detmolder Arbeitsgemeinschaft Ehe- und Familienberatung,58 klärte nur über Enthaltsamkeit auf und wollten nicht mit Pro Familia zusammenarbeiten.59 Ärzte, die im Nationalsozialismus ausgebildet wurden, hatten laut Harmsen und Durand-Wever das Thema Empfängnisverhütung nicht im Studium behandelt und waren dem gegenüber skeptisch eingestellt.60 In diesem gesellschaftlichen Klima gab es kaum eine Sprache, in der öffentlich über Sexualität gesprochen werden konnte. So nutzte etwa eine Aufklärungsserie der illustrierten Wochenzeitschrift »stern« aus dem Jahre 1961, die in Teilen von Mitgliedern von Pro Familia mitgestaltet wurde, den Euphemismus des »ehelichen Verkehrs« für Sex, während auf dem Titelbild der Zeitschrift und in der Werbung neben dem Artikel leichtbekleidete Models gezeigt wurden.61 Aufgrund dieser sexualisierten Reklame hat Dagmar Herzog argumentiert, dass die »sexuelle Revolution« in der Bundesrepublik nicht durch die Studentenbewegung um 1968, sondern durch die Freizügigkeit in der Werbung und der Konsumgesellschaft Anfang der 1960er Jahre ausgelöst wurde.62 54 Für mehr Informationen zu Beate Uhse, siehe Steinbacher, Sex, S. 242. 55 Vgl. Herrmann, Karl, Zur Orientierung, in: Die Neue Familie 10 (Dezember 1958), H. 12, S. 1. 56 Vgl. Herzog, Politisierung, S. 155. 57 Siehe zum Beispiel Harmsen, Hans, Brief an Ministerialrätin Dr. Große-Schönepauck (11.10.1966), in: BArch N 1336/278. 58 Für weitere Informationen über die Detmolder Arbeitsgemeinschaft Ehe- und Familienberatung, siehe Kapitel 4 dieser Arbeit. 59 Vgl. Herzog, Politisierung, S. 151. 60 Vgl. Harmsen, Hans u. a., Zur Beratung in Fragen der Empfängnisregelung durch niedergelassene Ärzte (Manuskript), in: Barch N 1336/404. Das Manuskript wurde veröffentlicht als: Harmsen, Hans u. a., Zur Beratung in Fragen der Empfängnisregelung durch niedergelassene Ärzte, in: Gesundheitsfürsorge, Gesundheitsvorsorge: Monatszeitschrift für Präventivmedizin und Gesundheitshilfe 17 (Dec. 1967) H. 12, S. 200–201. 61 Vgl. Holstenburg, Dr. Werner, Das ungewollte Kind, in: stern 14 (21.05.1961) 21, S. 42–53, hier S. 48. 62 Vgl. Herzog, Politisierung, S. 173.

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Abb. 7: Cover der Broschüre, Was wisst ihr von einander, Pro Familia, 1961.

Auch die Bebilderungen der Aufklärungsschriften der Verhütungsvereine und frühen Broschüren der Pro Familia waren eher erotisch als die amerikanischen Planned-Parenthood-Kampagnen. Die erste Pro-Familia-Broschüre, die nicht die Übersetzung eines englischen Ratgebers war, wurde 1961 vom Kondom-Hersteller Duplosan gesponsort und durch Pro Familia vertrieben. Das Info-Heft wurde von Harmsen unter dem Titel »Was wisst ihr von einander« verfasst.63 Das auf gelben Karton gedruckte Cover-Bild zeigte ein Pärchen, welches vor einer Großstadtkulisse steht. Der Mann, der Jeans und eine Lederjacke im Stile von James Dean trägt, hält in der rechten Hand eine qualmende Zigarette und drückt mit dem linken Arm die Frau an eine Wand. Sie trägt ein kurzes Kleid 63 Hans Harmsen, Was wisst ihr von einander (1961), in: Pro-Familia-Verbandsarchiv, Ordner »Prof. Harmsen 1964«.

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und Stöckelschuhe, schaut lasziv und hält ihre Arme hinter ihrem Rücken verschränkt. Das Bild situiert das Paar in einer hochmodernen, amerikanisierten Landschaft, was durch die halbenglische Leuchtreklame »City Kino« im Hintergrund angedeutet wird, und suggeriert eine sich beim abendlichen Ausgehen in der Großstadt anbandelnde Affäre. Sexualität, die wie hier weit außerhalb des erlaubten Rahmens der Ehe stattfindet, wird als etwas Modernes, aber auch etwas Amerikanisches dargestellt. So ist auch die Unterschrift der Broschüre »Was wisst ihr von einander? … oft wenig, zu wenig!«, als Warnung und nicht als positive Aufforderung zu verstehen.64 Inhaltlich befasst sich die Broschüre in weiten Teilen mit Warnungen vor der Ansteckung mit Geschlechtskrankheiten, nur ein Absatz nennt Kondome und »chemische Schutzmittel« als Verhütungsmittel, die in Apotheken erhältlich seien. Anstatt wie die amerikanischen Broschüren in einer positiven und unerotischen Kampagne mit den Vorteilen der Familienplanung und der Teilhabe an der Konsumgesellschaft und dem sozialen Aufstieg zu werben, war die erste Kampagne der Pro Familia eine negative Kampagne zur Warnung vor außerehelicher Sexualität. So manövrierte in den 1950er und 1960er Jahren Pro Familia in einem sehr konservativen Umfeld, da sich in der Nachkriegszeit eine christlich-konservative Deutungshoheit durchgesetzt hatte, die die Ursachen des Nationalsozialismus in seinen sexualitätsbestärkenden Elementen sah. Um dem entgegenzuwirken, setzten konservative und christliche Kräfte eine strikte christliche Sexualmoral durch, die sich im Jugendschutzgesetz von 1952 oder konservativer Ratgeberliteratur widerspiegelte.65 Der Himmler’sche Polizeierlass, der in Bayern, Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen noch bis 1961 galt, wurde 1953 durch ein Bundesgesetz der Adenauer-Regierung unterwandert, welches die ärztliche Verschreibung von Verhütungsmitteln erlaubte. Dies rahmte Empfängnisverhütung als medizinische Angelegenheit und schrieb Ärzt*innen das letztendliche Entscheidungsrecht darüber zu, ob Verhütungsmittel angewendet werden sollten. Um diese Forderung zu erfüllen, betonte Pro Familia immer wieder, dass anders als in den internationalen Partnerorganisationen nur Ärzt*innen die Beratung durchführten und dann ein Rezept auf Verhütungsmittel (Diaphragmen oder chemische Mittel) ausstellten. In den Anfangsjahren war Pro Familia im Vergleich zu den amerikanischen und britischen Familienplanungsorganisationen verhältnismäßig klein und abhängig von den durch IPPF bereitgestellten Geldern. So bekam der Verein 1953 $ 600 und 1958 $ 3000 plus $ 1500 extra für den Betrieb der Berliner Beratungs­ 64 Laut Sauerteig und Davidson betonte die Sexualaufklärung für Jugendliche in Europa und den USA eher die Risiken und Probleme vorehelicher Sexualität, anstatt über die positiven Seiten von Sexualität zu reden, vgl. Sauerteig, Lutz D. H. / Davidson, Roger, Shaping Sexual Knowledge oft he Young: Introduction, in: dies. (Hg.), Shaping Sexual Knowledge. A Cultural History of Sex Education in Twentieth Century Europe, London 2009, S. 2–17, hier S. 8. 65 Vgl. Herzog, Sexuality, S. 20.

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stelle.66 Es wurden zunächst nur eigene Beratungsstellen in Kassel, Berlin und Frankfurt am Main betrieben, bis 1966 folgten Büros in Hamburg, Wiesbaden und Stuttgart. Die Jahrestagungen und Ärzteschulungen, die Pro Familia in den 1950er Jahren abhielt, dienten zur Vernetzung von Bevölkerungswissenschaftler*innen, wie Hans Harmsen, Hans Nachtsheim und dem kommissarischen Leiter des Statistischen Bundesamtes Hermann Schubnell, mit Ärzt*innen, etwa dem Leiter der Frauenklinik des Universitätsklinikums Göttingen Heinz Kirchhoff, der Leiterin der Frankfurter Beratungsstelle und späteren Bundeszentrale Eva Hobbing, dem Gynäkologen Heinrich Gesenius oder dem niedersächsischen Chirurgen Axel Dohrn, der durch den Sterilisationsskandal von 1961 bundesweite Berühmtheit erlangen sollte. Auch der Rostocker Sozialhygieniker und Vorreiter der ostdeutschen Familienberatung Karl-Heinz Mehlan war bis 1968 aktiv an den Tagungen der Pro Familia beteiligt, was darauf hindeutet, dass der Verein sich als gesamtdeutsche und nicht allein westdeutsche Repräsentanz verstand.67 Sanger hoffte über Pro Familia und Mehlan Zugang zu den sozialistischen Staaten Osteuropas zu erlangen. Interne IPPF Dokumente listeten auch immer Mehlan als Kontakt nach Ostdeutschland auf, obwohl die amerikanischen Hochglanzbroschüren nur Kontakte nach Westdeutschland nannten.68 Während der Vereinsvorsitzende Harmsen versuchte, durch Teilnahme an Expertenausschüssen und Briefe an verschiedene Ministerien Einfluss auf gesetzliche Regelungen auszuüben, nutzten die weiblichen Aktivistinnen zu Beginn der 1960er Jahre Auftritte in den Medien, um das Konzept der Familienplanung bekannt zu machen. So erschien einen Artikel Durand-Wevers in der Frauenzeitschrift »Constanze«69 und im Rahmen der Jahrestagung 1961 filmte der Norddeutsche Rundfunk (NRD) eine Podiumsdiskussion, die am 14. Januar 1962 in dem Politmagazin Panorama ausgestrahlt wurde. In der Sendung wurde das Thema Familienplanung zum ersten Mal im Deutschen Fernsehen diskutiert. Teilnehmer der Diskussionsrunde waren neben dem Gynäkologen Jochen Lindemann, der Familienministeriums-Mitarbeiterin Rosemarie Leese, dem Direktor des Jugendamtes München Kurt Seelmann und dem Journalisten Jam 66 Vgl. Sanger, Margaret, Brief an Vera Houghton (18.12.1953), in: Margaret Sanger Papers, 1900–1960, Microfilmed, Library of Congress, Reel 140; Durand-Wever, Anne-Marie, Report to IPPF (1958), in: Margaret Sanger Papers, 1900–1960, Microfilmed, Library of Congress, Reel 140. 67 Zu Mehlans internationalen Verbindungen, siehe Leo, Annette / König, Christian, Die »Wunschkindpille«. Weibliche Erfahrung und staatliche Geburtenpolitik in der DDR , Göttingen 2015, S. 141. 68 Siehe zum Beispiel N. N., The Children of the World Deserve to Be Planned (1964), in: PPFA II Records, Box 5.14; im Vergleich dazu, Mehlan, Karl-Heinz, Brief an Alan Guttmacher (11.03.1968), in: PPFA II Records, Box 5.11. 69 Vgl. Pauly, Alexander, Willkommene Kinder – frohe Eltern (Interview mit Anne-Marie Durand-Wever), Sonderdruck aus der Constanze (1964), in: Pro-Familia-Verbandsarchiv, Ordner »Geschichte Pro Familie: Dokumente«.

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Brede auch Hans Harmsen und Ilse Brandt, die den größten Redeanteil der Diskussionsrunde hatten. Die Repräsentantin der Pro Familia nutzten das Forum der Fernsehsendung, um vor einem breiten Publikum ihr Konzept der Familienplanung vorzustellen. So erklärte Brandt, dass die Familienplanung bedeute, »dass jedes Ehepaar das Recht haben muss […], die Zahl seiner Kinder zu bestimmen und den Zeitpunkt, zu dem sie gezeugt werden, allerdings nur solange keine Schwangerschaft besteht.«70 Die Beratung von Pro Familia solle die Paare dazu ermächtigen, diese Entscheidung selbstständig treffen zu können. Brandt vermied es so, eine bestimmte Anzahl an Kindern als ideale Familiengröße festzulegen, um nicht den Anschein zu erwecken, dass es sich bei dem Konzept um einen planerischen Eingriff in die Familie von außen handle. Ähnlich argumentierte die Sprecherin des Familienministeriums, Rosemarie Leese, dass Familienplanung kein Programm der Bundesregierung sei, da der Staat kein Recht habe, in die Familie einzugreifen. Stattdessen setze man »Selbstverantwortung des Bürgers« voraus.71 Damit grenzten sich die Diskussionsteilnehmerinnen zum einen von Vorwürfen ab, aktive Familienplanung würde einer staatlich verordneten Bevölkerungspolitik wie der im Nationalsozialismus ähneln. Zum anderen distanzierte man sich auch von konservativen Politikern wie Familienminister Franz-Josef Wuermeling, der Großfamilien von drei oder mehr Kindern gefordert hatte.72 Weiterhin betonte Brandt, dass die legale Abtreibung für Pro Familia kein legitimes Mittel der Geburtenbegrenzung sei. Somit distanzierte sich Pro Familia öffentlichkeitswirksam auch von der progressiven Sexualreformbewegung der Weimarer Republik. Stattdessen verglichen Einspielfilmchen die Situation in Westdeutschland, in der überlastete Mütter in beengtem Wohnraum gezeigt wurden, mit der in Großbritannien und Frankreich, wo modern gekleidete Mütter in professionellen Beratungsstellen Informationen erhielten. Dies verortete Pro Familia in eine internationale Bewegung, die Beratungsstellen zur Familienplanung in regierungsunabhängigen Stellen etablierte. So präsentierte die Fernsehsendung die Familienplanung als neues, modernes, internationalen Standards entsprechendes Konzept, welches Lösungsansätze für zeitgenössische Probleme, wie der Wohnungsnot, sexuelle Aktivität von Jugendlichen oder illegale Abtreibungen bot. Anstatt einer einseitig gesteuerten Geburtenkontrolle versprach die Beratung, Frauen durch das Entscheiden über ihre Kinderzahl zu verantwortungsbewussten Staatsbürgern zu machen und alle geborenen Kinder als Wunschkinder zu empfangen. Eine ähnlich öffentlich wirksame Kampagne war im Frühjahr 1961 einer 26-teiligen Aufklärungsserie in der illustrierten Wochenzeitschrift »stern«, an 70 TV Sendung Panorama (Norddeutscher Rundfunk, 14.01.1962), Minute 22:01, online einsehbar unter: https://daserste.ndr.de/panorama/archiv/1962/panorama2123.html, letzter Zugriff: 17.05.2018. 71 Ebd., Minute 7:39. 72 Vgl. Silies, Liebe, S. 46. Zu den politischen und ideologischen Hintergründen Wuermelings, siehe auch Chappell, Nuclear, S. 88–95.

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der sich mehrere Vereinsmitglieder als Ko-Autoren beteiligten. In der siebten Folge wurde die Beratungsstelle Ilse Brandts in Berlin Kreuzberg vorgestellt. Der Artikel betonte mehrfach, dass es bei der Berichterstattung über Empfängnisverhütung nicht um »Sensationslust« ginge und Sexualaufklärung kein »Freibrief für Zügellosigkeit« sei, stattdessen würden in der Beratung Ärzt*innen, Seelsorger*innen und Pädagog*innen »besonders an Verantwortungsgefühl von Mann und Frau« appellieren: »Ihr Ziel ist es, daß Kinder bewusst und gewollt in die Welt gesetzt werden. Die Geburtenkontrolle, die sie fordern, heißt nicht: Geburtenunterdrückung, sondern  – Familienplanung.«73 Hier wurde Familienplanung wieder als ein von Expert*innen an Paare herangetragenes Konzept präsentiert, welches nicht die Anzahl der Kinder einschränken, sondern ihre Geburten rational planen sollte. Im Laufe des Artikels verglich Brandt die Planung des Nachwuchses mit der Planung einer Reise, vor der man schließlich auch Reiseführer lesen, Sehenswürdigkeiten herausschreiben und Hotelzimmer reservieren würde. Ähnlich wie die amerikanische Gesellschaft der Nachkriegszeit stellte sie auch die westdeutsche Gesellschaft als planende Gesellschaft dar, die das Planungsprinzip auf die Wahl eines Ehepartners und die Entscheidung für ein Kind übertrug.74 Brandt betonte, dass es bei der Familienplanung darum ging, Familien vor dem Zerbrechen, entweder durch ungewollten Nachwuchs, ausbleibende Schwangerschaft oder Erbkrankheiten zu schützen. Von den Fallbeispielen, die in dem Text genannt wurden, ging tatsächlich nur eins um die bewusste Planung der Kinderzahl. Hier wollte die Verlobte eines Studenten nach der Hochzeit noch ein Jahr weiterarbeiten, dann drei Kinder bekommen und wissen, wie sie es vermeiden konnte, schwanger zu werden, wenn sie vor der Heirat bei ihrem Verlobten übernachtete.75 Die anderen drei Fällen umfassten Fragen von Eugenik und der Vermeidung von Nachwuchs mit Behinderung: eine Frau hatte Bedenken, da es in der Familie ihres zukünftigen Schwiegersohns Fälle von »Schwachsinnigkeit« gab, die Ehefrau eines Epileptikers wollte wissen, ob sie gesunde Kinder bekommen könne, und eine Frau, die aufgrund von Tuberkulose schon einmal mit einer medizinischer Indikation legal abgetrieben hatte, wollte eine weitere Schwangerschaft vermeiden.76 Brandt empfahl der ersten Klientin vor der Hochzeit abstinent zu sein, den anderen, mögliche Erbkrankheiten schon vor der Eheschließung abzuklären und im Falle der Epilepsie des Ehemannes sich darauf einzustellen, kinderlos zu bleiben. Die ausgewählten Fallbeispiele präsentierten Familienplanung in keiner Weise als Maßnahmen zur Ermächtigung der Frau zu einer selbstbestimmten Sexualität. Stattdessen bewegten 73 N. N., Frei von der »sexuellen Sklaverei«, In: stern 14 (11.06.1961) H. 24, S. 70–76, hier S. 72. 74 Zu Planungskonzepten in der frühen Bundesrepublik, siehe Laak, Dirk van, Planung. Geschichte und Gegenwart des Vorgriffs auf die Zukunft, in: Geschichte und Gesellschaft 34 (2008), S. 305–326, hier S. 317–319. 75 Vgl. N. N., Frei, S. 73. 76 Vgl. Ebd., S. 73–74.

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sie sich in dem engen moralischen Korsett der westdeutschen Sexualratgeberliteratur der 1950er Jahre, welches Werte wie Abstinenz und Verzicht hochhielt und Verhütung als medizinisch-eugenische Maßnahme zur Verhinderung von Krankheiten und Behinderung präsentierte, ohne dabei explizit Argumente der Volksgesundheit zu nennen.77 Die gesundheitlichen Argumente für Familienplanung wurden so individualisiert. Dennoch zeigte sich Pro Familia in der Beratungspraxis liberaler als die amerikanische Planned Parenthood Federation, da man seit der Gründung 1952 unverheiratete Frauen als Klientinnen empfing. In den Medien aber präsentierte sich die Organisation als wertekonservative Familienorganisation, für die Sexualität nur zum Zwecke der Reproduktion diente und Empfängnisverhütung eine seriöse, gesundheitspolitische Angelegenheit innerhalb der Ehe war. Anders als in den USA , wo Familienplanung explizit als Möglichkeit zur Teilhabe an der Konsumgesellschaft beworben wurde, wurde die Entscheidung zur Familienplanung in den Pro-Familia-Beratungsstellen bewusst nicht als Konsumentscheidung gerahmt. Fotos der Beratungsstellen in Berlin und in Kassel zeigen diese als nüchtern und seriös eingerichtet. Die beratenden Ärzt*innen trugen Kittel, was eine professionelle Distanz zu den Klientinnen, aber auch zu nichtärztlichen Beratungsstellen herstellen sollte. Jegliche Assoziation mit Erotik oder Sexualität als Konsumobjekt sollte vermieden werden. So hatte sich etwa Ilse Léderer bei Margaret Sanger über die Aufmachung einer von Franz Gampes Reichsverband für Geburtenregelung verteilten Broschüre beschwert, sie seien von zu schlechtem Geschmack als dass man sie in der Beratungsstelle auslegen könne.78 Das Cover der Broschüre zeigte Adam und Eva, die nur mit einem Feigenblatt bekleidet waren, während im Hintergrund zwei Schlangen den Baum der Erkenntnis umschlungen hatten, eine Darstellung, die der strengen zeitgenössischen Sexualmoral widersprach.79 In Abgrenzung zu anderen Bezugsstellen von Verhütungsmitteln, sollten die Pro-Familia-Beratungsstellen schon in ihrer Einrichtung Professionalität und die Tragweite der bewussten Planung für Nachwuchs betonen. So heißt es in der Beschreibung der Berliner Beratungsstelle im »stern« 1961: Auf den Tischen liegen keine Zeitschriften. Frau Doktor Brandt meint, die Frauen sollen sich in der Wartezeit lieber alles noch einmal genau überlegen. Denn was sie hier erwartet und worauf sie warten, ist kein Zahnziehen. Hier wird ihr mehr zugemutet. Nicht an Schmerz, aber an eigener Bereitschaft und Entscheidung.80

77 Zur Sexualratgeberliteratur der 1950er Jahre, siehe Herzog, Sexuality, Memory, Morality, S. 20–21. 78 Vgl. Léderer, Ilse, Brief an Margaret Sanger (03.11.1950), in: The Margaret Sanger Papers (microfilmed), Sophia Smith Collection, Smith College, Northampton, Mass. 79 Vgl. N. N., Broschüre: Bioplan. Der stille Berater für Liebe und Ehe (1949), in: BArch N 1336/378. 80 Vgl. N. N., Frei, S. 71.

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Abb. 8: Ilse Léderer berät eine Klientin in der Beratungsstelle Kassel, 1964.

Kinderkriegen wurde als weit ernsthaftere Angelegenheit als eine einfache medizinische Behandlung beschrieben. Die Entscheidung zur Familienplanung wurde hier als Zumutung für die betroffene Frau dargestellt. Es wurde erwartet, dass sie selbst die moralischen Implikationen ihres Handelns reflektierte und eigenmächtig eine Entscheidung traf. Anders als in den Sterilisationsdebatten der Weimarer Republik wurde nicht allein Zustimmung erwartet, auch wurde Familienplanung hier nicht als einzig rationale Option beworben. Stattdessen schien es tatsächliche mehrere Wahlmöglichkeiten zu geben und Frauen wurden aufgefordert, sich ihren eigenen moralischen Bedenken zu stellen und durch ihre eigenen bewussten Entscheidungen zu verantwortungsbewussten Staatsbürgerinnen zu werden. Ilse Brandt war sich laut ihrer Aussagen im »stern« dem Auseinanderdriften von öffentlichem Diskurs und Praxis in der westdeutschen Gesellschaft bewusst, da besonders Ärzt*innen, Jurist*innen, und Pfarrer, die öffentlich eine rationale

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Begrenzung der Kinderzahl ablehnten, selbst keine großen Familien hatten. Nur die »Unwissenden und Unaufgeklärten« würden unter Bevölkerungswachstums leiden. Es gäbe kaum Großfamilien mit 10 Kindern oder mehr, »weil jedes Ehepaar auf irgendeine Weise auf die Zahl seiner Kinder Einfluß nimmt.«81 Jedoch würde über die Möglichkeiten der Einflussnahme nicht gesprochen, so dass Paare auf unregulierte (und aus medizinischer Sicht unsichere) Methoden oder Abtreibungen zurückgriffen. Dies bedeutete, dass Paare, die die Größe ihrer Familien begrenzen wollten, eine Nachfrage an Maßnahmen zur Geburten­ kontrolle schufen und auf die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel zurückgriffen, egal wie unsicher oder gesundheitsgefährdend sie waren. In diesem Punkt gab es große Unterschiede in den Ansichten Margaret Sangers sowie amerikanischer Aktivist*innen in Deutschland und den Berichten der deutschen Pro-Familia-Gründerinnen. Amerikanische Darstellung der deutschen Nachkriegssituation beschrieben deutsche Frauen als unwissend und untätig in der Begrenzung ihrer Geburtenzahlen. So bezeichnete Sanger 1951 den noch geltenden Himmler’schen Polizeierlass als »enslavement« der deutschen Frauen im Gegensatz zu den amerikanischen Frauen, die ihre Familien freiheitlich planen konnten.82 In einem Brief an Ilse Léderer berichtete Sanger, wie eine nicht-genannte IPPF -Unterstützerin und UNRRA-Mitarbeiterin ihr eine Begegnung mit zwei Frauen in Garmisch-Patenkirchen geschildert habe, wo es zu den oben erwähnten Festnahmen wegen illegalen Abtreibungen gekommen war. Vor Ort traf sie eine Hebamme aus dem Dorf Grainau, die selbst nicht wusste, was ein Pessar war, und eine Flüchtlingsfamilie aus Schlesien mit sieben Kindern, die dringend sexuelle Aufklärung benötigten. Daher forderte Sanger Léderer auf, Aufklärungsbroschüren nach Bayern zu schicken.83 Diesem Portrait von Frauen mit einer hohen Zahl von Kindern, die noch nie etwas über die Idee der Geburtenbegrenzung gehört hatten, widersprachen jedoch die seit den 1880er Jahren stetig sinkenden Geburtenzahlen im deutschen Bürgertum und Arbeitermilieu. Dies ist jedoch eher durch einen drastischen Anstieg der Abtreibungen zwischen 1880 und 1930 zu erklären als durch bewusste Familienplanung.84 Dennoch wiederlegten die Briefe und Jahresberichte von Pro-Familia-Mitarbeiterinnen an Sanger, dass deutsche Frauen unwissend über das Konzept der Geburtenkontrolle waren. Durand-Wever argumentierte, dass im Nationalsozialismus zwar viel Wissen über Verhütungsmittel verlorengegangen sei, 19 von 20 Paaren würden dennoch unterschiedliche Methoden der Empfängnisverhütung praktizierten.85 Die praktizierten Methoden seien 81 Vgl. Ebd., S. 73. 82 Sanger, Margaret, Brief an Anne-Marie Durand-Wever (04.04.1951), in: The Margaret Sanger Papers (microfilmed), Sophia Smith Collection, Smith College, Northampton, Mass. 83 Vgl. Sanger, Margaret, Brief an Ilse Léderer (3.07.1953), in: The Margaret Sanger Papers (microfilmed), Sophia Smith Collection, Smith College, Northampton, Mass. 84 Vgl. Hagemann, Frauenalltag, S. 267. 85 Vgl. Durand-Wever, Anne-Marie, »Empfängnisverhütung nicht Ursache von Mißbildungen,« in: Ärztliche Mitteilungen – Deutsches Ärzteblatt 44 (26.09.1959) H. 35, S. 1230–1232.

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jedoch eher unsicher, doch würde eine Patientin ihren Arzt nach einer zuverlässigen Methode fragen, erfahre sie von »kaum mehr, als sie selbsts schon [wisse].«86 Die Frauen würden selbst zu Tausenden die Beratungsstellen in Berlin und Kassel kontaktieren, ohne dass diese viel Werbung machen müssten.87 Wissen über das Konzept der Familienplanung war folglich in der Bevölkerung vorhanden, Wissen über zuverlässige Methoden fehlte jedoch. Die Beschreibungen der schlesischen Flüchtlingsmutter und der bayerischen Hebamme, die kein Wissen über moderne Empfängnisverhütung hatten, waren sicher genauso Teil der sozialen Realität der Bundesrepublik der 1950er Jahre wie die Frauen in Groß- und Universitätsstädten, die selbstständig Beratungsstellen aufsuchten. Die Tatsache, dass Sanger ungebildete Frauen vom Lande in den Vordergrund stellte, die Pro-Familia-Jahresberichte hingegen die Agency gebildeter Städterin, ist unterschiedlichen Motiven zum Ausbau der Familienplanung geschuldet. Sangers Bild der ungebildeten, passiven Frau betonte die Gefahren des Bevölkerungswachstums im Nachkriegsdeutschland, während die Frau, die laut Durand-Wever selbst Entscheidungen traf und dabei sogar bereit war, zur illegalen Abtreibung zu greifen, eine Gefahr für ihre Gesundheit, ihre weitere Fortpflanzungsfähigkeit und die gesellschaftliche Moral darstellte. Diese Unterschiede verdeutlichte Harmsen in seiner Eröffnungsrede der von Pro Familia organisierten IPPF Regionaltagung für Europa, Afrika und den Nahen Osten 1957 in Berlin:88 In Germany, illegal interruptions of pregnancy had more and more become the last means for adjusting the family size to the given socio-economic conditions [….] The members [of Pro Familia – C. R.] agreed that safe and effective means for birth control should be found in order to eliminate ineffective methods, which usually lead to illegal abortion.89

Heimliche Schwangerschaftsabbrüche wurden als letzter Ausweg aus Armut und Wohnungsnot beschrieben. Schätzungen gehen von zwischen 500.000 und 1,5 Millionen illegalen Abtreibungen jährlich in Westdeutschland bis in die frühen 1970er Jahre aus.90 Sanger hatte Durand-Wever schon 1951 gewarnt, dass es schwer werden würde, für die Senkung der hohen Abtreibungszahlen Sponsoren zu finden, 86 Vgl. Pauly, Alexander, Willkommene Kinder – frohe Eltern (Interview mit Anne-Marie Durand-Wever), Sonderdruck aus der Constanze (1964), in: Pro-Familia-Verbandsarchiv, Ordner »Geschichte Pro Familie: Dokumente«. 87 Vgl. Léderer, Ilse, German Working Committee for Planned Parenthood. Third Year of Advice Centre, Kassel (1952), in: The Margaret Sanger Papers (unfilmed), Box 40.14. 88 Verbände aus Ägypten und Südafrika waren die einzigen IPPF Mitglieder aus Afrika und wurden so der europäischen Regionalgruppe zugeordnet, während die anderen beiden Regionalgruppen Asien und den Pazifik, bzw. Nord- und Südamerika umfassten. 89 Harmsen, Hans, Introduction by Prof. Harmsen to Berlin IPPF Conference (24.10.1957), in: The Margaret Sanger Papers (unfilmed), Box 40.14. 90 Vgl. Herzog, Politisierung, S. 157.

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denn »[t]he big question before the world today is over-population and by what means that shall be controlled is for nations to decide.«91 Deshalb könne IPPF und deren eugenisch eingestellte Geldgeber solche Programme fördern. Harmsen hingegen wollte die Tagung in Berlin nutzen, um die Aktivist*innen der westeuropäischen Länder zu vernetzen »für deren Arbeit weniger bevölkerungspolitische Gesichtspunkte, sondern im Wesentlichen die Frage der Abortbekämpfung maßgebend«92 war, da diese Länder aufgrund der Bevölkerungsverluste des Zweiten Weltkriegs eher an Bevölkerungsrückgang als an unkontrolliertem Wachstum litten. Harmsen distanzierte sich in seiner Eröffnungsrede 1957 vom Nationalsozialismus aufgrund dessen Verbot von Verhütungsmitteln. Stattdessen brachte er die Erkenntnisse seines Doktorvaters Alfred Grotjahn aus den 1920er Jahren zu sozio-ökonomischen Einflüssen auf Geburtenraten mit den Thesen des Kieler Statistik- und Soziologieprofessors Gerhard Mackenroth zusammen,93 und argumentierte, dass sich aufgrund der Industrialisierung die Arbeiterschicht einen höheren Lebensstandard leisten könne, aber nur wenn die Familien nicht zu groß seien: »In Europe, the people did not react with a renunciation of consumption, but with restriction of the family size, as an expression of responsibility for the children!«94 Anders als in dem konservativen Klima der westdeutschen Öffentlichkeit konnte Harmsen im internationalen Diskurs Familienplanung und die Teilhabe an der Konsum­ gesellschaft zusammenbringen. Indem er allein die ökonomischen Vorteile einer geringen Kinderzahl für die einzelnen Familien hervorhob, wandte er sich in mehrfacher Hinsicht von seinen Ansichten in den 1930er Jahren ab. Neben der Befürwortung finanzieller Argumente, betonte er allein individuelle Werte der Familienplanung. Da er und andere Familienplanungsaktivist*innen in den 1930er Jahren explizit den Nationalsozialismus und Individualismus als inkompatibel beschrieben hatten, scheint die Betonung individueller Werte in den 1950er Jahren eine bewusste Abgrenzung von der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik zu sein.95 Nicht mehr die Gesamtkinderzahl zum Wohle des Volkes, sondern die individuelle materielle Entscheidung einzelner Paare 91 Sanger, Margaret, Brief an Anne-Marie Durand-Wever (24.10.1951), in: The Margaret Sanger Papers (microfilmed), Sophia Smith Collection, Smith College, Northampton, Mass. 92 Harmsen, Hans, German Summary for IPPF (1957), in: The Margaret Sanger Papers (unfilmed), Box 40.14. 93 James Chappell beschreibt Mackenroth als früheres NSDAP-Mitglied, der seine akademische Anerkennung in der Bundesrepublik zurückerlangt hatte. Mackenroth sah in der Kernfamilie den Ansatzpunkt der Sozialpolitik und den Ort der nationalen Regeneration, vgl. Chappell, Nuclear, S. 100. 94 Harmsen, Hans, Introduction by Prof. Harmsen to Berlin IPPF Conference, (24.10.1957), in: The Margaret Sanger Papers (unfilmed), Box 40.14. 95 Vgl. Harmsen, Hans, Brief an Pfarrer Schlaich (1936), in: BArch N 1336/112; siehe auch Szugunn, Ilse, Brief an Margaret Sanger (14.09.1936), in: Margaret Sanger Papers, 1900–1960, Microfilmed, Library of Congress, Reel 14.

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über ihre Kinderzahl wurde als Ausdruck eines verantwortungsbewussten Handelns gelobt. Harmsens Rede deutet schon an, dass das Wohl des einzelnen Kindes im Zentrum der Tagung stehen sollte. So lautete der im Tagungsprogramm abgedruckte »Leitgedanke«: »Jedes Kind hat ein Anrecht darauf, willkommen zu sein. Die Grundlagen zur Elternschaft aber müssen schon in der Jugend gelegt werden.«96 Der zweite Satz bezog sich auf die Sexualpädagogik, die Sexual­ aufklärung von Jugendlichen, welche Pro Familia schon seit den 1950er Jahren fördern wollte, um »Frühehen« und »Mußehen« zu verhindern. Mitglieder der Pro Familia, wie auch die schwedischen und dänischen Tagungsteilnehmer betonten in ihren Vorträgen, dass Sexualaufklärung in der Schule ein wichtiges Standbein der Familienplanung war.97 Die amerikanische Planned Parenthood engagierte sich in den 1950er Jahren hingegen nur in der Beratung verheirateter erwachsener Frauen, erst mit Debatten um Teenager-Schwangerschaften in den 1970er Jahren spielte Sexualaufklärung für Jugendliche auch in der Organisation eine Rolle. Der erste Satz des Leitgedankens betonte die Forderung, dass jedes Kind ein Wunschkind sein solle. Ähnlich wie in den US -amerikanischen Debatten wurde auch hier ein zeitgenössisches psychoanalytisches Paradigma der Sozialwissenschaften angewandt, welches unerwünschte Kinder mit Jugendkriminalität und psychischen Pathologien assoziierte.98 So beschäftigten sich alle Panels der ersten zwei Veranstaltungstage mit den psychologischen Aspekten der Familien­ planung, erst am dritten und vierten Tag wurden medizinische und rechtliche Fragen diskutiert.99 Jedoch wurden hier besonders die positiven Aspekte des erwünschten Kindes hervorgehoben. Das Wunschkind suggerierte, dass die Initiative für seine Zeugung bei seinen Eltern lag, die sich aus freiem Willen bewusst für seine Zeugung entschieden hatten. »Wunschkinder entstehen,« laut dem Ethnologen Sven Bergmann, »durch die Praxis des Wünschens, durch Planung, Intention und Projektion, durch den ›Willen zum Kind‹«100 So wurde die Figuration des »Wunschkindes« zunächst durch die Inanspruchnahme zuverlässiger Verhütungsmittel erschaffen, seit den 1970er vermehrt durch die Nut96 Vgl. N. N., Programmheft, International Planned Parenthood Federation, Berlin, 23.–29. Oktober 1957, in: The Margaret Sanger Papers (unfilmed), Box 40.14. 97 Schweden und Westdeutschland nahmen in den 1960er Jahren die internationale Vorreiterrolle in der Etablierung des Sexualkundeunterrichts in Schulen ein, vgl. Sauerteig / Davidson, Shaping, S.  6. 98 Vgl. Roesch, Claudia, Macho Men and Modern Women. Mexican Immigration, Social Experts and Changing Family Values in the 20th Century United States, Berlin 2015, S. 304. 99 Vgl. N. N., Programmheft, International Planned Parenthood Federation, Berlin, 23.–29. Oktober 1957, in: The Margaret Sanger Papers (unfilmed), Box 40.14. 100 Vgl. Bergmann, Sven, Wunschkind, in: Netzwerk Körper (Hg.), What Can A Body Do? Figurationen des Körpers in den Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main / New York 2012, S. 236–242, hier S. 236–237.

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zung neuer Reproduktionstechnologien.101 Die gesellschaftliche Funktion von Wunschkindern setzte Planungssicherheit voraus, »in der alle Körper reproduktiv funktionieren.«102 Die Forderung nach Wunschkindern ging davon aus, dass Paare erfolgreich den Zeitpunkt der Reproduktion festlegen konnten. Da dies in der Praxis oft nicht so funktionierte, bot Pro Familia Beratung gegen Infertilität zusammen mit Aufklärung über Empfängnisverhütung an. Reproduktives Wissen und Technologien dienten so zur Formung der elterlichen Körper als reproduktive Körper, die das »Wunschkind« als individuell und gesellschaftlich erwünschten Nachwuchs erschaffen sollten.103 So erfüllte reproduktives Wissen konservative Wünsche mit Mitteln moderner Wissenschaft und Technik.

Fazit Seit den 1950er Jahren war die Pro Familia zentral an der Genese des Wunschkindparadigmas beteiligt, da die Gründung des Vereins 1952 in einem sehr eng gesteckten gesellschaftlichen Rahmen erfolgte, in dem unterschiedliche Interessen divergierten. Während die Ärzt*innen der Pro Familia auf Nachfragen aus der Bevölkerung reagierten, die ihre Geburtenzahlen begrenzen wollte, erklärte Margaret Sanger ihre Beweggründe darin, das Wachstum einer über das Konzept der Familienplanung unaufgeklärten deutschen Bevölkerung zu kontrollieren und so den Ausbruch eines weiteren Weltkrieges zu verhindern. Demgegenüber beschrieben die Ärzt*innen der Pro Familia die deutschen Frauen sehr wohl als wissend und aktiv, die ohne Zugang zu Verhütungsmitteln ihre Reproduktion durch illegale Abtreibungen selber regeln würden. Das Motiv der Bekämpfung illegaler Abtreibungen durch präventive Ausgabe von Verhütungsmitteln bot auch einen Ansatzpunkt für den eugenisch motivierten Sozialhygieniker Hans Harmsen. Dies alles geschah in einem extrem konservativen pro-natalistischen Umfeld, welches eine Rückbesinnung auf christliche Familienwerte und eine Abgrenzung sowohl von der sexuellen Freizügigkeit der Weimarer Republik als auch der allumfassenden staatlichen Bevölkerungsplanung des Nationalsozialismus verlangte. Dennoch war es eher die Nachfrage aus der eigenen Bevölkerung als der Druck internationaler Bevölkerungsexpert*innen, die die Etablierung der Familienplanung in der Bundesrepublik ermöglichte. Anders als in der Sexualreformbewegung der Weimarer Republik trat die Pro Familia in der frühen Bundesrepublik nicht parteipolitisch oder ideologisch auf. Man war extrem vorsichtig, das gesellschaftlich sagbare öffentlich nicht zu über101 Vgl. Ebd., S. 236. 102 Ebd. S. 237. 103 Kritik an der »Wunschkindideologie« von Pro Familia kam erst in den 1970er Jahren im Zuge der Debatten um die Legalisierung der Abtreibung auf, als konservative Kommen­ tator*innen kritisch anmerkten, dass auch ungeplante Kinder geliebte Kinder sein können, dies wird in Kapitel 7 dieses Bandes diskutiert.

Fazit 

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schreiten, auch wenn die Beratungspraxis über moralische Grenzen hinausging. Innerhalb dieses diskursiven Korsetts bemühte sich die Pro Familia sich von kommerziellen Vereinen zur Geburtenkontrolle, aber auch von kirchlicher Moral abzugrenzen. Man betonte stattdessen, durch die Verbreitung von akademischen Wissen durch Mediziner*innen, Paare zur eigenen Entscheidungsfindung zu ermächtigen und sie so zu verantwortungsbewussten Staatsbürgern zu machen. Das Wissen, welches Pro Familia vermittelte, umfasste Methoden sowohl zur Empfängnisverhütung, wie auch zur Behandlung von Unfruchtbarkeit, welches internationalen Standards entsprach und von Ärzt*innen vermittelt wurde. Familienplanung wurde so als eine rationale medizinische Maßnahme gerahmt, der sich auch konservative Kommentatoren nur schwer versperren konnten. Das medizinische Wissen um Empfängnisverhütung wurde so zum Geburtshelfer des Wunschkindes. Das geplante Kind war eine positive, emotionsgeladene Figur, welche die Sehnsucht nach Familie und Stabilität kombinierte mit aktuellem Wissen über Reproduktion, der Planung als gesellschaftliche Praxis und des Entscheidens als verantwortungsbewusste Bürgerpflicht. Die Figur des Wunschkindes besaß eine so wirkmächtige Ausstrahlung, dass sich weder konservative Politiker*innen, noch Eugeniker*innen oder Frauenrechtler*innen ihm widersetzen konnten. Es ließ sich mit Konrad Adenauers »Wille zum Kinde« genauso zusammenbringen, wie mit den Forderungen nach Familienplanung als liberalem Bürgerrecht. Das Wunschkind wurde so zum Symbol für ein Konzept der Familienplanung, welches individuelle und materielle Werte ins Zentrum des reproduktiven Entscheidens rückte.

4. »Bessere Chancen für weniger Nachkommen.« Sterilisierungen und Familienplanung für Minderheiten und arme Familien

Im Mai 1961 veröffentlichte die illustrierte Zeitschrift »stern« den Leserbrief einer zweifachen Mutter aus Stuttgart. Sie reagierte auf einen Artikel, in dem sich der niedersächsische Chirurg Axel Dohrn dazu bekannte, ohne gesicherte Rechtslage 1300 Frauen sterilisiert zu haben. Die anonyme Briefschreiberin hielt eine Fürsprache für Dohrn, in dem sie ihre Situation wie folgt schilderte: Wir sind verheiratet seit 1948, haben zwei Kinder, 12 und 7 Jahre alt, uns geht es nicht schlecht, aber auch nicht gut. Wir haben ein geordnetes Familienleben, mein Mann trinkt nicht, geht nicht alleine aus und gibt der Frau, was er kann. Ich selbst mache Heimarbeit, wenn ich nicht gerade krank bin. Ein Tag wäre wie der andere, würde uns nicht die ständige Angst verfolgen. Sie werden sich sagen, das wäre doch nicht so schlimm, wo wir nur zwei Kinder haben. Platz hätten wir auch noch für ein drittes und viertes, so ist es nicht, aber es liegt bei uns an der Gesundheit.1

Die Briefschreiberin wünschte sich eine Sterilisierung, da sie selbst, ihr Vater und ihre siebenjährige Tochter an starkem Asthma litten. Sie beschrieb im Verlauf des Briefes, wie sie und ihr Ehemann aus Angst vor einer weiteren Schwangerschaft oft nachts wach lagen und ihr Arzt ihr einzig Enthaltsamkeit empfohlen hatte – ähnlich wie die Ärzte, die Sanger und Durand-Wever Anfang des 20. Jahrhunderts getroffen hatten. Diese Patientin hatte sich jedoch ein größeres Wissen über Methoden der Reproduktionskontrolle angeeignet, so dass sie selbst eine Methode aussuchen konnte. Die Tatsache, dass sie das Asthma des Vaters und der Tochter erwähnte, suggeriert, dass die Atemwegserkrankung in der Familie erblich bedingt war. Die Briefschreiberin war aus Sicht der männlichen Bevölkerungsplaner, wie Hans Harmsen oder Hans Nachtsheim, eine ideale Patientin, die sich aus intrinsichen Gründen eine Sterilisation aufgrund von Erbkrankheiten in der Familie wünschte. Eine Sterilisation wäre der Briefschreiberin zufolge auch gerechtfertigt, wenn die Familie mehr als vier Kinder hätte, der Mann trinken oder seine Familie finanziell nicht genug unterstützen würde, oder es in der Wohnung keinen Platz für weitere Kinder gäbe. So waren neben Erbkrankheiten, Großfamilien, Armut, Alkoholismus und Wohnungsnot akzeptable Gründe für eine Sterilisation, die in ihrem Brief implizit genannt wurden. In den »Wirtschaftswunderjahren« 1 B., T., Die Nächte zur Qual, in: stern 14 (28.05.1961) H. 22, S. 42.

African Americans, Latinx und der »War on Poverty«  

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der frühen Bundesrepublik waren besonders kinderreiche Familien von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen, was aus Sicht der Briefschreiberin eine Unfruchtbarmachung rechtfertigte. Das lag vor allem an zu wenig bezahlbaren Wohnraum, wie im Folgenden dargelegt werden wird. Dieses Kapitel beschäftigt sich mit der Frage, wie die Forderung nach der Legalisierung der Sterilisation in den frühen 1960er Jahren wieder auf die Tagesordnung geriet und mit Fragen von Gesundheit und der Großfamilie als Armutsrisiko verknüpft wurde.2 Während in den USA der Nachkriegszeit Armut mit ethnischen Minderheiten assoziiert wurde, kam diese Assoziation in den deutschen Debatten nur selten vor. Dieses Kapitel untersucht daher, wie arme Familien in den Einfluss von Planned Parenthood und Pro Familia gerieten. Zunächst schaut es auf Initiativen für Minderheiten in den USA , in denen Kinderreichtum mit Armut und Familienplanung mit dem Aufstieg in die Mittelschicht verknüpft wurde. In einem zweiten Teil wird die wiederaufkommende Sterilisationsdebatte in der Bundesrepublik analysiert. Drittens werden Projekte von Pro Familia in Obdachlosensiedlungen in Westdeutschland diskutiert, die von Kampagnen für Latinx in den USA und Lateinamerika inspiriert waren, bevor amerikanische Widerstände gegen Familienplanungskampagnen für arme Familien exemplarisch durch Proteste der afro-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung beleuchtet werden.

African Americans, Latinx und der »War on Poverty« Schon in der Zwischenkriegszeit hatten sowohl Margaret Sanger als auch das deutsche Komitee für Geburtenkontrolle eine zu große Kinderzahl als Hauptursache von Armut definiert. In den USA hatten viele weißen Familien im Zuge des Zweiten Weltkriegs der Aufstieg in die Mittelschicht und der Umzug in die Suburbs erfahren. African Americans, Latinx und andere Minderheiten blieben jedoch außen vor und lebten auch in den 1950er und 1960er Jahren weiterhin in Armut. Aufgrund dieser demographischen Umstände suchten Kommentatoren die Ursachen der Armut genau in den nicht-weißen Gemeinden und Familien. Planned Parenthood hatte seit 1943 spezielle Projekte für afro-amerikanische Familien im ländlichen South Carolina und im urbanen Nashville ­(Tennessee) eingerichtet, nachdem schon 1939 eine »Negro Division« der Birth Control Federation of America gegründet worden war.3 Zeitgleich verfolgte der Verbandsvorstand kritisch die von den Bundesstaaten North und South Carolina 2 Teile dieses Kapitels sind schon in folgendem Artikel veröffentlicht worden: Roesch, Claudia, Love without Fear. Knowledge Networks and Family Planning Initiatives for Immi­ grant Families in West Germany and the United States, in: Bulletin of the German Historical Institute Washington DC 64 (Spring 2019), S. 93–113. 3 Vgl. Overbeck, Anne, At the Heart of It All? Discourses on the Reproductive Rights of African American Women in the 20th Century, Berlin 2019, S. 74.

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geförderten Versuche des Unternehmenserben Clarence Gamble zur Ausgabe chemischer Verhütungsmitteln an afro-amerikanische Frauen, die als (unfreiwillige)  Probandinnen dienten.4 Dabei war der Hauptkritikpunkt nicht die mangelnde Aufklärung oder Rassismus in der Auswahl der Zielgruppe, sondern, dass die ausgegebenen Verhütungsmittel  – Schwämme mit spermatötender Lotion  – weniger zuverlässig waren, als das von Planned Parenthood propagierte Diaphragma.5 Das Ziel der staatlich geförderten Initiativen war die Kontrolle der Fortpflanzung der afro-amerikanischen Bevölkerung in den ländlichen Südstaaten, gleichzeitig war es fragwürdig, dass arme afro-amerikanische Frauen zu Versuchskaninchen in Experimenten der Wirksamkeit von Verhütungsmitteln wurden.6 African Americans wurden in der Nachkriegszeit zu einer wichtigen Zielgruppe von Planned Parenthood, da Expert*innen innerhalb der Organisation davor warnten, dass ihre Bevölkerung stärker wachse als weiße Familien.7 Entgegen der strengen Richtlinien der Planned Parenthood Federation sprachen sich Anfang der 1960er Jahre immer mehr Beratungsstellen in Großstädten wie Washington DC , Baltimore oder Detroit dafür aus, unverheiratete Mütter zu beraten, wenn sie von Wohlfahrtsbehörden überwiesen wurden.8 Die innerstädtische Lage dieser Kliniken implizierte, dass ihr Klientel hauptsächlich Afro-Amerikanerinnen waren. Diese Klientinnen wurden, wenn sie alleinstehende Mütter waren, pathologisiert, da ihre Familien als zerbrochen 4 Siehe N. N., Negro Health Deficit Cited in Report (1943), in: Margaret Sanger Papers, 1900–1960, Microfilmed, Library of Congress, Reel 130; siehe auch Moran Hajo, Cathy, Birth Control on Main Street. Organizing Clinics in the United States 1916–1939, Urbana 2010, S. 45. 5 Clarence Gamble (1881–1952) war studierter Mediziner und Erbe des Seifenunternehmens Proctor & Gamble. Er unterstützte die Birth-Control-Bewegung finanziell, startete eigene Beratungsstellen und führte selbst in den von ihm gesponserten Kliniken (teilweise zum Missfallen der Mitarbeiter*innen von Planned Parenthood) Versuche über die Wirksamkeit verschiedener Verhütungsmittel durch. Vgl. Gamble, Clarence J. / Brown, Royal L., Method of Testing Relative Spermicidal Effectiveness, in: PPFA Records II , Box 14.27. Zu den engen Kontakten zwischen Margaret Sanger und Clarence Gamble, siehe Heinemann, Isabel, Margaret Sanger und die Geburt der Geburtenkontrolle, in: Später, Jörg / Zimmer, Thomas (Hg.), Lebensläufe im 20. Jahrhundert, Göttingen 2019, S. 77–96, hier S. 90. 6 Vgl. Schoen, Johanna, Choice and Coercion. Birth Control, Sterilization, and Abortion in Public Health and Welfare, Chapel Hill 2005, S. 15–16. 7 Laut dem Journalisten und Planned-Parenthood-Vizepräsidenten Frederick Jaffe und der afro-amerikanischen Soziologin Adelaide Cromwell Hill lag die Geburtenrate für African Americans bei 144,8 Geburten je 1000 Frauen im gebärfähigen Alter gegenüber 103,7 Geburten je 1000 weißer Frauen, vgl. Cromwell Hill, Adelaide / Jaffe, Frederick, Negro Fertility and Family Size Preferences. Implications for Programming of Health and Social Services, Manuscript Version to be published in: Parsons, Talcott / Clark, Kenneth (Hg.), The Negro American, Boston 1966, S. 205–224, hier S. 207; siehe auch Guttmacher, Alan F., Babies by Choice or By Chance, New York 21961, S. 65. 8 Vgl. N. N., Unwed Mother Policies passed by Affiliate Clergymen’s Advisory Committees (10.08.1961), in: PPFA Records II , S. 2–3, Box 25.6.

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und matriarchal galten. Das Argument, welches unter anderen in dem berühmten Report des Unterstaatssekretäre Daniel Patrick Moynihan aus dem Jahre 1965 hervorgebracht wurde, war, dass die Sklaverei afro-amerikanische Familien auseinandergerissen habe, was die Position der Mutter innerhalb der Familie gestärkt habe und Väter aus der Familie herausgetrieben habe.9 Die Armut der African Americans würde verschwinden, wenn sie ihre Familien der Struktur der »traditional male-breadwinner families« anpassen würden.10 Die Historikerin Tera Hunter hat jedoch nachgewiesen, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts African Americans die Bevölkerungsgruppe mit den höchsten Heiratsraten waren und dass erst die Ausgrenzung aus den Sozialprogrammen der 1950er und 1960er Jahre zur Desintegration vieler afro-amerikanischer Familien geführt habe.11 Auch haben Kommentatoren seit den 1970er Jahren die Argumentation Moynihans, die die Grundlage von Lyndon B. Johnsons »War on Poverty« war, als rassistisch entlarvt.12 Präsident Johnson hatte 1964 das gesellschaftsplanerische Programm der »Great Society« vorgestellt, deren Hauptelement der Kampf gegen die Armut war. Im »War on Poverty« sollten bundesstaatliche Fördergelder zur nachhaltigen Bekämpfung der Armut von Minderheiten in lokale Initiativen geleitet werden.13 Auch Ortsgruppen von Planned Parenthood profitierten von Fördergeldern aus dem Programm.14 Anders als in den 1940er Jahren richteten sich diese Maßnahme speziell an alleinerziehende Mütter. Väter oder verheiratete Paare kamen in den Initiativen nicht vor. Es wurde in den Kampagne zum War on Poverty das Bild einer alleinstehenden, vergnügungssüchtigen, hyperfertilen afro-amerikanischen Mutter erschaffen, die allein verantwortlich für das Wachstum der afro-amerikanischen Bevölkerung und die daraus entstehenden Kosten gemacht wurde.15 Laut den Kampagnen bedurfte es eines zwangsweise 9 Der komplette Moynihan Report wurde in folgendem Sammelband abgedruck: Rainwater, Lee / Yancy, William L. (Hg.), The Moynihan Report and the Politics of Controversy, Cambridge 1967. Für eine historische Einordnung des Moynihan Reports in Debatten über African Americans und Bevölkerungskontrolle, siehe Finzsch, Norbert, Gouvernementalität, der Moynihan-Report und die Welfare Queen im Cadillac, in: Martschukat, Jürgen (Hg.), Geschichte schreiben mit Foucault, Frankfurt am Main 2002, S. 257–282, hier S. 265; Heinemann, Isabel, Wert der Familie. Ehescheidung, Frauenarbeit und Reproduktion in den USA des 20. Jahrhunderts, Berlin 2018, S. 248–262. 10 Vgl. Chappell, Marisa, The War on Welfare. Family, Poverty, and Politics in Modern America, Philadelphia 2010, S. 37. 11 Vgl. Hunter, Tera W., Bound in Wedlock. Slave and Free Black Marriage in the Nineteenth Century, Cambridge 2017, S. 307–309. 12 Siehe Quadagno, Jill, The Color of Welfare. How Racism Undermined the War on Poverty, New York 1994, S. 35. 13 Vgl. Raz, Mical, What’s Wrong with the Poor? Psychiatry, Race and the War on Poverty, Chapel Hill 2013, S. 6. 14 Siehe N. N., Family Planning Programs in the War against Poverty (1964), in: PPFA Records II , Box 9.1. 15 Siehe hierzu auch Overbeck, Heart, S. 132.

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paternalistischen Eingriffs der Sozialbehörden in ihre Reproduktionsfähigkeit, um sie in eine normativen Familienform einzupassen. Erst danach könne die afro-amerikanische Mutter soziale Gerechtigkeit erfahren. Aus diesem Diskurs ergab sich eine komplexe Beziehung zwischen den Fak­toren »race« und Religion. So berichtet der Theologe Tom Davis, dass in Baltimore 1962 eine Koalition aus Planned Parenthood und protestantischen Geistlichen gegen den katholisch geprägten Stadtrat durchgesetzt habe, dass unverheiratete Sozialhilfeempfängerinnen von der Wohlfahrtsbehörde zur Familienberatung verpflichtet werden konnten.16 Während eine verpflichtende Beratung Züge einer biopolitischen Steuerung der afro-amerikanischen Bevölkerung erkennen ließ, argumentierten die geistlichen Berater von Planned Parenthood, die Beratung sei letztendlich eine Frage sozialer Gerechtigkeit. Es gehe bei der Pflichtberatung nur darum, Informationen zu vermitteln, damit die Frauen in Freiheit ihre eigenen Entscheidungen vor Gott treffen könnten. 1965 setzte die Koalition im Stadtrat durch, dass unverheiratete Frauen dann beraten wurden, wenn sie von einer Sozialbehörde an Planned Parenthood überwiesen wurden. Anders als die afro-amerikanischen Familien, die als zerbrochen galten, wurden spanisch-sprachige Familien in den USA wegen ihrer Größe und Struktur pathologisiert.17 Die spanisch-sprachige Bevölkerung der USA bestand zur Mitte des 20. Jahrhunderts mehrheitlich aus Mexican Americans, die entweder schon vor der Inkorporation der südwestlichen Bundesstaaten in diesen Gebieten gelebt hatten, mit der ersten Welle der mexikanischen Einwanderung ab 1924 oder dem Bracero Vertragsarbeiterprogramm von 1942 in die USA eingewandert waren.18 Ab 1947 kamen mit dem Programm »Operation Bootstrap« auch vermehrt puerto-ricanische Einwandererfamilien in die Großstädte an der Ostküste, besonders nach New York und Chicago.19 Die typisch mexikanische oder puerto-ricanische Einwandererfamilie galt als patriarchal und hierarchisch. Informationsmaterial, das sich direkt an spanisch-sprachige Familien richtete, gebrauchte oft eine sehr einfache Sprache und übersetzte Begriffe wie »Birth Control« wortwörtlich. So nutzte ein undatierter Flyer des Planned-Parenthood-Ortsverbandes in El Paso (Texas) den einfachen 16 Vgl. Davis, Tom, Sacred Work. Planned Parenthood and its Clergy Alliance, New Brunswick 2005, S. 102–103. 17 Vgl. Roesch, Claudia, Macho Men and Modern Women. Mexican Immigration, Social Experts and Changing Family Values in the 20 th Century United States, Berlin 2015, S. 401. Der Begriff Latinx wird als heute allgemein akzeptierter Sammelbegriff für die spanisch-sprachige Bevölkerung in den USA gebraucht, der sowohl Menschen männlicher und weiblicher als auch nichtbinärer Geschlechteridentität umfasst. 18 Zum Bracero Programm siehe Cohen, Deborah, Braceros. Migrant Citizens and Transnational Subjects in the Postwar United States and Mexico, Chapel Hill 2011. 19 Siehe Fernández, Lilia, Of Immigrants and Migrants. Mexican and Puerto Rican Labor Migration in Comparative Perspective, 1942–1964, in: Journal of American Ethnic History 29 (2010) H. 3, S. 6–39, hier S. 7.

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Slogan »Muchos Niños« (viele Kinder) und bewarb eine »Clinica del control del parto« (Klinik der Kontrolle der Geburt), ohne konkretere Informationen über einzele Methoden zu geben.20 Kampagnen für spanisch-sprachige Klient*innen gingen oft davon aus, dass ihre Zielgruppe über keinerlei Wissen über Familienplanung oder Möglichkeiten der Begrenzung der Kinderzahl verfügte, und viele Kinder als positiven Wert, sowohl im ökonomischen als auch im religiösen Sinne betrachtete.21 Aufgrund dieser Einstellungen machte laut dem Soziologen Emory S. Bogardus das »birth control movement« nur kleine Fortschritte unter mexikanisch-stämmigen Frauen.22 Sozialwissenschaftliche Berichte erzeugten so einen Gegensatz zwischen den modernen, planerisch agierenden USA und der mexikanischen Kultur, welche als traditionell und von der katholischen Religion geprägt dargestellt wurde. Mexikanische Einwandererfamilien galten aufgrund ihrer Größe als vormodern und zurückgeblieben. Während die Broschüre auf eine einzelne Initiative in El Paso zurückging, gerieten spanisch-sprachige Klient*innen ab 1953 in den Blick der nationalen Planned-Parenthood-Geschäftsstelle in New York, nachdem die texanischen Ortsgruppen über die dortigen offenen Grenzen und die ungesteuerte Einwanderung berichtet hatten.23 Laut dem Historiker Matthew Connelly schürten die mexikanische Immigration und die Sorgen um das Bevölkerungswachstum unter Eugeniker*innen Ängste vor einer »Mexikanisierung« des Südwestens der USA .24 Der Planned-Parenthood-Vorsitzende und Bevölkerungsaktivist ­William Vogt kommentierte in der Aufsichtsratssitzung vom 22.01.1953, »that these people are 50 % illiterate, their health poor, badly in need of contraceptive service.«25 Auch hier wurde der Bildungsstand mit dem Gesundheitszustand und dem Wissen über Familienplanung gleichgesetzt, so dass bestehende informelle Netzwerke zur Verbreitung von Wissen über Geburtenkontrolle ignoriert wurden. Als Initiativen für die spanisch-sprachige Bevölkerung wurde zunächst eine Rede der Gründerin der indischen Family Planning Association Lady

20 N. N., Muchos Niños (ohne Datum), in: PPFA Records II , Box 91.25. 21 So berichtete etwa der kalifornische Soziologe und Experte für Amerikanisierungsprogramme, Emory S. Bogaruds, schon 1934: »If she [the Mexican mother  – C. R.] be religiously trained, she is likely to view her brood as gifts from God.« Bogardus, Emory S., The Mexican in the United States, Los Angeles 1934, S. 24–25. 22 Ebd., S. 25. 23 Vgl. N. N., Minutes of the Board of Directors Meeting (22.10.1953), in: Margaret Sanger Papers, 1900–1960, Microfilmed, Library of Congress, Reel 120, S. 6. »Illegale Einwanderung« bestand in den 1950er Jahren hauptsächlich aus Bracero-Wanderarbeitern, die über ihre Aufenthaltserlaubnis hinweg in den USA blieben und ihre Familien nachholten, vgl. Ngai, Mae M., Impossible Subjects. Illegal Aliens and the Making of Modern America, Princeton 2005, S. 150. 24 Vgl. Connelly, Matthew, Fatal Misconception. The Struggle to Control World Population, Cambridge 2008, S. 163. 25 N. N., Minutes of the Board of Directors Meeting (22.10.1953), in: Margaret Sanger Papers, 1900–1960, Microfilmed, Library of Congress, Reel 120, S. 6.

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­Dhanvanthi Rama Rau ins Spanische übersetzt,26 was eine Gleichsetzung von Menschen im globalen Süden im Denken der Planned-Parenthood-Aufsichtsräte bezeugt. Zeitgleich wurde 1954 die Ärztin Ofelia Mendoza aus der puerto-ricanischen Familienplanungsorganisation, der zu dem Zeitpunkt einzigen Vertretung der IPPF in Lateinamerika, beauftragt, mit spanisch-sprachigen Gruppen in New York zusammenzuarbeiten.27 In dieser Klientel waren laut Mendozas Bericht überraschend viele protestantische Familien, und sie bemerkte, dass das Medium Film sehr effektiv in ihrer Zielgruppe wirkte. Der auf Mendozas Empfehlung hin 1965 von Planned Parenthood produzierte Spielfilm »La Sortija de Compromiso« (Der Verlobungsring) betonte die Vorteile der geplanten Familie. In dem spanisch-sprachigen Film des puertoricanischen Regisseurs Juan E. Viguie jr. verlobte sich die aus Puerto Rico eingereiste Isabel mit dem in New York lebenden Mechaniker Pedro.28 Kurz nach der Verlobung hört sie zunächst einen Streit in der Nachbarfamilie mit sieben Kindern, danach besucht sie ihre Freundin Estrellita, die nur drei Kinder hatte. Ähnlich wie die amerikanischen Broschüren zwei Jahrzehnte zuvor leitete der Film die Rationalität der Familienplanung aus der Gegenüberstellung zwischen einer geplanten Kleinfamilie und einer ungeplanten Großfamilie ab, aber ging in seinem Narrativ noch weiter. Die Protagonistin Isabel ließ sich ziemlich schnell von den Vorzügen der Familienplanung überzeugen und ging zu einer PlannedParenthood-Beratungsstelle. Als sie jedoch ihrem Verlobten Pedro offenbarte, dass sie im ersten Jahr der Ehe nicht schwanger werden wolle, glaubte dieser, dass sie ihn nicht richtig liebe. Erst durch ein Treffen mit Estrellitas Ehemann Antonio ließ auch er sich von der Idee der Familienplanung überzeugen. Antonio erklärte ihm zunächst, dass Familienplanung die Gesundheit der Mutter schütze und geplante Kinder sich besser entwickeln würden, sein Sohn Eduar­dito würde die Universität besuchen können und die Familie würde in eine neue Wohnung in Manhattan ziehen.29 Als Pedro weiterhin zweifelte, weil viele Kinder doch ein Zeichen von Männlichkeit seien, hielt Antonio folgenden Monolog: Du erinnerst dich, wie man früher gesagt hat, dass Kinder der Reichtum des armen Mannes sind, aber mein Reichtum ist die Liebe, die ich für meine Familie empfinde und das Wissen, dass ich sie unterstützen kann. […] Schau, Agualdo hat sechs, sieben Kinder, es fällt ihm sehr schwer, eine so große Familie unterhalten zu müssen, eine große Familie ist noch kein Zeichen dafür, dass ein Mann ein Macho ist.30 26 Vgl. N. N., Minutes of the 1954 Board of Directors Meeting, in: Margaret Sanger Papers, 1900–1960, Microfilmed, Library of Congress, Reel 120. 27 Vgl. Ebd. 28 Vgl. Virguie, Juan E., The Ring. A Spanish-Language Film for Planned Parenthood World Population (Englische Übersetzung des Drehbuchs, 01.02.1965), in: PPFA Records II , Box 7.17. 29 Vgl. Virguie, Ring, S. 21–22. 30 »Te acuerdas que decían que los hijos son la riqueza del pobre, pero mi riqueza es el amor que siento por mi familia y el saber que puedo sostenerla…eso es lo que verdaderamente hace un hombre […] Mira, Agualdo tiene seis, siete hijos…se le hace muy difícl eso de

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Der Film wies so auf die Schwierigkeiten hin, die ein Familienvater im urbanen New York hatte, eine große Familie zu versorgen. Während in der Agrargesellschaft eine große Kinderzahl ein Garant für soziale Absicherung war, musste hier ein Vater umso mehr arbeiten, je mehr Kinder er hatte. Der Film versprach so den Aufstieg in die Mittelschicht durch Familienplanung, wie auch Bildungszugänge für die nächste Generation. Jedoch wurde die Entscheidung zur Familienplanung hier als Drama in mehreren Akten erzählt. Anders als in den Broschüren der 1940er und 1950er Jahre erschien das Paar nicht als Einheit, die gemeinsam die rationale Entscheidung zur Familienplanung traf. Die betroffene Ehefrau war schnell von der Familienplanung überzeugt, während ihr Verlobter dies aufgrund traditionalistischer Männlichkeitsvorstellungen zunächst ablehnte und sich von dem Argument der Muttergesundheit nicht überzeugen lies. Erst als sein Freund Antonio den Gegensatz zwischen traditionellen Familienstrukturen und der modernen Kleinfamilie erklärt, lies Pedro sich überzeugen. Hier wurde nicht mehr die Unwissenheit, sondern das traditionelle Männlichkeitsideal des Ehemanns als Problem in der Durchsetzung der Familienplanung ausgemacht. Einem ähnlichen Narrativ folgte eine 1962 bei Marvel Comics in Auftrag gegebene Broschüre, die sich an Mexican Americans und weiße Arbeiterfamilien richtete. Das Comic »Escape from Fear«, welches 1965 als spanische Übersetzung unter dem Titel »Amor Sin Temor« (Liebe ohne Angst) erschien, erzählte im Englischen von der Ehekrise des Fabrikarbeiters Ken und seiner Frau Joan, die keine Kinder mehr haben wollte.31 In der spanischen Version, die Planned Parenthood in Kliniken im Süden und Südwesten der USA verteilte, hießen die Protagonisten Marta und Joaquin und hatten schwarze Haare. Der Rest der Geschichte war fast gleich, die englischsprachige Broschüre berichtete mehr über den Beruf und die Zugehörigkeit zur Arbeiterschaft der Familie, die spanisch-sprachige war expliziter darin, welche Verhütungsmittel versagt hatten. In beiden Comics wollte die dreifache Mutter Joan / Marta aus Angst vor einer weiteren Schwangerschaft keinen Sex mehr haben, da alle bisherigen Verhütungsmethoden gescheitert waren und sie das saubere Erscheinungsbild der Familie und der Wohnung mit einem weiteren Kind nicht aufrechterhalten konnte. Deshalb geriet das Ehepaar in Streit und die Ehefrau drohte, zu ihrer Schwester zu ziehen. Der Ehemann war am nächsten Tag auf der Arbeit so abgelenkt, dass er sich an einer Maschine verletzte und von einem Arzt behandelt werden musste. Der Arzt klärte ihn dann über zuverlässige Verhütungsmethoden auf und empfahl ihm, auch seiner Frau davon zu erzählen. Die Frau ging danach alleine in eine Beratungsstelle, wo ihr in der englischsprachigen Version die Pille, das Diaphragma oder Kondom, und in der spanisch-sprachigen Version das IUD tener que mantener una familia grande…Una familia grande ya no es indiciación de que un hombre es macho…«, N. N., La Sortija de Compromiso (Filmbegleitende Broschüre, 1965), in: PPFA Records II , Box 93.59, ohne Seitenzahlen. 31 N. N., Escape from Fear (1962), in: PPFA Records II , Box 93.61; N. N., Amor Sin Temor (1965), in: PPFA Records II , Box 93. 62.

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Abb. 9: Cover des Comics »Amor Sin Temor«, Planned Parenthood, 1965

empfohlen wurde.32 Nachdem die Ärztin ihre Bedenken über die Zuverlässigkeit der Methoden und deren Anwendbarkeit mit ihrem Expertenwissen zerstreut hatte, entschied sich Marta / Joan nun dazu, selbst Familienplanung zu praktizieren und das Konzept auch an ihre Schwester weiterzuempfehlen. Hier wurde Familienplanung nicht als Maßnahme des sozialen Aufstiegs beworben, sondern als Mittel gegen den sozialen Abstieg. Ähnlich wie in dem 32 Wahrscheinlich war das spätere Erscheinungsjahr der Grund für die unterschied­liche Empfehlung. Jedoch wurden IUDs und andere sogenannte Long-Acting Reversible Contraceptives (LARC) besonders für arme, afro-amerikanische und lateinamerikanische Frauen empfohlen, da sie nicht einfach abgesetzt werden konnten, vgl. Solinger, Rickie, ­Pregnancy and Power. A Short History of Reproductive Politics in America, New York 2005, S. 171; Siegel Watkins, Elizabeth, On the Pill. A Social History of Oral Contraceptives, ­1950–1970, Baltimore 1998, S. 70.

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oben diskutierten Film imaginierte Planned Parenthood den Entscheidungsprozess über Familienplanung als mehrstufigen Prozess. Zunächst beschloss die Ehefrau ihre Kinderzahl zu begrenzen, um den bisherigen Wohlstand erhalten zu können, und der Ehemann fühlte sich zurückgesetzt. Diesmal war der Ehemann derjenige, der das Wissen über Verhütungsmethoden in die Familie hineintrug, da er sich von seinem Arzt Informationen geben ließ, wo man wissenschaftlich gesichertes Wissen über Familienplanung erlangen konnte. In der Beratungsstelle ließ sich die Ehefrau dann von einer Ärztin die genauen Informationen über alle verfügbaren Verhütungsmittel geben, so dass auch hier wieder die Information durch eine Expertin in die Familie gebracht wurde. Am Ende beschloss die Ehefrau, die Informationen an ihre Schwester weiterzugeben und so informelle Netzwerke zur Wissensverbreitung zu stärken. Dies zeigt, dass in dem idealtypischen Entscheidungsnarrativ des Comics Entscheidungsfindung und Wissenstransfer miteinander verquickte Prozesse waren. Die Entscheidung musste von jedem Ehepartner allein getroffen werden, beide bezogen aber Expert*innenrat als Ressourcen in den Entscheidungsprozess mit ein. Nach der Entscheidung wurden die Informationen über das Konzept der Familien­planung weitergegeben. Informelle Familiennetzwerke zur Informations­weitergabe in Migrantenfamilien wurden als Ressource der Wissensvermittlung hervorgehoben, solange das weitergegebene Wissen aus einer medizinisch sanktionierten Quelle stammte. Dieses Narrativ des reproduktiven Entscheidens als Drama in zwei Akten tauchte auch in der spanisch-sprachigen Broschüren »Usted Pueden Planear Su Familia« (Sie können Ihre Familie planen) von 1966 auf, die spanisch-sprachige Männer direkt ansprach. Sie zeigte einen Ehemann, der mit seiner Familie am Küchentisch saß, mit der Bildunterschrift »El Jefe de la familia decide con su esposa cuantos hijos pueden criar y educar.« (Das Oberhaupt der Familie entscheidet mit seiner Frau, wie viele Kinder die Familie aufziehen und erziehen kann.)33 Solche Darstellungen von mexikanisch-stämmigen Familien als patriarchal mit dem Vater als Entscheider wurden in den 1970er Jahren von Chicano Bürgerrechtsaktivist*innen als Stereotypen entlarvt, welche LatinxFamilien pathologisierten und als vormodern darstellten.34

33 Lehrman, Rosalie, Ustedes Pueden Planear Su Familia (1966), in: PPFA Records II , Box 100.50, ohne Seitenzahlen. In der aktualisierten Fassung von Mai 1968 sitzt der Vater nicht mehr dominant am Küchentisch, stattdessen schaut die Familie gemeinsam in den Sonnenuntergang, was eine eher egalitäre Familienstruktur suggeriert. 34 Sie zeigten in quantitativen Untersuchungen zu Entscheidungsprozessen in mexikanisch-stämmigen Familien, dass Entscheidungsprozesse demokratischer zwischen den Ehepartnern abliefen, als das Ideal des Machismo es vorgab, vgl. Ybarra, Lea, Empirical and Theoretical Developments in the Study of Chicano Families, in: Valdez, Armando u. a. (Hg.), The State of Chicano Research on Family, Labor, and Migration. Proceedings of the First Stanford Symposium on Chicano Research and Public Policy, Stanford 1983, S. 91–110.

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Abb. 10: Illustration aus der Broschüre »Ustedes Pueden Planear Su Familia«, Planned Parenthood 1966.

In der Broschüre von 1966 folgte wieder die schon bekannte Gegenüber­stellung der geplanten, sauberen Familie mit Konsumgütern mit der ungeplanten armen Familie. Diesmal wurde graphisch an Hand von vollen und leeren Tellern gezeigt, dass in der fünfköpfigen Familie jedes Familienmitglied eine ausgewogene Ernährung bestehend aus Fleisch, Gemüse und Kohlenhydraten erhielt, während in der zehnköpfigen Familie jedes Mitglied weniger zu essen hatte und nicht jedes Kind Fleisch oder Gemüse bekam.35 Dies war eine klare Anspielung auf die Debatten um Hunger unter mexikanischen Einwandererfamilien, die durch den United Farm Workers Streik und deren Boykottaufrufe ab 1966 ins Bewusstsein der amerikanischen Öffentlichkeit gerieten.36 Der Hunger wurde hier jedoch nicht als soziales Problem aufgrund zu niedriger Löhne der Landarbeiter präsentiert, sondern als Resultat mangelnder Familienplanung individualisiert. Hier diente Familienplanung als Lösung sozialer Probleme wie Hunger und Armut, aber auch zur Verhinderung von Bürgerrechtsprotesten und 35 Lehrman, Rosalie, Ustedes Pueden Planear Su Familia (1966), in: PPFA Records II , Box 100.50, ohne Seitenzahlen. 36 Zu den Debatten um Mexican Americans, Hunger und den Streik der United Farm Workers, siehe Roesch, Claudia, »The Poorest of the Poor in this Country.« Die Culture of Poverty und Debatten um die Armut mexikanischer Einwanderfamilien in den USA der 1960er Jahre, in: Gajek, Eva Maria / Lorke, Christoph (Hg.), Soziale Ungleichheit im Visier. Wahrnehmung und Deutung von Armut und Reichtum seit 1945, Frankfurt am Main 2016, S. 131–162, hier S. 131.

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Gewerkschaftsunruhen. Familienplanung versprach hier gleichzeitig Klassen­ grenzen zu überschreiten und Einwandererfamilien zu integrieren, nebenbei verringerte sie dabei natürlich auch weiterhin das Bevölkerungswachstum von Minderheiten.

Großfamilien und Wohnungsnot in Westdeutschland Inspiriert von einer Reise nach Lateinamerika im Frühjahr 1967 begann der Pro-Familia-Ehrenvorsitzende Hans Harmsen diese Grundsätze der Familien­ planung als Mittel zur Bekämpfung der Armut auf deutsche Unterschichtsfamilien anzuwenden. Durch seine Reise gelangten auch die Materialien für amerikanische Latinx-Familien über Umwege in die Bundesrepublik Deutschland. Im Juni 1967 berichtete Harmsen der Bundesgeschäftsführerin Eva Hobbing, wie er während seiner Reise eine Beratungstelle im kolumbianischen Bogotá besucht und die dortigen Lehrmaterialien kopiert habe.37 Zwar sei Kolumbien katholisch und ein Entwicklungsland, aber man könne die Materialien auch in der Bundesrepublik anwenden, »vor allem auch an der Gegenüberstellung der sozialen Situation der Großfamilie und der Familie mit Familienplanung.«38 Die Beratungsstelle der kolumbianischen Familienplanungsorganisation, die zufällig ebenfalls Profamilia heißt, wurde von Planned Parenthood gesponsort. Auch gingen einige amerikanische Bevölkerungsaktivist*innen, die sich in den 1950er Jahren um mexikanische Familien im Südwesten der USA engagiert hatten, mit Stipendien der Rockefeller-Stiftung nach Guatemala, Costa Rica und Kolumbien, um dort Familienplanung zu organisieren.39 Daher ist davon auszugehen, dass es sich bei den von Harmsen beschriebenen Lehrmaterialien um die oben beschriebenen Broschüren für Latinx in den USA handelte. So reisten Informationen für Minderheiten in den USA über Lateinamerika ins Nachkriegsdeutschland. Anders als in den USA wurde in Westdeutschland Armut nicht mit der Differenzkategorie »race« assoziiert. Stattdessen galten weiße Großfamilien mit mehr als vier Kindern einem erhöhten Armutsrisiko ausgesetzt. So zeigte etwa die schon erwähnte Fernsehsendung Panorama aus dem Jahr 1962 in einem Einspieler eine Familie, die mit fünf Kindern und der Großmutter zu acht in einer

37 Harmsen war im Frühjahr 1967 auf Kosten der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur IPPF Tagung nach Santiago de Chile gereist und hatte eine achtwöchige SüdamerikaRundreise angehängt, auf der er unter anderem Gesundheitsinitiativen in Argentinien und Kolumbien inspiziert hatte. 38 Harmsen, Hans, Brief an Eva Hobbing (12.06.1967), in: Pro-Familia-Verbandsarchiv, Ordner »Prof. Harmsen 1964«. 39 Vgl. Roesch, Macho, S. 281; siehe auch Huhle, Teresa, Bevölkerung, Fertilität und Familienplanung in Kolumbien. Eine transnationale Wissensgeschichte im Kalten Krieg, Bielefeld 2017, S. 119.

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Sozialwohnung für 64 DM Monatsmiete wohnte.40 Das Problem der Familie war, dass neugebaute Sozialwohnungen mit zwei oder drei Zimmern zu klein waren, sie aber auch keine größere Wohnung auf dem freien Wohnungsmarkt finden konnte. Ihr Fallbeispiel sollte die Notwendigkeit einer rationalen Familienplanung unterstreichen. Wohnungsnot und Großfamilien wurden in den 1960er Jahren innerhalb von Pro Familia als Milieufragen diskutiert. Die Organisation wurde aufgrund der internen Debatten zur Legalisierung der freiwilligen Sterilisation auf die Unterschicht als eigene Zielgruppe aufmerksam. Diese Debatte bekam Anfang der 1960er Jahre eine neue Dringlichkeit, als der mit Pro Familia affiliierte Chirurg Axel Dohrn sich öffentlich dazu bekannt hatte, ohne rechtliche Grundlage Sterilisationen durchgeführt zu haben. Der Arzt aus dem niedersächsischen Großburgwedel hatte in der Aufklärungsserie der illustrierten Zeitschrift »stern« 1961 einen Artikel veröffentlicht, in dem er zugab 1300 verheiratete Frauen »auf deren eigenes Verlangen« hin sterilisiert zu haben.41 Die meisten Patientinnen hatten laut Angaben des Arztes schon mehrere Kinder geboren. Im »stern« beschrieb er unter der Überschrift »Ich kann nicht länger schweigen. Ein Arzt gegen die falsche Moral« das Fallbeispiel einer vierfachen Mutter, die mit ihrem Ehemann, der Kindern und ihrer pflegebedürftigen Mutter in einer Dreizimmerwohnung am Rande von Hannover lebte. Sie wurde Dohrns Patientin, nachdem sie versucht hatte, mit Stricknadeln eine Abtreibung vorzunehmen und in Folge dessen an inneren Blutungen und Fieber litt. Dohrn ließ sich laut seiner eigenen Schilderung beim Warten auf die Narkose das Einverständnis der Patientin für eine Sterilisation geben, indem er sie fragte »Sie wollen also keine Kinder mehr?«42 Diese Form der Einwilligung einer fieberkranken, halb narkotisierten Patientin kann dabei nicht als bewusste Entscheidung für eine Sterilisation gewertet werden, da sie nicht die Zeit und die nötigen Informationen über Alternativen zur Sterilisation hatte, um ihre Optionen abzuwägen und eine reflektierte Entscheidung zu treffen.43 40 TV Sendung Panorama (Norddeutscher Rundfunk, 14.01.1962), Minute 8:30, online einsehbar unter: https://daserste.ndr.de/panorama/archiv/1962/panorama2123.html, letzter Zugriff: 17.05.2018. 41 Dohrn, Axel, Ich kann nicht länger schweigen. Ein Arzt gegen die falsche Moral, in: stern 14 (30.04.1961) H. 18, S. 28–33, hier S. 28. Für weitere Informationen zum Fall Dohrn siehe vor allem die Dissertation des Medizinhistorikers Tümmers, Henning, Anerkennungskämpfe. Die Nachgeschichte der nationalsozialistischen Zwangssterilisationen in der Bundesrepublik, Göttingen 2011, S. 148–161. 42 Dohrn, Schweigen, S. 29. 43 In den 1970er Jahren brachten Chicana Feminist*innen ähnlich gelagerte Fälle an einem Krankenhaus in Los Angeles als Zwangssterilisationen vor Gericht, da Ärzte spanischsprachigen Frauen, die auf eine Narkose für einen Kaiserschnitt warteten, eine Einverständniserklärung auf Englisch vorgelegt hatten und die Frauen nach der Geburt nichts von der Sterilisation wussten. Vgl. del Castillo, Adelaide, Sterilization. An Overview, in: dies. / Mora, Magdalena (Hg.), Mexican Women in the Past and Present. Los Angeles 1980,

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Dohrn rechtfertigte den Eingriff damit, dass die Patientin keine Erlaubnis einer Ärztekommission für eine Abtreibung aus medizinischer Indikation bekommen hätte, da sie an keiner Erbkrankheit litt und ihr Mann kein Alkoho­ liker war.44 Er rahmte seine Praxis der Sterilisation in dem Artikel als Präventivmaßnahme gegen illegale Abtreibungen und stellte Verhütungsmittel, besonders Kondome und die Knaus-Ogino-Methode als nicht wirksam dar. Nach der Veröffentlichung des Berichts nahm die Staatsanwaltschaft Ermittlungen gegen Dohrn auf, 1964 wurde der Arzt in höchster Instanz vom Bundesverfassungsgericht freigesprochen. Im Zuge der Ermittlungen gegen Dohrn forderten Bevölkerungsaktivist*innen innerhalb der Pro Familia immer wieder die Legalisierung der freiwilligen Sterilisation. Der Bundesvorsitzende Hans Harmsen schrieb eine Vielzahl an Protestbriefen an das Bundesministerium für Justiz und den Gesundheitsausschuss des Bundestages.45 Darin forderte er die Freigabe der freiwilligen Sterilisation vor allem bei eugenischer Indikation, um Ärzt*innen eine Rechtssicherheit zu gewähren. Zwar hatten die alliierten Besatzungsmächte die Erbgesundheitsgerichte, welche im Nationalsozialismus im Rahmen des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN) über die Durchführung von Sterilisationen entschieden hatten, abgeschafft. In einigen Bundesländern blieb das Sterilisationsgesetz jedoch weiterhin in Kraft, ohne dass es angewendet wurde.46 Sterilisationen bei medizinischer Indikation blieben weiterhin rechtlich möglich. Ärzt*innen, die Frauen ohne medizinischen Grund sterilisierten, bewegten sich in einer rechtlichen Grauzone. 1962 organisierte Pro Familia in Berlin eine Podiumsdiskussion zum Thema »Sterilisation als empfängnisverhütendes Mittel,« an der unter anderem Ilse Brandt und ihr Ehemann Wilhelm, Axel Dohrn, Anne-Marie Durand-Wever, die Juristin Charlotte Graf und der Berliner Professor für Humangenetik Hans Nachtsheim teilnahmen.47 Während Durand-Wever zunächst ausführlich über die Geschichte der Sterilisationsgesetze in den USA referierte und Gesetze anderer demokratischer Länder seit den 1930er Jahre vorstellte, forderte Nachtsheim ein Sterilisationsgesetz nach skandinavischem Vorbild.48 Nachtsheim, der im

44 45 46 47 48

S. 65–70, hier S. 68; siehe auch Gutiérrez, Elena, Fertile Matters. The Politics of MexicanOrigin Women’s Reproduction, Austin 2008, S. 88. Vgl. Dohrn, Schweigen, S. 30. Vgl. zum Beispiel Harmsen, Hans, Brief an den Gesundheitsausschuß des Bundestages (01.03.1964), in: BArch N 1336/380. Vgl. Brandt, Wilhelm, Sterilisation als Empfängnisverhütendes Mittel. Podiumsgespräch der Pro Familia, abgedruckt in: Gesundheitspolitik 4 (1962) H. 3, S. 155–176, hier S. 157. Das Protokoll der Podiumsdiskussion wurde in der Zeitschrift Gesundheitspolitik veröffentlicht, siehe ebd. Vgl. Ebd., S. 163. 1964 spezifizierte Nachtsheim, dass er sich auf das dänische Gesetz bezog, welche eugenische Sterilisationen nur auf freiwilliger Basis erlaubte, aber eine landesweite Kartei von Erbkrankheiten führte, siehe hierzu Nachtsheim, Hans, Die Notwendigkeit einer aktiven Erbgesundheitspflege, in: Der Landarzt. Zeitschrift für Allgemeinmedizin 40 (20.11.1964) H. 32, S. 1383–1385, hier S. 1384.

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Nationalsozialismus als Abteilungsleiter des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie Experimente an Kindern mit Behinderungen und KZ -Insass*innen durchgeführt hatte, war laut dem Soziologen Stefan Kühl, »einer der wenigen Genetiker, [der] den Nazis nicht ständig nach dem Mund redete.«49 Dennoch vertrat er auch in den 1960er Jahren noch den Standpunkt, dass Menschen mit Erkrankung wie einer Hasenscharte, Diabetes oder der Bluterkrankheit sterilisiert werden sollten.50 Aufgrund des medizinischen Fortschritts sei es ihnen heute möglich, selbst Nachwuchs zeugen und ihr Erbgut weiterzugeben.51 Auch würde es im »Atomzeitalter« zu vermehrten Genmutationen kommen, was ohne eine Kontraselektion durch legale Sterilisation zu einer »schleichenden Degeneration der Menschheit« führen würde.52 Dies bedeutete für ihn, dass »in einigen Jahrhunderten die Zahl der körperlich und geistig Kranken und Schwachen derart überwiegt, daß die pflege- und behandlungsbedürftigen Menschen von den wenigen noch Gesunden und Leistungsfähigen einfach nicht mehr miternährt werden können.«53 Zwar betrachtete Nachtsheim hier die Menschheit als Einheit und grenzte sich von dem Begriff der »Rasse« als Referenzgröße seiner eugenischen Planungstätigkeiten ab. Dennoch stand auch weiterhin bei seinen Vorhaben das biologistische Wohl der Gesellschaft über dem Recht der Einzelnen auf reproduktive Selbstverwirklichung. Auch betrachtete er den Wert des Menschen weiterhin allein anhand seiner Arbeits- und Leistungsfähigkeit und schloss in seiner dystopischen Schilderung zukünftigen medizinischen oder technologischen Fortschritt aus. Die anderen Teilnehmer*innen der Podiumsdiskussion gingen nicht auf Nachtsheims Forderungen ein, stattdessen diskutierten sie, ob bei Familien mit sozialen Problemen eher eine Sterilisationsempfehlung oder ein Rezept für ein Verhütungsmittel angebracht sei und ob Ärzt*innen einem Sterilisationswunsch von Paaren ohne Kinderwunsch oder gesunden Paaren mit nur drei Kindern nachgeben sollten. Hier stand neben der Debatte, ob anstatt der Frau nicht mal der Ehemann sterilisiert werden sollte, da eine Vasektomie aus chirurgischer Sicht weniger kompliziert war als eine Tubenligatur, vor allem die Frage 49 Vgl. Tümmers, Anerkennungskämpfe, S. 51–52; Kühl, Stefan, Die Internationale der Rassisten. Aufstieg und Niedergang der internationalen Bewegung für Eugenik und Rassenhygiene im 20. Jahrhundert. Frankfurt am Main 1997, S. 228. 50 Vgl. Brandt, Sterilisation, S. 158–160. 51 Ebd., siehe hierzu auch Tümmers, Anerkennungskämpfe, S. 132. Zu Nachtsheims Bemühungen seit 1947 eugenische Sterilisationen im Nachkriegsdeutschland wieder zu rehabilitieren, siehe Schwerin, Alexander von, Vom »Willen im Volke zur Eugenik«. Der Humangenetiker Hans Nachtsheim und die Debatte um ein Sterilisationsgesetz in der Bundesrepublik (1950–1963), in: WechselWirkung 103/104 (2000), S. 76–85. 52 Laut Henning Tümmers wuchsen die Sorgen um die Gefahr der Atomenergie, seit man in den 1950er Jahren entdeckt hatte, dass schon eine geringe nukleare Strahlung Erbgutveränderungen hervorheben konnte. Zu Beginn der 1960er Jahre glaubten einige Ärzt*innen, dass Atomtests die Ursache für die Geburt Contergan-geschädigter Kinder sei, siehe Tümmers, Anerkennungskämpfe, S. 162; und Kapitel 5 dieser Arbeit. 53 Brandt, Sterilisation, S. 163.

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im Raum, ob eine sterilisierte Person sich zum Beispiel nach dem Unfalltod eines Kindes, oder einer Scheidung doch noch ein Kind wünschen könnte.54 Axel Dohrn etwa empfahl kinderlosen Paaren mit Sterilisationswunsch erst ein paar Jahre abzuwarten bevor er den Eingriff durchführen würde, während Ilse Brandt in solch einer Situation Frauen die Nutzung zuverlässiger Verhütungsmittel nahelegte.55 Hier wurde vor allem das Verhältnis zwischen individuellen Paaren, Ärzt*innen und der rechtlichen Rahmung von Sterilisationsentscheidungen debattiert. So bemerkte Ilse Brandt in Bezug auf den hypothetischen Fall einer gewünschten Sterilisation bei einem kinderlosen Paar, »daß die Frage der Sterilisation, ja oder nein, eine Frage ist, die in die Intimsphäre jedes Ehepaares gehörte, die mit der Rechtsprechung gar nichts zu tun haben sollte.«56 Während sich die praxisorientierten Mitglieder der Pro Familia einig waren, dass Sterilisationen auf Wunsch der Betroffenen legal sein sollten, wurde auf der Podiumsdiskussion die unterliegende Frage verhandelt, ob Ärzt*innen es Ehepaaren zutrauen konnte, selbstständig weitreichende Entscheidungen über ihre eigene Fruchtbarkeit zu treffen. Im Raum stand, ob der behandelnde Arzt / die behandelnde Ärztin oder eine Ärztekommission das letztendliche Entscheidungsrecht über eine Sterilisation haben sollte. Diese Debatte ging jedoch im Gegensatz zu Nachtheims Forderungen nicht über die Auswirkungen einer Sterilisation auf die individuelle Familie hinaus. Nachtsheim selbst geriet aufgrund eines Interviews, welches er 1963 dem ZDF gab, öffentlich und innerhalb von Pro Familia unter Druck. Der Fernsehsender hatte in der Sendung »Zeitgeschehen-Fernsehen« den Zusammenhang zwischen der Eugenik, wie Nachtsheim sie vor und nach 1945 vertrat, und dem nationalsozialistischen Euthanasie-Programm hergestellt.57 Ilse Léderer-Völker erkannte beim Anschauen des Programms auf Akten, die in der Sendung gezeigt wurden, die Unterschrift Lothar Loefflers, dem zweiten Vorsitzenden der kirchlich orientierten Arbeitsgemeinschaft Ehe- und Jugendberatung mit Sitz in Detmold, welche in Konkurrenz zur Pro Familia stand.58 Loeffler war schon 1932 54 55 56 57

Ebd., S. 169. Vgl. Ebd., S. 171–172. Vgl. Ebd., S. 173. Schmuckler, Arno (ZDF Journalist), Brief an Hans Harmsen (12.02.1964), in: BArch N 1336/383; siehe hierzu auch Tümmers, Anerkennungskämpfe, S. 168; Schwerin, Willen im Volke, S. 82. 58 Ilse Léderer-Völker, die ca. 1960 zum zweiten Mal heiratete und den Namen ihres Ehemanns als Doppelnamen annahm, und Ilse Brandt hatten sich in den 1950er Jahren um eine Zusammenarbeit mit der katholisch-dominierten Detmolder Arbeitsgemeinschaft Ehe- und Jugendberatung bemüht, diese hatte die Zusammenarbeit jedoch abgelehnt, da sie Empfängnisverhütung an sich ablehnte. Erst 1968 wurde Pro Familia Mitglied der Arbeitsgemeinschaft, vgl. Léderer, Ilse, Brief an Margaret Sanger (30.01.1951), in: Margaret Sanger Papers Project, Microfilmed, Sophia Smith Collection, Smith College, Northampton, Mass; siehe auch Hobbing, Eva, Tätigkeitsbericht über die Arbeit der PRO FAMILIA (Okt. 1962 bis Sep. 1963), in: Pro-Familia-Verbandsarchiv, Ordner »Geschichte Pro Familie: Dokumente«.

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in die NSDAP eingetreten und hatte als ärztlicher Beirat der Erbgesundheitsgerichte Entscheidungen über Zwangssterilisationen getroffen. Léderer-Völker, deren Vater in Auschwitz ermordet worden war, forderte nun von Pro-FamiliaPräsident Hans Harmsen Aufklärung, der daraufhin Loeffler und Nachtsheim um eine Stellungnahme bat.59 Auf Harmsens Anfrage hin schrieb Loeffler einen längeren Brief, in dem er sich zu seiner NS -Vergangenheit bekannte. Er gab an, jetzt geläutert zu sein und vor allem die Abtreibung bei eugenischer oder sozialer Indikation abzulehnen.60 Laut Loeffler würde Hans Nachtsheim, der in seiner Forschung durchaus vom nationalsozialistischen Regime profitiert habe, sich selbst als Opfer des Nationalsozialismus darstellen und versuchen, das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses als nicht nationalsozialistisches Gesetz zu deuten. Auf Loefflers Anschuldigung antwortete Nachtsheim, dass das Fallbeispiel Dänemark beweise, dass ein eugenisches Sterilisationsgesetz auch ohne Zwang durchsetzbar sei.61 Dies zeigt, dass Nachtsheim weiterhin an einer Durchsetzung eines eugenischen Sterilisationsgesetzes interessiert war. Er bezog sich in seinem Denken ferner auf Populationen und nicht auf Individuen, eine Position, die mittlerweile selbst innerhalb von Pro Familia kritisch gesehen wurde.62 Wegen dieser Denkweise geriet Nachtsheim auf einer Sitzung des Arbeitskreises der deutschen Zentrale für Volksgesundheitspflege am 22.09.1964 mit Harmsen in Konflikt, da er in Bezugnahme auf den britischen Eugeniker ­Julian Huxley die These vertrat, dass Kriminalität und »Schwachsinn« erblich seien. Nachtsheim forderte daher die Legalisierung der Sterilisierung »Geistes­ kranker« zusammen mit der Kastration von »Sexualstraftätern«.63 Harmsen kritisierte dies als »veraltete Wissenschaft« und »stellt klar, dass es bei der eug. Sterilisation nur um das Wohl des Einzelnen gehen könne, wie die Ev. Akademie Hamburg schon 1953 klargestellt habe.«64 Diese Aussage zeigt zum einen, dass 59 60 61 62

Vgl. Léderer-Völker, Ilse, Brief an Hans Harmsen (16.01.1964), in: BArch N 1336/702. Loeffler, Lothar, Brief an Hans Harmsen (06.02.1964), in: BArch N 1336/383. Nachtsheim, Hans, Brief an Hans Harmsen (09.03.1964), in: BArch N 1336/383. Zu weiterer Kritik an Nachtsheim in medizinischen Fachzeitschriften, siehe Tümmers, Anerkennungskämpfe, S. 164–165. 63 Diese konnte auch nach § 175 verurteilten homosexuellen Männern beinhalten. In der seit 1960 diskutierten Strafrechtsreform sollte die freiwillige Kastration von Pädophilien, Exhibitionisten und Vergewaltigern legalisiert werden; in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus wurde die Kastration auch als »Therapie« für nach § 175 verurteilte homosexuelle Männer angewendet, vgl. Eghigian, Greg, The Corrigible and the Incorrigible. Science Medicine and the Convict in Twentieth Century Germany, Ann Arbor 2015, S. 172; zur Kastratation Homosexueller, siehe Micheler, Stefan, Selbstbilder und Fremdbilder der »Anderen«. Eine Geschichte Männer begehrender Männer in der Weimarer Republik und der NS -Zeit, Konstanz 2005, S. 139. 64 N. N., Sitzungsprotokoll Deutsche Zentrale für Volksgesundheitspflege, Arbeitsausschuß Bevölkerungs- und Familienfragen (22.09.1964), in: BArch N 1336/380; die Arbeitszentrale war ein Dachverband diverser Berufsverbände und Arbeitsgemeinschaften (etwa Hebammen, Fürsorgerinnen, Caritas), die seit der Weimarer Republik existierte und deren Mitglied Harmsen aufgrund seiner Tätigkeit für die Innere Mission geworden war.

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auch Harmsen Sterilisationen bei Menschen mit Erbkrankheiten weiterhin für eine gute Idee hielt und damit die Reproduktionsfähigkeit von Menschen nach qualitativen Kriterien beurteilte. Zum anderen zeigt sie auch, dass Harmsen, anders als Nachtsheim, gelernt hatte, seine Forderungen nach einer Rechtssicherheit für die Sterilisation in individualisierte Argumente zu verpacken, die in der Bundesrepublik sagbar waren. So sollte die Sterilisation nicht dem Schutze der Gesellschaft vor Degenerierung oder Pflegekosten dienen, sondern zur Entlastung der einzelnen Mutter, die kranke Gene nicht an ihre Kinder weitergeben wolle. Er rückte so den Individualismus ins Zentrum seiner Forderung zur Rückkehr der eugenischen Sterilisation. Nachdem Axel Dohrn 1964 freigesprochen wurde und damit die freiwillige Sterilisation entkriminalisiert worden war, blieb Harmsen bei seiner Forderung nach einer gesetzlichen Regelung für die eugenische Sterilisation. Während sich andere Verbandsmitglieder mit der Anti-Baby-Pille und der Durchführung von Ärzteschulungen beschäftigten, schrieb Harmsen weiterhin im Namen der Pro Familia Stellungnahmen an das Justizministerium, in denen er die gesetzliche Freigabe der Sterilisation bei medizinischer, eugenischer und sozialer Indikation forderte.65 Er betonte als Grundsatz seiner Forderung: Menschen, die keine Kinder haben wollen, sollten keine Kinder haben. PRO FAMILIA tritt ein für das gewünschte und liebend erwartete Kind. Aus diesem Grundsatz kann sich die Konsequenz ergeben, daß es der Einzelperson, die über die erforderliche Einsicht verfügt, überlassen bleiben muß, ob sie sich unfruchtbar machen lassen will oder nicht.66

Hier bezog sich Harmsen auf Wunschkinder und die amerikanische Debatte um die gesellschaftlichen Gefahren durch das ungeplante und ungeliebte Kind. Individuen, die verantwortungsbewusst entschieden, die Gesellschaft nicht durch ungewollte oder kranke Kinder belasten zu wollen, sollten nicht durchrestriktive Gesetzgebung ausgebremst werden. Dass dabei aber das Recht des Einzelnen über seine Fortpflanzungsfähigkeit zu entscheiden, nicht im Vordergrund stand, zeigten die folgenden Absätze von Harmsens Ausführungen. Demnach sollte es nicht »entscheidend auf den Willen der betroffenen Person ankommen«, sondern auf die Indikationsstellung der behandelnden Ärzt*in, der sich von seinem Patienten / seiner Patientin eine rechtswirksame Einwilligung geben lassen sollte.67 Da der Arzt eine so schwerwiegende Entscheidung nicht alleine treffen sollte, sollte eine Gutachterstelle entscheiden, »ob der Betroffene die erforderliche Verstandsreife zum Erkennen und Abschätzen der Folgen der Unfruchtbarmachung besitzt.«68 Auch sollte der Ehepartner angehört werden. 65 Harmsen, Hans, Brief an PRO FAMILIA Stellungnahme zur Anfrage des Bundesjustizministerums über den Inhalt einer »gesetzlichen Regelung freiwilliger Unfruchtbarmachung« (31.12.1965), in: BArch N 1336/271. 66 Ebd. 67 Ebd. 68 Ebd.

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Harmsen plädierte dafür in der Ehe lieber den Mann als die Frau zu sterilisieren. Wirtschaftliche Gründe allein sollten keine Grundlage für eine Sterilisation bilden und nur bei Fällen von »schwerem Schwachsinn« sollten Sterilisation außerhalb der Ehe möglich sein.69 In diesen Fällen sollte sowohl der gesetzliche Vertreter als auch ein Vormundschaftsgericht die Einwilligung geben. Mit der Betonung der ärztlichen Indikation und der Einwilligung des Patien­ ten, zeigt Harmsens Brief, dass es ihn nicht darum ging, Menschen, die einfach keine Kinder wollten, die Beendigung ihrer Fruchtbarkeit zu ermöglichen. Es ging ihm auch nicht darum, Frauen zu ermächtigen, selbst über eine Sterilisation zu entscheiden. Stattdessen sollte ein Gremium aus Arzt / Ärztin, Gut­ ach­ter / Gutachterin und Ehemann die Entscheidung für sie treffen, der sie ihre Einwilligung nach der Überprüfung ihrer geistigen Reife geben durfte. Die Betonung der Einwilligung diente einzig der rhetorischen Abgrenzung von den Zwangssterilisationen des Nationalsozialismus. In Harmsens Gesetzesvorschlag sollte Ärzt*innen eine Rechtsicherheit gewährt werden, weiterhin auf qualitative Kriterien basierende Bevölkerungskontrolle betreiben zu können. So hatte auch schon Harmsens Doktorvater Alfred Grotjahn 1927 versucht, die legale eugenische Sterilisation durch die Hintertür einzuführen, in dem er Ärzt*innen Straffreiheit zusichern wollte.70 Nur wurde diese in Konzepten wie dem Wunschkind, der Einwilligung und des Individualismus für eine demokratische Gesellschaft positiv verpackt. Wie oben erwähnt, sollte Armut an sich in der Bundesrepublik kein Grund für eine Sterilisation sein. So argumentierte Harmsen unter Bezugnahme auf die Arbeiten des Mediziners und Soziologen Ferdinand Oeter, dass bei Kindern aus armen Großfamilien die hohe Anzahl an »Minderbegabten« und »schulischen Misserfolgen« »milieubedingt« und nicht auf »schlechte Erbanlagen« zurückzuführen sei.71 Ein Gutachten Oeters für das Bundesministerium für Familie, Jugend und Gesundheit erklärte 1968, dass besonders Kinder aus »Übergangsheimen und Notunterkünften« oft später schulreif seien und einen verminderten Sprachschatz hätten, da sie von ihren Eltern vernachlässigt werden würden und 69 So empfahl Harmsen 1981 etwa die Sterilisation eines wahrscheinlich aufgrund des pränatalen Alkoholsyndroms geistig behinderten Waisenmädchens noch vor Einsetzen der Pubertät, siehe Harmsen, Hans, Brief an Manfred Olszewski (12.08.1981), in: BArch N 1336/407; zur Praxis der Sterilisationsempfehlungen für behinderte Mädchen in der Bundesrepublik siehe auch Schenk, Britta-Marie, Behinderung verhindern. Human­ genetische Beratungspraxis in der Bundesrepublik Deutschland (1960er bis 1980er Jahre), Frankfurt a. M. 2016, S. 263–264. 70 Vgl. Eckart, Wolfgang U., »Ein Feld rationaler Vernichtungspolitik.« Biopolitische Ideen und Praktiken vom Malthusianismus bis zum nationalsozialistischen Sterilisationsgesetz, in: Rotzoll, Maike u. a. (Hg.), Die nationalsozialistische »Euthanasie«-Aktion »T4« und ihre Opfer, Paderborn 2010, S. 25–41, hier S. 37–38. 71 Vgl. N. N., Protokoll Wissenschaftlicher Beirat für Familienfragen beim Bundesminis­ terium für Familie und Jugend (1968), S. 18, in: BArch N 1336/684.

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besonders Mütter nicht genügend Zeit hätten, sich gebührend um ihre Kinder zu kümmern.72 Auch wenn ihr Rückschritt nicht erbbedingt war, blieben diese Kinder aus Sicht des Bevölkerungswissenschaftlers weiterhin problematisch für die Gesellschaft. Anders als in den späten 1950er Jahren, als Bewohnern von Notunterkünften sich noch immer aus Displaced Persons zusammensetzten, die nach dem Zweiten Weltkrieg aufgrund von Krankheit, Behinderung oder Großfamilien nicht in die USA oder nach Israel auswandern konnten,73 waren die Bewohner von Notunterkünften in den 1960er Jahren hauptsächlich deutsche Großfamilien, die obdachlos geworden waren. Laut der Studie des Historikers Christoph Lorke zu Armut in der Bundesrepublik und der DDR entstanden diese notdürftigen Siedlungen, in denen Familien in Baucontainern oder Baracken untergebracht wurden, weil kinderreiche Familien mit kleinem Einkommen »Opfer eines Verdrängungswettbewerbs auf dem Wohnungsmarkt« wurden.74 In der Mehrheit der Fälle war der Familienvater nicht arbeitslos, aber sein Arbeiterlohn allein reichte nicht aus, um die Miete und die Versorgung einer sechs bis zehnköpfigen Familie zu zahlen. Verlor die Familie aufgrund von Mietschulden ihre Wohnung, war es oft nicht möglich eine adäquate Unterkunft zu finden, weshalb Kommunen diese Familien in Notunterkünften am Rande von Großstädten unterbrachten. Laut eines Berichts in den »Pro Familia Informationen« mussten sie dort auf 3,5 Quadratmeter pro Person leben und bekamen oft noch mehr Kinder, so dass ihre prekäre Lebenssituation permanent wurde.75 Zeitgenössische Narrative betrachteten diese Form der Armut als selbstverschuldet, da eine zu große Kinderzahl auf mangelnde Moral und mangelnde Bildung der betroffenen Mütter zurückzuführen sei.76

72 Vgl. Oeter, Ferdinand, Angelpunkt der Gleichberechtigung, Text diskutiert in Protokoll der Sitzung des Wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen beim Bundesministerium für Familie und Jugend (1968), in: BArch N 1336/684, S. 18. 73 Harmsen hatte 1959 Statistiken zu diesen Personen auf eine biologistische Weise analysiert, mit dem Argument, dass aufgrund der Aufnahmepolitik der USA und Israels nur der »unerwünschte« Teil dieser Personen in Westdeutschland blieben, vgl. Harmsen, Hans, Bevölkerungsbiologische Strukturprobleme des sozialen Ausleserestes der in Westdeutschland in Lagern lebenden, schwierig einzugliedernden heimatlosen Ausländern, Vortragsmanuskript: Internationaler Bevölkerungswissenschaftlicher Kongress Wien 1959, in: BArch N 1336/697. 74 Laut Lorke fehlten 1968 noch 2,4 Millionen Wohnungen und es lebten etwa 800.000 Menschen in kommunal finanzierten Obdachlosenunterkünften, davon 50 Prozent Kinder, vgl. Lorke, Christoph, Armut im geteilten Deutschland. Die Wahrnehmung sozialer Randlagen in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR , Frankfurt am Main 2015, S. 169. 75 Vgl. Angermann, Barbara, Familienplanung in sozialen Brennpunkten  – ein Arbeitsbericht, in: Pro Familia Mitarbeiter Informationen 1 (April 1971), in: BArch N 1336/137, S. 1. 76 Vgl. Lorke, Armut, S. 175.

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Dementgegen lamentierten Sprecher*innen der Pro Familia seit Beginn der 1960er Jahre, dass neugebaute Wohnungen mit durchschnittlich zwei bis drei Zimmern einfach zu klein für große Familien seien.77 Das fehlende Kinderzimmer für das dritte Kind wie auch die Armut von Großfamilien seien auch die Ursachen für den ab 1964 einsetzenden Geburtenrückgang, argumentierte Hans Harmsen immer wieder.78 Seit 1966 begannen Pro-Familia-Ortsgruppen in Köln und Kassel Frauen in Notunterkünften direkt anzusprechen, um ihnen mit Familienplanung aus ihrer Misere zu helfen. Die Mitarbeiterin der Kassler Beratungsstelle Tessa Brettschneider wandte sich im Herbst 1967 an Harmsen, um ihm von ihren Erfahrungen mit »Problemfamilien« in einem Barackenlager bei Kassel zu berichten. Dort hatte sie sich mit einer Sozialfürsorgerin zusammengetan, die obdachlose Familien betreute, um »den Frauen einen Weg aufzuzeigen, der sie vor einer neuen unerwünschten Schwangerschaft schützen soll.«79 Als Maßnahme planten die beiden eine Filmvorführung, zu der sie sechzig Frauen schriftlich einluden und dann erneut persönlich ansprachen. Zur Vorführung selbst kamen aber nur zwei Frauen. Von ähnlich niedrigem Interesse berichtet der Arzt Günther Schmidt, der in Hannover zu einem Vortrag in eine Notunterkunft eingeladen wurde, wo er letztendlich vor acht Sozialarbeiterinnen, einer Bewohnerin und deren Lebensgefährten sprach.80 Drei weitere Frauen kamen in die Beratungsstelle, während die Pro-Familia-Beraterin Kontakt zu zwanzig Familien bei Hausbesuchen herstellte. Laut dem Bericht zeigte die Beratung »nur dann Erfolge«, wenn die Beraterin ihren Besuch alle vier bis sechs Wochen wiederholte, sonst traten in den Familien wieder Schwangerschaften auf. Der Bericht nahm paternalistisch an, dass weitere Schwangerschaften für die Frauen in den Notunterkünften grundsätzlich unerwünscht waren, und dass diese Frauen von sich aus kein Interesse an Sexualaufklärung zeigten. Es bedurfte in diesen Familien der Unterschicht mehr als nur einer reinen Wissensvermittlung über Verhütungsmethoden, stattdessen mussten regelmäßige Kontrollbesuche durch Sozialarbeiterinnen sicherstellen, dass die Verhütungsmittel auch tatsächlich angewendet wurden. Während Tessa Brettscheiders Bericht erwähnte, dass sie als weibliche Bera­ terin bewusst Frauen in armen Familien kontaktiert hatte, zitierte Hans Harmsen 1969 eine Studie aus England, wonach männliche Sozialarbeiter in der Stadt Hull Kondome an Männer in »sozial randständigen Familien« ausgegeben 77 Siehe unter anderem Schubnell, Hermann, Brief an Hans Harmsen (15.12.1970), in: BArch N 1336/279. 78 Siehe hierzu Kapitel 5 dieser Arbeit. 79 Brettschneider, Tessa (Pro Familia Kassel), Brief an Hans Harmsen (11.10.1967), in: BArch N 1336/404. 80 Vgl. Schmidt, Günther, Vortragsversuch über Geburtenregelung (in einem Lager von Randständigen), in: Pro Familia Mitarbeiter Informationen 1 (April 1971), S. 4–6, hier S. 5, in: BArch N 1336/137.

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hatten. Ihre Besuche erfolgten zunächst alle zwei, dann alle vier Wochen, danach verschickten sie die Kondome per Post. So habe es in 18 Monaten nur vier Schwangerschaften gegeben.81 In einer nicht aufgeklärten Kontrollgruppe hätte es im gleichen Zeitraum 41 Schwangerschaften gegeben. Der Erfolg der Maßnahme wurde hier nicht anhand der erfolgreichen Planung von Nachwuchs, sondern allein an der Verhinderung von Schwangerschaften in der Versuchsgruppe gemessen. Im Januar 1970 tagten in Köln Mitglieder verschiedener Pro-Familia-Ortsgruppen und gründeten den Ausschuss »Arbeiten mit Unterschichten«.82 Laut den Protokollen der Arbeitssitzungen mit Ärzt*innen, die Erfahrung in der Betreuung von Notunterkünften hatten, sollten Fürsorgerinnen als Angelpunkt für eine Beratung dienen. Gespräche sollten aber auch mit den Ehemännern geführt werden, weil diese ähnlich wie in den Darstellungen der Planned Parenthood von spanisch-sprachigen Familien oft eher Vorbehalte gegen Familienplanung hatten. Frauen, die schon viele Kinder hatten, sollten als Multiplikatoren des Verhütungswissens in den Siedlungen dienen. Obwohl Harmsen nur wenige Jahre zuvor betont hatte, dass Armut an sich kein Grund für eine Sterilisation sein sollte, strebte Pro Familia nun eine Zusammenarbeit mit Hebammen an. Diese sollten im sogenannten »Post-PartumApproach« Frauen, die gerade entbunden hatten, von einer Sterilisation zu überzeugen.83 Dieser Ansatz, der die Erschöpfung einer Mutter nach einer Geburt ausnutzen und der betroffenen Frau möglichst wenig Bedenkzeit einräumen sollte, war in globalen Kampagnen zur Bevölkerungskontrolle unter anderem an Latinas in den USA angewandt worden.84 In Los Angeles sollte 1975 solch eine Praxis die Grundlage eines Prozesses gegen Zwangssterilisationen werden.85 Pro Familia übernahm die Idee jedoch eher aus der Arbeit des ostdeutschen Familienplanungspioniers Karl-Heinz Mehlan, der mit Hans Harmsen und Alan Guttmacher bis in die späten 1960er Jahre im engen Kontakt blieb. So lobte Harmsen Mehlans Aufsatz »Soziale Leistungsschwäche erfordert aktive Familienplanung« 1967 dafür, dass dieser gefordert habe, Ärzt*innen zu verpflichten, Frauen nach der Entbindung über Möglichkeiten der Empfäng81 Vgl. Harmsen, Hans, Manuskript Familienplanung bei sozial randständigen Familien (undatiert ca. 1970), in: BArch N  1336/413. 82 Vgl. Schmitt-Schiek, Lili-Lore, Protokoll, Besprechung über die Arbeit mit Sozialschwachen (14.01.1970), in: BArch N 1336/191. 83 Vgl. Schmitt-Schiek, Lili-Lore, Protokoll Besprechung bei Herrn Medizinaldirektor Dr. Merkl (02.02.1970), in: BArch N 1336/191, S. 2. 84 Zur Anwendung des sogenannten Postpartum Approach in internationalen Bevölkerungskampagnen, siehe Unger, Corinna R., Family Planning – A Rational Choice? The Influence of System Approaches, Behavioralism, and Rational Choice Thinking on MidTwentieth Century Family Planning Programs, in: Hartmann, Heinrich A. / Unger, Corinna R. (Hg.), A World of Populations. Transnational Perspectives on Demography in the Twentieth Century, New York 2014, S. 58–82, hier S. 69. 85 Vgl. Gutiérrez, Fertile, S. 46–47.

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nisverhütung und mögliche Krankheiten, die eine weitere Schwangerschaft unzumutbar machten, aufzuklären.86 In den USA lösten die Postpartum-Sterilisationen der mexikanischen Einwandererinnen in Los Angeles und der 1973 bekanntgewordene Fall der afroamerikanischen Schwestern Minnie Lee und Alice Relf, die in einer staatlichen Familienplanungsklinik in Alabama aufgrund der Diagnose »Schwachsinnigkeit« sterilisiert worden waren, große Proteste der Bürgerrechtsbewegung und der afro-amerikanischen Frauenbewegung aus.87 In der Bundesrepublik hingegen gab es erst in den 1980er Jahren vereinzelnd Berichte über Sterilisationen ohne Einstimmung. So erwähnte der Vorsitzende des Pro-Familia-Landesverbands Bremen Gerhard Amendt 1981, dass vermehrt Frauen bei einer legalen stationären Abtreibung sterilisiert wurden.88 Auch berichteten die linke Tageszeitung »TAZ « und die Wochenzeitung »Zeit«, dass in einem der Prozesse gegen Ärzte, die in den 1980er Jahren in Bayern wegen Verstößen gegen den § 218 angeklagt wurden, herauskam, dass der Nürnberger Arzt Dr. Ferdinando Peselli Patientinnen nach einer Abtreibung ohne ihr Wissen eine Spirale eingesetzt oder sie sterilisiert habe.89 Die Patientinnen seien, so eine feministische Familienberaterin im Interview mit der »Zeit«, »vor allem Frauen aus sozial schwachen Verhältnissen und zahlreiche Ausländerinnen gewesen.«90 Dies zeigt, dass arme Frauen und solche mit Migrationshintergrund am verletzlichsten waren, wenn es um die Zustimmung zu einer Sterilisation ging. 1985 veröffentlichte die hessische Pro-Familia-Beraterin Doris Dunkel einen Bericht über ihre Arbeit in einer Obdachlosensiedlung in Hanau, in die seit 1983 auch türkische Einwandererfamilien gezogen waren, die auf dem normalen Wohnungsmarkt keine Bleibe gefunden hatten. Da die türkisch-stämmigen Frauen ähnliche gesundheitliche Probleme aufwiesen, wie ihre deutschen Klientinnen, richtete Dunkel mit einer Dolmetscherin eine Sprechstunde für Tür­ kinnen in der Siedlung ein. Über ihre Erfahrungen in der Sprechstunde berichtete sie: »Schockierend war für mich die Erfahrung, daß einige der türkischen Frauen ohne ihr Wissen während eines Krankenhausaufenthalts sterilisiert worden waren.«91 Leider fehlt der Hinweis, ob diese Sterilisationen in Rahmen einer Geburt oder Abtreibung erfolgt waren, und ob es sich dabei um Fälle in demselben Krankenhaus handelte. Jedoch legen die Berichte von Amendt, Dunkel und den bayerischen Prozessen nahe, dass es sich bei unfreiwilligen Ste86 Vgl. Harmsen, Hans, Brief an Karl-Heinz Mehlan (04.03.1967), in: BArch N 1336/404. 87 Vgl. Nelson, Jennifer, More Than Medicine. A History of the Feminist Women’s Health Movement, New York 2015, S. 171–172. 88 Amendt, Gerhard, Vom Beichtstuhl zum Gynäkologenstuhl, in: konkret (1981), S. 77–81, hier S. 78; zu mehr Details über Amendts Klageschrift, siehe Kapitel 7 dieser Arbeit. 89 Gast, Wolfgang, Abtreibungen dienen der Bedarfsdeckung, in: TAZ (04.04.1987), S. 5. 90 Soltau, Heide, Es war immer sehr voll, in: Zeit Nr. 20/1987 (08.05.1987), https://www.zeit. de/1987/20/es-war-immer-sehr-voll, letzter Zugriff: 23.10.2019. 91 Dunkel, Doris, Familienelend und die Gesundheit der Frauen, in: Pro Familia Magazin 13 (1985) H. 4, S. 4–7, hier S. 7.

Großfamilien und Wohnungsnot in Westdeutschland 

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rilisationen nach Abtreibungen oder Geburten bis in die 1980er Jahre um eine deutschlandweit verbreitete Praxis handelte. Über das »Pro Familia Magazin« und die linke Presse hinaus wurden diese Fälle jedoch nicht öffentlich bekannt und es gab keinerlei großflächige Protestwellen gegen unfreiwillige Sterilisation armer Frauen und Minderheiten in der Bundesrepublik. Selbst innerhalb der Pro Familia betrachtete man in den 1970er Jahre Sterilisationen von Frauen in Obdachlosensiedlungen als wünschenswert. Der Pro-­ Familia-Ausschuss »Arbeiten mit Unterschichten« ging 1970 davon aus, dass es im ersten Jahr der Arbeit in »sozial randständigen Gebieten« eine hohe Quote an Sterilisationen geben würde, dabei sollten junge Frauen nur bei medizinischer Indikation sterilisiert werden, ältere Mütter auch bei sozialer. Vasektomien beim Mann sollte man trotz des Wissens, dass es ein einfacherer medizinischer Eingriff ist, nur anwenden, wenn er von einer Erbkrankheit betroffen war.92 Uneinigkeit gab es in dem Ausschuss darüber, welche Verhütungsmittel an die Familien ausgegeben werden sollte, die für eine Sterilisation nicht in Frage kamen. Während einzelne Mitglieder die in der Bundesrepublik noch nicht zugelassene Drei-Monats-Spritze einsetzen wollten, insistierte der Kölner Amtsarzt und Pro-Familia-Unterstützer Helmuth Merkl, die Einnahme der Pille »sei keine Frage der Intelligenz«.93 Frauen ab 16 Jahren solle man die Pille verschreiben, die Spirale nur bei mehrfachen Müttern einsetzen. An Jugendliche sollten Kondome ausgegeben werden, da diese vor Geschlechtskrankheiten schützen und man bei jungen Mädchen Störungen der Fertilität durch die Gabe von Sexualhormonen fürchtete.94 So sollte besonders bei jungen Frauen die Fruchtbarkeit nicht permanent beendet werden, sondern für einen späteren Zeitpunkt weiterhin erhalten bleiben. Dass man permanentere Methoden, wie die Sterilisation oder die Spirale, nur Frauen mit Behinderungen oder mehrfachen Müttern empfahl, zeigt, dass es nicht darum ging, Unterschichten von der Reproduktion komplett auszuschließen, sondern ihre Reproduktion in eine normative Familienform einzupassen. »Behinderung« blieb weiterhin eine Differenzkategorie, auf deren Grundlange Menschen von der Reproduktion ausgeschlossen werden sollten. I971 veröffentlichte die Frankfurter Beraterin Barbara Angermann in den »Pro Familia Informationen« einen Arbeitsbericht, wie einzelne Ortsgruppen Maßnahmen für Familie in sozialen Brennpunkten aufgebaut hatten.95 Diese Maßnahmen seien »in angelsächsischen Ländern Standard« und dienten der »Hilfe zur Selbsthilfe«. In der Bundesrepublik würden jedoch nur vier Gemeinden (Mühlheim an der Ruhr, Köln, Mannheim und Berlin) die Pille kostenlos an 92 Vgl. Schmitt-Schiek, Lili-Lore. Protokoll Besprechung bei Herrn Medizinaldirektor Dr. Merkl (02.02.1970), in: BArch N 1336/191, S. 3. 93 Ebd., S. 4; die Nachteile der Spirale und der Drei-Monats-Spritze werden in Kapitel 8 dieses Bandes diskutiert. 94 Vgl. Ebd., S. 5. 95 Angermann, Barbara, Familienplanung in sozialen Brennpunkten – ein Arbeitsbericht, in: Pro Familia Mitarbeiter Informationen 1 (April 1971), S. 1–4, in: BArch N 1336/137.

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Sozialhilfeempfängerinnen ausgeben. Daher solle Pro Familia selbst dezentrale Beratungsstellen einrichten, in denen eine zertifizierte und beratungserfahrene Ärztin in Kooperation mit einer Sozialarbeiterin Hausbesuche mache. Dabei solle besonders auf Transparenz in der Auswahl der kontaktierten Familien Wert gelegt werden, es dürfe keine »Auslese« von bedürftigen Familien durch Behörden geben. Dies stellte eine vorauseilende Abgrenzung von jeglichem Verdacht dar, einer staatlichen Bevölkerungsplanung zu dienen, auch steht diese Praxis im Gegensatz zu der Beratungspraxis in den USA , wo unverheiratete Frauen der Unterschicht nur beraten werden konnten, wenn sie von Behörden weiterverwiesen wurden. Angermanns Arbeitsbericht empfahl, Familien mit den Argumenten zu ködern, dass es »bessere Chancen für weniger Nachkommen« gab, dass Kinder nicht »der Reichtum der armen Leuten« seien und mehr Kinder die Chance der Veränderung der sozialen Lage verringern würden.96 Hier stand das Versprechen des sozialen Aufstiegs durch die Begrenzung der Kinderzahl und die Anpassung an die Kleinfamilie im Vordergrund. Auch versprach die Familienplanung bessere Bildungschancen für jedes einzelne Kind. Diese Slogans sind fast wortwörtlich die gleichen, die Planned Parenthood einige Jahre zuvor in den Kampagnen für puerto-ricanische Familien in New York vermittelt hatte. Ähnlich wie auch Geistliche in den amerikanischen Großstädten rechtfer­ tigte Harmsen den Fokus der Programme für Familien in Obdachlosensiedlungen damit, dass sie ein Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit seien und es allein um Wissensvermittlung ging. Diese Erwägungen bettete er in die 1968 veröffentlichte Erklärung der Vereinten Nationen zur Familienplanung als Menschenrecht ein.97 So erklärte er in einer Rede in Westerland 1968, dass Familienplanung nicht nur ein Menschenrecht, sondern auch eine Verpflichtung sei. Er ging davon aus, »daß alle jungen Menschen, die heiraten, an sich auch den Wunsch nach Kindern haben, insbesondere die Frau.«98 Jedoch seien Paare verpflichtet, »entsprechende Wohnverhältnisse zu schaffen,« daher diene die Familienplanung dazu, die Kinderzahl »an die gegeben sozialen Existenzbedingungen,« und die Gesundheit der Mutter anzupassen. Familienplanung als Menschenrecht sei vom Kind her gedacht, da jedes Kind ein Recht habe, »in eine Umwelt geboren zu werden, in der es die notwendige Liebe, Nahrung und Fürsorge 96 Ebd., S. 3. 97 Roman Birke weist in seiner Dissertation nach, dass nicht die neue Frauenbewegung, sondern Bevölkerungsplaner*innen seit den 1950er Jahren diejenigen waren, die das Menschenrechtsargument in die Debatten um Geburtenkontrolle einbrachten, vgl. Birke, Roman, Geburtenkontrolle als Menschenrecht. Die Diskussion um globale Überbevölkerung seit den 1940erJahren, Göttingen 2020, S. 16. 98 Harmsen, Hans, Soziologische Aspekte der Geburtenkontrolle und die Nicht-Hormonalen Antikonzeptionsmethoden (Vortragsmanuskript, 17.04.1968), in: BArch N 1336/493, S. 1; das gleiche Argument entwickelt er in dem Vortragsmanuskript Harmsen, Hans, Familienplanung – Ein Menschenrecht – Gefährdet sie unsere Zukunft (Vortragsmanuskript, undatiert, ca. 1968), in: BArch N 1336/340.

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erhält.«99 Deshalb sollten auch Frauen, die keine Kinder (mehr) haben wollten, auch keine Kinder bekommen. Daher sei »[d]ie Anwendung empfängnisregelnder Mittel […] zunächst eine persönliche Entscheidung,« die verantwortungsbewusst getroffen werden musste. Laut Harmsen sollten Ärzt*innen, Schulen und Hebammen verpflichtet sein, Frauen in der Anwendung von Verhütungsmitteln zu unterweisen, denn, so lautete der Standpunkt der Pro Familia in der Menschenrechtsdebatte, »Wissen über Familienplanung [ist] ein grundlegendes Menschenrecht.«100 Hier wurde zum einen wieder die Figur des Wunschkindes abgerufen, die der Profiteur der Anpassung der Familiengröße an die sozialen Umstände sein solle. Zum anderen distanzierte sich Harmsen von möglichen Vorwürfen, verpflichtende Beratung von Ärzt*innen oder Hebammen an Frauen in sozialschwachen Milieus könnten als staatliche Eingriffe zur Kontrolle der Geburten unerwünschter Schichten missverstanden werden. Sein Argument war ähnlich wie das der Geistlichen in Baltimore, dass nur Wissen über Verhütungsmethoden verbreitet werden sollte, die Entscheidung über die Anwendung liege in der Hand der einzelnen Paare. Wissen war ein wichtiger Ansatzpunkt zur Selbstermächtigung von Paaren aus der Unterschicht, jedoch wurden Paare je nach Zugehörigkeit zu ihrer sozialen Schicht in unterschiedlicher Weise und unterschiedlicher Häufigkeit angesprochen. Reproduktives Wissen wies folglich eine materielle, ökonomische Komponente auf. Diese hatte sich in der Moderne die Großfamilie als Form der sozialen Absicherung hin durch die Kleinfamilie als Mittel zum sozialen Aufstieg ersetzt. Dieses Argument war global einsetzbar, da es sowohl für Familien in Puerto Rico und Kolumbien als auch für Unterschichten in westdeutschen Großstädten angewendet werden konnte. Es betonte die monetären Vorteile für individuelle Familien und verschleierte dabei bevölkerungspolitische Motivationen, die Aktivist*innen hatten, die sich an arme Familien und Minderheiten richteten. Letztendlich sollten aber mit der individuellen Armut auch die Kosten für den Sozialstaat, die globale Überbevölkerung oder die Geburt von Kindern in schwierigen Milieus verhindert werden. Wer sich wie oft fortpflanzen sollte, blieb weiterhin eine Frage der sozialen Schicht.

Widerstände gegen Familienplanungskampagnen für Minderheiten in den USA Während es in Deutschland nur vereinzelt kirchlich-konservative Kritik, aber keine Proteste von Betroffenen gegen Familienplanungsmaßnahmen speziell für arme Familien gab, äußerten in den USA verschiedene neue soziale Bewegungen der 1960er Jahre lautstarken Widerspruch. So protestierte etwa die ChicanoBewegung, welche sich für die Bürgerrechte von Mexican Americans einsetzte, 99 Harmsen, Menschenrecht, S. 2. 100 Ebd., S. 3.

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vor allem gegen Medikamententests an spanisch-sprachigen Frauen. Wie oben erwähnt, unterstützten Bürgerrechtsorganisationen Klagen gegen Krankenhäuser aufgrund von Sterilisationen spanisch-sprachiger Frauen im Kindsbett.101 Die Puerto Rican Young Lords Party kritisierte in einem Positionspapier zur Lage der Frau von 1970 vor allem die Häufigkeit der Sterilisationen auf Puerto Rico: »In 1947–48, 7 % of the women were sterilized, 4 out of every 25; and by 1956 the number had increased to about 1 out of 3 women. In many cases our sisters are told that their tubes are going to be ›tied‹ but are never told that the ›tying‹ is really ›cutting‹ and that the tubes can never be ›untied‹.«102 Auch seien die Medikamententests mit der Anti-Baby-Pille auf Puerto Rico eine Art »Genozid« gewesen, da Frauen nicht über die Nebenwirkungen wie Thrombosen oder ein mögliches Krebsrisiko aufgeklärt worden waren. Die Proteste richteten sich gegen einen Mangel an Wissen bzw. eine unvollständige Weitergabe von Informationen über Risiken oder Nachteile einer bestimmten Form der Geburtenkontrolle, nicht gegen Familienplanung an sich.103 Durch die Übersetzung von Broschüren ins Spanische, die Anwendung einer leichten Sprache und allgemeine Simplifizierungen waren essentielle Informationen über die Permanenz oder die Risiken bestimmter Methoden verloren gegangen. Auch innerhalb der afro-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung war die Haltung zum Thema Familienplanung umstritten. Laut der Historikerin Johnanna Schoen gab es aufgrund der schlechten Erfahrungen mit den Experimenten der einzelstaatlichen Programme zur Ausgabe von Verhütungsmitteln in der afro-amerikanischen Bevölkerung großes Misstrauen gegenüber der Ärzteschaft.104 So berichtete der schwarze Planned-Parenthood-Sprecher Douglas Stewart der afro-amerikansichen Zeitschrift »Ebony«, schwarze Klientinnen würden ihm sagen: »There are two kinds of [birth control – C. R.] pills – one for white women and one for us […] and the one for us causes sterilization.«105 Die 1968 aufgrund der afro-amerikanischen Kritik an der Familienplanung einberufene Planned Parenthood Negro Physician Conference schlug vor, in Kampagnen für African Americans auf die Verknüpfung von Familienplanung mit Sozialhilfe oder globalem Bevölkerungswachstum zu verzichten.106 101 Vgl. Roesch, Macho, S. 446; Gutièrrez, Fertile, S. 40; Serrano Sewell, Sandra, Sterilization Abuse and Hispanic Women, in: Holmes, Helen B. u. a. (Hg.), Birth Control and Controlling Birth, Women-Centered Perspectives, Clifton 1980, S. 121–123. 102 N. N., Puerto Rican Young Lords Position Paper on Women (1970), zitiert aus Weiss, Penny E. (Hg.), Feminist Manifestos. A Global Documentary Reader, New York 2018, S. 231–235, hier S. 235. 103 Zur bejahenden Position der Puerto Rican Young Lords gegenüber Familienplanung, siehe Nelson, Jennifer, Women of Color and the Reproductive Rights Movement, New York 2003, S. 114. 104 Vgl. Schoen, Choice, S. 42. 105 Vgl. Smith, Mary, Birth Control and the Negro Woman, Reprint from Ebony (März 1968), in: PPFA Records II , Box 2.22, S. 3. 106 Vgl. N. N., Statement of the Negro Physician Conference (07.08.1968), in: PPFA Records II , Box 14.6.

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Es sollten auch mehr afro-amerikanische Berater*innen eingestellt werden und Patientinnen sollten an afro-amerikanische Ärzt*innen überwiesen werden. Der Abschlussbericht der Konferenz erklärte: »there is need for greater empathy and need to relate to the problems of the individual and not those of the whole world«107 Diese Forderung bedeutete eine Abkehr von kollektiven Werten, die den Kampagnen für African Americans unterlegt waren, und eine Betonung des individuellen Selbstentscheidungsrechts. Der afro-amerikanische Planned-Parenthood-Mitarbeiter Douglas Stewart wollte eine Satzungsänderung durchsetzen, die das freie Entscheidungsrecht besonders von Sozialhilfeempfängerinnen betonte. Diese Forderung stieß auf Widerstände weißer Aufsichtsratsmitglieder aus den Südstaaten, die weiterhin aus eugenischen Gründen eine Betonung des Überbevölkerungsproblems forderten. So behauptete Raphael B.  Levine, der Vorsitzende der Ortsgruppe Atlanta, dass der Anteil derjenigen, die verantwortungsbewusst handelten und ihre Kinderzahl begrenzten, stetig schrumpfen würde und man deshalb in Zukunft nicht auf Zwangsmaßnahmen zur Begrenzung des Bevölkerungswachstums unverantwortlicher Schichten verzichten könne.108 Letztendlich wurde ein Kompromiss zwischen beiden Positionen angenommen, der einerseits »freedom of choice about family size« besonders für Sozialhilfeempfängerinnen betonte, andererseits auch an die Verantwortung Aller für die Elternschaft appellierte, und damit kollektive mit individuellen Motiven verknüpfte.109 Auch der Slogan der Jahreskampagne 1968 »Voluntary Parenthood and Population Policy« spiegelte diesen Kompromiss zwischen individuellen Bürgerrechten und der Sorge um das Bevölkerungswachstum wider.110 Innerhalb der nächsten Jahre setzten sich die Befürworter des Individualismus durch, da sich Planned-Parenthood-Präsident Alan Guttmacher aus Rücksichtnahme auf die African Americans von bevölkerungsplanerischen Institutionen wie dem Zero Population Growth Movement distanzierte.111 Guttmacher, der Anfang der 1960er Jahre noch Vorstandsmitglied der Human Betterment Foundation gewesen war, eine Vereinigung, die sich für eugenische Sterilisationen ausgesprochen hatte, erklärte 1970 in einem Interview mit der populärwissenschaftlichen Zeitschrift »Modern Medicine«: »Freedom to choose  – that’s the difference between genocide and family planning.«112 In 107 Ebd. 108 Vgl. Levine, Raphael B., Letter to fellow Board Members (10.10.1969), in: PPFA ­Records  II , Box 8.36. 109 Villard, Henry H., Memorandum to the Affiliates of Planned Parenthood World Population and the Board of Directors (21.10.1969), in: PPFA Records II , Box 8.36. 110 N. N., Planned Parenthood World Federation Annual Report 1968, in: PPFA Records  II , Box 101. 111 Vgl. Guttmacher, Alan F., Brief an Richard H. Bowers (Zero Population Growth Movement, 25.03.1969), in: PPFA Records II , Box 73. 112 N. N., Contemporaries. Alan F. Guttmacher, M. D., in: Modern Medicine (22.03.1971), S. 22.

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einem Artikel der »New York Times«, der über die Kontroversen innerhalb des Planned-Parenthood-Aufsichtsrats über die Frage der Bevölkerungskontrolle berichtete, hieß es, Guttmacher gehe davon aus, »Compulsory birth control would be an invitation to revolt.«113 Dies ist im Kontext der sich radikalisierenden Black-Power-Bewegung und den Race Riots in Watts, Los Angeles 1965, Chicago 1966 und Washington DC 1968 zu verstehen.114 So nahm Guttmacher an, dass mehr Zwangsmaßnahmen nur mehr Proteste provozieren würden. In diesem Sinne veranlassten die Gewaltandrohungen der militanten Black-PowerBewegung einen Umschwung innerhalb der Debatten um Familienplanung. Nicht mehr die verantwortungsbewusste Entscheidung zum Wohle der Familie und der Gemeinschaft, sondern das Recht auf individuelle Selbstbestimmung sollten betont werden. In den folgenden Jahren machte sich Planned Parenthood diese Verknüpfung von individuellem Selbstentscheidungsrecht und sinkenden Geburtenraten zu eigen. So verschwand auch 1972 ohne große Kampagne der Begriff »World Population« aus dem Organisationsnamen und der Slogan der Jahreskam­pagne 1973 lautete »A tool for decision-making.«115 Dabei betonte Planned ­Parenthood nicht mehr die vorausschauende langfristige, rationale Planung der eigenen Familie. Stattdessen wurde die Organisation zu einer Dienstleisterin, die Wissen über Verhütung als Ressourcen zur eigenen Entscheidungsfindung zur Verfügung stellte. Dieser semantische Wandel implizierte auch einen konzeptionellen Wandel von der Familienplanung als Bürgerpflicht zum reproduktiven Entscheiden als Bürgerrecht. Wissen wurde so zu einer Bedingung zur Garantie individueller Rechte und nicht mehr zur Grundlage der allgemeinen Pflichterfüllung.

Fazit Im Laufe der 1960er Jahre hatten sowohl Hans Harmsen als auch Alan Guttmacher auf unterschiedlichem Weg gelernt, dass sich in den demokratischen Gesellschaften Forderungen nach Bevölkerungskontrolle oder eugenischen Sterilisationen nur mit der Betonung des Individualismus, der Freiwilligkeit und der sozialen Gerechtigkeit durchsetzen ließen. Das hieß jedoch nicht, dass sie sich von Ideen einer qualitativen Bevölkerungssteuerung komplett verabschiedet hatten.

113 Dempsey, David, Dr. Guttmacher Is the Evangelist of Birth Control, in: New York Times Magazine (09.02.1969), S. SM 32–40, hier S. SM 40. 114 Zu den Riots siehe Heale, Michael J., The Sixties in America. History, Politics and Protest, Edinburgh 2001, S. 123. 115 N. N., Planned Parenthood of America, Inc. Annual Report 1972, in: PPFA Records, Box 12.15.

Fazit 

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Im Gegenteil, so zeigen die Kampagnen von Planned Parenthood gegen Überbevölkerung, die sich an African American und Latinx-Familien richteten, war auch hier die Differenzkategorie »race« ausschlaggebend, nachdem afroamerikanische Familien als dysfunktional und spanisch-sprachige Familien als patriarchalisch und zu groß dargestellt wurden. Einwandererfamilien aus Puerto Rico und Mexiko sollten mit dem Versprechen des Aufstiegs in die Mittelschicht durch die Familienplanung überzeugt werden, ihre Familiengröße kleinzuhalten. Gleichzeitig drohte Großfamilien der soziale Abstieg. In der Bundesrepublik wurden die Slogans und Broschüren für Latinx eins zu eins für Kampagnen übernommen, die sich an die weiße Unterschicht richteten. Hier war nicht die Differenzkategorie »race« handlungsleitend, sondern die Kategorien »Klasse«. Als durch das Selbstbekenntnis des niedersächsischen Arztes Axel Dohrn 1961 die Frage nach der Legalisierung der Sterilisation auf die Tagesordnung rückte, forderten Bevölkerungsaktvist*innen, wie Hans Harmsen und Hans Nachtsheim, zunächst eine Rechtssicherheit für eugenische Sterilisationen. Diese sollte das Einverständnis der / des Betroffenen beinhalten, was jedoch keinen bewussten Entscheidungsprozess der betroffenen Person voraussetzte. Stattdessen sollte der / die Betroffene, der Ehepartner und ein Gutachtergremium einer ärztlichen Entscheidung zustimmen. Hier ging es folglich einzig um die Ausweitung des ärztlichen Entscheidungsrechts. Jedoch zeigen die Proteste gegen Hans Nachtsheim auch, dass sich die Eugenik innerhalb der Pro Familia nicht einfach so umsetzen ließ. Sterilisationsempfehlungen zur Bekämpfung von Armut gehörten trotz Harmsens gegenteiliger Empfehlung ab den späten 1960er Jahren zum Beratungsangebot von Pro-Familia-Mitarbeiter*innen in Obdachlosensiedlungen. Dass sie dabei den international erprobten Post-Partum-Approach anwendeten, setzte arme, ungebildete Frauen der Missbrauchsgefahr aus. Zwangsterilisationen ohne Zustimmung der Betroffenen gab es sowohl in der Bundesrepublik als auch in den USA . Während in den USA die Bürgerrechtsbewegung öffentliche Aufmerksamkeit für die Praxis generierte, blieb es in der Bundesrepublik bei vereinzelten Nennungen in der linken Presse, so dass das Ausmaß der unfreiwilligen Sterilisationspraxis bis heute nicht bekannt ist. Jedoch ging es bei der Reform der Sterilisationsgesetzgebung nach 1945 und der Familienplanung für Minderheiten nicht um eine Liberalisierung der Gesetzgebung und Ausweitung des Selbstentscheidungsrechts armer Frauen über ihre Körper. Stattdessen sollten bevölkerungsplanerische Methoden mit einem Fokus auf individuelle Selbstermächtigung und Freiwilligkeit neu verpackt werden.

5. Eine »süße und bittere Frucht zugleich.« Die Anti-Baby-Pille in den 1960er Jahren1

Als Pro Familia auf der Bundesarbeitstagung 1970 die Verschreibungsricht­ linien für hormonelle Verhütungsmittel an Jugendliche diskutierte, meldete sich eine vierzigjährige Mutter aus dem Publikum zu Wort: »Meine siebzehnjährige Tochter erwartet jetzt ein Kind. Unser Hausarzt, den sie gefragt hatte, wie sie an die Anti-Baby-Pille kommt, hat sie einfach aus der Praxis geschmissen. Nun haben wir den Salat.«2 Der Redebeitrag zeigte, dass zwar seit 1961 mit der Anti-Baby-Pille ein zuverlässiges Verhütungsmittel in der Bundesrepublik Deutschland zur Verfügung stand, dessen Zugänglichkeit jedoch von Ärzt*innen streng kontrolliert wurde. Besonders Teenager hatten so keinen Zugang zu sicheren Verhütungsmitteln. Für junge Frauen wie die siebzehnjährige Tochter bedeutete eine ungeplante Schwangerschaft in den meisten Fällen, dass sie die Schule oder eine Ausbildung abbrechen und eine »Mußehe« mit dem Vater des Kindes eingehen würden. Wie Statistiken der Pro Familia zeigten, galt die Mutterschaft im Teenageralter als das größte Risiko für Verarmung. So wurde in Frühehen das zweite Kind schnell nach dem ersten geboren, und es gab eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass die Ehe in Scheidung enden würde.3 Die Siebzehnjährige hatte sich durchaus verantwortungsbewusst verhalten und einen Experten, um Rat gefragt. Jedoch gab es genug Argumente für den Arzt, sich zu weigern, der jungen Frau Informationen über die Pille zukommen zu lassen. Aus rechtlicher Sicht fürchteten Ärzt*innen sich der Kuppelei schuldig zu machen, wenn sie unverheirateten Minderjährigen den Zugang zu Verhütungsmitteln ermöglichten oder ein Pillenrezept ohne Einverständnis der Eltern ausstellten.4 Von einem moralischen Standpunkt her argumentierten Ärzt*innen, der Wegfall der Angst vor der Schwangerschaft würde junge Frauen »promiskuitiv« machen und gesellschaftliche Regeln aushebeln. Aus 1 Harmsen, Hans, Vortragsmanuskript, Nebenwirkungen der verschiedenen Methoden zur Vorbeugung einer Befruchtung oder Schwangerschaft, Vortrag vor dem 32. Kongreß des Zentralverbandes der Ärzte für Naturheilverfahren (12.03.1967, Freudenstadt), in: BArch N 1336/697. 2 Zitiert nach Quoirin, Marianne, Qual der Frauen, in: Frankfurter Rundschau (28.11.1970), in: Pro-Familia-Verbandsarchiv, Ordner »Presse«, S. XII . 3 Vgl. Harmsen, Hans, Bedeutung der Generativen und Regenerativen Funktion der Familie, Manuskript für die Mitglieder der Grundsatzkommission des Wissenschaftlichen Beirats Familienfragen (1971), in: BArch N 1336/428. 4 Der sogenannte Kuppelei-Paragraph, der die Förderung sexueller Handlungen von Minderjährigen unter Strafe stellte, galt noch bis 1973 für alle unverheiratete Paare, seitdem bezieht er sich nur noch auf unter 16-jährige.

Die Anti-Baby-Pille in den 1960er Jahren

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bevölkerungspolitischer Perspektive galt der Zugang zu verlässlicher Verhütung als Ursache für den ab 1967 wahrnehmbaren Geburtenrückgang. Aus medizinischer Sicht befürchteten Ärzt*innen die Hormongabe an junge Frauen könne ihr körperliches Wachstum beeinflussen, besonders, wenn sie noch keinen regelmäßigen Zyklus hatten. Selbst Pro Familia hatte zunächst die Ausgabe der Anti-Baby-Pille nur an verheiratete Frauen mit mindestens drei Kindern empfohlen, da man noch keine Langzeiterfahrung mit der hormonellen Verhütung hatte und Unfruchtbarkeit als Nebenwirkung fürchtete. Auch sollten Frauen nach zwei Jahren Pilleneinnahme eine sogenannte »Pillenpause« einlegen, in der sie mit mechanischen Mitteln verhüten sollten. In den USA wurde die Hormonpille »Enovid« der Firma Searle 1957 als Medikament zur Behandlung von Regelbeschwerden zugelassen, ab 1960 als Verhütungsmittel. Das deutsche Konkurrenzprodukt »Anovlar« der Firma Schering wurde im Juni 1961 auf den westdeutschen Markt eingeführt.5 Die Anti-Baby-Pille stellte dahingehend eine Neuerung dar, als dass sie ein Medikament war, welches gesunden Frauen zur Verhinderung einer Schwangerschaft verschrieben wurde. Sie war das erste auf dem Markt erhältliche Verhütungsmittel, welches die Methode der Geburtenkontrolle vom Geschlechtsakt trennte. Frauen konnten es ohne das Wissen ihres Partners anwenden und waren allein verantwortlich für die Verhinderung einer Schwangerschaft.6 Dieses Kapitel untersucht die Rolle der Pro Familia in der Bereitstellung der Pille und die Debatten um die hormonelle Kontrazeption in den 1960er Jahren. Dabei zeigt es erstmals, wie zentral die Expert*innen der Pro Familia in den Information der westdeutschen Öffentlichkeit über die Verfügbarkeit der Pille und ihre Risiken waren. Zunächst wird dazu die Entwicklungsgeschichte der Pille nachgezeichnet und die gegensätzliche Informationspolitik von Planned Parenthood und Pro Familia über schwerwiegende Nebenwirkungen analysiert. Der zweite Teil untersucht die Markteinführung der Anti-Baby-Pille in Westdeutschland und hinterfragt die strengen Verschreibungspraktiken. Im dritten Teil werden drei zentrale öffentliche Debatte um die Pille untersucht, nämlich die Reaktionen auf die päpstliche Enzyklika Humanae Vitae, die Debatte um den Zusammenhang zwischen der Pille und dem Geburtenrückgang und die Kontroverse um die Verfügbarkeit der Pille für Jugendliche. Historiographische Studien zur Geschichte der Sexualität diskutieren die Frage, inwiefern die Anti-Baby-Pille die sogenannte »sexuelle Revolution« der 5 Schering hatte 1955 von Searle Lizenzen zur Produktion Gestagen-haltiger Medikamente erworben und diese zu dem Präparat Primolut N entwickelt, welches zur Behandlung von Menstruationsstörungen zugelassen wurde und dem man bei durchgängiger dreiwöchiger Einnahme eine ovulationshemmende Wirkung nachwies, sodass es zu einem Verhütungsmittel weiterentwickelt werden konnte. Vgl. Silies, Eva-Maria, Liebe, Lust und Last. Die Pille als weibliche Generationserfahrung in der Bundesrepublik 1960–1980, Göttingen 2010, S. 74–75. 6 Vgl. May, Elaine Tyler, America and the Pill. A History of Promise, Peril and Liberation, New York 2010, S. 57–58.

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1960er Jahre ausgelöst habe. Die Historikerinnen Dagmar Herzog und EvaMaria Silies gehen davon aus, dass die zuverlässige Verhütungsmethode nicht die Ursache für mehr sexuelle Permissivität zum Ende der 1960er Jahre war, aber zur Liberalisierung der Sexualmoral beigetragen habe.7 Jedoch hatten unverheiratete Frauen zunächst kaum Zugang zur Pille und laut Umfragen hätten junge Paare beim ersten Mal entweder gar nicht oder mit Kondom verhütet.8 Dennoch argumentiert die Medizinhistorikerin Lara Marks, dass die Pille das Verständnis sexueller Verfügbarkeit veränderte.9 Mit der Pille wurde der Frauen­körper als sexueller Körper so geformt, dass er allzeit bereit war, männliche Bedürfnisse nach sexueller Befriedigung zu erfüllen, ohne die Konsequenzen einer Schwangerschaft tragen zu müssen.10 Als Margaret Sanger 1932 erstmals ihre Vision eines oralen Verhütungsmittels vorstellte, hatte sie nicht die Schaffung allzeit verfügbarer Frauen­körper im Sinn gehabt, sondern die Befreiung der Frau von der Kooperation des Mannes bei der Schwangerschaftsverhütung.11 Bei den bisher verfügbaren Mitteln war die Frau immer auf Kooperation angewiesen. Der Mann musste das Kondom selbst überziehen oder einen Rückzieher vor der Ejakulation machen, ihre fruchtbaren Tage respektieren oder zumindest den Sex so weit im Voraus planen, dass seine Partnerin ihr Diaphragma einsetzen konnte. Die Pille erlöste die Frau von dieser Form der Abhängigkeit. 1948 hatte Sanger auf der International Conference on Population and the Family in Relation to World Resources in Cheltenham, England, ihre Idee für ein günstiges, leicht einzunehmendes, vom Geschlechtsakt unabhängiges medikamentöses Verhütungsmittel für die Frau vorgestellt.12 Planned Parent­ hood vergab im selben Jahr Fördermittel für zehn Forschungsprogramme zur Findung eines solchen Wundermittels. Unter anderem wurde das Projekt des Biologen Gregory Pincus zur künstlichen Steuerung der hormonellen Reifung von Eizellen gefördert.13 7 Vgl. Herzog, Dagmar, Die Politisierung der Lust. Sexualität in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, München 2005, S. 173; Silies, Liebe, S. 14. 8 Vgl. Siegel Watkins, Elizabeth, On the Pill. A Social History of Oral Contraceptives, 1950–1970, Baltimore 1998, S. 64. 9 Vgl. Marks, Lara, Sexual Chemistry. A History of the Contraceptive Pill, New Haven ²2010, S. 3. 10 Vgl. Roesch, Claudia, »You have to remember to do something to make the pill work.« Hormonelle Verhütung als Körpertechnik zwischen Disziplinierung und Selbstermächtigung, in: Body Politics – Zeitschrift für Körpergeschichte 6 (2018) H. 9, S. 71–94, hier S. 92. 11 Vgl. Siegel Watkins, Pill, S. 14. 12 Vgl. Langenheine, Arthur, Brief an Margaret Sanger (15.03.1949), in: Margaret Sanger Papers, 1900–1960, Microfilmed, Library of Congress, Reel 120; siehe auch Durand-­ Wever, Anne-Marie, Brief an Margaret Sanger (25.11.1961), in: The Margaret Sanger Papers (microfilmed), Sophia Smith Collection, Smith College, Northampton, Mass. Zu mehr Informationen über die Cheltenham-Konferenz, siehe Kapitel 3 dieses Bandes. 13 Vgl. N. N., Memorandum, Ten Research Projects in Human Reproduction (16.07.1948), in: Margaret Sanger Papers, 1900–1960, Microfilmed, Library of Congress, Reel 119.

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Historische Studien zur Entstehungsgeschichte der Anti-Baby-Pille beschreiben diese oft als allein amerikanische Geschichte, wie die Medizinhistorikerin Lara Marks in ihrer transnationalen Studie zur Entwicklung der hormonellen Verhütung in den USA und Großbritannien kritisch anmerkte.14 Westdeutsche Medien dagegen behaupteten in den frühen 1960er Jahren, die deutsche Forschung in der Zwischenkriegszeit habe »international eine führende Rolle in der Hormonforschung« gespielt. Sie bezogen sich dabei auf die Arbeiten des österreichischen Physiologen Ludwig Haberlandt, der schon 1921 die Idee hatte, durch die Gabe von Hormonen eine Schwangerschaft zu verhindern, oder den deutschen Biochemiker Adolf Butenandt, dem es 1935 erstmals gelang, Östrogen zu synthetisieren.15 Gleichzeitig fußte die Entwicklung der hormonellen Ovulationshemmer auf Grundlagenforschung in Schottland, Frankreich, der Schweiz und den USA .16 Der Harvard-Biologe Gregory Pincus selbst hatte eigentlich Behandlungsmöglichkeiten von Unfruchtbarkeit untersuchen wollen, als er Kaninchen die Sexualhormone Progesteron und Östrogen injizierte, um deren Eisprung zu steuern. Er hatte von 1927 bis 1930 drei Jahre an der University of Cambridge in England und dem Kaiser-Wilhelm-Institut für Biologie in Berlin verbracht und dort die europäische Forschung rezipiert.17 Die Herstellung einer synthetischen Form des Hormons Progesteron aus mexikanischen Yams-Pflanzen, welches der Hauptbestandteil der Anti-Baby-Pille ist, gelang erstmals dem Wiener Exilchemiker Carl Djerassi bei dem mexikanischen Pharma-Unternehmen Syntax, für das Pincus als Berater tätig war.18 Zusätzlich zu der finanzellen Unterstützung durch Planned Parenthood stammte der Großteil der Forschungsgelder für das Projekt von Pincus aus einer privaten, zunächst anonymen Spende der Biologin, Milliardärserbin und Freundin Margaret Sangers, Katherine McCormick. McCormick wird im Großteil der Literatur einzig als Mäzenin und Wohltäterin beschrieben, spielte aber aufgrund ihres Biologiestudiums eine große Rolle in der Planung und Durchführung der Medikamententests.19 Neben McCormick und Pincus bestand das Kernteam der Entwickler aus Djerassi (dem Haberlandts Forschungen aus 14 Vgl. Marks, Chemistry, S. 2. 15 Haberlandt versuchte zunächst die Hormongabe durch Placenta- oder Eierstockimplantate und verhandelte mit deutschen Pharmaunternehmen, unter anderem der IG Farben, über die Produktion eines solchen Verhütungsmittels. Als diese sich aufgrund mora­ lischer Bedenken zurückzogen, schloss Haberlandt einen Vertrag mit dem ungarischen Unternehmen Gideon Richter, welches schon 1930 ein erstes Patent anmeldete und 1934 erste Patiententests durchführte. Erst 1966 wurde in Ungarn eine Pille erhältlich, die wahrscheinlich auf Haberlandts Patent basierte, vgl. Marks, Chemistry, S. 47–48. 16 Vgl. Ebd., S. 44–45. 17 Vgl. Silies, Liebe, S. 67 und 69. 18 Vgl. Ebd., S. 55. 19 Katherine McCormick (1875–1967) war eine der ersten Frauen, die einen Abschluss am Massachusetts Institute of Technology (MIT) erwarb, und aufgrund ihres Biologiestudiums eine aktivere Rolle in der Entwicklung der Anti-Baby-Pille einnahm, als die Forschung ihr bisher zugebilligt hat, vgl. Marks, Chemistry, S. 53.

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den 1920er Jahren bekannt waren), dem katholischen Gynäkologen John Rock, sowie der auf Puerto Rico lebenden Ärztin Edris Rice-Wray, die seit 1956 die Medikamententests vor Ort überwachte. Erste Testreihen führten Pincus und Rock mit ungewollt kinderlosen Patientinnen, Krankenschwestern und Psychiatrieinsassinnen im Großraum Boston unter dem Vorwand durch, an ihnen ein Medikament zur Behandlung von Unfruchtbarkeit zu testen.20 Die strenge Gesetze im Bundesstaat Massachusetts verboten eine Testreihe für ein Medikament speziell zur Empfängnisverhütung, sodass die großflächigen Tests, die letztendlich zur Marktzulassung der Pille führten, auf Puerto Rico durchgeführt wurden.21 Zeitgenössische Presseberichte haben die Wahl von Puerto Rico so erklärt, dass die Überbevölkerung, die schlechte medizinische Versorgung und der Mangel an guter Schulbildung die Ursachen für die Armut der Insel waren, weshalb es dort großen Bedarf an einer rationalen Bevölkerungsplanung gäbe.22 Diese Interpretation wurde von der puerto-ricanischen Bürgerrechtsbewegung und der neuen Frauenbewegung aufgenommen, welche die Medikamententests dahingehend kritisierten, dass sie aufgrund eugenischer und bevölkerungspolitischer Motivationen nichtweiße Frauen in einem kolonialen Kontext zu Versuchskaninchen machten, ohne sie über mögliche Risiken der Hormoneinnahme aufzuklären.23 Frauenkörper wurden so zu Versuchsobjekten kolonialer, rassistischer und kapitalistischer Ordnungsvorstellungen. Jedoch argumentiert die Medizinhistorikerin Lara Marks, die Wahl sei eher aus pragmatischen Gründen auf Puerto Rico gefallen, da die Insel von Massachusetts leicht erreichbar war, es dort ein Netzwerk aus Familienplanungskliniken gab und die puerto-ricanischen Ärzt*innen in den USA ausgebildet waren, sodass sie den Vorgaben der Forscher*innen für die Durchführung der Medikamententests folgen konnten.24 Auch gab es in Rio Piedras, dem Vorort der Hauptstadt San Juan, in dem die ersten Testreihen durchgeführt wurden, Frauen mit großer Kinderzahl, die eine große Motivation hatten, ihre Familiengröße dauerhaft zu begrenzen. Dennoch ergaben sich die Standortvorteile für Puerto Rico aus der kolonialen Situation. Puerto Rico war der erste Ort in Lateinamerika, in dem die Familienplanung fußfassen und sich ein Netzwerk 20 Rock ging in seinem Forschungsansatz davon aus, dass man Unfruchtbarkeit dadurch heilen könne, dass man durch hormonelle Unterdrückung der Eizellenreifung den Eierstöcken eine Pause zur Regeneration gönnte. Vgl. Silies, Liebe, S. 69. 21 Vgl. Siegel Watkins, Pill, S. 31. Weitere kleinere Testreihen fanden auf Haiti, in Israel und Japan, später auch in Los Angeles und San Antonio statt, vgl. Marks, Chemistry, S. 103. 22 Vgl. Holstenburg, Werner / Durand-Wever, Anne-Marie, Eine Pille reguliert die Fruchtbarkeit, in: stern 14 (25.06.1961) H. 26, S. 52–57, hier S. 56; siehe auch Harmsen, Hans, Entwicklungstendenzen der Bevölkerung der Erde, in: Mitteilungsblatt der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen 31 (Oktober 1960), S. 12–14, hier S. 14. 23 Vgl. N. N., Puerto Rican Young Lords Position Paper on Women (1970), zitiert aus Weiss, Penny E. (Hg.), Feminist Manifestos. A Global Documentary Reader, New York 2018, S. 231–235, hier S. 234; siehe hierzu auch Kapitel 4 dieses Bandes. 24 Vgl. Marks, Chemistry, S. 101.

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an Kliniken etablieren konnte, auf die die flächendeckenden Sterilisationskampagnen der örtlichen Familienplanungsorganisation seit den 1930er Jahren zurückgingen.25 Auch hätten sich ähnliche Bedingungen in den USA finden lassen können. So zeigt sich, dass bei der Auswahl des Standorts Puerto Rico die geopolitischen Argumente mit den pragmatischen Erwägungen miteinander verflochten waren. Im Gegensatz zu der Literatur der Frauenbewegung und der puerto-ricanischen Bürgerrechtsbewegung betonen Medizinhistoriker*innen, dass die Entwickler*innen der Anti-Baby-Pille durchaus Bedenken wegen Nebenwirkungen und auch das Wohl der Frauen im Sinn hatten.26 Es gab aber in den späten 1950er Jahren nur geringe Vorschriften der amerikanischen Food and Drug Administration (FDA), was die Voraussetzungen für die Genehmigung und Markteinführung von Medikamenten anging, sodass der Vorwurf, man habe die Pille zu früh und ohne langfristige Testerfahrung auf den Markt gebracht, so nicht haltbar sei.27 Das Risiko, eine Thrombose oder tödliche Lungenembolie auszulösen, ist bis heute die gravierendste Nebenwirkung der Pille. Medizinisch gesehen führt das Schwangerschaftshormon Progesteron, welches in synthetischer Form der Hauptbestandteil der Pille ist, zu einer Erhöhung des Blutfettgehalts. Dies erhöht das Risiko einer Verklumpung des Bluts in den Beinen (Thrombose), der Lunge (Embolie) oder im Gehirn (Schlaganfall). Dieses Problem konnte auch bei neueren Generationen der Pille nicht gelöst werden. Jedoch besteht auch während einer Schwangerschaft oder nach der Geburt ein erhöhtes Risiko an einer Thrombose zu erkranken. Diese Nebenwirkung war dem Entwicklerteam zu Beginn der ersten Medikamententests nicht bekannt, da es bis dahin keine Untersuchungen zur statistischen Häufigkeit von Thrombosen unter Frauen im gebärfähigen Alter gab. Die Ärzt*innen waren stattdessen wegen eines vermeidlichen Krebsrisikos beunruhigt, da man wusste, dass das Hormon Östrogen im Zusammenhang mit Brustkrebserkrankungen stand. Außerdem sorgte man sich um potentielle Langzeitfolgen wie Unfruchtbarkeit oder eine Schädigung von Kindern, die Frauen nach dem Absetzen der Pille gebaren. Weniger schädliche Nebenwirkungen wie Kopfschmerzen, Übelkeit oder Zwischenblutungen 25 Die Sterilisationskampagnen wurden von puerto-ricanischen Familienplanungsorganisation mit Unterstützung lokaler Feministinnen, des Inselgouverneuers und des amerikanischen Gesundheitsministeriums durchgeführt, später sponsorte auch Planned Parenthood die Kampagnen. Feministinnen der 1960er und 1970er Jahre übersahen die lokalen Unterstützer*innen der Kampagnen und interpretierten diese als Resultat eines »social control apparatus« bestehend aus US Militär, der Bundeseregierung und privaten Unternehmen, vgl. Briggs, Laura, Reproducing Empire. Race, Sex, Science and US Imperialism in Puerto Rico, Berkeley 2002, S. 144. 26 Vgl. Marks, Chemistry, S. XVII . 27 Vgl. White Junod, Suzanne / Marks, Lara, Women’s Trials. The Approval of the First Oral Contraceptive Pill in the United States and Great Britain, in: Journal of the History of Medicine and Allied Sciences 57 (2002) H. 2, S. 117–160, hier S. 146.

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wurden von Ärzt*innen als vergleichbar mit Symptomen einer frühen Schwangerschaft interpretiert, deren Hormonhaushalt die Pille imitierte. Physische und psychische Nebenwirkungen wie Depressionen oder geringere Libido wurden teilweise als Einbildung der Patientinnen oder als psychosomatische Symptome abgetan.28 Während der Medikamententests auf Puerto Rico stellte sich heraus, dass ein verringerter Östrogengehalt die bis dahin dokumentierten Nebenwirkungen abschwächte, so dass das 1960 auf den amerikanischen Markt zugelassene Präparat geringer dosiert war als die Pille, die auf Puerto Rico drei Jahre lang getestet wurde.29 Der erste dokumentierte Fall einer Lungenembolie bei einer Pillennutzerin ereignete sich Ende 1961 in Großbritannien.30 Anfang 1962 starben zwei Teilnehmerinnen einer Testreihe der Planned-Parenthood-Beratungsstelle in Hollywood / Los Angeles an Lungenembolien.31 Innerhalb der Planned-ParenthoodBundesgeschäftsstelle zeigten sich Vizepräsident Alan F. Guttmacher und die Vorsitzende des medizinischen Komitees Mary S. Calderone 1962 besorgt über die dokumentierten Fälle.32 Es gab jedoch zu dem Zeitpunkt kein statistisch valides Wissen darüber, inwiefern Teilnehmerinnen der Versuchsreihen einem höheren Thromboserisiko ausgesetzt waren.33 Dennoch begannen die Planned-Parenthood-Vorsitzenden Listen aller bis dahin dokumentierten Fälle zu erstellen.34 Zwischen 1962 und 1968 sammelten Planned-Parenthood-Beratungstellen sowie eine vom englischen Parlament eingesetzte Untersuchungskommission Daten, die einen tatsächlichen statistischen Zusammenhang zwischen der Einnahme der Pille und einem erhöhten Thromboserisiko belegten.35 Dieses Wissen über gehäufte Fallzahlen von potentiell lebensgefährlichen Nebenwirkungen gaben die Mitglieder des Planned-Parenthood-Vorstands jedoch nicht an Patientinnen weiter. Stattdessen behaupteten Planned-Parenthood-Broschüren bis 1968, dass die Anti-Baby-Pille ein hundertprozentig sicheres Verhütungsmittel sei, das nur leichte Nebenwirkungen habe, die sich meist innerhalb der ersten drei Monate der Einnahme legen würden.36 Paternalistisch denkende 28 29 30 31 32 33 34 35 36

Vgl. Silies, Liebe, S. 70–71. Vgl. Marks, Chemistry, S. 114. Vgl. Ebd., S. 138. Vgl. White Junod / Marks, Approval, S. 153–154. Vgl. Calderone, Mary S., Brief an Alan F. Guttmacher (09.08.1962), in: PPFA Records II , Box 32. Vgl. Marks, Chemistry, S. 141. Vgl. Berman, Edel (Searle Division of Clinical Research), Report on the Fatalities in Women taking Enovid, Anhang an Brief an Mary S. Calderone (01.11.1962), in: PPFA Records II , Box 32. Siehe Langmyhr, George (Planned Parenthood Medical Department), Memorandum, Developments on the Oral Contraceptives (22.12.1969), in: PPFA Records II , Box 39. Siehe zum Beispiel die Broschüre »Methods of Contraception in the United States«. Die Fassung von 1966 behauptet, die Nebenwirkungen der Pille seien nicht schwerwiegend

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Ärzt*innen fürchteten, dass Frauen fragile Wesen seien, die, wenn sie zu viele Informationen über mögliche Nebenwirkungen erhielten, diese auch auto­ suggestiv spüren würden. Damit sie nicht aus Panik die Pille absetzten, sollten sie möglichst wenig Wissen über potentielle Risiken des neuen Verhütungsmittels haben. Die Informationsbroschüren des Pharmaherstellers Searle für die erste Generation der hormonellen Verhütung illustriert diese Denkart auf anschauliche Weise. So umfasste die Informationsbroschüre für verschreibende Ärzt*innen 36 Seiten und listete alle bis dahin bekannten möglichen Nebenwirkungen auf. Auf dem Cover stand jedoch die Warnung, dass die Broschüre »for the medical profession only« sei.37 Im Gegensatz dazu war das Informationsblatt für Patientinnen ein ca. DIN A6 großes doppelseitig bedrucktes Blättchen, welches in einfacher Sprache die Grundlagen der Wirkweise der Pille beschrieb: The tablets which have been prescribed for you contain synthetic hormons which closely imitate the actions of some of your own glands. They are entirely safe when taken as directed and will prevent your ovaries from producing ova (egg cells), while you are taking the tablets.38

Es ist bemerkenswert, dass sich hier noch nicht der Begriff »pill« durchgesetzt hatte, und auch, dass, die empfängnisverhütende Wirkung des Medikaments nicht explizit erwähnt wurde. Die einzigen Nebenwirkungen, die in dem kurzen Informationstext genannt wurden, waren Zwischenblutungen, die bei unregelmäßiger Einnahme der Pille auftreten würden. Da laut dieser Darstellung Nebenwirkungen nur bei fehlerhafter Anwendung des Medikamentes auftraten, wurde hier letztendlich den Frauen selbst die Schuld dafür gegeben. Dadurch dass Planned Parenthood die Pille als hundertprozentig sicheres und zuverlässiges Verhütungsmittel anpries, wurde sie bis 1964 zum beliebtesten Verhütungsmittel der Planned-Parenthood-Beratungsstellen in den USA .39 Der Planned-Parenthood-Vorsitzende Alan F.  Guttmacher erklärte noch 1970 bei einer Anhörung des amerikanischen Senats die weitreichende Verschreibungspraxis trotz der bekanntwerdenden Risiken damit, dass die Pille mehr Leben und würden nach vier Zyklen verschwinden. In der Fassung von 1968 wird erstmals auf britische Studien zum Zusammenhang zwischen der Pille und Thrombosen verwiesen, vgl. N. N., Methods of Contraception in the United States (1966, 1968), in: PPFA II Records, Box 96.49. 37 N. N., Searle Enovid, Physicians’ Product Brochure No. 67 (1960), in: PPFA Records II , Box 32. 38 N. N., To the Patient (1960), in: PPFA Records II , Box 32. 39 Vgl. N. N., Planned Parenthood Annual Report 1964, in: PPFA II Records, Box 101.9; laut einer von der IPPF angefertigten Studie, war 1965 die Pille mit 24 Prozent das bevorzugte Verhütungsmittel unter weißen Frauen, an zweiter Stelle folgte das Kondom mit 18 Prozent, nicht-weiße oder unverheiratete Frauen wurden nicht befragt, vgl. Westoff, Charles F., United States Methods of Fertility Control, 1955, 1960, 1965, in: Studies in Family Planning 17 (Februar 1967), S. 1–5, hier S. 3; siehe auch Siegel Watkins, Pill, S. 34.

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gerettet, als tödliche Embolien ausgelöst habe.40 Seine Risikoeinschätzung bezog sich darauf, dass die Vorteile der Pille für die Begrenzung des globalen Bevölkerungswachstums die Nebenwirkungen für die einzelne Frau übertrafen und deshalb die weitreichende Verschreibungspraxis rechtfertigten. Jedoch bedurfte das Management der Risiken eine regelmäßige ärztliche Kontrolle und Verschreibungspflicht. Auch war das Präparat in den USA vergleichsweise teuer. Eine Monatspackung »Enovid« kostete in den USA $ 10 und auf Puerto Rico $ 2,50, im Vergleich dazu kostete eine Monatspackung »Anovlar« in der Bundesrepublik 8,60 DM , nach damaligem Wechselkurs umgerechnet $ 2,25.41 Aufgrund des Preises wurde die Pille letztendlich nicht zum Verhütungsmittel für arme, nichtweiße Frauen, sondern vor allem für Frauen der urbanen und suburbanen Mittelschicht, die auf eine gute ärztliche Infrastruktur zurückgreifen konnten.42 Letztendlich waren es nicht die Entwickler der hormonellen Verhütung oder die amerikanische Zulassungsbehörde FDA , die fahrlässig gehandelt hatten, sondern der Planned-Parenthood-Vorstand, der nach dem Auftreten der ersten Thrombosefälle entschieden hatte, dass die Vorteile der Pille für die Allgemeinheit gegenüber den Risiken für individuelle Frauen überwogen. Indem sie den Frauen wichtige Informationen über Risiken vorenthielten, entschieden sie für ihre Patientinnen, ob sie das Risiko eingehen wollten oder nicht. Auch zeigt sich, dass in der Entwicklung der Anti-Baby-Pille unterschiedliche Interessen aufeinandertrafen. Sanger und McCormick, die Mütter der Pille, hatten ursprünglich nach einer Methode gesucht, die es Frauen erlaubte, ihre Fruchtbarkeit unabhängig von ihren Sexualpartnern zu bestimmen. Pincus, Rock und Djerassi, die selbsternannten Väter der Pille, suchten nach einer technologischen Möglichkeit menschliche Fruchtbarkeit zu regulieren und so auch Unfruchtbarkeit zu heilen.43 Für die puerto-ricanischen Studienteilnehmerinnen bot die Pille eine Möglichkeit, ihre Familiengröße zu begrenzen, ohne auf Sterilisationen zurückgreifen zu müssen, während für Ärzt*innen und Pharma-Unternehmen die Pille eine Geschäftsoption bedeutete, da nun gesunde Frauen zu regelmäßig wiederkehrenden Patientinnen wurden. Die Führungselite von Planned Parenthood ging von bevölkerungspolitischen Motiven aus, als sie die Pille in den Beratungsstellen anpries. Zudem bestimmte Millionen Frauen aktiv die Nachfrage nach dem neuen Präparat. Dabei gaben sie sich jedoch in eine neue Abhän­

40 Vgl. Guttmacher, Alan F., A Prophylaxis against a Serious Disease, in: Guttmacher, Alan F. u. a. (Hg.), The Pill. Its Benefits and Risks. Abridged Testimony before the US Senate (1970), in: PPFA Records II , Box 97.28; die so genannten Nelson Hearings werden in Kapitel 6 dieser Arbeit noch genau diskutiert. 41 N. N., Knaus und Ogino entdecken die »sicheren Tage«, in: stern 14 (02.07.1961) H. 27, S. 56–61, hier S. 57. 42 Vgl. Siegel Watkins, Pill, S. 135; Solinger, Rickie, Pregnancy and Power. A Short History of Reproductive Politics in America, New York 2005, S. 170–171. 43 Zu den Mütter- und Väter-Metaphern der Pillen Erfinder, siehe May, America, S. 14.

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gigkeit von Ärzt*innen, die sie über Risiken aufklären sollten und in ihrer Funktion als Rezeptaussteller zu den letztendlichen Entscheidern darüber wurden, ob und wie eine Frau verhüten sollte.

Vorsicht ist die Mutter der Sexualberatungsstelle – die Anti-Baby-Pille in der Bundesrepublik Auf Seiten der westdeutschen Pro Familia verfolgte Anne-Marie Durand-Wever die Medikamententests auf Puerto Rico, seit sie auf der Konferenz in Chelten­ ham mit Margaret Sanger über die Entwicklungsmöglichkeiten eines medika­ mentösen Verhütungsmittels debattiert hatte.44 1959 informierte sie im »Ber­liner Ärzteblatt« erstmals die deutsche Fachöffentlichkeit über den Entwicklungsstand der Pille: Die Wunderpille, die in vielen Kreisen als das ideale empfängnisverhütende Mittel betrachtet wird, ist erst im Kommen. […] Die Versuche, die in Porto [sic] Rico mit Progesteron-Präparaten durchgeführt worden sind, haben keine Mißbildungen verursacht […] Aber hierüber sind die Akten noch nicht geschlossen, und wir werden frühestens in 10 Jahren darüber berichten können. Inzwischen aber kann der Arzt unbedenklich die gebräuchlichen vaginalen chemischen Verhütungsmittel in indizierten Fällen verordnen.45

Durand-Wever ging hier (ähnlich wie übrigens auch Pincus) davon aus, dass bis zu einer flächendeckenden Markteinführung der hormonellen Verhütung noch etliche Jahre vergehen würden. Sie machte sich die größten Sorgen um mögliche Missbildungen von Säuglingen, deren Mütter vor der Schwangerschaft hormonell verhütet hatten. Damit rückte sie nicht mögliche Risiken für die individuelle Patientin, sondern für ihr potentielles Kind in den Vordergrund. Dies unterstrich, dass die hormonelle Verhütung aus ihrer Sicht nicht zur Verhinderung von Mutterschaft, sondern zur kurzfristigen Verschiebung einer Schwangerschaft dienen sollte. Auch wurde so dem zukünftigen Kind und dessen Sicherheit mehr Wert beigemessen als der Mutter. Die Bezüge zu Missbildungen sind der allgemeinen These von Durand-Wevers Artikel geschuldet, dass Verhütungsmittel an sich nicht zu Missbildungen führten. Dies bezog sich auf die Besorgnis innerhalb der deutschen Ärzteschaft wegen des Anstiegs von Kindern, die mit deformierten Gliedmaßen geboren wurden. Der Bayreuther Kinderarzt Karl Beck hatte dies 1958 zum ersten Mal dokumentiert und 44 Durand-Wever, Anne-Marie, Brief an Margaret Sanger (25.11.1961), in: The Margaret Sanger Papers (microfilmed), Sophia Smith Collection, Smith College, Northampton, Mass. 45 Durand-Wever, Anne-Marie, Empfängnisverhütung nicht Ursache von Mißbildungen, in: Ärztliche Mitteilungen – Deutsches Ärzteblatt 44 (26.09.1959) H. 35, S. 1230–1232, Nachdruck, hier S. 7.

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fälschlicherweise auf amerikanische Atomtests zurückgeführt. Tatsächlich war das Schmerzmittel Thalidomide (Markenname Contergan), welches 1957 auf dem westdeutschen Markt eingeführt wurde, die Ursache der erhöhten Anzahl an Fehlbildungen bei Neugeborenen. Diese Ursachenkette sollte aber erst 1961/1962 nachgewiesen werden.46 Im Kontext der Sorge um die Ursachen für Fehlbildungen ist auch die Rezeptpflicht für chininhaltige Spermizide (etwa Patentex) seit 1966 zu verstehen, da man sich sorgte, dass Chinin erbgutschädigend sein könnte.47 Das Argument, dass Verhütungsmittel erbgutschädigend seien, hatte der NS -belastete Humangenetiker Hans Nachtsheim aufgebracht. Er schlussfolgerte, dass »die kinderreichsten Familien in Kulturstaaten die größte Gefahr für die Verschlechterung des menschlichen Erbguts« seien, da Familien mit weniger Kindern einen höheren Bildungsgrad hätten und Kinder aus Großfamilien eher auf Hilfsschulen gingen.48 So tauchte eugenisches Denken in den Debatten um Verhütungsmittel in den 1960er Jahren wieder auf. Auch zeigt die vorsichtige Berichterstattung von Durand-Wever, dass anders als in den USA Pro Familia die Pille nicht optimistisch als Heilsversprechen gegen globales Bevölkerungswachstum anpries, sondern mit großer Vorsicht die Entwicklungsschritte beäugte und Risiken sowie potentielle Nebenwirkungen von Anfang an auch öffentlich diskutierte. Die Historikerin Eva-Maria Silies berichtet in ihrer Studie zur Anti-Baby-Pille als generationelle Erfahrung, dass der Pharmahersteller Schering zur Markt­ einführung des Produktes »Anovlar« zum 1. Juni 1961 kein Marketing betrieb.49 Die Öffentlichkeit wurde erst durch die Berichterstattung in der Illustrierten »stern« über die Erhältlichkeit der neuen Verhütungsmethode informiert. Auch hier war wieder Anne-Marie Durand-Wever federführend, die in der schon im vorherigen Kapitel genannten »stern«-Serie als die Frau beschrieben wurde, die in Deutschland am meisten über die Pille wusste.50 Nachdem in der sechsten und achten Folge der »stern«-Serie angekündigt wurde, dass in den USA und Großbritannien eine »Schluck-Methode« zur Verhütung erhältlich sei, die die einzige Lösung zur »Bevölkerungsbegrenzung in Asien« darstelle, beschäftigten

46 Vgl. Thoman, Klaus-Dieter, Die trügerische Sicherheit der harten Daten, in: Deutsches Ärzteblatt 104 (12.10.2007), H. 41, S. 2778–2782, hier S. 2778–2779, https://www.aerzteblatt. de/archiv/57224/Die-Contergan-Katastrophe-Die-truegerische-Sicherheit-der-hartenDaten, letzter Zugriff: 02.05.2021; zum Zusammenhang zwischen dem Contergan-Skandal und der Zulassung der Anti-Baby-Pille, siehe auch White Junod / Marks, Approval, S. 154. 47 Siehe hierzu den Protestbrief von Hans Harmsen gegen die Rezeptpflicht, Harmsen, Hans, Brief an das Bundesgesundheitsministerium (03.11.1966), in: BArch N 1336/380. 48 Nachtsheim, Hans, Abgedruckter Leserbrief, in: Die Welt (24.11.1967), in: BArch N 1336/205. 49 Vgl. Silies, Liebe, S. 74. 50 Vgl. Holstenburg / Durand-Wever, Pille, S. 52.

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sich die neunte und zehnte Folge der Serie eingehend mit der Markteinführung des neuartigen Medikaments in Deutschland.51 In der neunten Folge wurde ausführlich über die Entstehungsgeschichte der hormonellen Verhütung und die Medikamententests auf Puerto Rico berichtet. Durand-Wever sprach sich für eine Rezeptpflicht der Pille aus, damit mit ihr »kein Missbrauch betrieben« werden könne. Auch sollte die Pille anders als Kondome oder Spermizide nicht an Automaten erhältlich sein, da sie sonst die Promiskuität fördere.52 Dies impliziert, dass nicht gesundheitliche Risiken für die Patientinnen, sondern moralische Bedenken im Vordergrund ihrer Forderung nach einer Restriktion des Zugangs standen. Als potentielle Nebenwirkungen wurden Unfruchtbarkeit bei Langzeitanwendung, über die man erst in zwanzig Jahren Bescheid wisse, und »Gefühlskälte« bei Frauen genannt. Damit war sicherlich die häufig beobachtete Senkung der weiblichen Libido gemeint, was ironischerweise konträr zur Befürchtung einer gesteigerten »Promiskuität« junger Frauen steht.53 Zwar nutzte die »stern«-Redaktion die Anspielung einer möglichen Krebsgefahr als Aufhänger für die nächste Ausgabe der Zeitschrift. Dort hieß es aber, dass seit den Medikamententests die Fälle von Gebärmutterhalskrebs unter Puerto-Ricanerinnen gesunken seien, weshalb der Artikel euphorisch fragte »Konnte das bedeuten, daß Dr. Pincus ohne es zu ahnen, geschweige denn es zu wollen, ein Mittel gegen den Krebs gefunden hatte?«54 Diese Spekulation entsprach natürlich nicht dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis und sollte sich auch in den nächsten Jahren nicht bewahrheiten. Im Gegenteil, schon in Folge 19 der »stern«-Serie mutmaßten die Autoren, ob die Pille krebserregend sei.55 Folge zehn berichtete ausführlich über die Medikamententests von Schering, die man in Australien und Neuseeland durchgeführt habe, da dort die Bedingungen vergleichbarer mit der Bundesrepublik seien als in Puerto Rico. Das spielte implizit auf die ethnische Zugehörigkeit der Studienteilnehmerinnen an.56 Auch betonten die Autor*innen, dass die Gefahren der Pille »nicht physio­ logischer Natur« seien. Stattdessen berichteten sie anekdotisch aus den USA und England, wo schon 17-jährige »Kinder« die Pille verlangen würden, und so die Frage diskutiert, ob das Vorhandensein der Pille Teenager »promiskuitiv«

51 Siehe Holstenburg, Werner, Unwissenheit führt ins Verhängnis, in: stern 14 (18.06.1961) H. 25, S. 64–71, hier S. 64; siehe auch Holstenburg, Werner, Die Sexuelle Wirklichkeit und das Gesetz, in: stern 14 (04.06.1961) H. 23, S. 34–40. 52 Der Begriff »Promiskuität« muss hier als relative Bewertung betrachtet werden, meist war damit die sexuelle Aktivität von jungen Frauen im Teenageralter und vor der Ehe gemeint, nicht unbedingt eine große Anzahl wechselnder Liebhaber, vgl. Holstenburg / DurandWever, Pille, S. 52. 53 Ebd., S. 57. 54 Vgl. Ebd., siehe auch N. N., Knaus und Ogino, S. 56. 55 Siehe Pelzer, A., Die Unfruchtbare Ehe, in: stern 14 (03.09.1961) H. 35, S. 70–75, hier S. 72. 56 Vgl. Ebd., siehe auch N. N., Knaus und Ogino, S. 57.

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Die Anti-Baby-Pille in den 1960er Jahren

mache.57 Anne-Marie Durand-Wever forderte diesmal, dass die Pille nur in der Ehe, nicht aber das gesamte Eheleben hindurch genommen werden solle, sondern nur kurzfristig in der Stillzeit, bei längeren Fernreisen, kurz vor den Wechseljahren oder bei Vorerkrankungen wie Tuberkulose.58 Interessanterweise galten seit dem Bekanntwerden der schwerwiegenden Nebenwirkungen, Vorerkrankungen und das Alter über 35 als Gegenindikationen gegen die Pille. Auch steigerten längere Flugreisen die Gefahr einer Thrombose und Pillen mit Östrogen wurden in der Stillzeit nicht mehr empfohlen. Die von Durand-Wever genannten Bedingungen lassen sich auch nicht aus rein moralischen Bedenken ableiten. Stattdessen bildete die Sorge um Unfruchtbarkeit bei langfristiger Einnahme die Grundlage der Empfehlungen. So sollten nur Frauen, die ihre Fortpflanzung abgeschlossen hatten oder aufgrund medizinischer Indikationen nicht mehr Mütter werden sollten, langfristig in den Genuss des zuverlässigen Verhütungsmittels kommen. Frauen wurden hier vor allem als potentielle Mütter gesehen und die Pille barg das Risiko, dass die Familienplanung entweder gewollt oder ungewollt den Frauen eine Möglichkeit bot, die Mutterschaft zu umgehen. Sorgen um die Gesundheit von Frauen, die langfristig die Pille nahmen, nachdem sie schon mehrere Kinder geboren hatte, schien es nicht zu geben. Aufgrund der Bedenken um Unfruchtbarkeit bei langfristiger Einnahme entstand die Praxis der »Pillenpause«. Die Berliner Pro-Familia-Ärztin Ilse Brandt argumentierte in einer Informationsbroschüre von 1965, dass aufgrund des mangelnden Wissens über Langzeitnebenwirkungen Frauen die Pille nicht länger als zwei Jahre durchnehmen sollten.59 So wurde die »Pillenpause« nach zweijähriger Einnahme eine gängige Verschreibungspraxis in den 1960er und 1970er Jahren. In den USA gab es diese Empfehlung nicht. Erst im Zuge der Debatte um die Legalisierung der Abtreibung meldeten sich immer mehr Frauen zu Wort, die auf Anraten ihres Arztes eine Pillenpause eingelegt hatten. Sie hatten dann mit weniger sicheren Methoden wie der Rhythmus-Methode oder Patentex verhütet, waren ungeplant schwanger geworden und forderten nun das Recht auf eine legale Abtreibung.60 Heutzutage gibt es diese Empfehlung nicht mehr, da sich bei Beginn der Wiedereinnehmen der Pille das Thromboserisiko wieder erhöht.61

57 Vgl. Ebd., S. 58. 58 Vgl. Ebd., S. 60. 59 Vgl. N. N., Tagungsbericht: Symposion der Pro Familia in Berlin: Die Antikonzeption – in Deutschland noch ein Stiefkind, in: PRO FAMILIA Mitteilungen (Mai 1965), S. 21–31, hier S. 27. 60 Vgl. König, Uta, Sicher nicht so sicher wie die Pille, Zeitungsausschnitt stern (undatiert, ca. 1977), S. 183–184, in: BArch N 1336/602. 61 Die Gefahr an einer Thrombose zu erkranken sinkt nach einen Jahr regelmäßiger Pilleneinnahme, steigt aber wieder auf das urpüngliche Niveau der ersten Einnahme, wenn man die Einnahme absetzt und kurze Zeit später wieder beginnt, vgl. https://www. zavamed.com/de/pille-thrombose.html, letzter Zugriff: 17.07.2020.

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Anders als Planned Parenthood verschwieg Pro Familia in seinen Publika­ tionen potentielle Risiken der Pille nicht. So warnte die Vereinszeitschrift »Die Neue Familie« schon 1962 in einer Sonderbeilage vor einem erhöhten Thromboserisiko durch die hormonelle Verhütung.62 Die Bedenken der Pro-FamiliaÄrzt*innen gegenüber der Verschreibung der Pille lassen sich teilweise aus dem Contergan-Skandal erklären, welcher in den Jahren 1961/1962, also genau zur Markteinführung der Schering-Pille, in seinem gesamten Ausmaß bekannt wurde. In den USA hingegen war Contergan noch nicht offiziell zugelassen und die Markteinführung der Pille ereignete sich vor Bekanntwerden der Zusammenhänge zwischen Medikamenteneinnahme und Fehlbildungen. Aufgrund dieser Erfahrungen ist anzunehmen, dass auch Pro-Familia-Beratungsstellen eher vorsichtig agierten. Durand-Wever schrieb zwar im November 1961 an Sanger, dass die deutsche Pille von Schering weniger Nebenwirkungen habe als das von Pincus entwickelte amerikanische Produkt.63 Dennoch waren die Ärzt*innen in den Beratungsstellen zurückhaltend in der Verschreibung. So berichtete der Jahresbericht 1962 der Beratungsstelle Kassel, dass sich die dort tätige Ärztin Ilse Besenecker weigerte, die Pille zu verschreiben.64 Diese Weigerung lässt sich zum einen aus den medizinischen Bedenken erklären, zum anderen aber auch aus dem restriktiven gesellschaftlichen Klima. Die Beratungsstelle hatte 1962 erstmals von der Stadt Kassel öffentliche Fördergelder von 500 DM erhalten und konnte so von den Zuwendungen der IPPF und deren bevölkerungspolitischen Kurs unabhängig werden.65 Aufgrund des Erhalts öffentlicher Gelder musste Pro Familia jedoch über dem Verdacht stehen, jungen Frauen zur Promiskuität zur verhelfen oder sie bei der Vermeidung der Mutterschaft zu unterstützen. Deshalb unterstützen Pro-Familia-Mitarbeiter*innen zunächst öffentlich das enge normative Korsett der Vergabepraxis nur an verheiratete Mütter, womit sie Ärzt*innen nicht nur zu einer medizinischen, sondern auch einer moralischen Kontrollinstanz machten und das ärztliche Urteil über den Wunsch von Patientinnen stellten. Diese Denkweise erklärte Heinz Kirchhoff, der Direktor der Universitätsfrauenklinik Göttingen und Pro-Familia-Vorstandsmitglied, in einem Inter62 Die Beilage war ein Abdruck einer Kurzmeldung der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 05.08.1962, wonach 26 Fälle von Frauen, die nach der Pilleneinnahme an Thrombo­ sen erkrankt seien, bekannt sind. Dies wurde mit dem Kommentar versehen, dass dieser Zusammenhang nicht überrascht, da bei einer richtigen Schwangerschaft das Thromboserisiko auch steigt und die Pille eine »Scheinschwangerschaft« hervorruft, vgl. N. N., Beilage: Btr. Geburtenkontrolle, in: Die Neue Familie 11 (November 1962), ohne Seitenangaben. 63 Durand-Wever, Anne-Marie, Brief an Margaret Sanger (25.11.1961), in: The Margaret Sanger Papers (microfilmed), Sophia Smith Collection, Smith College, Northampton, Mass. 64 Vgl. Völker (ehem. Léderer), Ilse, Jahresbericht Kassel 1962, in: Pro-Familia-Verbandsarchiv, Ordner »Geschichte Pro Familie: Dokumente.« 65 Vgl. Ebd.

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view mit dem Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« im Februar 1964. Er sprach sich ähnlich wie Durand-Wever im »stern« dafür aus, die Pille nur an verheiratete Frauen zu verschreiben, entweder um den Abstand zwischen zwei Geburten zu vergrößern, oder weil sie aus sozialen oder medizinischen Gründen keine weiteren Kinder mehr bekommen sollten.66 Damit wollte er die Notwendigkeit der rechtlich unsicheren Praxis der Sterilisation senken.67 Die Ausgabe an unverheiratete Frauen lehnte er »aufgrund gewisser medizinischer Bedenken« ab, nicht aus moralischen Überlegungen, wie er betonte. Dabei waren für ihn jedoch nicht die schwerwiegenden Risiken wie die Thrombosegefahr oder der Verdacht, Krebs auszulösen, ausschlaggebend. Stattdessen argumentierte der Gynäkologe, dass Mädchen früher sexuell aktiv werden würden, hätten sie Zugang zu sicheren Verhütungsmitteln. Dies diente zum einen dazu, Sorgen von konservativer Seite, die Pille könne die »Promiskuität«  – hier definiert als Sex mit häufig wechselnden Partnern  – unverheirateter Frauen fördern, zu beruhigen. Zum anderen bestand die Sorge um Unfruchtbarkeit als mögliche Langzeitfolge der Pille. Indem nur Frauen, die schon ihre reproduktiven Pflichten erfüllten hatten, der Zugang zu dem Verhütungsmittel ermöglicht wurde, sollte der Erhalt der Fruchtbarkeit gewährleistet bleiben. Dass Frauen durch Verhütungsmittel oder Sterilisationen ihre gesellschaftliche Pflicht der Mutterschaft umgehen konnten, schien das größte Bedenken zu sein. Ärzt*innen wurden hierbei zu Gate-Keepern, die entschieden, ob eine soziale oder medizinische Indikation zutraf, ein Verhütungsmittel zu verschreiben, aber auch, ob die Reproduktionsfähigkeit einer Frau erhalten oder beendet werden sollte. Ärzt*innen konnten weiterhin zwischen erwünschter und unerwünschter Reproduktion selektieren. Anders als Kirchhoff, der einem »jungen Mädchen«, welches für einen Italienurlaub die Pille wollte, kein Rezept ausstellen würde, argumentierte Hans Harmsen in der Medizinerzeitschrift »Der weiße Turm«, dass es gesellschaftlich kein Drama sei, wenn »junge Frauen [sich] die Pille ohne ausreichende Indikation verschaffen könnten.«68 So erklärte er: Man muß doch auch an das Kind denken. Nur das wirklich gewünschte und in Liebe ausgetragene Kind findet die optimalen Voraussetzungen für eine gesunde Entwicklung vor. Nichts ist doch schrecklicher und auch für die Gesellschaft folgenschwerer als das ungeliebt zur Welt kommende, das vernachlässigte und das mißhandelte Kind. Menschen, die keine Kinder haben wollen, sollten auch keine haben.69

Hier evozierte Harmsen wieder einmal das Narrativ, wonach unerwünschte Kinder ungeliebte Kinder waren, die zu psychischen Erkrankungen und Krimi66 Hentschel, Manfred W. / Müller, Rolf S., Anti-Baby-Pillen nur für Ehefrauen?, in: Der Spiegel 18 (1964) H. 9, S. 79–89, hier S. 79. 67 Zur Debatte um die Sterilisation in der Bundesrepublik Deutschland siehe Kapitel 4 dieses Bandes. 68 Hentschel / Müller, Ehefrauen S.  79. 69 Harmsen, Hans, Im Gespräch, in: Der weiße Turm 5 (1965), S. 33–36, hier S. 33.

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nalität im Erwachsenenalter neigen würden.70 Auch betonte er die Kosten für die Gesellschaft, die diese Kinder verursachen würden, was beweist, dass er weiterhin in kollektiven Kategorien dachte. Was also zunächst als eine liberale Forderung nach individuellem Selbstentscheidungsrecht einzelner Frauen über die Mutterschaft klang, war letztendlich doch ein Versuch »unerwünschten« Nachwuchs aus gesellschaftlichen Gründen zu vermeiden. Dabei bewerte Harmsen pragmatisch die »Gefahr« für die Gesellschaft durch unerwünschte Kinder höher als die »Gefahr« durch die voreheliche Sexualität der Frau, welche er billigend in Kauf nahm. Es war jedoch Anne-Marie Durand-Wever und nicht Hans Harmsen, die anders als es etwa die Studie von Silies berichtet, auf der Pro-Familia-Jahrestagung 1964 vorschlug, das neue Verhütungsmittel unter dem Namen »WunschKind-Pille« zu vermarkten, um so katholischen Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen.71 So sei der Name »Anti-Baby-Pille« zu negativ konnotiert und der Begriff »Wunsch-Kind-Pille« würde unterstreichen, dass es sich um ein Medikament zur besseren Planung von gesundem und gewollten Nachwuchs handle. Außerdem solle auch die Möglichkeit hervorgehoben werden, mit der Pille Unfruchtbarkeit zu behandeln. So sollten die konservativen Funktionen des neuen Verhütungsmittels zur Stabilisierung der normativen Kernfamilie hervorgehoben werden, anstelle der emanzipatorischen Potentiale für Frauen, Mutterschaft abzulehnen und gleichzeitig sexuell aktiv zu bleiben. Im Gegensatz zur DDR , wo die hormonelle Verhütung tatsächlich als »Wunschkindpille« vermarktet wurde, konnte sich der Name in der Bundesrepublik nicht durchsetzen. Der implizit negative Name »Anti-Baby-Pille« ist auch heute noch die gängige Alltagsbezeichnung, anders als in den USA oder spanisch-sprachigen Ländern, wo nur von »the pill« oder »píldora« bzw. »pastilla« gesprochen wird.72 Zeitgleich mit der Markteinführung der Pille fanden ab 1962 erste Debatten um eine Strafrechtsreform statt, in der auch die Sexualgesetzgebung aktualisiert werden sollten. In diesem Kontext setzte sich Pro Familia in einem Brief an das Bundesjustizministerium für eine Aufhebung der Rezeptpflicht für mechanische und chemische Verhütungsmittel (wie dem Diaphragma), für die Aufstellung von Kondom- und Patentexautomaten, die Legalisierung der frei 70 Vgl. Kapitel 3 dieses Bandes. 71 Vgl. Ebd.; Harmsen, Hans, Vortragsmanuskript: Empfängnisregelung aus der Sicht des Sozialhygienikers und Demographen (16.3.1965), in: BArch N1336/493, S. 4; vgl. auch Silies, Liebe, S. 98. 72 Laut Annette Leo und Christian König habe der Rostocker Sozialhygieniker und Familienplanungspionier Karl-Heinz Mehlan den Begriff »Wunschkindpille« bewusst als Abgrenzung zur westdeutschen »Anti-Baby-Pille« zu etablieren versucht. Da Mehlan in den frühen 1960er Jahren noch an den Jahrestagungen der Pro Familia teilnahm und bis 1969 Briefkontakt zu Hans Harmsen pflegte, ist es wahrscheinlich, dass er die semantischen Debatten innerhalb der Pro Familia kannte. Vgl. Annette Leo, Annette / König, Christian, Die »Wunschkindpille«. Weibliche Erfahrung und staatliche Geburtenpolitik in der DDR , Göttingen 2015, S. 7 und142–143.

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willigen Sterilisation sowie der Aufhebung des Werbeverbots für Verhütungsmittel ein.73 Jedoch betonten die Pro-Familia-Forderungen weiterhin, dass die Rezeptpflicht für die Pille aufrecht erhalten werden solle.74 Das implizierte, dass innerhalb von Pro Familia Verhütung mehrheitlich als medizinische Angelegenheit gesehen und diese Entwicklung auch gutgeheißen wurde. Dennoch befürchteten konservative Kritiker*innen, dass eine Rezeptfreigabe der Pille kurz bevorstand, was einen vereinfachten Zugang zu dem Verhütungsmittel für ledige Frauen, Minderjährige und Mütter mit nur ein oder zwei Kindern bedeutet hätte. Aufgrund dieser Sorge verfasste die Ärzteschaft des Kreises Ulm im Sommer 1964 einen Protestbrief an Bundesgesundheitsministerin Elisabeth Schwarzhaupt (CDU), die sogenannte »Ulmer Denkschrift«.75 Diese verknüpfte die Frage nach zuverlässiger Verhütung wieder mit dem Überbevölkerungsproblem, besonders im globalen Süden. So diskutierte der von 400 Ärzt*innen unterzeichnete Brief die Frage, ob eine freie Zugänglichkeit der Anti-Baby-Pille oder anderer Verhütungsmittel die Geburtenraten in Afrika und Asien senken könnte.76 Die Ärzt*innen, die sich aus wertekonservativer Sicht für ein Werbeverbot der Pille und gegen eine rezeptfreie Ausgabe und Kostenübernahme durch die Krankenkassen aussprachen, warnten vor einer Sexualisierung von Gesellschaf­ ten durch einen liberaleren Zugang zur Familienplanung weltweit. Für die Bundesrepublik Deutschland sahen sie in einer weiteren Verbreitung der Pille die Zerstörung des »christlich abendländische[n] Erbe[s],« eine Gefahr der Zersetzung der »Ehe- und Familienordnung« und der »bürgerlichen Moral,« was letztendlich zu einer »kommunistischen Machtübernahme« führen würde.77 Die Pille und die freiwillige Sterilisation seien kein Mittel gegen die sogenannte »Abtreibungsseuche«, sondern führten nur zu einer Abnahme der »Ehrfurcht

73 Laut dem Gesetzentwurf von 1963 sollte Werbung für Mittel zur Schwangerschaftsverhütung und Abtreibung verboten sein. Den Pro-Familia-Vorsitzenden Hans Harmsen störte besonders die Gleichsetzung von Verhütungs- und Abtreibungsmitteln. Während mechanische Verhütungsmittel seit den 1970er Jahren frei beworben werden dürfen und seit den Anti-AIDS -Kampagnen der 1980er besonders in Anzeigen der Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung gezeigt werden, fallen hormonelle Verhütungsmittel unter das Arzneimittelwerbegesetz. Abtreibungen dürfen laut § 219a bis heute nicht beworben werden, was sich in der Kontroverse um die Verurteilung der Gießener Frauenärztin Kristina Hänel wegen Informationen über Abtreibungen auf ihrer Praxishomepage im Herbst 2017 wiederspiegelt, siehe hierzu das Fazit dieser Arbeit. 74 Vgl. N. N., Memorandum Betr. § 10 des Entwurfes des Gesetzes über die Werbung auf dem Gebiet des Heilwesens vom August 1962 (5.10.1962), in: BArch N 1336/380. 75 Der Vorstand der Ärzteschaft des Kreises Ulm, Brief an die Bundesgesundheitsministerin Elisabeth Schwarzhaupt. Antrag zur Frage der derzeitigen öffentlichen Propaganda für Geburtenkontrolle (»Ulmer Denkschrift« Durchschlag Juni 1964), in: Pro-Familia-Verbandsarchiv, Ordner »Prof. Harmsen 1964«. 76 Siehe Silies, Liebe, S. 210. 77 Ulmer Denkschrift, S. 2.

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vor dem Leben« und damit zu mehr Abtreibungen.78 Das Problem der zeitgenössischen Gesellschaft sei eine »Sexualisierung des öffentlichen Lebens,« welche durch freizügige Werbung, Sexualaufklärung, vorehelichen Geschlechtsverkehr in Filmen und Literatur, Werbung für Verhütungsmittel, Frauenarbeit, hohe Löhne für junge Leute und sogenannte »Schlüsselkinder« evident werde.79 In dieser Gesellschaft falle durch Verhütungsmethoden die Angst vor der Schwangerschaft als Disziplinierungsmaßnahme weg. Einerseits gebe es in Westdeutschland ohnehin schon zu wenige Arbeitskräfte, sodass es einen Bedarf an Einwanderung zur Deckung des Arbeitskräftemangels gebe, andererseits führten »übersteigerte sexuelle Reize« zu »Degeneration« und »Entartung der Sexualität«, was sich in der Zerstörung der Gemeinschaft, Missbildungen, Perversionen und Homosexualität ausdrücke.80 Während die Denkschrift die Deutschen als »sterbendes Volk« bezeichnete und somit rechte Debatten der Zwischenkriegszeit aufgriff und frei mit nationalsozialistisch belasteten Begriffen wie »Degeneration« und »Entartung« um sich warf, grenzten sich die Autor*innen dennoch vom Nationalsozialismus ab.81 Im Nationalsozialismus seien »die Grundgesetze des Völkerlebens« missbraucht worden, 1964 gebe es »entgegengesetzte Entartungserscheinungen.«82 Während in Deutschland und Österreich eher die Überalterung der Gesellschaft das Problem sei, erklärten die Autor*innen die Überbevölkerung der »farbigen Völker« in Asien, Afrika und Lateinamerika gerade durch den Import von Verhütungsmitteln, da mehr Verhütungsmittel auch mehr Sex bedeuteten.83 Die Schrift, die sich rassistisch gegenüber dem globalen Süden äußerte und zeitgleich antikommunistisch, anti-individualistisch und gegen die Konsumgesellschaft polemisierte, argumentierte, dass es kein »Recht auf den eigenen Körper« oder ein »Recht auf ein glückliches Sexualleben«, sondern nur Verantwortung für kommende Generationen gebe.84 Auch sollte Sexualität nur innerhalb der Ehe und weitestgehend zum Zweck der Reproduktion zum Wohle »unserer Nation und unserer ganzen Welt« stattfinden.85 Familien sollten demnach schon geplant werden, jedoch in einem starren konservativen Rahmen. Dadurch, dass die Pille nicht verboten, sondern ihr Zugang durch die ärztliche Rezeptpflicht kontrolliert werden sollte, erlaubten die Mediziner*innen letztendlich Paaren, über ihre Familienplanung entscheiden zu können. Die Planung sollte jedoch ein konservativen Familienbild mit berufstätigem Vater und der Mutter als Hausfrau als Ergebnis haben. Während diese gesellschaftlichen Debatten Mitte der 1960er Jahre dazu führten, dass die Verschreibungszahlen der Anti-Baby-Pille in der Bundes78 79 80 81 82 83 84 85

Ebd., S. 5. Ebd., S. 4. Ebd., S. 4. Ebd., S. 6. Ebd., S. 3. Vgl. Ebd., S. 5–7. Ebd., S. 3. Ebd., S. 8.

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republik vergleichsweise gering blieben, wurde in amerikanischen PlannedParenthood-Beratungsstellen die Hormonpille zum beliebtesten Verhütungsmittel. So nahmen 1966 in der Bundesrepublik nur 3,7 Prozent aller Frauen im gebärfähigen Alter die Pille. In den USA verhüteten zeitgleich 13,69 Prozent mit medikamentösen Mitteln. Die höchste Quote an Pillennutzerinnen gab es in Neuseeland mit 29,58 Prozent, eine Quote, die in der Bundesrepublik erst 1972 erreicht werden sollte.86 Jedoch galt in allen Ländern die Rezeptpflicht der Pille, die Ärzt*innen zu den Entscheidern über die Wahl des Verhütungsmittels machte. So wurde Schwangerschaftsverhütung weitestgehend als eine medizinische Angelegenheit betrachtet.

Der Papst und die Pille Im Juli 1968 erschien die von Papst Paul VI . verfasste Enzyklika Humanae Vitae, welche entgegen der Erwartungen der meisten Kritiker das Verbot jeglicher künstlicher Methoden der Empfängnisverhütung des Vorgängers Pius  XI . aufrechterhielt.87 Einzig die Knaus-Ogino-Methode zur Bestimmung der unfruchtbaren Tage blieb gläubigen Christen erlaubt. Zwar hatte der katholische Gynäkologe und Miterfinder der Pille John Rock argumentiert, dass die hormonelle Verhütung nicht von der katholischen Lehre betroffen sei, da sie den Eisprung und nicht die Zeugung verhindere.88 Dennoch wurde in der päpstlichen Enzyklika die Einnahme der Pille zum Zweck der Verhütung miteingeschlossen, ohne dass sie in dem Dokument explizit erwähnt wurde. Die Mehrheit der deutschen Katholiken, inklusive der Königssteiner Erklärung der Deutschen Bischofskonferenz, widersprach der päpstlichen Lehre vom Verbot der Familienplanung.89 Der Münchener Erzbischof Julius Kardinal Döpfner war in Rom einer der lautesten Fürsprecher einer Modernisierung der katholischen Lehre im Bereich der Geburtenkontrolle und hielt sich auch nach dem Erscheinen der Enzyklika nicht mit Kritik zurück.90 Auf dem deutschen 86 Vgl. Harmsen, Hans, Manuskript, Voraussetzungen und Bedingungen des Geburtenrückgangs im letzten Jahrzehnt (undatiert, ca. 1970), in: BArch N 1336/279. Harmsen hat die Zahlen zur Pillennutzung in den USA und Neuseeland wohl von dem Planned-­ Parenthood-Mediziner Chistopher Tietze erhalten. Sie stimmen mit Zahlen überein, die in der Sekundärliteratur etwa bei Marks und Silies genannt werden. Vgl. Marks, Chemistry, S. 185; Silies, Liebe, S. 102. 87 Vgl. Silies, Liebe, S. 260–261. 88 Vgl. Rock, John, It’s Time to End the Birth-Control Fight, Reprint from the Saturday Evening Post (1963), in: PPFA Records II , Box 12.26; siehe auch Marks, Chemistry, S. 222–223. 89 Vgl. Silies, Liebe, S. 265. 90 Vgl. Gresmann, Hans, Der Pillen-Bann, in: Die Zeit 31 (02.08.1968), ohne Seitenangabe, Zeitungsausschnitt archiviert in: BArch N 1336/192. Siehe hierzu auch Ebner Katharina / ​ Mesner, Maria, Attempted Disobedience. Humanae Vitae in West Germany and Austria,

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Katholikentag in Essen im September 1968 stimmten um die 3000 Delegierten bei 90 Gegenstimmen für eine Resolution, die verlangte, dass katholische Ehepaare dem Papst gegenüber nicht obrigkeitshörig sein sollten, sondern ihre eigenen Gewissensentscheidungen über die Anwendung von Verhütungsmitteln treffen sollten.91 Die deutsche Presse war sich von tendenziell rechten Springer-Publikationen bis hin zu den links liberalen Wochenmagazinen »stern« und »Spiegel« einig, dass die Enzyklika ein Fehler war.92 In der Berichterstattung wurden vor allem die Weltfremdheit der katholischen Würdenträger, die Widersprüchlichkeit der päpstlichen Unfehlbarkeitslehre und die Auswirkungen des Verbots von Ver­ hütungsmitteln auf das globale Bevölkerungswachstum, besonders in Lateinamerika, hervorgehoben. Eine Titelgeschichte des Wochenmagazins »Der Spiegel« vom 5. August 1968 warnte vor einer »drohenden Apokalypse« bestehend aus »Hunger, Seuchen, Krieg und Tod,« falls die katholische Ablehnung moderner Verhütungsmittel bestehen bliebe.93 Dann setzte der Artikel die Erfindung der hormonellen Verhütung mit der Entdeckung der modernen Hygienegrundsätze durch Louis Pasteur gleich. Im hinteren Teil diskutierte der Artikel, der auch ausführlich auf die Entstehungsgeschichte der Pille, ihre Nebenwirkungen, weltweiten Nutzerzahlen und die zögerliche Verschreibungspraxis in der Bundesrepublik einging, welche Auswirkungen die päpstliche Enzyklika auf die zukünftige Verschreibungspraxis haben würde. Trotz des katholischen Verbots würden 95 Prozent der deutschen Gynäkolog*innen mittlerweile Pillenrezepte ausstellen. So wurde der ehemalige Pro-Familia-Vorsitzende Hans Harmsen mit den Worten zitiert, die Weigerung eines Arztes / einer Ärztin einer Frau bei medizinischer Notwendigkeit die Pille zu verschreiben, sei ein »Kunstfehler.«94 Auch zitierte der Artikel eine katholische Ärztin aus einem Osnabrücker Kran-

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in: Harris, Alana (Hg.), The Schism of ’68. Contraception and Humanae Vitae in Europe, 1945–1975, Cham 2018, S. 121–160, hier S. 125. Ebd., S. 133. Siehe unter anderem N. N., Papst Paul Vl. Nein zur Pille, in: Der Spiegel 22 (05.08.1968) H. 32, S. 1; Reding, Josef, Wider die Enzyklika, in: Abendzeitung (30.08.1968), Zeitungsausschnitt ohne Seitenangabe; Grupe, Paulheinz, Aufstand gegen Pillenverbot, in: Bild Zeitung (07.09.1968), S. 1–2; N. N., Zwei Münchener Theologen analysieren die Enzyklika zur Geburtenregelung, in: Süddeutschen Zeitung (02.11.1968), S. 112; N. N., Der Papst hat sich geirrt, in: stern 18 (29.09.1968) H. 39, S. 23–26; N. N., Im Vatikan gehen die Uhren nach, in: stern 18 (11.08.1968) H. 32, ohne Seitenangabe; N. N., Das Verdikt des Papstes vertieft den Graben, in: Die Welt (20.07.1968), S. 2; Scharrelmann, D., Die vom Papst einzig erlaubte »Wunschkind-Methode« Knaus-Ogino ist nach Ärztestimmen untauglich!, in: Die Frau 35 (25.08.1968), S. 10; alle Zeitungsausschnitte sind archiviert in: BArch N 1336/192. N. N., Last und Lust, in: Der Spiegel 22 (05.08.1968) H. 32, S. 82–90, hier S. 86. Ebd., S. 88, Harmsen hatte seinen Pro-Familia-Vorsitz Anfang 1968 aufgrund von Unstimmigkeiten mit anderen Vorstandsmitgliedern über die Legalisierung der Abtreibung und die Zusammenarbeit mit dem Gynäkologenverband niedergelegt, siehe hierzu auch Kapitel 7 dieser Arbeit.

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kenhaus, die erklärte, dass aus ihrer Sicht die Enzyklika »nur noch eine winzige Hintertür offen« ließ, nämlich hormonelle Verhütungsmittel gegen Zyklus­ störungen oder Hautkrankheiten zu verschreiben.95 Anstelle von Ärzt*innen, die sich weigerten die Pille aus religiösen Gründen zu verschreiben, berichtete sie jedoch von Patientinnen, die mit dem Bekanntwerden der Enzyklika sofort die Pille absetzen wollten. Laut einer repräsentativen Umfrage, welche der »Spiegel« zitierte, machten 15,6 Prozent der bundesdeutschen Frauen die Wahl ihres Verhütungsmittels von religiösen oder moralischen Bedenken abhängig, was wiederum heißt, dass 84,4 Prozent ihre Verhütungsentscheidungen nicht auf Basis der päpstlichen Lehre trafen.96 Dennoch rahmte sowohl der Bericht als auch Harmsens Zitat die Entscheidung für eine Verhütungsmethode weiterhin als ärztliche Entscheidung. Die päpstliche Enzyklika drohte dabei, das ärztliche Entscheidungsmonopol zu brechen, indem sie gläubige Patientinnen dazu aufforderte, auch gegen medizinische Expertise Verhütungsmittel aus moralischen Gründen abzulehnen. Anders als Harmsen, dessen Zitat nur die Verschreibungspraxis von Ärzt*innen in den Blick nahm, verfasste die Pro-Familia-Ehrenvorsitzende Anne-Marie Durand-Wever einen mit einem Gedicht versehenen Leserbrief an den »Kölner Stadtanzeiger«, in dem sie einerseits die Debatte als Erfolg für die Arbeit der Pro Familia wertete, da außerhalb des strengkatholischen Milieus Familienplanung nun anerkannt sei. Andererseits bezeichnete sie aber die Enzyklika mehrfach als »tragisch«, da sie die Kluft zwischen Protestanten und Katholiken vergrößere und junge Menschen von der Kirche entfremde. Sie ging davon aus, dass nun wieder mehr ungewollte Kinder geboren werden und vor allem die Anzahl der (illegalen) Abtreibungen wieder steigen würden, »denn wie mir eine Patientin wörtlich sagte: ›das müsse man nur einmal beichten.‹«97 Auch wenn die hier geschilderte Anekdote eher ein rhetorisches Stilmittel als eine tatsächliche Entscheidungspraxis darstellt, bemühte Durand-Wever wieder das Narrativ aus der direkten Nachkriegszeit, dass Frauen in der Praxis ihre Familien planen wollten und wenn sie keinen Zugang zu Verhütungsmitteln hätten, auf Abtreibungen zurückgriffen. Auch hob sie die Diskussion so auf die Ebene der individuellen Frau, die ihre Reproduktionsentscheidungen selbstständig und pragmatisch traf, ungeachtet der Expertenentscheidungen von Ärzt*innen und Klerikern. Diese individuelle Ebene kam in der westdeutschen Berichterstattung über die päpstliche Enzyklika nur selten und auf subtile Weise vor. Ein Artikel im Wochenmagazin »stern«, welches von internationalen Reaktionen auf die katholische Lehre berichtete, war mit einem Foto eines Protests in New York illustriert, auf dem eine Frau ein Schild mit der Aufschrift »Why should male clerics 95 Ebd. 96 Vgl. Ebd. 97 Durand-Wever, Anne-Marie, unveröffentlichter Leserbrief an dem Kölner Stadtanzeiger (09.08.1968), in: BArch N 1336/435, die Ärztin war ca. 1961 von Berlin in einen Kölner Vorort gezogen.

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rule our bodies?« hochhielt.98 Es ist überraschend, dass weder die Presseberichte noch Pro-Familia-Mitarbeiter*innen diese Frage öffentlich stellten. Zeitungen und Zeitschriften erhielten nach ihrer Berichterstattung eine überraschend hohe Anzahl an Leserbriefen, der »Spiegel« erhielt sogar mehr Post als nach der Berichterstattung über die Studentenproteste im vergangenen Mai.99 Die Mehrheit der abgedruckten Leserbriefe, etwa im »stern« oder der »Münchener Abendzeitung«, sprach sich gegen die Enzyklika aus Gründen der Regulierung der globalen Überbevölkerung oder dem Zweifel an der päpstlichen Unfehlbarkeitslehre aus.100 Diese Briefe stellten alle kollektive Werte einer technologischen Bevölkerungssteuerung in den Vordergrund. Im »stern« wurde ein einziger Leserbrief einer Frau veröffentlicht, der sich für die Enzyklika aussprach, da sie Frauen vor der sexuellen Ausbeutung durch Männer und den Nebenwirkungen der Pille schütze.101 In der »Hamburger Morgenpost« wurde am 30. Juli 1968 eine ganze Seite an Leserbriefen unter der Überschrift »Wir wollen die Pille« veröffentlicht. Hier bezogen sich die meisten Briefe auf die individuelle Entscheidungsebene. So schrieb die Leserin Claudia Sörensen, sie sei Katholikin »und werde weiterhin bei Gewissenskonflikten selbst entscheiden, obwohl ich gläubig bin.«102 Sie beanspruchte für sich das Recht, selbst ohne den Einfluss theologischer Experten über ihre Reproduktion entscheiden zu wollen. Überraschend ist, dass sechs der dreizehn veröffentlichten Briefe von Männern verfasst wurden. Das beweist, dass zu diesem Zeitpunkt das Recht auf die Anti-Baby-Pille nicht als Frauenrecht begriffen wurde, sondern als Recht des Ehepaars, seine Familie zu planen. Die Mehrheit der Leserbriefschreiber*innen betonte, dass sie und ihr Ehepartner / ihre Ehepartnerin schon Kinder hatten und dankbar waren mit der Pille verhüten zu können. Ein anonymisierter Mann etwa schrieb: »Wir haben zwei Kinder und möchten keins mehr, auch weil wir uns aus finanziellen Gründen keins mehr leisten können.«103 Er betonte so, dass er und seine Partnerin nicht aus individualistischen oder egoistischen Gründen Verhütungsmittel nutzten, sondern schon ihrer Reproduktionspflicht nachge­ kommen waren und nun aus rationalen, finanziellen Gründen keine weiteren Kinder mehr wollten. Dabei fällt auf, dass einige Briefe anonym veröffentlicht wurden, besonders diejenigen, in denen Frauen zugaben, dass die Pille ihr 98 N. N., Aufstand gegen den Papst, in: stern 18 (25.08.1968) H. 35, S. 74–76, hier S. 75, Zeitungsauschnitt in: BArch N 1336/435. 99 Vgl. Ebner / Mesner, Attempted Disobedience, S. 125. 100 Siehe zum Beispiel N. N., AZ -Leserdiskussion – Wir wollen die Pille, in: Abendzeitung (13.08.1968), ohne Seitenangabe, in: BArch N 1336/435.; N. N., Wir wollen die Pille, in: Hamburger Morgenpost (30.06.1968), S. 2, in: BArch N 1336/435. Laut Ebner und Mesner sprach sich nur ein Drittel der Vielzahl an Leserbriefe an den Spiegel für die päpstliche Lehre aus, vgl. Ebner / Mesner, Attempted Disobedience, S. 124. 101 N. N., stern Briefe, in: stern 18 (25.08.1968) H. 35, S. 4. 102 N. N., Wir wollen die Pille, in: Hamburger Morgenpost (30.06.1968), S. 2, Zeitungsausschnitt in: BArch N 1336/435. 103 Ebd.

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Die Anti-Baby-Pille in den 1960er Jahren

Sexualleben verbessert habe. So schrieb eine ungenannte 25-Jährige Ehefrau und Mutter von zwei Kindern, sie sei ihrem Hausarzt sehr dankbar, dass er ihr die Pille vorgeschlagen habe, »denn ich denke ohne Schrecken an den ehelichen Verkehr.«104 Dieser Brief betonte zum einen, dass der Arzt dem Ehepaar das Verhütungsmittel angetragen habe und sie seinem Vorschlag nur zugestimmt hätten. Zum anderen verdeutlicht er aber auch, dass das zuverlässige Verhütungsmittel das Sexualleben des Paares verbessert habe. Eine solche Aussage konnte im Sommer 1968 jedoch nur unter dem Deckmantel der Anonymität veröffentlicht werden. Die Presseberichte und Leserbriefe zur päpstlichen Enzyklika geben einen guten Einblick darüber, was im Sommer 1968 zu den Themen Sexualität und Verhütung öffentlich sagbar war. So präsentierten die meisten Berichte die AntiBaby-Pille als modernes Mittel im Kampf gegen die globale Überbevölkerung, das von Expert*innen ausgegeben wurde. Die Pro-Familia-Gründerinnen, die diesen bevölkerungspolitischen Zugang in ihrer Argumentation für die hormonelle Verhütung nicht ansprachen, betonten die medizinische Perspektive. Diese Rahmungen der Pille stellte kollektive und universal orientierte Werte in den Vordergrund. Bekenntnisse, die Pille aus individuellen Gründen zu nehmen und durch das Verhütungsmittel das eigene sexuelle Erlebnis zu verbessern, kratzten an den Grenzen des öffentlich Sagbaren. Deshalb wählten die Leserbrief-Schreiber*innen den Deckmantel der Anonymität und betonten, dass sie schon Kinder hatten und nicht die Pille nahmen, um sich ihren reproduktiven Pflichten zu entziehen.

Die Pille und der Geburtenrückgang Erst die Debatten um den Zusammenhang zwischen der Pille und dem Bevölkerungsrückgang in Deutschland erweiterten das Sagbare um eine individuelle Ebene. Es gab seit 1964 einen Rückgang der Geburtenraten, der ab 1967 spürbar wahrgenommen wurde.105 Dies implizierte einen Wandel in der Praxis der Familienplanung, da Paare nun weniger Kinder bekamen. In der konservativen Presse wurde über diesen demographischen Wandel zunächst ab 1969 berichtet. Ab 1970 wurde der Geburtenrückgang in alarmistischer Weise mit der AntiBaby-Pille in Verbindung gebracht.106 104 Ebd. 105 Vgl. Silies, Liebe, S. 113–114. 106 Siehe zum Beispiel Müller, Albert, Die verplanten Kinder, in: Die Welt (24.08.1970), ohne Seitenangabe;, Müller, Albert, Die Geburtenzahlen nähern sich allmählich der Sterbequote, in: Die Welt (20.10.1970), ohne Seitenangabe; N. N., Die wenigsten Babys seit neun Jahren, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (26.06.1970), ohne Seitenangabe; Kahl, Werner, Immer weniger Babys!, in: Bild am Sonntag (07.06.1970), ohne Seitenangabe; N. N., Geldsorgen und Pille führten zum Geburtenrückgang, in: Abendzeitung (26.06.1970), ohne

Die Pille und der Geburtenrückgang 

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Der Pro-Familia-Ehrenvorsitzende Hans Harmsen, dessen Steckenpferd die Demographie war, bezog zwischen 1968 und 1971 in zahlreichen Gremien Stellung zum Thema Geburtenrückgang, so etwa im wissenschaftlichen Beirat für Familienfragen des Bundesministeriums für Familie und Jugend, dem Arbeitsausschuss für Bevölkerungs- und Familienfragen der Deutschen Zentrale für Volksgesundheitspflege, der Zeitschrift eines Pharmaunternehmens und dem »Pro Familia Magazin«.107 Seine oft wiederholte These lautete, »[n]icht das Vorhandensein der Pille, sondern der Wille, sie anzuwenden, ist ursächlich für die rückläufige Geburtlichkeit.«108 Auch nähmen zu wenige Frauen die Pille, als dass sich der Geburtenrückgang allein durch die hormonelle Verhütung erklären lasse. Stattdessen habe der Wille verheirateter Paare, mit zuverlässigen Mitteln zu verhüten, zunächst zu einer Abnahme illegaler Abtreibungen und Großfamilien geführt. Familien würden aus sozioökonomischen Überlegungen und aufgrund des im vorherigen Kapitel diskutierten Wohnungsmangels auf das vierte Kind verzichten.109 Dies sei volkswirtschaftlich jedoch nicht bedenklich, da die Familien so mehr Geld für Konsumausgaben hätten. Zudem glichen in einigen Bundesländern Migrantenfamilien mit höheren Geburtenraten die sinkenden Geburtenziffern aus.110 Bedenklich werde der Geburtenrückgang laut Harmsen erst, wenn die Geburtenrate unter das »Bestandserhaltungsminimum« von zwei Kindern pro Familie falle. Das war ab 1971 der Fall. Um dem entgegenzuwirken solle man, so Harmsen, das Kindergeld erhöhen und den sozialen Wohnungsbau ankurbeln.111 Harmsen argumentierte weiterhin, die hohe Anzahl vorehelich gezeugter Kinder (40 Prozent), beweise, dass die Pille eher ein Verhütungsmittel für verheiratete Paare sei. Bei den daraus resultierenden »Mußehen« war, wie oben schon erwähnt, die Scheidungsraten sehr hoch.112 Daraus könne man schließen, Seitenangabe; N. N., Die Pille allein ist nicht Schuld, in: Saarbrücker Zeitung (04.04.1970), ohne Seitenangabe; alle Zeitungsauschnitte sind archiviert in: BArch N 1336/205. 107 Siehe N. N., Protokoll Arbeitsausschuß Bevölkerungs- und Familienfragen der Deutschen Zentrale für Volksgesundheitspflege e. V. (17.02.1970), in: BArch N 1336/205; Harmsen, Bedeutung; Harmsen, Hans, Manuskript Geburtenschwund – Umfang und Bedeutung – Ist die »Pille« daran schuld? (1971), das Manuskript wurde angefragt für Der Arzt und seine Partner, Zeitschrift des Pharmaherstellers Byk Gulden, in: BArch N 1336/399. 108 Harmsen, Hans, Zum Geburtenrückgang in der Bundesrepublik Deutschland, in: Pro Familia Informationen 2 (1971), S. 3–7, hier S. 4; das wortwörtlich gleiche Zitat steht auch in Harmsen, Hans, Geburtenschwund, S. 3. 109 Laut Silies waren es besonders die Frauen der Geburtenjahrgänge ab 1935, die zwischen 1965 und 1970 auf das vierte Kind verzichteten, vgl. Silies, Liebe, S. 114. 110 Vgl. Ebd., S. 4. 111 Harmsen, Bedeutung, S. 5. 112 Vgl. Harmsen, Hans, Das Ausmaß des westdeutschen Geburtenrückganges. Ein wirtschafts- und sozialpolitisches Problem von erheblicher Bedeutung (undatiertes Manuskript ca. 1970), in: BArch N 1336/205; vgl. hierzu auch Hodenberg, Christina von, Das andere Achtundsechzig. Gesellschaftsgeschichte einer Revolte, München 2018, S. 159.

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Die Anti-Baby-Pille in den 1960er Jahren

dass junge, nicht-verheiratete Frauen keine sicheren Verhütungsmittel anwendeten.113 Auch verzichteten viele Paare aufgrund der Bedenken wegen Nebenwirkungen auf die Pille und griffen auf weniger zuverlässige Verhütungsmittel zurück. Harmsen mutmaßte in seinem Bericht im Beirat für Familienfragen, dass, wenn alle Paare mit sicheren Verhütungsmitteln verhüteten, die Geburtenraten um weitere 10 bis 20 Prozent zurückgehen würde.114 Daraus schlußfolgerte er, dass auch in den frühen 1970er Jahren noch eine große Anzahl ungeplanter und nach der Logik der Pro Familia unerwünschter Kinder geboren wurde, mit all den finanziellen und psychischen Problemen, die Expert*innen damit assoziierten. Daher forderte die Pro Familia seit 1971 die Übernahme der Kosten der Pille durch die Krankenkasse für alle Frauen, besonders aber für Sozialhilfeempfängerinnen.115 Harmsens Interpretation der sinkenden Geburtenraten und die daraus abgeleiteten Forderungen sind Evidenzen eines Wandels in der Art, wie in der Bundesrepublik der späten 1960er Jahre über reproduktives Entscheiden diskutiert wurde. In seinen Reden ging es um Paare, die selbst aus ökonomischen Überlegungen heraus beschlossen, ihre Kinderzahl zu begrenzen. Für die einzelnen Paare hatten weniger Kinder durchaus materielle Vorteile, von besseren Chancen auf dem Wohnungsmarkt bis hin zu besserer Teilnahme an der Konsumgesellschaft. Für den Sozialstaat hatte der Geburtenrückgang jedoch langfristige Nachteile, da es so weniger Steuerzahler*innen geben würde, die für die Renten ihrer Elterngeneration aufkommen mussten. Das heißt, dass hier ein Wandel von einer Privilegierung kollektiver Werte hin zu individuellen Werten vollzogen wurde. Auch stellten die Pro-Familia-Sprecher*innen klar, dass Paare individuelle Entscheidungen über die Größe ihrer Familien selbstständig trafen, sobald sie Zugang zu Wissen und zuverlässigen Verhütungsmethoden hatten. Indem Pro Familia diesen Zugang verbessern wollte, stärkte die Institution somit das Selbstentscheidungsrecht der einzelnen Paare über ihre Kinderzahl, auch aus materiellen und vermeidlich egoistischen Gründen.

113 Eva-Maria Silies zitiert hierzu die bekannten Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch und Gunter Schmidt, laut deren Studien 1970 26 % der jungen Frauen beim ersten Geschlechtsverkehr nicht verhütet hatten, 27 % mit Coitus Interruptus und nur 16 % die Pille nahmen, vgl Silies, Liebe, S. 162. 114 Harmsen, Bedeutung, S. 2. 115 Vgl. N. N., Protokoll der Pro-Familia-Mitgliederversammlung (23.10.1971 Saarbrücken), in: BArch N 1336/895. Die Forderung stand auch im Kontext der Forderung einer Liberalisierung des § 218 zum Verbot der Abtreibung, welche in Kapitel 7 dieses Bandes diskutiert wird.

Die Pille und die Jugend 

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Die Pille und die Jugend Die Debatte über die hohe Anzahl an Frühehen generierte in den frühen 1970er Jahren eine kontroverse Diskussion über die Abgabe der Pille an Jugendliche. Pro Familia, die schon in den 1950er Jahren den Grundsatz vertreten hatte, Sexualerziehung müsse schon im Schulalter beginnen, hatte seit 1968 an einem Lehrplan zur Sexualaufklärung für die Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung mitgewirkt. Deren 1969 erstmals herausgegebener Sexualkundeatlas empfahl die Pille auch für junge Paare.116 Auch die Jugendzeitschrift »BRAVO « hatte 1968 mit der progressiven Sexualaufklärungsserie »Jugend und Sex 68« begonnen, anzuerkennen, dass Jugendliche vorehelichen Sex hatten und dies moralisch nicht verwerflich fanden.117 Jedoch hatte der Rechtsbeirat der Bundesärztekammer 1970 den Leitsatz herausgegeben, die Pille nicht an unter 16-Jährige zu verschreiben, an 16- bis 18-Jährige nur mit Einverständnis der Eltern und bei 18- bis 21-jährigen »nur bei erforderlicher Reife,« die von einem Arzt / einer Ärztin zu prüfen war.118 Die Argumente für diese Leitlinie waren teils juristisch (Beischlaf mit unter 16-jährigen war gesetzlich verboten, Ärzt*innen könnten sich der Kuppelei schuldig machen), teils medizinisch (die hormonelle Verhütung könne das Längenwachstum von Jugendlichen beeinflussen und junge Mädchen hätten noch keinen regelmäßigen Zyklus), aber auch moralisch begründet. So befürchteten Ärzteverbände, dass durch den erleichterten Zugang zu Verhütungsmitteln Teenager früher und mehr Sex haben würden. Die linke Presse und Pro-Familia-Sprecher*innen kritisierten diese Leitlinien als weltfremd und betonten, dass Jugendliche nicht so unbescholten seien, wie die Bundesärztekammer es annahm. So fragte die Journalistin Marianne Quoirin in der »Frankfurter Rundschau« polemisch, was man mit einer 14-jährigen Schwangeren machen solle: »›Wenn wir ihr nicht zu einem sicheren Mittel wie der Pille raten, hat sie bald ein zweites.‹«119 Die Bundesarbeitstagung der Pro Familia, über die Quoirin für die »Frankfurter Rundschau« berichtet hatte, verabschiedete eine von Hans Harmsen zusammen mit dem späteren Pro-Familia-Vorsitzenden Jürgen Heinrichs und zwei weiteren pädagogischen 116 Jedoch verschwieg der Sexualkundeatlas ernsthafte Nebenwirkungen der Pille, vgl. N. N., Sexualkundeatlas, 2. Auflage (1974), in: BArch B 310/235; siehe auch Bundes­ zentrale für Gesundheitliche Aufklärung, Projekte 1968–1969, in: BArch B 310/243. 117 Vgl. Sauerteig, Lutz D. H., Die Herstellung des sexuellen und erotischen Körpers in der westdeutschen Jugendzeitschrift BRAVO in den 1960er und 1970er Jahren, in: Medizinhistorisches Journal 42 (2007), S. 142–179, hier S. 159. 118 Vgl. N. N., Ovulationshemmer für junge Mädchen? Medizinische und Rechtliche Gründe – Nicht unter sechzehn Jahren, Leitsätze der Bundesärztekammer für die Verordnung, in: Sonderdruck Deutsches Ärzteblatt – Ärztliche Mitteilungen 67 (03.10.1970) H. 40, S. 2907–2908. 119 Quoirin, Qual, S. XII .

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Die Anti-Baby-Pille in den 1960er Jahren

Mitarbeitern verfasste Resolution, die besonders die juristischen und medizinischen Argumente der Bundesärztekammer entkräftete.120 So beeinflussten die Hormone Östrogen und Progesteron das Längenwachstum junger Mädchen nicht und 60 Prozent der unter 16-Jährigen hätten schon einen regelmäßigen Zyklus. Pro Familia empfahl daher, Jugendliche sollten erst drei Monate ihre Basaltemperatur messen, um sicher zu gehen, dass sie einen regelmäßigen Zyklus hatten, bevor sie ein Pillenrezept zunächst für einen Monat erhalten sollten, um mögliche Nebenwirkungen abzuwarten.121 Für jüngere Teenager und solche, die nur unregelmäßigen Sex hatten, empfahl Pro Familia das Kondom oder Diaphragma. Besonders das dreimonatige Messen der Basaltemperatur erforderte von den 14- bis 16-jährigen Mädchen ein gehöriges Maß an Eigeninitiative und einen disziplinierten Umgang mit ihrem eigenen Körper. Einerseits bedeutete dies eine weitere Hürde für junge Frauen, die Pille zu erhalten. Andererseits impliziert die Empfehlung, dass Pro Familia anerkannte, dass Jugendliche sexuell aktiv waren, und dies nicht moralisch verurteilte. Auch gab die Empfehlung eine Reihe an Verhütungsmitteln vor, unter denen es auszuwählen galt. Die Jugendlichen selbst hatten einen aktiven Anteil an der Auswahl der bevorzugten Methode. Zwar sollten immer noch Expertenempfehlungen und allein medizinische Argumente ausschlaggebend für die Entscheidung für ein bestimmtes Verhütungsmittel sein, dennoch wurden mehr Auswahlmöglichkeiten als nur die Pille für Verheiratete oder Abstinenz angeboten. Die Resolution der Pro-Familia-Bundesarbeitstagung im Oktober 1970 bedeutete eine direkte Konfrontation mit Ärzteverbänden, mit denen Pro Familia erst in den Vorjahren einen Ausgleich erlangt hatte. Anfang 1968 hatte Hans Harmsen seinen Pro-Familia-Ehrenvorsitz niederlegt, da Richard Kepp, sein Nachfolger als Pro-Familia-Vorsitzender, einen Ausgleich mit der konservativen Deutschen Gynäkologischen Gesellschaft gesucht hatte. Pro Familia war im Begriff, sich von einer Organisation, die vornehmlich Ärzteschulungen anbot, zu einer Service-Organisation mit eigenem Beratungsangebot nach anglo-amerikanischem Vorbild zu wandeln. Ärzteverbände betrachteten die Beratung der Pro Familia jedoch als unliebsame Konkurrenz und forderten, dass jegliche Beratung und Ausgabe von Verhütungsmitteln nur in Arztpraxen stattfinden solle. Kirchhoff hatte, um eine offizielle Anerkennung der Pro Familia durch den Gynäkologenverband zu erlangen, die Verschreibungspraxis der Pille durch Pro-Familia-Beratungsstellen als Verhandlungsmasse angeboten.122 Man einigte sich darauf, dass Ärzt*innen in Pro-Familia-Beratungsstellen eine Sprechstunde, eine Erstuntersuchung und eine Folgeuntersuchung durchführen durften. Bei Nebenwirkungen und Folgerezepten sollten sie Patientinnen aber an 120 N. N., Protokoll der Pro Familia Mitgliederversammlung (24.10.1970, Hamburg), in: BArch N 1336/384. 121 Vgl. N. N., Zusammenfassung von Besprechungspunkten: Bundesarbeitstagung Okt. 1970, in: BArch N 1336/384. 122 Vgl. Harmsen, Hans, Brief an Heinrich Ackermann (15.01.1968), in: BArch N 1336/280.

Die Pille und die Jugend 

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ihre Gynäkolog*innen oder Hausärzt*innen überweisen.123 Indem Pro Familia ihre Beratungspraxis über die Empfehlung der Bundesärztekammer hinaus ausdehnte, unterwanderte man die striktere Verschreibungspraxis, die die Mehrheit der Ärzt*innen pflegte. Konservative Medien, wie die »Bild-Zeitung« und die »Frankfurter Allgemeine Zeitung« (FAZ), gaben die Resolution der Pro-Familia-Bundearbeitstagung verkürzt wieder und verknüpften diese mit alarmistischen Schlagzeilen zur Krebsgefahr der hormonellen Verhütung.124 So behauptete die »FAZ «, Pro Familia würde die Pille besonders für junge Mädchen empfehlen. Daher schickte die Pro-Familia-Geschäftsführerin Anna Luise Präger ein Memorandum an alle in der Beratung der Organisation tätigen Ärzt*innen, welches daran erinnerte, dass die »FAZ « die Pille mit Kontrazeption allgemein verwechsele.125 Auch der Vorsitzende Richard Kepp sah sich gezwungen, ein öffentliches Statement abzugeben, in dem er erklärte, dass Pro Familia »nicht uneingeschränkt Ovulationshemmer für Jugendliche« empfehle, sondern eher »mechanische Mittel«. Kepps Stellungnahme betonte, dass Pro Familia die Beratung von Jugendlichen generell ohne Altersbegrenzung durchführen wolle, denn die »Vermeidung einer Schwangerschaft« sei besser »als eine Schwangerschaft unter ungünstigen Bedingungen.« Hormonelle Verhütung sei das geringere Übel im Vergleich zu einer ungewollten Schwangerschaft. Das Kondom sei aber »gerade bei Jugendlich ein sehr praktikables Mittel«, welches von der Bundesärztekammer vernachlässigt werde. Die Wahl des Verhütungsmittels sollte so in der Beratungsstelle individuell angepasst werden. Kepp und auch Hans Harmsen bevorzugten das Kondom, da es vor Geschlechtskrankheiten schützte und keine schwerwiegenden Nebenwirkungen mit sich brachte. So schlug Harmsen Kepp im Februar 1971 vor, eine Neuauflage seiner Aufklärungsbroschüre »Was wisst ihr von einander« von 1961 drucken zu lassen, die von einem Kondomhersteller in Auftrag gegeben worden war und einzig Präservative als Schutzmittel auch gegen Geschlechtskrankheiten empfohlen hatte.126 Harmsen, auf dessen Bestreben hin Pro-Familia 1971 einen Beratervertrag mit dem Kondomhersteller MAPA schloss, stellte fest, dass die alte Broschüre weiterhin angefragt wurde und eine Neuauflage dazu diene, dass »wir von der zu einseitigen Propagierung der Pille wegkommen.« Der emeritierte Sozialhygieniker argumentierte, dass in Westdeutschland sowohl der Absatz der Pille als auch des Kondoms steigen würde und brachte wieder die im vorherigen Kapitel zitierte Studie aus dem englischen Hull an, bei der man mit der Ausgabe 123 Vgl. Vereinbarung unterzeichnet von Richard Kepp und Dr. Friedhelm Isbruch, Präsident Berufsverband der Frauenärzte e. V. (1968), in: BArch N 1336/384. 124 Vgl. Lenhard, Hans W., Mit 16 – 15- oder 14 – wo ist die Pillengrenze?, in: Bild Zeitung (9.10.1970), ohne Seitenangabe; Präger, Anna Luise, Brief an die geschäftsführenden Vorsitzenden und beratenden Ärztinnen der Pro Familia (30.10.1970), in: BArch N 1336/271. 125 Vgl. Kepp, Richard, Stellungnahme zu den Leitsätzen der Bundesärztekammer (1970), in: BArch N 1336/384. 126 Vgl. Harmsen, Hans, Brief an Richard Kepp (18.02.1971), in: BArch N 1336/173.

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Die Anti-Baby-Pille in den 1960er Jahren

von Kondomen an Männer der Unterschicht mehr Erfolge erzielt hatte, als mit der alleinigen Beratung der Frauen.127 So betonte seine Förderung des Kondoms zum einen, dass Empfängnisverhütung nicht allein Angelegenheit der Frau war, zum anderen beinhaltete seine Argumentation jedoch weiterhin bevölkerungspolitisches Gedankengut, da seine Präferenz für das Kondom gerade darauf beruhte, dass es sich als besonders wirksam bei der Reduzierung von Geburten in der Unterschicht herausgestellt hatte. Auch bedeutete die Empfehlung des Kondoms gerade für Jugendliche und im Kampf gegen Geschlechtskrankheiten, dass Harmsen, Kepp und die Pro-Familia-Geschäftsführung anerkannten, dass Jugendliche mehr als einen Sexualpartner hatten, und dies nicht moralisch verurteilten. Stattdessen bot die Organisation den Jugendlichen durch den Zugang zu Kondomen und der Pille die Möglichkeit, ihre Sexualität mit minimiertem Risiko auszuleben. Damit vollzog die Pro Familia im Winter 1970/1971 einen großen Schritt zur Liberalisierung ihrer Sexualberatung. So konnten Jugendliche ohne Altersbegrenzung Beratung und Verhütungsmittel bekommen, zu einem Zeitpunkt, zu dem in der US -amerikanischen Schwesterorganisation Planned Parenthood noch diskutiert wurde, ob man Beratung für unverheiratete College-Studentinnen im Alter von 18 bis 22 Jahren anbieten sollte.128

Fazit Im Kontext der Berichterstattung über die Pro-Familia-Bundesarbeitstagung 1970 berichtete die Journalistin Marianne Quoirin, dass Düsseldorfer Schülerinnen die Bezahlung der Pille durch die Krankenkassen forderten, »weil jede Frau das Recht hat, über ihren Körper selbst zu verfügen.«129 Pro Familia ging im Herbst 1970 selbst noch nicht so weit, den erweiterten Zugang zur AntiBaby-Pille als Selbstbestimmungsrecht der Frau zu definieren. Dennoch hatte der Verband einen erheblichen Anteil an der Liberalisierung der Art, wie in der Bundesrepublik über Sexualität gesprochen werden konnte und welche Wahlmöglichkeiten Frauen jeglicher Altersstufe hatten. Auch war die Informationsstrategie der Pro Familia entscheidend dafür, dass Patientinnen und Ärzt*innen 127 Vgl. Harmsen, Hans, Manuskript Familienplanung bei sozial randständigen Familien (undatiert ca. 1970), in: BArch N 1336/413; jedoch argumentiert Lara Marks, dass in der englischen Arbeiterschicht Verhütung schon in den 1940er Jahren eher als Männerangelegenheit betrachtet wurde, vgl. Marks, Chemistry, S. 189. 128 So wurde im Juni 1969 entschieden, dass Planned Parenthood Ortsverbände an Universitäten zulässt. Diese sollen über das Bevölkerungswachstum informieren, durfte aber keine Beratung über Verhütungsmittel anbieten. Vgl. Planned Parenthood Ad Hoc Committee on College Affiliates, Minutes of the Meeting on June 19, 1969, in: PPFA II Records, Box 112.12; siehe auch Guttmacher, Alan F. / Vadies, Eugene E., Sex on the Campus and College Health Services, Reprint from The Journal of the American College Health Association 21 (Dezember 1972) 2, in: PPFA II Records, Box 168.26. 129 Quoirin, Qual, S. 12.

Fazit 

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in der Bunderepublik schon früh über ein erhöhtes Thromboserisiko informiert wurden. Während Pro-Familia-Mitarbeiter*innen 1961 dafür gesorgt hatten, dass die in den USA und Puerto Rico entwickelte hormonelle Verhütungsmethode in der frühen Bundesrepublik bekannt wurde, so hatten sie durch ihre Warnungen vor möglichen Nebenwirkungen gleichzeitig den Personenkreis, der Zugang zu der neuerlichen Verhütungsmethode hatte, weitgehend eingeschränkt. Während 1966 nur 3,7 Prozent aller westdeutschen Frauen im gebärfähigen Alter die Pille nahmen, waren dies 1972 schon 30 Prozent.130 Innerhalb weniger Jahre hatten sich die Nutzerzahlen gesteigert und der Kreis der Patientinnen war von Müttern von mindestens drei Kindern auf Schülerinnen, Frauen aus der Unterschicht und Studentinnen ausgeweitet worden. Zusammen mit der ausgeprägten Rolle der Sexualität in der Studentenbewegung hatte die Verfügbarkeit sicherer Verhütungsmittel und die Kontroversen, die sie auslöste, einen großen Anteil an den Verschiebungen des öffentlich Sagbaren über Sexualität in Deutschland. Pro Familia war zentral an allen drei Kontroversen beteiligt. Die Kontroverse um die Enzyklika Humanae Vitae zeigte, dass die deutsche Öffentlichkeit Familienplanung als gängige Praxis akzeptierte und bereit war, sich gegen die Autorität des Papstes zu stellen. Damit verhielten sich im Sommer 1968 auch soziale Schichten als nicht obrigkeitshörig, die bei weitem nicht von der Studentenbewegung tangiert waren, wie etwa die Deutsche Bischofskonferenz.131 Während die Leserbriefschreiber*innen in der Kontroverse um die päpstliche Enzyklika noch kollektive Werte der globalen Bevölkerungsbegrenzung bemühten, zeigen die Debatten um die Pille und den Geburtenrückgang, dass es zu einer öffentlichen Privilegierung individueller und materieller Werte kam. Es wurde öffentlich anerkannt, dass es für individuelle Familien aus materiellen Gründen besser war, weniger Kinder zu bekommen, obwohl die staatlichen Sozialsysteme auf größeren Familien ausgelegt waren. Damit wurden die Grundsätze der Bevölkerungspolitik der letzten 65 Jahre, wonach mehr Geburten besser waren für die deutsche Nation, durch die Praxis in Frage gestellt. Die Debatte um die Zulassung der Pille für Jugendliche und die Empfehlung mechanischer Verhütungsmittel für junge Teenager waren Zeichen für ein allgemeines Unterlaufen von Moralvorstellungen, wonach weibliche Sexualität nur in der Ehe stattfinden sollte. Auch unterwanderte Pro Familia mit seiner Beratungstätigkeit die Autorität der Bundesärztekammer und schwächte das ärztliche Monopol in der Ausgabe von Verhütungsmitteln.

130 Vgl. Silies, Liebe, S. 103; N. N., Protokoll der Bundesarbeitstagung 1973 in Köln ­(25.–27.5.1973), in: Pro-Familia-Verbandsarchiv, Ordner »BAT Protokolle 1952 bis 1978«. 131 Laut Christina von Hodenberg waren die Unterstützung der sexuellen Freizügigkeit und politisches Engagement unter Studierenden nicht deckungsgleich und die Befürwortung der Anti-Baby-Pille reichte in viel weitere gesellschaftliche Schichten, vgl Hodenberg, Achtundsechzig, S. 156 und 159–160.

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Die Anti-Baby-Pille in den 1960er Jahren

Dennoch beinhalteten all die moralischen Verschiebungen auch Ambivalenzen. Katholische Frauen betonten etwa, dass die Verfügbarkeit der Pille eine neue Erwartungshaltung an die sexuelle Verfügbarkeit des Frauenkörpers schaffe. Zwar sollten Teenager nach den Pro-Familia-Empfehlungen selbst mehr an der Auswahl des Verhütungsmittels beteiligt werden, jedoch mussten sie ihren Körpern einem Vermessungsregime unterstellen und es galt weiterhin die medizinische Entscheidungshoheit des Arztes bzw. der Ärztin. Hans Harmsens und Richard Kepps Werbung für das Kondom bot Jugendlichen zwar mehr Wahlmöglichkeiten, ging aber auf bevölkerungspolitische Überlegungen zurück, eine wirksame Möglichkeit zur Geburtenreduzierung in der Unterschicht zu finden. Dies zeigt, dass die Liberalisierung der Sexualmoral seit der Markteinführung der Anti-Baby-Pille kein linearer Prozess aufgrund des technologischen Fortschritts, sondern ein kleinteiliger Aushandlungsprozess mit Vor- und Rückschritten war. Frauenkörper, von dem der 14-jährigen Schülerin bis zur 40-jährigen dreifachen Mutter, wurden dabei als reproduktive Körper, als sexuell verfügbare Körper und als einem medizinischen Vermessungsregime unterworfene Körper geformt. Dass Frauen die Wahl eines Verhütungsmittels als Selbstentscheidungsrecht über ihren eigenen Körper deuteten, setzte sich erst im Laufe der 1970er Jahre aufgrund von Kampagnen der Frauenbewegung und dem öffentlichen Bekanntwerden über die schwerwiegenden Nebenwirkungen der Pille durch. Damit wird sich das folgenden Kapitel detaillierter beschäftigen

6. »Wir sind gegen unseren Willen zu Experten in Verhütungsfragen geworden.« Kontroversen zwischen Ärzt*innen und Feminist*innen über Verhütungsmittel

»You sound like a snob to me […] I didn’t learn anything new from you ›experts‹ than I have learned from reading articles in magazines,« schrieb Mrs. M., eine puerto-ricanisch-stämmige Pillennutzerin, an den Planned-Parenthood-Präsidenten Alan F. Guttmacher. Sie hatte seinen Auftritt in der Today Show des Fernsehsenders NBC im Januar 1970 gesehen, wo er die Anti-Baby-Pille gegenüber Kritikern verteidigt hatte.1 Die erboste Zuschauerin betonte in ihrem Brief, dass sie zur »middle class« gehöre und berichtete, wie sie immer wieder versucht habe, Informationen über die Nebenwirkungen der Pille zu bekommen. Planned-Parenthood-Broschüren zu dem Thema bestünden jedoch nur aus Comics und ihr Arzt sei bei der jährlichen Vorsorgeuntersuchung auch keine Hilfe gewesen: »He pooh-poohed my fears like I was making them up.« Sie sei überrascht gewesen zu hören, dass die Pille eigentlich nur als kurzzeitiges Verhütungsmittel »as a means of spacing« gedacht sei, denn sie habe auf hormonelle Verhütung zurückgegriffen, weil sie keine weiteren Kinder wolle. In seinem Antwortschreiben erklärte Guttmacher ihr, dass er es für eine weise Entscheidung halte, langfristig mit der Pille zu verhüten. Er selbst sei auch unglücklich darüber, dass der Großteil der Literatur für puerto-ricanische Patientinnen aus Comics bestehe, jedoch »when I attempted to give them more sophisticated literature, they didn’t read it.«2 Dieser Briefwechsel zwischen Guttmacher und Mrs. M. zeigt die Konflikte zwischen Frauen und Planned Parenthood zu Beginn der 1970er Jahre auf anschauliche Weise. Während die Patientin sich Sorgen um die Nebenwirkungen der hormonellen Verhütung machte und auf verschiedensten Wegen versuchte, Informationen darüber zu erlangen, wurde sie von Ärzt*innen und der Familienplanungsorganisation wie ein unmündiges Kind behandelt. Guttmacher hingegen argumentierte, dass Frauen mehr Informationen nicht annehmen würden. Erfahrungen von Patientinnen hielt er nicht für valide Wissensquellen, sondern lehnte diese als Einbildung ab. Guttmacher und seine Kolleg*innen gingen davon aus, dass die Mehrheit der Frauen, besonders solche mit Migrationshintergrund, nicht in der Lage seien, komplexe Zusammenhänge zu verstehen und leicht verunsichert wären, weshalb es besser sei, ihnen nur rudimentäre 1 Mrs. M., Brief an Alan Guttmacher (14.01.1970), in: PPFA Records II , Box 118.10. 2 Guttmacher, Alan F., Brief an Mrs. M. (13.02.1970), in: PPFA Records II , Box 118.10.

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Kontroversen über Verhütungsmittel

Informationen zukommen zu lassen. Jedoch begannen ab den frühen 1970er Jahren Frauen genau dieses komplexe Wissen über die Pille einzufordern, um selbstständig Entscheidungen über die passende Verhütungsmethode in ihrer individuellen Lebenssituation zu treffen. Dieses Kapitel untersucht, wie die Frauenbewegung in Westdeutschland und den USA reproduktives Entscheiden zu einer ihrer zentralen Forderungen machte und als Praxis durchsetzte, dass Frauen selbst über ihr Verhütungsmittel entscheiden konnten. Es verfolgt die Chronologie des Bekanntwerdens ernsthafter Nebenwirkungen der Anti-Baby-Pille seit dem Ende der 1960er Jahre und zeigt auf, wie zunächst die Berichterstattung der Journalistin Barbara Seaman, deren Texte 1970 auch in Deutschland erschienen, zu einer Anhörung des amerikanischen Senats und Protesten von Feminist*innen führte. Nach einer kurzen Exkursion zur Wahrnehmung der Kongressanhörung in der deutschen Presse, folgt eine Analyse des Bostoner Frauenratgebers »Our Bodies, Ourselves« und den deutschen Übersetzungen. Durch den transnationalen Austausch feministischer Selbsthilfeliteratur konnte sich in unterschiedlichen diskursiven Zusammenhängen in der Bundesrepublik und den USA der Grundsatz etablieren, dass Frauen selbstständig über die Auswahl eines Verhütungsmittels entscheiden können.

Wissen über die Nebenwirkungen der Pille Wie schon im vorigen Kapitel erwähnt, sorgten sich leitende Mitarbeiter*innen bei Planned Parenthood seit 1961/1962 um Thrombosen als ernsthafte Nebenwirkungen der Pille. Anders als Pro Familia, die schon 1962 alle Mitglieder*innen über die Bedenken in Kenntnis setzte, verkündeten Broschüren von Planned Parenthood bis 1968, dass die Pille absolut sicher sei und nur kurzfristige und geringfügige Nebenwirkungen verursache. Die amerikanische Regulierungsbehörde FDA (Food and Drug Agency) gab jedoch 1966 eine Untersuchung über die Sicherheit der Anti-Baby-Pille in Auftrag, die unter der Mitarbeit der Planned-Parenthood-Unterstützer Louis Hellman und Christopher Tietze entstand.3 Der FDA-Report befasste sich vor allem mit der Gefahr von Krebs und Thrombosen. Die Autor*innen der Studie mussten zugeben, dass ihnen aufgrund mangelhafter Berichterstattung durch Ärzt*innen flächendeckende Da­ ten fehlten, um einen Zusammenhang zwischen Thromboseerkrankungen und der Pilleneinnahme statistisch nachzuweisen. Noch schwerer sei es, Zusammenhänge mit Krebserkrankungen zu erforschen, da man keine direkten Rückschlüsse von Tierversuchen auf Menschen ziehen könne. Die erste aussagekräftige Studie wurde im Dezember 1969 von dem britischen Dunlop Committee für Medikamentensicherheit veröffentlicht. Diese wies einen tatsächlichen sta3 Advisory Committee on Obstetrics and Gynecology Food and Drug Administration, Report on the Oral Contraceptives (01.08.1966), in: PPFA Records II , Box 39.

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tistischen Zusammenhang zwischen hormonellen Verhütungsmitteln und einer erhöhten Thrombosegefahr für östrogenhaltige Pillen nach.4 Zum Verhältnis zwischen Pillennutzung und Krebserkrankungen konnte bis heute jedoch kein abschließendes Ergebnis erzielt werden. Während die Wissenschaftler*innen einen Mangel an Daten und Wissen eingestehen mussten, schätzte das gynäkologische Beratungskomitee der FDA die Vorteile der hormonellen Verhütung größer ein als die Risiken. Dennoch müssten Ärzt*innen Daten über den allgemeinen Gesundheitszustand ihrer Patientinnen sammeln. So wurde erstmal eine große Anzahl gesunder Frauen regelmäßigen präventivmedizinischen Kontrollen unterstellt, um ihre Körper als sexuell allzeit bereite und nur zu Wunschzeiten reproduktive Körper zu formen.5 Die »efficacy of the combined agents« [Oströgen und Progesteron – C. R.] sei »exceptionally high«.6 Ernsthafte Nebenwirkungen seien selten, jedoch sei die Pille für weitreichende »metabolic changes« verantwortlich.7 Daher erklärte der Bericht, »potential dangers must be carefully balanced against health and social benefits that effective contraceptives provide for the individual woman and society.«8 So sollten Risiken für die individuelle Frau mit Vorteilen für sie selbst und die Gesellschaft als Ganzes in Bezug auf Bevölkerungswachstum und soziale Kosten ungewollter Schwangerschaften abgewogen werden. Dies bedeutete eine neue Rolle der Ärztin / des Arztes in der Verschreibung eines Verhütungsmittels, wie der Bericht in seinem Abschlussfazit erklärte: In the final analysis, each physician must evaluate the advantages and the risks of this method of contraception in comparison with other available methods or with no contraception at all. He can do this wisely only when there is presented to him dispassionate scientific knowledge of the available data.9

Was der FDA Report hier beschreibt, ist eine klassische Entscheidungssituation, in der ein Experte / eine Expertin, der / die alle relevanten Informationen zur Verfügung hat, zwischen mehreren Alternativen wählt. Diese Art der Entscheidungsfindung bedurfte den Zugang zu akademischem Wissen über die Funktionsweise und Nebenwirkungen des neuartigen Verhütungsmittels. Deshalb wurde der Entscheidungsprozess der betroffenen Patientin selbst nicht zugetraut und an den Arzt / die Ärztin ausgelagert. Anders als noch in den 1920er und 1930er Jahren lag die Rolle des Arztes / der Ärztin nicht mehr darin, zu 4 Vgl. Langmyhr, George (Planned Parenthood Medical Department), Memorandum, Developments on the Oral Contraceptives (22.12.1969), in: PPFA Records II , Box 39. 5 Vgl. Roesch, Claudia, »You have to remember to do something to make the pill work.« Hormonelle Verhütung als Körpertechnik zwischen Disziplinierung und Selbstermächtigung, in: Body Politics – Zeitschrift für Körpergeschichte 6 (2018) H. 9, S. 71–94, hier S. 89. 6 Advisory Committee on Obstetrics and Gynecology Food and Drug Administration, Report on the Oral Contraceptives (01.08.1966), in: PPFA Records II , S. 10, Box 39. 7 Ebd., S. 12. 8 Ebd., S. 1. 9 Ebd., S. 13.

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entscheiden, ob überhaupt eine Indikation für Geburtenkontrolle vorlag. Stattdessen sollte er / sie nun anhand medizinischer Daten das passende Verhütungsmittel auswählen. Jedoch fehlten ihm / ihr genauso wie den Autor*innen des FDA Reports statistische Daten über die Wahrscheinlichkeit einer Thrombose bei Frauen unterschiedlichen Alters und Lebenswandels. Der Bericht der FDA , den Hans Harmsen 1967 erhielt und für die Pro-Familia-Vorstandsmitglieder ins Deutsche übersetzte, war zwar Planned Parenthood zugänglich, jedoch wurde er nicht an einzelnen Ärzt*innen oder gar Frauen weitergegeben.10 Wie die Historikerin Elizabeth Siegel Watkins kritisch anmerkt, hatte der / die durchschnittliche Frauenarzt / Frauenärztin in den USA keinen Zugang zu den Debatten über den Dunlop Report in britischen Ärztezeitschriften, auch wenn die »New York Times« am 12.12.1969 darüber berichtet hatte.11 Schon 1968 hatte die FDA jedoch behandelnde Ärzt*innen über die britischen Untersuchung informiert, die nachgewiesen hatte, »[that] there is  a definite association between the use of oral contraceptives and the incidence of thromboembolic disorders.«12 Das Schreiben informierte jedoch nur, dass es eine neue einheitliche Beschriftung von Medikamentenverpackung geben würde, klärte Ärzt*innen aber nicht darüber auf, wie sie das Risiko für ihre Patientinnen einschätzen konnten oder bei welchen Gegenindikationen (Alter, Gewicht, Raucherinnen) sie eine alternativen Verhütungsmethode empfehlen sollten. Es wurde auch nicht gefordert, die Informationen an Patientinnen weiterzugeben. Broschüren von Planned Parenthood erwähnten 1968 erstmals einen Zusammenhang zwischen der Pille und einem erhöhten Thromboserisiko. Die an medizinisches Personal gerichtete Broschüre »Methods of Contraception in the United States« wies zunächst nur darauf hin, dass basierend auf drei britischen Studien »a possible causal relationship between the use of oral contraceptives and the occurence of thrombo-embolic phenomena« festgestellt werden konnte. Die World Health Organization (WHO) als globale Autorität in Gesundheitsfragen schätze jedoch das Risiko, dass eine Frau an einer durch die Pille ausgelösten Thrombose sterben könne, geringer ein als »the overall risk incurred by planned and unplanned pregnancy.«13 Hier wurde das Risiko der Pille mit den Risiken einer Schwangerschaft verglichen, nicht aber mit den Risiken eines alternativen Verhütungsmittels. Jedoch weist die Gegenüberstellung statisti10 Harmsen, Hans, Brief an Eva Hobbing, Heinz Kirchhoff, Richard Kepp u. a. (15.02.1967), dt. Übersetzung des FDA Report on the Oral Contraceptives by the Advisory Committee on Obstretics and Gynecology (01.08.1966), in: Pro-Familia-Verbandsarchiv, Ordner »Prof. Harmsen 1964«. 11 Vgl. Siegel Watkins, Elizabeth, On the Pill. A Social History of Oral Contraceptives, 1950–1970, Baltimore 1998, S. 80; siehe auch Emerson, Gloria, British Panel Links Some Birth Pills to a Risk of Blood Clots, in: New York Times (12.12.1969), S. 34, Zeitungsausschnitt in PPFA Records II , Box 57. 12 Goddard, James L., Letter to Doctors, (28.06.1968), in: PPFA Records II , Box 57. 13 N. N., Methods of Contraception in the United States (1968), in: PPFA Records II , Box 14.32, S. 5.

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scher Wahrscheinlichkeiten darauf hin, dass die Autor*innen der Broschüre davon ausgingen, dass Entscheidungsträger*innen die Risiken anhand der Daten gegeneinander aufrechnen und auf dieser Basis eine idealtypische rationale Entscheidung treffen würden. Die an Patientinnen gerichtete Planned-Parenthood-Broschüre »Methods of Modern Birth Control« (1968) wich erstmals von dem Mantra ab, dass die Pille nur kurzfristige, harmlose Nebenwirkungen habe, indem sie erklärte: Careful scientific studies over ten years indicate that the pill is not safe for all women, and it is too soon to be absolutely sure that there are no long-term ill effects. Your doctor or other family planning specialist can tell you if you have a condition which would make it unwise for you to take pills.14

Die Broschüre informierte nicht, für welche Frauen die Pille nicht geeignet war, stattdessen wurde auf Expert*innen verwiesen, die Auskunft geben sollten. Im weiteren Verlauf der Broschüre wurden Pillennutzerinnen dazu aufgefordert, sich einmal jährlich untersuchen und ein Blutbild machen zu lassen. Auch wurden sie gewarnt: »If you have any trouble-some symptoms, such as severe head, chest or leg pain, blurred vision or depression, consult your doctor right away. Serious side effects are statistically rare but they are real.«15 Es wurden zwar eine Reihe an Symptomen genannt, jedoch wurde keine Auskunft darüber erteilt, dass diese Hinweise auf eine Thrombose hindeuten konnten. Patientinnen wurden nun zwar informiert, dass die Pille nicht für jede Frau geeignet sei und die Einnahme mit Risiken verbunden war. Jedoch fehlten ihnen konkrete Angaben, um die Risiken der Pille mit denen anderer Verhütungsmittel abzuwägen. Die Journalistin Barbara Seaman klärte 1969 erstmals die amerikanische Öffentlichkeit darüber auf, wie Symptome und Nebenwirkungen zusammenhingen, als sie zunächst in einem Artikel für die Frauenzeitschrift »Ladies’ Home Journal« Bedenken über Nebenwirkungen der Pille veröffentlichte.16 Laut der Historikerin Wendy Kline begann Seaman mit ihrer Recherche über die Pille, nachdem sie Leserbriefe von Patientinnen erhalten hatte, die nicht mit ihren Ärzt*innen darin übereinstimmten, dass die Pille sicher sei.17 Seaman recherchierte auf Ärztekongressen und interviewte Ärzt*innen, darunter waren auch solche, die für Planned Parenthood arbeiteten.18 Der Artikel machte deren Bedenken erstmals weitläufig öffentlich. Seaman selbst nahm dabei die Perspek14 N. N., Modern Methods of Birth Control (1968), in: PPFA II Records, Box 14.38, S. 2–3. 15 Ebd., S. 2. 16 Seaman, Barbara, Why Doctors are Losing Faith in »The Pill«, in: Ladies’ Home Journal (April 1969), S. 72–80. 17 Vgl. Kline, Wendy, Bodies of Knowledge. Sexuality, Reproduction, and Women’s Health in the Second Wave, Chicago 2010, S. 110. 18 So wurden unter anderem der medizinische Leiter des Planned-Parenthood-Landesverbands New York Hiliard Dubrow und der Gynäkologe Jack Lippes, der in der PlannedParenthood-Klinik in Bufallo (NY) aktiv war, in Seamans Artikel zitiert. In ihrer Monographie kamen auch bekannte Planned-Parenthood-Mitglieder wie Christopher Tietze,

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tive der Ärzt*innen ein. Patientinnen selbst erschienen in dem Artikel nur als Fallstudien bzw. als Opfer von Nebenwirkungen. Seaman hinterfragte nicht die Praxis, dass Ärzt*innen für ihre Patientinnen entschieden. Viel zentraler war für sie das Argument, dass Ärzt*innen selbst nicht genug Wissen hatten, um diese Entscheidungen zu treffen.19 Dennoch galt Seamans Recherche als Ausgangspunkt der feministischen Kritik an der Informationspolitik über die Anti-Baby-Pille. Grund dafür war, dass sie im ersten Kapitel ihrer kurz nach dem Artikel im »Ladies’ Home Journal« erschienen Monographie »The Doctors’ Case Against the Pill« (1969), die 1970 auch in deutscher Überstzung erschienen, den Begriff »informed consent« prägte. Sie legte dar, dass Frauen und ihre Partner keine selbstständigen, informierten Entscheidungen über ihre Reproduktion treffen konnten, da ihnen essenzielle Information fehlten.20 Jedoch erfüllte der Rest des Buches selbst nicht die Anforderungen des (wahrscheinlich nachträglich eingefügten) ersten Kapitels, da die Argumentationslinien sehr polemisch und Frauen gegenüber sehr bevormundend waren. So behauptete Seaman etwa, dass jede Pillennutzerin mit 97 prozentiger Wahrscheinlichkeit an Nebenwirkungen leiden würde, und sie keine Frau nennen könnte, die mit der Pille zufrieden sei.21 Frauen, die mit der Pille glücklich seien, wüssten entweder noch nicht über die Nebenwirkungen Bescheid, oder wurden als unreif und eitel beschrieben, weil die Pille zu größeren Brüsten führe. Sie würden in einer »infantile omnipotence« glauben, die Nebenwirkungen könnten sie nicht treffen.22 Auch wurden Nutzerinnen dafür kritisiert, wenn sie aus Bequemlichkeit die Pille anderen Verhütungsmitteln vorzogen oder sich bei der Anwendung des Diaphragmas zu ungeschickt anstellen würden, so dass ihre Partner sie dann zur Pille drängen würde.23 Die Quellen für Seamans Buch waren Ärzt*innen, die kritische Vorträge über die Pille auf Ärztekongressen gehalten hatten und persönliche Fallstudien ihrer Patientinnen aus den USA , Großbritannien und Schweden an die Journalistin weitergaben. In weiteren Teilen des Buches übertrieb sie die Konsequenzen der Nebenwirkungen. So behauptete sie, dass sich eine Nutzerin aus Angst vor plötzlichen Zwischenblutungen nicht mehr in den Supermarkt traue oder eine Patientin, die an einer Thrombose litt, jeden Tag zwei Stunden damit verbringen müsse, ihre Thrombosestrümpfe an- und auszuziehen.24 Auch ließ sie andere mögliche Ursachen für Thrombosen, wie etwa Flugreisen, nicht zu.25 Das Zentrum des Buches bildete die emotional geschilderte Geschichte der fünffachen

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Mary S. Calderone, Hans Lehfeldt oder Louis Hellman zu Wort. Vgl. Seaman, Why, S. 77; Seaman, Barbara, The Doctors’ Case Against the Pill, Alameda ²1995 [1969], S. 12–32. Vgl. Seaman, Why, S. 80. Seaman, Doctors’, S. 13. Vgl. Ebd., S. 40. Vgl. Ebd., S. 44. Vgl. Ebd., S. 51 und 123. Vgl. Ebd., S. 77. Vgl. Ebd., S. 190.

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Mutter Julie Macauley, die an einer Lungenembolie gestorben war.26 Seaman hatte den Witwer und die Schwester der Verstorbenen interviewt, die über Julies Leistungen als Mutter und Ehefrau berichteten. Der Gynäkologe, der ihr die Pille zur Regulierung ihrer Menstruation verschrieben hatte, wurde zitiert, »that he considered statistical evidence of blood clotting to be quite small.‹«27 Jedoch zitiert Seaman den Witwer Tom Macauley zweimal, der daran erinnerte: »She was a real person, the mother of five, not a statistic. And she was an important part – she and a thousand other mothers – of what we call the human race.«28 Indem Seaman hier vor allem Julies Identität als Mutter betonte, griff sie ältere Motive der Familienplaner*innen der 1950er Jahren auf, die die Verbreitung von Verhütungsmitteln vor allem zur Stabilisierung der Müttergesundheit gefordert hatten. Hier wurde gewarnt, dass die Pille verheirateten Frauen zwar die Möglichkeit bot ihre Sexualität ohne Angst vor Schwangerschaft auszuleben, aber die Gesundheit von Müttern gefährdete. Das Argument, dass die Verhinderung ungewollter Schwangerschaften die negativen Nebenwirkungen der Pille überwogen, wurde mit dem zynischen Zitat eines Arztes widerlegt: »You can’t take a blood clot camping or swimming or skiing or to the movies. Blood clots don’t grown up, but babies do.«29 So stellte er die Alternative als die Wahl zwischen schweren Nebenwirkungen oder einem Kind dar, wobei er die positiven Effekte eines Lebens mit Kindern für den Vater betonte, der mit seinen Kindern etwas am Wochenende unternahm, aber nicht unbedingt die tägliche Pflegearbeit übernahm. Dass für weniger privilegierte Frauen eine ungewollte Schwangerschaft ein großes finanzielles oder gesundheitliches Risiko darstellte, ließ Seaman als Argument nicht zu. Als weitere Nebenwirkung beschrieb Seaman, dass die Pille Frauen promis­ kuitiv mache, da sie es sich zweimal überlegen würden, ihren Partner zu betrügen, wenn ihr Diaphragma zu Hause liege, mit der Pille jedoch allzeit sexuell verfügbar seien.30 Folglich ist das Frauenbild, welches Seaman in ihrem Buch präsentierte, nicht das einer erwachsenen, mündigen Patientin, die mit ausreichender Information reflektierte Entscheidungen über ihr Sexualleben und ihre Reproduktion treffen konnte. Stattdessen beschrieb sie Frauen als unmündig, irrational, ängstlich und zerbrechlich und sprach ihnen somit die Fähigkeit ab, selbstständig die Vor- und Nachteile eines mit Risiken behafteten Verhütungsmittels gegenüber einer ungewollten Schwangerschaft abzuwägen. Seaman verfolgte mit ihrem Buch nicht das Ziel, Frauen dazu zu ermächtigen, mündige Entscheidungen zu treffen. Stattdessen schrieb sie eine Polemik gegen die Anti-Baby-Pille mit dem Ziel, den öffentlichen Mangel an Informationen anzuprangern. 26 Vgl. Ebd., S. 61. 27 Ebd. 28 Ebd., S. 71. 29 Ebd., S. 25. 30 Vgl. Ebd., S. 112.

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Die Historikerin Elisabeth Siegel Watkins bemerkte, dass sich Seaman, die die Nutzung der Pille mit dem Risiko des Rauchens oder dem Autofahrens ohne Sicherheitsgurt verglich,31 eher der Konsumentenbewegung als der Frauenbewegung zuordnen ließe.32 Seaman selbst war schon Mitte Vierzig und hatte erwachsene Kinder, als sie begann, sich gegen die Pille zu engagieren. Laut der Medizinhistorikerin Nancy Tomes lernten Journalist*innen Ende der 1960er Jahre, dass sich Berichte über Gesundheitsthemen gut verkauften.33 Auch nahmen die neuen sozialen Bewegungen Gesundheitsthemen dankbar auf, da sie darüber potentielle Unterstützer*innen über ideologische Grenzen hinweg mobilisieren konnten. Seaman selbst stützte ihre journalistische Karriere in den 1970er Jahren vor allem auf Kritik an verschiedenen Verhütungsmethoden, wie der Spirale oder der Vasektomie sowie an Sexualhormonen für Frauen in den Wechseljahren.34 Als gesundheitlich sichere Alternative forderte sie die flächendeckende Nutzung mechanischer Verhütungsmittel mit legaler Abtreibung als Absicherung, falls das Verhütungsmittel versagte. Der Vorstand von Planned Parenthood, der vorab die Druckfahnen von Seamans Buch durch den Verleger erhalten hatte,35 gab zwar zu, dass man sich Sorgen um die Thrombosegefahr der Pille mache, kritisierte an Seamans Buch aber, dass sie den Eindruck erwecke »all all pill users are in imminent dangers.«36 Auch gebe sie den Inhalt des FDA-Reports falsch wieder, da dieser zu dem Ergebnis gekommen sei, dass die Pille sicher sei. Jedoch konnte Seaman den demokratischen Senator Gaylord Nelson als Unterstützer im amerikanischen Kongress gewinnen, der als Vorsitzender des Senate Subcommittee on Small Businesses Anfang 1970 eine Anhörung über die Sicherheit der Pille organisierte. Nelson überließ es Seaman, die Expertengutachter*innen auszuwählen, was sowohl auf Kritik von Planned Parenthood, wie auch der Women’s Liberation, dem militanteren Arm der Frauenbewegung, stieß.37 Seaman hatte nämlich keine betroffene Frau als Zeugin vorgeladen. Außerdem hatte der von ihr ausgewählte Gutachter Jack Lippes kurz zuvor seine Erfindung einer Plastikspirale namens Lippes Loop patentieren lassen und daher ein geschäftliches Interesse an der Diskreditierung 31 Vgl. Ebd., S. 44. 32 Ralph Nader, der Begründer der amerikanischen Konsumentenbewegung, engagierte sich unter anderem für die flächendeckende Einführung von Sicherheitsgurten in allen Fahrzeugen. Vgl. Siegel Watkins, Pill, S. 104. 33 Vgl. Tomes, Nancy, Remaking the American Patient. How Madison Avenue and Modern Medicine Turned Patients into Consumers, Chapel Hill 2016, S. 268. 34 Siehe zum Beispiel Seaman, Barbara / Seaman, Gideon, Women and the Crisis in Sex Hormones, New York 1977. 35 Millstone, Dorothy, Brief an Alan Guttmacher, Geoge Langmyhr u. a. (18.09.1969), in: PPFA Records II , Box 32. 36 Vgl. Langmyhr, George / Millstone, Dorothy (PP Information & Education), Memorandum Book Attacking Pill, (22.10.1969), in: PPFA Records II , Box 32, S. 3. 37 Eine detaillierte Beschreibung des Women’s Liberation Movement folgt später in diesem Kapitel.

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der Pille.38 Als Reaktion auf die Anhörung erklärten die Mediziner*innen im Vorstand von Planned Parenthood, die Nelson Hearings hätten keine Neuigkeiten hervorgebracht, die in Expertenkreisen nicht längst schon bekannt seien.39 Die Betonung lag dabei auf den Expertenkreisen, da für viele Nutzerinnen und Aktivist*innen, die Erkenntnisse, dass die Pille seriöse Nebenwirkungen hatte, großen Neuigkeitswert besaß. Schließlich hatte Planned Parenthood ein Jahrzehnt lang betont, die Pille sei bei korrekter Einnahme absolut sicher. Im Zuge der im Fernsehen übertragenen Nelson Hearings wurde bekannt, dass zwei Drittel der Ärzt*innen Frauen nicht über die Nebenwirkungen der Pille aufklärte.40 Daher sollte den Pillenpackungen nun ein Beipackzettel hinzugefügt werden, wie es die Konsumentenbewegung kurz vorher schon für Asthmamedikamente durchgesetzt hatte.41 Die »New York Times« veröffentlichte am 5. März 1970 einen ersten Entwurf des Zettels, der in einfacher aber konkreter Sprache erklärte, dass es eine »definite association between blood-clotting disorders and the use of oral contraceptives« gäbe, da sechs von 200.000 Pillennutzerinnen jährlich an einer Thrombose sterben würden, jedoch nur eine von 200.000 Frauen, die nicht die Pille nahmen.42 So sollten Frauen selbst nachvollziehen können, dass das Risiko an einer Thrombose zu erkranken relativ gering war. Die Statistik diente eher zur Beruhigung als zur konkreten Ermächtigung der Patientinnen durch Wissen. Auch wurde aufgelistet, bei welchen Indikationen Frauen die Pille nicht nehmen sollten, und bei welchen dies nur unter »special supervision« passieren sollte.43 Jedoch äußerten Ärzt*innen und Planned Parenthood bald die Kritik, dass der Entwurf mit ca. 500 Worten zu lang sei, so dass die zum 1. September 1970 verpflichtend eingeführte Packungsbeilage nur 123 Worte enthielt.44 Dieser Zettel sprach Frauen in einer einfachen Sprache direkt an, führte auf, wer die Pille nicht nehmen sollte, und forderte alle Nutzerinnen auf, sich regelmäßigen Vorsorgeuntersuchungen zu unterziehen und sofort einen Arzt / eine Ärztin anzurufen, falls etwas Unerwartetes mit ihren Körpern geschah.45 Ohne konkret zu werden oder statistische Wahrscheinlichkeiten zu benennen, forderte der neuartige Beipackzettel Frauen auf, sich regelmäßigen medizinischen Kontrollen zu unterziehen. Auch zeigt der Beipackzettel, dass 38 Vgl. Siegel Watkins, Pill, S. 110–111. 39 Vgl. Planned Parenthood Medical Department, Statement from the National Medical Committee. Planned Parenthood Federation of America on Current Recommendations Regarding the Oral Contraceptive (30.01.1970), in: PPFA Records II , Box 33, S. 3. 40 Schmeck, Harold M., Warning on Pill drafted by FDA , in: New York Times (05.03.1970), S. 1/24, Zeitungsausschnitt, in: PPFA Records II , Box 33. 41 Vgl. Tomes, Remaking, S. 276. 42 N. N., Draft of the Proposed Leaflet on Birth Control, in: New York Times (05.03.1970), S. 24, Zeitungsausschnitt, in: PPFA Records II . 43 Ebd. 44 Vgl. Siegel Watkins, Pill, S. 126. 45 Die Tageszeitung »Die Welt« druckte am 14.04.1970 eine deutsche Übersetzung der amerikanischen Packungsbeilage ab, vgl. N. N., Neue Warnung vor der Pille in USA , in: Die Welt (14.04.1970), Zeitungsausschnitt, in: BArch N 1336/192.

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Expert*innen Frauen nach wie vor nicht zutrauten, längere Texte selbst zu lesen und auswerten. Letztendlich hatten die Nelson Hearings jedoch offenbart, dass zwar zwischen dem ersten FDA Report 1966 und der Anhörung des britischen Dunlop Committee gesichertes Wissen über den Zusammenhang zwischen der Pille und Thrombosen produziert und dieses Wissen Expert*innen im Bereich Familienplanung zugänglich gemacht wurde. Jedoch waren die Informationen, die von der FDA und Planned Parenthood an Patientinnen weitergegeben wurden, so unvollständig, dass diese keine eigenständigen wissensbasierten Entscheidungen treffen konnten. Selbst Ärzt*innen, die nur selten Informationen weitergaben, erhielten diese nur bruchstückartig. Die Idee, dass Ärzt*innen für ihre Patientinnen eine rationale, alle Risiken abwägende Entscheidung über das passende Verhütungsmittel trafen, war folglich nur eine Idealvorstellung. Planned Parenthood selbst versuchte die Gefahren von tödlichen Thrombosen durch die Pille zu relativieren, indem die Organisation betonte, dass in den USA mehr Frauen durch Verkehrsunfälle oder Komplikationen während der Schwangerschaft zu Tode kamen als durch Thrombosen nach der Pillenein­ nahme.46 Jedoch setze aufgrund der Nelson Hearings eine Vielzahl der Klientinnen die Pille aus Sorge um Nebenwirkungen ab. So berichteten die Kliniken in Detroit und New York, dass viele ihrer Patientinnen nun wieder das altmodischere Diaphragma benutzten, während sich andere die Spirale einsetzen oder eine Sterilisation durchführen ließen.47 Dies lies Debatten um die Legitimation der freiwilligen Sterilisierung wieder aufkochen.48 So forderten mehrheitlich weiße Frauenorganisationen, wie die National Organization for Women (NOW), einen leichteren Zugang zu Sterilisationen, während nicht-weiße Feministinnen längere Bedenkzeit für Patientinnen befürworteten, um sie vor Sterilisationsmissbrauch zu schützen.49 Durch die Bedenkzeit hofften die Bürgerrechtsorganisationen, könne vermieden werden, dass Ärzt*innen Frauen zu einer Operation ohne ihr Wissen, besonders direkt nach der Entbindung, drängen konnten. Weiße Frauenrechtlerinnen sahen die gleiche Maßnahme als Hürde zur Umsetzung einer von ihnen geschlossenen Reproduktionsentscheidung an.

46 Siehe zum Beispiel den Artikel des Medical Directors von Planned Parenthood Los Angeles, Edward T. Tyler im »Look Magazine«: Tyler, Edward T. / Berg, Roland H., The Pill is Safe, Reprint from Look Magazine (30.06.1970), in: PPFA II Records, Box 17.8. 47 Für Detroit gab der Bericht absolute Zahlen an, so ließen sich in den ersten sechs Wochen des Jahres 1970 100 Pillennutzerinnen entweder selbst oder ihren Partner sterilisieren, 118 ließen ein Diaphragma anpassen und 107 eine Spiral einsetzen. Normalerweise erhielt die Klinik im Monat 10 Anfragen für Diaphragmen und 60 für Spiralen. Für New York wurden prozentuale Zahlen angegeben. 25 Prozent der Pillennutzerinnen wechselten zum Diaphragma und 18 Prozent zur Spirale, vgl. Langmyhr, George, Memo an Alan Guttmacher (04.03.1970), in: PPFA Records II , Box 118.13. 48 Vgl. Siegel Watkins, Pill, S. 133. 49 Siehe hierzu Kapitel 4 dieser Arbeit.

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Die Wahrnehmung der Nelson Hearings in der Bundesrepublik Anders als in den USA gab es in der Bundesrepublik Anfang der 1970er Jahre keinen merklichen Einbruch der Nutzerzahlen der Anti-Baby-Pille. Zwar verfolgte auch die deutsche Presse die Nelson Hearings, da die Debatte um die Thrombosegefahren der Pille zu einer transnationalen Kontroverse geworden war.50 Aber sowohl die Presse als auch Publikationen der Pro Familia hatten schon seit Mitte der 1960er Jahre über die Pille und die Thrombosegefahr berichtet, so dass die Erkenntnisse der Anhörung für die deutsche Öffentlichkeit keine Überraschung waren.51 Pro Familia selbst verfolgte keine einheitliche Informationsstrategie. In der im Auftrag der Deutschen Arbeiter-Krankenkasse (DAK) 1969 verfassten Broschüre »Zur Praxis der Familienplanung« beschrieb Hans Harmsen die Pille als sicher und behauptete man könne Nebenwirkungen durch geringere Dosierung in den Griff bekommen. Dem entgegen listete Verbandspräsident Richard Kepp in seinem 1968 erschienen Handbuch »Empfängnisregelung für Frau und Mann« alle bekannten Nebenwirkungen detailliert auf.52 Er forderte alle Patientinnen auf, die Packungsbeilage genau zu lesen und erklärte dann: »Die hormonale Empfängnisverhütung gehört unbedingt in die ständige ärztliche Überwachung.«53 Somit stellte auch er Pillennutzerinnen unter regelmäßige präventive Kontrollen und betonte die Verantwortung, die mit der Nutzung des Verhütungsmittels einherging. Während es Harmsens Anliegen war, zuverlässige Verhütungsmittel zu bewerben, da er unsichere Verhütungsformen, wie den Coitus Interruptus als »gefährlicher Schrittmacher des Aborts bei unerwünschter Schwangerschaft« ablehnte, war es Kepps Anliegen, die moralische Verantwortlichkeit der Familienplanung für Nutzerinnen und Ärzt*innen zu betonen.54 Dieser Dualismus führte dazu, dass Nebenwirkungen der Pille in der Bundesrepublik früher und öffentlicher diskutiert wurden. Schon 1967 hatte Harmsen in der Zeitschrift »Petra« einen Artikel veröffentlicht, in dem er Verhütungsmittel mit Schulnoten im Stile der ein Jahr zuvor gegründeten Stiftung Warentest bewertete. Zwar erwähnte seine Bewertung die Gefahr der Thrombose nicht, dennoch diskutierte er Nebenwirkungen und deren Häufigkeit basierend auf einer Umfrage, die Gynäkologe und Pro-Familia-Vorstandsmitglied Heinz Kirchhoff unter 1600 Patientinnen durchgeführt 50 Vgl. Silies, Eva-Maria, Liebe, Lust und Last. Die Pille als weibliche Generationserfahrung in der Bundesrepublik 1960–1980, Göttingen 2010, S. 141. 51 Ziehe zum Beispiel den Artikel in der illustrierten Frauenzeitschrift »BUNTE«, N. N., Ist die Pille gefährlich?, in: BUNTE 25 (19.08.1968), S. 25–26 und 78–79, Zeitungsausschnitt in BArch N 1336/435. 52 Vgl. Harmsen, Hans, Zur Praxis der Familienplanung (Mai 1969), in: BArch N 1336/266; Kepp, Richard, Empfängnisregelung für Frau und Mann, Wiesbaden 1968. 53 Kepp, Empfängnisregelung, S. 7. 54 Harmsen, Praxis, S. 1.

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hatte. In dem Artikel wurden allein die Pille und die Kombination aus Diaphragma und Spermizid als »sehr gut« bewertet, die Basaltemperaturmessung als »gut« und Kondome ohne zusätzliche Spermizide als »ungenügend.«55 Die Korrelation zwischen der Bewertung der Verhütungsmittel nach Schulnoten und der Entstehung der Stiftung Warentest zeigen, dass sich in der Bundesrepublik in den späten 1960er Jahren eine neue Form des Verbraucherschutzes durchgesetzt hatte. Anders als in den USA gab es hier keine Konsumenten­ bewegung, die forderte bestimmte Produkte vom Markt zu nehmen. Stattdessen wurde den Verbrauchern durch das Schulnotensystem ein Instrument an die Hand gegeben, nach dem sie selbst reflektierte Konsumentscheidungen treffen konnten.56 Indem Verhütungsmittel in gleicher Weise bewertet wurden wie Kühlschränke oder Waschmaschinen, wurde die Entscheidung für ein bestimmtes Verhütungsmittel erstmals als Konsumentscheidung der einzelnen Klientin präsentiert. Dies geschah, obwohl Pro Familia noch wenige Jahre zuvor davor gewarnt hatte, dass die Entscheidung für Familienplanung zu ernst sei, um sie als Konsumentscheidung zu treffen.57 Laut der Historikerin Rickie Solinger war die Werbung und Verpackung der Pille durch die Pharmaunternehmen die Ursache, dass sich der Wandel der Wahrnehmung der Pille von einem Arzneimittel zu einem Konsumprodukt vollzog.58 Wie oben erwähnt, wurden die Nelson Hearings und die Debatte um die Einführung eines Beipackzettels in den USA auch in der westdeutschen Presse rezipiert. Einzig die Boulevardzeitung »Bild« des Springer Verlags nutzte im März 1970 die Nelson Hearings und den Vorabdruck der deutschen Übersetzung von Seamans Buch für alarmistische Schlagzeigen.59 Dies tat sie auch im Oktober 1970 als bekannt wurde, dass das Pharmaunternehmen Eli Lilly eine sequen­ tielles Pillenprodukt, das in den ersten zwei Wochen eines Zyklus nur Östrogen und in der dritten Woche Ostrogen und Progesteron enthielt, vom Markt genommen hatte, nachdem bei einem Tierversuch mit Beagle-Hunden gutartige Karzinome im Brustbereich festgestellt worden waren.60 Politisch eher linksstehende Publikationen, wie der »Spiegel«, aber auch seriösere Springer Publi­ 55 Siehe Harmsen, Hans, Liebe und Ehe ohne falsche Tabus, in: Petra (Februar 1967), S. 66–67, Zeitungsausschnitt, in BArch 1336/266. 56 In den USA existierte die Verbrauchertest-Zeitschrift »Consumer Report« seit 1936, die jedoch ihre Testergebnisse nicht an Hand von Schulnoten, sondern an Hand von Ranglisten basierend auf der Einteilung »acceptable« und »not acceptale« publiziert, siehe z. B. N. N., Rating 19-Inch Color TV Sets, in: Consumer Reports 1 (Januar 1975), S. 27–29. 57 Vgl. Kapitel 5 dieser Arbeit. 58 Vgl. Solinger, Rickie, Pregnancy and Power. A Short History of Reproductive Politics in America, New York 2005, S. 170. 59 N. N., Ärzte klagen die Pille an, Bild Zeitung (ca. März 1970), abgedruckt in: N. N., Wie gefährlich ist die Pille?, in: Der Spiegel 24 (16.03.1970) H. 12, S. 190. Der »Bild«-Artikel beinhaltete Fotos, die den Sit-In des DCWLM bei den Nelson Hearings zeigen und daher komplett im »Spiegel« reproduziert wurde. 60 Vgl. Lenhard, Hans W. / Gebhart, Hans-Peter, Ärzte fordern Pillen-Stop, in: Bild am Sonntag (1.11.1970), S. 1–3, Zeitungssausschnitt in BArch N 1336/192.

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kationen wie die Tageszeitung »Die Welt« verurteilten dies als Panikmache. Stattdessen diskutierten sie die Bewertung der Tierversuche auf journalistisch hohem Niveau. Der allgemeine Tenor der Berichterstattung war, dass man die Erkenntnisse des britischen Dunlop Committee und der Nelson Hearings nicht auf die Bundesrepublik übertragen könne, da erstens die in Deutschland erhältlichen Pillenpräparate niedriger dosiert waren als die amerikanischen Produkte, zweitens es in Deutschland schon längst Packungsbeilagen für Medikamente gäbe, drittens Probleme mit der Minipille und der sequentiellen Pille nur eine kleine Anzahl der zur Auswahl stehenden Produkte betraf und viertens Beagle-­ Hunde als Versuchstiere schlecht geeignet seien, da sie nur ein bis zweimal jährlich ovulierten und einen Hang zur Karzinombildung hätten.61 Versuche mit Affen oder Mäusen, die ähnliche häufige Zyklen haben wie Frauen, hätten kein erhöhtes Krebsrisiko gezeigt. Daher, so der »Spiegel«, könne die Pille ruhig auch von Frauen durchgenommen werden, die ihre Reproduktion abgeschlossen hatten, sie sollten sich nur einer halbjährlichen Kontrolluntersuchung unterziehen. Die Pilleneinnahme ohne ärztliche Kontrolle, etwa in Kampagnen Bonner Studierender, die einen Bamberger Zahnarzt gefunden hatte, die bereit waren unverheirateten Frauen die Pille ohne Untersuchung zu verschreiben, lehnte die Redaktion ab.62 Dies zeigt jedoch, dass der Zugang zur Anti-Baby-Pille trotz der Ermahnungen nach regelmäßiger ärztlicher Kontrolle weiterhin als Emanzipationsakt und nicht als Unterdrückung der Frau unter ein undurchsichtiges medizinisches Regime verstanden wurde. So stiegen auch die Nutzerzahlen bis 1973 weiterhin auf 30 Prozent der Frauen im gebärfähigen Alter an.63 Erst zwischen 1973 und 1977 gab es eine Stagnation und dann eine Abnahme der Nutzerzahlen. Grund hierfür waren die transnationalen Netzwerke der Frauenbewegung, durch die deutsche Feminist*innen anfingen, pillenkritische Publikationen ihrer amerikanischen Schwestern zu rezipieren und selbst zu veröffentlichen.

61 Siehe zum Beispiel Kranz-Bergheim, Ludwig, Die Wahrheit über die Pille. Ist sie wirklich so gefährlich? In: Die Frau 4 (1970), S. 24; Brückner, Anselm, Blinder Alarm bei den Anti-Baby-Pillen, in: Münchener Merkur (31.10.1970); Speicher, Günter, Krebs und Pille, in: Welt am Sonntag (1.11.1970), S. 2, Zeitungsauschnitte in BArch N 1336/192. 62 Müller, Rolf S. / Spiess-Hohnholz, Mareike, Bilanz: Nach wie vor zugunsten der Pille, in: Der Spiegel 24 (16.03.1970) H. 12, S. 197–202, hier S. 202. Die Redakteure spielen hier auf eine Aktion des Bonner AStA an, der 1967/1968 kostenlos die Adresse eines Zahnarztes aus Bamberg herausgab und per Annonce weitere Ärzte suchte, die bereit waren, unverheirateten Studentinnen ein Pillenrezept per Post zuzusenden, vgl. Hodenberg, Christina von, Das andere Achtundsechzig. Gesellschaftsgeschichte einer Revolte, München 2018, S. 160. 63 Vgl. Silies, Liebe, S. 103.

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Die Frauenbewegung und die Pille in den USA Die neue Frauenbewegung konstituierte sich in den USA seit Mitte der 1960er Jahre, nachdem die Journalistin und Gewerkschafterin Betty Friedan in ihrem Buche »The Feminine Mystique« (1963) die Probleme verheirateter weißer Frauen der Oberschicht geschildert hatte. Friedan gründete 1966 die National Organization for Women (NOW), welche sich mit reformerischen Mitteln zunächst vor allem für die Gleichberechtigung auf dem Arbeitsmarkt und reproduktive Autonomie einsetzte.64 Zeitgleich erfuhren jüngere Frauen, die sich in der Studentenbewegung und der afro-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung engagierten, Benachteiligung und sexuelle Belästigung in den sozialen Bewegungen, so dass sie die militantere Strömung der Woman’s Liberation konstituierten.65 Diese forderte mit Protestformen der neuen sozialen Bewegungen unter dem Slogan »the private is political« die Zerstörung von Patriarchat und Kapitalismus.66 Zentrales Element der Neugestaltung der Gesellschaft war die Sexualpolitik durch das Infrage stellen der normativen heterosexuellen Ehe, der Thematisierung von Vergewaltigung, der Forderung nach dem Zugang zu Abtreibung und Verhütungsmitteln, sowie nach Kinderbetreuung und dem Ende der Objektivierung von Frauen in den Medien.67 Die NOW übernahm ab 1968 vermehrt die Forderungen der jüngeren Women’s Liberation und gemeinsam konstantierten beide Strömungen die sogenannte zweite Welle der amerikanischen Frauenbewegung. Laut der Historikerin Elizabeth Siegel Watkins wurde die neue Frauenbewegung erst durch die Nelson Hearings auf die Problematiken der Pille aufmerksam.68 Während die National Organization for Women zwar auf ihrer Jahrestagung 1968 in einer Resolution »reproductive rights« forderte, dabei aber eher das Recht auf den Zugang zu Verhütungsmitteln allgemein und legale Abtreibung meinte,69 setzten sich jedoch schon seit 1969 auch jüngere Feminist*innen mit dem Zugang zu Informationen über Verhütungsmitteln und den Kontrollregimen über ihre Körper auseinander.70 64 Vgl. Heinemann, Isabel, Wert der Familie. Ehescheidung, Frauenarbeit und Reproduktion in den USA des 20. Jahrhunderts, Berlin 2018, S. 212–213 und 310. 65 Vgl. Echols, Alice, Shaky Grounds. The 60s and its Aftershocks, New York 2002, S. 79. 66 Alice Echols definiert Militanz und Radikalismus mit der Ablehnung des Liberalismus, des Materialismus und des Kapitalismus im Women’s Liberation Movement, im Vergleich zur reformorientierten NOW, siehe Ebd., S. 82–84. 67 Vgl. Echols, Alice, Daring to be Bad. Radical Feminism in America, 1967–1975, Minneapolis 1989, S. 3–4. 68 Vgl. Siegel Watkins, Pill, S. 130. 69 National Organization for Women, National NOW Resolutions on Reproductive Rights 1969–1977, in: Records of the National Organization for Women, MC496, Schlesinger Library, Radcliffe Institute, Harvard University, Cambridge, Mass., Box 87.1 (im Folgenden zitiert als »Records of the NOW«). 70 Vgl. Kline, Bodies, S. 14.

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Laut Anne M. Valks Lokalstudie zur Frauenbewegung in Washington DC , kämpfe das dortige Women’s Liberation Movement (DCWLM) um die Hörakustikerin Alice Wolfson seit 1969 für die freie Entscheidung über die eigene Reproduktionsfähigkeit, worunter sie den unbegrenzten Zugang zu Abtreibung und sicheren, effektiven Verhütungsmitteln verstanden.71 Da die Mitglieder des DCWLM die Nebenwirkungen der Pille schon untereinander diskutiert hatten, beschlossen sie 1970, den Nelson Hearings auf dem Capitol Hill beizuwohnen.72 Als offensichtlich wurde, dass keine betroffene Pillennutzerin bei der Anhörung sprechen würde, begannen die Aktivist*innen die Anhörung durch Zwischenrufe zu stören, hielten einen Sit-In vor dem Gesundheitsministerium ab und organisierten eine eigene Anhörung, bei der Frauen von ihren Erfahrungen mit den Nebenwirkungen der Pille berichteten. Auch wurden Medikamententests mit der Pille an nicht-weißen Frauen auf Puerto Rico, Haiti und in Texas thematisiert.73 Das DCWLM zog aus den Anhörungen die Erkenntnis, dass Frauen sich nicht auf die Regierung verlassen konnten, um sich vor gefährlichen Verhütungsmitteln zu schützen. Nach Valk hatten die selbst-organisierten Anhörungen und die Sammlung von Briefen von Patientinnen kein offizielles Gewicht, sie dienten dazu, einen »public record of their concerns« zusammenzustellen und so der Forschung Daten über die Erfahrungen von Frauen mit Nebenwirkungen zur Verfügung zu stellen.74 Dies war laut der Historikerin Wendy Kline ein erster Schritt dahingehend, Erfahrungen der Frauen als eigenen Wissensbestand anzuerkennen Kline zufolge war es eine zentrale Forderung des Women’s Health Movement, weibliche Erfahrung als Wissenskategorie gegenüber der medizinisch-naturwissenschaftlichen Erkenntnis zu privilegieren.75 Nach der Soziologin Kathy Davis wurde der Feminismus so zu einem »epistemological project,« indem er neue Wissensbestände über weibliche Körper generierte.76 Das Boston Women’s Health Book Collective und dessen bekannteste Veröffentlichung – das Handbuch »Our Bodies, Ourselves« – hatte einen wesent71 Valk, Anne M., Radical Sisters. Second-Wave Feminism and Black Liberation in Washington. D. C., Urbana 2008, S. 84–86. 72 Vgl. Ebd., S. 100. 73 In einer Blindstudie zur Anti-Baby-Pille wurden mexikanisch-stämmigen Frauen in San Antonio ohne ihr Wissen Placebo-Pillen verabreicht, woraus zehn ungeplante Schwangerschaften resultierten. Der Fall wurde von der Journalistin Gena Corea und der Aktivistin Belita Cowan öffentlich gemacht, die 1975 zusammen mit Barbara Seaman und Alice Wolfson das National Women’s Health Network gründeten, vgl. Corea, Gena, Hidden Malpractices. How American Medicine Mistreats Women, New York ²1977, S. 15; Cowan, Belita, Ethical Problems in Government-Funded Contraceptive Research, in: Holmes, Helen B. u. a. (Hg.), Birth Control and Controlling Birth. Women-Centered Perspectives, Clifton 1980, S. 37–46, hier S. 43. 74 Valk, Radical, S. 101. 75 Vgl. Kline, Bodies, S. 7 und 11. 76 Davis, Kathy, The Making of Our Bodies, Ourselves. How Feminism Travels Across Borders, Durham 2007, S. 8.

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lichen Anteil an der Konzeption des Feminismus als epistemologisches Projekt. Das Kollektiv bestand aus College-Studentinnen und jungen Hochschulabsolventinnen, die sich 1969 auf einer Women’s Liberation Konferenz am Emmanuel College in Boston getroffen hatten. Sie tauschten sich in einer ConsciousnessRaising-Gruppe, in der zehn bis fünfzehn Frauen anhand eines Fragenkatalogs diskriminierende Erfahrungen diskutierten, um sich die Ausmaße der eigenen Unterdrückung bewusst zu machen, über ihre Erfahrungen mit paternalis­ tischen Frauenärzt*innen aus.77 Zunächst beschlossen sie, eine Liste mit empfehlenswerten Gynäkolog*innen im Großraum Boston zusammenzustellen. Als sie jedoch daran scheiterten, begaben sie in Bibliotheken den aktuellen Forschungsstand zu medizinischem Wissen über weibliche Reproduktionsfähigkeit zusammenzustellen und untereinander zu teilen.78 Daraus entstand zunächst 1970 die im Eigenverlag publizierte Textsammlung »Women and their Bodies«, welches eine Initiative von Studentinnen der kanadischen McGill University imitierte, die kurz vorher ihr eigenes »Birth Control Handbook« herausgegeben hatten.79 Deutsche Studierende etwa an der Universität Bonn bemängelten zeitgleich einen Mangel an Aufklärung über Reproduktionskontrolle unter Studierenden, organisierten aber anstelle eines Handbuches eine Vorlesungsreihe und veröffentlichten Artikel in der Bonner Unizeitung.80 Eine deutsche Fassung von »Our Bodies, Ourselves« sollte 1980 erscheinen. Die erste Buchauflage des Bostoner Handbuch unter dem Titel »Our Bodies, Ourselves« erschien 1971 bei der New England Free Press. Seit der zweiten Auflage von 1973 kooperierte das Boston Women’s Health Book Collective mit dem kommerziellen Verlag Simon and Schuster.81 Das Buch wurde ein internationaler Erfolg, es wurde über 4 Millionen Exemplare in regelmäßigen Neuauflagen verkauft und in 28 Sprachen übersetzt. Außerdem gab das Kollektiv Handbücher für Mütter und Frauen in den Wechseljahren heraus.82 Während die Historikerin Wendy Kline besonders den Gegensatz zwischen Erfahrung als Wissen über weibliche Körper und naturwissenschaftlicher Erkenntnis in »Our Bodies, Ourselves« betont und so die Frauenbewegung und die Wissenschaft als Antagonisten darstellt,83 bemühten sich die Autorinnen 77 Vgl. Kline, Bodies, S. 14. 78 Vgl. Davis, Making, S. 21. 79 Vgl. Ebd., S. 22; siehe auch McGill University Student Society, Birth Control Handbook, Montreal 1971, zitiert nach Boston Women’s Health Book Collective, Our Bodies, Ourselves, Second expanded Edition, New York 1973, S. 137. 80 Vgl. Hodenberg, Achtundsechzig, S. 160–161. 81 Vgl. Kline, Bodies, S. 17. 82 Es erschienen auch Ausgaben auf English, die an die lokalen Begebenheiten in Großbritannien, Indien und Südafrika angepasst wurden, es gab jeweils zwei spanische Editionen für Spanien und die Americas, zwei französische für Frankreich und den Senegal und zwei arabische für Ägypten und Jordanien, vgl. Davis, Making, S. 213–218; siehe auch Morgen, Sandra, Into Our Own Hands. The Women’s Health Movement in the United States, 1969–1990, New Brunswick 2002, S. 21. 83 Vgl. Kline, Bodies, S. 15.

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zunächst, sich selbst die naturwissenschaftliche Erkenntnis anzueignen und als Akt der Befreiung an andere Frauen weiterzugeben. Dabei waren die Autorinnen in einer privilegierten Position, da sie als Studentinnen bzw. Hochschulabsolventinnen in Boston Zugang zu den Bibliotheken der Harvard University und dem MIT hatten, und so Zugang zu aktuellen Wissensbeständen erlangen konnten, die einer Puerto-Ricanerin in der Bronx oder einem Landarzt in Terre Haute (Indiana) nicht unbedingt offenstanden.84 Anders als Kline es darstellt, war der Antagonismus zwischen dem weiblichen Erfahrungswissen und dem durch männliche Ärzte und Experten repräsentierten wissenschaftlichen Beständen nicht seit der Entstehung des Boston Women’s Health Book Collective gegeben, sondern entstand erst im Laufe der ersten vier Auflagen. Die ursprüngliche Textsammlung »Women and their Bodies« (1970), die die Textgrundlage für die erste Auflage von »Our Bodies, Ourselves« (1971) bildete, behandelte das Thema Verhütungsmittel auf dreißig Seiten und forderte, dass Frauen das Recht haben sollten, über das Kinderkriegen selbst zu entscheiden. Verhütungsmittel wurden als Werkzeuge präsentiert, diese Entscheidung freiheitlich zu treffen.85 Jedoch, so argumentierten die Herausgeberinnen, wurde der Zugang zu Verhütungsmitteln weiterhin staatlich kontrolliert, da in Massachusetts 1972 noch ein Verkaufsverbot von Verhütungsmitteln an Unverheiratete galt.86 Der Text nahm Bezug auf die Nelson Hearings und kommentierte, dass die Anhörung gezeigt habe, wie wichtig es sei, dass Frauen Kenntnisse über ihre Körper und deren Funktionen erlangten.87 Der Text befasste sich kritisch mit der pharmazeutischen Industrie und dessen »cover-up« der Nebenwirkungen der Pille. Die Autorinnen betonten, dass die Pharmaindustrie ein profitorientierter Geschäftszweig war, der Forschungsprojekte von Bevölkerungsexpert*innen finanziell unterstützte.88 Das Problem mit Ärzten (die in dem Text als männlich imaginiert wurden) sei, dass sie dazu ausgebildet werden »to treat patients not human beings«, dass sie paternalistische Einstellungen hatte und von Pharmaunternehmen unterstützt würden. Daher könne man sich nicht auf sie verlassen.89 Ärzte wurden hier nicht als die Antagonisten der Frauenbewegung, sondern als unzuverlässige Vermittler zwischen 84 Eine von Seaman zitierte Patientin stammte aus Terre Haute (Indiana) und berichtete von einem uninformierten Hausarzt, vgl. Seaman, Doctors’, S. 20. 85 Boston Women’s Health Book Collective, Women and Their Bodies (1970), in: Records of the Boston Women’s Health Book Collective, MC 503, Schlesinger Library, Radcliffe Institute, Harvard University, Cambridge, Mass., Box 132.1, S. 59 (im Folgenden zitiert als »Records of the BWHBC «). 86 Erst 1972 entschied der Supreme Court in dem Urteil Eisenstadt v. Baird, dass das Recht auf Privatsphäre, welches in Griswold v. Connecticut (1965) etabliert wurde, auch für unverheiratete Paare galt, siehe hierzu Stein, Mark, Sexual Injustice. Supreme Court Decisions from Griswold to Roe, Chapel Hill 2010, S. 14. 87 BWHBC , Women, S. 59. 88 Ebd. 89 Ebd., S. 60.

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den Frauen und der Pharmaindustrie präsentiert, die aus Profitgier Informationen nicht ausreichend bereitstellten. Das Ziel der Textsammlung war es, Frauen Wissen als Ressourcen zur Selbstermächtigung zu vermitteln, nicht alternative Wissensbestände zum medizinischen Wissen zu erstellen. Die erste Version des Frauenratgebers veröffentlichte eine Liste mit Gegenindikationen und Nebenwirkungen der Pille, betonte aber, dass Sterblichkeitsraten bei Thrombosen in der Schwangerschaft oder bei illegalen Abtreibungen weitaus höher seien, so dass auch hier das Risiko der Pille gegenüber dem Risiko einer ungewollten Schwangerschaft aufgerechnet wurde.90 Die Autorinnen diskutierten zunächst, wie die zuverlässige Verhütung Paarbeziehungen veränderte, und dass Verhütungsmittel nicht einen »free fuck« für Männer bedeutete, sondern Frauen dazu ermächtigen sollten, ihre Sexualität zu genießen.91 Dann folgte ein mit naturwissenschaftlichen Informationen gespickter Absatz über die Wirkweise der Pille mit einem Fokus auf den hormonellen Wandel im weiblichen Zyklus. Es wurden verschiedene Pillenprodukte vorgestellt und die Autorinnen empfahlen eine Pillenpause alle zwei Jahre, wie es deutsche Ärzt*in­ nen schon in den 1960er Jahren getan hatten.92 Für die Pillenpause sollte ein alternatives Verhütungsmittel sorgfältig ausgewählt werden. Die Autorinnen listeten in einem Appendix die Vor- und Nachteile anderer Verhütungsmethoden, wie dem Diaphragma, Kondom und der Spirale inklusive der Kosten auf, ohne eine wertende Rangliste zu erstellen.93 Während die Pille eindeutig präferiert wurde, wurde Hilfestellung für die Auswahl von Alternativen in der Pillenpause geboten. Die Autorinnen forderten weiterhin mehr Forschung zur Anti-Baby-Pille, was wiederum belegt, dass sie die wissenschaftliche Forschung und ein medizinisch geschaffenes Verhütungsmittel an sich nicht ablehnten.94 Auch die Tatsache, dass sie unter Mediziner*innen und Expert*innen gängige Empfehlungen, wie die Pillenpause oder das Aufrechnen der Sterblichkeitsraten der hormonellen Verhütung mit ungeplanter Schwangerschaft oder illegaler Abtreibung übernahmen, zeigt, dass die erste Fassung keine klare Abgrenzung zum medizinischen Wissen verfolgte. Frauen wurden als alleinige Entscheiderinnen über die Wahl des Verhütungsmittels angesehen, da Ärzte aufgrund ihres Pater­ nalismus und ihrer Nähe zur Pharmaindustrie als externalisierte Entscheider versagt hatten. Nicht die Expertise an sich, sondern die Figur des männlichen, käuflichen Experten wurde abgelehnt. Für die 1971 erstmals in Buchform erschienene Version von »Our Bodies, Ourselves« wurde der Text in ein professionelles Layout gesetzt und wie ein Lehrbuch gestaltet. Zwar wurden alternative Verhütungsmittel ausführlicher 90 91 92 93 94

Vgl. Ebd., S. 61. Vgl. Ebd. Vgl. Ebd., S. 71–72. Vgl. Ebd., S. 78–89. Vgl. Ebd., S. 59.

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diskutiert und zwei Sätze zur Problematik der Zwangssterilisationen an nichtweißen Frauen eingefügt, das Kapitel hatte jetzt jedoch Layout-bedingt nur noch 20 Seiten.95 Es wurde fünf Texte weiterführender Referenzliteratur genannt, darunter ein Handbuch des britischen Forschers und IPPF Medical Director Malcolm Potts, genauso wie das Birth Control Handbook aus McGill und der »Student Guide to Sex on Campus« des Yale University Student Committee on Human Sexuality, so dass studentische Ratgeber gleichberechtigt neben Expertentexten standen.96 Für die zweite Auflage von 1973, die erstmals im Verlag Simon and Schuster erschien, wurde das Kapitel über Verhütungsmittel wieder auf 31 Seiten ausgedehnt.97 Der Text sprach Frauen direkt an und benutzte eine einfache Sprache um komplexe Sachverhalte, wie die Wirkunterschiede zwischen Pillen mit hohem Östrogen- und hohem Progesterongehalt zu erklären. Auch hier wurde wieder eine Warnung gegenüber der profitorientierten Pharmaindustrie ausgesprochen. Anstatt sich gegen Ärzt*innen oder Wissenschaften zu wenden, problematisierte der Text, woher Ärzt*innen ihre Informationen bekamen und forderte mehr unabhängige Studien. Es wurde keine Kritik an Planned Parenthood oder Bevölkerungsorganisationen wie der Association for Voluntary Ster­ ilization (der früheren Human Betterment Foundation) und dem Zero Population Growth Movement (ZPG) geübt, stattdessen wurden diese Institutionen als Orte empfohlen, an denen Frauen gründliche Voruntersuchungen und bessere Informationen erhalten konnten als bei ihren Hausärzt*innen.98 Der Text betonte, dass Frauen nach der Absprache mit einem Arzt / einer Ärztin eine eigene, informierte Entscheidungen über die Wahl ihres Verhütungsmittels treffen sollten und schrieb den Begriff »informed consent« der Journalistin Barbara Seaman zu.99 Die Autorinnen gingen jedoch kritisch mit Seamans Recherche um und kommentierten, dass viele der Frauen in ihren Fallstudien zu lange gewartete hatten, bevor sie sich medizinische Hilfe geholt oder andere Ursachen für die Symptome ausgeschlossen hatten. Die Autorinnen betonten anders als Seaman, dass Frauen das Recht hätten, auch bei weniger schweren Nebenwirkungen die Pille weiterhin zu nehmen, »you may decide to put up with minor side effects rather than choose a less effective or less conventient

95 BWHBC , Our Bodies, Ourselves, Boston 1971, S.59. Siehe Kapitel 4 dieses Buches zur Problematik der Zwangssterilisationen in den USA . 96 Malcolm Potts war in den 1960er Jahren Mitarbeiter der Marie-Stopes-Klinik in London und medizinischer Direktor von IPPF. Unter anderem diente er als Gutachter für den britischen Abortion Act 1967 und entwickelte 1972 die Absaugmethode für Abtreibungen, 1978 nahm er eine Professur an der University of California Berkeley an. Potts, Malcolm / Peel, John, Textbook for Contraceptive Practice, Cambridge 1969, zitiert nach BWHBC , Our Bodies, S. 60. 97 BWHBC , Our Bodies, Ourselvs, New York ²1973, S. 106–137. 98 Vgl. Ebd., S. 137. 99 Vgl. Ebd., 114.

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method.«100 Als weitere sichere Verhütungsmethoden wurden die Spirale, das Kondom und das Diaphragma empfohlen, die Cervical Cap (Pessar), welches in feministischen Gesundheitskliniken als wiederentdeckte Alternative zur Pille ausgetestet wurde, wurde als altmodisches Verhütungsmittel bezeichnet.101 Ein langer Textabschnitt diskutierte die Funktionsweise der Zeitwahlmethode so wie die Rolle der Katholischen Kirche und des Puritanismus als Hindernisse des öffentlichen Diskussion über Sexualität.102 Als weitere Literaturempfehlungen wurden neben den studentischen Handbüchern Publikationen des Kinsey Instituts für Sexualstudien und Schriften der Gynäkologin Mary S. Calderone im Planned-Parenthood-Vorstand genannt, sodass wissenschaftliche Texte und Laienpublikationen wieder gleichberechtigt nebeneinander standen.103 Der Schwerpunkt wurde hier auf den Erhalt verlässlicher Informationen gelegt. Nicht Expert*innen oder Ärzt*innen, sondern die Pharmaindustrie und die katholische Kirche galten als die größten Hindernisse im Zugang zu reproduktivem Wissen. Frauen wurden hier erstmals explizit als Entscheiderinnen bezeichnet, denen das Recht zugesprochen wurde, auch aus nichtrationalen Gründen ein Verhütungsmittel mit Nebenwirkungen einen weniger sicheren, aber auch weniger riskanten Verhütungsmittel vorzuziehen. Ihnen wurde nun zugetraut, auch riskante Entscheidungen selbstständig zu treffen. Die wichtigste Neuerung für die dritte Auflage von »Our Bodies, Ourselves« (1976) war die explizite Einbeziehung weiblicher Erfahrungen durch den Abdruck von Leserinnenbriefen (z. B. zur Erfahrung mit Nebenwirkungen der Spirale oder psychologischen Auswirkungen der Sterilisation), die den wissenschaftsbasierten Informationstext ergänzten.104 Der Text reflektierte unter der Überschrift »The Politics of Birth Control« von Anfang an die Probleme, die gezielte Programme zur Familienplanung unter armen Frauen schufen, die zwar ihre Kinderanzahl selbst bestimmen wollten, aber an den Motiven der Organisationen zweifelten.105 Auch argumentierte die Neuauflage, dass Frauen, jetzt wo die Abtreibung im ersten Trimester seit dem Entscheid des Obersten Gerichtshofs in Roe v. Wade im Januar 1973 legal war, sich eher für ein weniger zuverlässiges, aber mit weniger Nebenwirkungen behaftetes Verhütungsmittel entscheiden würden.106 Dennoch sollte »effectiness« eines der ersten Kriterien sein, die Frauen bei der Wahl des Verhütungsmittels reflektieren. Die ideale Entscheidung für ein Verhütungsmittel wurde folgendermaßen beschrieben:

100 101 102 103 104 105 106

Ebd., S. 117. Vgl. Ebd., S. 127. Vgl. Ebd., S. 132–133. Vgl. Ebd., S. 137. BWHBC , Our Bodies, Ourselves, New York ³1976. Vgl. Ebd., S. 182. Vgl. Ebd., S. 183.

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The choice usually involves deciding where we are willing to make a compromise. We can weigh whether effectiveness, safety, or convenience matter more to us, and most important, what method we feel most comfortable with and which one we will use the most consistently.107

Zum einen zeigte der Text, dass Frauen immer abwägen mussten, welche Nachteile sie lieber in Kauf nehmen würden. Auch wurde die Auswahl des passenden Verhütungsmittels zu einem komplexen Unterfangen. Zunächst einmal musste die Frau für sich selbst entscheiden, welche Parameter – Effizienz, Sicherheit, Komfort, regelmäßige Nutzung – ihr am Wichtigsten waren, dann die zur Verfügung stehenden Methoden nach all diesen Parametern auflisten und so eine rationale Entscheidung treffen.108 Diese Entscheidung musste jede Frau für sich selbst treffen, da für jede andere nicht dieselben Parameter bedeutend waren. Für die vierte Auflage von »Our Bodies, Ourselves« von 1984 wurde das Kapitel zu Verhütungsmitteln komplett umgeschrieben.109 Das Kapitel umfasste nun 47 Seiten und es änderte sich der Ton. Planned Parenthood, IPPF und die Association für Voluntary Sterilization wurden als »population control establishment« und als Antagonisten der Frauenbewegung beschrieben.110 Die Diskussion von Rassismus und Sterilisationsmissbrauch nahm von Anfang an einen großen Raum ein.111 »Birth Control« wurde als Entscheidung für das »richtige« Verhütungsmittels dargestellt, dann folgte eine Auflistung der zugänglichen Verhütungsmittel in der Reihenfolge, in der sie empfohlen wurden. Dabei stand das Diaphragma an erster, das Kondom an zweiter und das Pessar an dritter Stelle. Die Pille fand sich erst an siebter Stelle, die Spirale an achter und die Sterilisation an zehnter Stelle. Natürliche Verhütungsmethoden, wie die Zeitwahlmethode, die Basaltemperaturmessung und die sogenannte Mucus-Methode (die tägliche Beobachtung des Vaginalsekrets zur Datierung des Eisprungs) fanden sich auf Platz sechs noch vor der Pille, auf Platz vier und fünf waren verschiedene Spermizide.112 Die Rangliste zeigt, dass die Autorinnen mechanische Methoden gegenüber langfristigen Methoden bevorzugten. Die Kriterien für die Rangliste waren weder die Zuverlässigkeit noch die Be107 Ebd., S. 185. 108 Das Prinzip entspricht der von dem Soziologen Hartmut Esser in mathematischen Formeln beschriebenen Anwendungspraxis der Rational-Choice-Theorie, die besagt, dass Nutzer bestimmten Parameter, die für ihre Entscheidung wichtig sind, einen Relevanzwert zuordnen und diese dann mit quantifizierten Werten wie der Versagerquote von Verhütungsmitteln multiplizierten, um so herauszukriegen, welche Option am besten zu der persönlichen Entscheidungssituation passt. Vgl. Esser, Hartmut, Alltagshandeln und Verstehen. Zum Verhältnis von erklärender und verstehender Soziologie am Beispiel von Alfred Schütz und »Rational Choice«, Tübingen 1991, S. 54–57. 109 Vgl. BWHBC , The New Our Bodies, Ourselves, New York 41984, S. 220. 110 Vgl. Ebd., S. 220. 111 Vgl. Ebd., S. 256–257. 112 Vgl. Ebd., S. 225–259.

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quemlichkeit der Anwendung, sondern allein die historische Erfahrung mit dem Missbrauch, etwa die Erfahrung mit Sterilisationsmissbrauch unter afro-­ amerikanischen und mexikanisch-stämmigen Frauen, die Pillentests auf Puerto Rico und in Texas oder der Skandal um die Spirale Dalkon Shield 1975.113 Die Empfehlung des Diaphragmas an erster Stelle basierte darauf, dass es von der Frau alleine anzuwenden und von einer Krankenschwester oder Mitarbeiterin in einer feministischen Frauengesundheitsklinik angepasst werden konnte.114 Missbrauch durch medizinische Institutionen oder die Pharmaindustrie war folglich ausgeschlossen. Während die Frauenbewegung in den 1970er Jahren zwischen der Einforderung der individuellen Rechte für einzelne Frauen und der »Sisterhood«, der Solidarität unter Frauen zum Erreichen dieser Rechte hin und her pendelte, stand nun nicht mehr die individuelle Entscheidung der einzelnen Frau, die das Verhütungsmittel angepasst an ihre Bedürfnisse auswählte, im Vordergrund. Stattdessen wurden Erfahrungen marginalisierter Frauengruppen mit bestimmten Verhütungsmitteln kollektiviert. Somit wurde »Sisterhood« stärker gewichtet als der Individualismus und die Forderungen der Frauenbewegung wandelten sich von Reproductive Rights zu Reproductive Justice.115 Auch konnte die Förderung eines »nur« zu 95 Prozent sicheren Verhütungsmittels, wie dem Diaphragma, gut mit der politischen Forderung nach der Freigabe der Abtreibung verknüpft werden, da die legale Abtreibung als Backup zur Verfügung stehen sollte. Die Wahl des Verhütungsmittels war ein politisches Statement. Während die Motivationen der Aktivistinnen rühmlich sind, schufen sie so jedoch einen Antagonismus zwischen wissenschaftlich basiertem Wissen (etwa über die Anwendungssicherheit) und erfahrungsbasiertem Wissen über den Missbrauch bestimmter Methoden. Das individuelle Entscheidungsrecht der Frau rückte somit wieder in den Hintergrund. Anstatt des Arztes /  113 Das Dalkon Shield war eine Plastik-Spirale mit Spikes und Nylonfäden, die ein Abstoßen aus der Gebärmutter verhindern sollten. Jedoch war das Produkt vor der Markteinführung 1970 nicht ausreichend getestet worden und hatte keine Zulassung durch die FDA erhalten. In den Jahren 1970 bis 1976 stellte sich heraus, dass die Spirale anstatt einer Versagerrate von 1,1 Prozent eine Versagerrate von 5,5 Prozent hatte, schmerzhafte Krämpfe, längere Perioden und bei einer ungewollten Schwangerschaft oft Fehlgeburten auslöste. Auch boten die Nylonfäden Bakterien einen erleichterten Eintritt in die Gebärmutter und löste so schmerzhafte Unterleibsentzündungen aus, die von Gynäkologen oft fälschlicherweise als Gonorrhoe-Erkrankung diagnostiziert wurden. In den USA starben so mindestens 15 Nutzerinnen, vgl. Planned Parenthood Arizona, »Instrument of Torture«. The Dalkon Shield Disaster« (28.3.2016), http://advocatesaz.org/2016/03/28/ instrument-of-torture-the-dalkon-shield-disaster/, letzter Zugriff: 12.03.2019; siehe auch Takeshita, Chikako, The Global Biopolitics of the IUD. How Science Constructs Contraceptive Users and Women’s Bodies, Cambridge 2011, S. 57–58. 114 Feministische Frauengesundheitskliniken werden im Verlauf dieses Kapitels noch ausführlich vorgestellt. 115 Zum Wandel feministischer Reproduktionspolitik in den USA weg von der Betonung des Individualismus hin zu kollektiven Nöten von Minderheiten, siehe Murphy, Michelle, The Economization of Life, Durham 2017, S. 142.

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der Ärztin wurde jetzt das feministische Kollektiv zur Ressource des Entscheidens über Verhütungsmittel, da es das Erfahrungswissen über den Missbrauch langzeitlicher Verhütungsmittel unter Minderheiten akkumulierte.

Die Frauenbewegung und die Pille in der Bundesrepublik Während in den USA die Frauenbewegung und Leserbriefe zum Vehikel wurden, in dem Frauen ihren Frust über paternalistische Einstellungen von Ärzten loswurden, sammelten in der Bundesrepublik die Beratungsstellen der Pro-Familia ähnlich gelagerte Beschwerden. Anders als in den USA arbeiteten in den Beratungsstellen von Pro Familia nur Ärztinnen, die von Patientinnen vermehrt aufgesucht wurden, weil ihre männlichen Kollegen inkompetente Beratung über Verhütungsmittel anboten. So schrieb die Ehrenvorsitzende Anne-Marie D ­ urand-Wever der Bundesvorsitzenden Eva Hobbing 1969, »die Herren Gynae­ kologen sind sich nicht im Klaren darüber, dass es ihr eigenes Versagen ist, das den Grund bietet weshalb überhaupt eine familienplanende Organisation ins Leben gerufen worden ist. Ich besass [sic] mehrere Ordner mit Briefen von Frauen die über das Versagen der Aerzte [sic] klagen.«116 Dies zeigt, dass Frauen in der Bundesrepublik ähnliche Erfahrungen mit paternalistischen Ärzten machten, die sie nicht ausreichend berieten oder über Nebenwirkungen aufklärten. Jedoch zeigt es auch, dass Pro Familia sich im bundesdeutschen Kontext in einer anderen Position befand als Planned Parenthood in den USA und von Frauen nicht als Teil eines »population control establishment« sondern als Alternative zum medizinischen Establishment aufgesucht wurde. Die neue Frauenbewegung entwickelt sich in der Bundesrepublik aus der Studentenbewegung um 1968, als Studentinnen protestierten, dass ihre männlichen Kommilitonen im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) ihre Anliegen nicht ernst nahmen. Durch die Rede Helke Sanders auf dem Kongress des SDS in Frankfurt am Main im September 1968 verschafften sich die Studentinnen erstmals Gehör und konsolidierten so eine eigene Bewegung innerhalb der Studentenbewegung.117 Besonders ging es den Aktivistinnen darum, Möglichkeiten der Vereinbarkeit von Kinderbetreuung und politischen Aktivismus zu schaffen.118 Eine wesentliche Errungenschaft war die Einrichtung sogenannter Kinderläden, Kindertagesstätten in leerstehenden Ladenlokalen, 116 Die Ordner gab Durand-Wever an die Berliner Pro-Familia-Beratungsstelle weiter, wo sie leider mit dem Ruhestand der Ärztin Ilse Brandt 1982 verloren gingen, vgl. DurandWever, Anne-Marie, Brief an Eva Hobbing (11.11.1969), in: BArch N 1336/404. 117 Tatsächlich hatten die im SDS organisierten Frauen schon im Januar 1968 einen Aktionsrat gegründet, vgl. Silies, Liebe, S. 377–378. 118 Vgl. Schmincke, Imke, Von der Befreiung der Frau zu der Befreiung des Selbst. Eine kritische Analyse der Befreiungsemantik in der (neuen) Frauenbewegung, in: Eitler, Pascal / Elberfeld, Jens (Hg.), Zeitgeschichte des Selbst. Therapeutisierung, Politisierung, Emotionalisierung, Bielefeld 2015, S. 217–238, hier S. 225; siehe auch Schulz, Kristina,

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in denen Kinder nach den Methoden der antiautoritären Erziehung betreut werden sollten. Erst durch die Initiative der Journalistin Alice Schwarzer, die für die Illustrierte »stern« eine Kampagne der französischen Frauenbewegung zur Legalisierung der Abtreibung mit dem berühmten »Wir haben abgetrieben« Titelbild imitierte, öffnete sich die westdeutsche Frauenbewegung auch über studentische Kreise hinaus.119 Von Beginn an war die westdeutsche Frauenbewegung nicht nur von französischen Aktivistinnen, sondern auch von ihren britischen und amerikanischen Schwestern inspiriert. So benannte sich eine Gruppe Berliner Aktivistinnen, die sich ausgehend von der Abtreibungsfrage für reproduktive Rechte einsetzten, »Brot und Rosen« nach dem Vorbild streikender Textilarbeiterinnen aus Lawrence (Massachusetts) von 1912.120 Brot und Rosen bot ab 1972 Beratungssprechstunden für Schwangere an und wurde 1973 von der kalifornischen Aktivistin Carol Downer aus dem Feminist Health Center in Los Angeles besucht, die ihnen eine Einführung in amerikanische Konzepte von »self-help« gab.121 Feministische Selbsthilfe-Kliniken waren seit Ende der 1960er Jahre zunächst in San Francisco und Los Angeles entstanden, bald darauf auch in Boston, Seattle, Iowa City oder Atlanta. Sie gingen sowohl auf Initiativen der Frauenbewegung wie auch der Civil-Rights-Bewegung zurück, um Frauen Unterstützung bei ungewollten Schwangerschaften oder Geschlechtskrankheiten zu bieten.122 Laut der Historikerin Sandra Morgen war es das Ziel der Kliniken, Frauen zu ermächtigen, eigenständige Entscheidungen über Verhütungsmittel oder eine Abtreibung zu treffen. Dabei sollten Frauen ein möglichst umfangreiches Wissen über Verhütungsmethoden und Zugängen zur Abtreibung erhalten, um so

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Der lange Atem der Provokation. Die Frauenbewegung in der Bundesrepublik und in Frankreich, 1968–1976, Frankfurt am Main 2002, S. 72. Vgl. Gerhard, Ute, Frauenbewegung und Feminismus. Eine Geschichte seit 1789, München 2009, S. 111. Schwarzers Kampagne wird detailliert in Kapitel 7 dieses Bandes diskutiert. Vgl. Schulz, Atem, S. 147. Scheinbar gab es keine Verbindungen zu der 1969 in Boston gegründeten politischen Frauengruppe Bread and Roses, beide wählten wohl die gleichen historischen Vorbilder als Namenspaten, vgl. Echols, Daring, S. 387. Vgl. Grundwald, Mary, The Feminist Women’s Health Center in West Berlin, in: FFGZ (Feministisches Frauengesundheitszentrum Berlin) International Newsletter (25.01.1979), S. 29–30, Zeitschriftenausschnitt in: Records of the BWHBC , Box 131.7. Siehe auch Morgen, Own, S. 101. Laut Morgen ist Carol Downer (geb. 1933) eine sechsfache Mutter und Hausfrau aus der Arbeiterschicht in Los Angeles, die seit 1969 in der NOW aktiv war, aber rechtliche Änderungen allein für nicht ausreichend hielt und daher feministische Selbsthilfe und Selbstuntersuchungen als Mittel der Ermächtigung zunächst in Kalifornien und dann global verbreitete, siehe Morgen, Own, S. 22. Während Morgen die Entstehung der feministischen Women’s Health Centers in Kalifornien aus Initiativen der Frauenbewegung heraus analysiert, zeigt Jennifer Nelson in ihrer Fallstudie der Frauengesundheitszentren in Seattle und Atlanta, dass sich diese Kliniken für nicht-weiße Patientinnen aus den Traditionen der Bürgerrechtsbewegung entwickelt hatten, vgl. Morgen, Own, S. 7–8; Nelson, Jennifer, More Than Medicine. A History of the Feminist Women’s Health Movement, New York 2015, S. 2.

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eine »physician-knows-best attitude« ihrer Gynäkolog*innen entgegenzuwirken und das weibliche Recht auf Selbstbestimmung zu bestätigen.123 Selbsthilfe und Wissensvermittlung dienten nicht allein einem Selbstzweck, sondern verfolgten politische Ziele. Das politische Recht auf legale Abtreibung und Selbstbestimmung über den eigenen Körper war nur durchzusetzen, wenn Frauen beweisen konnten, dass sie genug Wissen hatten, um selbstständig über ihre Körper zu entscheiden. Die deutschen Aktivistinnen reisten für weitere Schulungen im Konzept der feministischen Selbsthilfe nach Los Angeles. Laut eigenen Angaben nutzten sie »Our Bodies, Ourselves« als Referenzbuch in der Beratung,124 auch vertrieben sie amerikanischen feministische Literatur, wie etwa Shulamit Firestone’s »The Dialectic of Sex« (1972) oder Anne Koedts »The Myth of the Vaginal Orgasm« (1968).125 Es ist davon auszugehen, dass »Our Bodies, Ourselves« als Inspiration für Brot und Rosen diente, 1972 das »Frauenhandbuch Nr. 1« zu verfassen.126 Während die erste Auflage des »Frauenhandbuchs« die Pille und die Spirale als ungefährliche Verhütungsmittel empfahl und deren Ausgabe auf Krankenschein forderte, wurde die zweite Auflage wesentlich kritischer.127 Die Autorinnen berichten, dass sie »gegen unseren Willen zu Experten in Verhütungsfragen geworden« seien.128 Ursprünglich hatten sie im Kontext der Aktion 218, einem Frauenbündnis zum Protest zur Abschaffung des Abtreibungsparagraphen 218, zwischen 1972 und 1974 einmal wöchentlich eine Sprechstunde für ungewollt schwangere Frauen angeboten.129 Dabei stellten sie fest, dass viele Frauen das Bedürfnis nach besseren Informationen über Verhütungsmittel hatten. Jedoch erachteten die Autorinnen das Konzept der Schwangerschaftsverhütung durch künstliche Mittel an sich als problematisch. Theorieversierter als ihre US -amerikanischen Schwestern analysierten sie asymmetrische Machtverhältnisse zwischen Frauen und Männern, zwischen Patientinnen und Ärzten, zwischen Klientinnen und Pharmaindustrie, sowie zwischen Frauen im globalen Süden und Bevölkerungsplanern.130 Dabei sahen sie in der Verbreitung von Verhütungsmitteln keine Lösung der »Abtreibungsfrage«, sondern forderten die Streichung des § 218 zur Lösung der Verhütungsproblematik.131 An feministischen und humanistischen Organisationen, die die Pille auf Krankenschein forderten, kritisierten sie, dass diese sich nicht mit der »sexuellen 123 Morgen, Own, S. 74. 124 Vgl. Karsten, Gaby (FFGZ), Brief an BWHBC (17.10.1976), in: Records of the BWHBC , Box 75.6. 125 Vgl. Schmincke, Befreiung, S. 229; siehe auch Brown, Timothy Scott, West Germany and the Global Sixties. The Antiauthoritarian Revolt, 1962–1978, Cambridge 2013, S. 298–299. 126 Vgl. Silies, Liebe, S. 391; Schmincke, Befreiung, S. 231; Schulz, Atem, S. 247. 127 Für eine detaillierte Auseinandersetzung mit der ersten Auflage des »Frauenhandbuchs«, siehe Silies, Liebe, S. 388. 128 Autorenkollektiv Brot und Rosen, Frauenhandbuch Nr. 1, Berlin ²1974, S. 7. 129 Vgl. Ebd., S. 10. 130 Vgl. Ebd., S. 18. 131 Vgl. Ebd., S. 42 und 100.

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Unterdrückung der Frau auseinander gesetzt« hätten, da sich Nutzerinnen in ein Abhängigkeitsverhältnis der Pharmaindustrie begäben.132 Aus medizinischer Sicht würde die hormonelle Wirkung den gesamten Körper verändern, es gäbe »kaum ein Organ, das nicht durch die Hormonzufuhr in seiner Funktion, wenn auch nur gering, verändert wurde.«133 Auch diene das Hormonpräparat dazu, Frauenkörper nach einem einheitlichen Ideal umzugestalten, da es eine »Pille für jeden Typ« gäbe.134 Schlanken Frauen würden östrogenhaltige Präparate verschrieben, die eher zu Gewichtszunahmen und »weiblichen Rundungen« führen, während Frauen, die »klein und dick« seien, eher progesteronhaltige Pillen verschrieben wurden, da diese zu Gewichtsverlust führen würden.135 Das Wissen, welches in dem Handbuch vermittelt wurde, war in großen Teilen akademisch produziert. Unter anderem wurden Broschüren und wissenschaftliche Publikationen von Mitarbeiterinnen von Pro Familia und Planned Parenthood empfohlen.136 Alternative Verhütungsmethoden wurden kritisch vorgestellt. So diskutierte das Handbuch in der Sektion über Spiralen, DreiMonats-­Spritzen und der Sterilisation die Abhängigkeitsverhältnisse und Möglichkeiten des Missbrauchs beim Einsatz für Frauen im globalen Süden.137 Ähnlich wie die 1984er Version von »Our Bodies, Our­selves«, war die Autonomie der Anwendung bzw. die Missbrauchsmöglichkeit von Verhütungsmethoden das wichtigste Kriterium ihrer Bewertung. Als empfehlenswerte Methoden wurden das Diaphragma, das Pessar, Spermazide, die Basaltemperaturmessung, sowie das Kondom genannt.138 Jedoch plädierten die Autorinnen für die Emanzipation der Frau durch die Achtung der fruchtbaren Tage.139 Zeitgenössische Frauen würden Verhütungsmittel anwenden, da ihnen das Wissen früherer Generationen über ihre Körper und ihre Fruchtbarkeit fehlte.140 So sollte die Wiederentdeckung dieses traditionelle Körperwissen zur Befreiung der Frau aus einem fremdbestimmten Verhütungsregime dienen. Dabei ging das Frauenhandbuch weit über wissenschaftlich gesichertes Wissen hinaus, in dem es die »Astrologischen Geburtenkontrolle« vorstellte.141 Der Ausgangspunkt dieser Methode war, dass Frauen am »fruchtbarsten wären«, 132 Vgl. Ebd., S. 25. 133 Ebd., S. 47. 134 Vgl. Ebd., S. 53. 135 Das Argument, dass östrogenhaltige Pillen weibliche Eigenschaften mehr betonen, findet sich auch in der ersten Auflage von »Our Bodies, Ourselves«, ohne dass dieser Gedanke jedoch weiterverfolgt wird, vgl. BWHBC , Women, S. 59. 136 Vgl. Ebd., S. 60–62. 137 Vgl. Brot und Rosen, Frauenhandbuch, S. 79–80 und 89–90. 138 Vgl. Ebd., S. 94. 139 Vgl. Ebd., S. 42. 140 Vgl. Ebd., S. 43. 141 Vgl. Ebd., S. 97–99. Diese Methode wurde auch in der 1976er Ausgabe von »Our Bodies, Ourselves« als eine noch nicht erwiesene und in der Tschechoslowakei entwickelte ­Methode vorgestellt, in der 1984er Fassung wurde sie als Verhütungsmethode, »which just doesn’t work« abgelehnt, vgl. BWHBC , Bodies, 1976, S. 209; BWHBC , New, S. 256.

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wenn die Sonne und der Mond in der gleichen Position ständen, wie zum Zeitpunkt ihrer Geburt unabhängig von Eisprung und Menstruation. Diese Methode sei »wissenschaftlich nicht erwiesen, aber durch die Praxis genügend erwiesen.« Sie erforderte von der Frau einzig das Wissen über den Zeitpunkt ihrer eigenen Geburt, welchen sie von ihrer Mutter erfahren konnte.142 Somit wurde im Handbuch eine durchaus esoterische, aber durch matrilinear weitergegebenes Wissen gestützte Methode privilegiert, die jedoch das Problem missachtete, dass Frauen nicht nur am »fruchtbarsten« Tag ihres Zyklus, sondern auch bei Geschlechtsverkehr ein paar Tage vor oder nach dem Eisprung schwanger werden konnten. Als Lösung dafür, falls die Methode doch nicht klappen würde, wurde auf der folgenden Seite die Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs durch die Streichung des § 218 gefordert.143 Dass Frauen ein zuverlässiges aber mit Risiken behaftetes oder ein unbequemes Verhütungsmittel einer Abtreibung vorziehen könnten, wurde nicht diskutiert. Trotz der politischen Radikalität von Brot und Rosen zeigt das »Frauenhandbuch« exemplarisch, wie transatlantische, feministische Netzwerke kritische Positionen zu Verhütungsmethoden in den bundesrepublikanischen Diskurs einbrachten. Ausgehend von der Frauenbewegung und eigenen Erfahrungen mit Nebenwirkungen begannen im Laufe der 1970er Jahre immer mehr Frauen in der Bundesrepublik, die Pille kritisch zu sehen, wie der »Spiegel« in einer Titelstory 1977 berichtete, und dabei polemisch die Ablehnung der Pille durch Brot und Rosen mit dem Standpunkt des Papstes verglich.144 Das Vorbild »Our Bodies, Ourselves« war durch feministische Gruppen und Bibliotheken auf Armee-Stützpunkten nach Deutschland gekommen.145 Das Boston Women’s Health Book Collective selbst stand seit 1976 mit dem Berliner Feministischem Frauengesundheitszentrum (FFGZ) in Kontakt, welches Mitglieder von Brot und Rosen zusammen mit anderen Aktivistinnengruppen 1975 gegründet hatten.146 Die amerikanischen Aktivistinnen fragten 1976 bei ihren deutschen Kolleginnen an, ob sie sich an einem Übersetzungsprojekt beteiligen wollten, da sie Anfragen von zwei engagierten Mitarbeiterinnen des Rowohlt Verlags, dem Münchener Verlag Frauenoffensive, sowie individuellen Aktivistinnen aus Wiesbaden, München, Wien und Heidelberg erhalten hatten, »Our Bodies, Ourselves« ins Deutsche zu übersetzten.147 Das FFGZ sah sich jedoch 142 Ebd., S. 98. 143 Vgl. Ebd., S. 100. 144 Vgl. N. N., Das Unbehagen an der Pille, in: Der Spiegel 31 (31.01.1977) H. 6, S. 38–49, hier S. 49. 145 Vgl. Wacker, Inge, Brief an Judy Norsigian und Norma Swenson (07.09.1977), in: ­Records of the BWHBC , Box 75.6. 146 Vgl. Silies, Liebe, S. 397; siehe auch Karsten, Gaby (FFGZ), Brief an BWHBC (17.10.1976), in: Records of the BWHBC , Box 75.6. 147 Vgl. Norsigian, Judy / Swenson, Norma, Letter to our German Sisters (Juli 1977), in: Records of the BWHBC , Box 75.6; siehe auch Blau, Freda, Brief an Judy Norsigian und Norma Swenson (13.03.1978), in: Records of the BWHBC , Box 75. 7.

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nicht in der Lage, Verantwortung für das Übersetzungsprojekt zu übernehmen. Zum einen gaben die Aktivistinnenselbst 1975 ein weiteres Frauengesundheits­ handbuch unter dem Titel »Hexengeflüster« und eine eigene Zeitschrift namens »Clio« zum Thema Selbsthilfe heraus, zum anderen wollten sie nicht mit dem Rowohlt Verlag zusammenarbeiten.148 Da die Rowohlt Mitarbeiterinnen keine passenden feministischen Übersetzerinnen am Verlagssitz Hamburg fanden, beschlossen die Bostoner Herausgeberinnen, die Aufgaben unter den verschiedenen interessierten Gruppen und Einzelpersonen in Westdeutschland und Österreich aufzuteilen. Die »German Sisters«, die die Übersetzung der unterschiedlichen Kapitel übernahmen, waren Beate Menzel und Kerstin ­Lorenzen (beide Rowohlt Verlagsmitarbeiterinnen), Hanny Lothrop (Wies­baden), Inge Wacker (München), Freda Meissner-Blau, Erica Fischer (beide Wien), und Bruni Ludwig (Heidelberg).149 Neben den amerikanischen Ausgaben von 1973 und 1976 diente auch die italienische Übersetzung von 1976 als Vorlage für »Unser Körper, unser Leben« (1980), da sich die Bostoner Herausgeberinnen Judy Norsigian und Norma Swenson mit den Übersetzerinnen 1976 im Rahmen eines Besuchs in Rom getroffen hatten.150 Die deutschsprachige Fassung war im Gegensatz zur italienischen Ausgabe keine direkte Übersetzung von »Our Bodies, Ourselves«, sondern wurde an lokale Gegebenheiten angepasst.151 Die Fallbeispiele, aus denen weibliches Erfahrungswissen generiert wurde, stammten von Patientinnen der Heidelberger Pro-Familia-Beratungsstelle.152 Die Heidelberger Aktivistin Bruni Ludwig hatte die Übersetzung und Ausarbeitung des Kapitels über Verhütungsmittel übernommen. Sie war Studentin der Medizinanthropologie, die nebenbei in der Pro-Familia-Beratungsstelle in Heidelberg als Beraterin tätig war.153 Sie war außerdem als Austauschstudentin in San Francisco gewesen und hatte dort die Arbeit des kalifornischen Feminist Women’s Health Centers kennengelernt.154 Das 131 DIN A5 Seiten lange Kapitel zu Verhütungsmitteln begann mit der Geschichte der Verhütung und betonte, dass das Diaphragma eine deutschen 148 Vgl. Schmincke, Befreiung, S. 230. 149 Vgl. Norsigian, Judy / Swenson, Norma, Letter to our German Sisters (Dezember 1977), in: Records of the BWHBC , Box 75.6. 150 Sie trafen sich im Juni 1977 noch mal bei einem Besuch von Norsigian und Swenson in Hamburg, vgl. Kahn-Ackermann, Susanne (Verlag Frauenoffensive, München), Brief an Judy Norsigian und Norma Swenson (30.08.1977), in: Records of the BWHBC , Box 75.6. 151 Vgl. Wacker, Inge, Brief an Judy Norsigian und Norma Swenson (28.03.1978), in: Records of the BWHBC , Box 75.7. 152 Vgl. BWHBC , Unser Körper, Unser Leben, Our Bodies, Ourselves. Ein Handbuch von Frauen für Frauen, Reinbek 1980, S. 388. 153 Vgl. Ludwig, Bruni, Brief an Judy Norsigian und Norma Swenson (11.10.1982), in: Records of the BWHBC , Box 75.8; siehe auch Ludwig, Bruni, Brief an Hans Harmsen (22.07.1982), in: BArch N 1336/568. 154 Vgl. Morgen, Own, S.79–80 und 100.

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Erfindung des Flensburger Arztes Wilhelm Mensinga war.155 Kulturspezifisch war etwa auch die Empfehlung Nivea-Creme nicht als Gleitmittel zu benutzen, was auf die westdeutsche Konsumkultur anspielte.156 Der Text erwähnte unter der Kapitelüberschrift »Verhütung und Gesellschaft« Debatten um Überbevölkerung, den pharmaindustriellen Komplex und die Probleme mit Ärzt*innen, die unzureichende Informationen erhielten und weitergaben.157 Dann folgte ein ganzes Unterkapitel zum Treffen rationaler reproduktiver Entscheidungen, in dem man die Versagensraten unterschiedlicher Verhütungsmittel gegeneinander aufrechnete.158 Auch gab es praktische Hinweise, etwa wie Frauen mit ihren Partnern argumentieren konnten, die ein Kondom aus Bequemlichkeitsgründen ablehnten. Die Autorin empfahl den Frauen, ihren Partnern zu sagen, die Pille reduziere das weibliche Lustempfinden.159 Der Absatz zur Anti-Baby-Pille war sehr ausführlich gestaltet. Die Autorin betonte das Recht der einzelnen Frau, sich trotz Nebenwirkungen für die Pille zu entscheiden.160 Anders als die amerikanischen Schwestern sprach die deutsche Autorin sich gegen eine Pillenpause aus. Als bevorzugte Methoden wurden das Kondom und das Diaphragma präsentiert, die Spirale wurde als unsicher eingestuft und nur in Kombination mit der natürlichen Familienplanung und dem Kondom an fruchtbaren Tagen empfohlen.161 Bei natürlichen Familienplanungsmethoden sollten die Kalendermethode mit der Temperaturmessung und Mucus-Methode kombiniert werden. Während die kontroverse Drei-Monats-Spritze als unbedenklich eingestuft wurde,162 wurde in dem Absatz zur Sterilisation der Missbrauch von Zwangssterilisationen im Nationalsozialismus 155 Vgl. BWHBC , Körper, S. 387; siehe hierzu auch Bosch, Mineke, Aletta Jacobs and the Dutch Cap. The Transfer of Knowledge and the Making of a Reputation in the Changing Networks of Birth Control Activists, in: Bulletin of the German Historical Institute Supplement 13 (2017), S. 167–183, hier S. 172. 156 Vgl. BWHBC , Körper, S. 460. 157 Vgl. Ebd., S. 389–390. 158 Vgl. Ebd., S. 399–402. 159 Vgl. Ebd., S. 462. 160 Vgl. Ebd., S. 411–412. 161 Vgl. Ebd., S. 438–439. 162 Depo-Proveda, in Deutschland auch bekannt als Drei-Monats-Spritze, ist eine synthetische Form des Hormons Progesteron, welches alle drei Monate injiziert werden muss. Die Verhütungsmethode wurde schon 1963 entwickelt und von FDA für Versuche an afro-amerikanischen Patientinnen einer Familienplanungsklinik in Atlanta und Gefängnisinsassinnen in Baltimore freigegeben. Aufgrund von Bedenken das Mittel könne krebserregend sein, wurde jedoch 1978 die Zulassung durch die FDA verwehrt, und das Mittel wurde erst 1992 auf dem amerikanischen Markt zugelassen. Das Verhütungsmittel, das besonders in Ländern des globalen Südens eingesetzt wurde, wurde in der Bundesrepublik trotz Bedenken von Pro Familia über die Missbrauchsmöglichkeiten ab 1983 zugelassen, vgl. Green, William, Contraceptive Risk. The FDA , Depo-Proveda and the Politics of Experimental Medicine, New York 2017, S. 16; siehe auch Pro Familia Medizinisches Komitee, Erklärung zur Drei-Monats-Spritze (25.08.1982), in: BArch N 1336/757.

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reflektiert, sowie ein Vergleich der Sterilisationsgesetzgebung in West- und Ostdeutschland, diversen Ländern Westeuropas, den USA und Kanada vorgelegt.163 Verhütungsmittel wurden so nicht basierend auf ihrer Missbrauchsanfälligkeit bewertet, sondern aufgrund ihrer Zuverlässigkeit. Zusätzlich wurden die Leserinnen mit einer langen Liste an Literaturhinweisen ausgestattet, welche die Pro Familia als Quelle für die Einschätzung der Verhütungsmittel nannte.164 Unter den empfohlenen Autoren befanden sich Mitarbeiter*innen von Pro Familia und Planned Parenthood, aber auch Barbara Seaman. Anders als Brot und Rosen oder die 1984er Ausgabe von »Our Bodies, Ourselves« bewertete die deutsche Übersetzung Verhütungsmittel nicht aus feministischer Perspektive, sondern stellte eine pragmatische Handreiche für Frauen dar, die Wahl des Verhütungsmittels selbstständig zu treffen. Zwar wurde vor Gefahren der Nebenwirkungen der Pille oder dem Sterilisationsmissbrauch gewarnt, letztendlich sollte aber die individuelle Frau dazu ermächtigt werden, die Informationen aufzunehmen und selbst zu entscheiden, welches Verhütungsmittel sie bevorzugte und diese Wahl auch gegenüber ihrem Partner anhand rationaler Argumente durchsetzen zu können. Laut der Soziologin Kathy Davis, die die transnationale Verbreitung der Übersetzungen von »Our Bodies, Ourselves« untersucht hat, gab es Unstimmigkeiten zwischen den amerikanischen Autorinnen und den deutschen Übersetzerinnen darüber, inwiefern bewusste Kinderlosigkeit als Entscheidungsoption betont werden sollte. Dies fehlte den deutschen und österreichischen Frauen in der amerikanischen Fassung des Handbuches.165 Die amerikanischen Herausgeberinnen hingegen waren unzufrieden mit der Gestaltung des Buchcovers, da das Titelbild nur junge, weiße und attraktive Frauen zeigte.166 Ein weiterer Gegensatz zwischen den Herausgeberinnen und den deutsch-sprachigen Übersetzerinnen war die Beziehung zu Familienplanungsorgansationen. Während das BWHBC sich vermehrt von Planned Parenthood distanzierte, war Pro Familia durch Bruni Ludwig direkt in dem Übersetzungsprozess involviert. Ludwig berichtete dem Book Collective auch, dass Pro Familia Teile aus »Our Bodies, Ourselves« für eine Broschüre für Teenager übernommen hatte. Gleichzeitig ließ Ludwig dem BWHBC Broschüren von Pro Familia für ihre »international packages« zukommen.167 Das BWHBC schickte diese Info-Pakete über verschiedene Themen bezügliche reproduktiver Rechte von 1976 bis 1992 regelmäßig an assoziierte Frauengruppen im In- und Ausland und ließ sich im Gegenzug von diesen Broschüren und Zeitungsausschnitte für zukünftige Pakete schicken. 163 Vgl. BWHBC , Körper, S. 489 und 491. 164 Vgl. Ebd., S. 508–519. 165 Vgl. Davis, Kathy, Feminist Body Politics as World Traveller. Translating Our Bodies, Ourselves, in: European Journal of Women’s Studies 9 (2002) 3, S. 223–247, hier S. 235. 166 Vgl. Norsigian, Judy, Brief an Kerstin Lorenzen (Rowohlt Verlag, 21.01.1979), in: Records of the BWHBC , Box 75.7. 167 Siehe Ludwig, Bruni, Brief an Judy Norsigian und Norma Swenson (11.10.1982), in: Records of the BWHBC , Box 75.8.

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Bruni Ludwig verfasste 1982 nach dem Prinzip von »Our Bodies, Ourselves« auch eine bilinguale deutsch-türkische Broschüre unter dem Titel »Ben Ve ­Vücudum – Mein Körper und ich«, die sie im »Pro Familia Magazin« bewarb, ohne dass die amerikanischen Verfasserinnen davon zu wissen schienen.168 Die Symbiose zwischen Pro Familia und feministischen Aktivistinnen zur Verbreitung von Wissen über Verhütungsmitteln ging auch an der 25 Jahre alten Organisation nicht vorüber. Immer mehr junge Sozialpädagog*innen und Ärzt*innen, die von der deutschen Frauen- und Studentenbewegung inspiriert waren und in den USA studiert sowie bei dortigen Frauenberatungskliniken hospitiert hatten, wurden im Zuge der Ausweitung des Netzwerks an Beratungsstellen als Beraterinnen eingestellt.169 Diese hinterfragten vermehrt die gängigen Empfehlungspraktiken des Bundesverbands zu bestimmten Verhütungsmitteln. 1978 beschwerten sich Mitarbeiterinnen der Beratungsstelle Fulda darüber, dass Pro Familia Beraterverträge mit den Kondomherstellern MAPA und Rimbach und mit dem Versandhandel Beate Uhse abgeschlossen hatte, während die Broschüre »Junge Menschen suchen Liebe« das Kondom als sicherstes Verhütungsmittel empfahl und die Pille als für junge Frauen zu unsicher beschrieb.170 Andere Mitarbeiterinnen beschwerten sich, dass Pro Familia Kondommarken mit sexistischen Verpackungen bewarb.171 Pro Familia hatte 1971 einen Beratervertrag mit dem Kondomhersteller MAPA geschlossen, laut dem Hans Harmsen die Anleitungen für die Kondomverpackungen verfasste, in denen eine Comic-Figur namens »Konny McLover« die Anwendung des Präservativs erklärte.172 Im Gegenzug dazu spendete der Hersteller Pro Familia pro 1000 verkaufter Kondompackungen 1,00  DM , was bei 500.000 verkauften Packungen eine Spende von 10.000 DM pro Jahr, also etwa 5 Prozent des Jahresetats von Pro Familia ausmachte. Pro Familia erhielt 1971 50 Prozent ihres Etats direkt vom Bundesfamilienministeriums, ca. 15 Prozent von der Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung, 20 Prozent von IPPF, 1,5 Prozent vom Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband, der Rest setzte sich aus Spenden, Mitgliederbeiträgen und den Honoraren für die Beratung und 168 Vgl. Ludwig, Bruni, Broschüre für türkische Mädchen, in: Pro Familia Magazin 6 (1982), S. 25. 169 Siehe hierzu zum Beispiel auch den Lebenslauf der Oldenburger Pro-Familia-Beraterin Möck, Marianne, Sexualberaterin Pro Familia Oldenburg (18.01.1983), in: BArch N 1336/761. Die Ausweitung der Pro-Familia-Beratungsstellen im Zuge der Schwangerschaftskonfliktberatung wird in Kapitel 7 dieses Bandes ausführlicher diskutiert. 170 Vgl. Pro Familia Beratungsstelle Fulda, Brief an Pro Familia Bundesverband (30.06.1978), in: BArch N 1336/704. 171 Vgl. Thoß, Elke, Brief an Pro Familia Präsidium (09.09.1981), in: BArch N 1336/758. 172 Vgl. Präger, Anna-Luise, Gesprächsnotizen Gespräch mit Herrn Richter (MAPA , Dezember 1976), in: BArch N 1336/602; siehe auch Harmsen, Hans, Beipackzettel Konny McLover (1977), in: BArch N 1336/602. Siehe hierzu auch König, Wolfgang, Das Kondom. Zur Geschichte der Sexualität vom Kaiserreich bis in die Gegenwart, Stuttgart 2016, S. 199–200.

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Untersuchung zusammen.173 Anstatt den Beratervertrag nach den Beschwerden aufzugeben, verhandelte der Pro-Familia-Vorstand mit dem Kondomhersteller MAPA neu, so dass dieser eine unabhängige Studie über die Qualität von Kondomen finanzierte und DM 1,10 pro 1000 verkaufter Packungen spendete.174 Über ähnliche Beraterverträge wurde auch mit dem Pharmahersteller Schering für die Pille-Danach verhandelt.175 Erfolgreicher waren feministische Mitarbeiterinnen, als sie das medizinische Komitee der Organisation dazu brachten, die Empfehlung zur »Pillenpause« nach zwei Jahren zurückzunehmen, da diese medizinisch nicht notwendig sei und nur zu mehr Abtreibungen führe.176 Pro Familia gab ab 1980 eine Diaphrag­ ma-Broschüre heraus, um im Trend der Zeit Frauen über Alternativen zur Pille zu informieren.177 Auch gründete sich im Familienplanungszentrum Hamburg 1982 eine eigene Diaphragma-Selbsthilfegruppe.178 So unterstützte Pro Familia im Laufe der 1980er Jahre auf verschiedenen Wegen Alternativen zur Pille. Während die Organisation in den Beratungsstellen eigene Versuche mit der Pille-Danach durchführte, wurde die Einführung der Drei-Monats-Spritze sehr kritisch gesehen und die Zulassung in Deutschland nicht befürwortet.179 Die Heidelberger Beraterin und Übersetzerin Bruni Ludwig war federführend in der Überarbeitung der Broschüren von Pro Familia zur Anpassung an den neuen Zeitgeist. So schrieb sie dem Ehrenvorsitzenden Hans Harmsen 1981 einen zehnseitigen Brief, in dem sie die Überarbeitung seiner Broschüre für die Krankenkasse DAK vorschlug.180 In ihrem Brief hinterfragte Ludwig kritisch Empfehlungspraktiken (etwa warum Kondome nur in Kombination mit Spermiziden empfohlen wurden oder warum nur Ärzt*innen Diaphragmen anpassen sollten) und kritisierte, dass die Broschüre Methoden zuerst nenne, bei denen ein Besuch einer Arztpraxis erforderlich sei. Ludwig betonte, man müsse auch die »erfahrene Realität der Bevölkerung« mit verschiedenen Verhütungsmitteln ernst nehmen, die beweise, dass natürliche Familienplanung für die Nutzerin nicht aufwendiger sei, als die Pille oder Spirale. Neben der Wirksamkeit müsse also auch das Erfahrungswissen der Nutzerinnen als Ressource des Entscheidens dienen. Auch müsse die Broschüre zwischen »Anwendungs173 174 175 176

Vgl. Protokoll der Vorstandssitzung 19.–20.03.1971, Frankfurt, in: BArch N 1336, 859. N. N., Pro Familia Präsidiumsprotokoll (06.02.1982), in: BArch N 1336/763. Vgl. N. N., Tischvorlage für Präsidiumssitzung am 23.07.1983, in: BArch N 1336/757. Vgl. Pro Familia Arbeitsmaterialien, Medizinische Fragen, Loseblattsammlung, Herausgegeben vom Medizinischen Komitee (April 1977), in: BArch N 1336/603. 177 Vgl. N. N., Protokoll der Mitgliederversammlung 28.–29.5.1981, in: BArch N 1336/763; N. N., Das Diaphragma. Eine alte Verhütungsmethode neu entdeckt (1980), in: BArch N 1336/568. 178 N. N., Familienplanungszentrum Hamburg Erfahrungsbericht 82, S. 19, in: BArch N 1336/757; über das Familienplanungszentrum Hamburg wird in Kapitel 7 dieser Arbeit noch ausführlich berichtet. 179 Vgl. Thoß, Elke, Pro Familia Pressemitteilung Drei-Monats-Spritze (25.05.1983), in: BArch N 1336/757. 180 Ludwig, Bruni, Brief an Hans Harmsen (22.07.1982), in: BArch N 1336/568.

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fehlern« und »Versagerquote« der Methode an sich unterscheiden, damit Frauen eine »rationale Entscheidung über die Wirksamkeit von Verhütungsmitteln treffen können.« Das Ziel der Broschüre solle es sein »Verantwortung an Klienten zurückgeben, denen man die Fähigkeit zur Selbstbestimmung und dem verantwortlichen Umgang mit ihrer Sexualität und Verhütung zugesteht.«181 Frauen sollten hier die Entscheiderinnen über die Wahl des Verhütungsmittels sein und diese Entscheidung reflektiert nach dem Erhalt aller wichtiger Informationen treffen. Entscheidungsrelevante Informationen sollten nicht allein aus den wissenschaftlichen Erkenntnissen über die statistische Sicherheit der unterschiedlichen Verhütungsmittel generiert werden, sondern gleichermaßen über die Erfahrung der einzelnen Nutzerinnen zur Komplexität der Anwendung und potentiellen Anwendungsfehlern gewonnen werden. Erfahrungswissen wurde hier zu einer gleichwertigen Ressource des reproduktiven Entscheidens. Harmsen schien in seinem Antwortschreiben an Ludwig angetan von ihrer kritischen Auseinandersetzung mit seiner Broschüre und bot ihr Hilfe an, einen Betreuer für ihre Doktorarbeit zu finden.182 Als jedoch 1983 die überarbeitete Fassung der DAK Broschüre unter dem Titel »Familienplanung! Aber wie?«, diesmal mit farbigem Umschlag und 32 DIN A5 Seiten (im Vergleich zu der sechsseitigen einfarbigen DIN  A4 Fassung von 1969) erschien, betonte diese in der Einleitung: »Bei der persönlichen Entscheidung über die Wahl der geeigneten Methode der Empfängnisvorbeugung sollte die Sicherheit und nicht die Annehmlichkeit oder Bequemlichkeit ausschlaggebend sein.«183 Dies war das genaue Gegenteil von Ludwigs Forderung. Zwar listete die Broschüre detailliert alle Nebenwirkungen und Gegenindikationen der Pille auf, betonte dennoch, dass der Arzt / die Ärztin für die Frau das Präparat aussuchen sollte. Auch in anderen Aspekten trat die Broschüre weit hinter die Normen der Verhütungsmittelwahl, die die neue Frauenbewegung gesetzt hatte, zurück. Zwar nannte die Broschüre das Diaphragma und die Cervical Cap, dennoch spielte Harmsen weiterhin auf eugenische Bevölkerungskontrolle an, in dem er Frauen aufforderte, für die aus »erbgesundheitlichen Gründen eine sichere Empfängnisvorbeugung wünschenswert ist oder sein sollte,« die aber aus gesundheitlichen Gründen die Pille nicht vertrugen, über eine Sterilisation nachzudenken.184 Diese sollte freiwillig und nach reiflicher Überlegung der einzelnen Frau getroffen werden, um keine Assoziation zu Zwangssterilisationen im Nationalsozialismus zu wecken. Dennoch blieben Differenzkategorien, bei denen Harmsen sich für eine Sterilisation aussprach, die gleichen wie eh und je. Drittens erklärte Harmsen zum Abschluss der Broschüre: »Die Frau will vom Arzt nicht nur eine Verschreibung, sondern braucht Beratung!«185 Dies implizierte, dass Frauen die 181 Ebd., S. 2–3. 182 Vgl. Harmsen, Hans, Brief an Bruni Ludwig (27.09.1982), in: BArch N 1336/568. 183 Vgl. Harmsen, Hans, Familienplanung! Aber wie? (1983), in: BArch N 1336/458, S. 10. 184 Vgl. Ebd., S. 21. 185 Ebd.

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Entscheidung für ein Verhütungsmittel nicht allein treffen konnten und der Arzt / die Ärztin nicht nur als ausführendes Organ betrachtet wurde. Stattdessen sollte die Frau in die Sprechstunde kommen und die ärztliche Beratung als Entscheidungswerkzeug nutzen. Diese Form der Entscheidungsfindung schloss alle Wissensformen außerhalb des professionellen Wissens des Arztes / der Ärztin aus. Zwar waren Harmsens Ansichten veraltet, erreichten aber eine große Wirkmächtigkeit, da die Broschüre an alle Versicherten der DAK verschickt wurde. Im Gegensatz zu der von Harmsen in Eigenregie verfassten DAK Broschüre war die sogenannten »Ausländerbroschüre« eine Pro-Familia-Broschüre, die die Feministin Bruni Ludwig in ihrem Brief an Harmsen explizit lobte.186 Mit Sponsorengeldern der Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung hatte Pro Familia 1978 die aufwendigste Hochglanzbroschüre ihrer Geschichte herausgegeben, die sich in sechs Sprachen – italienisch, spanisch, griechisch, türkisch, portugiesisch und serbo-kroatisch  – an sogenannte »Gastarbeiterfamilien« wendete.187 Professionell produzierte schwarz-weiß Fotografien von landestypischen Familien (wobei die spanische und die portugiesische Familie von den gleichen Models dargestellt wurden) zeigten glückliche Kleinfamilien in moderner Kleidung mit modernem Spielzeug und perpetuierten so das Narrativ, dass Familienplanung glückliche und konsumorientierte Kinder produziere.188 Einwandererfamilien waren erst seit 1977 in den Fokus von Pro Familia geraten, nachdem Beratungsstellen festgestellt hatten, dass seit der Abtreibungsreform eine große Anzahl der Frauen in der Schwangerschaftskonfliktberatung aus dem Ausland stammte.189 Die Broschüren unter dem Titel »Familien­planung – wozu und womit?« gaben Auskunft über alle verfügbaren Methoden der Empfängnisverhütung und über Zugänge zu einer legalen Abtreibung. Die verwendeten Begriffe entsprachen (zumindest in der spanischen Version) gängigen iberisch-spanischen Begriffen – etwa »pildova« für Anti-Baby-Pille, oder waren direkte Übersetzungen aus dem deutschen – etwa »la espiral« als Synonym für die Spirale, die auch mit dem spanischen Begriff »dispositivo intra-uterino« bezeichnet wurde.190 Die Broschüre stellte folglich einen Gegensatz zu den ComicBroschüren für spanisch-sprachige Einwanderer in den USA dar, über die sich Mrs. M. eingangs dieses Kapitels beschwert hatte. Indem sie akkurate Sprache gebrauchte, alle verfügbaren Verhütungsmittel und die Abtreibung mit Vor- und Nachteilen benannte, vermittelte sie den Migrantinnen genügend Wissen, um selbstständige Reproduktionsentscheidungen treffen zu können. Die Broschüre war so erfolgreich, dass die IPPF sie ohne die Verweise auf die westdeutsche Pro Familia auch in Portugal, Spanien, Italien und Griechenland veröffentlichte. 186 Vgl. Ludwig, Bruni, Brief an Hans Harmsen (22.07.1982), in: BArch N 1336/568. 187 Vgl. Pro Familia Bundesverband, Begleitschreiben »Ausländerbroschüre« (November 1979), in: BArch N 1336/605. 188 Vgl. N. N., Planificación familiar ¿Por qué y Cómo?, in: BArch N1336/605. 189 Siehe Kapitel 7 dieser Arbeit. 190 Vgl. N. N., Planificación familiar ¿Por qué y Cómo?, in: BArch N1336/605.

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Abb. 11: Cover der spanischsprachigen Version der sogenannten »Ausländer­ broschüre«, Pro Familia 1979.

Die jugoslawische Familienplanungsorganisation verteilte sie trotz genügend eigener Ressourcen und auch in Belgien und der Schweiz wurde sie als Vorlage für Broschüren für Migrantinnen genutzt.191 Dies zeigt, dass Broschüren, die nicht von Harmsen in Eigenregie erstellt wurden, durchaus die Impulse aus der Frauenbewegung aufnahmen und so die Vorstellung, dass Frauen alleinige Entscheiderinnen über die Wahl eines Verhütungsmittels waren, transnational als Norm festsetzten.

191 Vgl. Neufeldt, Jutta, Familienplanung. Warum, Womit?, in: Pro Familia Magazin 3 (1982), S. 78–79, hier S. 79.

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Fazit Die selbstständige Wahl des Verhütungsmittels als zentraler Aspekt des repro­ duktiven Selbstentscheidungsrecht der Frau setzte sich erst im Laufe der 1970er und 1980er Jahre flächendeckend in Deutschland und den USA durch. Ausschlaggebend hierfür waren zunächst die Veröffentlichungen der Journalistin Barbara Seaman, die die Risiken und fatalen Nebenwirkungen der Pille ins amerikanische öffentliche Bewusstsein rückte und »informed consent« forderte. Planned Parenthood kritisierte zwar Seamans Polemik, nahm die Forderung nach »informed consent« aber auf, da sie in den Zeitraum fiel, in der die Organisation aus strategischen Gründen begann den Voluntarismus zu betonen. Die Risiken der Pille wurden in der Bundesrepublik zunächst wenig rezipiert, da hier Ärzt*innen schon in den 1960er Jahren immer wieder vor ernsten Nebenwirkungen gewarnt und so eine restriktive Verschreibungspolitik begründet hatten. Das amerikanische Women’s Liberation Movement fand einen produktiven Umgang mit den Nebenwirkungen des populären Verhütungsmittels, indem sie das Genre der feministischen Selbsthilfe-Literatur nutzten und ihre Texte international vermarkteten. »Our Bodies, Ourselves« durchlief in seinen ersten vier Ausgaben einen Entwicklungs- und Radikalisierungsprozess in Bezug auf die Gegenüberstellung zwischen Expertise und Erfahrungswissen. Während in der ersten Ausgabe Frauen Expertise vermittelt werden sollte, da sich Ärzte als unzuverlässige Wissensvermittler und Entscheider herausgestellt hatten, sollten sie ab 1973 Wissen erhalten, um ermächtigt zu werden, selbstständig eine informierte Entscheidung treffen zu können, die auf individuellen Präferenzen basierte und auch Risiken eingehen konnte. 1984 wurde Erfahrungswissen marginalisierter Frauen gegenüber der Expertise privilegiert und Solidarität unter Frauen über den individuellen Komfort gestellt. Die Entscheidung wurde nicht mehr an den Arzt, sondern das feministische Kollektiv externalisiert. Transnationale feministische Netzwerke brachten diese Form der Selbsthilfe und Entscheidungsressource in die Bundesrepublik. Während das Berliner Kollektiv Brot und Rosen die radikalere Form der Selbstermächtigung durch weibliches Erfahrungswissen propagierte, übernahm die deutsche Übersetzung von »Our Bodies, Ourselves« das Narrativ der Auswahl des Verhütungsmittels als Konsumentscheidung. Durch die enge Vernetzung zwischen der Frauenbewegung und Pro Familia gelangten immer mehr feministische Stimmen in die Organisation, die das Entscheidungsrecht der Frau und das kritische Hinterfragen der bisherigen Beratungspraxis forderten. So konnten sie als neue Norm einführen, dass Frauen selbstständig für die Entscheidung über das Verhütungsmittel verantwortlich waren. Jedoch zeigen der Ausgang der Kontroverse um den Kondom-Beratervertrag und Harmsens Neufassung der DAK-Broschüre, dass sich diese Stimmen auch Anfang der 1980er Jahre noch nicht einheitlich durchsetzen konnten. Der Vergleich zwischen der »Ausländerbroschüre« und

Fazit 

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der DAK-Broschüre zeigt, dass auch bis in die 1980er Jahre innerhalb von Pro ­ amilia unterschiedliche Ansätze über die Entscheidungsfindung bei VerhüF tungsmitteln vorhanden waren. Zwischen feministisch-geprägten Mitarbeiterinnen und älteren Ärzten bestanden Konflikte hauptsächlich darin, inwiefern allein wissenschaftlich generiertes Wissen über Risiken und Nebenwirkungen oder Erfahrungswissen als Entscheidungsressource dienen sollte. Erfahrungswissen sollte laut den Feministinnen entweder als individuelle Erfahrung einzelner Nutzerinnen oder als kollektive feministische Erfahrung über den Missbrauch bestimmter Verhütungsmittel in den Entscheidungsprozess miteinbezogen werden. So konnten sie das Erfahrungswissen als zusätzlichen Wissensbestand neben der wissenschaftlichen Einschätzung der Sicherheit eines Verhütungsmittels etablieren. Konservative Stimmen, wie die Harmsens, die die Bedeutung des Arztes / der Ärztin in der Auswahl des Mittels betonten, verschwanden ab Mitte der 1980er Jahre zunehmend aus dem Einflusskreis der Pro Familia. Wie sich das zutrug, soll im folgenden Kapitel nachgezeichnet werden.

7. »Dem mündigen Bürger Entscheidungshilfen zu geben.« Planned Parenthood, Pro Familia und die Abtreibungsreformder 1970er Jahre 

Im Januar 1964 schrieb Frau Z., eine 24-jährige dreifache Mutter aus Stuttgart, einen verzweifelten Brief an den Pro-Familia-Ehrenvorsitzenden Hans H ­ armsen. Sie sei nun zum vierten Mal schwanger, diesmal ungeplant, weil die Kalendermethode versagt habe. Bei jeder Schwangerschaft habe sie an schwerster Übelkeit gelitten und schon beim dritten Kind habe sie auf Empfehlung ihres Gynäkologen einen Internisten aufgesucht, um eine medizinische Indikation für einen legalen Schwangerschaftsabbruch zu erhalten. Dieser habe das jedoch verweigert, da er keine organischen Gründe für einen Abbruch feststellen könne und Schwangerschaftsübelkeit keine Krankheit sei. Die Briefschreiberin schilderte, wie sie sich während ihrer letzten Schwangerschaft kraftlos gefühlt habe, ihre schon geborenen Kinder und ihren Haushalt vernachlässigt und eine extrem schwierige Geburt durchlitten habe. Eine weitere Schwangerschaft, befürchtete sie, würde sie nicht bis zum Ende durchstehen können, besonders da sie jetzt drei Söhne im Vorschulalter zu versorgen habe. Daher hätten sie und ihr Ehemann gemeinsam entschieden: »Da es in Deutschland noch keine Schwangerschaftsunterbrechung bei solchen Gründen gibt wie sie bei uns vorliegen, haben wir uns entschlossen, eine Schwangerschaftsunterbrechung in der Schweiz durchführen zu lassen.«1 Nun wollte sie von Harmsen wissen, ob er ihr eine Klinik in der Schweiz empfehlen könne. Jedoch war in der Schweiz, wie in der Bundesrepublik die Abtreibung nur bei medizinischer Indikation straffrei, die Kantone legten es aber unterschiedlich aus, wie weit eine medizinische Indikation zu fassen sei.2 Harmsen schrieb zurück, dass er sich mit Kliniken in der Schweiz nicht auskenne, empfahl der Schreiberin aber, sich mit einem Antrag an die Ärztekammer Stuttgart zu wenden, da seiner Meinung nach in diesem Fall Anlass für einen legalen Schwangerschaftsabbruch aus medizinischen Gründen gegeben sei.3 1 C. Z. (anonymisiert), Brief an Hans Harmsen (15.11.1964), in: BArch N 1336/380, für das Zitat in der Überschrift, siehe N. N., Pro Familia Selbstdarstellung (undatiert, ca. 1972), in: Pro-Familia-Verbandsarchiv »Geschichte Pro Familie: Dokumente«, S. 3. 2 Eine legale Abtreibung in der Schweiz bei medizinischer Indikation konnte bis zu 3000 Franken kosten, vgl. Joris, Elisabeth / Witzig, Heidi, Frauengeschichte(n): Dokumente aus zwei Jahrhunderten zur Situation der Frauen in der Schweiz, Zürich 1986, S. 325; siehe auch Herzog, Dagmar, Lust und Verwundbarkeit. Zur Zeitgeschichte der Sexualität in Europa und den USA , Göttingen 2018, S. 48. 3 Harmsen, Hans, Brief an Frau C. Z. (26.11.1964), in: BArch N 1336/380.

Planned Parenthood, Pro Familia und die Abtreibungsreform

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Für den Fall, dass der Antrag abgelehnt werden würde, gab er ihr Tipps, wie sie mit ihrer Schwangerschaftsübelkeit umgehen könne. Auch empfahl er ihr, sich von einer Ärztin beraten und ein Diaphragma anpassen zu lassen, und es sich sehr gut zu überlegen, ob eine Sterilisation für sie in Frage komme oder sie später doch noch ein weiteres Kind wolle. Leider geht aus dem Briefwechsel nicht hervor, wie Frau Z. letztendlich handelte. Dennoch zeigt ihr Brief vier wichtige Aspekte, um die sich die Debatte über die Abtreibung in den 1960er Jahren drehte. Zum einen betont Frau Z., dass sie und ihr Mann zusammen schon die Entscheidung getroffen hatten, die Schwangerschaft abzubrechen bevor sie Expert*innenrat einholten. Harmsens Expertise fragten sie an, um ihre Entscheidung in die Praxis umzusetzen, nicht um eine Entscheidung zu treffen. Frau Z. begründete ihr Gesuch nach einer legalen Abtreibung nicht allein mit individuellen Motiven – ihre eigene Gesundheit zu schonen – sondern mit altruistischen Motiven, der Versorgung ihrer drei schon geborenen Kinder. Jedoch konnte sie aufgrund der rechtlichen Situation in der Bundesrepublik eine legale Abtreibung nur aufgrund einer medizinischen Indikation erwirken, wenn ihr Leben und ihre Gesundheit in Gefahr waren. Diese Indikation musste durch einen Arzt / eine Ärztin festgestellt werden. Anschließend musste sie einen Antrag vor einer Kommission der Ärztekammer stellen, welche die Diagnose des Arztes / der Ärztin bestätigen oder revidieren konnte.4 Rechtlich gesehen hatten sie und ihr Ehemann kein Mitspracherecht bei der Entscheidung, in der Praxis waren sie aber diejenigen, die den Prozess vorantrieben. Frau Z. und ihr Partner wollten ihren Entschluss auch gegen die Entscheidung der Ärztekammer durchsetzen, notfalls durch eine Reise ins Ausland. Während die Schweiz hier ein ungewöhnliches Zielland war, reisten westdeutsche Frauen in den 1960er und 1970er Jahren für Abtreibungen nach Jugoslawien, ab 1967 auch nach Großbritannien und ab 1972 in die Niederlande.5 Laut der Historikerin Leslie Reagan kann man diese Reisen nicht mit dem zeitgenössischen Begriff »Abtreibungstourismus« beschreiben, sondern solle die betroffenen Frauen als »reproductive rights refugees« begreifen, da sie nicht aus Spaß reisten, sondern um den Gefahren einer illegalen Abtreibung und der Strafverfolgung zu entfliehen.6 4 Zur Prozedur der Feststellung und Anerkennung einer medizinischen Indikation, siehe Hahn, Daphne, Modernisierung und Biopolitik. Sterilisation und Schwangerschafts­ abbruch in Deutschland nach 1945, Frankfurt am Main 2000, S. 75–76. 5 Nach Harmsens Schätzungen, die auf Statistiken der britischen FPA von 1971 basierten, ließen rund 3.000 deutsche Frauen pro Jahr Abtreibungen in England durchführen, während der niederländische Gynäkologe Charles Schlebaum schätzte, dass allein im Jahr 1975 50.000 deutsche Frauen für eine Abtreibung in die Niederlande reisten, vgl. Harmsen, Hans, Manuskript, Erfahrungen Englands mit dem »Abortion Act 1967 (ca. 1971), in: BArch N 1336/739; Nehrstedte, Marlies / Wüllenweber, Hans, Über 50.000 deutsche Frauen zur Abtreibung, in: Frankfurter Rundschau (10.07.1975), in: Pro-Familia-Verbandsarchiv, Ordner »Stellungnahmen Pro Familia u. a. Presseecho 1963–1976«. 6 Reagan, Leslie J., Abortion Travels. An International History, in: Journal of Modern European History 17 (1971) H. 3, S. 337–352, hier S. 338.

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Planned Parenthood, Pro Familia und die Abtreibungsreform

Aus Harmsens Antwort an die schwangere Reisende lässt sich herauslesen, dass sich seine Meinung zum Thema Schwangerschaftsabbruch langsam wandelte, da er dem Paar aufzeigte, wie es eine legale Abtreibung in Deutschland erwirken konnte. Er lehnte anders als in den 1930er und 1950er Jahren Abtreibungen nicht mehr als Tötung der Leibesfrucht oder als zu große Gefahr für Leib und Leben der Schwangeren ab, sondern hielt die Abtreibung in diesem Fall für gerechtfertigt.7 Der Briefwechsel zeigt, dass Paare schon lange vor der rechtlichen Reform des § 218 in den frühen 1970er Jahren individuelle Entscheidungen über das Austragen einer Schwangerschaft trafen. Dieses Kapitel untersucht die Reform der Abtreibung anhand des Wandels innerhalb der Pro Familia.8 Es verfolgt, wie sich innerhalb der 1960er und 1970er Jahre der rechtliche Rahmen und das Sprechen über Abtreibungen veränderte, da sich die bisherige Forschung vornehmlich mit der Rolle der beiden Kirchen in der öffentlichen Debatte um Abtreibung oder die Bedeutung der Abtreibungskontroverse für die Konstituierung der westdeutschen Frauenbewegung befasst hat.9 Es zeichnet nach, wie das Beratungsangebot von einer Ressource der Entscheidungsfindung zu einem Instrument der Umsetzung einer Entscheidung wurde. Dazu betrachtet es, wie sowohl in den USA als auch in Deutschland zunächst männliche Mediziner die Reform der Abtreibungsgesetzgebung anstrebten. Anschließend wird analysiert, wie Harmsen die Einstellung der Pro Familia zur Abtreibungsfrage revidierte. In einem dritten Teil wird der Effekt der Schwangerschaftskonfliktberatung auf die Organisationsstruktur innerhalb der Pro Familia untersucht. Der vierte Teil untersucht am Beispiel der Familienplanungszentren in Bremen und Hamburg, wie die Familienplanungsorganisation selbst zu Institutionen wurden, die Abtreibungen durchführte.

7 Siehe hierzu Kapitel 1 dieser Arbeit, siehe auch Harmsen, Hans, Manuskript, Läßt sich der illegale Abort durch Erweiterung der Indikationsstellung zum Schwangerschaftsabbruch bekämpfen? Ein Beitrag zur neuesten Entwicklung in der UdSSR (1955), in: BArch N 1336/491. 8 Teile dieses Kapitels wurden schon in folgendem Zeitschriftenaufsatz veröffentlicht: Roesch, Claudia, Pro Familia and the Reform of Abortion Laws in West Germany, 1967–1983, in: Journal of Modern European History 17 (2019) H. 3, S. 297–311. 9 Siehe hierzu vor allem Spieker, Manfred, Kirche und Abtreibung in Deutschland, Paderborn ²2008; Mantei, Simone, Nein und Ja zur Abtreibung. Die evangelische Kirche in der Reformdebatte um § 218 StGB (1970–1976), Göttingen 2004; Schulz, Kristina, Der lange Atem der Provokation. Die Frauenbewegung in der Bundesrepublik und in Frankreich, 1968–1976, Frankfurt am Main 2002; zum amerikanischen Kontext siehe auch Ziegler, Mary, After Roe. The Lost History of the Abortion Debate, Cambridge, 2015, S. 129.

Die Abtreibung vor der Legalisierung 

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Die Abtreibung vor der Legalisierung In Deutschland wurde die Abtreibung mit der Einführung des Strafgesetzbuchs 1871 kriminalisiert.10 Nach Protesten der linken Parteien und der Sexual­ reformbewegung in der Weimarer Republik wurde seit 1926 die medizinische Indikation als einzige Möglichkeit eines legalen Schwangerschaftsabbruchs zugelassen.11 Während des Nationalsozialismus wurde der § 218 verschärft, so dass einerseits Zuchthaus-, Konzentrationslager- oder Todesstrafe beim Durchführen von Abtreibungen an gesunden Frauen drohten.12 Andererseits erlaubte ein Hamburger Gerichtsurteil 1935 ausdrücklich Abtreibungen an Frauen, die nach den Kriterien des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN) als erbkrank klassifiziert wurden.13 In den USA wurde die Abtreibung seit 1867 durch Gesetze in den Einzelstaa­ ten kriminalisiert, nachdem die 1857 gegründet American Medical Association (AMA) sich dafür eingesetzt hatte.14 Die meisten Staaten erlaubten eine Abtreibung nur bei einer mehr oder weniger eng definierten medizinischen Indikation, nachdem die betroffene Frau und ihr Arzt / ihre Ärtzin den Fall dem Aufsichtsrat des behandelnden Krankenhauses vorgelegt hatten.15 Katholisch geprägte Staaten wie Maryland ließen die legale Abtreibung nur bei der Gefahr des Lebens der Mutter zu, andere Staaten legten die medizinische Indikation großzügiger aus.16 In den 1960er Jahren wurde laut Leslie Reagan die Abtreibungsfrage immer dringlicher, da immer mehr Frauen einen Universitätsabschluss und eine Erwerbstätigkeit anstrebten. Ungewollte Schwangerschaften stellten für sie ein größeres Problem dar und aufgrund der eingeschränkten Zugänge zu Verhütungsmitteln war die Abtreibung oft die einzige Möglichkeit für sie ihre Reproduktion zu kontrollieren.17 Im Zuge des Prozesses der Legalisierung weist die 10 Vgl. Grossmann, Atina, Reforming Sex. The German Movement for Birth Control and Abortion Reform, 1920–1950, New York 1995, S. 82. 11 Vgl. Ebd., S. 82–83. 12 Usborne, Cornelie, Cultures of Abortion in Weimar Germany, New York 2007, S. 216–217. 13 Vgl. Ebd., siehe auch Hahn, Modernisierung und Biopolitik, S. 21. 14 Bis dahin hatte das britische Common Law gegolten, welches die Abtreibung bis zur ersten spürbaren Kindsbewegung erlaubte, vgl. Solinger, Rickie, Pregnancy and Power. A Short History of Reproductive Politics in America, New York 2005, S. 70; Reagan, Leslie J., When Abortion Was A Crime. Women, Medicine and the Law in the United States 1867–1973, Berkeley 1997, S. 14. 15 Die sogenannten »therapeutic abortion committees« sollten seit den 1940er Jahren durch größere Selbstkontrolle innerhalb der Ärzteschaft die Anzahl an Abtreibungen aufgrund einer medizinischen Indikation senken, vgl. Reagan, Leslie J., Dangerous Pregnancies. Mothers, Disabilities, and Abortion in Modern America, Berkeley 2010, S. 99. 16 Vgl. Guttmacher, Alan F., The Legal and Moral Status of Therapeutic Abortion, Reprint from Progress in Gynecology 4 (1963), S. 279–290, in: PPFA Records  II , Box 12.41, S. 285. 17 Vgl. Reagan, Abortion, S. 217.

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Historikerin Rickie Solinger auf die besondere Bedeutung des Skandals um das Medikament Thalidomide (Contergan) und dem Schicksal der TV-Moderatorin Sherri Finkbine hin.18 Die vierfache Mutter aus Arizona hatte 1962 während einer Schwangerschaft das in den USA nicht zugelassene Contergan genommen und dann von möglichen Missbildungen von Neugeborenen durch das Medikament erfahren. Ihr Gesuch auf eine Abtreibung aufgrund einer »eugenischen Indikation«, was im Vokabular der frühen 1960er Jahren eine mögliche Behinderung des Kindes entweder aufgrund genetischer oder Umweltfaktoren bedeutete,19 wurde in Arizona abgelehnt, weshalb sie unter großer medialer Aufmerksamkeit nach Schweden flog und dort die Abtreibung durchführen ließ.20 Wie Leslie Reagan zeigt, war der Ausbruch einer Röteln-Epidemie zwischen 1963 und 1965 dafür ausschlaggebend, dass Frauen und Ärzt*innen ein Recht auf therapeutische Abtreibung forderten. Falls die Schwangeresich angesteckt haben sollte, konnte die Infektion zu Taubheit, Blindheit oder geistiger Behinderung des ungeborenen Kindes führen.21 Da in den Medien besonders Frauen der weißen Mittelschicht und ihre Kinder als Betroffene präsentiert wurden, wurde so das Narrativ umgeschrieben, dass nur Frauen sich für eine Abtreibung entscheiden würden, die »sexually deviant, racially suspect and psychologically sick« seien.22 Im Zuge der Vorstellung der Planbarkeit von Familie galten so Abtreibungen von Frauen der weißen Mittelschicht als berechtigt, wenn ihrem geplanten Kind eine Behinderung drohte, da, so Leslie Reagan, die Verhinderung angeborener Behinderungen Teil weitreichender Planungsprogramme wurde.23 Die Historikerin Dagmar Herzog interpretiert die Debatten um Contergan und Rötelninfektionen als Beleg dafür, dass in den Abtreibungsreformen der 1960er und 1970er Jahre (vor allem in Großbritannien) eugenische Argumente eine zentrale Rolle spielten, da es als moralisch nicht zumutbar galt, ein Kind mit Behinderungen auszutragen.24 Jedoch weist Leslie Reagan darauf hin, dass zum einen Medienberichte über Contergan, Polio und Rötelnepidemien Behinderungen als »horror, nightmares and shame« präsentierten. Individuelle Frauen standen vor dem Problem, intensive Pflege alleine nicht leisten zu können und Schwierigkeiten hatten, Kinderbetreuung oder öffentlichen Schulen für Kinder mit Behinderungen zu finden. Auch drohten häufige Ehescheidungen und Kosten für Heimunterbringung der Kinder.25 Während für einzelne Paare die pragmatischen Überlegungen und die Versorgung ihrer schon geborener 18 19 20 21 22 23 24

Solinger, Pregnancy, S. 179, siehe auch Reagan, Dangerous, S. 85–88. Vgl. Guttmacher, Legal, S. 291–292. Vgl. Ebd., S. 180. Vgl. Reagan, Dangerous, S. 105. Vgl. Ebd., S. 80. Vgl. Ebd., S. 102. Herzog, Dagmar, Die Politisierung der Lust. Sexualität in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, München 2005 S. 53–54. 25 Vgl. Reagan, Dangerous, S. 81–21.

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Kinder im Zentrum ihrer Entscheidungen standen, stand für Expert*innen in dem Diskurs das eugenisch geprägte Denken der Verhinderung von Behinderung im Vordergrund. Aufgrund der medialen Debatte konnten sich vermehrt Ärzt*innen öffentlich für eine weitere Freigabe der Abtreibung aussprechen, nachdem sie im kleinen Kreis schon seit den 1940er Jahren darüber nachgedacht hatten.26 So griff Planned Parenthood bis in die frühen 1960er Jahre nicht öffentlich in die Abtreibungsdebatte ein, obwohl die Organisation bereits 1955 unter Ausschluss der Öffentlichkeit eine Expertentagung zur Abtreibungsthematik organisiert hatte.27 Die Familienplanungsorganisation propagierte zwar Verhütungsmittel als Maßnahme im Kampf gegen illegale Abtreibungen.28 Dies nahm aber im Vergleich zu ihrer deutschen Schwestergesellschaft Pro Familie eine nachgeordnete Stellung ein. Planned-Parenthood-Vizepräsident Alan F.  Guttmacher hatte in privaten Briefwechseln schon seit Ende der 1940er Jahre eine erweiterte Freigabe der Abtreibung gefordert.29 Im April 1959 bekannte er sich erstmals öffentlich zu einer Reform der Abtreibungsgesetzgebung.30 In der von ihm zusammen mit Joan Gould herausgegebenen Broschüre »New Facts about Birth Control« argumentierte er, dass es eine hohe Anzahl an Frauen gäbe, die aufgrund von illegalen Abtreibungen in die Notaufnahme kämen. Dies zeige, dass stärkere Kontrollen und verschärfte Gesetze nicht gegen illegale Abtreibungen helfen würden. Auch fragten Guttmacher und Gould rhetorisch, ob eine 12-Jährige, die vergewaltigt worden war, eine Frau, die sich während der Schwangerschaft mit Röteln angesteckt hatte, eine selbstmordgefährdete Frau, die Mutter zweier behinderter Kinder, oder die Ehefrau eines invaliden Mannes, die allein für die finanzielle Versorgung der Familie aufkommen musste, gezwungen werden sollten, eine Schwangerschaft auszutragen. Daher forderten Guttmacher und Gould »laws like those in Scandinavia, which permit qualified Medical Boards to allow abortion in any case which in their opinion seriously affects the physical or mental well-being of the mother or child.«31 Sie befürworteten so die Einführung einer sozial-medizinischen Indikation, wie sie in Schweden seit 1938 angewendet werden konnte.32 Dadurch würde der Kreis der Frauen, 26 Williams, Daniel K., Defenders of the Unborn. The Pro-Life Movement before Roe v. Wade, Oxford 2016, S. 29–33. 27 Vgl. Reagan, Abortion, S. 219. 28 Siehe Calderone, Mary S., Illegal Abortion as  a Public Health Problem, Reprint from American Journal of Public Health 50 (Juli 1960) H. 7, S. 948–954, in: PPFA Records II , Box 12.6. 29 Vgl. Williams, Defenders, S. 29. 30 Zum Wandel von Guttmachers Einstellung zur Legalisierung der Abtreibung, siehe Reagan, Abortion, S. 233–234. 31 Guttmacher, Alan F. / Gould, Joan, New Facts about Birth Control (1959), in: PPFA Records II , Box 15.27, S. 11. 32 Vgl. Lennerhed, Lena, No Backlash for Swedish Women? The Right to Abortion on Demand, 1975–2000, in: Journal of Modern European History 17 (2019) H. 3, S. 326–336, hier S. 328.

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die eine legale Abtreibung erlangen konnten, gesetzlich erweitert. Jedoch ging es in der Broschüre nicht um eine Ausdehnung des Selbstentscheidungsrechts der betroffenen Frauen. Stattdessen sollte die Rechtssicherheit von Ärzt*innen, die Abtreibungen durchführten, gewährleistet werden.33 Abtreibung wurde hier als medizinisches Problem präsentiert, für das Mediziner*innen Lösungen finden sollten, um die gesundheitlichen Gefahren einer illegalen Abtreibung für die schwangere Frau zu minimieren. Daher waren es Mediziner*innen als Expert*innen, die den Anstoß zum langen Reformprozess der Abtreibung gaben, jedoch nicht, um die Rechte ihrer Patientinnen zu stärken, sondern um ihre eigenen Rechte auszudehnen.34 In der Bundesrepublik, die anders als die USA auf eine lange Tradition der Forderung nach legaler Abtreibung der Frauenbewegung in der Weimarer Republik zurückblicken konnte, befürwortete Pro Familia in den 1960er Jahren keine weitreichende Reform der Gesetzgebung. Es war zunächst die Humanistischen Union, ein 1961 gegründeter Verein bestehend aus Künstler*innen, Intellektuellen, liberalen und linken Politiker*innen, die unter anderem eine strikte Trennung zwischen Staat und Kirche durchsetzen wollten, der eine Reform des § 218 forderte.35 Neben der katholischen Kirche und der CDU, war auch die SPD zunächst gegen eine Reform des § 218. Laut Dagmar Herzog argumentierte die SPD vor 1966, aufgrund der Erfahrung von Ausschwitz könne die Bundesrepublik den Schwangerschaftsabbruch nicht freigeben.36 Dies zeigt, dass die Abtreibung im Diskurs der frühen 1960er Jahre auch in sozialdemokratischen Kreisen mit der Tötung ungeborenen Lebens und dem Holocaust assoziiert wurde.37 Nicht die Rechte der schwangeren Frau, sondern des ungeborenen Fötus standen im Zentrum dieser Debatten. Die Pro-Familia-Ortsgruppe Frankfurt am Main hatte 1962 bekannt gegeben, dass man den deutschen § 218, der einen legalen Schwangerschaftsabbruch nur bei medizinischer Indikation erlaubte, für die beste Lösung im internationalen Vergleich hielt.38 Strengere Verbote und härtere Strafen, wie in Südeuropa, würden Frauen nicht davon abhalten, illegale Abtreibungen durchführen zu lassen. Eine Freigabe, wie in Osteuropa, oder eine sozial-medizinische Indikation, wie in Schweden, führe nur zu mehr illegalen Abtreibungen, da zum einen 33 Vgl. Reagan, Abortion, S. 219. 34 Nach Leslie J. Reagan waren es besonders Psychiater*innen, die eine Reform der Abtreibung forderten, da sie diejenigen waren, die Gutachten erstellen mussten, wenn Gynäkolog*innen versuchten aufgrund von Suizidgefahr eine Abtreibung für ihre Patientinnen zu erwirken, vgl. Reagan, Abortion, S. 218. 35 Siehe zum Beispiel die Broschüre N. N., Humanistische Union. Vorschläge zur Strafrechtsreform (November 1963), in: BArch N 1336/702. 36 Herzog, Politisierung, S. 132. 37 Zur Entstehung der Assoziationen zwischen legaler Abtreibung und Auschwitz im Nachkriegsdeutschland, siehe Ebd., S. 17–18. 38 N. N., Protokoll des Frankfurter Ortsverbands (22.02.1962), in: Pro-Familia-Verbandsarchiv, Ordner »BAT Protokolle 1952 bis 1978«, S. 3.

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die Akzeptanz für die Abtreibung in der Gesellschaft wachsen würde. Zum anderen aber würde die Anzahl an illegalen Abtreibungen steigen, da Frauen sich schämen würden vor einer Kommission vorzusprechen, und stattdessen einen illegalen Abbruch vornehmen ließen. Tatsächlich reisten schwedische Frauen für einen Eingriff nach Polen oder gingen in die Illegalität, entweder um die Vorsprache vor einer Kommission zu vermeiden oder weil ihnen eine Abtreibung nach der Vorsprache verweigert wurde.39 Der schwedische Einzelfall wurde hier als generisches Exempel beschrieben. Seit 1960 wurde eine Liberalisierung des § 218 im Zuge der Strafrechtsreform andiskutiert, da der Vorschlag zur Strafrechtsreform des Justizministeriums die Straffreiheit der Abtreibung bei einer kriminologischen Indikation, also im Falle einer Vergewaltigung oder Inzest, beinhaltete.40 Anders als in den USA war hier nicht die Sorge um die Behinderung eines Kindes, sondern Gewalt gegen Frauen der Ausschlag für eine erste öffentliche Diskussion der Abtreibungsfrage. Der Deutsche Ärztinnenbund befürwortete die kriminologische Indikation mit der Begründung, dass vergewaltigte Frauen, die zur Austragung eines Kindes gezwungen würden, leicht selbstmordgefährdet seien. Währenddessen setzten Gegner*innen der Reform im Präsidium des deutschen Ärztetages durch, dass der »Schutz des ungeborenen Lebens« vor allen anderen Erwägungen Vorrang haben müsse. Denn man könne sich nicht sicher sein, dass die schwangere Frau nicht auch trotz der Vergewaltigung »mütterliche Gefühle« für das Ungeborene entwickeln würde.41 Sie bedachten jedoch nicht mit, dass in diesem Falle die betroffene Frau erst gar kein Gesuch für eine Abtreibung stellen würde. So wurde auf Empfehlung des Deutschen Ärztetags die kriminologische Indikation 1963 wieder aus der Strafrechtsreform gestrichen. Der Pro-Familia-Vorsitzende Hans Harmsen sprach sich in verschiedenen Petitionen an das Bundesjustizministerium für die Einführung der kriminologischen Indikation aus. Zum einen, so argumentierte er, sei eine Frau, die nach einer Vergewaltigung ein Kind bekommen müsse, »ihr Leben lang gestraft.«42 Auch sei es für ihn ein wichtiges Argument in der Strafrechtsreform gewesen, so erklärte er 1969 im Rückblick, »daß der Entschluß sich des werdenden Kindes mit mütterlicher Liebe anzunehmen, der Schwangeren in vielen Fällen leichter wird, wenn es ein freier Entschluß ist, zu dem keine staatliche Strafandrohung nötigt.«43 Hier sollte tatsächlich die schwangere Frau eine bewusste Entschei39 Vgl. Reagan, Abortion Travels, S. 343. 40 Siehe N. N., Ärztliche Mitteilungen zu Strafrechtsreform 26/27 (29.06.1963), S. 1490–1493, in: BArch N 1336/702; zur Strafrechtsreform ab 1960 siehe auch Herzog, Politisierung, S. 28. 41 Siehe N. N., Ärztliche Mitteilungen zu Strafrechtsreform 26/27 (29.06.1963), S. 1492, in: BArch N 1336/702. 42 Harmsen, Hans, Rede: Die Schwangerschaftsunterbrechung im neuen Strafgesetz­entwurf (undatiert, ca. 1962/1963), in: BArch N 1336/702. 43 Harmsen, Hans, Forderungen zur Reform des Sexualstrafrechts, in: Gesundheitspolitik 11 (1969), H. 2, S. 65–77, hier S. 67.

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dung für den Erhalt einer Schwangerschaft treffen – jedoch nur im Falle einer Vergewaltigung. Der Grund hierfür war laut Harmsen die »mütterliche Liebe.« Das Kind sollte bewusst gewollt werden. Hier wurde zum ersten Mal in der Debatte über legale Abtreibung die Figur des Wunschkindes eingebracht – und gleichzeitig implizit die negative Folie des ungewollten und ungeliebten Kindes hervorgeholt, welches als zukünftiger Krimineller oder Despot eine Gefahr für die Gesellschaft darstellte. Es ging folglich nicht darum, das Entscheidungsrecht der (missbrauchten) Frau allein zu ihrem eigenen Wohle zu stärken, sondern die Gesellschaft vor den Gefahren ungeliebter Kinder zu schützen.44 Auch Harmsens Forderungen nach einer Reform der Abtreibung waren nicht in einem liberalen Individualismus eingebettet, sondern weiterhin in einem selektiven Denken, welches den Schutz der Gemeinschaft als Bezugspunkt hatte. Harmsens Äußerungen zur Strafrechtsreform sind mit Vorsicht zu genießen, da er sie erst 1969 traf, nachdem er seine eigene Meinung zur Legalisierung der Abtreibung grundlegend geändert hatte. Während er bis in die 1950er Jahren die Legalisierung mit dem Argument abgelehnt hatte, dass selbst bei einer legalen Abtreibung die Komplikationsraten zu hoch seien, trat er ab 1967 für eine Straffreiheit der Abtreibung bei sozialer oder eugenischer Indikation ein.45 In einem Briefwechsel mit dem Pro-Familia-Juristen Heinrich Ackermann erklärte er seinen Sinneswandel wie folgt: Zum einen habe er im April 1967 an der IPPF Jahrestagung in Santiago de Chile teilgenommen und dort einen Vortrag über die Versuche an der Universität Uppsala gehört, eine »Abtreibungspille« zu entwickeln, die medikamentöse Abtreibungen bis in der achten Schwangerschaftswoche ermöglichen solle.46 Die Hoffnung war, dass durch die medikamentöse Abtreibung keine Vollnarkose mehr nötig werden würde, das Risiko einer Infektion oder Verletzung des Uterus während der Ausschabung sank und Ärzt*innen auch ohne spezielle Ausbildung die Tabletten verabreichen konnten. Auch habe ihn ein slowenischer Kollege, Professor Fišek, von der »Pille Danach« überzeugt, der er höhere Bedeutung als der Erfindung der »Pille« zurechnete.47 Drittens habe er auf dem Deutschen Ärztetag 1967 einen Vortrag 44 Zur Rolle eugenischen Denkens in Argumentationen für das Recht auf Abtreibung, siehe auch Herzog, Politisierung, S. 51. 45 Vgl. Harmsen, Hans, Brief an Fritz Zimmer (26.02.1968), in: BArch N 1336/280. 46 Vgl. Harmsen, Hans, Brief an Heinrich Ackermann (29.01.1968), in: Pro-Familia-Verbandsarchiv, Ordner »Prof. Harmsen 1964«, S. 3. 47 Vgl. Harmsen, Hans, Bericht an DFG über Tagungsteilnahme (30.12.1967), in: BArch N 1336/280. In den späten 1960er Jahren versuchten Forscher*innen eine Abtreibungspille und eine »Pille-Danach«, welche die Einnistung einer befruchteten Eizelle verhindern und bis zu 72 Stunden nach dem ungeschützten Geschlechtsverkehr wirken sollte, durch die Kombination und hohe Dosierung von Östrogen und Progesteron zu entwickeln. Die Abtreibungspille »Mifepristone«, die als Progesteron-Blocker wirkt und bis in der zehnten Schwangerschaftswoche eine Fehlgeburt auslöst, wurde 1980 entwickelt und erlangte erst 1988 Marktreife, vgl. Werner, Anja u. a., Arzneimittelstudien westlicher Pharmaunternehmen in der DDR , 1983–1990, Leipzig 2016, S. 89.

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des Gynäkologen Fritz Zimmer gehört, der neue Forschungserkenntnisse im Bereich der Embryonalentwicklung vorstellte, nämlich dass ein Embryo erst ab der achten Schwangerschaftswoche eigenständig alle lebenswichtigen Hormone selbst produziere.48 Daraus schloss Harmsen, dass ein Embryo erst ab diesem Moment als eigenständige und daher schützenswerte Person angesehen werden könne. Da durch die Entwicklung einer medikamentösen Abtreibungsmethode die gesundheitlichen Risiken einer Ausschabung wegfallen würden, könne man den Schwangerschaftsabbruch bei einer breiten Liste an Indikationen in den ersten acht Wochen einer Schwangerschaft freigeben. Jedoch sei sich Harmsen bewusst, dass die Mehrheit der Mitglieder der Pro Familia nicht bereit sei, seinen Ansichten zu folgen. Harmsens Brief zeigt zum einen, dass die Frage ab wann ein Embryo als Person begriffen werden konnte, in den 1960er Jahren zentral für die Abtreibungsdebatten in der Bundesrepublik war. Zudem zeigt der Brief, dass Harmsen bei einer Abtreibungsreform die Minimierung der Risiken eines medizinischen Eingriffs im Vordergrund stand. Auf der Pro-Familia-Bundesarbeitstagung im Herbst 1967 kam es zu einer kontroversen Auseinandersetzung über die Abtreibungsfrage. Neben Harmsens medizinischen Argumenten hatte auch die Freigabe in Großbritannien die Frage nach dem Schwangerschaftsabbruch auf die Tagesordnung gerückt.49 In Großbritannien konnte seit 1967 eine Frau mit dem Einverständnis zweier Ärzt*innen bis zur 20. Schwangerschaftswoche ohne Angabe von Gründen abtreiben. Berichte über die britische Situation des Gynäkologen Malcolm Potts, der medizinischer Direktor der IPPF war, wurden von den Pro-Familia-Vor­ standsmitgliedern aufmerksam rezipiert. Sie zeigten, dass es keine höheren Komplikationsraten und aufgrund des Wegfalls der Kommissionen kürzere Wartezeiten gab.50 Harmsen forderte daher für die Bundesrepublik eine gesetzliche Lösung nach britischem Vorbild und argumentierte, dass die Kosten für eine Reise nach Großbritannien für einen Schwangerschaftsabbruch für die Mehrheit der deutschen Frauen unerschwinglich seien. Laut den Broschüren, die Pro Familia von kommerziellen Abtreibungskliniken in London zugeschickt bekam, kostete ein Schwangerschaftsabbruch inklusive Flug und Hotelunterbringung um die 2000  DM .51 Dennoch ließen den Statistiken der britischen FPA zufolge im Jahr 1970 3.000 deutsche Frauen in Großbritannien abtreiben, 1971

48 Siehe hierzu auch Harmsen, Hans, Fortschritte hormonaler Möglichkeiten zur Empfängnisregelung in medizinischer und soziologischer Sicht, in: Gesundheitsvorsorge 18 (1968) H. 6, S. 94–97; Zimmer, Fritz, Beginn des Lebens, in: Deutsches Ärzteblatt 65 (24.02.1968) H. 8, S. 449–453. 49 Vgl. Harmsen, Hans, Manuskript, Erfahrungen Englands mit dem »Abortion Act 1967 (ca. 1971), in: BArch N 1336/739. 50 Vgl. Potts, Malcolm u. a., Preliminary Assessment of the 1967 Abortion Act in Practice, in: Lancet (07.02.1970), S. 287–291, Zeitungsausschnitt, in: BArch N 1336/413. 51 Clinical Consultants, Westbourne House, London, Brief an Heinz Kirchhoff, in: BArch N 1336/739.

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waren es schon 13.000.52 Für ambulante Abbrüche in den Niederlanden oder Jugoslawien mussten Frauen Mitte der 1970er Jahre um die 350  DM bei Anreise mit dem eigenen PKW investieren und riskierten, an der Grenze angehalten zu werden.53 Der Pro-Familia-Vizepräsident Karl Oeter, der 1981 eine Festschrift zu Harmsens 80. Geburtstag verfasste, nahm an, dieser habe aus pragmatischen Gründen seine Meinung zur Abtreibung geändert.54 In den 1930er Jahren seien vor allem seine Beobachtungen in der Sowjetunion, wo es nach der Legalisierung hohe Komplikationsraten gegeben habe, ausschlaggebend für Harmsens Einstellung gewesen. In den 1960er Jahren musste er einsehen, dass Frauen immer Mittel und Wege finden würden, eine Abtreibung durchzuführen. Daraus schlussfolgerte er, dass es besser sei, wenn dies in einem geregelten rechtlichen Rahmen passiere. Schließlich blieben die geschätzten Zahlen an illegalen Abtreibungen bis in die 1960er Jahre sehr hoch. Während die Gegner einer Liberalisierung des § 218 von bis zu zwei Millionen illegalen Abtreibungen in der Bundesrepublik Deutschland ausgingen, schätzen Harmsen und Hermann Schubnell, der Leiter des Statistischen Bundesamtes, dass die Zahl eher bei 400.000 lag.55 Die Historikerin Dagmar Herzog geht zwischen 500.000 und einer Millionen Abbrüchen aus.56 Zum Vergleich, nach der Reform des § 218 ließen 1979 82.788 deutsche Frauen im In- oder Ausland legal eine Schwangerschaft abbrechen.57 Sowohl Guttmachers Forderungen nach einer Reform der amerikanischen Abtreibungsgesetze, wie auch Harmsens Sinneswandel Mitte der 1960er Jahre zeigen, dass die ersten Anstöße zur Reform des Schwangerschaftsabbruchs von männlichen Experten ausgingen. Diese hatten dabei mitnichten die Stärkung des weiblichen Selbstbestimmungsrechts über ihren Körper im Sinne. Statt-

52 Vgl. Hans Harmsen, Manuskript, Erfahrungen Englands mit dem »Abortion Act 1967« (ca. 1971), in: BArch N 1336/739, S. 15; zu den Zahlen von 1971 und dem sprunghaften Anstieg seit 1970, siehe Reagan, Abortion Travels, S. 349. 53 1972 veröffentlichte die politisch linksstehende Zeitschrift »konkret« eine Anleitung, wie Frauen eine Abtreibung in den Niederlanden, Großbritannien oder Jugoslawien durchführen lassen konnten, inklusive Klinikempfehlungen und Preislisten, vgl. N. N., § 218 und wie man ihn umgehen kann, in: konkret 19 (07.09.1972), S. 45–47. 54 Vgl. Oeter, Karl, Der ethische Imperativ im Lebenswerk Hans Harmsens, in: Schubnell, Hermann (Hg.), Alte und neue Themen der Bevölkerungswissenschaft, Wiesbaden 1981, S. 11–17. 55 Harmsen kam auf diese Zahlen, da er beim Universitätsklinikum in Münster, einer städtischen Frauenklinik in Bremerhaven und gynäkologischen Praxen in Celle und Oldenburg Statistiken zu behandelten Fehlgeburten abfragte und davon ausging, dass 50 Prozent der behandelten Fälle tatsächlich illegale Abtreibungen waren und dies auf die gesamte Bundesrepublik hochrechnete, vgl. Jaensch-Zander, Dr. W., Brief an Hans Harmsen (05.03.1964), in: BArch N 1336/380. 56 Herzog, Politisierung, S. 157. 57 Vgl. N. N., Schwangerschaftsabbrüche 1979, in: Pro Familia Magazin 8 (1980) H. 1, S. 30–35, hier S. 30. Die Zahlen basieren auf Erhebungen des statistischen Bundesamtes.

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dessen waren ihre Forderungen von medizinischen und bevölkerungspolitischen Motiven geprägt, da sie zum einen die medizinischen Risiken illegaler Abtreibungen und zum anderen die Geburt ungewollter Kinder verhindern wollten. Frauen sollten sich nicht aus emanzipatorischen, sondern aus eugenischen Gründen bewusst für die Geburt eines Kindes entscheiden können, da ungewollte Kinder als Gefahr für die Gesellschaft galten.

Der Reformprozess der 1970er Jahre Zum 1. Juli 1970 wurde im amerikanischen Bundesstaat New York die Abtreibung bis zur 24. Schwangerschaftswoche ohne Angaben von Gründen freigegeben. Frauenrechtsorganisationen, wie die National Organization for Women (NOW), hatten seit 1968 die Legalisierung der Abtreibung als »fundamental to female freedom« begriffen und als zentralen Bestandteil von »reproductive choice« gefordert.58 Am 22. Januar 1973 entschied der Supreme Court in dem Urteil Roe v. Wade, dass der Entschluss für eine Abtreibung bis zur Lebensfähigkeit des Fötus eine Entscheidung zwischen der schwangeren Frau und ihrem Arzt / ihrer Ärztin war und gab so die Abtreibung in den gesamten USA frei.59 Das Urteil ging auf eine Klage zweier feministischer Anwältinnen aus Austin (Texas) zurück, die eine Schwangere gefunden hatten, die bereit war unter dem Pseudonym Jane Roe die einschränkende Abtreibungsregelung in Texas anzufechten. Daher hatten feministische Organisationen auf Grasswurzelebene die Legalisierung durchgesetzt. Sie bezeichneten sich selbst als »Pro Choice«, um zu betonen, dass sie für das Recht der Frau selbst über ihre Reproduktion zu entscheiden und nicht für mehr Abtreibungen eintraten.60 Diese Einstellung war von liberalen und individualistischen Werten geprägt. Planned Parenthood hatte sich als Organisation nicht an dem Kampf zur Legalisierung der Abtreibung beteiligt, obwohl Organisationspräsident Guttmacher als Berater in der Kommission des Gouverneurs Nelson D. Rockefeller zur Gesetzesreform in New York tätig gewesen war.61 Einzelne Mitglieder und Kooperationspartner*innen anderer Pro Choice Organisationen, wie die NOW und die 1968 gegründete National Abortion Rights Action League (NARAL),

58 Reagan, Abortion, S. 229. 59 Vgl. Ziegler, Roe, S. 10–11. 60 Zur Semantik des Begriffs »Pro-Choice«, siehe Heinemann, Isabel, Von der »Geburtenkontrolle« zum »Menschenrecht«. Semantiken reproduktiven Entscheidens im langen 20. Jahrhundert. in: Hoffmann-Rehnitz, Philipp u. a. (Hg.), Semantiken und Narrative des Entscheidens vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Göttingen 2021, S. 448–465, hier S. 457. 61 Vgl. Guttmacher, Alan F., The Genesis of Liberalized Abortion in New York: A Personal Insight, in: Case Western Reserve Law Review 23 (Summer 1972) H. 4, S. 756–778, hier S. 762; siehe auch Reagan, Abortion, S. 234.

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drängten die PPFA , stärker Initiative zu zeigen.62 Daher unterstützte Planned Parenthood nach der Legalisierung in New York den Zugang zur legalen Abtreibung und hielt 1974 eine Ärztetagung über Methoden der Abtreibung ab, auf der der oben erwähnte IPPF Direktor Malcolm Potts die von ihm entwickelte Absaugmethode vorstellte.63 Die Abtreibung wurde auch als Möglichkeit der Reproduktionskontrolle in die allgemeinen Informationsbroschüren aufgenommen.64 Beratungsstellen überwiesen seit der Legalisierung in New York Frauen an kommerzielle Abtreibungskliniken und feministische Frauengesundheitszentren, welche die ersten waren, die ambulante Abtreibungen durchführten. Planned Parenthood eruierte ab 1973 die Möglichkeit selbst Abtreibungen anzubieten, würde dies aber erst ab 1978 tun.65 Der deutsche Pro-Familia-Mitbegründer Hans Harmsen reiste im Frühsommer 1970 nach Großbritannien und New York, um sich vor Ort über die Auswirkungen der Legalisierung der Abtreibung zu informieren. Etwa 18 Monate nach seiner Reise erklärte er, dass in New York, entgegen seiner »skeptischen Prophezeiungen« die Säuglings- und Müttersterblichkeitsrate mit der Legalisie­ rung gesunken sei.66 Auch sinke die Anzahl der illegalen Abtreibungen und der Komplikationsraten bei legalen Eingriffen, da Ärzt*innen mehr Routine bekamen. So präsentierte Harmsen die Legalisierung der Abtreibung als Beitrag zur Volksgesundheit und interpretierte seine Erkenntnisse erneut allein aus medizinischer und biologistischer Perspektive. Noch während seiner Reise führte er einen kontroversen Briefwechsel mit dem Pro-Familia-Vorsitzenden Richard Kepp, der fürchtete, Harmsen könne auf der nächsten Verbandstagung eine Resolution zur Freigabe der Abtreibung einreichen.67 Harmsen schrieb daraufhin der Bundesgeschäftsführerin Eva Hobbing, dass er weiterhin hinter der Satzung der Pro Familia stehe, die festschrieb, dass der Verein »für die Bekämpfung der Abtreibung eintritt.«68 Jedoch traf er, 62 Karen Mulhausen, die frühere Programmkoordinatorin von Planned Parenthood, wurde 1973 Lobbyistin für NARAL , vgl. Olivo, Roxanne, Memorandum an NARAL Aktivisten (28.11.1973), in: National Abortion Rights Action League Records, 1968–1976, MC 313, Schlesinger Library, Radcliffe Institute, Harvard University, Cambridge, Mass., Box 2.27 (im Folgenden zitiert als »NARAL Records«). 63 Vgl Robins, John C., A Proposal for a National Conference on Abortion (07.03.1973), in: PPFA Records II , Box 28. 64 Vgl. N. N., Broschüre: We are Planned Parenthood (April 1973), in: PPFA Records II , Box 25.26. 65 Vgl. Robins, John C., A Proposal for the Establishment of a National Loan Fund to Stimulate the Nationwide Development of Abortion Clinics (16.03.1973), in: PPFA Records II , Box 4; für die Einrichtung eigener Abtreibungskliniken musste extra die Planned-Parenthood-Satzung geändert werden, vgl. Buzard, Don, Changes in by-laws adopted on June 2–3, 1978, in: PPFA Records II , Box 78.12. 66 Siehe Harmsen, Hans, Manuskript, Erfahrungen mit der Liberalisierung des Schwangerschaftsabbruchs im Staat New York, USA (1972), in: BArch N 1336/739. 67 Harmsen, Hans, Brief an Richard Kepp (11.07.1970), in: BArch N 1336/271. 68 Harmsen, Hans, Brief an Eva Hobbing (14.08.1970), in: BArch N 1336/271.

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sowie auch andere Befürworter*innen der Reform des § 218 innerhalb von Pro Familia, eine semantische Unterscheidung zwischen einer illegalen Abtreibung und einer legalen »Unterbrechung« einer Schwangerschaft.69 Dies suggerierte widersprüchlicherweise, dass eine einmal abgebrochene Schwangerschaft fortgesetzt werden könne und daher für Frauen nicht dazu diene, ihre gesellschaftliche Rolle als Mütter zu umgehen. So schrieb er Hobbing: Der Kampf gegen die illegale Abtreibung ist in jedem Fall auch eins der Ziele, die die Neuregelung der Frage der Unterbrechung, und zwar der ärztlich durgeführten Unterbrechung, anstreben, und zwar wie in England, wie in Amerika, wie in den skandinavischen Staaten, und ich hoffe, daß es auch zu einer sinnvollen deutschen Lösung kommt, über die wir im Einzelnen aber glaube ich in der PRO FAMILIA nicht zu diskutieren brauchen.70

Harmsen sah folglich, wie Oeten es vermutet hatte, in der Freigabe des legalen Schwangerschaftsabbruchs ein pragmatisches Mittel die illegale Abtreibung zu bekämpfen und war pessimistisch, dass dies sich innerhalb der Pro Familia durchsetzen ließ. Anders als Harmsen es erwartet hatte, wurde in den 1970er Jahren die Reform des § 218 innerhalb von Pro Familia wohlwollend diskutiert.71 Zur Abstimmung auf der Bundesarbeitstagung 1971 standen die Unterstützung einer Fristenlösung, welche 1972 in der DDR eingeführt wurde, und die sogenannte Indikationenlösung.72 Der wesentliche Unterschied zwischen den beiden Lösungen war, wer die letztendliche Entscheidung über die Abtreibung treffen durfte. Bei der Fristenlösung konnte die betroffene Frau sich bis zu einer bestimmten Frist – in den USA bis zur Lebensfähigkeit des Fötus, in der DDR in den ersten zwölf Wochen, in den Niederlanden während der ersten zehn Wochen – ohne Angaben von Gründen für eine Abtreibung entscheiden. Bei der Indikationenlösung, welche 1971 in einem Gesetzesentwurf des Bundes­ justizministeriums vorgeschlagen wurde, musste zunächst eine Mediziner*in eine bestimmte Indikation diagnostizieren, diese musste von einem / einer an69 Vgl. N. N., Protokoll des Frankfurter Ortsverbands (22.02.1962), in: Pro-Familia-Verbandsarchiv, Ordner »BAT Protokolle 1952 bis 1978«, S. 3; siehe hierzu auch den Leserbrief der Leiterin der Pro-Familia-Modellberatungsstelle in Villingen an die »Badische Zeitung«: Krebs, Margarit, Gegen diskriminierende Wortwahl, in: Badische Zeitung (31.07.1976), in: Pro-Familia-Verbandsarchiv Ordner »Stellungnahmen Pro Familia u. a. Presseecho 1963–1976«. 70 Harmsen, Hans, Brief an Eva Hobbing (14.08.1970), in: BArch N 1336/271. 71 N. N., Protokoll der Bundesarbeitstagung 1971 (23.10.1971), in: Pro-Familia-Verbandsarchiv, Ordner »BAT Protokolle 1952 bis 1978«. 72 Vgl. Harmsen, Hans, Der Schwangerschaftsabbruch – Ein Gesundheitspolitisches Demographisches Problem in Ost und West – nicht erst seit 1945 (undatiert, ca 1978), in: BArch N 1336/358; zur Legalisierung der Abtreibung in der DDR siehe auch Leo, Annette / König, Christian, Die »Wunschkindpille«. Weibliche Erfahrung und staatliche Geburtenpolitik in der DDR , Göttingen 2015, S. 181.

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deren Mediziner*in, der die Abtreibung durchführte, anerkannt werden.73 So waren es hier letztendlich zwei Expert*innen, die über die Notwendigkeit einer Abtreibung entschieden, nicht aber die betroffene Frau. Innerhalb von Pro Familia wurde zunächst über die möglichen Indikationen debattiert. Einigen konnte man sich auf eine medizinische Indikation bei Gefahren für die Gesundheit der Mutter, eine kriminologische Indikation bei Fällen von Vergewaltigungen und Inzest, eine »kindliche Indikation« als Euphemismus für mutmaßliche Behinderungen des ungeborenen Kindes, entweder aufgrund von genetischen oder umweltbedingten Faktoren,74 und eine sogenannte Notlagenindikation, die soziale Umstände mit einschloss.75 Ulrich Wolff, der Vorsitzendes des Berliner Landesverbands, sprach sich für eine erweiterte Indikationenlösung aus, welche eine »Altersindikation«, »Soziale Indikation«, »geistig-seelische Indikation der Mutter«, »Berufsindikation der Frau« und eine »Indikation pro Infantibus« umfassen sollte, worunter er verstand, dass ein Kind nicht in einem »ungeliebten«, »asozialen« oder kriminellen Umfeld aufwachsen sollte.76 Als Gutachter*in über die Indikationen sollten ein / eine Mediziner*in, ein / eine Sozialarbeiter*in und im Falle einer minderjährigen Schwangeren auch ein / eine Pädagoge / Pädagogin entscheiden. Auch Wolff spielte hier auf die Figur des Wunschkindes an, und betrachtete die Abtreibungsfrage aus der Perspektive der Vermeidung des ungewollten Kindes, so wie es Harmsen einige Jahre zuvor gefordert hatte. Dies zeigt, dass männliche Mediziner innerhalb von Pro Familia planten, Expert*innen anhand von qualitativen Kriterien und einer evaluierenden Logik darüber entscheiden zu lassen, welche Kinder geboren werden sollten. Der Wunsch der schwangeren Frau war nur so lange relevant, wie er sich auf die zukünftige Entwicklung des Kindes auswirkte. Anders als die männlichen Experten, sprach sich die Pro-Familia-Bundesgeschäftsführerin Eva Hobbing 1972 in einer Stellungnahme an das Bundesjustizministerium für die »Fristenlösung mit obligatorischem Besuch einer Bera­tungsstelle« aus.77 Die verpflichtende Beratung wurde ab 1972 zu einem wesentlichen Bestandteil jeglicher Reformvorschläge der Pro Familia.78 Bei der Abstimmung des Vorstands auf der Mitgliederversammlung 1971, sprach sich dann auch eine Mehrheit von 26 Mitgliedern für die Fristenlösung, gegenüber 17 Mitgliedern für die Indikationenlösung und einer Stimme für die komplette Freigabe der Abtreibung, aus.79 73 Vgl. N. N., Referentenentwurf eines fünften Gesetzes zur Reform des Strafrechtes (7.10.1971), in: BArch N 1336/604. 74 Vgl. Hahn, Modernisierung und Biopolitik, S. 76–77. 75 Vgl. Baunach, Arnuft, Resolution an das Präsidium der PRO FAMILIA (August 1970), in: BArch N 1336/271. 76 Wolff, Ulrich, Alternativentwurf Landesverband Berlin (21.10.1970), in: BArch N  1336/271. 77 Hobbing, Eva, Brief an das Bundesjustizministerium (28.01.1972), in: BArch N 1336/604. 78 Vgl. N. N., Pro Familia Selbstdarstellung (undatiert, ca. 1972), in: Pro-Familia-Verbandsarchiv Ordner »Geschichte Pro Familie: Dokumente«, S. 3. 79 N. N., Protokoll der Bundesarbeitstagung 1971 (23.10.1971), in: Pro-Familia-Verbandsarchiv, Ordner »BAT Protokolle 1952 bis 1978«.

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Das Ereignis, welches, ein Umdenken innerhalb der Pro Familia veranlasste, war die öffentlichwirksame Kampagne der westdeutschen Frauenbewegung im Sommer 1971 gegen den § 218. Inspiriert von der Aktion der französischen Frauenbewegung, sich öffentlich zu einer illegalen Abtreibung zu bekennen, hatte die Journalistin Alice Schwarzer, die selbst in Paris gelebt hatte, zusammen mit der Frankfurter Frauengruppe »Aktion 1970« die Kampagne »Wir haben abgetrieben« mit der berühmten Titelgeschichte in der Zeitschrift »stern« gestartet.80 Die Kampagne forderte die komplette Streichung des § 218 und damit die Freigabe der Abtreibung. In der Kampagne bekannten sich 374 Frauen im Alter zwischen 20 und 72 Jahren, hauptsächlich aus den Großstädten Berlin, Frankfurt, Köln, München und Düsseldorf, dazu eine illegale Abtreibung durchführen lassen zu haben. Unter ihnen waren auch die bekannten Schauspielerinnen Romy Schneider und Senta Berger. Im begleitenden Text berichteten einige der Unterzeichnerinnen von den Ängsten und Schwierigkeiten, die sie gehabt hatten, als sie ungeplant schwanger wurden. So musste eine verheiratete Hausfrau extra einen Kredit aufnehmen um ihre Abtreibung zu bezahlen, eine junge Lehrerin litt jahrelang an extremen Ängsten vor einer erneuten Schwangerschaft, wenn sie mit einem Mann schlief. Andere Frauen berichteten von unglücklichen Ehen oder einem Mangel an Kinderbetreuung, nachdem sie ein ungeplantes Kind bekommen hatten. Neben den betroffenen Frauen, kam auch der deutsche Juristinnenbund zu Wort, der erklärte, dass der § 218 »nicht mehr dem Rechtsbewusstsein weiter Teile der Bevölkerung« entspräche und deshalb reformiert werden müsse.81 Ziel des Artikels war es zu zeigen, dass in der Praxis eine Millionen Frauen selbstständig die Entscheidung für eine Abtreibung trafen und nur selten durch die Gesetzgebung an der Umsetzung gehindert wurden. Durch den Gang in die Illegalität begangen die Frauen jedoch einen Gesetzesbruch und geriet so in rechtliche und finanzielle Schwierigkeiten, während sie gleichzeitig ihre Gesundheit gefährdeten. So betonte der Appell, den die 374 betroffenen Frauen unterschrieben hatten, »Frauen mit Geld können gefahrlos im In- und Ausland abtreiben. Frauen ohne Geld zwingt der Paragraph 218 auf die Küchentische der Kurpfuscher.«82 Sie unterstrichen, dass der Zugang zu einer sicheren Abtreibung auch in den 1960er Jahren weiterhin eine soziale Frage war und besonders arme Frauen benachteiligte. Im Verlauf des Appells forderten die Unterzeichnerinnen, eine komplette Freigabe der Abtreibung und betonten, dass sie »keine Almosen vom Gesetzgeber« im Sinne von finanzieller Unterstützung für die Fortsetzung einer Schwangerschaft oder eine halbherzige Reform des § 218 wollten, stattdessen betonten 80 Der Text ging von den wahrscheinlich zu hoch gegriffenen Schätzung von einer Millionen Frauen jährlich aus: Schwarzer, Alice, Wir haben abgetrieben, in: stern 24 (1.06.1971) H. 24, S. 16–24; siehe zu der Selbstbezichtigungsaktion auch Gerhard, Ute, Frauenbewegung und Feminismus. Eine Geschichte seit 1789, München 2009, S. 111; Schulz, Atem, S. 151–152. 81 Ebd., S. 24. 82 Siehe den Appell »Wir haben abgetrieben« in ebd., S. 17.

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sie »ich bin gegen den Paragraphen 218 und für Wunschkinder.«83 Indem auch sie das Bild des Wunschkindes evozierten, betonten die Unterzeichnerinnen, dass es ihnen bei der Legalisierung der Abtreibung nicht darum ging, die Mutterschaft an sich zu vermeiden, sondern geplante Kinder zu bekommen, die in einem geordneten Umfeld aufwachsen sollten. Letztendlich unterstrichen sie so, dass es bei der Entscheidung für eine Abtreibung nicht egoistische Motive, sondern allein das Kindeswohl im Mittelpunkt stand. Dies galt als das einzig Sagbare in den Diskursen der Bundesrepublik der 1960er Jahre und war weit entfernt von den Forderungen der Legalisierung der Abtreibung als Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper in der Weimarer Republik oder der amerikanischen Frauenbewegung. Neben der »ersatzlose[n] Streichung des Paragraphen 218« forderten die Unterzeichnerinnen »umfassende sexuelle Aufklärung für alle und freien Zugang zu Verhütungsmitteln!«84 Dies unterstrich, dass die Unterzeichnerinnen nicht für Abtreibungen an sich waren, sondern diese durch sogenannte flankierende Maßnahmen eingrenzen wollten. Besseres Wissen über Reproduktion und der uneingeschränkte Zugang zu Verhütungsmitteln sollten so die Notwendigkeit der Abtreibung reduzieren und Reproduktion für die einzelne Frau steuerbar machen. Die sogenannten »flankierenden Maßnahmen« waren das Kernstück der Reformvorschläge, die 1973 im deutschen Bundestag diskutiert wurden. Wie oben schon erwähnt, hatte das Justizministerium 1972 die erweiterte Indikationslösung vorgeschlagen, während die oppositionelle CDU / C SU eine eingeschränkte Indikationenlösung ohne die Notlagenindikation befürwortete.85 Eine Gruppe Jurist*innen innerhalb der FDP hatte zunächst 1971 die Fristenlösung vorgeschlagen, welche von Politikerinnen in der SPD unterstützt wurde.86 In einer Rede vor dem deutschen Bundestag 1973 begründete Bundesfamilienministerin Katharina Focke (SPD) dies unter anderem mit den »schlechteren Startchancen ungewollter Kinder« und erinnerte an die Aktion des Bundesministeriums für Jugend, Familie und Gesundheit unter dem Slogan »Unsere Kinder sollen Wunschkinder sein«.87 So hatte sich die Forderung nach Wunschkindern bis in die Bundesregierung durchgesetzt. Zusätzlich erklärte Focke, die Pro Familia in ihrer Rede explizit erwähnte, dass die legale Abtreibung kein Ersatz für »verantwortungsbewusste Familienplanung« sei, und »Familienplanung und Empfängnisregelung« nicht dazu die83 Ebd. 84 Ebd. 85 Vgl. Spieker, Kirche, S. 22. 86 Unter den zehn Jurist*innen war eine Frau, vgl. Mantei, Abtreibung, S. 46–47. 87 Vgl. Focke, Katharina, Gesamtreform § 218  – Strafrechtsänderung und sozial ergänzende Maßnahmen, in: Wehner, Herbert (Hg.), Frau Abgeordnete, Sie haben das Wort! Bundestagsreden sozialdemokratischer Parlamentarierinnen 1949 bis 1979, Bonn 1980, S. 179–189, hier S. 182–183.

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nen sollten, einen »Trend zur Kinderlosigkeit oder zur Einkindehe« zu fördern.88 Stattdessen bedeute Familienplanung, daß die Eltern ihre Entscheidung, Kinder zu haben oder nicht zu haben, bzw. die Entscheidung, wann sie Kinder haben wollen, verantwortungsbewußt und frei treffen sollen und daß ihnen dabei geholfen werden muß, diese Entscheidung zu treffen und entsprechend zu handeln.89

Die Reform des Strafrechtes und die Einführung der Fristenlösung dienten im Rahmen dieses Diskurses dazu, dass »die persönliche Verantwortung und die Gewissensentscheidung der Frauen, der Ärzt*innen und anderen an der Entscheidung Beteiligter größer geschrieben und stärker hervorgehoben [werden solle] als bisher.«90 Mit anderen Beteiligten waren unter anderem die Abgeordneten gemeint, die durch ihr Abstimmungsverhalten das Entscheidungsrecht der Frau und der Ärzt*innen erst ermöglichten. Ähnlich wie das vier Monate zuvor verkündete amerikanische Gerichtsurteil Roe v. Wade, definierte die Fristenlösung die Entscheidung für eine Abtreibung als eine Gewissensentscheidung zwischen schwangerer Frau und ihrem Arzt / ihrer Ärztin.91 Das ungeborene Kind kam hier nur als zu vermeidendes ungewolltes Kind vor. Dies zeigt, dass die Bundesministerin Focke in ihre Unterstützung für die Fristenlösung bekannte Motive der Familienplanung, wie das Wunschkind, die Betonung der Verantwortung und die Sorge um den Rückgang der Bevölkerung ab 1964 aufnahm. Wie auch die Kampagne von Alice Schwarzer zwei Jahre zuvor betonte auch Focke, dass es bei der Legalisierung der Abtreibung und der verantwortungsbewussten Familienplanung nicht darum gehen solle, Mutterschaft zu vermeiden. Stattdessen sollten Frauen, ihre Ehepartner und Ärzt*innen gemeinsam ermächtigt werden, verantwortungsbewusste Entscheidungen zu treffen, deren Kern das Wohl des Kindes war. Damit passte sie die Begründung für eine Legalisierung der Abtreibung an ein konservatives gesellschaftliches Klima an, in dem es nicht sagbar war, dass eine Frau das Recht haben solle über ihren Körper zu entscheiden, egal ob sie aus individuellen oder egoistischen Motiven handelte. Pro Familia spielte eine zentrale Rolle in dem Reformvorhaben der Bundesregierung, da sie der bekannteste Anbieter der Konfliktberatung war. Da Frauen ihre kollektiv motivierten Reproduktionsentscheidungen nicht alleine treffen sollten, wollte die Bundesregierung im Rahmen der flankierenden Maßnahmen zusammen mit Ärzt*innen und »mit Pro Familia in ganz besonderer Weise«, aber auch mit kommunalen und konfessionellen Eheberatungsstellen ein weites Netz an Hilfeleistungen ausbauen: »erstens in Beratung und Hilfe, bevor 88 Ebd., S. 182. 89 Ebd. 90 Ebd., S. 180. 91 Vgl. Goldstein Friedman, Leslie, The Constitutional Right of Women. Cases in Law and Social Change, Madison ²1988, S. 347.

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eine Schwangerschaft eintritt, zweitens in Beratung und Hilfen für schwangere Frauen in Konflikt- und Notsituationen und drittens frauen- und familienpolitische Maßnahmen ganz allgemein.«92 Die Konfliktberatung war so ein zentrales Element des Gesetzesvorschlags. Im April 1974 wurde die Fraktionsbindung für eine Abstimmung im Bundestag aufgehoben und die Fristenlösung mehrheitlich angenommen.93 Jedoch stoppte das Bundesverfassungsgericht die Umsetzung nur drei Tage später aufgrund einer Verfassungsbeschwerde der CSU-geführten bayerischen Landesregierung. 1976 entschied der oberste deutsche Gerichtshof, dass die Reform des § 218 nicht verfassungskonform sei, da »der Lebensschutz der Leibesfrucht« für die gesamte Dauer der Schwangerschaft »Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren« genieße und nicht für eine bestimmte Frist in Frage gestellt werden dürfe.94 Anders als in dem Urteil des amerikanischen Obersten Gerichtshof, wurden hier dem Ungeborenen ab der Zeugung Personenrechte zugesprochen, die durch das Grundgesetzt geschützt waren und ihm Vorrang vor den Rechten der schon geborenen Frau gaben. Aufgrund dieses Urteils wurde 1976 dann die erweiterte Indikationen­lösung eingeführt, die den Abbruch einer Schwangerschaft weiterhin verbot, aber Straffreiheit versprach, wenn ein Arzt / eine Ärztin eine medizinische, kindliche, kriminologische oder Notlagenindikation diagnostizierte und die schwangere Frau sich einer Pflichtberatung unterzog. Dann musste ein zweiter / zweite Arzt / Ärztin die Indikation anerkennen und den Eingriff durchführen. Dieser durfte dies aber aus Gewissensgründen auch ablehnen. Rechtlich gesehen wurde damit die Entscheidungsposition der Ärzt*innen und der Berater*innen gestärkt, da sie die Macht hatten, die Anerkennung einer Indikation und die Durchführung zu verweigern.

Die Schwangerschaftskonfliktberatung in der Pro Familia Pro Familia hatte erstmals 1965 bei dem Bundesgesundheitsministerium Gelder beantragt, um eine Modell-Beratungsstelle für ungewollt schwangere Frauen einzurichten, damals noch mit dem Ziel, sie von einer illegalen Abtreibung abzuhalten und über Verhütungsmittel aufzuklären.95 Konkret wurde die Abtreibungsberatung erst 1972 eingeführt und 1974 in Schwangerschaftskonfliktberatung umbenannt.96 Ab 1974 nahm Pro Familia zusammen mit der 92 Focke, Gesamtreform, S. 180. 93 Vgl. Spieker, Kirche, S. 28. 94 Ebd., S. 30. 95 Vgl. Harmsen, Hans / Hobbing, Eva, Brief an Bundesgesundheitsministerin Elisabeth Schwarzhaupt (CDU) (20.11.1965), in: Pro-Familia-Verbandsarchiv Ordner »Prof. Harmsen 1964«. 96 Siehe auch N. N., Protokoll der Bundesarbeitstagung 1974 (11.05.1974), S. 8, in: Pro-Familia-Verbandsarchiv, Ordner »BAT Protokolle 1952 bis 1978«.

Die Schwangerschaftskonfliktberatung in der Pro Familia 

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Arbeiterwohlfahrt, kirchlichen Trägern und der Krankenkasse AOK an einem Modellversuch der Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung (BZgA) zur Pflichtberatung teil, die wie oben erwähnt zentraler Bestandteil der Reform des § 218 werden sollte.97 Die Pro-Familia-Jahrestagung hatte sich schon 1971 für eine verpflichtende Beratung bei jeglicher Reform des § 218 ausgesprochen und begonnen eigene Berater*innen auszubilden. Laut der Selbstdarstellung von 1972, »wird [bei der Beratung] die Frau auf alle Möglichkeiten und Konsequenzen eines Abbruchs aufmerksam gemacht und es werden alle sozialen Hilfen aufgezeigt, die bei der Austragung des Kindes verfügbar gemacht werden können.«98 Die Beratung an sich diene dazu, »daß sie dem mündigen Bürger [sic] Entscheidungshilfen zu geben versucht.«99 Sollte eine Indikation für einen Schwangerschaftsabbruch zutreffen, würde entweder eine bei Pro Familia angestellte Ärztin oder Pro Familia in Kooperation mit einem niedergelassenen Arzt für die Frau den Antrag auf einen Abbruch stellen. Das zeigt, dass Pro Familia den Handlungsspielraum der schwangeren Frauen als mündige Bürgerinnen betonte. In der Beratung sollten den Frauen die Alternativen der Abtreibung und der Austragung des Kindes mit allen Konsequenzen, Risiken und verfügbaren Hilfen vorgestellt werden, so dass sie eine reflektierte und rationale Entscheidung treffen konnten. Die Beratung sollte so zum einen als Ressource der Entscheidungsfindung dienen, zum anderen als Hilfe zur Umsetzung einer in der Beratung getroffenen Entscheidung. Der Modellversuch bildete den Höhepunkt der Zusammenarbeit zwischen Pro Familia und staatlichen Stellen. Der gemeinnützige Verein hatte seit den frühen 1960er Jahren angefangen mit städtischen Trägern in Frankfurt und Kassel zu kooperieren, um alternative Einnahmequellen zu den Sponsorengeldern der IPPF und amerikanischen Stiftungen zu finden, da diese einen Fokus auf die Überbevölkerungsproblematik verlangten.100 Seit 1969 arbeitete der Verein auch mit dem Hamburger Senat und der Bundesregierung der großen Koalition unter Kurt-Georg Kiesinger (1966–1969) zusammen, zunächst um Lehrpläne für den Sexualkunde-Unterricht zu erstellen und um im Rahmen eines Entwicklungshilfeprojektes in Tunesien Beratungsstellen für Familienplanung einzurichten.101 Das Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesund-

97 Vgl. N. N., Schwerpunktprogramm Familienplanung von 1973 bis 1977. Zielsetzungen für 1974, in: BArch B 310/10. 98 N. N., Pro Familia Selbstdarstellung (undatiert, ca. 1972), in: Pro-Familia-Verbandsarchiv »Geschichte Pro Familie: Dokumente«, S. 3. 99 Ebd. 100 Vgl. Völker, Ilse (ehem. Léderer), Jahresbericht Kassel 1962, in: Pro-Familia-Verbandsarchiv, Ordner »BAT Protokolle 1952 bis 1978«; Harmsen, Hans, Jahresbericht 1964, in: Pro-Familia-Verbandsarchiv, Ordner »BAT Protokolle 1952 bis 1978«. 101 Vgl. Staatliche Pressestelle Hamburg, Richtlinien für die Sexualerziehung in den Schulen der Freien und Hansestadt Hamburg (21.02.1969), in: BArch N 1336/404; N. N., Protokoll der Jahrestagung 1969 (25.10.1969), in: Pro-Familia-Verbandsarchiv, Order »Geschichte

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heit sowie die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung wurden in den 1970er Jahren zu den wichtigsten Geldgebern der Pro Familia.102 Die Teilnahme an der Modellberatung der BZgA brachte Pro Familia eine erhebliche Erhöhung ihres jährlichen Budgets. Sie bedeutete auch, dass die Organisation bis 1974 68 neue Beratungsstellen vor allem in Großstädten im Norden und Westen der Republik eröffnete, bis 1979 wurden es 136.103 Die neu eingestellten Mitarbeiter*innen in den Beratungsstellen waren oft keine Mediziner*innen, sondern studierte Soziolog*innen oder Pädagog*innen. Sie waren frische Universitätsabsolvent*innen, die an politisch links geprägten Fakultäten etwa in Bremen oder Frankfurt am Main studiert hatten und der Studentenbewegung, der Frauenbewegung und der Frankfurter Schule der Soziologie anhingen. Einige neue Mitarbeiter*innen, wie die im vorherigen Kapitel vorgestellte Bruni Ludwig, waren als Austauschstudierende in Kalifornien gewesen, hatten dort in »Feminist Women’s Health Centers« hospitiert und brachten ihre Erfahrungen sowie ihre politischen Einstellungen in ihre Beratungstätigkeit mit ein.104 So wandelte sich die Pro Familia durch die Teilnahme an der Modellberatung von einer kleinen, von Ärzt*innen dominierten Organisation zur Verbreitung von Informationen über Familienplanung, zu einem mehrheitlich von Sozialarbeiter*innen geführten Netzwerk an Beratungsstellen.105 Die politische Einstellung der neuen Mitarbeiter*innen zeigt sich besonders in dem Umgang mit Abtreibungsreisen ins Ausland. Während Pro Familia, wie eingangs berichtet, immer wieder Anfragen nach Abtreibungskliniken im Ausland erhielt, sprach sich die Mitgliederversammlung im Mai 1975 noch gegen die Ausgabe von Klinik-Adressen im Ausland aus.106 Jedoch wolle man in Kooperation mit dem niederländischen Schwesterverband eine Negativliste mit Pro Familie: Dokumente«; siehe auch N. N., PRO FAMILIA geht nach Tunesien, in: Pro Familia Informationen 0 (Probeausgabe, Januar 1971), S.2–3, in: BArch N 1336/173. 102 1971 erhielt Pro Familia 94.900 DM von Bundesministerium für Jugend, Familie, Gesundheit, 11.080,30 DM an Spenden, 715,17 DM an Mitgliederbeiträgen, 5.502,63 DM aus dem Erlös aus Verkäufen von Druckschriften, 20.858,41  DM von der Bundeszentrale Für Gesundheitliche Aufklärung plus acht Prozent Provision für das Tunesienprogramm, vgl. N. N., Pro Familia Schatzmeisterbericht (31.12.1971), in: BArch N 1336/859. 103 Vgl. Gaertner, Adrian u. a., Gutachten über die Entwicklung eines Baukastensystems für die Fort- und Weiterbildung der PRO FAMILIA (Kassel, Oktober 1981), in: BArch N 1336/871. 104 Siehe hierzu zum Beispiel den Lebenslauf der Oldenburger Beraterin Möck, Marianne, Sexualberaterin Pro Familia Oldenburg (18.01.1983), in: BArch N 1336/761; siehe auch Kapitel 6 dieser Arbeit. 105 Laut dem reformierten § 218 oblag es den Ländern, Beratungsstellen zu akkreditieren. Die bayerische Landesregierung akkreditierte jedoch nur Beratungsstellen von kirchlichen Trägern, so dass Pro Familia zwar Beratungsstellen betrieb, aber keine Konfliktberatung anbieten durfte, siehe hierzu Pro Familia, Entwurf für die Presseerklärung zur Lage der PRO FAMILIA (ca. 1983), in: BArch N 1336/597. 106 Vgl., N. N., Protokoll der Mitgliederversammlung 1975 (09.–10.5.1975), in: Pro-FamiliaVerbandsarchiv, Ordner »BAT Protokolle 1952 bis 1978«, S. 2.

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nicht zu empfehlenden Kliniken erstellen. Auch sollten Listen mit Ärzt*innen zusammengestellt werden, die in Deutschland bei einer anerkannten Indikation bereit waren eine Abtreibung durchzuführen. Im Juli 1975 widersetzten sich Mitarbeiter*innen der Ortsgruppe Frankfurt am Main dem Beschluss und begannen, als Teil einer Protestkampagne gegen den § 218, ungewollt schwangere Frauen an eine feministische Initiative weiterzuvermitteln, die öffentlichkeitswirksam Busreisen zu Abtreibungskliniken in die Niederlande organisierte.107 Die Reisen dienten als Protestform gegen eine Beschlagnahmung der Ärzt*innenlisten im Frankfurter Feministischen Frauenzentrum, die Namen von Ärzt*innen beinhalteten, die Abtreibungen in Deutschland durchführten.108 Auch andere Beratungsstellen der Pro Familia, etwa in Berlin, vermittelten verzweifelte Frauen an feministische Frauengesundheits­ zentren.109 1976 beschloss dann die erstmals abgehaltene Delegiertenversammlung direkte Klinikempfehlungen des niederländischen Partnerverbands weiterzugeben.110 Dies zeigt, dass individuelle Pro-Familia-Berater*innen schon vor der endgültigen Reform des § 218 alle Möglichkeiten ausschöpften, um Frauen, die sich für eine Abtreibung entschieden hatten, einen sicheren Eingriff zu ermöglichen. Mit der Teilnahme am Modellversuch ab 1974 wandelte sich auch die Rolle der Pro Familia innerhalb der deutschen Wohlfahrtslandschaft. Sie wurde von einem zivilgesellschaftlich Verein, der eine progressive Bewegung vertrat, zu einer Organisation, die zur Umsetzung eines staatlichen Gesetzes beitrug. Um diesem Bedeutungswandel gerecht zu werden, richtete Pro Familia einen »Ausschuss für Beratungsprobleme« ein, welcher als Grundsatz formulierte, dass die Konfliktberatung eine »wertneutrale Entscheidungshilfe« sein sollte, die Frauen alle Informationen über die Risiken des Eingriffs, die sozialen, psychischen und finanziellen Implikationen und alle Alternativen vermitteln sollte.111 Auch sollten sich Frauen ihrer Motivation für den Schwangerschaftsabbruch bewusst werden. Wie schon der Name Schwangerschaftskonfliktberatung implizierte, 107 Vgl. Nehrstedte, Marlies / Wüllenweber, Hans, Über 50.000 deutsche Frauen zur Abtreibung, in: Frankfurter Rundschau (10.07.1975), in: Pro-Familia-Verbandsarchiv, Ordner »Stellungnahmen Pro Familia u. a. Presseecho 1963–1976«. 108 Vgl. Marx Ferree, Myra u. a., Shaping Abortion Discourse. Democracy and the Public Sphere in Germany and the United States, Cambridge 2002, S. 34. 109 Vgl. Lauterbach, Jutta, Das Feministische Frauen-Gesundheitszentrum (FFGZ) in WestBerlin, in: Pro Familia Informationen 1 (Juli 1978), S. 10–13, hier S. 10. 110 Bis 1975 konnten alle Pro-Familia-Mitglieder an der Bundearbeitstagung teilnehmen, ab 1976 entsandten die Orts- und Landesverbände Delegierte, was bedeutete, dass eher jüngere, weibliche und liberaler eingestellte Delegierte an den Sitzungen teilnahmen, vgl. N. N., Protokoll der Bundesarbeitstagung 1976 (28.–29.05.1976), S. 5, in: Pro-FamiliaVerbandsarchiv, Ordner »BAT Protokolle 1952 bis 1978«. 111 Vgl. N. N., Ergebnisprotokoll der Sitzung des Ausschusses »Beratungsprobleme nach der Reform des § 218« 27.–28.04.1974 in München, in: Pro-Familia-Verbandsarchiv, Ordner »BAT Protokolle 1952 bis 1978«.

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ging der Ansatz der Beratung davon aus, dass Frauen, die über eine Abtreibung nachdachten, sich in einer konflikthaften Situation befanden und ihnen deshalb die Entscheidung nicht leichtfiel. So schrieb etwa die Kölner Ärztin Lilli-Lore Schmidt-Schiek 1977 über ihre Erfahrung in der Beratung, dass diese auch für die Berater*innen psychologisch eine Herausforderung sei und sich die Beratungsgespräche schwierig gestalteten, weil die betroffenen Frauen nicht freiwillig in die Beratung kämen. Über das Beratungsgespräch an sich schrieb sie: Die bereits zum Abbruch Entschlossene – und das sind die meisten Frauen unseres Klientels – sieht die Beratung eher als eine lästige Notwendigkeit an. Auch mit dieser Haltung vermag sie gleichzeitig ihren eigentlichen Konflikt zu verdrängen. Der Berater benötigt ein besonders hohes Mass an Empathie, Vorurteilsfreiheit und geschickter Gesprächsführung, um diese Situation zu meistern. Erst dann ist der Weg für ein sinnvolles Gespräch frei, erst dann kann die Entscheidung mit der Klientin zusammen bedacht und erarbeitet werden, erst dann besteht die Chance, den Grundkonflikt zu erhellen, Ängste abzubauen und eine Motivation für eine spätere den körperlichen und psychischen Belangen der Frau Rechnung tragende Kontrazeption zu erzeugen.112

Das Zitat zeigt, dass Schmidt-Schiek davon ausging, dass jede Frau, die eine Schwangerschaft abbrechen wollte, einen unterliegenden Konflikt besaß, der in der Beratung aufgedeckt werden sollte. Die Frage, ob tatsächlich bei jedem Gesuch nach einem Schwangerschaftsabbruch ein unterliegender Konflikt vorlag, wurde in den ab 1975 organisierten Fortbildungskursen für Berater*innen der Pro Familia kontrovers diskutiert.113 Während ein feministisch geprägter Teil der Berater*innen insistierte, dass eine Entscheidung zu einer Abtreibung niemals konfliktvoll sein sollte, berichteten Berater*innen aus der Praxis, dass die Mehrheit der Frauen in der Beratung tatsächliche Probleme zur Sprache brachten.114 Diese konnten Armut, gesundheitliche Bedenken, Konflikte mit dem Partner oder den Eltern, den Verlust des Arbeitsplatzes oder Bildungschancen, sowie Sorgen um schon geborene Kinder umfassen. Laut einem Beschluss der Pro-Familia-Vorstandssitzung von 1976 sollte die Beratung Frauen dazu ermächtigen, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, auch wenn die Indikationenlösung indirekt den Berater*innen die Macht gab, über die Abtreibung zu entscheiden. Obwohl kein Fall in einer Pro-Familia-Beratungsstelle bekannt ist, in der die Beraterin die Ausstellung eines Beratungs112 Schmitt-Schiek, Lili-Lore, Beratende Ärztin in Pro Familia, Köln (16.11.1977), in: BArch N 1336/601. 113 Vgl. Oeten, Karl, Stellungnahme des scheidenden Vizepräsidenten zum Verzicht auf eine erneute Kandidatur und zur Politik des Verbandes (11.05.1982), in: BArch N 1336/758. 114 N. N., Erfahrungsaustausch der Gruppenleiter von § 218-Kursen (05.–06.11.1982), in: BArch N 1336/761, S.2.

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scheins verweigerte, führte es doch zu einem asymmetrischen Machtgefüge, da ungewollt schwangere Frauen in die Situation gerieten, einen meist schon getroffenen Entschluss für eine Abtreibung rechtfertigen zu müssen. Praktisch stellte sich so die Beratung nicht als offenes Gespräch dar, in dem Frauen vor einer Entscheidung ergebnisoffen alle Alternativen dargeboten wurden. Stattdessen wurde die Beratung für viele Frauen zu einem Hindernis in der Umsetzung einer schon getroffenen Entscheidung. Aufgrund der Teilnahme an dem Modellversuch der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung erfolgte eine regelmäßige, externe Evaluierung der Beratung. Deren Erfolg sollte nach einen Pro-Familia-Vorstandsbeschluss von 1982 nicht an der Zahl der verhinderten Abtreibungen gemessen werden.115 Laut dem Evaluationsbericht von 1979 waren 70 Prozent der Klientinnen schon vor der Beratung entschlossen, eine Schwangerschaft abzubrechen und blieben auch dabei, 12 Prozent wollten das Kind behalten und von denen, die zu Beginn der Beratung ambivalent waren, entschieden sich sechs Prozent das Kind zu behalten und sieben Prozent blieben auch am Ende der Beratung weiterhin ambivalent.116 Diese Zahlen gingen auf Schätzungen der Berater*innen zurück. Nach der oben erwähnten polizeilichen Beschlagnahmung von Akten in feministischen Frauenzentren, protokollierte Pro Familia die Beratungsgespräche nicht, um die Privatsphäre der Klientinnen zu garantieren. Dennoch zeigen die Zahlen, dass ein Großteil der Frauen schon vor der Beratung eine Entscheidung getroffen hatte und sich durch die Beratung nicht von ihrer Entscheidung abbringen ließ. Unter denen, die vor der Beratung ambivalent waren, entschied knapp die Hälfte, die Schwangerschaft doch auszutragen, die andere Hälfte blieb unentschlossen und vertagte so die Entscheidung auf einen Zeitpunkt nach der Beratung. Auch zeigen die Zahlen, dass sich keine unentschiedenen Frauen durch die Beratung von einer Abtreibung überzeugen ließen. Aufgrund der statistischen Auswertung der Beratungsresultate geriet Pro Familia Anfang der 1980er Jahre in Konflikt mit der katholischen Caritas, die auch Konfliktberatung anbot, jedoch mit dem Ziel, Frauen davon zu überzeugen, das Kind auszutragen. 1983 beschwerte sich Elisabeth Buschmann vom deutschen Caritas-Verband bei der Pro Familia, da sich deren Geschäftsführer Joachim von Baross im »Pro Familia Magazin« kritisch über den katholischen Verband geäußert hatte.117 In der abgedruckten Gegendarstellung behauptete Buschmann, dass sich bei der Caritas-Beratung 60 Prozent der Frauen für den Erhalt einer Schwangerschaft entscheiden würden. Auch diejenigen, die ursprünglich eine Abtreibung wollten, würden ihre Entscheidung ändern, sobald ihre 115 Vgl. N. N., Protokoll Erweiterte Vorstandssitzung (19.–21.05.1982), in: BArch N 1336/754. 116 Vgl. Nürnberger Zentrum für Angewandte Psychologie, Modellprogramm »Beratungsstellen«  – § 218  – Klientenbefragung 1979, Tischvorlage (17.07.1980), S. 15, in: BArch N 1336/704. 117 Buschmann, Elisabeth (Caritas), Brief an Pro Familia (ohne Datum, ca. April 1983), in: BArch N 1336/757.

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finanziellen Probleme gelöst seien. Nur diejenigen Frauen, die »eine schnelle Bestätigung ihres vorgebrachten Wunsches erwarten und davon ausgehen, ihre Entscheidung nicht reflektieren zu müssen,« würden zur Beratung der Pro Familia gehen.118 Während diese Stellungnahme wertend über Frauen urteilte, die sich für eine Abtreibung entschieden, deutete sie dennoch daraufhin, dass Frauen sich in den Bundesländern, in denen sowohl kirchliche als auch weltliche Träger akkreditiert waren, bewusst entschieden, welche Beratungsstelle sie aufsuchten. Wer entschlossen war, eine Abtreibung durchführen zu lassen, besuchte eher Pro Familia. Diejenigen, die ambivalente Gefühle und finanzielle Sorgen hegten, nahm eher die Beratung der Caritas in Anspruch. In Bremen, einem der Bundesländer mit dem liberalsten Zugangsrecht zur Abtreibung und Konfliktberatung, fanden 80 Prozent der Beratungsgespräche bei Pro Familia statt und nur eine Minderheit bei kirchlichen Trägern.119 Die Position der Caritas und der ab 1982 neu im Amt befindlichen christlichliberalen Bundesregierung war, dass Abtreibungen durch finanzielle Unterstützung verhindert werden könnten und man keine Notlagenindikation bräuchte, da der Sozialstaat finanzielle Notlagen auffangen würde.120 Um diesem Argument entgegenzusteuern betonten Pro-Familia-Publikationen in den frühen 1980er Jahren immer wieder, dass die Situationen ihrer Klientinnen zu komplex seien, um sie allein durch finanzielle Hilfe zu lösen. So beschrieb der Jahresbericht des Familienplanungszentrums Hamburg 1982 die typische Klientin der Konfliktberatung als verheiratete Mutter über 35 Jahre mit zwei Kindern im Teenageralter, die alleinige Verdienerin in der Familie war, da ihr Ehemann arbeitslos geworden war.121 Bei einer weiteren Schwangerschaft fürchtete sie ihre Arbeitsstelle zu verlieren, ihren schon geborenen Kindern nicht mehr genug Aufmerksamkeit schenken zu können und aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters ein Kind mit Behinderungen zur Welt zu bringen. Diese drastische Schilderung diente dazu, zu zeigen, dass die Klientin nicht »eine einfache Lösung« suchte und auch nicht ihre gesellschaftliche Rolle als Mutter umgehen wollte, da sie schon Kinder hatte. Stattdessen hatte sie ihre Entscheidung aus altruistischen Gründen getroffen und ihre Probleme waren so vielschichtig, dass sie durch eine einmalige finanzielle Hilfe, wie sie etwa die bayerische Landesstiftung »Hilfe für Mutter und Kind« anbot, nicht in den Griff zu bekommen seien.122 Auch hier wurde die Abtreibung wieder als Ausweg aus einer Notsituation präsentiert und nicht als Recht der Frau, über ihren eigenen Körper zu entscheiden. Pro Familia 118 Buschmann, Elisabeth, Leserbrief, in: Pro Familia Magazin 11 (1983) H. 5, S. 22. 119 PROFAMILIABREMEN , Offener Brief an die Parteien in der Bremer Bürgerschaft (undatiert, ca. Juli 1983), in: BArch N 1336/757. 120 Vgl. N. N., PROFAMILIABREMEN Informationsblätter 1 (Januar 1983), BArch N  1336/378. 121 N. N., Familienplanungszentrum Hamburg Erfahrungsbericht 82, in: BArch N 1336/757, S. 12. 122 Siehe hierzu, N. N., Kurzinformation über Bayer. Hilfen für die Familie (01.03.1982), in: BArch N 1336/757; zu mehr Informationen über die Stiftungen siehe Kapitel 8 dieses Bandes.

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bediente sich in seinen öffentlichen Statements diesem Narrativ, um ein Gegengewicht gegen die Aussagen der Caritas und der Bundesregierung darzustellen, dass Frauen es sich aus einer Verweigerung von Verantwortung heraus einfach machten, wenn sie sich für eine Abtreibung entschieden. Einzig die diskursive Rahmung der Abtreibung als Notsituation schien im politischen Klima der Bundesrepublik der 1980er durchsetzbar, da das Bundesverfassungsgesetz 1975 die Freigabe der Abtreibung als Frauenrecht abgelehnt hatte. So wurde die Konfliktberatung trotz der emanzipatorischen Bemühungen einzelner Pro-Familia-­ Berater*innen nicht zu einer Ressource der Entscheidungsfindung, sondern zu einem Werkzeug um die bereits getroffene Entscheidung umzusetzen. Ungeplant schwangere Frauen mussten zunächst selbst eine Entscheidung treffen und diese in einem altruistischen Narrativ präsentieren, bevor sie die passende Beratungsstelle aufsuchen konnten. Die Ressourcen, die die Beratungsstellen den betroffenen Frauen bieten konnten, waren Informationen zur Umsetzung ihrer Entscheidung, wie zum Beispiel Wissen über finanzielle Hilfen, über die rechtliche Lage oder Namen von Ärzt*innen, die bereit waren eine Abtreibung durchzuführen.123

Der Aufbau eigener Abtreibungskliniken Heutzutage ist Planned Parenthood in den USA hauptsächlich als Anbieter von Abtreibungen bekannt und ist aufgrund dessen regelmäßig von finanziellen Kürzungen bedroht. Die Organisation erhielt seit 1970 öffentliche Fördermittel durch die Einführung von Paragraph 10 des Public Health Service Act (Title X) der Nixon Administration.124 Bei der Legalisierung der Abtreibung in den USA 1973 war aber noch längst nicht abzusehen, dass Planned-Parenthood-Klini­ ken selbst Abtreibungen durchführen würden. Nach dem Gerichtsurteil Roe v. Wade geriet das Pro-Choice-Lager jedoch in die Defensive, da Abtreibungsgegner vermehrt öffentlichkeitswirksam eine Rücknahme der Legalisie­rung 123 So beklagte schon 1975 eine Resolution der Pro-Familia-Mitgliederversammlung, dass Ärzt*innen, die Indikationen diagnostizierten, oft zu wenig Wissen über soziale Hilfsangebote hatten, wenn sie eine Notlagenindikation feststellten, vgl. N. N., Protokoll der Mitgliederversammlung 1975 (09.–10.5.1975), in: Pro-Familia-Verbandsarchiv, Ordner »BAT Protokolle 1952 bis 1978«, S. 2. 124 Durch Title X des Public Health Service Act (1970) erhielt Planned Parenthood jährlich um die $ 23 Mio, um Familienplanung für arme Frauen und Teenager sowie Forschung im Bereich Bevölkerungwachstum zu finanzieren, vgl. Planned Parenthood, Public Affairs Plan for 1978 (04.04.1978), in: PPFA Records II , Box 111.5, S. 2. Im August 2019 lehnte Planned Parenthood entgültig die Annahme jeglicher Finanzierung durch Title X ab, um sich nicht mehr vorschreiben zu lassen, was Klinikmitarbeiter*innen in Beratungsstellen über Abtreibungen sagen dürfen, siehe Belluck, Pam, Planned Parenthood Refuses Federal Funds over Abortion Restriction, in: New York Times Online 19.08.2019, https://www.nytimes.com/2019/08/19/health/planned-parenthood-title-x. html?searchResultPosition=2, letzter Zugriff: 27.08.2019.

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forderten.125 Planned-Parenthood-Kliniken, welche erst seit 1976 eine eigene Konfliktberatung eingerichtet hatten, begannen ab 1978 aus der Sorge heraus, dass arme Frauen nach dem Verbot der Kostenübernahme durch die öffentliche Krankenversicherung Medicaid keinen Zugang mehr zu legaler Abtreibung erhalten würden, selbst Abtreibungen anzubieten.126 Die Organisation, die sich 1970 in Planned Parenthood Inc. umbenannt hatte und zu einem eingetragenen Unternehmen vergleichbar mit einer deutschen GmbH geworden war, eröffnete Abtreibungskliniken bevorzugt an Orten, an denen es schon unabhängige feministische Frauengesundheitskliniken gab. Für Planned Parenthood, welches jetzt als Unternehmen agierte, bedeutete dies die Sicherheit, dass in den Orten ein »Markt« für Familienplanung und Abtreibungen vorhanden war. Für die feministischen Frauengesundheitskliniken, die zwar gegen ein profitorientiertes Gesundheitssystem angetreten waren, aber dennoch auf Einnahmen durch Patientinnen und Spenden angewiesen waren, um laufende Kosten zu decken, bedeutete dies einen Verlust ihrer Existenzsicherung, da Planned Parenthood Abtreibungen aufgrund seines landesweiten Netzwerks günstiger anbieten konnte.127 In der Bundesrepublik waren sich anders als in den USA alle Akteure in der Reform des § 218 einig, dass die Entstehung freistehender, profitorientierter Abtreibungskliniken abzulehnen sei. So beklagte sich der Pro-Familia-Bundesverband 1976, dass der Reformparagraph 218 es Ärzt*innen erlaube, aus einer Gewissensentscheidung heraus die Durchführung einer Abtreibung auch bei einer diagnostizierten Indikation und einem Nachweis über die Pflichtberatung abzulehnen.128 Dies würde dazu führen, dass auf der Grundlage des Gesetzes Kliniken in kirchlicher oder städtischer Trägerschaft Ärzt*innen anweisen könnten, alle Abtreibungen aus Gewissensgründen abzulehnen. Dann würden freistehende profitorientierte Abtreibungskliniken entstehen, in denen Ärzt*innen, die bereit waren Abtreibungen gegen Honorar durchzuführen, eine Anstellung finden würden. Pro Familia, welche bis heute als eingetragener gemeinnütziger Verein organisiert ist, sprach sich vehement dagegen aus, die legale Abtreibung zu einem Geschäftsmodell zu machen. 125 Vgl. PPFA , Facts about the Threats to the Supreme Court Decision on Abortion (März 1973), in: PPFA Records II , Box 7.38; zur Anti-Abtreibungsbewegung in den USA siehe Kapitel 8 dieser Arbeit. 126 Vgl. Buzard, Don, Changes in by-laws adopted on June 2–3, 1978, in: PPFA Records II , Box 78.12. 127 Zur Debatte um die geographische Lage der Abtreibungskliniken und Profit in den USA , siehe Ziegler, Mary, Beyond Abortion. Roe v. Wade and the Battle for Privacy, Cambridge 2018, S. 232. 128 Siehe hierzu das Interview mit dem Landesvorsitzenden von Pro Familia Baden-Württemberg Gerd Krebs in der »Badischen Zeitung«; Danneoker, F. / K resse, K., Der neue Paragraph 218 – Ein akzeptabler Kompromiss? in: Badische Zeitung (31.07.1976), Zeitungsausschnitt, in: Pro-Familia-Verbandsarchiv »Stellungnahmen Pro Familia u. a. Presseecho 1963–1976«; siehe auch Heinrichs, Jürgen, Presseerklärung der Pro Familia zu § 218 (07.08.1976), in: BArch N 1336/603.

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Zwar behaupteten Kritiker*innen der legalen Abtreibung, dass die Reform des § 218 faktisch eine Legalisierung der Abtreibung bedeute, da durch die Einführung der Notlagenindikation und der liberalen Ausgabepraxis von Beratungsscheinen durch die Pro Familia und die Arbeiterwohlfahrt faktisch jede Frau eine Abtreibung bis zur zwölften Schwangerschaftswoche erlauben würde.129 Tatsächlich wurde aber der Zugang zu einer straffreien Abtreibung bis zu diesem Zeitpunkt durch unzureichende Klinikkapazitäten, gesetzliche Einschränkungen in einigen Bundesländern und veraltete Verfahrenstechniken erschwert. Der Zugang zu Kliniken, die bereit waren, legale Abtreibungen durchzuführen, war in einigen Regionen problematisch. So berichtete der Gynäkologie-Professor Fritz K. Beller, der bis 1972 in New York und danach am Universitätsklinikum Münster tätig war, dass in der westfälischen Großstadt keines der sechs Krankenhäuser in kirchlicher oder städtischer Trägerschaft bereit war, Abtreibungen durchzuführen.130 Einzig die Universitätsklinik würde den Eingriff vornehmen, dort drohten jedoch durch das Bistum organisierte Anästhesieschwerstern mit Streiks und Massenkündigungen, falls sie an Abtreibungen beteiligt werden würden.131 Die Bundesländer Niedersachsen, Bayern, Baden-Württemberg und das Saarland verboten die ambulante Durchführung von Abtreibungen in Arztpraxen, was einen Krankenhausaufenthalt notwendig machte.132 Aufgrund der flächendeckenden Weigerung kirchlicher Krankenhäuser, Abtreibungen bei Notlagenindikation durchzuführen und der begrenzten Bettenkapazitäten vieler öffentlicher Kliniken, ergab sich eine lange Wartezeit, so dass Frauen oft gezwungen waren für eine Abtreibung in eine andere Stadt zu reisen.133 Auch blieben Abtreibungsreisen von deutschen Frauen in die Niederlande, wo es freistehende Abtreibungskliniken gab, bis in die 1980er Jahre eine soziale Realität.134 Es etablierten sich innerdeutsche Reiserouten von den konservativ-katholischen Bundesländern im Süden in die protestantischen Bundesländer im Norden. So berichtete die Beratungsstelle im hessischen Hanau, dass 20 Prozent ihrer 129 Vgl. N. N., Spießrutenlaufen nach Neufassung des § 218?, Zeitungsausschnitt Flensburger Tagesblatt (09.07.1976), in: Pro-Familia-Verbandsarchiv Ordner »Stellungnahmen Pro Familia u. a. Presseecho 1963–1976«. 130 Vgl. Beller, Fritz K., Medizinisch-organisatorische Probleme der erweiterten Abortindikation (18.02.1975), in: BArch N 1336/604; zur Anti-Abtreibungsbewegung in Münster siehe Heinemann, Isabel, »Enttäuschung unvermeidlich«? Die Debatten über Ehescheidung, Abtreibung und das Dispositiv der Kernfamilie in der BRD, in: Gotto, Bernhard / U lrich, Anna (Hg.), Hoffen – Scheitern – Weiterleben. Enttäuschung als historische Erfahrung im 20. Jahrhundert, Berlin 2020, S. 55–85. 131 Beller, Probleme, S. 15. 132 Vgl. N. N., PRO FAMILIA Bundesverband. Ärztliche Stellungnahme zu der Erklärung der PRO FAMILIA »Profite mit dem Schwangerschaftsabbruch« (16.03.1983), in: BArch N 1336/757. 133 Ebd. 134 Vgl. N. N., Pro Familia erhebt schwere Vorwürfe wegen Abbruchstourismus, Presseerklärung Februar 1983, in: BArch N 1336/754.

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Klientinnen aus Bayern stammten.135 Der Pro-Familia-Bundesverband war selbst überrascht, als in einer Umfrage unter den Beratungsstellen, welche Arztpraxen sie für ambulante Abtreibungen empfehlen konnten, die Beratungsstelle Trier Frauen ins 150 km entfernte Köln überwies und die Beratungsstelle Münster einzig eine Praxis im 35 km entfernten protestantischen Osnabrück nannte, obwohl in Niedersachsen ambulante Abtreibungen nicht zugelassen waren.136 Für schwangere Frauen bedeutete die deutschlandweite Reise Mehrkosten, die Notwendigkeit sich für mehrere Tage im Beruf oder der Schule beurlauben zu lassen und gegebenenfalls Kinderbetreuung organisieren zu müssen. Dies war besonders in den Fällen schwierig, in denen Angehörige oder Arbeitgeber nichts von der ungewollten Schwangerschaft erfahren sollten. Neben den erschwerten Zugängen zu Klinikaufenthalten waren auch die verwendeten Abtreibungsmethoden fragwürdig. Schon 1970 hatte Hans Harmsen darauf hingewiesen, dass Ärzt*innen in der Bundesrepublik die Routine in der Durchführung der Abtreibung per Ausschabung fehlte.137 Die Absaugmethode durch eine elektrisch betriebene Vakuumpumpe, wie sie Malcolm Potts 1974 entwickelt hatte, hatte sich in der Bundesrepublik bis in die frühen 1980er Jahre noch nicht durchgesetzt. Deshalb begann Pro Familia in Bremen 1977 Ärzte­ schulungen mit Kolleg*innen der niederländischen Partnerorganisation durchzuführen, die Erfahrungen in der Anwendung dieser Methoden hatten.138 Die meisten Abtreibungen wurden in der Bundesrepublik jedoch weiterhin durch eine Ausschabung durchgeführt. Nach der Legalisierung experimentierten verschiedene Krankenhäuser mit der Gabe des Hormons Prostaglandin zum Auslösen verfrühter Wehen um sicher zu gehen, dass tatsächlich alle Zellen des abgetriebenen Fötus abgestoßen wurden, oft ohne die betroffenen Frauen über die Wirkweisen synthetischer Prostaglandine aufzuklären.139 Diese Prozedur war für Frauen nicht nur schmerzhaft, da sie komplette Wehen durchstehen mussten, sie bedingte auch einen mindestens viertägigen Klinikaufenthalt.140 So berichtete die Illustrierte »stern« von einer 22-jährigen Studentin unter dem Pseudonym Christina Keller, die einen Schwangerschaftsabbruch in der siebten 135 Schlich Elmar / Werder, Ilse (Pro Familia Hanau), Leserbrief an die Frankfurter Rundschau (12.07.1982), in: BArch N 1336/758. 136 Vgl. N. N., Protokoll Außerordentliche Erweiterte Vorstandssitzung Wuppertal 24.04.1982, in: BArch N 1336/762. 137 Harmsen, Hans, Manuskript, Erfahrungen mit der Liberalisierung des Schwangerschaftsabbruchs im Staat New York, USA (ca. 1972), in: BArch N 1336/739. 138 Vgl. Bromberger, Ute, Transkript Radio-Interview NDR mit dem Bremer Pro-FamiliaLandesvorsitzen Gerhard Amendt (17.10.1977), in: BArch N 1336/245, S. 6. 139 Vgl. Weber, Doris, Frauen fühlen sich von Ärzten bestraft, Zeitungsausschnitt Frankfurter Rundschau (22.2.1980), angehängt an einen Protestbrief der Pro Familia Bremen, in: BArch N 1336/704; siehe hierzu auch N. N., The Use of PGs In Human Reproduction, in: Population Reports 8 (März 1980), Zeitschriftenausschnitt in: BArch N 1336/704. 140 Vgl. Pro Familia Landesverband NRW, Projektentwurf: Gesundheits- und Fortbildungszentrum (Stand September 1982), in: BArch N 1336/758.

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Schwangerschaftswoche durchführen ließ und aufgrund der Gabe von Prostaglandin zwölf Stunden lang »[m]it Krämpfen im Unterleib, Schwindelgefühlen und Übelkeit […] eine künstliche Fehlgeburt mit schmerzhaften Wehen über sich ergehen lassen« musste, obwohl angenehmere Methoden zur Verfügung standen.141 Der Pro-Familia-Landesverband Nordrhein-Westfalen schickte 1978 einen selbstbetitelten »Kölner Notruf« an den Bundesverband, in dem es hieß: Die in den Illustrierten Wochenzeitschriften erscheinenden Berichte (Brigitte / Stern) über Klinikerlebnisse von der Demütigung der Frauen bishin zu ganz unverantwortlichen Ausräumingen [sic] des kleinen Beckens sollten von Pro Familia nicht reaktionslos zur Kenntnis genommen werden.142

Mit der Ausräumung des kleinen Beckens ist sicher eine unfreiwillige Entnahme der Gebärmutter gemeint. Auch der Landesverband Bremen berichtete, dass an einer auffällig hohen Anzahl an Patientinnen nach einer Abtreibung auch eine Hysterektomie durchgeführt wurde, was man als eine »verkappte Zwangs­ sterilisation« interpretierte.143 1984 wurde ein Fall aus Nürnberg bekannt, bei dem ein Arzt verzweifelte Frauen bei einer Abtreibung gegen ihren Willen sterilisiert oder ihnen die Spirale eingesetzt hatte.144 Der Soziologe und Vorsitzende des Pro-Familia-Landesverbands Bremen Gerhard Amendt verfasste 1982 einen kritischen Beitrag für das linkspolitische Magazin »konkret«, für das sein Zwillingsbruder Günther als Redakteur tätig war. In dem Beitrag kritisierte er die Macht der Ärzt*innen über die Wahl einer Abtreibungsmethode und Sterilisierung.145 Laut Amendt habe durch die Indi­ 141 Vgl. König, Uta, Ich fühle mich wie bestraft, in: stern 31 (12.10.1978) H. 42, Zeitungsausschnitt ohne Seitenzahl, in: BArch N 1336/759; als Quelle für den stern-Artikel diente ein Interview mit dem Münsteraner Pro-Familia-Unterstützer Fritz K. Bellen. 142 Pro Familia Landesverband Nordrhein-Westfalen, Kölner Notruf vom 04.09.1978, in: BArch N 1336/249. 143 Vgl. Amendt, Gerhard, Vom Beichtstuhl zum Gynäkologenstuhl, in: konkret (1981), S. 77–81, hier S. 78; in einem von Fritz Beller verfassten Lehrbuchtext, heißt es, man habe nach der Liberalisierung des § 218 »aus mangelnder Erfahrung« häufig nach der Abtreibung eine Hysterektomie (Entnahme der kompletten Gebärmutter) oder Hysteronomie (Aufschneiden der Gebärmutter zur Entnahme des Fötus) in Kombination mit Tubenligatur durchgeführt, in den 1990er Jahren würde dies nur noch bei der Diagnose von Uterusmyomen (Tumore in der Gebärmutter) durchgeführt, vgl. Beller, Fritz K., Schwangerschaftsabbruch, in: Schneider, Henning u. a. (Hg.), Geburtshilfe, Heidelberg 2000, S. 41–50, hier S. 46–47. 144 Vgl. Gast, Wolfgang, Abtreibungen dienten der Bedarfsdeckung, in: TAZ (04.04.1987), S. 5; siehe hierzu auch Kapitel 4 dieser Arbeit. 145 Gerhard Amendt (geb. 1939) hatte in Frankfurt und Berkeley Soziologie studiert und war sowohl in der deutschen wie in der amerikanischen Studentenbewegung aktiv. Er wurde Professor für Soziologie am Institut für Geschlechterstudien der Universität Bremen und von 1982 bis 1984 Berater der WHO für Fragen der Familienplanung. Seit seiner Emeritierung 2003 veröffentlicht er im Umfeld der sogenannten »Männerrechtsbewegung« kontroverse Texte, die rechtspopulistische und homophobe Positionen

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kationenlösung der Gynäkologe die Rolle der moralischen Verurteilung einer Frau übernommen, die früher ein Pfarrer innehatte. Aufgrund der aktuellen Gesetzeslage beanspruchten Frauenärzt*innen in den Bereichen Schwangerschaftsabbruch, Sterilisation, Verhütung und Operationen (etwa Hysterektomien oder Mastektomien), das alleinige Recht, eine Entscheidung über den Körper der Frau zu fällen und sie moralisch zu verurteilen: [Die Gynäkologie] fühlt sich zuständig für alles: Für die Methode, für die Methodenpause, für die Bestimmung von sicheren und unsicheren Methoden, für den Beginn der Verhütung und für deren Ende. […] sie entscheidet, ob eine unerwünschte Schwangerschaft abgebrochen wird oder nicht, ob der Eingriff schonend oder schmerzhaft, ambulant oder stationär, auf Krankenschein oder Privatrechnung, in der Legalität oder Illegalität vorgenommen wird.146

Gynäkolog*innen würden sich zum Beispiel weiterhin für den Einsatz von Prostaglandin bei einem Schwangerschaftsabbruch entscheiden, obwohl es schonendere Methoden gab. Nach Amendt waren die Motive der Gynäkolog*innen Machterhalt, normative Familienideale und finanzieller Gewinn. So würden Ärzte nach der Logik eines »Kleinunternehmers« handeln, wonach sich das Verschreiben der Pille oder der Einsatz einer Ultraschalluntersuchung bei einer Schwangerschaft finanziell für die Praxen lohne.147 Um die Versorgung und die Rechte der Frauen zu verbessern, müsste nach Amendt daher die »Monopo­ lisierung« der Geburtsheilkunde durch die gynäkologischen Praxen gebrochen werden. Sterilisationen, Abtreibungen und Geburten sollten an feministische Selbsthilfegruppen und Familienplanungszentren, an denen »hochmotivierte Ärzte« ohne eigene Einkommensinteressen tätig waren, ausgelagert werden.148 Laut Amendt würde nicht die Einrichtung spezieller Abtreibungskliniken, sondern die bisherige Versorgungsgrundlage durch gynäkologische Facharzt­ praxen und Krankenhäuser die reproduktive Medizin zu einem Geschäftszweig machen. In seinen Forderungen wollte er jedoch nicht Frauen durch eine Gesetzesänderung ermächtigen, sondern ihnen durch eine Entmachtung der männlichen Gynäkologen eine bessere medizinische Versorgung zukommen lassen. Es ging ihm nicht darum Frauen zu emanzipieren, sondern Ärzt*innen als Repräsentanten eines Kleinunternehmertums zu entmachten. Frauen blieben in dieser Forderung weiterhin passive Patientinnen, für die die Entscheidung nun an eine andere Stelle – Pro Familia oder das feministische Frauengesundheits-

gegen Frauenhäuser, Gender Studies oder die Partei »Die Grünen« einnehmen, vgl. Thorwarth, Katja, Professor Amendt und die Frauenbewegung, in: Frankfurter Rundschau online 16.04.2018 https://www.fr.de/frankfurt/polizei-org27586/professor-amendtfrauenbewegung-10987355.html, letzter Zugriff: 11.05.2021. 146 Amendt, Beichtstuhl, S. 77. 147 Ebd., S. 80. 148 Ebd., S. 81.

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zentrum – ausgelagert wurde. Letztendlich würde das aber doch die Autonomie der Frauen stützen. Um seine Vorstellung einer nicht nach »Bestrafungs- und Einkommensinteressen« motivierten Reproduktionsmedizin umzusetzen, setzte sich Amendt seit 1977 dafür ein, in Bremen das erste »Familienplanungszentrum« der Pro Familia einzurichten, in dem unter einem Dach Beratung, Behandlung und ambulante Abtreibungen durchgeführt wurden.149 Dieser Plan führte zu Kontroversen innerhalb der Organisation, da sich besonders die älteren, männlichen Mediziner dagegen aussprachen, dass Pro Familia selbst Abtreibungen anbieten sollte. So beschwerte sich der Berliner Landesvorsitzende Ulrich Wolff beim Verbandspräsident Jürgen Heinrichs, dass man die Frage schon 1976 mit einem Kollegen aus England diskutiert und beschlossen habe, dass der Verband sich nicht an der Einrichtung von Abtreibungskliniken beteiligen sollte.150 Wolff kritisierte auch, dass in den Beratungsstellen neben der Stelle des / der ärztlichen Leiters / Leiterin der Posten eines / einer nicht-medizinischen Verwaltungsleiters / Verwaltungsleiterin eingerichtet werden sollte, was faktisch einer Entmachtung des / der medizinischen Leiters / Leiterin einer Beratungsstelle gleichkam.151 Wolff verknüpfte diese Kontroverse direkt mit der Einrichtung von Abtreibungskliniken. Das zeigt, dass es hier um die Machtstellung von Mediziner*innen ging, da sie durch die Schaffung nicht-medizinischer Leitungsstellen innerhalb der Pro Familia und durch Abtreibungen in Familienplanungszentren entmachtet wurden. In Berlin und im Pro-Familia-Vorstand löste sich der Konflikt, da feministische Aktivist*innen der Pro Familia beigetreten waren und bei der Vorstandswahl 1979 Wolff aus dem Amt wählten.152 1982 eröffnete auch der Landesverband Hamburg ein eigenes Familienplanungszentrum, welches ambulante Schwangerschaftsabbrüche durchführte.153 Dessen Jahresbericht schildert detailliert die Herangehensweise und die Pro­ bleme des Zentrums. Das Institut war seit 1979 geplant worden und erhielt den Großteil seiner Finanzierung durch Spenden und Zuwendungen des Gesundheitsamts Hamburg.154 Seit Mai 1982 wurden Sexualberatung über Verhütungsmittel, aber auch über Impotenz oder Transsexualität angeboten. Es wurden ambulante Abtreibungen per Absaugmethode inklusive Konfliktberatung und Nachuntersuchung durchgeführt und Geburtsvorbereitungskurse abgehalten. Auch gab es Selbsthilfegruppen für Diaphragma-Nutzerinnen und werdende Eltern. Die Sexualberatung richtete sich dezidiert auch an Männer. Partner 149 Vgl. Bromberger, Ute, Transkript Radio-Interview NDR mit dem Bremer Pro Familia Landesvorsitzen Gerhard Amendt (17.10.1977), in: BArch N 1336/245, S. 5. 150 Wolff, Ulrich, Brief an Jürgen Heinrichs (21.11.1978), in: BArch N 1336/249. 151 Wolff, Ulrich, Brief an Hans Harmsen (25.08.1978), in: BArch N 1336/249. 152 Vgl. Brandt, Ilse, Brief an Hermann Hummel-Liljegren (02.04.1979), in: BArch N  1336/249. 153 N. N., PRO FAMILIA – Beratungszentrum Bremen (Juli 1982), in: BArch N 1336/758; N. N., Familienplanungszentrum Hamburg Erfahrungsbericht 82, in: BArch N 1336/757. 154 Vgl. Ebd., S. 8.

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schwangerer Frauen wurden ermutigt an Geburtsvorbereitungskursen oder der Abtreibungsberatung aktiv teilzunehmen.155 Eine Statistik im Jahresbericht zeigt auf, dass in dem Hamburger Zentrum zwischen Mai und Dezember 1982 300 Abtreibungen durchgeführt wurden.156 13 Prozent der Patientinnen waren »Ausländerinnen«, was über dem Anteil der ausländischen Bevölkerung der Stadt Hamburg lag.157 Deshalb wurden eine türkisch-stämmige Krankenschwester und eine portugiesisch-stämmige Sozialarbeiterin eingestellt. Zudem zeigt die Statistik, dass neun Patientinnen weder aus Hamburg noch den umliegenden Bundesländern Schleswig-Holstein und Niedersachsen kamen, sie waren also mehr als 200 km für eine Abtreibung angereist.158 Das Ziel des Familienplanungszentrums war laut der Selbstdarstellung im Jahresbericht, eine Einteilung in »gute Frauen«, die eine Schwangerschaft austrugen und »schlechte Frauen«, die eine Abtreibung durchführen ließen, aufzubrechen, da diese normativen Kategorisierungen die komplexen Lebensrealitäten von Frauen nicht abbildeten.159 Die Mitarbeiter*innen der Beratungsstelle betonten, dass eine moralisch-normative Trennung in Mütter und Frauen, die sich aus egoistischen Gründen der Mutterschaft verweigerten, wie sie die katholische Kirche vornahm, nicht aufrechtzuerhalten war. So würden Frauen, die eine Schwangerschaft abbrachen, später noch Kinder kriegen wollen. Andere Frauen würden trotz Verhütung schwanger oder wollten nach der Geburt eines Kindes sicher verhüten, auch wollten sie reproduktive Fragen einvernehmlich mit ihrem Partner lösen. Die Selbstdarstellung hob hervor, dass jede sexuell aktive Frau zu unterschiedlichen Punkten ihres Lebens in den Bedarf von Konfliktberatung geraten konnte. In dem Jahresbericht wurden Reproduktionsfragen jeglicher Art als Konflikte beschrieben, da die Empfängnisverhütung zwar »allgemein akzeptiert« sei, es aber an Aufklärung über Detailwissen mangele, so dass Frauen nicht in der Lage seien, eigenständig die für sie passende Option zu wählen.160 In Bezug auf 155 Pro Familia nutzte die finanziellen Mittel, die es für die Durchführung der Konfliktberatung erhielt auch dezidiert um Beratungen in anderen sexuellen Fragen, etwa Unterstützung für LGBTQ oder Opfer sexueller Gewalt anzubieten, vgl. Heinrichs, Jürgen, Presseerklärung Pro Familia zu § 218 (07.08.1976), in: BArch N 1336/603. 156 N. N., Familienplanungszentrum Hamburg Erfahrungsbericht 82, in: BArch N 1336/757, S. 14. 157 Ebd., S. 8; der Ausländeranteil der Bevölkerung Hamburgs lag laut dem Statistikamt Nord 1980 bei zehn Prozent, jedoch waren nur 8,4 Prozent der weiblichen Bevölkerung Ausländerinnen, vgl. Statistikamt für Hamburg und Schleswig-Holstein, Statistisches Jahrbuch Hamburg 2014/2015, Hamburg 2015, S. 14, https://www.statistik-nord.de/ fileadmin/Dokumente/Jahrb%C3%BCcher/Hamburg/JB14HH_Gesamt_Korr.pdf, letzter Zugriff:08.05.2019. 158 N. N., Familienplanungszentrum Hamburg Erfahrungsbericht 82, in: BArch N 1336/757, S. 5. 159 Ebd., S. 3. 160 Ebd., S. 4.

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Schwangerschaftsabbrüche hätte das die Konsequenz, dass Frauen verängstigt in die Beratung kamen. Oft fürchteten sie den operativen Eingriff, nachdem sie von Bekannten oder Ärzt*innen abschreckende Geschichten über illegale Abtreibungen oder schmerzhafte Methoden gehört hatten.161 Die Selbstdarstellung betonte daher, dass Abtreibungen mit einer schonenden Methode und ohne Vollnarkose durchgeführt werden würden, damit die Patientinnen immer wüssten, was mit ihren Körpern geschah.162 Anders als es noch 1977 in den Pro Familia Fortbildungskursen diskutiert wurde, sollten die Berater*innen nicht nach unterliegenden Konflikten suchen, sondern Patientinnen vorurteilsfrei beraten. In dem Abschnitt zur Personalpolitik beschrieb die Selbstdarstellung, dass es von Vorteil sei, dass Mitarbeiter*innen eingestellt wurden, die der Frauenbewegung nahestanden und von denen einige selbst Erfahrungen mit Abtreibungen hatten.163 Es war also konzeptionell gewollt, dass Angestellte mit einem feministischen Hintergrund eine Beratungspraxis etablierten, die die Rechte der individuellen Frau in den Vordergrund stellte und ihr eine Ressource der Entscheidung und vor allem die Umsetzung einer konfliktreich getroffenen Entscheidung zu bieten. Patientinnen, die in einem Fragebogen drei Wochen nach dem Eingriff nach ihren Erfahrungen gefragt wurden, schätzten besonders die »Atmosphäre« der Beratungssituation, »die Sicherheit und Geborgenheit« ausstrahlte. Die Beratung könne »in [einer] Situation helfen […], in der ich es selbst nicht kann.«164 Eine andere Patientin schrieb, dass sie positiv überrascht war, dass die Mitarbeiter*innen es schafften ihre »doch vorhandenen Schuldgefühle« abzubauen und keine »älteren Schwestern mit Häubchen […]« sie mit einer »›was-habenSie-denn-fürn-Quatsch-gemacht-und-wir-müssen-das-jetzt-wieder-ausbügelnMiene‹ etwas herablassend behandelten.«165 Natürlich ist es nicht überraschend, dass Pro Familia in ihrem Jahresbericht nur positive Stellungnahmen abdruckte. Dennoch zeigen die Statements zum einen, dass es dem Familienplanungszen­ trum gelungen war, Abtreibungen in einer entspannten Atmosphäre anzubieten und ungewollt schwangeren Frauen eine benötigte Hilfestellung zu bieten. Zum anderen zeigt es, dass die Konfliktberatung, die ursprünglich eingeführt worden war, um Frauen von einer Abtreibung abzubringen, nun dazu diente den Eingriff so angenehm wie möglich zu gestalten. Auch belegen die Zitate, dass die betroffenen Frauen mit der Erwartungshaltung in die Beratung gingen, dass ihnen ein schlechtes Gewissen eingeredet werden sollte und sie einen Fehler gemacht hätten, den andere für sie »ausbügeln« müssten.166 Dies zeigt, dass trotz der Bemühungen des Familienplanungszentrums, sich von anderen Einrich161 Ebd., S. 12. 162 Ebd., S. 6. 163 Ebd., S. 25. 164 Ebd., S. 16. 165 Ebd. 166 Ebd.

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tungen zu unterscheiden und Abtreibungen in entspannter und vorurteilsfreier Atmosphäre durchzuführen, der Eingriff an sich weiterhin stigmatisiert war. Trotz der Behauptungen der Abtreibungsgegner*innen, mit der Einführung der Notlagenindikation sei faktisch die Abtreibung freigegeben worden, und den Bemühungen der Pro Familia, die Konfliktberatung in eine positive Beratungssituation umzumünzen, blieb die Entscheidung für eine Abtreibung eine Krisensituation. Aufrgund der strikten Gesetzeslage musste die betroffene Frau trotz der Bemühungen der Pro Familia die Entscheidung nicht zu einer Krise werden lassen, den Entschluss oft unter Zeitdruck und mit unzuverlässigen Kenntnissen über Abtreibungsmethoden und deren Konsequenzen treffen. So entwickelte sich die Entscheidungssituation selbst zu einer Krise. Die Familienplanungszentren als Werkzeug der Ermächtigung schwangerer Frauen und der Entmachtung vorurteilsbeladener Ärzt*innen und Krankenschwestern war innerhalb der Pro Familia umstritten. So verkündeten der Psychiater Peter Petersen und die Gynäkologin Ingeborg Retzlaff im September 1980 im deutschen Ärzteblatt ihren Austritt aus der Pro Familia, da sie die »Wunschkinderideologie« der Organisation ablehnten, da schließlich auch ungeplante Kinder zu geliebten Kindern werden konnten.167 Sie bezogen die »Wunschkinderideologie« auf die Forderung der § 218 Kampagne von 1971 und die Übernahme deren feministischer Positionen durch die Familienplanungszentren. Auch Hans Harmsen, der sich 1968 noch damit gerühmt hatte, die Pro Familia auf die »Wunschkinderideologie« – damals noch aus eugenischen Gründen – eingestellt zu haben, gab die Einführung der Familienplanungszentren als Grund an, warum er 1984 jegliche Assoziationen mit der Organisation aufkündigte.168 Tatsächlich war Harmsens nationalsozialistische Vergangenheit zu einer Stolperfalle für ihn geworden. Die Hamburger Medizinsoziologin Heidrun KaupenHaas war in einer Recherche über Harmsens Doktorvater Alfred Grotjahn auf Harmsens Unterstützung der eugenischen Zwangssterilisationen in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus gestoßen und hatte ein Oral History Interview mit dem geschichtsbewussten 80-jährigen angefragt.169 In einer vor dem Interview verfassten Publikation beschrieb sie Harmsen als »Gegner der Geburtenselbstkontrolle« und als »Symbol für die Kontinuität des sozial-darwi­ 167 Vgl. Heinrichs, Jürgen, Freiheit und Verantwortung. Eine Erwiderung des Präsidenten der Pro Familia (Oktober 1980), in: BArch N 1336/756. 168 Vgl. Harmsen, Hans, Brief an Arnulf Baunach (12.09.1984), in: BArch N 1336/436. 169 Vgl. Kaupen-Haas, Heidrun, Brief an Hans Harmsen (09.04.1984), in: BArch N1336/436. Laut Roman Birke gehörte Kaupen-Haas einer »radikalen demographie- und kapitalismuskritischen« Forschungstradition an, die »ihre gegenwartspolitische Relevanz zu steigern versucht(e), indem sie eine Kontinuitätslinie zwischen nationalsozialistischer Bevölkerungspolitik« und bundesdeutschen Debatten zur Demographie und Datenerfassung zog, vgl. Birke, Roman, Geburtenkontrolle als Menschenrecht. Die Diskussion um globale Überbevölkerung seit den 1940er Jahren, Göttingen 2020, S. 12.

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nistischen Kosten-Nutzen-Denkens in allen Facetten […] und für eine Umsetzung nazistischer Politik außerhalb der typisch nationalsozialistischen Organisationen.«170 Zwar lässt sich die These von Kaupen-Haas, dass es Harmsen in seiner Arbeit nicht um eine Ausweitung des reproduktiven Selbstbestimmungsrechts der Frau ging, bestätigen. Auch stimmt es, dass Harmsen unkritisch Meinungen von nationalsozialistisch belasteten Korrespondenzpartnern, wie des Landauer Arztes Hermann Arnold, übernahm.171 Dennoch ist die Darstellung von Kaupen-Haas pauschalisierend, da sie Harmsens eugenisches Denken aus der Weimarer Zeit undifferenziert als nazistisch bezeichnete, ihn als alleinigen Gründer der Pro Familia vorstellte und die Gründung des Vereins als einzig dem Zwecke der Fortsetzung einer nationalsozialistischen Bevölkerungskontrolle dienend beschrieb. Diese Annahmen lassen sich nicht aufrechterhalten, da die weiblichen Aktivistinnen Anne-Marie Durand-Wever, Ilse Léderer, Ilse Brandt und Eva Hobbing die treibenden Kräfte hinter der Vereinsgründung waren.172 Dennoch zog die Publikation von Kaupen-Haas eine interne Untersuchung innerhalb der Pro Familia nach sich. Zwar bescheinigte diese, dass Harmsen nicht Mitglied der NSDAP und auch nicht direkt am Massenmord an den Juden beteiligt gewesen war, dennoch häuften sich die Stimmen innerhalb der Ortsverbände, die einen Ausschluss Harmsens aufgrund seiner Einstellungen zur Eugenik forderten.173 Um einem offiziellen Ausschlussverfahren zuvorzukommen, trat er selbst aus der Pro Familia aus und verkündete seinen Austritt im deutschen Ärzteblatt.174 Harmsens Rücktrittserklärung brachte andere männliche Ärzte innerhalb von Pro Familia dazu, sich in privaten Unterstützungsschreiben polemisch gegen den der Mehrheit der neuen Mitglieder*innen vertretenen Kurs zu äußern. 170 Vgl. Kaupen-Haas, Heidrun, Manuskript: Das Problem der strukturellen Kontinuität. Dargestellt unter besonderer Berücksichtigung der Biographie des Bevölkerungsplaners und Bevölkerungswissenschaftlers Hans Harmsen, in: BArch N 1336/436. 171 Arnold hatte im Nationalsozialismus Zwangssterilisationen durchgeführt und in den 1950er Jahren in Publikationen über Sinti und Roma nationalsozialistische Rassekategorien weiterverwendet. In den 1960er Jahren traten Harmsen und Arnold in der Presse als Gegner um die Frage nach Erbkrankheiten als mögliche Nebenwirkungen der Pille auf, 1976 forderte Arnold von Harmsen eine Studie zur »Auslese« und »Gegenauslese« aufgrund der Legalisierung der Abtreibung (da eher gebildete Frauen abtreiben und ungebildete Frauen das Kind behalten würden). Harmsen übernahm 1979 unkritisch diese Forderung in einem Brief an den Pro Familia Präsidenten Jürgen Heinrichs, in dem er gleichzeitig aber auch eine Untersuchung zu mutmaßlichen Zwangssterilisationen bei legalen Abtreibungen forderte. Siehe Arnold, Hermann, Brief an Hans Harmsen (12.12.1976), in: BArch N 1336/249; Harmsen, Hans, Brief an Jürgen Heinrichs (10.01.1979), in: BArch N 1336/249. 172 Vgl. Kapitel 3 dieser Arbeit. 173 Vgl. Simmel-Joachim, Monika, Brief an Pro Familia Mitglieder (16.05.1984), in: BArch N 1336/436; siehe auch Kapitel 1 dieser Arbeit. 174 Vgl. Harmsen, Hans, Brief an Arnulf Baunach (12.09.1984), in: BArch N 1336/436; Harmsen, Hans, Brief an die Redaktion des Deutschen Ärzteblattes (19.08.1984).

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So beschwerte sich zum Beispiel ein Arzt aus Landau, dass im dortigen Ortsverband Mitglieder*innen von Frauenrechtsorganisationen und der Partei »Die Grünen« eine weitreichende Liberalisierung der Abtreibung forderten, umso den »Selbstverwirklichungsanspruch« der Frau gegenüber dem »ungeborenen Leben« durchzusetzen und Pro Familia so zu einer Abtreibungsorganisation zu machen.175 Der frühere Vorsitzende des Medizinischen Komitees, Arnulf Baunach, schickte Harmsen einen Zeitungsausschnitt aus der amerikanischen »Medical Tribune«, der einen Zusammenhang zwischen Intelligenz und Kriminalität herstellte, an Hand dessen Baunach belegen wolle, dass die Eugeniker doch recht gehabt hätten. Er kommentierte sarkastisch, dass eugenische Maßnahmen nur als »obsolet« galten, weil nun aus politischen Gründen alle Menschen »gleich gut und gleich intelligent« seien.176 Dies zeigt, dass besonders männliche Ärzte weiterhin eugenisches Denken als valides Wissen behandelten. Sie sahen ihre Positionen einzig aufgrund der feministischen Mitglieder*innen innerhalb von Pro Familia als marginalisiert. In seiner Antwort an Baunach erklärte Harmsen, er sei aus der Pro Familia ausgetreten, da er selbst mit der Einrichtung der Familienplanungszentren nicht einverstanden sei, da »die eigentliche Aufgabe der Beratung über Empfängnisregelung zur Vermeidung unerwünschter Schwangerschaften« sowie »die Motivierung breiter Bevölkerungskreise zur verantwortungsbewussten Empfängnisregelung« aufgrund des Fokus auf die Abtreibung in den Hintergrund trat.177 Während Harmsen, anders als seine Korrespondenzpartner diplomatisch blieb und weder explizit die Frauenbewegung angriff noch sich zur Eugenik bekannte, zeigt seine Antwort dennoch, dass für ihn weiterhin die Gesellschaft und nicht das individuelle Recht auf Selbstverwirklichung die Bezugsgröße blieb. Jedoch vollzog Pro Familia durch den Rückzug Harmsens und den ihm Gleichgesinnten 1984 endgültig den Wandel von einem durch Ärzt*innen dominierten Lobbyverein zu einer von feministischen Sozialarbeiter*innen dominierten Serviceorganisation zur Umsetzung von reproduktiven Rechten.

Fazit Im Prozess der Reform der Abtreibungsgesetzgebung der 1960er und 1970er Jahre gab es in den USA und der Bundesrepublik parallele Entwicklungen, die zu liberaleren Zugängen zur legalen Abtreibung ab Mitte der 1970er Jahre führten. Während es in Deutschland schon in der Weimarer Republik eine starke Bewegung zur Reform des § 218 gegeben hatte, sprachen sich in den USA Expert*innen erst seit den 1950er Jahren öffentlich für eine Liberalisierung von Abtreibungsgesetzgebung aus. Auch in der Bundesrepublik waren es zunächst 175 Rothenberger, Karl-Heinz, Brief an Hans Harmsen (09.09.1984), in: BArch N 1336/436. 176 Baunach, Arnulf, Brief an Hans Harmsen (14.09.1984), in: BArch N 1336/436. 177 Harmsen, Hans, Brief an Arnulf Baunach (12.09.1984), in: BArch N 1336/436.

Fazit 

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Expert*innen, die sich für eine Erweiterung der Indikationenlösung aussprachen, bevor in beiden Ländern die Frauenbewegung ab 1968 für die Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs kämpfte. Erst als nach der Legalisierung durch Roe v. Wade in den USA und der Liberalisierung des § 218 in der Bundesrepublik absehbar wurde, dass Abtreibungsgegner*innen den Zugang zur legalen Abtreibung erschwerten, begannen beide Organisationen selbst eigene Familienplanungszentren einzurichten. Während für Planned Parenthood ursprünglich die Bekämpfung der illegalen Abtreibung durch Verhütungsmittel ein der Überbevölkerung untergeordnetes Ziel war, war die Reduzierung der illegalen Abtreibung ursprünglich das Hauptziel der Pro Familia. Als Hans Harmsen ab 1967 die Forderung nach einer Liberalisierung der Abtreibung innerhalb der Pro Familia durchzusetzen begann, standen für ihn bevölkerungspolitische Motive im Vordergrund, in dem er die Abtreibung »vom Kinde her« betrachtete und die Gefahr des ungewünschten Kindes für die Gesellschaft beschwor. Selbst sozialdemokratische Politikerinnen und die Frauenbewegung griffen die Wunschkindideologie in ihre Forderungen nach der Freigabe der Abtreibung auf. Mit der letztendlich verabschiedeten Indikationenlösung wurde weder das Selbstentscheidungsrecht der Frau noch das Recht von Kindern gestärkt, sondern die Rechte von Ärzt*innen und Berater*innen gesetzlich verankert. Pro Familia wurde mit der Teilnahme an dem Modellversuch zur Pflichtberatung ab 1974 zentrales Element der Reform des § 218. Die flankierenden Maßnahmen, wie Pro Familia sie abbot, die vordergründig den Bedarf an legalen Abtreibungen durch die Vorbeugung einer Schwangerschaft und finanzielle Hilfen zur Austragung einer Schwangerschaft senken sollten, unterwanderten letztendlich jedoch die gesetzliche Regelung, da die immer mehr feministisch beeinflusste Pro Familia die Konfliktberatung als Werkzeug der Selbstermächtigung der schwangeren Frauen einzusetzen begann. Im Gegensatz zu den USA , wo selbst Planned Parenthood 1970 zu einem Unternehmen mit begrenzter Haftung geworden war, waren sich in der Bundesrepublik alle Akteure einig, dass der Schwangerschaftsabbruch keiner Marktlogik unterliegen sollte. So diente laut dem Pro-Familia-Landesverband Bremen, der die erste freistehende Abtreibungsklinik in Deutschland betrieb, die Klinik dazu, die Abtreibung aus der »kleinunternehmerischen« Logik der unabhängigen Arztpraxis zu lösen und damit den Arzt / die Ärztin als Unternehmer*in zu entmachten. Im zweiten Familienplanungszentrum in Hamburg hingegen stand die Entstigmatisierung der Frau, die sich für eine Abtreibung entschied, im Vordergrund, da Abtreibung und Mutterschaft nicht mehr als Alternativen, sondern als komplementäre Möglichkeiten der eigenen Reproduktionsplanung gedacht wurden. Zwar unterwanderte Pro Familia mit diesem Ansatz die im internationalen Vergleich strikte Gesetzgebung des westdeutschen § 218 und übernahm das feministische Dogma, dass die Entscheidung für eine Abtreibung an sich keine Krise darstellen sollte. Dennoch mussten Frauen die Entscheidung unter Zeitdruck treffen und wurden oft stigmatisiert. Frauen trafen zwar seit

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Planned Parenthood, Pro Familia und die Abtreibungsreform

jeher selbstständig Entscheidungen eine Schwangerschaft abzubrechen, und dies wurde von weiten Teilen der Bevölkerung akzeptiert. Dennoch wurde diese Entscheidung durch die Gesetzgebung und eine erstarkende Anti-Abtreibungsbewegung im Laufe der 1980er Jahre weitestgehend als Zumutung gestaltet. Über diese Entwicklungen wird im folgenden Kapitel berichtet.

8. »Im Härtefall eine Waschmaschine.« Die Anti-Abtreibungsbewegung und die Schwangerschaftskonfliktberatung in den 1980er Jahren

»Ich fühle mich überfordert, ein Kind zur Welt zu bringen und es zu erziehen. Außerdem möchte ich nicht meine Ausbildung abbrechen. Ich wüsste auch nicht, wovon ich das Kind ernähren solle,« berichtete eine schwangere 20-Jährige den »Badener Neuesten Nachrichten« aus Karlsruhe im Juni 1983. Sie und ihr Freund seien beide mitten in der Ausbildung an einer privaten Berufsschule und müssten monatlich 390  DM Schulgeld zahlen. Nachdem die junge Frau bei der Konfliktberatung der Pro Familia gewesen war, sah sie »immer noch keinen Ausweg und blieb bei [ihrem] Entschluß« die Schwangerschaft abzubrechen. Die Beratungsstelle empfahl ihr, den Eingriff im städtischen Klinikum Karlsruhe durchführen zu lassen, doch die Klinik weigerte sich zunächst, ihr einen Termin zu geben. Anschließend behauptete die Klinik, die »Indikation sei unzureichend« und verlangte eine zweite Indikation von einer Ärztin, die dies »aus Gewissensgründen ablehnte.« Die Patientin erfuhr dann: »Im Städtischen [Klinikum – C. R.] wird der Abbruch nicht vorgenommen. Gott sei Dank habe ich nun die Zusage einer anderen Klinik in Hessen.«1 Der Bericht der jungen anonymen Frau zeigt, wie schwierig es für Frauen in Süddeutschland in den 1980er Jahren war, eine legale Abtreibung durchführen zu lassen. Die Auszubildende musste mit ihrem Arzt, der Pro-FamiliaBeratungsstelle, der städtischen Klinik, der zweiten Ärztin und der hessischen Klinik fünf Institutionen aufsuchen und letztendlich doch um die 100 km in ein anderes Bundesland fahren. Die finanziellen Sorgen, der drohende Verlust des Ausbildungsplatzes und die Sorge um die allgemeine Überforderung bei der Erziehung eines Kindes wurden von der Klinik nicht als Notlagen anerkannt, auch vertraute die Klinik dem Urteil der Pro-Familia-Beratung nicht. Weder die Klinik noch die zweite Ärztin nahmen den Entschluss der Patientin, die Indika­ tionsstellung und den Beratungsschein der Pro-Familia-Konfliktberatung ernst.

1 N. N., Ich fühle mich überfordert, in: Badische Neueste Nachrichten (29.06.1983), Zeitungsausschnitt in: Pro Familia Ortsverband Karlsruhe, Dokumentation  – Der § 218 StGB  – Durchführung und Handhabung in Baden-Württemberg, insbesondere im Raum Karlsruhe (1983), in: BArch N 1336/757, für das Zitat aus der Überschrift, siehe N. N., Im »Härtefall« eine Waschmaschine, Nachdruck aus der Stuttgarter Zeitung (29.07.1977), zitiert in: Pro Familia Informationen 5 (1977) H. 1, S. 11.

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Die Anti-Abtreibungsbewegung und die Schwangerschaftskonfliktberatung

Der Fall zeigt, dass Hindernisse und Maßnahmen auf kommunaler Ebene Frauen davon abhalten sollten, Schwangerschaften abzubrechen. Gegner der legalen Abtreibungen versuchten die Notlagenindikation so streng auszulegen, dass eine Notlage nicht mehr aus finanziellen Gründen, aufgrund eines drohenden Verlustes des Ausbildungsplatzes oder wegen mangelnder Kinderbetreuung gestattet werden konnte. Durch eine strikte Anwendung der bestehenden Gesetze sollte die Anzahl an Abtreibungen auf ein Minimum verringert werden. Jedoch zeigt der Fall auch, dass Frauen in den 1980er Jahren weiterhin in andere Bundesländer reisten, um eine Abtreibung durchführen zu lassen. Dieses Kapitel zeichnet die Rolle der transnationalen Anti-Abtreibungsbewegung in den Kontroversen um die Konfliktberatung nach dem Kompromiss des § 218 nach. Dazu werden zunächst erste Korrenspondenzen zwischen deutschen Abtreibungsgegnern und Pro Familia über die Frage sogenannter »Nidationshemmer« in den späten 1960er Jahren untersucht. Als zweiter Schritt werden die transnationalen Netzwerke der amerikanischen Anti-Abtreibungsbewegung analysiert, bevor drittens gezeigt wird, wie das Material aus den USA Argumente deutscher Abtreibungsgegner*innen speiste. Der vierte Teil schaut auf die unterschiedlichen Konzepte der Schwangerschaftskonfliktberatung zwischen Pro Familia und der Anti-Abtreibungsbewegung. Die Gegner der legalen Abtreibung setzten sich in den 1980er Jahren aus der katholischen Kirche, den Unionsparteien CDU und CSU, sowie der sogenannten »Lebensschutzbewegung« zusammen. Laut der Kulturanthropologin Michi Knecht, die eine ethnographische Studie zu »Lebensschützer*innen« in Deutschland verfasst hatte, waren die Mitglieder der Bewegung dem Alter und Geschlecht nach heterogen und eher gut gebildet.2 Sie vertraten eine strikt bipolare Weltsicht mit klar geordneten Geschlechternormen und rekrutierten sich aus kirchlichen Milieus, zunächst dem katholischen, seit den 1980er Jahren auch dem freichristlichen. Organisationsformen reichen von Graswurzelgruppierungen bis zu international vernetzten Organisationen, die Inspirationen und Informationsmaterial aus der amerikanischen Anti-Abtreibungsbewegung erhielten.3 Unter dem Sammelbegriff Anti-Abtreibungsbewegung werden hier alle Personen zusammengefasst, die sich öffentlich gegen den legalen Schwangerschaftsabbruch engagierten. Begriffe, wie »Lebensschützer« im Deutschen, »Pro-Life« und »Right to Life« im Amerikanischen sind politisch-moralisch aufgeladene Selbstbezeichnungen der Bewegung, die unterstreichen sollten, dass sich die Mitglieder für das Leben des Ungeborenen einsetzten und Abtreibung als Mord begriffen.4 Dass Abtreibung Mord sei, ist das zentrale Argument der 2 Vgl. Knecht, Michi, Zwischen Religion, Biologie und Politik. Eine kulturanthropologische Analyse der Lebensschutzbewegung, Münster 2006, S. 25. 3 Vgl. Ebd., S. 10–11. 4 Zum Begriff »Right to Life« siehe Williams, Daniel K., Defenders of the Unborn. The ProLife Movement before Roe v. Wade, Oxford 2016, S. 71.

Die Anti-Abtreibungsbewegung und die Schwangerschaftskonfliktberatung

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Anti-Abtreibungsbewegung. Laut der Ethnologin Knecht funktionierte die Annahme, dass mit der legalen Abtreibung bald auch Sterbehilfe und Infantizid, Euthanasie und Massenmord gesellschaftsfähig werden würden, als Dammbruchargument, welches Aktivist*innen zum Kampf gegen die legale Abtreibung animierte.5 Jedoch gehen sowohl die Sekundärliteratur als auch zeitgenössische Kommentare davon aus, dass für viele Mitglieder der Anti-Abtreibungsbewegung die Aufrechterhaltung traditioneller Geschlechternormen und die Eingrenzung weiblicher Sexualität im Vordergrund stand.6 Daher lautete ein weiteres Dammbruchargument, dass die Verfügbarkeit der Abtreibung zu einer Liberalisierung der Sexualität und somit zum Verfall der Kernfamilie führen würde. So zeigt etwa die Studie von Daniel K. Williams, dass sich in den USA die Gegnerschaft gegen die legale Abtreibung in den 1960er Jahren hauptsächlich aus Katholiken konstituierte, die Papst Pius XII . folgten, der 1951 das Lebensrecht des Fötus als Menschenrecht definiert hatte.7 Erst als der katholische Arzt Jack Wilke und seine Frau Barbara in ihrem 1971 erschienen »Handbook on Abortion« Bildmaterial abgetriebener und zerstückelter Föten einsetzten und die Ablehnung der Abtreibung mit einer Kritik an der Sexualaufklärung verknüpften, konnten sie auch evangelikale Christen für die Anti-Abtreibungsbewegung gewinnen.8 Evangelikale Christen, die die Bibel wörtlich auslegen, hatten sich seit ihrer Abspaltung von den mainline-protestantischen Kirchen, die eine moderne Bibelexegese betrieben, zunächst aus der amerikanischen Öffentlichkeit zurückgezogen. Erst mit dem Versuch ein Equal Rights Amendment (ERA) zur rechtlichen Gleichstellung der Frau in der Verfassung zu verabschieden, der Durchsetzung von Gleichberechtigung für Homosexuelle und der Legalisierung der Abtreibung mit Roe v. Wade sahen sie ihre moralischen Wertvorstellungen in Gefahr und begannen politisch aktiv zu werden.9 Nicht nur die Sorgen um den Verfall der eigenen Wertegemeinschaft, sondern auch technologische Innovationen, wie der Ultraschall und Fotographien von Föten, spielten eine wichtige Rolle in der Mobilisierung der Abtreibungsgegner*innen. Der schwedische Wissenschaftsfotograf Lennart Nilsson hatte 1965 zunächst für eine Cover-Story des amerikanischen »Life Magazine«, später für das Buch »A Child is Born« in Schweden legal abgetriebene Föten so in 5 Vgl. Knecht, Religon, Biologie und Politik, S. 27. 6 Siehe Ebd., S. 107; Solinger, Rickie, Pregnancy and Power, A Short History of Reproductive Politics in America, New York 2005, S. 210; Marx Ferree, Myra u. a., Shaping Abortion Discourse. Democracy and the Public Sphere in Germany and the United States, Cambridge 2002, S. 165; siehe auch Heinrichs, Jürgen, Ideologien in der Familienplanung. Versuch der Klärung einer Definitionsverwirrung, in: Pro Familia Magazin 18 (1990) H. 6, S. 1–2. 7 Vgl. Williams, Defenders, S. 37. 8 Vgl. Ebd., S. 144; zu Jack und Barbara Wilkes »Handbook on Abortion« siehe auch Schoen, Johanna, Abortion after Roe, Chapel Hill 2015. 9 Vgl. Hale, Grace Elizabeth, A Nation of Outsiders. How the White Middle Class Fell in Love with Rebellion in Postwar America, Oxford 2011, S. 278.

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Szene gesetzt, dass sie aussahen, als würden sie im Mutterleib schweben und am Daumen nuckeln.10 So bekam die Öffentlichkeit erstmals einen auf Fotografie basierten Eindruck davon, wie ein Fötus im Mutterleib aussah. Auch der Ultraschall, welcher ab den 1970er Jahren in Deutschland und den USA angewendet wurde, ließ erstmals visuelle Einblicke in den Mutterleib zu, wobei die Qualität der Bilder zunächst so undeutlich war, dass sie von einer Expertin / einem Experten interpretiert werden mussten. Doch nutzte schon der Erfinder des Ultraschalls, der schottische Gynäkologe Ian Donald, strategisch Ultraschallbilder zur Bekämpfung der legalen Abtreibung.11 Die Historikerin Barbara Duden argumentierte daher als feministische Kritikerin dieser Technologie, durch den Ultraschall habe die Frau die Autorität über die Existenz einer Schwangerschaft verloren.12 In der Vormoderne hatte eine Schwangerschaft erst Bestand, wenn eine Frau die Kindsbewegungen wahrnahm (meist im vierten Schwangerschaftsmonat). Daher galt bis ins 19. Jahrhundert die Abtreibung bis zur ersten spürbaren Kindsbewegung als nicht strafbar und selbst die katholische Kirche sprach erst ab diesem Moment von der Beseelung des Embryos.13 Janelle Taylors kulturanthropologische Untersuchung zum »Public Fetus« hingegen zeigt, dass durch den Ultraschall auch eine neue visuelle Form der Bindung zwischen der Mutter und dem Ungeborenen noch vor der ersten spürbaren Kindsbewegung entstand.14 Der Kunsthistoriker Daniel Hornuff hebt hervor, dass die Darstellung des Körpers des Fötus als menschlicher Körper, der am Daumen nuckelt und mit den Beinchen tritt, zur Emotionalisierung der Debatte um Abtreibung beigetragen habe.15 Der Ultraschall und die »In-Utero«Fotographie ermöglichten es, den Fötus allein ohne die schwangere Frau bildlich 10 Zu Nilsson siehe Jülich, Solveig, Picturing Abortion Opposition in Sweden. Lennart Nilsson’s Early Photographs of Embryos and Fetuses, in: Social History of Medicine 31 (2017) H. 2, S. 278–307, hier S. 303; Feyerabend, Erika, Verdächtige Frauenkörper – biomächtige Leitbilder, in: Lenz, Ilse u. a. (Hg.), Reflexive Körper. Zur Modernisierung von Sexualität und Reproduktion, Wiesbaden 2004, S. 179–202, hier S. 183; zum Gebrauch von Nilssons Bildern in den USA , siehe auch Williams, Defenders, S. 69; Taylor, Janelle S., The Public Life of the Fetal Sonogram. Technology Consumption and the Politics of Reproduction, New Brunswick 2008, S. 44; Frank, Gillian, The Colour of the Unborn. Anti-Abortion and Anti-Bussing Politics in Michigan, United States, 1967–1973, in: Gender & History 26 (2014) H. 2, S. 351–378, hier S. 365. 11 Vgl. Nicholson, Malcom / Fleming, John E. E., Imaging and Imagining the Fetus. The Development of Obstetric Ultrasound, Baltimore 2013, S. 244. 12 Duden, Barbara, Der Frauenleib als öffentlicher Ort. Vom Missbrauch des Begriffs Leben, München 1991, S. 88; siehe hierzu auch Taylor, Public, S. 27. 13 Vgl. Duden, Barbara, Zwischen »wahren Wissen« und Prophetie. Konzeption des Ungeborenen, in: dies. u. a. (Hg.), Geschichte des Ungeborenen. Zur Erfahrungs- und Wissenschaftsgeschichte der Schwangerschaft, Göttingen 2002, S. 11–48, hier S. 32. 14 Taylor, Public, S. 77. 15 Vgl. Hornuff, Daniel, Die mediale Formung ambivalenter Erfüllungen. Ungeborene zwischen verwirklichten Wünschen und eingelösten Normen, in: Heimgartner, Stefanie / ​ Sauer-Kretschmer, Simone (Hg.), Erfüllte Körper. Inszenierungen von Schwangerschaft, Paderborn 2017, S. 181–194, hier S. 181.

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darzustellen. So argumentiert die Historikerin Rickie Solinger, dass visuelle Darstellungen entweder nur die schwangere Frau oder nur den Fötus zeigten, und somit die Vorstellung verbreiteten, dass beide voneinander unabhängige Personen seien. Dabei stellt die Schwangerschaft eine symbiotische Beziehung dar, die keine eindeutige Trennung zwischen beiden zulässt.16 Die Forschung zur US -amerikanischen Abtreibungsdebatte geht daher davon aus, dass sich erst mit den öffentlichen Protesten der Anti-Abtreibungsbewegung und der Ultraschall das Konzept der »Fetal Personhood« – dem Verständnis vom Fötus als eigenständige Person – durchgesetzt habe.17 Vorherige Debatten hatten, so wie das Gerichtsurteil zu Roe v. Wade 1973, ausschließlich das Selbstentscheidungsrecht der Frau über ihren Körper und das Recht des Arztes / der Ärztin, eine Behandlungsmöglichkeit für die Patientinnen zu wählen, verhandelt. Die amerikanische Anti-Abtreibungsbewegung konstituierte sich zunächst als Graswurzelbewegung in katholischen Gemeinden in Kalifornien, die die gestiegene Anzahl an Abtreibungen mit medizinischer Indikation aufgrund der Rötelepidemie von 1965 kritisierte.18 1968 gründete sich mit dem National Right to Life Committee der erste nationale Verband von Abtreibungsgeg­ner*innen. Bei Protesten gegen ein Referendum zur Legalisierung der Abtreibung im Bundesstaat Michigan 1972 wurden erstmals in Fernsehwerbespots Bilder von abgetriebenen Föten eingesetzt.19 Durch die Kooperation zwischen Katholiken und Evangelikalen in der Anti-Abtreibungsbewegung war die Mehrheit der Aktivist*innen weiß und stammten aus der unteren Mittelschicht. Abtreibungsgegner*innen sprachen bewusst von Babys und »children«, wenn sie Föten meinten und bezeichneten schwangere Frauen als »mothers«, um zu unterstreichen, dass das Leben mit dem Moment der Zeugung beginne.20 Als Gegenreaktion begannen Pro-Choice-Aktivist*innen nun genau diese Begriffe zu vermeiden, und bedienten sich einer neutralen Sprache, in dem sie etwa das Ungeborene als »fetus« oder »blob of cells« bezeichneten. Dies zeigt, dass neben der bildlichen Umdeutung der Schwangerschaft auch eine sprachliche Polarisierung stattfand. Ähnlich wie die Figur des Wunschkindes in den westdeutschen Debatten führte die Personifizierung des Fötus in der amerikanischen Öffentlichkeit zu einer Emotionalisierung der Debatte. Beide Figuren spielten auf die Unschuld des Kindes an und rückten es ins Zentrum der Debatte. In beiden Fällen blieb das Kind jedoch abstrakt, da tatsächliche Kinder und deren Lebensumstände kaum vorkamen. Während beide Figuren eine ähnliche emotionale Wirkung entfalten sollten, waren sie Mittel zu unterschiedlichen Zwecken. Die Figur des 16 Vgl. Solinger, Pregnancy, S. 233. 17 Vgl. Ebd. und Taylor, Public, S. 49–50. 18 Vgl. Reagan, Leslie, Dangerous Pregnancies. Mothers, Disabilities and Abortion in America, Berkeley 2010, S. 159; siehe auch Williams, Defenders, S. 93. 19 Vgl. Frank, Anti-Abortion, S. 363. 20 Vgl. Ebd., S. 353.

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Wunschkindes wurde abgerufen, um ungewollten Kindern Leid und der Gesellschaft Kosten zu ersparen. Dagegen symbolisierte der Fötus ein absolutes Lebensrecht, das höchste Priorität hatte. Gegner*innen der legalen Abtreibung widerlegten so das Wunschkindmotiv, etwa indem sie feststellten, dass ungeplante Kinder auch zu geliebten Kindern werden konnten, und Statistiken verbreiteten, nach denen 90 Prozent der Kinder, die geschlagen wurden, geplante Kinder seien.21 Es gibt nirgendwo einen Hinweis darauf, ob es tatsächlich eine empirische Untersuchung zur Korrelation zwischen geplanter Schwangerschaft und Gewalt gegen Kindern gab. Auch existierte Gewalt gegen Kinder lange bevor es die technischen Möglichkeiten der Familienplanung gab und kein Befürworter der legalen Abtreibung präsentierte diese als Prävention gegen häusliche Gewalt. Dennoch unterliegt der Zahl das Narrativ, dass Familien die ihre Kinder bewusst planten, und damit einem modernen und säkularen Wertekanon folgten, eher ihre Kinder schlagen würden. Dies insinuierte, dass Paaren, die moderne Familienplanung praktizierten, ein traditionelles Wertegerüst fehlte und sie deshalb zu mehr Grausamkeit gegenüber Kindern neigen würden.

Die Anfänge der Anti-Abtreibungsbewegung in Deutschland Anders als in den USA hatten konservative Kräfte in Deutschland schon in der Weimarer Republik das Ungeborene ins Zentrum der Kontroversen um den § 218 gerückt. Bereits in den Debatten der 1920er Jahre wurde die Abtreibung als »Kindsmord« bezeichnet.22 Ein Flugblatt, welches der Gynäkologe und ProFamilia-Aktivist Heinrich Gesenius seit 1957 an Frauen in seiner Praxis verteilte, die über eine (illegale)  Abtreibung nachdachten, setzte auf Emotionen und die Annahme, dass das Leben mit der Zeugung beginne.23 Das Flugblatt zeichnete unter dem Titel »Tagebuch der Kleinen« aus der Sicht des Fötus die Schritte der Embryonalentwicklung im Stile von Tagebucheinträgen nach. So zeugten die Eltern den Embryo am 1. Mai »aus Liebe zueinander«, am 20. Mai bekam der Embryo erste Adern, am 3. Juni (also 34 Tage nach der Zeugung) begann das Herz zu schlagen, weitere Entwicklungsschritte waren das Entstehen der Gliedmaßen, des Mundes und der Augen, des Temperaturempfindens, des Geschlechts, der Finger und Haare. Diese Einträge beruhten nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen der Embryonalentwicklung, da zum Beispiel in dem Tagebuch das Geschlecht erst ab der zehnten Schwangerschaftswoche und nicht 21 Zur Dekonstruktion des Wunschkindarguments durch die katholische Anti-Abtreibungsbewegung siehe Williams, Defenders, S. 113. 22 Vgl. N. N., Volksgesundheit und das Sterben unseres Volkes, in: Mitteilungen der Arbeitsgemeinschaft für Volksgesundung e. V. 19 (10.07.1928), S. 6, in: BArch N 1336/43. 23 Das Flugblatt wurde im Rahmen der Aufklärungsserie der Illustrierten »stern« von 1961 abgedruckt, siehe Holstenburg, Dr. Werner, Das ungewollte Kind, in: stern 14 (21.05.1961) H. 21, S. 42–53, hier S. 52–53.

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ab dem Moment der Zeugung feststand. Die schwangere Frau, welche in dem Text konstant als Mutter bezeichnet wurde, findet erst zum Ende der siebten Woche heraus, dass sie schwanger ist, und der Embryo zeigt Unverständnis darüber, »warum sie sich so Sorgen macht?«24 Die vorletzten beiden Einträge befassen sich mit der Vorfreude des Embryos auf die Welt zu kommen und dem Gefühl der Geborgenheit, die er im Mutterleib empfindet, der letzte Eintrag lautet jedoch: »24. Juli: Heute hat meine Mutter mich umgebracht … .«25 Damit bricht das Narrativ des glücklichen, geborgenen Embryos abrupt ab und illustriert, dass eine Abtreibung den Abbruch eines sich in der Entwicklung befindenden Lebens darstelle und so auch Hoffnungen, Vorfreude und mütterliche Geborgenheit zerstöre. Laut der Soziologin Daphne Hahn hatte das Flugblatt vor allem die Funktion, Frauen zwischen 20 und 30 an ihre Sorgfaltspflichten als Mütter zu erinnern.26 Die Illustrierte »stern«, die das Flugblatt 1961 abdruckte, behauptete, dass Gesenius mit dieser Erzählung 28 Prozent der abtreibungswilligen Frauen umstimmen könne, eine Prozentzahl, die wahrscheinlich basierend auf Vorannahmen des Arztes geschätzt wurde.27 Das Flugblatt nutzte so die Personifizierung des Embryos, um ihn ab dem Moment der Zeugung als menschliches Wesen mit der Sprachfähigkeit eines Erwachsenen, Gefühlen, Hoffnungen und Sehnsüchten zu beschreiben. Damit emotionalisierte es die Entscheidung über eine Abtreibung und ignorierte äußere Umstände, die aus Sicht der Frau gegen den Erhalt einer Schwangerschaft sprachen. Heinrich Gesenius, der Autor des Flugblatts, war Professor für Gynäkologie an der Universität Göttingen und bis 1968 Mitglied im Vorstand der Pro Familia. Dies zeigt, dass Pro Familia in den 1950er und 1960er Jahren eine Anlaufstelle für Ärzt*innen war, die die Abtreibung aus moralischen Gründen ablehnten. Eines der erklärten Vereinsziele war es schließlich, die illegale Abtreibung durch Verhütungsmittel zu bekämpfen. Erst Mitte der 1960er Jahre formierte sich in der Bundesrepublik eine organisierte »Lebensschutzbewegung«, da den Aktivist*innen laut Michi Knecht aufgrund der allgemeinen Fürsprache zur Verfügbarkeit der Anti-Baby-Pille bewusst wurde, dass die Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr ihre moralischen Ansichten zur Sexualität und Verhütung teilte.28 Nachdem 1969 die erste Fassung der von Hans Harmsen verfassten DAK Broschüre »Zur Praxis der Familienplanung« erschienen war, begannen selbsternannte »Lebensschützer*innen« Beschwerdebriefe an Pro Familia zu schreiben.29 Sie nahmen Anstoß daran, dass 24 Gesenius, Heinrich, Tagebuch der Kleinen, in: stern 14 (21.05.1961) H. 21, S. 52–53, hier S. 52. 25 Ebd. 26 Vgl. Hahn, Daphne, Modernisierung und Biopolitik. Sterilisation und Schwangerschaftsabbruch in Deutschland nach 1945, Frankfurt 2000, S. 75. 27 Vgl. Holstenburg, Das ungewollte Kind, S. 52. 28 Vgl. Knecht, Religion, Biologie und Politik, S. 158–159. 29 Vgl. Harmsen, Hans, Zur Praxis der Familienplanung, in: BArch N 1336/266.

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die Broschüre angebliche Nidationshemmer bewarb, also Verhütungsmittel, die nicht die Befruchtung, sondern die Einnistung der befruchteten Eizelle verhindern sollten. So beschwerte sich der Studienrat Helmut S. aus Illertissen, dass die besagte Broschüre die Spirale erwähnte, die unter Abtreibungsgegner*innen als Nidationshemmer galt.30 Wenn nun Frauen von der Pille zur Spirale wechselten, würde es zwei Millionen mehr Abtreibungen in Deutschland geben, behauptete S., da schließlich »die Persönlichkeit« schon lange vor der Einnistung der befruchteten Eizelle feststehe. Die Kölner Pro-Familia-Ärztin Lilli-Lore SchmidtSchiek antwortete dem Studienrat, dass Pro Familia sich gegen die Abtreibung einsetze und die Spirale letztendlich dazu diene, Abtreibungen unter Frauen zu verhindern, die zu einem Personenkreis zählten, »der für die Empfängnisregelung nicht reif genug ist.«31 Dieses sehr paternalistische Argument überzeugte Helmut S. und er spendete Pro Familia 1000 DM . Ein Jahr später forderte er jedoch, Pro Familia solle als Verein Stellung gegen eine Reform des § 218 beziehen, da bei einer Freigabe die Anzahl an Abtreibungen nur steigen würde.32 1976 war Helmut S. Geschäftsführer des Vereins »Schützt ab Befruchtung – Gesellschaft gegen Nidationshemmung e. V.«, geworden. In dieser Position schickte er einen Beschwerdebrief an den Vorstand der DAK , in dem er forderte, in der Broschüre anzugeben, dass Nutzerinnen der Spirale ihre Kinderzahl durch die »Tötung ungeborenen Lebens« regeln würden, ohne es zu wissen.33 Er selbst beanspruchte für sich das Recht auf »exakte und umfassende« Informationen in einer Sprache, die 97 Prozent der Bevölkerung verstehen würden. Diese gingen laut Helmut S. davon aus, dass eine Schwangerschaft mit der Verschmelzung von Ei und Samenzelle beginne.34 Auch Dieter K. aus Neuss schrieb in einem Protestbrief, dass er als DAK Mitglied und Staatsbürger ein »Recht auf korrekte Information« habe.35 Er behauptete, sowohl die Pille und als auch die niedriger dosierte Minipille seien Nidationshemmer und »töte[n] somit ungeborene Menschen im ersten Lebensstadium,« weshalb sie »unter ethischen und biologischen Aspekten« als Mittel der Frühabtreibung betrachtet werden müssten.36 Die Ähnlichkeit der Briefe in ihrer Sprache und ihren Argumenten zeigt, dass sich die Abtreibungsgegner*innen Mitte der 1970er Jahre bundesweit vernetzt hatten. Die Forderungen nach einem Recht auf Informationen über Verhütungsmittel imitierten den Ruf der Frauenbewegung auf genau dieses Recht, jedoch nicht um das weibliche Selbstbestimmungsrecht auszudehnen, sondern um Frauen durch Informationen abzuschrecken. Dies rekurrierte auch auf das häufig wiederkehrende Motiv der Anti-Abtreibungsbewegung, dass sich 30 S., Helmut, Brief an Pro Familia (27.11.1969), in: BArch N 1336/271. 31 Schmidt-Schiek, Lilli-Lore, Brief an Helmut S. (30.12.1969), in: BArch N 1336/271. 32 S., Helmut, Brief an Hans Harmsen (29.06.1970), in: BArch N 1336/410. 33 S., Helmut, Brief an den DAK Vorstand (30.10.1976), in: BArch N 1336/709. 34 Ebd. 35 K., Dieter, Brief an den DAK Vorstand (19.03.1976), in: BArch N 1336/709. 36 Ebd.

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Frauen nur für eine Abtreibung entscheiden würden, weil ihnen nicht bewusst war, dass es sich dabei um das Töten von Ungeborenen handle. Indem man den Frauen Unwissenheit nachsagte, wurden ihre Entscheidungen im Nachhinein delegitimiert. Hans Harmsen schrieb in einer Rechtfertigung an den DAK Vorstand aufgrund immer wiederkehrenden Briefe der »Gesellschaft gegen Nidationshemmung«, dass er in seiner Broschüre sehr wohl zwischen Empfängnisverhütung und Nidationsverhütung unterscheide, und dass beides keine Abtreibung darstelle.37 So fielen laut einem Gutachten der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie Mittel zur Verhinderung der Einnistung einer befruchteten Eizelle nicht unter das Abtreibungsverbot nach § 218.38 Die medizinische Begründung, die dem Gutachten zu Grunde lag, war, dass bis zum 13. Tag nach der Befruchtung, also bis zur Einnistung der Eizelle, noch die Entstehung von eineiigen Zwillingen möglich sei und man daher erst ab der Einnistung von der Individualität einer Person sprechen könne.39 Die Proteste um die Nidationshemmer zeigen, dass die Frage, wann das menschliche Leben beginnt, zentral war für die AntiAbtreibungsbewegung und die westdeutsche Gesetzgebung. Die Wahl für den Moment der Einnistung unterstreicht, dass hier der Wert der Individualisierung handlungsleitend war.

Einflüsse der amerikanischen Anti-Abtreibungsbewegung auf die Bundesrepublik In den Folgejahren trudelten immer wieder Beschwerden der »Lebensschutzbewegung« über die Neuauflagen der DAK-Broschüre bei Pro Familia ein. 1985 schrieb Yvonne F., sie sei durch den Film »The Silent Scream« sehr emotional bewegt und forderte daher, dass die Broschüre auch Hinweise auf die Gefühle eines Embryos bei einer Abtreibung mitaufnehmen solle.40 Der Bezug zu dem Film »The Silent Scream«, der 1984 von dem amerikanischen Gynäkologen Bernard Nathanson produziert wurde, zeigt, wie sehr die deutschen »Lebensschützer*innen« von Diskursen auf der anderen Seite des Atlantiks beeinflusst waren.41 In einer Reportage über die Anti-Abtreibungsbewegung veröffentlichte das »Pro Familia Magazin« 1986 eine Materialliste der »Aktion Lebensrecht für Alle Augsburg e. V.«, deren Logo einen am Daumen 37 Harmsen, Hans, Brief an den DAK Vorstand (06.04.1978), in: BArch N 1336/568. 38 N. N., Verlautbarung der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie über den Beginn individuellen Menschenlebens (undatiert, ca. 1970), in: BArch N 1336/410. 39 Ebd.; siehe hierzu auch Harmsen, Hans, Brief an Fritz Zimmer (26.02.1968), in: BArch N 1336/280. 40 F., Yvonne, Brief an Hans Harmsen (27.06.1985), in: BArch N 1336/568. 41 Siehe Nathanson, Bernard, The Silent Scream, https://www.youtube.com/watch?v=gON 8PP6zgQ&t=711s, letzter Zugriff: 03.11.2017.

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nuckelnden Fötus in einer Fruchtblase zeigt.42 Unter den zu bestellenden Materialien befand sich eine Broschüre mit dem Titel »Tagebuch eines Ungeborenen«, welche die deutsche Übersetzung eines erstmals 1973 erschienenen Flugblatts mit dem Titel »Diary of an Unborn Child« war.43 Da das Narrativ dem 1957 erschienenen »Tagebuch der Kleinen« glich und erstmals von deutschstämmigen Katholiken und Lutheranern in Missouri herausgegeben wurde, ist davon auszugehen, dass die Autoren das deutsche Flugblatt kannten.44 Dies zeigt, dass Narrative und Konzepte nicht nur einseitig von den USA nach Deutschland, sondern in beide Richtungen ausgetauscht wurden. Über die Augsburger Initiative gab es auch eine Plakette mit dem Slogan »Give Life A Chance« zu beziehen, eine Abwandlung des John Lennon Songs »Give Peace  a Chance«, welche Abtreibungsgegner*innen 1979 bei einer Blockade einer Abtreibungsklinik in Fort Wayne (Indiana)  gesungen hatten.45 Das Poster »Kinder in den Mülleimer« zeigte Fotos von unsachgemäß entsorgten Föten nach einer illegalen Abtreibung in Kanada, wo die Abtreibung vor 1988 nur bei medizinischer Indikation und Vorsprache vor einem Ärztekomitee erlaubt war. Es handelte, so wie die Broschüren »Wußten Sie schon« und »Leben oder Tod«, um direkte Übersetzungen amerikanischer Broschüren mit den Titeln »Human Garbage«, »Did you know« und »Life or Death.«46 Alle Broschüren wurden von der Right to Life Ortsgruppe in Cincinnati (Ohio) produziert. Sie nutzten Bilder, die die aus Cincinnati stammenden AntiAbtreibungsaktivisten Jack und Barbara Wilke, für ihr »Handbook on Abortion« (1971) gesammelt hatten.47 Die englische Originalfassung von »Life or Death« enthielt den Hinweis, dass die Broschüren neben Englisch auch auf Spanisch, Französisch, Italienisch, Deutsch, Chinesisch, Malaysisch, Schwedisch, Portugiesisch, Serbo-Kroatisch, Niederländisch, Japanisch, Ungarisch, Norwegisch, Polnisch und Türkisch bestellt werden konnte. Dies zeigt, dass die Anti-Abtrei42 Die Materialliste wurde abgedruckt als Illustration des Artikels; vgl. Sadrozinski, Renate, Moralische Metamorphosen, in: Pro Familia Magazin 14 (1986) H. 1, S. 8–10, hier S. 9. 43 N. N., Diary of an Unborn Child (1973), in: Records of the BWHBC , Box 97.11. 44 Tatsächlich habe ich die deutsche Fassung des »Tagebuch der Kleinen« zuerst im Archiv der Sophia Smith Library in Northampton Massachusetts gefunden, da es Anne-Marie Durand-Wever 1961 mit anderen Materialien an Margaret Sanger geschickt hatte. Dass es über Sanger an die katholischen Männervereine gelangt ist, ist jedoch unwahrscheinlich. Zu den Lutheranern in Missouri, die als einzige Protestanten schon in den 1960er Jahren auf Seiten der Katholiken gegen die Abtreibung protestierten, siehe auch Williams, Defenders, S. 93. 45 D., Leslie, Transcript on an Audiotape of [Joseph] Scheidler et al picketing Fort Wayne Women’s Health Organization (11.08.1979), in: Records of the NOW, Box 68.38. 46 Vgl. N. N., Life or Death (1981), in: Records of the NOW, Box 79.29; N. N., Did you know (ohne Datum), in: Records of the NOW, Box 79.29. 47 Wilke bestätigte die Echtheit der Bilder in einem Brief an NARAL , laut der Historikerin Johanna Schoen hatten er und seine Frau diese in pathologischen Laboren in den USA und Kanada gesammelt. Vgl. Wilke, John C., Brief an NARAL (undatiert), in: NARAL Additional Records, Box 49.6; siehe auch Schoen, Abortion, S. 73.

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bungsbewegung eine global agierende Bewegung geworden war, die selbst den Eisernen Vorhang überwinden wollte. Auch zeigt die Art der Protestformen, Sit-Ins und Bezüge zu Popsongs, dass die Anti-Abtreibungsbewegung Methoden der neuen sozialen Bewegungen übernommen hatte.48 Die Broschüre »Life or Death« stellte Bilder abgetriebener Föten und Bilder frühgeborener Säuglinge nebeneinander, die anderen beiden Broschüren nutzten die gleichen Bilder mit gekürztem Text.49 Laut Michi Knecht setzten die Abtreibungsgegner*innen die ästhetisch geschmacklosen Bilder zerstückelter Föten ein, um die Grausamkeiten der Prozedur zu illustrieren und schwangere Frauen und Passant*innen zum Aktivismus zu motivieren.50 Diese Abbildun­ gen stellten sie neben Fotos, die in weichem Licht ausgeleuchtet waren und angeblich den glücklichen Fötus im Mutterleib zeigten (aber tatsächlich von Wissenschaftsfotograf*innen in Szene gesetzte abgetriebene Föten waren) und Fotos glücklicher geborener Kinder, um visuell zu unterstreichen, dass das Leben schon vor der Geburt beginne. Die Gegenüberstellung von frühgeborenen Säuglingen und abgetriebenen Föten diente dazu, die Legitimierung der Abtreibung bis zur Lebensfähigkeit zu negieren. So behauptete die Broschüre »Life or Death«, dass im Gegensatz zu der Grenze der Lebensfähigkeit, die der Supreme Court 1973 bei der 28. Schwangerschaftswoche festgelegt hatte, Föten außerhalb des Mutterleibs schon ab der 17. Schwangerschaftswoche, teilweise schon ab der zehnten bis zwölften Woche überleben könnten.51 Auch behauptete die Broschüre, dass ein Fötus in der elften Schwangerschaftswoche in der Lage sei zu schmecken, Schmerz zu empfinden, Instrumente zu greifen und eigenständig zu atmen, »[it] needs only food and time to grow into an adult human being.«52 Abgesehen von der Tatsache, dass selbst nach 40 Schwangerschaftswochen geborene Babys weitaus mehr als nur Nahrung und Zeit brauchen, um zu einem erwachsenen Menschen heranzuwachsen, diente die Aussage dazu, zu illustrieren, dass der Embryo seit der Zeugung ein fertiger Mensch sei. Weiterhin behauptete die Broschüre fälschlicherweise, dass Roe v. Wade die Abtreibung bis zur Durchtrennung der Nabelschnur erlaube, also bis nach der Geburt.53 Sie zitierte Barbara und Jack Wilkes »Handbook on Abortion«, dass es nach der Legalisierung der Abtreibung einen Anstieg an illegalen Abtreibungen geben würde, eine Annahme, die nach der Freigabe im Bundesstaat 48 Vgl. Knecht, Religion, Biologie und Politik, S. 131. Zu Details, wie die Anti-Abtreibungsbewegung in den USA Protestformen der neuen sozialen Bewegungen lernte, siehe auch Haugeberg, Karissa, Women against Abortion. Inside the Largest Moral Reform Movement of the Twentieth Century, Urbana 2017, S. 57–61. 49 N. N., Life or Death (1981), in: Records of the NOW, Box 79.29. 50 Knecht, Religion, Biologie und Politik, S. 131. 51 Mit modernster Neonataltechnologie können frühgeborene Babys heute ab der 23. Woche überleben, N. N., Life or Death (1981), in: Records of the NOW, Box 79.29, S. 4. 52 Ebd. 53 Vgl.Wilke, Barbara / Wilke, John C., Handbook on Abortion, Cincinnati 1971, siehe hierzu auch Schoen, Abortion, S. 72–73.

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New York widerlegt wurde.54 Auch aus Wilkes Buch wurde der Vergleich von Roe v. Wade mit den Supreme Court Urteil Dredd Scott (1848) zitiert, in dem der oberste Amerikanische Gerichtshof die Sklaverei als verfassungskonform erklärt hatte.55 Zum einen wurde so die Abtreibung mit der Sklaverei verglichen, zum anderen besagte der Vergleich, dass auch der Supreme Court irren konnte und Urteile rückgängig gemacht werden konnten. Aus Wilkes Buch stammte auch der Vergleich zwischen der Abtreibung und den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen. So hieß es, genauso wie die NS -Kriegsverbrecher sich innerhalb des nationalsozialistischen Rechtes in Sicherheit gewogen hätten und ihnen trotzdem der Prozess gemacht wurde, würden Ärzt*innen, die Abtreibungen durchführen, sich innerhalb des rechtlichen Rahmens bewegen und dennoch »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« begehen.56 Daher forderten Abtreibungsgegner*innen immer wieder, Ärzt*innen müssten nach dem Vorbild der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse verurteilt werden. Laut der Broschüre habe die Wissenschaft bewiesen, dass das Leben mit der Zeugung beginne, da der Embryo ab diesem Moment 46 eigene Chromosomen besitze.57 Daher könne man die Forderung der Frauenbewegung nach dem Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper ignorieren, da es sich bei dem Embryo um einen eigenständigen Menschen und keinen Teil des Frauenkörpers handle. Auch gäbe es keine nachweisbaren Fälle von Schwangerschaften nach Vergewaltigungen (im Umkehrschluss könne man einer Frau vorwerfen, es habe sich um einvernehmlichen Geschlechtsverkehr gehandelt, wenn eine Schwangerschaft entstand) und kaum Fälle von Selbstmorden von Schwangeren. Daher sei es nicht nötig, so die innere Logik der Anti-Abtreibungsbewegung, eine kriminologische und medizinisch-psychologische Indikation als Ausnahme für ein Abtreibungsverbot einzuführen. Ferner sei, anders als es seriöse medizinische Studie nahelegen, in jedem Fall das Austragen einer Schwangerschaft sicherer als eine Abtreibung, da Komplikationen bei Abtreibungen nicht ausreichend an die Behörden gemeldet und Gefahren verschwiegen würden. Dass die legale Abtreibung zur Verhinderung der Überbevölkerung beitrage, widerlegte die Broschüre, in dem sie anführte, dass die Geburtenraten in den USA unter dem »replacement level« läge. Dass eine Kriminalisierung der Abtreibung eher arme als reiche Frauen treffen würde, weil letztere sich eine sichere Abtreibung im Ausland oder von Ärzt*innen leisten könnten, wurde mit dem Argument entkräftet, man müsse dann eben die Einhaltung des Verbots unter Frauen der Mittelschicht stärker durchsetzen. Auf diese Weise wurden Gegenargumente zu allen Argumenten für eine legale Abtreibung geliefert, von dem Selbstentschei54 Auch der Pro-Familia-Ehrenpräsident Hans Harmsen hatte diese Annahme zunächst geteilt, sah sich aber durch die Erfahrung der Legalisierung in New York 1970 eines Besseren belehrt, siehe hierzu Kapitel 7 dieser Arbeit. 55 Vgl. N. N., Life or Death (1981), in: Records of the NOW, Box 79.29, S. 4. 56 Ebd. 57 Vgl. Ebd.; dazu, wie die Anti-Abtreibungsbewegung sich das Argument aneignet, dass der Embryo ab der Zeugung eine eigene DNA habe, siehe auch Williams, Defenders, S. 119.

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dungsrecht der Frau, über Vergewaltigung und Selbstmord, der medizinischen Sicherheit der Abtreibung, dem bevölkerungspolitischen Aspekt bis hin zur sozialen Gerechtigkeit. Diese Gegenargumente rekurrierten teilweise auf Fakten, teilweise auf geschätzte Prozentzahlen, die statistische Daten imitierten, oder auf medizinisch-wissenschaftlich anmutende Narrative, ohne dass es jeweils einen empirischen Beleg dafür gab. Stattdessen wurde auf andere Schriften innerhalb der Bewegung verwiesen, die diese Narrative hergestellt hatten. So schuf die Anti-Abtreibungsbewegung ihr eigenes Wissenssystem, auf welches die Broschüren und Leser*innenbriefe zurückgreifen konnten. Dieses Wissen stimmte manchmal mit empirisch belegbaren Fakten überein (etwa bei der Geburtenraten in den USA), in anderen Fällen basierte es auf veralteten Daten, Fakten wurden übertrieben oder es wurden keine Quelle angegeben. Dadurch, dass dieses Wissenssystem jedoch immer wieder in Broschüren und Postern abgedruckt wurde und von führenden Köpfen der Abtreibungsbewegung zitiert wurde, zirkulierte es transnational und wurde zur wichtigsten Ressource der Bewegung. Dass Frauen, die sich für eine Abtreibung entschieden, dies aus Unwissenheit taten, war das Leitmotiv des bereits oben erwähnten Films »The Silent Scream« (1984) des Gynäkologen Bernard Nathanson. Der New Yorker Arzt war 1969 Mitbegründer der National Association to Repeal Abortion Laws (NARAL) und ab 1970 Leiter einer der größten Abtreibungskliniken in New York gewesen.58 1974 kritisierte er in einem Leserbrief an das »New England Journal of Medicine«, dass in der Praxis die Ärztin / der Arzt, die / der die Abtreibung vornahm, anders als es Roe v. Wade vorsah, nicht mit der Frau zusammen die Entscheidung treffen würde, sondern nur zum ausführenden Instrument wurde. Er beklagte, dass Frauen die Entscheidung für eine Abtreibung alleine treffen mussten, da Berater*innen in feministischen Abtreibungskliniken, so Nathansons polemischer Kommentar, keine Qualifikationen besäßen, außer, dass sie selbst mal abgetrieben hätten.59 Stattdessen forderte er die Wiedereinführung von Expert*innenkommissionen, die medizinische, psychologisch, theologische, aber auch stadtsoziologische und historische Dimensionen der Abtreibung in ihre Entscheidungen mit einbeziehen sollten. Da er so das Erfahrungswissen der Berater*in als Ressource des Entscheidens negierte, geriet Nathanson mit Feminist*innen innerhalb von NARAL in Konflikt und verließ die Organisation.60 1979 schloss er sich dem National Right to Life Committee an. Der Film »The Silent Scream«, der in seiner Ästhetik und Musik an einen Horrorfilm erinnerte, betonte von Anfang an Nathansons Rolle als Experte. Er 58 Siehe das Portrait über Nathanson im Kontext der Silent Scream Debatte Klein, Joe, Born Again, in: New York Magazine (07.01.1985), S. 40–45, Zeitungsausschnitt, in: NARAL Additional Records, Box 230.1. 59 Nathanson, Bernard, Deeper into Abortion, in: New England Journal of Medicine 291 (23.11.1974), S. 1189–1190, hier S. 1189. 60 Siehe Gaylor, Anne, Brief an NARAL Aufsichtsrat (19.12.1974), in: NARAL Records, Box 1; zur weiblichen Erfahrung als Wissensressource siehe Kapitel 6 dieses Bandes.

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unterstrich diesen Status, indem zunächst sein Türschild mit Doktortitel gezeigt wurde, er dann mit Kittel und Stethoskop hinter seinem Schreibtisch auftrat, aus dem Standardlehrbuch »Williams Obstetrics« zitierte und visuelle Stilmittel wie einen Zeigestock oder Modelle von Embryonen in unterschiedlichen Entwicklungsstadien nutzte.61 Seine Sprache war jedoch alles andere als neutral, da er Föten als »children« oder »victims« bezeichnete, die Schwangere als »Mutter« und ihren Bauch als »sanctuary«.62 Der Film war in drei Teile gegliedert. Zunächst konzentrierte er sich auf neue Erkenntnisse der Wissenschaft der »Fötologie«, als zweites befasste er sich mit der Prozedur der Abtreibung und erst im dritten Teil wurden Frauen als Opfer der »Abtreibungsindustrie«, nicht aber als sprechende und handelnde Subjekte gezeigt. Zentrales Stilmittel des Films war eine Abtreibung in der neunten Schwangerschaftswoche, gefilmt mit Ultraschalltechnik, bei der angeblich der Überlebenskampf und der stumme Schrei des Fötus zu sehen sei. Nathanson argumentierte, dass erst die Ultraschalltechnologie es ermöglicht habe, zu beweisen, dass das Ungeborene »simply another human being, another member of the human community« sei.63 Frauen, die in dem Film weinend gezeigt wurden, aber nicht selbst zu Wort kamen, wurden so aus Unwissenheit über den Beginn des embryonalen Lebens zu Opfern einer Abtreibungsindustrie, in der sich die Mafia, profitgierige Ärzt*innen und die Frauenbewegung gegen sie verschworen hatten. Nathanson erklärte den Zuschauer*innen: When discussing abortion, we must also understand that the unborn child is not the only victim – women themselves are victims just like the unborn children are. Women have not been told of the nature of the unborn child. They have not been shown the true facts of what an abortion really is. Women in increasing numbers – hundreds, thousands, even tens of thousands – have had their wombs perforated, infected, destroyed. Women have been sterilized and castrated all as a result of an operation of which they had no true knowledge. This film – and other films which may follow like it – must be made a part of the informed consent for any woman before she submits herself to a procedure of that sort.64

Indem Nathanson forderte, dass Frauen seinen Film als Entscheidungsressource nutzten, bestätigte er die Forderung der Frauenbewegung, dass Frauen die letztendliche Entscheidung über eine Abtreibung selber treffen sollten. Indem er den Begriff »informed consent« benutzte, lehnte er seine Argumentation an 61 Beispielsweise weist die Medizinhistorikerin Rachel Roth darauf hin, dass das Lehrbuch »Williams Obstetrics« erst ab den Auflagen der 1970er Jahre den Fötus als gleichwertigen Patienten betrachtete und in der Auflage von 1981 vom Fötus als »Second Patient« sprach. In vorherigen Auflagen wurde der Schwerpunkt darauf gelegt, in Notsituationen einzig das Leben der Mutter zu erhalten, vgl. Roth, Rachel, Making Women Pay. The Secret Costs of Fetal Rights, Ithaca 2000, S. 105. 62 Nathanson, Silent Scream, Minute 15:50. 63 Ebd., Minute 4:30. 64 Ebd., Minute 23:40.

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die Forderung der Journalistin Barbara Seaman und der Frauenbewegung nach »informed consent« über die Einnahme von Verhütungsmitteln an. Der Titel des Films »The Silent Scream« spielte auf den Buchtitel »The Silent Spring« der Umweltaktivistin Rachel Carson an, die die Gefahren des krebserregenden Insektizids DTT öffentlich gemacht hatte.65 Somit platzierte Nathanson seinen Film in eine Reihe mit Aktivist*innen der neuen sozialen Bewegungen, die durch die Veröffentlichung von naturwissenschaftlichen Fakten über die Gefahren von Insektiziden oder Medikamenten, Konsument*innen aufklären und schützen wollten.66 Im Gegensatz zu den Wissensbeständen, die Carson, Seaman und die in ihrer Tradition stehende neue Frauenbewegung öffentlich zugänglich machten, waren die Informationen, die Nathanson veröffentlichte, nicht aus einer kritischen Lesart wissenschaftlicher Studien in Kombination mit weiblicher Erfahrung entstanden, sondern sollten von männlichen Experten an die Frauen herangetragen werden. Das Ultraschallbild als wichtigstes Stilmittel des Films konnte erst durch den Experten für die Frau interpretiert werden. Die bei Planned Parenthood angestellte Gynäkologin Louise B. Tyrer, die den Film für NARAL rezensierte und selbst im Lesen von Ultraschallbildern geschult war, erklärte, sie könne nirgendwo einen Schrei erkennen.67 Hinzu käme die Tatsache, dass ein Fötus in der neunten Schwangerschaftswoche noch keine Lungenkapazität zum Schreien und keine kognitiven Fähigkeiten zum Erkennen von Gefahr besitze. Sieben Mediziner*innen, die für Planned Parenthood Nathansons Film begutachtet hatten, wiesen ihm 18 faktische Fehler, Übertreibungen und problematische Aussagen nach.68 So suggerierte der Film, dass bei einer Abtreibung in der zehnten Schwangerschaftswoche der Kopf des Fötus vor der Absaugung zerstört werden müsse, dies sei selbst bis in die 14. Schwangerschaftswoche noch nicht nötig.69 Wie das Zitat zeigt, stellte Nathanson die Gefahren für die schwangere Frau durch die legale Abtreibung übertrieben dar. Wie auch das Ehepaar Wilke nahm er an, durch die Legalisierung sei die Anzahl der Abtreibungen gestiegen, und behauptete, die Mehrheit der Abtreibungskliniken seien in der Hand der 65 Zu Barbara Seaman und dem Konzept des »informed consent«, siehe Kapitel 6 dieses Buches. Siehe auch Carson, Rachel, Silent Spring, 25th Anniversary Edition, Boston 1987; zu weiteren Übernahmen von Konzepten und Analogien der neuen sozialen Bewegungen der 1960er Jahre siehe Hale, Nation, S. 298. 66 Zur Übernahme der Konzepte der neuen sozialen Bewegungen durch die Anti-Abtreibungsbewegung siehe auch Haugeberg, Women, 36. 67 Tyrer, Louise B., Expert Panel Critique of the Film »The Silent Scream« (Feb. 1985), in: National Abortion Rights Action League Additional Records, 1967–2004, MC 714, Schlesinger Library, Radcliffe Institute, Harvard University, Cambridge, Mass., Box 230. 1, (im Folgenden zitiert als »NARAL Additional Records«). 68 Vgl. Dorfman, Sally Faith u. a., Medical Experts Critique of the Film »The Silent Scream«, Anhang an Louise B.  Tyrer, Expert Panel Critique of the Film »The Silent Scream« (Feb. 1985), in: NARAL Additional Records, Box 230.1. 69 Vgl. Ebd., S. 2.

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Mafia.70 Trotz der Gegenbelege der Pro-Choice-Bewegung waren Nathansons Behauptungen kongruent innerhalb des Wissenssystems der Anti-Abtreibungs­ bewegung.71 So stimmten seine Aussagen zum Beginn des Lebens, zur Embryonalentwicklung und zu Nebenwirkungen mit den Narrativen überein, die seit 1971 entwickelt und verbreitet wurden. Informationen, die diese Standpunkte negierten, wurden mit den immer gleichen rhetorischen und visuellen Strategien entkräftet. Dazu wurden bewusst Täuschungen in Kauf genommen. Der Film erzielte eine große Breitenwirkung, da er im Fernsehen gezeigt wurde, indem Aktivist*innen ihn an alle amerikanischen Kongressabgeordneten schickten und Präsident Ronald Reagan ihn im Weißen Haus zeigte.72 In der Bundesrepublik wurde der Film am 10. Dezember 1984 im Norddeutschen Rundfunk ausgestrahlt, in gekürzter Form auch im Bayerischen Rundfunk.73 1990, als im Zuge der Wiedervereinigung eine Anpassung des liberaleren Abtreibungsrechts der DDR und der Indikationslösung in Westdeutschland debattiert wurde, schickte der katholische Verein SOS Leben e. V. Kopien des Films an alle Bundestagsabgeordneten.74 Der Anti-Abtreibungsaktivist und TV-Moderator Franz Alt zitierte »The Silent Scream« ausführlich in seiner Monographie »Liebe ist möglich. Die Bergpredigt im Atomzeitalter.«75 Darin argumentierte er, dass die Forderung nach der Legalisierung der Abtreibung und die nukleare Aufrüstung Ausdruck der gleichen Verrohung der Gesellschaft seien.76 Dem Argument, dass Politiker*in­ nen, die sich für die Aufrüstung aussprachen, meist die legale Abtreibung ablehnten, entgegnete er, dass Reagans Position gegen Abtreibung unglaubwürdig sei, da auf die Versprechen des amerikanischen Präsidenten wenige Taten gefolgt seien.77 Trotz dieser argumentativen Widersprüche zeigt Alts Schrift, dass »The Silent Scream« auch für die deutsche Anti-Abtreibungsbewegung zu einer wichtigen Referenz wurde. Der baden-württembergische Ministerpräsident Lothar Späth (CDU) erklärte 1987 im »Pro Familia Magazin«: »Ich kenne viele Leute, auch sehr viele kritische 70 Nathanson, Silent Scream, Minute 23:06. 71 So argumentiert das ärztliche Gutachten für Planned Parenthood, dass vor der Legalisierung die organisierte Kriminalität im Abtreibungsgeschäft involviert war, dies aber seit der Legalisierung nicht mehr der Fall sei, vgl. Dorfman, Medical, S. 4. 72 Vgl. Schoen, Abortion, S. 145. 73 Der Sender kürzte die Szenen, die eine Abtreibung per Ultraschall zeigten, mit dem Argument, dass dies nach deutschem Recht Mord sei, und man im deutschen Fernsehen keine Straftat in ihrer Ausführung zeigen dürfe, vgl. Sadrozinki, Metamorphosen, S. 8. 74 Vgl. N. N., The Focus on Women Campaign (Press Release, ca. April 1985), in: NARAL Additional Records, Box 219.11., S. 3; siehe hierzu auch Ferree u. a., Shaping, S. 168. 75 Alt, Franz, Liebe ist möglich. Die Bergpredigt im Atomzeitalter, München 1985, S.70–71. 76 Diese Verknüpfung vollzog auch die amerikanische katholische Organisation Prolifers for Survival, welche sich 1979 nach dem nuklearen Unfall in Harrisburg, Pennsylvania gründete und auch internationale Ortsgruppen in Westdeutschland, Großbritannien und Australien hatte. Vgl. Haugeberg, Women, S. 61. 77 Vgl. Ebd., S. 20.

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junge Leute, die, nachdem sie beispielsweise in Filmen oder Fernsehsendungen die Entwicklung und die Reaktion eines Embryos gesehen haben, über dieses Thema völlig anders denken, als es in der großen Diskussion der 70er Jahre geschah, wo im Grunde die Freiheit der Entscheidung der Mutter im Vordergrund stand.«78 Späths Argument war, dass sich durch die Technologie des Ultraschalls, Filme wie »The Silent Scream« und die drastische Bildsprache der Anti-Abtreibungsbewegung die Debatten um die Abtreibungsfrage gewandelt hatten. So könne die Abtreibung nicht mehr allein als Frauenrecht begriffen werden, sondern müsse auch den Entwicklungsstatus des Fötus miteinbeziehen. Dass schon das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1975 auf der Annahme der Schützenswürdigkeit des ungeborenen Lebens basierte, schien Späth zu vergessen. Dennoch berichteten auch Pro-Familia-Berater*innen, dass immer mehr Frauen in der Beratung mit einem schlechten Gewissen zu kämpfen hatten, weil sie aufgrund der Bildsprache der Anti-Abtreibungsbewegung Abtreibung als Mord begriffen.79 Das schlechte Gewissen, welches Frauen nach einer Abtreibung empfanden, wurde Mitte der 1980er Jahre in Anlehnung an eine posttraumatische Belastungsstörung als Post-Abortion-Syndrome pathologisiert. Laut der Historike­ rin Johanna Schoen wurde das Syndrom von dem Ingenieur David Reardon erschaffen, der 252 Frauen interviewt hatte, die als Teenager abgetrieben hatten.80 Sie waren als Erwachsene zum evangelikalen Christentum konvertiert und engagierten sich in der Gruppe WEBA (Women Exploited by Abortion). Diese hatte laut der Vorsitzenden Nancijo Mann 10.000 Mitglieder in den USA , Deutschland, Irland, Spanien, Italien, Japan, Australien und Neuseeland.81 Viele waren von ihren Partnern oder Eltern zur Abtreibung gedrängt worden, griffen nach dem Eingriff zu Drogen oder Alkohol, bis sie zum evangelikalen Christentum konvertierten. So erzählte etwa Lorijo Nerad, eine Aktivistin aus Michigan, dem People Magazin 1985: »Three years after the abortion, I became a Christian, and that’s when I felt severe guilt and depression. I realized the truth was that I killed my baby. I was ignorant at the time, but I still hold myself accountable.«82 Reardon, der einen Doktortitel in Medizin von einer nicht akkreditierten Fernuniversität auf Hawaii besaß, beschrieb in seiner Publikation »Women Aborted« (1987) ungewollt schwangere Frauen allgemein als naiv, ignorant, und unfähig eine eigene Entscheidung zu treffen. Wenn ihnen dann nach einer Abtreibung bewusst werden würde, dass sie ihr Kind getötet hätten, würden sie an einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden. Jedoch war Reardons Sample zu klein und einseitig, um als empirische Studie zu gelten. Schon eine Vergleichs78 Zitiert nach Heinrichs, Jürgen, Schwangerschaftsabbruch – kein Thema mehr? in: Pro Familia Magazin 14 (1986), H. 3, S. 25. 79 Vgl. Sadrozinki, Metamorphosen, S. 9. 80 Vgl. Schoen, Abortion, S. 146–147. 81 Zitiert nach Haugeberg, Women, S. 42–43. 82 Vgl. N. N., Eight Other Women’s Stories, in: People Magazine (05.08.1985), S. 82–88, hier S. 83.

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studie aus dem Jahre 1972 über 17 Einzelstudien aus den USA , Großbritannien, Skandinavien und Ostdeutschland hatte festgestellt, dass zwar bis zu 19 Prozent der Frauen in den Tagen und Wochen direkt nach einer Abtreibung an Schuldgefühlen und depressiven Verstimmungen litten, aber nur etwa zwei Prozent langfristige psychische Probleme entwickelten, die auf die Abtreibung zurückzuführen waren.83 Diese Frauen hatten die Abtreibung entgegen ihres Willens, ihrer religiösen oder moralischen Überzeugung durchführen lassen. Die Soziologin Heike Daun, die für ihre 1992 an der Universität Kassel verfasste Diplomarbeit Frauen, die bei Pro Familia oder in einer Privatklinik abgetrieben hatte, befragte, fand heraus, dass 88 Prozent der Frauen nach der Abtreibung erleichtert waren, obwohl nur 10 Prozent keinerlei Schuldgefühle empfanden. Aber nur bei 5 Prozent ihres Samples überwogen nach der Abtreibung negative Gefühle.84 Das Ergebnis ihrer Untersuchung war, »daß nicht der Abbruch als solcher für emotionale Probleme verantwortlich gemacht werden« dürfe, sondern andere belastende Lebensereignisse, das soziale Umfeld, »sowie die Internalisierung gesellschaftlicher Normen und Werte.«85 Frauen empfanden Schuldgefühle nicht gegenüber der Abtreibung, sondern der ungewollten Schwangerschaft und erlebten den Prozess, eine legalen Abtreibung zu erhalten, als belastend. Diese und weitere Studien legen nahe, dass nicht die Abtreibung an sich, sondern das Umfeld, in welchem die Prozedur als Mord begriffen wurde, für Frauen belastend war. Dennoch diente das Post-Abortion-Syndrome für die Anti-Abtreibungsbewegung als wichtiges Narrativ, um mehr Einschränkungen zum Schutz der Frauen vor ihren eigenen Entscheidungen zu fordern. So rückten zwar Frauen wieder in den Fokus der Anti-Abtreibungsbewegung, aber nicht als eigenmächtig handelnde Wesen, sondern als schützenswerte passive Geschöpfe.

Politische Maßnahmen zur Einschränkung der legalen Abtreibung in der Bundesrepublik Die CDU und CSU, die nach dem Regierungswechsel 1982 Regierungsparteien geworden waren, versuchten zunächst, durch ein Verbot der Krankenkassenübernahme bei Abtreibungen mit Notlagenindikation die Anzahl der straffreien Abtreibungen in der Bundesrepublik einzuschränken. Als sie für dieses 83 Vgl. Schwartz, Richard A., Abortion on Request. The Psychiatric Implications, in: Case Western Reserve Law Review 23 (1972), S. 840–873, hier S. 849. 84 Daun, Heike, Psychische Bewältigung eines Schwangerschaftsabbruchs. Ergebnisse einer empirischen Untersuchung, in: Pro Familia Magazin 20 (1992) 5, S. 21–24. Eine im Januar 2020 veröffentlichte Langzeitstudie, die Patientinnen aus 30 amerikanischen Abtreibungskliniken über einen Zeitraum von 10 Jahren regelmäßig befragt hat, kam zu dem gleichen Ergebnis, dass 95 Prozent ihre Abtreibung nicht bereuen, vgl. Steinberg, Julia R., Decision Rightness and Relief Predominate over the Years Following an Abortion, in: Social Science and Medicine 247 (2020), Druckfahnen online https://www.sciencedirect. com/science/article/abs/pii/S0277953620300010, letzter Zugriff: 21.01.2020. 85 Ebd., S. 23.

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Vorhaben keine parlamentarische Mehrheit erhielten, versuchten sie, durch die Einführung einer Bundesstiftung nach dem Modell der bayerischen Landesstiftung »Hilfen für Mutter und Kind« und ein neues Beratungsgesetz die Anzahl an Abtreibungen zu reduzieren. Die Bundesstiftung »Mutter und Kind«, die 1984 eingerichtet wurde, sollte Darlehen bis zu 5.000  DM an schwangere Frauen vergeben und so bis zu 20.000 der jährlich um die 140.000 Abtreibungen verhindern.86 Der Pro-Familia-Präsi­ dent Jürgen Heinrichs fasste in einem Kommentar für das »Pro Familia Magazin« im Sommer 1984 die Argumente, die gegen solch eine Stiftung sprachen, wie folgt zusammen.87 Zum einen habe die Erfahrung aus Bayern, wo es schon längst eine solche Stiftung gab, bewiesen, dass nicht weniger Frauen aufgrund von kurzfristigen Finanzhilfen abtrieben. Stattdessen hätten die meisten schon vor der Beratung den Entschluss für oder gegen eine Abtreibung gefasst und ihre Meinung trotz finanzieller Hilfen nicht geändert. Tatsächlich würden nun Frauen, die eigentlich schon die Entscheidung gefasst hatten, das Kind zu behalten, in der Beratung lügen, um an finanzielle Hilfen zu kommen. Die ökonomischen Probleme der Frauen, die sich für eine Abtreibung entschieden, umfassten Schulden oder den drohenden Verlust der Arbeits- oder Ausbildungsstelle. Daher waren sie zu komplex, um sie durch ein einmaliges Dahlehen auszugleichen. Auch seien die zur Verfügung gestellten Mittel zu gering und würden nur Frauen zu Gute kommen, deren Einkünfte knapp über dem Niveau der Sozialhilfe lagen. Weiterhin erachtete es Heinrichs als problematisch, dass es keinen Rechtsanspruch auf Förderung gab. Daraus resultierte die Gefahr, dass gegen Ende des Jahres, wenn die finanziellen Ressourcen knapp werden würden, Anträge trotz Bedarfs nicht mehr genehmigt werden würden. Sollten die Befürworter*innen der Stiftung recht haben und die Genehmigung der finanziellen Hilfen sei ausschlaggebend für die Entscheidung über eine Abtreibung, so würde das Abwarten auf den Bescheid der Stiftung dazu führen, dass Frauen den Abbruch zu einem späteren Zeitpunkt mit einem höheren Komplikationsrisiko durchführen würden.88 Pro-Familia-Beratungsstellen kritisierten in Erfahrungsberichten weitere Probleme des Stiftungskonzepts. So berichtete 1985 die Beraterin Ulla MeyerRoland aus Rheinland-Pfalz, dass dort Frauen ein Darlehen von bis zu 3000  DM 86 N. N., Protokoll der Mitgliederversammlung, Pro-Familia-Landesverband Hamburg (09.10.1984), S. 2, in: BArch N 1336/342. Laut Bundesärztekammer wurden 1984 91.884 Schwangerschaftsabbrüche über die Krankenkassen abgerechnet, man müsse aber noch die Fälle einrechnen, in denen die Patientinnen den Eingriff selbst zahlten oder ins Ausland fuhren, so dass die Zahl wohl um die 50.000 höher lag, vgl. Baross, Joachim von, Schwangerschaftsabbrüche an Frauen aus der Bundesrepublik, in: Pro Familia Magazin 14 (1986) H. 1, S. 27–28, hier S. 27. 87 H., J. [Jürgen Heinrichs], Unser Kommentar. Argumente sind nicht erwünscht, in: Pro Familia Magazin 12 (1984) H. 3, S. 17. 88 N. N., »Argumente gegen die Bundesstiftung »Mutter und Kind««, in: Pro Familia Magazin 12 (1984) H. 3, S. 17.

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beantragen konnten, meist aber nur zwischen 1200 und 2000 DM bewilligt wurde.89 Auch konnten sie den Antrag nicht selbstständig stellen, stattdessen war die Beratungsstelle für das Beantragen und die Verteilung der Fördergelder verantwortlich, was einen großen Mehraufwand der Verwaltungsarbeit für die Beratungsstellen bedeutete.90 Im Sommer 1985 veröffentlichte Pro Familia die statistische Auswertung von 401 Anträgen, die im Oktober und November 1984 über ihre Beratungsstellen gestellt wurden.91 Die Berater*innen gaben an, dass nur 16 Prozent der Antragsstellerinnen überhaupt eine Abtreibung in Erwägung gezogen hatten, und nur für 7 Prozent »spielte der Erhalt der Stiftung überhaupt eine Rolle in der Entscheidung«. So schätzten die Berater*innen, dass 78 Prozent der Antragsstellerinnen die Schwangerschaft auf alle Fälle fortsetzen wollten und 53 Prozent nur wegen des Antrages in die Beratung kamen. Das Vorhandensein der Stiftung führte dazu, dass ein neues Klientel in die Beratungsstellen kam und zwischen 5 Prozent und 30 Prozent der knappen Beratungszeit in Anspruch nahm. Von den Antragsstellerinnen erhielten 51 Prozent schon staatliche Leistungen wie Bafög, Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe.92 Sie waren entweder Studentinnen aus einkommensschwachen Familien oder lebten selbst in prekären Verhältnissen. Die Studie schätzte, dass 95 Prozent der Antragsstellerinnen langfristiger finanzieller Unterstützung bedurften, jedoch wurden 56 Prozent der Anträge um durchschnittlich 36 Prozent gekürzt. Auch zeigte sich, dass es große Unterschiede bei der Mittelvergabe zwischen den einzelnen Bundesländern gab. In Baden-Württemberg konnten Frauen ein Darlehen von bis zu 7000  DM erhalten, im benachbarten Rheinland-Pfalz bekamen sie nur durchschnittlich 1730 DM . Auch würden Frauen in Rheinland-Pfalz bis zu 40 Tage auf die Bewilligung ihres Antrages warten, was viel zu lang war, um über den Erhalt einer Schwangerschaft innerhalb der Zwölf-Wochen-Frist zu entscheiden. In Bayern betrug die durchschnittliche Wartezeit hingegen nur 14 Tage.93 Selbst Sozialämter gaben zu, dass die Mittel nur für einmalige Kosten, wie einem Umzug, einem Kinderwagen oder einer Kinderzimmereinrichtung dienen sollten.94 Die Stuttgarter Zeitung titelte schon 1977 in Bezug auf eine regionale Stiftung in Schwaben polemisch, dass es »im Härtefall eine Wasch­ maschine« gäbe.95 Um langfristige finanzielle Probleme zu lösen, waren die Mit89 Meyer-Roland, Ulla, Von der Landesstiftung »Familie in Not« zur Bundesstiftung »Mutter und Kind – Zum Schutz des ungeborenen Lebens«, in: Pro Familia Magazin 13 (1985) H. 1, S. 29–30, hier S. 30. 90 Ebd. 91 N. N., Bundesstiftung »Mutter und Kind« ein glatter sozialpolitischer Fehlgriff, in: Pro Familia Magazin 13 (1985) H. 3, S. 41–42, hier S. 41. 92 Vgl. Ebd. 93 Vgl. Ebd. 94 N. N., Die Bundesstiftung »Mutter und Kind« verfehlt ihren Zweck, in: Pro Familia Magazin 14 (1986) H. 4, S. 12. 95 N. N., Im »Härtefall« eine Waschmaschine, Nachdruck aus der Stuttgarter Zeitung (29.07.1977), zitiert in: Pro Familia Informationen 5 (1977) H. 1, S. 11.

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tel viel zu knapp bemessen und materielle Konsumgüter konnten vielschichtige Probleme nicht lösen. In dem eingangs zitierten Fall der schwangeren Auszubildenden hätte das Geld gereicht, um ihr Schulgeld für vier Monate zu zahlen. Ein Argument, dass in der Berichterstattung der Pro Familia immer wieder vergessen wurde, war auch, dass die Darlehen nach einem Jahr mit einem Zinssatz von 9 Prozent zurückgezahlt werden mussten.96 Für eine alleinerziehende, arbeitslose oder studentische Mutter mit einem einjährigen Kind, war dies auch nicht einfach. Schon die Konzeption der Stiftung zeigt, dass die Verantwortlichen im Familienministerium davon ausgingen, dass sich Frauen aufgrund geringfügiger finanzieller Mittel, die sie für Konsumgüter ausgeben würden, gegen eine Abtreibung entscheiden würden. Folglich wurde die Entscheidung über einen Schwangerschaftsabbruch als eine Konsumentscheidung verstanden. Im Umkehrschluss hieß das, dass die christdemokratische Sozialpolitik Frauen unterstellte, sich allein aus konsumorientierten Gründen für den Abbruch einer Schwangerschaft zu entscheiden. Dies perpetuierte das Narrativ, welches Gegner*innen der Familienplanung seit den 1950ern angeführt hatten, nämlich dass Frauen aufgrund der Teilhabe an der Konsumgesellschaft Mutterschaft verschieben oder ganz ablehnen würden, um sich beispielsweise ein Auto oder eine Wohnungseinrichtung zu kaufen.97 Damit verbreiteten sie die Vorstellung, dass Frauen so willensschwach waren, dass sie sich durch materielle Werte und sofortige Gratifikation von ihrer traditionellen Rolle als Mutter abbringen ließen. Pro Familia hingegen betonte weiterhin, dass Frauen, die sich für eine Abtreibung entschieden, sich in einer komplexen Krisensituation befanden, in der kurzfristige finanzielle Mittel keine Abhilfe schaffen würden. Nachdem Bundeskanzler Helmut Kohl in einer Regierungserklärung 1983 bekannt gegeben hatte, dass der »Schutz des ungeborenen Lebens« ein wichtiger Pfeiler der Familienpolitik seiner Regierung sein werde, versuchten Unionspolitiker*innen auf Kommunen- und Länderebene den Zugang zur straffreien Abtreibung und Konfliktberatung einzuschränken.98 So kürzten etwa die Stadträte in den katholischen Universitätsstädten Aachen und Münster rückwirkend den Pro-Familia-Beratungsstellen kommunale Mittel der Konfliktberatung.99 96 Siehe hierzu den nicht abgedruckten Leserbrief des Ministerialrats im bayerischen Staatsministerium für Arbeit und Sozialfragen, Ruf, Franz, An das Pro Familia Magazin (28.03.1983), in: BArch N 1336/757. 97 Siehe hierzu Kapitel 5 dieses Buches. 98 Kohl, Helmut, Regierungserklärung des Bundeskanzlers vor dem Deutschen Bundestag. Programm der Erneuerung. Freiheit, Mitmenschlichkeit Verantwortung (04.05.1983), Bulletin Nr. 43, S. 397–411, hier S. 403, in: BArch N 1336/757. 99 Die Kommunen waren eigentlich verpflichtet, 30 Prozent der Kosten der Konfliktberatung zu übernehmen, 70 Prozent stammte von der Landesregierung, vgl. N. N., Pro Familia in Nordrhein-Westfalen in finanzieller Bedrängnis, in: Pro Familia Magazin 11 (1983) H. 3, S. 20; siehe auch Paulich, Peter, Brief an die Mitglieder des Pro Familia Landesverband NRW (12.02.1983), in: BArch N 1336/757.

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Die Anti-Abtreibungsbewegung und die Schwangerschaftskonfliktberatung

In Aachen wurde die drohende Schließung durch eine von einem Pädagogikprofessor gegründete Stiftung verhindert, in Münster, der Hochburg der kirchlichen Anti-Abtreibungsbewegung der 1970er Jahre, löste sich das Problem erst, als 1986 eine rot-gelbe Mehrheit im Stadtrat zustande kam.100 Die Reaktion der Landes- und Ortsverbände der Pro Familia auf die drohenden Einschränkungen des Zugangs zur legalen Abtreibung war, weitere Familienplanungszentren nach dem Bremer Modell zu eröffnen, die Konfliktberatung und ambulante Schwangerschaftsabbrüche unter einem Dach durchführten. Dies wurde in Kassel, Gießen, Rüsselsheim, Saarbrücken und Bielefeld geplant.101 In Saarbrücken, wo neben Abtreibungen auch ein Mutter-und-KindHeim und eine Adoptionsvermittlung für Frauen, die sich für die Austragung einer Schwangerschaft entschieden, eingerichtet werden sollten, setzte sich der sozialdemokratische Oberbürgermeister und spätere saarländische Ministerpräsident Oskar Lafontaine gezielt für die Einrichtung des Zentrums ein. Dieses Engagement führte wiederum zu Kontroversen innerhalb von Pro Familia, ob der Verein den sozialdemokratischen Politiker im Wahlkampf öffentlich unterstützen sollte.102 Währenddessen verwehrte in Bielefeld, wo ein erfahrener niederländischer Arzt Abtreibungen per Absaugung durchführen sollte, der Regierungsbezirk dem Mediziner die Zulassung.103 Über das Familienplanungszentrum Rüsselsheim, welches 1985 eröffnet wurde und nur eine geringe Fördersumme des Landes Hessen erhielt, berichtete das »Pro Familia Magazin« schon im Frühjahr 1986, dass es durch Abtreibungsreisen aus Bayern, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz überlastet sei.104 Frauen aus den südlichen Bundesländern nahmen bis 1993 weiterhin eine lange Reise für eine Abtreibung nach Norddeutschland, in die Niederlande, in die Schweiz oder nach Österreich in Kauf, da aufgrund der Nichtzulassung ambulanter Abtreibungen diese schwerer zugänglich und viel teurer waren. So schätzt die Pro-Familia-Bundesgeschäftsführerin Elke Thoß 1993, dass nur knapp über 50 Prozent der Patientinnen eine Abtreibung am Wohnort vornehmen lassen konnten.105 Das »Pro Familia Magazin« berichtete im selben Jahr, dass eine ambulante Abtreibung in Hamburg die Patientin 89.50 DM kostete, da alle Vor- und Nachsorgekosten über die Krankenkasse abgerechnet werden 100 Vgl. N. N., Protokoll der Pro Familia Präsidiumssitzung am 06.02.1982, in: BArch N 1336/763; zur Situation in Münster siehe Koerner, Helmut, »Der Pro Familia das Handwerk legen«, in: Pro Familia Magazin 16 (1988) H. 2, S. 10–11. 101 Sautter, Claudia, Familienplanungszentren entstehen, in: Pro Familia Magazin 14 (1986) H. 1, S. 22–23. 102 Krämer, Heinz, Im Gleichschritt mit der Landesregierung? Oder: Auf Pro Familia sind wir stolz wie Oskar, in: Pro Familia Magazin 16 (1988) H. 2, S. 15–16. 103 Springmmeier, Annette, Bielefeld. Zulassung abgelehnt, in: Pro Familia Magazin 14 (1986) H. 6, S. 26–27. 104 Vgl. Sautter, Familienplanungszentren, S. 22–23. 105 Zitiert nach Gieseler, Daniela, Konsequenzen. Frankfurter Konferenz zu RU 486 provoziert Perspektivwechsel, in: Pro Familia Magazin 21 (1993) H. 1, S. 28–29, hier S. 28.

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konnten. In München, wo Abtreibungen nur in Privatkliniken mit Belegbetten durchgeführt wurden, kostete der Eingriff 490 DM .106 So wurde der Zugang zu einer legalen Abtreibung, besonders für arme Frauen zu einer Kostenfrage. In Bayern stellte die alleinige Zulassung konfessioneller Beratungsstellen zur Konfliktberatung eine weitere Hürde zum Zugang zur legalen Abtreibung dar. Ein 1988 öffentlich sehr breit diskutierter Gerichtsprozess im bayerischen Memmingen wegen Abtreibungen ohne Indikationsstellung basierte auf genau diesem Problem. Hier wurden nach einem anonymen Hinweis an die Staatsanwaltschaft der Gynäkologe Horst Theissen, 200 Frauen und deren Partner wegen Verstößen gegen § 218 verurteilt, da laut dem Richter in allen Fällen eine Notlage nicht gegeben gewesen sei.107 Der angeklagte Gynäkologe hatte in seiner Praxis die Konfliktberatung und die Abtreibung selbst durchgeführt und damit begründet, dass die einzige Konfliktberatungsstelle in Memmingen von der katholischen Caritas geführt wurde. Frauen müssten für eine unabhängige Beratung entweder ins 80 km entfernte München, nach Augsburg (wo widersprüchlicherweise keine Klinik Abtreibungen durchführte, so dass dort lebende Frauen für den Eingriff nach Memmingen fahren mussten) oder Baden-Württemberg reisen. Theissen ging laut dem »Pro Familia Magazin« davon aus, dass die Patientinnen höchstens wegen einer Ordnungswidrigkeit belangt werden könnten.108 Jedoch schickte die Staatsanwaltschaft an alle Frauen, deren Namen in Theissens beschlagnahmter Patientenkartei auftauchten, einen Fragebogen, der neben persönlichen Daten auch Vermögen, Verdienst und Schulden, den Beziehungsstand, die Anzahl der bisherigen Kinder, das Verhältnis zu den Eltern, die Betreuungsmöglichkeiten der (potentiellen) Kinder, den Arbeitgeber und die medizinische Verfassung zum Zeitpunkt der Abtreibung abfragte.109 Ziel der Befragung war es, herauszufinden, ob eine so große Notlage gegeben sei, die die Abtreibung rechtfertige oder ob die Notlage nicht doch durch eine Adoption hätte abgewendet werden könne. Der vorsitzende Richter habe, so der Bericht im »Pro Familia Magazin« zu dem Prozess, alle Fragebögen trotz geschilderter schwieriger finanzieller, beruflicher oder familiärer Situation mit dem Urteil »Soziale Indikation ist nicht gegeben« bewertet und sich dabei auf ein Urteil des Bayerischen Obersten Landesgericht berufen, welches besagte, dass »die Überforderung der Schwangeren durch die Schwangerschaft […] so groß sein [müsse], daß eine gleichwertige Rechtspflicht derjenigen zum

106 Frommel, Monika, Das neue Abtreibungsrecht und seine Auswirkungen. Abschaffung der Krankenkassenfinanzierung, in: Pro Familia Magazin 21 (1993) H. 6, S. 30–31. 107 Vgl. Schliermann, Brigitte, Die Memminger Abtreibungsprozesse, in Pro Familia Magazin 17 (1989) H. 3, S. 1–4, hier S. 3. Zur Medienberichterstattung über den Prozess siehe auch Ferree u. a., Shaping, S. 37–38. 108 Vgl. Schliermann, Memminger, S. 1. 109 Der Originalfragebogen wurde im Pro Familia Magazin 17 (1989) H. 3 abgedruckt, siehe N. N., Aus einem Brief des Memminger Landgerichts an 140 Frauen, in: Pro Familia Magazin 17 (1989), H. 3, S. 2.

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Die Anti-Abtreibungsbewegung und die Schwangerschaftskonfliktberatung

Austragen gegenüber stehe.«110 Die Betonung lag dabei auf dem Zeitraum der Schwangerschaft, da nach der Entbindung die Freigabe des ungewollten Kindes zur Adoption Abhilfe schaffen könnte. Mögliche seelische Schäden der Mutter und des zur Adoption freigegebenen Kindes wurden dabei nicht bedacht. Das Urteil des Memminger Prozesses wurde von Pro Familia so interpretiert, dass wirtschaftliche oder familiäre Schwierigkeiten allein nicht ausreichten, so lange eine Frau »noch einigermaßen in der Lage [sei], ihre Pflichten als Hausfrau und Mutter zu erfüllen. Erst wenn die Versorgung ihrer Kinder oder des Ehemannes oder auch pflegebedürftiger Verwandter gefährdet ist, darf sie eine Abtreibung vornehmen.«111 Tatsächlich begründeten in den USA , wo 1985 in einer von NARAL und dem »Ms. Magazine« organisierten Protest­a ktion »Silent No More!« hunderte Frauen öffentlich ihre Entscheidung für eine Abtreibung erklärten, eine Vielzahl der Frauen ihre Entscheidung genauso, nämlich mit der Sorge, ihre schon geborenen Kinder und Ehemänner nicht mehr adäquat versorgen zu können.112 Für viele Frauen diente die imaginierte Zukunft ihrer schon geborenen Kinder und ihres Ehemannes als wichtigster Entscheidungsgrund.113 Der Prozess in Memmingen negierte jedoch die Fähigkeit der Frauen, selbst diese Entscheidung zu treffen. Stattdessen sprach er dem behandelnden Arzt, der Staatsanwaltschaft und dem Richter die Kompetenz zu, über das Vorhandensein eine Notlage zu urteilen. Da sowohl finanzielle Probleme als auch der Verlust des Arbeits- oder Ausbildungsplatzes als Begründungen für eine Notlage aberkannt wurden und einzig die Fähigkeit einer Frau, weiterhin Haushalt, Kinder und zu pflegende Angehörige zu versorgen, akzeptiert wurden, unterlag dem Urteil ein traditionelles Rollenbild. Die Frau wurde einzig in ihrer Rolle als Mutter und Pflegerin betrachtet, die finanzielle Versorgung sollte der Vater des Kindes übernehmen, der als anwesend und gesund imaginiert wurde. Finanzielle Engpässe sollten durch die Bundesstiftung oder sozialstaatliche Leistungen ausgeglichen werden. Fälle, in denen eine Frau einfach keine (weiteren) Kinder wollte, oder ein Mann seine Partnerin verließ, kamen in diesem Rollenmodell nicht vor. Daher diente die Strafverfolgung von Ärzt*innen und Patientinnen in Bayern zur Wiederherstellung eines traditionellen Modells von Geschlechternormen, welches so längst nicht mehr praktiziert wurde. Da trotz der Einschränkungen in Süddeutschland und der Bundesstiftung »Mutter und Kind« weiterhin 70 bis 80 Prozent der Abtreibungen auf Grund110 Ebd., S. 3. 111 Ebd. 112 Die Protestaktion »Silent No More!«, bei der Frauen in 23 Städten öffentliche Briefe an Ronald Reagan vorlasen, in denen sie die Gründe für ihre Abtreibungen erklärten, war eine direkte Antwort auf Nathansons Film »The Silent Scream«, N. N., »Silent No More!« Correspondence and Memos, 21.05.1985, in: NARAL Additional Records, Box 230.1. 113 Siehe hierzu Roesch, Claudia, Silent No More! – Narrative des Entscheidens in Kampagnen der Befürworter und Gegner legaler Abtreibungen in den USA der 1980er Jahre, in: Hoffmann-Rehnitz, Philipp u. a. (Hg.), Semantiken und Narrative des Entscheidens vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Göttingen 2021, S. 466–481, hier S. 479.

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lage einer Notlagenindikation durchgeführt wurden, beklagten Politiker*innen der CDU einen »Mißbrauch der sozialen Indikation«.114 In den schwarzgelben Koalitionsvertrag von 1987 wurde die Einführung eines »Beratungsgesetzes« aufgenommen, welches laut Gesundheitsministerin Rita Süßmuth (CDU) dazu dienen sollte, den »Mißbrauch einzudämmen.«115 So sollten Beratungsstellen zu einer »Beratung zu Gunsten des Lebens« verpflichtet werden. Kommentator*innen im »Pro Familia Magazin«, aber auch die Fraueninitiative 6. Oktober, welche sich aus Feminist*innen und Politiker*innen der SPD, der FDP und der Grünen zusammensetzte,116 verurteilten den Gesetzesentwurf, da er eine »Bevormundung von Frauen und Beratern« darstelle.117 Letztendlich führe er nur dazu, dass weniger Ärzt*innen eine Indikationsstellung vornehmen würden, so dass Frauen entweder länger auf eine legale Abtreibung warten oder weiterhin ins Ausland reisen müssten.118 Aufgrund der Erfahrungen mit Problemen, die sich aus der Konfliktberatung ergaben, forderte schon 1983 die Stuttgarter Pro-Familia-Beraterin Mechthild Rüther-Stehmann die Abschaffung der Beratungspflicht. Frauen, die zu ihr in die Beratung kamen, standen meist unter Zeitdruck und glaubten, der Erhalt des Beratungsscheins sei abhängig vom Verlauf des Gespräches. Deshalb würden sie oft lügen und sich schon im Vorfeld eine Geschichte zurechtlegen, mit der sie ihre Abtreibung rechtfertigten, da es ihnen peinlich sei, ihre privatesten Probleme offenzulegen.119 Die Infrastruktur der Konfliktberatung wollte sie aber weiterhin aufrecht erhalten, da viele Frauen aufgrund der Tabuisierung des Schwangerschaftsabbruchs durch die CDU / C SU und die katholische Kirche Beratungsbedarf hätten. Diese Beratung sollte aber freiwillig sein. 1986 stimmte die Pro-Familia-Mitgliederversammlung aufgrund der Probleme mit der Konfliktberatung mehrheitlich für eine Resolution, die die Abschaffung des § 218 fordert. Der ehemalige Vereinsvorsitzende Jürgen Heinrichs erklärte den Beschluss in einem Artikel für das »Pro Familia Magazin« folgendermaßen: Praktisch gesehen liefen eine liberale Fristenlösung bis zur 24. Schwangerschaftswoche und eine Freigabe bis zur Lebensfähigkeit des Fö114 Vgl. N. N., Kurz-Interview mit Agnes Bürland, Parlamentarische Geschäftsführerin der CDU  / C SU -Fraktion, in: Pro Familia Magazin 12 (1984) H. 3, S. 20. 115 Fraueninitiative 6. Oktober, Offener Brief an Bundesgesundheitsministerin Rita Süßmuth, abgedruckt in: Pro Familia Magazin 15 (1987) H. 4, S. 35–36. 116 Siehe hierzu Fuchs, Hannelore, Fraueninitiative 6. Oktober, in: Feministische Studien 5 (1986) 2, S. 121–123. Der 6. Oktober spielte auf das Gründungsdatum der Initiative am Tag nach der Bundestagswahl am 05.10.1980 an. An diesem Tag kamen Politikerinnen und Feministinnen zusammen, um zu diskutieren, wie man die niedrige Wahlbeteiligung von Frauen erhöhen könne. 117 L., E., Pro Familia Standpunkt, in: Pro Familia Magazin 15 (1987) H. 6, S. 29. 118 Vgl. Heinrichs, Jürgen, Beratung nach dem Gesetz, in: Pro Familia Magazin 16 (1988) H. 2, S. 1. 119 Rüther-Stemann, Mechthild, Die Ohnmacht der Beraterin und die Angst der Frauen, in: Pro Familia Magazin 11 (1983) H. 5, S. 8–10, hier S. 8.

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tus außerhalb des Mutterleibs auf das Gleiche hinaus. Der § 218 ziele jedoch auf eine Bestrafung der schwangeren Frau ab, das sei deshalb frauenfeindlich und gehöre gestrichen.120 Mitgliedern, die sich sorgten, mit der Forderung könne Pro Familia den »Lebensschützer*innen« in die Hände spielen, entgegnete Heinrichs, dass die Erfahrung gezeigt habe, nicht Strafandrohung reduziere die Anzahl von Abtreibungen, sondern bessere Sexualaufklärung. Durch mehr Geld für Familienplanungsprogramme könne auch der vom Bundesverfassungsgericht geforderte »Schutz des ungeborenen Lebens« besser gewährleistet werden, so dass eine Abschaffung des § 218 nicht verfassungswidrig wäre. Mit der Forderung nach der Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs würde Pro Familia nach dieser Argumentation nicht von der alten Satzung abweichen, durch Familienplanung die illegale Abtreibung zu bekämpfen. Der Beschluss der Mitgliederversammlung unterstrich, wie sehr sich die Organisation seit den 1960er Jahren von einem moderaten, ärztedominierten Interessensverein zu einer hauptamtlichen Beratungsorganisation gewandelt hatte. Politisch gesehen lag die Pro Familia Forderung nun auf einer Linie mit den Forderungen der Partei »Die Grünen«. Dies zeigt, wie in der Bundesrepublik der 1980er Jahre die Abtreibungsregelung zu einem parteipolitischen Streitthema geworden war. Pro Familia fand sich dabei auf der Seite linker und feministischer Bildungsbürger*innen wieder und grenzte sich stark von männlichen, konservativen Experten ab, die in dem Verein in den 1960er Jahren noch eine Vertretung ihrer bevölkerungspolitischen oder sexualpolitischen Interessen finden konnten.

Die amerikanische Anti-Abtreibungsbewegung und die Konfliktberatung Viele der Maßnahmen zur Einschränkung des Zugangs zur legalen Abtreibung wurden in ähnlicher Weise auch in den USA erprobt und dann von der deutschen Anti-Abtreibungsbewegung übernommen. Das Hyde Amendment von 1977 verbot in den USA die Kostenübernahme durch die staatliche Krankenversicherung »Medicaid«, während in der Bundesrepublik die CDU erst nach der Wiedervereinigung eine Streichung der Kostenübernahme der Abtreibung durchsetzen konnte.121 Mit der sogenannten »Akron Ordinance« versuchte die Kleinstadt Akron im Bundesstaat Ohio, durch eine Reihe lokaler Richtlinien die Arbeit der örtlichen Abtreibungsklinik zu erschweren. So durften Abtreibungen ab der 13. Schwangerschaftswoche nur in einem Krankenhaus vorgenommen

120 Heinrichs, Jürgen, Wozu weg mit den § 218ff StGB?, In: Pro Familia Magazin 14 (1986) H. 5, S. 25–26, hier S. 26. 121 Zum Hyde Amendment und dem Versuch, zunächst arme Frauen am Zugang zu einer Abtreibung zu hindern, siehe Solinger, Pregnancy, S. 200.

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werden, bei Patientinnen unter 15 Jahren bedurfte es einer elterlichen Einverständniserklärung. Abbrüche durften erst 24 Stunden nachdem die Patientin eine Einverständniserklärung unterschrieben hatte, vorgenommen werden. Ärzt*innen waren verpflichtet, sie über den Status ihrer Schwangerschaft, den Entwicklungsstand des Fötus, der Möglichkeit der Lebensfähigkeit des Fötus außerhalb des Mutterleibs, den physischen und emotionalen Komplikationen des Eingriffs an sich und der Risiken der im Einzelfall angewendeten Abtreibungstechnik, sowie Informationen zu Verhütungsmitteln, Adoption und Geburtshilfe aufzuklären.122 Zwar scheinen einige Maßnahmen, wie die Beratung durch Ärzt*innen über die Art und Risiken des Eingriffs, das Unterschreiben einer Einverständniserklärung oder die 24-Stündige Wartefrist dem Schutz der Interessen der Frau zu dienen, die die Frauenbewegung in ähnlicher Weise für Sterilisationen oder langfristige Verhütungsmittel gefordert hatte. Dennoch zeigt die detaillierte inhaltliche Beschreibung dessen, was die Beratung beinhalten sollte, dass das Ziel die Verhinderung der Abtreibung war. Auf persönliche Wünsche und mögliche Probleme der Schwangeren wurde in der Liste der Beratungsthemen in keiner Weise eingegangen, stattdessen sollte einseitig Wissen vom ärztlichen Personal zur Patientin vermittelt werden. Dieses Wissen umfasste vor allem den Entwicklungsstand und eine vermutete Lebensfähigkeit des Fötus, Risiken des Eingriffs und Alternativen zur Abtreibung. Die Beratung sollte folglich zur Abschreckung dienen und wurde 1983 vom amerikanischen Supreme Court als verfassungswidrig gestrichen. Die Idee, durch Konfliktberatung Frauen von ihrer Entscheidung für eine Abtreibung abzubringen, stammte laut der Historikerin Karissa Haugeberg von einer katholischen Frauengruppe aus Toronto, die 1968 ein erstes Crisis Pregnancy Center gründete. 1973 etablierte Marjorie Mecklenburg, die Mitglied im Aufsichtsrat des National Right To Life Committee (NRTLC) war, das erste Crisis Center in den USA , da sie enttäuscht war, dass sich die zumeist männlichen Aktivist*innen in der NRTLC nur um das Leben des Fötus, aber nicht um die schwangere Frau sorgten.123 Die Pearson Foundation, eine Stiftung des katholischen Bauunternehmers Robert J.  Pearson aus Hawaii, welche seit 1968 Frauenhäuser für unverheiratete Schwangere unterstützt hatte,124 gab 1979 den Leitfaden »How to Start and Operate Your Own Pro-Life Outreach Crisis Pregnancy Center« heraus.125 Crisis Pregnancy Centers, die im Jargon der Pro-Choice-Bewegung als »Bogus Clinics« bezeichnet werden, sollten Frauen mit kostenlosen Schwangerschafts122 Der gesamte Text der »Akron Ordinance« und des Supreme Court Urteils zu dem Fall ist auf der Homepage der juristischen Fakultät der Cornell University online einsehbar: https://www.law.cornell.edu/supremecourt/text/462/416, letzter Zugriff: 02.08.2019. 123 Vgl. Haugeberg, Women, S. 18. 124 Zu Pearson siehe Williams, Defenders, S. 122–123 und Haugeberg, Women, S. 18. 125 Pearson, Robert J., How to Start and Operate Your Own Pro-Life Outreach Crisis ­Pregnancy Center, St. Louis 1979, in: Records of the NOW, Box 77.16–17.

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tests anlocken. Während der dreißigminütigen Wartezeit auf das Resultat sollte eine Diashow mit Horrorbildern über Abtreibungen zeigen, in späteren Jahren wurde auch der genau 30 Minuten lange Film »The Silent Scream« gezeigt.126 Die Zentren wurden meist von Freiwilligen einer Kirchgemeinde betrieben.127 Der Leitfaden riet, dem Center einen neutralen Namen zu geben, der ähnlich klang, wie der einer Abtreibungsklinik. Zudem sollte er idealerweise mit »ABC« beginnen, damit es im Telefonbuch vor der tatsächlichen Abtreibungsklinik im Ort stand.128 Auch sollten die Aktivist*innen versuchen, sich Büroräume im gleichen Gebäude oder im Nachbargebäude anzumieten, um so Frauen, die die Abtreibungsklinik besuchen wollten, in ihr Center zu locken.129 Dass gläubige Mitarbeiter*innen und Freiwillige in den Centern ratsuchende Frauen austricksen und anlügen sollten, wurde in der Anleitung dadurch gerechtfertigt, dass sie damit dem größeren Gut, nämlich der Rettung des »unborn baby and perhaps the soul of that mother« dienen würden.130 Die Beratung in dem Crisis Pregnancy Center sollte erstens abschreckende Informationen über Abtreibungen vermitteln, zweitens Alternativen zur Abtreibung aufzeigen und drittens Konflikte mit den Eltern oder dem Partner der Schwangeren schlichten. Die abschreckenden Informationen entsprachen den Wissensbeständen, die innerhalb der Anti-Abtreibungsbewegung zirkulierten.131 Besonders oft wurde in der Anleitung die angebliche Sterilität als direkte und unausweichliche Folge einer legalen Abtreibung angeführt.132 Dies sollte vor allem junge Frauen abschrecken, die irgendwann in der Zukunft doch noch Mutter werden wollten. Erwachsene, verheiratete Frauen, die ungewollt schwanger waren, wurden nur selten erwähnt. Die imaginierte ungewollt Schwangere war eine Schülerin, die noch bei ihren Eltern wohnte. Da schwerwiegende finanzielle Schwierigkeiten in der Anleitung nie zur Sprache kamen, schienen die imaginierten Eltern der Schwangeren so wohlhabend zu sein, dass sie ein weiteres Kind ohne große finanzielle Probleme großziehen konnten.133 Die abtreibungswillige Frau wurde als weißer Teenager der Mittelschicht vorgestellt, die schwanger wurde, weil sie »lost in our sexual revolution« war.134 Das heißt, sie habe Sex gehabt, weil ihr Medien und die Mainstream-Kultur suggerierten, dies sei in Ordnung.135 Damit schwang neben strikten Geschlechterrollen auch eine Kritik an der sexuellen Freizügigkeit mit, die sich seit den 1960er Jahren durchgesetzt hatte. Da die Zielgruppe der Zentren schwangere Schülerinnen 126 127 128 129 130 131 132 133 134 135

Vgl. Ebd., S. 16; Haugeberg, Women, S.47. Vgl. Pearson, How to Start, S. 14. Vgl. Ebd., S. 4; Haugeberg, Women, S. 45–46. Vgl. Pearson, How to Start, S. 5. Pearson, How to Start, S. 18. Vgl. Ebd., S. 33. Vgl. Ebd., S. 32–33. Siehe hierzu auch Haugeberg, Women, S. 32. Pearson, How to Start, S. 2. Vgl.Haugeberg, Women, S. 26.

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und Studentinnen waren, lautete ein Ratschlag, das Beratungszentrum an einen Ort zu legen, an dem Schülerinnen auf dem Schulweg vorbeikämen.136 Die Argumentationslinie, dass die Schwangere ab dem Moment der Zeugung Mutter sei, insinuierte, dass die Entscheidung zur Elternschaft in dem Moment getroffen wurde, in dem sich das Paar zum Geschlechtsverkehr entschied. Dennoch ließ die Anleitung Raum für eine Entscheidung, wie mit einer ungewollten Schwangerschaft umzugehen sei. Es wurden Hilfen zur Adoption, finanzielle und anwaltliche Unterstützung, ein Platz in einem Mutter-Kind-Heim oder eine Schule, die schwangere Schülerinnen aufnahm, aber auch Umstandskleidung und materielle Hilfen für einen eigenen Hausstand angeboten. Die Beratung nach einem positiven Schwangerschaftstest sollte folgendermaßen aussehen: 1. Explore the situation. 2. Seek to develop an understanding of the situation. 3. Explore the alternatives that have been considered by client. 4. Suggest the alternatives of which the client has been unaware. 5. Supply information of which the client has been unaware. 6. Help the client sort out the ramifications of the various alternatives. 7. Participate in the painstaking and tedious process of making a decision. It is important for the client to see the logic of making a decision to continue her pregnancy and that abortion is not an alternative, but the refusal to look for alternatives.137

Die Entscheidung, die die schwangere Frau, die hier in einer Sprache der Konsumgesellschaft als Klientin bezeichnet wurde, am Ende der Beratung treffen sollte, entsprach einer idealtypischen rationalen Entscheidungssituation. In dieser wurden Informationen als Ressourcen bereitgestellt und die Frau konnte zwischen verschiedenen Optionen wählen. Dies bestätigte die Rolle der schwangeren Frau als Entscheiderin und brachte auch ihre Situation neben dem Lebensrecht des Fötus wieder zurück in die Debatte. Aber die Informationen, auf denen ihre Entscheidung basieren sollte, waren so einseitig, dass die Abtreibung als logische rationale Option entfiel – wer wollte schon ein Kind töten und dabei das Risiko eingehen selbst nie wieder schwanger werden zu können? Die Entscheidung bestand nun nur noch in der Frage, ob die junge Schwangere ihr Kind behalten oder zur Adoption freigeben sollte. Deutsche Anti-Abtreibungsaktivist*innen benutzten einige in dem Handbuch beschriebene Taktiken. Beispielsweise nannte sich eine Anti-Abtreibungskampagne zum deutschen Katholikentag 1982 unter Protesten der Humanistischen Union und des Deutschen Gewerkschaftsbundes »Pro Vita – Wähle das Leben«. Auch eine der baptistischen Freikirchen nahestehende Organisation nannte sich ProVita.138 Dies klang besonders für Menschen, die dem Lateini-

136 Vgl. Ebd., S. 5. 137 Ebd., S. 32. 138 Vgl. Ferree u. a., Shaping, S. 157. Laut eigenen Angaben wurde die Organisation 1980 von dem baptistischen Gynäkologen Wolfgang Furch gegründet, vgl. http://www.drkatzwinkel.de/lebensrechtsinitiative-provita-neuer-form, letzter Zugriff: 11.11.2019.

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schen nicht mächtig waren, ähnlich wie Pro Familia.139 Die Gruppierung »Insel fürs Leben« aus Krefeld schaltete in der Kölner S-Bahn Werbung mit dem Bild eines elf Wochen alten Fötus und der Unterschrift »Abtreiben heißt töten / Babies wollen leben«, genau in den Zügen, die das einzige öffentliche Verkehrsmittel auf dem Weg zur Pro-Familia-Beratungsstelle in Köln-Chorweiler waren. Pro Familia beschwerte sich darüber bei der Deutschen Eisenbahnreklame, da die Werbung Frauen diffamiere und davon abhielt, in die Beratungsstelle zu kommen.140 Auch schaltete die »Insel des Lebens« 1983 Anzeigen im Videotext für Düsseldorf, in denen sie eine Einrichtung bewarb, die unter dem Namen »Soziale Beratungs- und Forschungsgesellschaft« »Hilfsmaßnahmen um den Schwangerschaftsabbruch zu vermeiden« anbot. Außerdem versprach sie Hilfe vor und nach der Geburt für alleinstehende Mütter, finanzielle Hilfen und Hilfen zur Freigabe zur Adoption.141 Hiermit wurde das Prinzip der irreführenden Beratungsstellen auch in der Bundesrepublik eingeführt.142 Andere, radikalere Maßnahmen der amerikanischen Anti-Abtreibungs­ bewegung, wie das sogenannte Side-Walk Counselling, bei dem sich Abtreibungsgegner*innen auf den Bürgersteigen vor einer Abtreibungsklinik positionierten und Frauen im letzten Moment durch grausame Bilder und Gebete noch umstimmen wollten, oder sogenannte »Rescues«, bei denen Abtreibungsgegner*innen durch die Blockade des Eingangs einer Klinik, die mutwillige Zerstörung von Instrumenten oder dem Auslösung eines Feuer- oder Bombenalarms Abtreibungen in letzter Minute zu verhindern suchten, setzten sich in der Bundesrepublik nicht durch.143 Es gab 1980 drei Brandanschläge auf Pro-­ Familia-Beratungsstellen in Hamburg, Bremen und Kiel, die Taten wurden von der ermittelnden Polizei aber einem »vermutlich geistesgestörten« Einzeltäter zugeschrieben.144 Dennoch warf Pro Familia dem Vorsitzenden der katholischen Bischofskonferenz Joseph Kardinal Höffner vor, als Brandstifter agiert zu haben. Höffner hatte in einer Kritik an der weiten Auslegung der Notlagenindikation im Familienplanungszentrum Bremen die Abtreibung als »Mord« bezeichnet und sich auch nach öffentlicher Kritik geweigert, sich von seiner 139 Vgl. Pressemitteilung Humanistische Union »Wähle das Leben«, Imperiale Anmassung (24.08.1982), in: BArch N 1336/758; siehe auch N. N., Gewerkschaftsfrauen wollen das Strafgesetzbuch bereinigen, in: Pro Familia Magazin 14 (1986) H. 1, S. 19. 140 Vgl. Pro Familia Ortsverband Köln, Brief an die Deutsche Eisenbahnreklame GmbH (14.09.1982), in: BArch N 1336/758. 141 Insel fürs Leben, Soziale Beratungs- und Forschungsgesellschaft m.b.H, Brief an Pro Familia (06.04.1983), in: BArch N 1336/757. 142 Ferree u. a. nennen auch den 1990 gegründeten katholischen Verein SOS Leben als Organisation, die Fernsehwerbung in der Bundesrepublik kaufte und den Film »The Silent Scream« verbreitete, vgl. Ferree u. a., Shaping, S. 168. 143 Zu Sit-Ins und Rescues als Protestformen der Anti-Abtreibungsbewegung siehe Hale, Nation, S. 289; Haugeberg, Women, S. 80. 144 Siehe hierzu auch N. N., Protokoll der Pro Familia Mitgliederversammlung 1981, in: BArch N 1336/763.

Die amerikanische Anti-Abtreibungsbewegung und die Konfliktberatung  

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Wortwahl zu distanzieren.145 Im Vergleich zu den USA , wo es laut der Vereinigung Unabhängiger Abtreibungskliniken (NAF) zwischen 1977 und 1993 28 Bombenanschläge, 113 Fälle von Sachbeschädigung, 188 Anzeigen wegen Stalking von Klinikmitarbeiter*innen, 88 Fälle von Körperverletzungen gegen Klinikmitarbeiter*innen, 166 Morddrohungen und zwei Entführungen registriert wurden, blieben die Angriffe auf die Pro-Familia-Beratungsstellen jedoch gering.146 Auch gab es anders als in den USA , wo 1993 erstmals zwei Ärzte durch Abtreibungsgegner*innen ermordet wurden, keine Anschläge auf Personen.147 Darüber hinaus wurden trotz der konstanten Holocaust-Vergleiche durch katholische Bischöfe keine Schauprozesse im Stile der Nürnberger Prozesse gegen Klinikmitarbeiter*innen durchgeführt, wie Abtreibungsgegner*innen sie 1987 in der Kleinstadt Nuremberg (Pennsylvania)  organisierten.148 Laut dem Religionswissenschaftler Jeffrey Kaplan bestand der Unterschied in der Nutzung der Holocaust-Vergleiche darin, dass deutsche Abtreibungsgegner*innen davor warnten, ein neuer Holocaust könne entstehen, während amerikanische Aktivist*innen ihr Land schon inmitten eines »abortion holocaust« sahen und damit Gewalt gegen Abtreibungsärzt*innen rechtfertigten.149 Auch waren sich die deutschen Leitmedien, laut der Soziologin Myra Marx Ferree einig, dass die Gleichsetzung der Abtreibung mit Kindsmord oder dem Holocaust deutsche Diskursnormen verletzte.150 Trotz vieler Parallelen in den Grundsätzen und der Bildsprache wurde die Anti-Abtreibungsbewegung in der Bundesrepublik nie so militant wie in den USA . Proteste äußerten sich meist in Leserbriefen und Demonstrationen. Die Blockade von Abtreibungskliniken setzte sich nicht durch, unter anderem weil es insgesamt nur acht »Abtreibungskliniken« in der alten Bundesrepublik gab, sechs von Pro Familia betriebene Familienplanungszentren und zwei von der Arbeiterwohlfahrt betriebene Kliniken. Die Mehrheit der Abtreibungen wurde weiterhin in öffentlichen Krankenhäusern, Privatpraxen oder Privatkliniken

145 Zu den Äußerung Kardinal Höffners gegenüber Pro Familia Bremen siehe auch Spieker, Manfred, Kirche und Abtreibung in Deutschland, Paderborn ²2008, S. 39–40. 146 Zitiert nach Haugeberg, Women, S. 75. 147 Zu den Statistiken über Mordanschläge seit der Erschießung von Dr. David Gunn in Pensacola, Florida 1993, siehe Hale, Nation, S. 299–300. 148 Laut Ferree u. a. tauchten Vergleiche der Abtreibung mit dem Holocaust in US -amerikanischen Debatten erstmals 1967 auf, als Antwort darauf, dass jüdische Ärzt*innen öffentlich die Freigabe der Abtreibung im Bundesstaate New York unterstützten. Siehe hierzu den Bericht in einer Zeitschrift der Abtreibungsgegner N. N., Nuremberg Tribunal Two Proves a Huge Success, in: Pro Life Action News 5 (Oktober 1985), S. 1–3, Zeitungskopie in: Records of the NOW, Box 69. 12. Siehe hierzu auch Solinger, Pregnancy, S. 226; Hale, Nation, S. 300; Ferree u. a., Shaping, S. 260. 149 Kaplan, Jeffrey, Absolute Rescue. Absolutism, Defensive Action and the Resort to Force, in: Barkun, Michael (Hg.), Millennialism and Violence, Abingdon 1996, S. 128–163, hier S. 145. 150 Ferree u. a., Shaping, S. 258–259.

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Die Anti-Abtreibungsbewegung und die Schwangerschaftskonfliktberatung

durchgeführt, die schwerer zu belagern waren. Auch gab es eine tatsäch­liche politische Unterstützung auf Landes- und Kommunenebene durch die CDU  / ​ CSU, die mehr tat, als die rhetorischen Attacken auf die legale Abtreibung der Regierung Ronald Reagans. Protestformen, wie Sit-Ins oder ziviler Ungehorsam gehörten nicht zum kulturellen Repertoire der deutschen Abtreibungs­ gegner*innen. Krude Holocaust-Vergleiche blieben in der Bundesrepublik die Domäne katholischer Bischöfe, die sich schon aus Habitusgründen nicht mit einem Megafon vor eine Abtreibungsklinik stellten und eine umgedichtete Version von »Give Peace a Chance« sangen. Auch zeigten die vereinzelten Anschläge auf Einrichtungen der Pro Familia keine große gesellschaftliche Wirkung. Weil die bundesdeutschen Medien laut der Ethnologin Michi Knecht wenig wohlwollend über die Anti-Abtreibungsbewegung berichtete, sie als »Ewiggestrige« darstellte und die Anti-Abtreibungsbewegung selbst immer mehr antisemitistische Positionen annahm, verschwanden die »Lebensschützer*innen« in dem 1990er Jahren aus dem kulturellen Gedächtnis der Bundesrepublik, bis die Forderung nach der Kriminalisierung der Abtreibung mit dem Aufstieg der Alternative für Deutschland (AfD) seit 2013 wieder auf die politische Tagungsordnung geriet. Ferree konnte außerdem darlegen, dass in der Bundesrepublik Journalist*innen, die über das Thema Abtreibung berichteten, meist nur Vertreter*innen aller politischen Parteien und der Kirchen zitieren, während sich in den USA Journalist*innen sich Statements von Betroffenen und zivilgesellschaftlichen Organisationen auf beiden Seiten der Kontroverse geben ließen.151 So bekam die Anti-Abtreibungsbewegung in den USA viel mehr Raum in den öffentlichen Medien und erlebte in den Folgejahrzehnten einen neuen Aufwind.152

Wandel der Gesetzgebung nach 1990 Auch wenn die Protestformen der westdeutschen Anti-Abtreibungsbewegung weit weniger radikal waren, erzielte die Bewegung Ende der 1980er Jahre eine Breitenwirkung. Bei einer Großdemonstration in Bonn im Juni 1990 gelang es, 15.000 Menschen auf die Straße zu locken.153 Aufgrund der deutschen Wiedervereinigung musste seit 1990 die gesetzliche Regelung der Abtreibung neu verhandelt werden. Ostdeutsche Frauen, aber auch westdeutsche Verbände wie Pro Familia, die Humanistische Union, die Arbeiterwohlfahrt und die Partei »Die Grünen«, forderten die Übernahme der liberalen Fristenlösung der DDR bis zur zwölften Schwangerschaftswoche, wie sie in den neuen Bundesländern auch weiterhin galt. Der Kompromiss des § 218, der im Mai 1993 in Kraft trat, 151 Vgl. Ebd., S. 85. 152 Vgl. Knecht, Religion, Biologie und Politik, S. 21. 153 Laut Knecht verzeichnete die größte Gruppierung ALFA (Aktion Lebensrecht für Alle) 1990 25.000 Mitglieder, andere Gruppierungen kamen nicht über dreistellige Mitgliederzahlen hinaus, vgl. Ebd., S. 120.

Wandel der Gesetzgebung nach 1990  

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bestimmte, dass die Abtreibung nach der Fristenlösung »straffrei, aber rechtswidrig« ist, a) wenn die Frau den Abbruch verlangt, b) die Durchführung einer Konfliktberatung durch Vorlage einer Beratungsbescheinigung nachweist; c) eine Bedenkzeit von drei Tagen zwischen Beratung und Abbruch eingehalten hat und d)  der Abbruch von einem Arzt innerhalb der Frist von zwölf Wochen seit der Empfängnis durchgeführt wird.154

Eine Krankenkassenfinanzierung gab es nur noch bei einer medizinischen Indikation oder drohenden Behinderung des ungeborenen Kindes. Daher bezeichnete eine Presseerklärung des Pro-Familia-Bundesverbandes zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 28. Mai 1993 diesen Kompromiss als »Indikationenlösung durch die Hintertür«. Es war schließlich weiterhin der Prozess der Indikationsstellung nötig, wenn eine Frau sich die Kosten der Abtreibung alleine nicht leisten konnte. Die Pro-Familia-Mitarbeiterin Uta Maier beschrieb den Kompromiss als »Rückschritt in die Bevormundung« für ostdeutsche Frauen, als Fortschritt für westdeutsche Frauen, die Geld für eine Abtreibung hatten, und als »problematisch« für westdeutsche Frauen ohne Geld.155 Auch wurden mit dem neuen Paragraphen § 218 strengere Auflagen für die Konfliktberatung beschlossen. So sollte die Beratung dem »Schutze des ungeborenen Lebens« dienen, was eine Verpflichtung der Patientinnen zur Darlegung ihrer Beweggründe bedeutete und Berater*innen verpflichtete, Alternativen zur Abtreibung zu präsentieren, etwaige »Fehlannahmen« der Frauen zu korrigieren und an sie zu appellieren, das Kind zu behalten. Dennoch konnten Beratungsstellen bei »nicht-kooperativen Frauen« den Beratungsschein nicht mehr verweigern.156 Die gesetzliche Neuregelung der Konfliktberatung basierte folglich auf der Annahme, dass sich Frauen aus Unwissenheit über Alternativen oder »Fehlannahmen« für eine Abtreibung entschieden hatten und eine Beratung diese Entscheidung rückgängig machen würden. Diese Annahme gründete auf dem Narrativ der Anti-Abtreibungsbewegung, dass Frauen aus Unwissenheit eine Abtreibung durchführen ließen und die Beratung sie vor ihren eigenen Entscheidungen schützen sollte. Dies zeigt, dass die CDU zwar das oben erwähnte Beratungsgesetz von 1987, welches Berater*innen zu einer Beratung zu Gunsten des Erhalts der Schwangerschaft verpflichten sollte, nicht durchsetzen konnte, aber dennoch die Neufassung des § 218 im Sinne der Abtreibungsgegner*innen mitgestaltete. So stellt die Neuregelung des § 218 von 1993 nicht einen pro154 N. N., Erläuterungen zum heutigen § 218-Urteil des Bundesverfassungsgerichts: Presseerklärung des Bundesverbandes vom 28. Mai 1993, in: Pro Familia Magazin 21 (1993) H. 4, S. 28. 155 Maier, Uta, Odyssee mit ungewissem Ausgang. Gestaltungsspielräume des Urteils von Karlsruhe offensiv nutzen, in: Pro Familia Magazin 21 (1993) H. 5, S. 26–29, hier S. 26. 156 Ebd.

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Die Anti-Abtreibungsbewegung und die Schwangerschaftskonfliktberatung

gressiven Fortschritt dar, sondern legte Frauen weiterhin Stolpersteine in den Weg, ihre reproduktiven Entscheidungen umzusetzen. Dennoch bedeutete die Reform, dass Frauen nun selbstständig die Entscheidung für eine Abtreibung im ersten Schwangerschaftsdrittel treffen können und engagierte Berater*innen weiterhin die Möglichkeit haben, ihnen Hilfestellungen bei der Umsetzung zu bieten.

Fazit Mit der Legalisierung der Abtreibung in den USA und Reformen in Westeuropa begann auch die entstehende Anti-Abtreibungsbewegung transnational zu agieren. Der Austausch über den Atlantik hinweg manifestierte sich vor allem im Zirkulieren von Broschüren und Filmen, über die neben Bildmaterial auch konzeptuelle Ideen transportiert wurden. Das Flugblatt des »Tagebuch des Kleinen« ist ein Beispiel dafür, dass der Austausch nicht einseitig von den USA nach Deutschland von statten ging, sondern beiderseitig funktionierte. Jedoch war seit dem Ende der 1970er Jahre die US -amerikanische Perspektive dominant, die durch Broschüren wie »Life or Death« und den Film »The Silent Scream« in die westdeutsche Öffentlichkeit gelangte. Die deutschen und amerikanischen Abtreibungsgegner teilten dabei folgende Grundsätze: Erstens beginne das menschliche Leben mit der Zeugung und daher sei Abtreibung Mord. Zweitens seien traditionelle heteronormative Rollenbilder von der Frau als Mutter und Hausfrau und dem Mann als Ehemann und Versorger durch die Legalisierung der Abtreibung bedroht. In der Bundesrepublik galt unter den Abtreibungsgegner*innen die typische abtreibungswillige Frau als verheiratete Frau ohne Kinder, die aus materiellen Gründen ihre gesellschaftliche Rolle als Mutter vermeiden wollten. In den USA war die typische ungewollt Schwangere eine Schülerin der Mittelschicht, die durch die »sexuelle Revolution« fehlgeleitet wurde, so dass in beiden Figuren eine Kritik an der Moderne und Konsumgesellschaft mit ausgehandelt wurde. Durch die Versuche, mit finanziellen Hilfen zum Kauf einer Waschmaschine, Wohnungseinrichtung oder Umstandsmode Frauen von einer Abtreibung abzubringen, rückte die deutsche Anti-Abtreibungsbewegung wieder materielle Werte in das Zentrum der Debatte, während amerikanische Aktivist*innen hauptsächlich auf die Vermittlung abschreckender medizinischer Informationen setzten. Basierend auf den eigenen konzeptionellen Grundsätzen produzierte die amerikanische Anti-Abtreibungsbewegung seit den späten 1960er Jahren ein eigenes Wissenssystem, das sich immer wieder selbst referierte. Dieses Wissenssystem bestanden aus vier Elementen: (1) aus wissenschaftlich empirisch produziertem Wissen, welches die Grundsätze der Bewegung bestätigte, (2) aus Schätzungen und Annahmen in Prozentzahlen, die Expert*innen innerhalb der Bewegung aufgrund ihrer Grundsätze trafen und in wissenschaftlichen Ausdrucksformen verpackten, (3) aus Wissen, das bewusst produziert wurde,

Fazit 

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um die eigenen Annahmen zu bestätigen, oder (4) aus bewussten Täuschungen. Diese Wissensbestände wurden über Zitationen innerhalb der Bewegung immer weiter verfestigt und trotz empirischer Gegenbeweise nicht hinterfragt. Über Broschüren und Filme diffundierten sie auch nach Deutschland, wo sich der Konflikt jedoch anders entwickelte. Indem die amerikanische Anti-Abtreibungsbewegung eigene Beratungsstellen einrichtete, bestätigte sie die Praxis, dass Frauen die Entscheiderinnen über eine Abtreibung waren. Aufgrund ihrer Grundsätze gingen die Abtreibungsgegner*innen davon aus, dass Frauen sich nur aus Unwissenheit über den Beginn des Lebens, der Gefahren einer Abtreibung oder finanziellen Problemen für eine Abtreibung entschieden. Damit bestätigten sie, dass Reproduktionsentscheidungen rational getroffene Entscheidungen waren, die basierend auf allen verfügbaren Informationen verschiedene Alternativen gegeneinander abwogen. Die Informationen, die die Bewegung zur Verfügung stellte, sollten so drastisch sein, dass die Abtreibung als Option entfiel. In dieser Logik wurde die Frau aufgrund ihres Mangels an Informationen unfähig, die richtige Entscheidung zu treffen und empfand nach der Abtreibung Schuldgefühle, die zu einer posttraumatischen Belastungsstörung führte. Dass eine Frau sich »trotz besseren Wissens« für eine Abtreibung entschied, passte nicht in die Geschlechtervorstellungen der Bewegung, die eine Frau alleine in ihrer natürlichen Mutterrolle sah. Kollektive Argumente, etwa, dass die legale Abtreibung auch zu einer gesellschaftlichen Akzeptanz der Sterbehilfe oder Euthanasie führen würden, kamen trotz der Holocaust-Vergleiche nicht vor, so dass sich die Abtreibungsgegner*innen in ihrer Beratungspraxis allein auf den individuellen Fötus und seine Mutter beschränkten. Während es in Deutschland zumindest geringfügige finanzielle Hilfe gab, war das Leben des Fötus und der Mutter nach der Geburt in den amerikanischen Quellen abwesend. Es ging allein um das Leben des idealisierten Ungeborenen und den Erhalt der Schwangerschaft um jeden Preis.

Fazit: »Kinder wünschen, Kinder kriegen, Kinder haben.« Der Wandel des reproduktiven Entscheidens von 1952 bis 1992

»Für meine Mutter war Familie oder verheiratet und Kind einfach das Höchste. Das ist es heute nicht mehr, weil sich jeder ein wenig selbst verwirklichen möchte und nicht nur verzichten. Und das ist halt bei der Frau so, die verzichtet halt dann doch mehr.«1 So wurde eine 24-jährige Teilnehmerin an einer Studie des Deutschen Jugendinstituts zu Lebensentwürfen junger Frauen im »Pro Familia Magazin« im Sommer 1992 zitiert. Die junge Frau gab an, dass sie zwar Kinder gern hatte, aber sich nicht vorstellen konnte, innerhalb der nächsten fünf Jahre Mutter zu werden, da sie befürchtete »einfach aufgegessen [zu] werden von den Kindern und dem Mann, der dann auch noch was erwartet.«2 Das Zitat sollte verdeutlichen, wie sich die Lebensentwürfe der Mutter, die in den 1960er eine Familie gegründet hatte, zu denen der Tochter gewandelt hatten. Auch zeigte das Zitat, dass die junge Frau nun die Wahl zwischen Mutterschaft und einem unabhängigen Single-Leben hatte. Das Konzept der Familienplanung hatte sich vollends in der Bundesrepublik Deutschland durchgesetzt. Zwischen den beiden Polen der Selbstverwirklichung und der Aufopferung für die Familie musste die junge Frau nun diverse Reproduktionsentscheidungen treffen. Die Frage nach dem Kinderwunsch an sich gelangte durch die Debatte um den § 218 und die Konfliktberatung seit Anfang der 1980er Jahren zurück ins Zentrum der Kontroversen über reproduktives Selbstentscheiden. Die Debatte um die Schwangerschaftskonfliktberatung hatte seit den frühen 1980er Jahren die Frage aufgebracht, ob jede Frau einen inhärenten Kinderwunsch besaß und daher therapiebedürftig sei, wenn sie eine Schwangerschaft nicht austragen wollte. So sprach sich der Psychoanalytiker Klaus Menne 1981 in einer Rezension eines Aufsatzes der Pädagogin Barbara Knieper im »Pro Familia Magazin« dafür aus, Frauen, die in die Konfliktberatung kamen, ihren unbewussten Kinderwunsch bewusst zu machen und ihnen so zu helfen, eine rationale Entschei1 Zitiert nach Keddi, Barbara, Junge Frauen und Kinderwunsch, in: Pro Familia Magazin 20 (1992) H. 4, S. 1–2, hier S. 1, das Zitat im Titel stammt aus einer Studie über Familienplanung in Unterschichtfamilien von 1981, vgl. N. N., Kinder wünschen, Kinder kriegen, Kinder haben. Auskünfte aus einer Studie über Unterschichtfamilien, in: Pro Familia Magazin 9 (1981) H. 5, S. 25–26, hier S. 25. 2 Keddie, Junge Frauen, S. 1.

Fazit

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dung zum Erhalt einer Schwangerschaft zu treffen.3 Dagegen argumentierte Knieper in einer Replik an Menne, dass es ein »biologistisches« Argument sei, von einem unbewussten Kinderwunsch jeder Frau auszugehen, und dass der Kinderwunsch erst seit dem 18. Jahrhundert historisch-diskursiv entstanden sei.4 Stattdessen würden erst die Hürden zum Zugang zu einer Abtreibung die Frau in eine Krise führen. Seit dieser Auseinandersetzung veröffentlichte das Pro Familia regelmäßig weitere Beiträge von Berater*innen und empirisch arbeiteten Sozialforscher*innen zu der Frage, ob es einen allgemeinen Kinderwusch gäbe, der durch äußere Umstände unterdrückt wurde oder es Frauen gab, die psychisch gesund waren und einfach keine Kinder wollten. Laut der Jugendstudie von 1992 blieb die Anzahl der Leute, die kategorisch keine Kinder wollten, von 1962 bis 1992 konstant bei 10 Prozent. Die Anzahl derer, die aufgrund äußerer Umstände ambivalente Einstellungen zur Elternschaft besaßen, stieg jedoch stetig.5 Die Studie hob hervor, dass erst mit der Verfügbarkeit zuverlässiger Verhütungsmittel der Kinderwunsch als Resultat von Entscheidungen verstanden werden konnte. Sie zeigte, dass sich Elternschaft und Lebensentwürfe innerhalb von drei Generationen grundlegend gewandelt hatten. Kinder galten nicht mehr als Geschenk Gottes oder als unausweichliches Schicksal. Auch ging es nicht mehr darum, zu viele Kindern zu verhindern. Stattdessen sollte das Kinderkriegen ein bewusst geplanter Prozess sein, an dessen Anfang Entscheidungen standen, die Frauen nun treffen mussten. Wollten sie heiraten und Kinder kriegen? Wenn ja, wie viele? Welches Verhütungsmittel würden sie nutzen? Was würden sie im Falle einer ungeplanten Schwangerschaft tun? Eine Abtreibung erwägen? Das Kind austragen und zur Adoption freigeben? Das Kind behalten und finanzielle Hilfen bei der Bundesstiftung »Mutter und Kind« beantragen? Was würde sie im Falle von Unfruchtbarkeit tun? Familie wurde so zu etwas Planbarem, das ideale Kind wurde das Wunschkind, für das sich seine Eltern bewusst entschieden hatten. Dabei dienten die neuen Technologien in erster Linie nicht dazu, Frauen zu emanzipieren und Familienformen zu pluralisieren. Stattdessen sollten sie traditionelle Familien­ formen stärken, etwa indem Verhütungsmittel es Müttern ermöglichten, die Zeit zwischen zwei Geburten auszudehnen und so ihre Gesundheit zu schonen. In ähnlicher Weise sollte der Ultraschall dazu genutzt werden, um Frauen von einer Abtreibung abzubringen. Neue Reproduktionstechnologien soll3 Mennes Argument war, dass der Kinderwunsch nicht biologisch, sondern psychoanalytisch zu erklären sei, er würde »auf die ödipale Situation zurückgeführt, in der sich das Mädchen vom Vater ein Kind wünscht,« Menne, Klaus, Handeln und Kinderwunsch. Zur Begründung von Schwangerschaftskonflikt-Beratung, in: Pro Familia Magazin 9 (1981) H. 2, S. 3–8, hier S. 6. 4 Vgl. Knieper, Barbara, Der Handel um den Kinderwunsch. Antwort auf Klaus Menne, in: Pro Familia Magazin 9 (1981) H. 2, S. 8–11, hier S. 9–10. 5 Vgl. Keddi, Junge Frauen, S. 1.

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Fazit

ten zunächst helfen, kinderlosen heterosexuellen Paaren die Elternschaft zu ermöglichen. Die Etablierung der Familienplanung als Konzept zur bewussten Entscheidung für Nachwuchs wurde von vier Entwicklungen getragen – der Entstehung des Wunschkindideals, der Verbreitung des Ideals durch den zivilgesellschaftlichen Verein Pro Familia, dem Spannungsverhältnis zwischen eugenischen und emanzipatorischen Tendenzen innerhalb der Organisation und dem steigenden Bedarf an Wissen als wichtigste Ressource des reproduktiven Entscheidens. Das Wunschkindprinzip wurde, so die ersten These dieses Bandes, handlungsleitend für Familienplanungsprogramme seit den 1940er Jahren bis zur Abtreibungskontroverse in den 1980er Jahren. Die Figur des Wunschkindes entstand als positiver Gegenentwurf zum ungewollten Kind. Dieses wurde in den US -internen Debatten der späten 1940er Jahre als Gefahr für die Gesellschaft deklariert, als Familienplaner*innen im Kontext der Sorgen um Jugendkriminalität und den Ängsten des Kalten Krieges psychoanalytische Ansätze nutzten, um die Bedeutung frühkindlicher Prägung zu erklären. Ungeplante Kinder, die ungewollte Kinder wurden, würden zu Neurosen im Erwachsenenleben neigen und eher Kriminelle oder Despoten werden. Sie stellten daher eine Gefahr für die Gesellschaft dar. Als das Konzept der Familienplanung in die konservative Bundesrepublik der 1950er Jahre kam, erschien das Wunschkind als positives Gegenbild. Das Wunschkind wurde von seinen Eltern geliebt und hatte beste Startvoraussetzungen, um zu einem vollwertigen Mitglied der Gesellschaft heranzuwachsen. Selbst konservative Politiker*innen konnten sich seiner symbolischen Kraft nicht entziehen. Auch Feminist*innen der frühen 1970er Jahren setzten auf das Bild, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Erst die transnational agierende Anti-Abtreibungsbewegung stellte das Wunschkindnarrativ in Frage, in dem sie die Verknüpfung zwischen ungeplanten und ungeliebten Kindern kritisierte. Stattdessen konstruierte sie das Bild des Ungeborenen als hilfloses, unschuldiges und schützenswertes Wesen, interessierte sich jedoch wenig für das Leben der Mutter und des Kindes nach der Geburt. Aber auch aus anderen Gründen war die Figur des Wunschkindes problematisch. In der Gegenüberstellung des gewünschten und des ungewollten Kindes schwangen immer eugenische Vorstellungen mit, die bestimmte Kinder aufgrund ihrer Zeugungsumstände als Gefahr für die Gesellschaft markierten und so Kinder nach qualitativen Kriterien und ihrem gesellschaftlichen Nutzen bewerteten. Im Bild des Wunschkindes vermischten sich gemeinschaftliche Ängste mit individuellen Wünschen, da es von der Entscheidung der einzelnen Frau abhing, ob eine Schwangerschaft akzeptiere und ein Kind zu einem Wunschkind wurde. Das Wunschkind schwankte so zwischen den bevölkerungsplanerischen und emanzipatorischen Tendenzen der bundesdeutschen Gesellschaft. Um die Akzeptanz einer ungewollten Schwangerschaft zu ermöglichen, forderten Befürworter*innen der Reform des § 218 im Rahmen der Strafrechts­ reform von 1963 die Freigabe der Abtreibung bei krimineller Indikation. Damit sollten sich Frauen, die Opfer von Vergewaltigungen wurden, bewusst und ohne

Fazit

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Strafandrohung für ein Kind entscheiden können. Dies zeigt, dass Konzepte des Entscheidens zentral waren für die Emergenz des Wunschkindprinzips. Frauen mussten sich bewusst für die Austragung eines Kindes entschließen, idealerweise schon vor dem Eintreten einer Schwangerschaft. Paare sollten so zu Beginn ihrer Ehe bewusst planen, wie viele Kinder sie bekommen wollten. Dies stellte einen diskursiven Wandel zu der Forderung nach »Geburtenkontrolle« der 1920er und 1930er Jahre dar, als Aktivistinnen wie Margaret Sanger den Einsatz von Verhütungsmitteln gefordert hatten, um die Geburt des sechsten oder siebten Kindes zu vermeiden. Nun sollte aber schon das erste Kind bewusst geplant werden. Der begriffliche Wandel von »birth control« zu »Planned Par­ enthood« und von »Geburtenkontrolle« zur »Familienplanung« bestand nicht nur aus einem strategischen Wandel und dem Gebrauch von Euphemismen, sondern stellte auch einen konzeptionellen Umbruch dar. Die bewusste Planung der Familie bedingte eine Vielzahl von Entscheidungen, die der verheirateten Frau zugemutet wurden. Eine Frau musste seit den 1950er Jahren zunächst die Entscheidung treffen, ob sie überhaupt eine Familie planen wollte, seit der Markteinführung der Pille in den 1960er Jahren, welches Verhütungsmittel sie nutzte, und mit der Reform der Abtreibungsgesetzgebung der 1970er Jahre, ob sie eine ungewollte Schwangerschaft abtreiben lassen sollte. Die idealtypische Entscheidung, die Broschüren, Berater*innen und selbst Leitfäden der Anti-Abtreibungsbewegung beschrieben, war eine rationale Entscheidung, bei der die Frau verschiedene Ressourcen nutzte, alle Alternativen abwägte und dann eine Entscheidung traf. Der Begriff des Rationalen hatte sich dabei von einem rein ökonomischen Konzept bei Alfred Grotjahn in der Weimarer Republik zu einem komplexen Entscheidungsprozess gewandelt, der auch emotionale, religiöse und soziale Komponenten beinhaltete. Da in den späten 1970er Jahren selbst die Anti-Abtreibungsbewegung den Prozess des Entscheidens für das Austragen einer Schwangerschaft befürwortete, manifestierte sie so die Norm, dass die Frau die letztendliche Entscheidung über ihre Reproduktion selber traf. Ärzt*innen, die noch in der Abtreibungsregelung von Roe v. Wade zusammen mit der Frau entscheiden sollten, wurden so aus der Entscheiderrolle heraus gedrängt. Berichte von Frauen, die Briefe an Pro Familia schrieben und um Auskunft baten, oder im Rahmen eines Protestes für reproduktive Rechte ihre Entscheidung für eine Abtreibung öffentlich machten, zeigen, dass für Frauen vor allem das Wohl ihrer schon geborenen Kinder und Ehemänner zentral war, und sie Reproduktionsentscheidungen nicht egoistisch trafen. Indem sie sich ihre eigene Zukunft und die ihrer Familie mit oder ohne ein weiteres Kind in einem oder fünf Jahren vorstellten, nutzten sie die Entscheidungsform der imaginierten Zukunft.6 Ihre Partner wurden bis in die 1980er Jahre selten als Zielgruppe der Familienplanung betrachtet. Erst die Familienplanungszentren der 1980er Jahre richteten sich dezidiert auch an Männer, während Abtreibungs6 Zu imaginierten Zukunftsvorstellungen, siehe Beckert, Jens, Imagined Futures, Fictional Expectations and Capitalist Dynamics, Cambridge 2016, S. 61.

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Fazit

gegner*innen versuchten, über die Partner die schwangeren Frauen zu erreichen und sie von einer Abtreibung abzuhalten.7 Der zivilgesellschaftliche Verein Pro Familia, so die zweite These dieses Bandes, war zentral für die Etablierung des Konzepts der Familienplanung in der Bundesrepublik Deutschland. Die Geschichte der Organisation kann in drei Phasen unterteilt werden, erstens die Entstehungsphase von der Vereinsgründung 1952 bis in die frühen 1960er Jahre, zweitens die Phase der Konsolidierung seit der Einführung der Anti-Baby-Pille 1961 und drittens die Phase der Expansion seit der Teilnahme an der Schwangerschaftskonfliktberatung im Kontext der Abtreibungsreform ab 1974. In der ersten Phase wurde die Gründung einer Familienplanungsorganisation hauptsächlich durch den Aktivismus der weiblichen Mitglieder und die Nachfrage der deutschen Bevölkerung nach sicheren Methoden der Geburtenkontrolle vorangetrieben. Zunächst wurde auch eine Eingliederung in die internationale Bevölkerungspolitik durch Margaret Sanger und der IPPF anstrebt, um so an finanzielle und ideelle Ressourcen zu gelangen. Überbevölkerung spielte in den Programmen der Pro Familia an sich keine große Rolle, da eher der Rückgang des Bevölkerungswachstums als gesellschaftliches Problem erachtet wurde. Statistiken zum Bevölkerungsrückgang interpretierte der Vereinspräsident Hans Harmsen so, dass Familien hauptsächlich auf das dritte und vierte Kind verzichteten und die Frage nach der Kinderzahl mit dem Zugang zu ausreichendem Wohnraum verknüpft war. Während reformierte Eugeniker wie Harmsen und Hans Nachtsheim, aber auch Ärzte wie Heinrich Gesenius, Richard Kepp oder Heinz Kirchhoff in der Pro Familia eine Institution fanden, in der sie ihre wertekonservativen Vorstellungen von Familienplanung umsetzen konnten, waren es Ärztinnen und Sozialarbeiterinnen, von denen die Initiative zur Beratungstätigkeit für Frauen ausging. Aktivistinnen wie Anne-Marie Durand-Wever, Ilse Léderer, Ilse Brandt und Eva Hobbing waren diejenigen, die auf Graswurzelebene feministische Ideen vertraten, die ersten Beratungsstellen aufbauten und Netzwerke zu internationalen Aktivistinnen pflegten. Sie verfolgten vor allem pragmatische Ziele, etwa Frauen vor Strafverfolgung wegen illegaler Abtreibung zu schützen oder instabile Ehen von Kriegsheimkehrern durch Sexualberatung zu stabilisieren. Während es Harmsen gelungen war, durch seine Festschriften und Oral History Interviews seine Führungsrolle in der Geschichtsschreibung über Pro Familia festzuschreiben, waren es die Frauen, die tatsächlich die Familienplanung in Westdeutschland etabliert hatten.

7 So sprach etwa der Anti-Abtreibungsaktivist Joseph Scheidler Partner der schwangeren Frauen bei Protesten vor Abtreibungskliniken explizit an, die betroffenen Schwangeren aber nicht, vgl. D., Leslie, Transcript on an Audiotape of [Joseph] Scheidler et al picketing Fort Wayne Women’s Health Organization (11.08.1979), in: Records of the NOW, Box 68.38.

Fazit

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Die zweite Phase der Pro Familia setzte mit der Markteinführung der AntiBaby-Pille 1961 ein, als die Ärztinnen der Pro Familia, vor allem Anne-Marie Durand-Wever, die deutsche Öffentlichkeit und Ärzteschaft über das neue Verhütungsmittel, dessen Verschreibungspraxis und mögliche Nebenwirkungen informierten. Der Contergan-Skandal hatte in der Bundesrepublik große Auswirkungen auf die Einführung der Pille, da Ärzt*innen zeitgleich mit der Markteinführung der Pille begannen, einen Zusammenhang zwischen Contergan und der Geburt von Kindern mit Behinderungen festzustellen. Dies erklärt, warum Ärzt*innen und Pro Familia in der Bundesrepublik zunächst sehr vorsichtig in der Verschreibung der Pille waren, diese nur an verheiratete Frauen ausgaben, und den Zusammenhang zwischen der Pille und Thrombosen schon 1962 veröffentlichten. Die strikte Verschreibungspraxis und die Informationspolitik der Pro Familia über die Thrombosegefahr der Pille waren ausschlaggebend für zunächst zurückhaltende Nutzung in den 1960er Jahren und die dann steigenden Nutzerinnenzahlen ab 1970. Aufgrund der strikten Verschreibungsrichtlinien protestierten Frauen in der Bundesrepublik, anders als in den USA , wo ihnen in Beratungsstellen von Planned Parenthood die Pille quasi aufdrängt wurde, zunächst für einen besseren Zugang zur Pille und nicht für bessere Informationen über Nebenwirkungen. Neben Thrombosen war die Sorge, dass die Pille erbgutschädigend sein könnte, ein weiterer Grund für die zaghafte Verschreibungspraxis. Dies zeigt, dass eugenisches Gedankengut weiterhin Platz in den Programmen der Familienplanungsorganisation fand. Die Verfügbarkeit der Pille allein führte nicht zum Rückgang der Geburtenraten oder zu mehr vor- und außerehelichem Sex. Als 1964 die Geburtenraten in der Bundesrepublik zu sinken begannen, hatte nur ein kleiner Teil der Frauen Zugang zur Pille und die hohen Zahlen an »Früh- und Mußehen« zeigen, dass außerehelicher Sexualverkehr eine gängige Praxis war. Jedoch führten die Proteste gegen die päpstliche Enzyklika Humanae Vitae, die Debatten um den Geburtenrückgang und die Verschreibung der Pille an Jugendliche im Sommer 1968 zu einer Verschiebung des Sagbaren, da Frauen, die gesellschaftlich Distanz zu den Studentenprotesten des Frühjahrs 1968 hatten, den Zugang zu sicheren Verhütungsmitteln forderten. So wurde es konsensfähig, flächendeckend Sexualkundeunterricht in Schulen einzuführen und den Zugang zur Pille für minderjährige und unverheiratete Frauen zu erleichtern. Die dritte Phase der Geschichte der Pro Familia wurde eingeleitet mit Hans Harmsens Sinneswandel 1967 die legale Abtreibung als sicheren Eingriff zu bewerten, zunächst auch aus eugenischen Überlegungen. Die Zustimmung des Vorstandes 1971 zu einer Reform des § 218 und der Befürwortung der Fristenlösung, die den Weg für die Teilhabe an der Modellberatung ab 1974 ebnete, kam jedoch auf Druck der Frauenbewegung zustande, die eine Freigabe der Abtreibung forderte. Dieser Entschluss markierte die Abkehr des Vereins von dem Gründungsgrundsatz, durch Verhütungsmittel die (illegale) Abtreibung bekämpfen zu wollen. Zeitgleich erlangte das Selbstentscheidungsrecht der einzelnen Frau durch die Teilnahme an der Reform des § 218 eine immer

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Fazit

privilegiertere Stellung in den Zielen des Vereins, so dass dieser zu Beginn der 1980er Jahre sich an der Vorderfront der Befürworter*innen einer weiteren Liberalisierung des Abtreibungsgesetzes wiederfand. Obwohl Pro Familia in den ersten 20 Jahren ihrer Geschichte hauptsächlich eine Expert*innenorganisation war, die sich auf politischer Ebene für einen gesetzlichen Wandel einsetzte, Ärzteschulungen veranstaltete und nur wenige eigene Beratungsstellen betrieb, wandelte sich die Organisation schlagartig mit der Teilnahme am Modellversuch zur Schwangerschaftskonfliktberatung ab 1974. Die Anzahl der Beratungsstellen wuchs auf 136 und die neu eingestellten Mitarbeiter*innen waren studierte Pädagog*innen und Soziolog*innen, die von der Frauenbewegung und Studentenbewegung beeinflusst waren. Als ab 1979 in Bremen und Hamburg erste Familienplanungszentren entstanden, die auch ambulante Abtreibungen anboten, manifestierte dies den Wandel der Pro Familia zu einer sozialen Serviceorganisation. Dadurch wurde die Pro Familia von einem Interessensverband, der durch die Familienplanung illegale Abtreibungen verhindern wollte, zu einem progressiven politischen Verein, der die komplette Freigabe der Abtreibung forderte. Durch diesen Wandel wurden die alten Herren der westdeutschen Familienplanung innerhalb der Pro Familia marginalisiert und ihre Rolle im Nationalsozialismus kritisch hinterfragt. Sie selbst zogen sich zurück, wie Harmsen durch einen Rücktritt aus vorgeschoben Gründen, oder verstarben. Einige Expert*innen, die Pro Familia in den frühen 1980er Jahren aus Protest gegen die liberale Einstellung zur Abtreibung verließen, unterstützten bald darauf die Anti-Abtreibungsbewegung mit ihrer Expertise.8 In den 1980er Jahren wurde Pro Familia schließlich zu einer Organisation, in der eugenisches Gedankengut keinen Platz mehr fand. Während Planned Parenthood in den USA Programme der Familienplanung zur Armutsbekämpfung an ethnische Minderheiten richtete, zielten in der Bundesrepublik ähnlich gelagerte Programme auf die eigene Unterschicht. Harmsen fand Inspirationen zur Begrenzung der Kinderzahl in Obdachlosensiedlungen bei Maßnahmen in Großbritannien oder Kolumbien. Migrantinnen wurden erst als Klientinnen der Pro Familia ernst genommen, als diese in den 1970er Jahren überproportional häufig in die Schwangerschaftskonfliktberatung kamen. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich feministische Prinzipien des Selbstentscheidungsrechts innerhalb der Organisation durchgesetzt, so dass Mitarbeiter*innen feministische Methoden wie das Consciousness Raising unter türkisch-stämmigen Hausfrauen ausprobierten. 8 So verbreitete der 1980 bei Pro Familia ausgetretene Psychologe Peter Petersen 1988, dass Frauen nach Abtreibungen an seelischen Störungen litten. Die mit ihm zusammen ausgetretene Ingeborg Retzlaff lehnte die Markteinführung der Abtreibungspille RU 486 mit dem Argument ab, dass sie traditionelle Frauenrollen unterminiere, vgl. Ulrich, Gerald, Folgen nach und Folgen vor…, in: Pro Familia Magazin 16 (1988) H. 2, S. 21–22, hier S. 21; Gieseler, Daniela, Konsequenzen. Frankfurter Konferenz zu RU 486 provoziert Perspektivwechsel, in: Pro Familia Magazin 21 (1993) H. 1, S. 28–29, hier S. 28.

Fazit

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Um von den bevölkerungspolitischen Zwängen der IPPF und amerikanischer Geldgeber finanziell unabhängig zu werden, bemühte sich Pro Familia seit den frühen 1960er Jahren zunächst um finanzielle Unterstützung durch Kommunen und einzelne Bundesländer. Zwar dienten die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Beraterverträge mit Kondomherstellern und Krankenkassen als weitere Geldquellen, aber die Abhängigkeit von öffentlichen Geldern bedeutete für Pro Familia auch, dass sie sich der strikten gültigen Sexualmoral der frühen 1960er Jahre verschreiben musste und etwa öffentlich keine Werbung für die Beratung unverheirateter Frauen machen durfte. Die Rückbesinnung auf eine konservative Sexualmoral in den 1950er Jahren kann als bewusste Abgrenzung von der nationalsozialistischen Sexualpolitik verstanden werden, genauso die Einschränkung der Sterilisation, die Ablehnung einer Reform des § 218 in den 1960er Jahren, die Ausdehnung reproduktiver Rechte durch die Frauenbewegung, die strikte Ablehnung der Freigabe der Abtreibung durch die katholische Kirche und die »Lebensschutzbewegung«. So basierten alle familienpolitischen Maßnahmen auf einer bewussten Abgrenzung von der rassistischen Bevölkerungspolitik des Nationalsozialismus. Dennoch fanden eugenisch denkende Sozialexperten, wie Hans Harmsen und Hans Nachtsheim, zunächst eine Heimat in der Pro Familia. Besonders Hans Harmsen dient als illustratives Beispiel dafür, wie ein biologistisches Weltbild in verschiedene Regime eingepasst werden konnte. Der Sozialhygieniker versuchte zunächst bis 1937 die eugenischen Gestaltungsideen seines Doktorvaters Alfred Grotjahn im Nationalsozialismus umzusetzen. Eugenische Sterilisationen befürwortete er, Abtreibungen aus eugenischen Gründen und Euthanasie lehnte er jedoch ab. Da er die Umsetzung des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses unterstützt, aber selbst keine Zwangssterilisationen durchgeführt hatte, konnte er in der frühen Bundesrepublik als unbelastet gelten. Durch seine Teilnahme an Expertenkommissionen, seine Verbandsmitgliedschaften und seine Autorenschaft von Broschüren und Zeitungsartikeln erreichte er eine weitaus größere Reichweite als im Nationalsozialismus. Ihm gelang eine Wendung hin zur Betonung individueller Werte bei der Legalisierung der freiwilligen Sterilisation, der Verbreitung der Pille und der Reformierung der Abtreibung. Dennoch basierten seine Forderungen, Abtreibungen aus »Sicht des Kindes« zu legalisieren, weiterhin auf einer biologistischen Denkweise, die Nachwuchs in qualitative Kategorien einteilte. Anders als in der Bundesrepublik, wo der Nationalsozialismus für alle bevölkerungspolitischen Maßnahmen eine Bezugsgröße blieb, spielte die Abgrenzung zu den NS -Verbrechen in den amerikanischen Debatten eine untergeordnete Rolle. Zwar begründete Margaret Sanger ihr Engagement zur Eingrenzung des Bevölkerungswachstums in Japan und Deutschland mit Hitlers Verlangen nach »Lebensraum« und frühe Broschüren von Planned Parenthood betonten die Überlegenheit des Liberalismus gegenüber Faschismus und Kommunismus. Aber erst die Anti-Abtreibungsbewegung stellte seit den 1970er Jahren regelmäßig Zusammenhänge zwischen der legalen Abtreibung und dem Holocaust

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her. Indem sie behaupteten, die USA befänden sich mitten in einem Holocaust gegenüber Ungeborenen, begründeten sie Gewalt gegen Klinikmitarbeiter*innen und Ärzt*innen. Diese Annahme setzte sich in der Bundesrepublik trotz konstanter Holocaust-Vergleiche der katholischen Bischöfe nicht durch, weil in der Bundesrepublik der Holocaust als singuläres Ereignis gedacht wurde, welches sich nicht zu kruden Vergleichen eignete. Die Beschäftigung mit der Geschichte der Pro Familia zeigt, so die dritte These dieses Buches, dass es innerhalb der Bewegung zur Familienplanung ein Spannungsverhältnis zwischen feministisch-emanzipatorischen und eugenisch-bevölkerungspolitischen Tendenzen einzelner Aktivist*innen gab. Langfristig setzte sich die feministische Perspektive durch, da das Selbstentscheidungsrecht von Frauen immer größere Bedeutung innerhalb der Familienplanungsorganisation gewann. Diese Entwicklung fand jedoch nicht ohne Brüche und Rückschritte statt, etwa wenn Aktivist*innen die kostenlose Ausgabe der Pille an Frauen in Obdachlosenheimen propagierten oder die Sorge um behinderte Kinder als Argument für die Legalisierung der Abtreibung anbrachten. Die Entwicklung war eng verknüpft mit Aushandlungsprozessen zwischen individuellen und kollektiven Motiven in der Familienplanung. So machte die Betonung der individuellen Entscheidungsebene zunächst selbst eugenisch konnotierte Konzepte der Bevölkerungsplanung in der Bundesrepublik wieder salonfähig. Während eine Kommentatorin schon 1934 sarkastisch bemerkte, dass alles Individuelle im Nationalsozialismus den Werten der Volksgemeinschaft weichen musste,9 nutzten Hans Harmsen und andere Eugeniker in den 1950er Jahren genau die Betonung des Individualismus, um die eugenische Forderung nach der Legalisierung der weiblichen Sterilisation in der frühen Bundesrepublik wieder sagbar zu machen. In den USA wurden zwar in den ersten landesweiten Kampagnen nach dem Zweiten Weltkrieg der Individualismus betont, im Kampf gegen die Überbevölkerung standen jedoch globale und kollektive Werte im Vordergrund. Erst durch die Proteste der afro-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung gegen bevölkerungspolitisch motivierte Programme in afroamerikanischen Gemeinden änderte der Planned-Parenthood-Vorsitzende Alan F. Guttmacher seine Meinung und betonte den Voluntarismus. Individualismus war zentral für die Forderung der neuen Frauenbewegung nach dem Selbstentscheidungsrecht der Frau, genauso wie in der Betonung von Gegner*innen der legalen Abtreibung, dass das Leben mit dem Vorhandensein 23 eigener Chromosomenpaare beginne. Mit der Ablehnung zuverlässiger langfristiger Verhütungsmittel bewegte sich die Frauenbewegung in den 1980er Jahren wieder weg von einer Betonung individueller Werte hin zu einer Privilegierung kollektiver Entscheidungsmotive. Spiralen oder Drei-Monats-Spritzen konnten

9 Vgl. Szugunn, Ilse, Brief an Margaret Sanger (14.09.1936), Margaret Sanger Papers, 1900– 1960, Microfilmed, Library of Congress, Reel 14.

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für einzelne Frauen ein Segen sein, stellten aber Gefahren des Missbrauchs besonders für nicht-weiße Frauen dar, wenn diese aufgedrängt wurden ohne über Nebenwirkungen aufzuklären. Während in den USA ungewollt schwangere Frauen als Klientinnen bezeichnet wurden und das Boston Women’s Health Book Collective Verhütungsmittel im Stile der Zeitschrift »Consumer Reports« bewertete, waren sich in der Bundesrepublik alle Diskursteilnehmer*innen darin einig, dass reproduktiven Entscheidungen keine Konsumentscheidungen sein sollten. Die Frau, die sich aus materiellen Gründen für ein Auto oder eine Wohnungseinrichtung und gegen ihre traditionelle Rolle als Mutter entschied, galt als Schreckgespenst, dessen Existenz unbedingt vermieden werden sollte. So gingen Gegner*innen der legalen Abtreibung davon aus, dass Frauen sich genau aus diesen Gründen für eine Abtreibung entschieden, da langfristige finanzielle Probleme durch den Sozialstaat abgefangen werden konnten. Daher hielten sie kurzfristige finanzielle Hilfen eine Möglichkeit, Frauen von der Abtreibung abzuhalten. Befürworter*innen der Freigabe der Abtreibung betonten hingegen, dass die Krisensituationen der Frauen oft zu komplex waren, als dass einfache materielle Hilfen eine Lösung darstellten. Dies zeigt, dass in der Bundesrepublik die ideale reproduktive Entscheidung auf individuellen und nicht-materiellen Werten basieren sollte. Welche Werte genau privilegiert wurden, wurde von unterschiedlichen Akteuren im Diskurs unterschiedlich aus- und festgelegt. Fest steht jedoch, dass kein fundamentaler Umbruch von einer Privilegierung materieller und kollektiver Werte hin zu individuellen Werten um 1968 stattfand. Auch ist nicht sicher, dass der momentane Status Quo, der das Selbstentscheidungsrecht der Frau über bevölkerungspolitischen Maßnahmen privilegiert und eine ideale Reproduktionsentscheidung als nicht-materielle, individuelle Entscheidung versteht, so erhalten bleiben wird. So wird weiterhin in Debatten über Rentenzahlungen und Arbeitskräftemangel Bevölkerung als Ressource des Staates betrachtet und es bestehen weiterhin gesetzliche Einschränkungen des Zugangs zur Abtreibung, die das zugrundeliegende Ziel haben, den Körper und die Sexualität der Frau zu kontrollieren. In der Kontroverse um die Klage gegen die Gießener Frauenärztin Kristina Hänel im November 2017 stand genau diese Frage um den Zugang zu Wissensbeständen im Zentrum des Konflikts.10 Abtreibungsgegner*innen hatten die Frauenärztin wegen eines Verstoßes gegen den § 219a, der Werbung für Abtreibungen verbietet, angezeigt, weil sie auf der Homepage ihrer Praxis Informationen über Abtreibungsmethoden anbot. 10 Lucas, Laura, Schwangerschaftsabbruch. Diese Ärztin kämpft vor Gericht dafür, dass sich Frauen informieren dürfen, in: Zeit Online (22.11.2017), https://ze.tt/schwangerschafts​ abbruch-diese-frauenaerztin-kaempft-vor-gericht-um-ein-informationsrecht-fuer-frauen/​ ?utm_campaign=ref&utm_content=zett_zon_parkett_teaser_x&utm_medium=​f ix​ &utm_source=zon_zettaudev_int&wt_zmc=fix.int.zettaudev.zon.ref.zett.zon_parkett. teaser.x&fbclid=IwAR1lq12pyOXdCmzi-mhyk0RUUUbe3BwdEIuQmZkWuvPCL6Vz6 uLQxSaKw6c, letzter Zugriff: 15.08.2019.

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Fazit

Während die Abtreibungsgegner*innen argumentierten, dass eine Ärztin, die in ihrer Praxis Abtreibungen durchführt, daraus Profit ziehe und deshalb ihre Informationen als Werbung zu gelten haben, forderte eine breite Koalition aus Frauenärzt*innen, politischen Parteien (Grüne, Linke, FDP, SPD), liberalen Zeitungen, Pro Familia und feministischen Kampagnen die Abschaffung des § 219a, da das Werbeverbot aus der Zeit der Verschärfung des Abtreibungsverbots im Nationalsozialismus stamme. Es geht ihnen darum, Frauen online Zugang zu ausgewogenen und medizinisch-korrekten Informationen zum Schwangerschaftsabbruch zu geben und einen Gegenpol gegen Webseiten wie www.babykaust.de zu schaffen, die in den Narrativen und der Bildsprache der amerikanischen Anti-Abtreibungsbewegung Frauenarztpraxen mit Konzen­ trationslagern vergleichen.11 Der Gesetzeskompromiss des Bundesgesundheits­ ministers Jens Spahn (CDU) sieht vor, den § 219a beizubehalten, es aber Ärzt*innen erlaubt sei ihre Homepage auf eine Ärzteliste der Bundesärztekammer zu verlinken. Diesem Kompromiss unterliegt jedoch ein Frauenbild, welches weiterhin davon ausgeht, dass Frauen es sich bei der Entscheidung für eine Abtreibung leicht machen und sich aufgrund von Werbung für eine Abtreibung als Konsumentscheidung entschließen würden. Indem der Zugang zu Informationen über die Verfügbarkeit eines Schwangerschaftsabbruchs erschwert wird, sollen Patientinnen von einer Abtreibung abgehalten werden. Gegner*innen des reformierten § 219a monieren, dass Ärzt*innen, die sich auf der Liste der Bundesärztekammer eintragen lassen, weiterhin kriminalisiert werden.12 Sie werden für die Anti-Abtreibungsbewegung sichtbar an den Pranger gestellt und es gibt keine Möglichkeit, detailliert über die angebotenen Methoden der Abtreibung zu informieren, sondern nur die Optionen »operativ« oder »medikamentös« anzugeben. Dies sollen dazu dienen, dass Frauen bewusst die Praxis nach der Verfügbarkeit der gewünschten Methode auswählen können, verrät jedoch nicht die Vor- und Nachteile beider Methoden und ob es sich bei der operativen Methode um eine Absaugung oder Ausschabung handelt. Die reproduktiven Entscheidungen, die Frauen treffen müssen, werden also mit dem biomedizinischen Fortschritt komplexer und die Informationen, die durch die digitale Revolution zur Verfügung stehen, intransparenter. Wissen wird so als Ressource des reproduktiven Entscheidens immer essenzieller. Die Konflikte über die Regulierung des Zugangs zu diesem Wissen im digitalen Zeitalter werden aber gerade erst ausgehandelt. Die aktuellen Auseinandersetzungen belegen, dass Wissen im Laufe des 20.  Jahrhunderts zur wichtigsten Ressource des reproduktiven Entscheidens wurde, so

11 Startseite, www.babykaust.de, letzter Zugriff: 15.08.2019. 12 Thurm, Frida, So wird die Selbstbestimmung der Frau eingeschränkt, in: Zeit Online (14.06.2019), https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2019-06/schwangerschafts​ abbruch-paragraph-219a-frauenaerztin-bettina-gaber-anklage, letzter Zugriff: 13.08.2019.

Fazit

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die vierte These dieses Bandes. Amerikanische Familienplaner gingen davon aus, dass Frauen im Nachkriegsdeutschland schlichtweg das Wissen über das Konzept der Familienplanung fehle. Deutsche Aktivist*innen argumentierten hingegen, dass Frauen zwar ihre Familien kleinhalten wollten, sie aber nicht wussten, wo sie Informationen und Verhütungsmittel erhalten konnten. In den Kontroversen zwischen männlichen Ärzten und der Frauenbewegung über die Nebenwirkungen der Anti-Baby-Pille ging es darum, wer das Monopol auf das Wissen über Nebenwirkungen und damit ausreichend Informationen besaß, um eine »informierte Entscheidung« über die Wahl des Verhütungsmittels zu treffen. Während amerikanische Ärzt*innen Patientinnen bestimmtes wissenschaftlich erschaffenes Wissen aus paternalistischen und bevölkerungspolitischen Gründen vorenthielten, verbreiteten westdeutsche Ärzt*innen als Vorsichtsmaßnahme und aus Abschreckungsgründen genau dieses Wissen. Dieses Wissen, welches die Grundlage für reproduktive Entscheidungen werden sollte, zirkulierte transnational. Zunächst tauschten Weimarer Sexualreformer und amerikanische Birth-Control-Aktivist*innen in den 1920er Jahren Ideen aus, bevor die Sexualreformer*innen im Exil ihre Forschung und Verhütungsmittel in die USA und nach Schweden brachten. In den 1960er Jahren informierte Anne-Marie Durand-Wever sich bei Margaret Sanger über den Fortschritt der Anti-Baby-Pille und Hans Harmsen bezog Informationen aus den USA über die Thrombosegefahr der Pille und die Entwicklung der Abtreibungszahlen nach der Legalisierung. Die deutsche Frauenbewegung übernahm in den 1970er Jahren die Idee der feministischen Frauengesundheitskliniken genauso wie die Anti-Abtreibungsbewegung der 1980er Jahre die der Crisis Pregnancy Centers. Beispiele wie die Entwicklung der Spirale und der Cervical Cap, sowie die Zirkulation der Anti-Abtreibungsbroschüre »Tagebuch des Kleinen« zeigen, dass der Informationsfluss nicht nur einseitig von den USA in die Bundesrepublik war, sondern beidseitig.13 Impulse aus der DDR , Großbritannien, Frankreich, den Niederlanden und Schweden spielten auch eine Rolle bei der transatlantischen Konzeption der Familienplanung. Zusammen mit den Wissensbeständen zirkulierten Konzepte transnational über den Atlantik. Das Wunschkind erreichte in den 1950er Jahren die Bundesrepublik, das Konzept der »reproductive rights« kam in den frühen 1970er Jahren im Gepäck deutscher Austauschstudentinnen aus Kalifornien mit nach Deutschland. Währenddessen gelangte die Vorstellung, dass Frauen nach einer Abtreibung an einer posttraumatischen Belastungsstörung litten, durch Na­ thansons Film »The Silent Scream« ins deutsche Fernsehprogramm. Zusammen mit diesen konzeptuellen Vorstellungen wurden auch gesellschaftliche Normen und Werte in den Debatten um reproduktives Entscheiden neu verhandelt.

13 Siehe hierzu das Second Book Project von Donna J. Drucker, Transatlantic Reproductive Technology. The Journey of the Cervical Cap, 1976–1993 an der TU Darmstadt.

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Fazit

Im Gegensatz zu den USA waren Kontakte der westdeutschen Pro Familia zur DDR selten und basierten auf individuellen Initiativen. Karl-Heinz Mehlan, der

Rostocker Sozialhygieniker und Gründer der ostdeutschen Organisation »Ehe und Familie«, nahm bis 1968 regelmäßig an den Pro-Familia-Mitgliederversammlungen teil und tauschte sich mit Hans Harmsen und Alan F. Guttmacher aus. In den 1970er Jahren wurde nach der Einführung der Fristenlösung die DDR immer wieder als Vergleichsgröße für Westdeutschland herangezogen. Nach der Wiedervereinigung wurden die staatlichen Beratungsstellen der ostdeutschen Organisation »Ehe und Familie« als die fünf neuen Landesverbände in Pro Familia integriert und Lykke Aresin, die Vorsitzende des Landesverbandes Sachsen-Anhalt, wurde eine laute Fürsprecherin für eine Reform des § 218 und die Markteinführung der medikamentösen Abtreibung.14 Ab 1990 forderte Pro Familia die Freigabe der Abtreibung, da jegliche Regelung, die hinter der Fristenlösung zurückblieb, für ostdeutsche Frauen einen Rückschritt in die Bevormundung bedeutete. Auch durch die Arbeit der neuen ostdeutschen Mitglieder für die Zulassung der medikamentösen Abtreibung wurde Pro Familia in den 1990er Jahren fest in die transnationale Frauengesundheitsbewegung integriert. Die Frauenbewegung in den USA und Westdeutschland war zunächst daran interessiert, wissenschaftlich produziertes Wissen zirkulieren zu lassen und dabei die Ärzteschaft als unzuverlässige Informationsquelle zu entlarven. In den 1970er Jahren begann die Frauenbewegung, weibliche Erfahrung als neue Wissensform zu erheben, die wissenschaftlich produziertes Wissen ergänzen sollte. Erst die Anti-Abtreibungsbewegung versuchte die Autorität wissenschaftlich produzierter Wissensbestände zu unterminieren, in dem sie nur Forschungsergebnisse verbreiteten, die ihrer eigenen Weltsicht entsprachen und diese mit auf eigenen Vorannahmen beruhenden Schätzungen, veralteten Annahmen und bewussten Täuschungen kombinierte. Indem Abtreibungsgegner*innen sich immer wieder gegenseitig zitierten, erschufen sie so eine Echokammer aus alternativen Wissensbestände, die durch die drastische Bildsprache in das kulturelle Gedächtnis der USA und den Gesetzgebungsprozess der Bundesrepublik Eingang fanden. Zeitgleich wandelte sich Schwangerschaftskonfliktberatung im Zuge der 1980er Jahre von einer Hilfestellung zur Entscheidungsfindung zu einem Hindernis in der Umsetzung einer schon getroffenen Entscheidung für eine Abtreibung gewandelt. Die Beratungspraxis zeigte auch, dass Frauen neben medizinischem Wissen auch praktische Wissensbestände benötigten, etwa darüber, welche Klinik in ihrer Heimatstadt Abtreibungen durchführte oder welche Beratungsstelle finanzielle Hilfen vermitteln konnte. Dieses Wissen wurde durch Medien, formelle Netzwerke von Ärzt*innen und Familien­ 14 Vgl. Simmel-Joachim, Monika, 40 Jahre Pro Familia. Geschichte und Zukunft einer Familienplanungsorganisation, in: Pro Familia Magazin 20 (1992) H. 2, S. 1–8; hier S. 6; Aresin, Lykke, Vor Abort zur Kontrazeption, in: Pro Familia Magazin 19 (1991) H. 1, S. 23–24.

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planungsstellen, informellen Netzwerken aus Freund*innen, Nachbar*innen und Verwandten, und im Falle von Migrantinnen auch in formellen Netzwerken im Heimatland vermittelt.15 Der Rückgang der »Früh- und Mußehen« seit den 1970er Jahren und die stetig sinkenden Abtreibungszahlen zeigen, dass Sexualaufklärung in Deutschland funktioniert und vor allem die Anzahl ungeplanter Schwangerschaften zurückgeht. So sank die jährliche Anzahl an Abtreibungen von geschätzt 400.000 bis 1,5 Millionen vor der Reform des § 218, zu 164.000 im Jahre 1980, ca. 150.000 (75.297 in Westdeutschland und 73.800 in Ostdeutschland) im Jahre 1989 hin zu 123.855 im vereinten Deutschland (1991) und 100.986 im Jahre 2018.16 Die Zahlen belegen jedoch auch, dass kein Verhütungsmittel perfekt ist und nicht ohne Nebenwirken oder Versagen funktioniert. Frauen sind im Laufe der Geschichte immer wieder ungewollt schwanger geworden und werden dies auch in Zukunft immer wieder werden. Dieses Buch hat gezeigt, dass das Konzept der Familienplanung das Kinderkriegen zu einem Resultat komplexer Entscheidungsprozesse machte. Der Zugang zu zuverlässigen und unabhängigen Informationen wurde daher essentiell, um selbstständig reflektierte Entscheidungen zu treffen. Informationen werden dabei oft selektiv verbreitet, unter bestimmten Vorannahmen und ideologischen Überzeugungen produziert und verbreitet. Diese können emanzipatorischer Natur sein oder auch Wertvorstellungen unterliegen, die 20 Jahre später als nicht mehr politisch korrekt gelten, was etwa die Empfehlungen zur eugenischen Sterilisation aus individualistischen Gründen in den 1960er Jahren zeigen. Die Mehrheit der Akteure hat mit guten Intentionen aus dem eigenen Weltbild heraus gehandelt, um die Familienplanung zu propagieren, die Konsequenzen für individuelle Frauen, Minderheiten oder Menschen mit Behinderungen jedoch oft nicht bedacht. Innerhalb der Pro Familia gab es einen stetigen Wandel hin zu einer höheren Wertschätzung des Selbstentscheidungsrecht von Frauen, der zunächst nur zögerlich, dann mehr und mehr akzeptiert wurde, jedoch nicht ohne auch selbst Brüche und Widersprüche zu produzieren. Dabei machte das Wunschkind selbst einen Wandel von einem erblich gesunden Steuerzahler / einer erblich gesunden Steuerzahlerin von morgen zu einem emanzipatorisch geplanten Projekt der Selbstverwirklichung durch. Das Idealbild des Wunsch15 Zu einer ausführlicheren Diskussion der Netzwerke zur Wissenszirkulation von Mi­ grant*innen siehe Roesch, Claudia, Love without Fear. Knowledge Networks and Family Planning Initiatives for Immigrant Families in West Germany and the United States, in: Bulletin of the German Historical Institute 64 (Spring 2019), S. 93–113, hier S. 112–113. 16 Vgl. Baross, Joachim von, Der Trend hält an. Zahl der Schwangerschaftsabbrüche 1985 und 1986 weiter rückläufig, in: Pro Familia Magazin 16 (1988) H. 2, S. 27–28, hier S. 27; Ahrendt, Hans-Joachim u. a., Probleme der Kontrazeption und Sterilisation in den Neuen Bundesländern, in: Pro Familia Magazin 21 (1993) H. 2, S. 11; Statisches Bundesamt, Schwangerschaftsabbrüche, Zugriff Online: https://www.destatis.de/DE /Themen/ Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Schwangerschaftsabbrueche/Tabellen/rechtlichebegruendung.html, letzter Zugriff: 15.08.2019.

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Fazit

kindes war so stark, dass es als Versprechen für reformierte Eugeniker*innen, Feminist*innen und Bundesminister*innen gleichermaßen Anziehungskraft hatte. Auf der Suche nach Wunschkindern hatte Wissen aus Bibliotheken den Frauen Macht gegeben, sich für oder gegen Kinder zu entscheiden, nicht von Liebe zu reden und ihren Spaß zu haben. Das Konzept des Wunschkindes änderte so die Entwürfe des Lebens der Bundesbürgerinnen grundlegend. Wenn das 20. Jahrhundert das Jahrhundert des Kindes war, waren die Nachkriegsjahre 1952 bis 1992 die Jahrzehnte des Wunschkindes.

Danksagung

Dieses Buch ist das Ergebnis einer jahrelangen Forschungsarbeit, die im Rahmen des Teilprojekts A 05 des Münsteraner Sonderforschungsbereich 1150 »Kulturen des Entscheidens« begann und am Deutschen Historischen Institut Washington zu Ende ging. Ich danke zunächst der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Gerda-Henkel-Stiftung und dem DHI Washington für die freundliche finanzielle Unterstützung meiner Forschung. Ein Buch erwächst nicht aus einer Idee allein, es braucht viele Unterstützer*innen, die helfen, es über die Ziellinie zu tragen. Dazu möchte ich besonders meiner Doktormutter Isabel Heinemann danken, für all die Unterstützung und Ermutigung, mit der sie als Projektleiterin das Buchprojekt von Anfang an begleitet hat. Auch gebührt mein Dank Elisabeth Timm, die dem Projekt von der ersten Antragsskizze an beratend zur Seite stand, sowie dem Münsteraner Kolloquium zur Geschichte der Familie für die vielseitigen geistigen Inspirationen. Am SFB 1150 danke ich besonders Ulrich Pfister für seine Durchsicht und Schärfung des Gesamtmanuskripts, Philip Hoffmann-Rehnitz für die inhaltliche und organisatorische Unterstützung, Lisa Peters für ihre Recherchearbeit, Franziska Witte für Literaturbesorgungen und Julia Langenbach für die Endkorrektur. Dank gebührt auch den Mitarbeiter*innen des SFB für ihren intellektuellen Input in diversen Forschungsplattformen, Klausurtagungen und Projektbereichssitzungen. Am DHI Washington danke ich dem Research Seminar und dem wissenschaftlichen Beirat für die fruchtbaren Diskussionen über mein Buchprojekt. Besonderer Dank gebührt Richard Wetzell für seine Hilfe bei der Komposition des ersten Kapitels und Axel Jansen für den stetigen Austausch über die Wissenschaftsgeschichte. Insa Kummer und Katharina Hering danke ich für ihre Unterstützung bei der Bildrecherche. Auch bedanke ich mich bei meinen Münsteraner und Washingtoner Kolleginnen Ellie Engel, Anna-Carolin Augustin, Mrinal Pande und Constanze Siegel für ihre stetigen Ermutigungen, auch wenn es mal nicht so lief. Ich danke Johanna Schoen, Alexandra Minna Stern, Simone Lässig, Jürgen Overhoff und Till Kössler für die Kommentierung meines Projekts in verschiedenen Entwicklungsstufen. Herzlichen Dank auch an die Praktikant*innen des DHI Washington der Jahrgänge 2018 bis 2021, die mit ihren Recherchearbeiten und Korrekturen das Projekt maßgeblich unterstützt haben: Hannah Rudolph, Thorsten Zachary, Anna Kokenge, Katharina Weygold, Falco Drießen, Max Kruse, Lukas Doil, Maximilian Köster, Chris Buchholz, Sarah Maurer und Tabea Nasaroff. Janna Müller und Yella Nicklaus danke ich für die sorgfälltige Indexerstellung. Ich wünsche euch allen viel Erfolg in eurer beruflichen Zukunft.

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Danksagung

Ohne Archivrecherche ist es unmöglich, ein historisches Buch zu schreiben. Hierbei danke ich vor allem Michael Altmann vom Pro-Familia-Verbandsarchiv für seine Begeisterung für mein Projekt und seine zahlreichen Hinweise. Auch danke ich dem gesamten Pro-Familia-Bundesvorstand dafür, dass sie mich 2016 für eine Woche so herzlich bei sich aufgenommen haben. Des Weiteren danke ich Amy Hague und Kate Long an der Sophia Smith Library des Smith College Northampton für ihre geduldigen Antworten auf all meine Nachfragen. Ich danke auch den Mitarbeiter*innen im Manuscript Reading Room der Library of Congress und dem Bundesarchiv Koblenz für ihre sachkundige Unterstützung meiner Archivrecherchen. Ich danke Ande Hubbart bei der Planned Parenthood Federation für die freundliche Unterstützung bei der Abdruckgenehmigung der Planned-Parenthood-Broschüren. Auch danke ich Melanie Luke beim der Pro Familia-Verband und Sandra Burkhardt beim Deutschen Bundesarchiv für die schnelle und kompetente Bearbeitung meiner Anfragen zu den verschiedenen Abbildungen. Beim Verlag Vandenhoeck & Ruprecht danke ich Kai Pätzke für die hilfreiche Begleitung des Projekts vom Manuskript zum fertigen Buch. Und last but not least danke ich den Frauen in meiner Familie, deren komplexe Lebensgeschichten als illustrative Beispiele für den Wandel des reproduktiven Entscheidens im 20. Jahrhundert taugen. Eure Geschichten dienten mir als Inspiration, dieses Buch zu schreiben. Euch ist dieses Buch gewidmet.

Literaturverzeichnis

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Cover: Laden, Murray, Wanted … Every Baby Should Be, Planned Parenthood Federation of America Records  II, Sophia Smith Library, Smith College Northampton, Box 25.21, © Planned Parenthood Federation of America. Abb. 1: Stein, Ralph, The Soldier Takes a Wife (1945), in: Planned Parenthood Federation of America Records  II, Sophia Smith Library, Smith College Northampton, Box 22.55, © Planned Parenthood Federation of America. Abb. 2: N. N., Planned Parenthood: Its Contribution to Family, Community and Nation (1944), in: Planned Parenthood Federation of America Records II, Sophia Smith Library, Smith College Northampton, Box 17.25, © Planned Parenthood Federation of America. Abb. 3: N. N., Today…In Your Country (1947), in: Planned Parenthood Federation of America Records  II, Sophia Smith Library, Smith College Northampton, Box 24.21, © Planned Parenthood Federation of America. Abb. 4: N. N., The Story of Two Families (1948), in: Planned Parenthood Federation of America Records II, Sophia Smith Library, Smith College Northampton, Box 23.26, © Planned Parenthood Federation of America. Abb. 5.: N. N., Breaking the Vicious Circle (1954), in: Planned Parenthood Federation of America Records II, Sophia Smith Library, Smith College Northampton, Box 4.1, S. 33, © Planned Parenthood Federation of America. Abb. 6: Flyer Familien- und Eheberatungsstelle Kassel, in: Bundesarchiv Koblenz, Hans Harmsen Nachlass, BArch N 1336/344, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Bundesarchiv Koblenz. Abb. 7: Harmsen, Hans, Was wisst ihr von einander (1961), in: Pro-Familia-Verbandsarchiv, Ordner »Prof. Harmsen«, © Archiv pro familia Bundesverband. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Pro-Familia-Bundesverbands. Abb. 8: N. N., Beratungsstelle Kassel (1964), in: Bundesarchiv Koblenz, Hans Harmsen Nachlass, BArch N 1336/378, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Bundesarchiv Koblenz. Abb. 9: N. N., Amor Sin Temor (1965), in: Planned Parenthood Federation of America Records II, Sophia Smith Library, Smith College Northampton, Box 93.61–62, © Planned Parenthood Federation of America.

Abbildungsverzeichnis

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Abb. 10: Rosalie, Lehrman, Ustedes Pueden Planear Su Familia (1966), in Planned Parenthood Federation of America Records II, Sophia Smith Library, Smith College Northampton, Box 100.50, © Planned Parenthood Federation of America. Abb. 11: N. N., Ausländerbroschüren (1979), in: Bundesarchiv Koblenz, Hans Harmsen Nachlass, BArch N 1336/605, © Archiv pro familia Bundesverband, Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Bundesarchiv Koblenz.

Abkürzungsverzeichnis

ALFA AMA AOK BWHBC

Aktion Lebensrecht für alle American Medical Association Allgemeine Ortskrankenkasse Boston Women’s Health Book Collective BZgA Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung CDU Christlich Demokratische Union CSU Christlich-Soziale Union DAK Deutsche Angestellten-Krankenkasse DCWLM District of Columbia Women’s Liberation Movement DDR Deutsche Demokratische Republik DFG Deutsche Forschungsgemeinschaft ERA Equal Rights Amemdment FAZ Frankfurter Allgemeine Zeitung FDA Food and Drug Administration FDP Freie Demokratische Partei FFGZ Feministisches Frauengesundheitszentrum Berlin FPA Family Planning Association (Großbritannien) GmbH Gesellschaft mit beschränkter Haftung GzVeN Gesetz zur Verhütung Erbkranken Nachwuchses IPPF International Planned Parenthood Federation KWI-A Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthologie, menschliche Erblehre und Eugenik MIT Massachusetts Institute of Technology NAF National Abortion Federation NARAL National Abortion Rights Actions League. Vor 1973: National Association to Repeal Abortion Laws NBC National Broadcasting Company NDR Norddeutscher Rundfunk NOW National Organization for Women NRTLC National Right to Life Committee NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei OBOS Our Bodies, Ourselves PPFA Planned Parenthood Federation of America SDS Sozialistischer Deutscher Studentenbund SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands UNRRA United Nations Relief and Rehabilitation Administration USA United States of America WEBA Women Exploited by Abortion WHO World Health Organization ZDF Zweites Deutsches Fernsehen ZPG Zero Population Growth

Register

Aachen  265 f. Ackermann, Heinrich  214 Adenauer, Konrad  14, 93, 96, 107 African Americans, siehe auch afroamerikanisch  33, 75, 109–112, 130, 134 f., 137, 182, 288 Akron Ordinance  270 Alabama  33, 130 Alt, Franz  260 Amendt, Gerhard  130, 235–237 American Birth Control League  31–33 American Medical Association  33, 209 Angermann, Barbara  131 f. Anovlar  139, 146, 148 Arbeiterwohlfahrt  225, 233, 275 f. Arbeitsgemeinschaft Ehe- und Jugendberatung 94, 123 Arbeitszentrale für Geburten­ kontrolle  41 f., 53, 84 Aresin, Lykke  16, 292 Arizona  72, 210 Arnold, Hermann  241 Association for Voluntary Sterilization ​ 75, 187 Atlanta  135, 192 Augsburg  253 f., 267 Austin (Texas)  217 Baden-Württemberg  233, 260, 264, 266 f. Baltimore  110, 112, 133 Baross, Joachim von  229 Basaltemperatur  164, 180, 189, 194 Baunach, Arnulf  242 Bayern  81, 96, 102 f., 130, 224, 230, 233 f., 263 f., 266–268 Beck, Karl  147 Beller, Fritz K.  233 Berlin  30, 37–41, 84, 86, 88, 96 f., 99 f., 103 f., 121, 131, 141, 150, 192, 195, 204, 220 f., 227, 237 Besenecker, Ilse  151

Bevölkerungspolitik  8, 14, 17 f., 21, 46, 51, 54, 90 f., 98, 104, 167, 284, 287 Bielefeld  266 Birth Control Federation of America ​ 31, 33, 56, 109 Birth Control Movement  31 f., 113 Birth Control Research Bureau  30 f., 33 Bogardus, Emory S.  113 Bombay, IPPF Tagung  89 f. Bonn  181, 184, 276 Boston  142, 184 f., 192, 196 Boston Women’s Health Book Collective  13, 170, 183–185, 195 f., 198, 289 Brandt, Ilse  21, 41, 86, 89–91, 98–101, 121, 123, 150, 241, 284 Brandt, Wilhelm  121 Bremen  130, 208, 226, 230, 234 f., 237, 243, 274, 286 Brettschneider, Tessa  128 Brot und Rosen  192 f., 195, 198, 204 Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit  225 f. Bundesministerium für Justiz  121 Bundesstiftung »Mutter und Kind«  263, 268, 281 Bundesverfassungsgericht  15, 121, 224, 261, 270, 277 Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung  7, 13, 163, 199, 202, 225 f., 229, 287 Bürgerrechtsbewegung  109, 130, 134, 137, 142 f., 182, 288 Buschmann, Elisabeth  229 Butenandt, Adolf  141 Calderone, Mary S.  144, 188 CARE  85 Caritas  229–231, 267 Carson, Rachel  259 CDU  93, 212, 222, 246, 262, 269 f., 276 f.

318 Centralausschuß der Inneren Mission ​ 17, 44, 46, 49 Cervical Cap  188, 201, 291 Cheltenham  81, 85, 140, 147 Chicano-Bewegung  117, 133 Child Spacing  64, 67 Cincinnati (Ohio)  254 Clinton, Bill  14 Comstock Laws  32 Connecticut  33, 70 Contergan, siehe auch Thalidomide ​ 148, 151, 210, 285 Conti, Leonardo  45 Crisis Pregnancy Center  271 f., 291 CSU  222, 224, 246, 262, 269, 276 Cunnington, Hilda  85 Dalkon Shield  190 Dänemark  124 DDR  7, 16, 127, 153, 219, 260, 276, 291 f. Depo-Proveda  197 Detroit  110, 178 Deutsche Arbeiter-Krankenkasse (DAK) ​ 179, 200–202, 205, 251–253 Deutsche Gynäkologische Gesellschaft ​ 164 Deutscher Ärztinnenbund  213 Deutsche Zentrale für Volksgesundheitspflege  124, 161 Diaphragma  59, 64, 71, 79, 84, 91, 96, 110, 115, 140, 153, 164, 175, 178, 180, 186, 188–190, 194, 196 f., 200 f., 207, 237 Dickinson, Robert L.  38 Djerassi, Carl  141, 146 Dohrn, Axel  97, 108, 120 f., 123, 125, 137 Döpfner, Julius Kardinal  156 Downer, Carol  192 Draper, William H.  74 Drei-Monats-Spritze  131, 194, 197, 200, 288 Dunkel, Doris  130 Dunlop Committee  170, 172, 178, 181 Durand-Wever, Anne-Marie  21, 39–42, 53, 81 f., 84–86, 88–91, 94, 97, 102 f., 108, 121, 147–153, 158, 191, 241, 284 f., 291

Register

Düsseldorf  166, 221, 274 Einwanderung  35, 112 f., 155 Einwanderer  30, 34, 130, 202 Einwandererfamilien  64, 112 f., 118 f., 130, 137, 202 Eisenhower, Dwight D.  74 Eisenstadt v. Baird  70, 185 Eli Lilly  180 Ellis, Havelock  35 El Paso (Texas)  112 f. Embryonenschutzgesetz  15 English, Oliver Spurgeon  65 f. Enovid  139, 146 Enthaltsamkeit  94, 108 Enzyklika Humanae Vitae  139, ­156–160, 167, 285 Equal Rights Amendment  247 Erbkrankheiten  8, 35, 44, 99, 108, 125 Eugenik  10, 25, 34-36, 44, 48–50, 52 f., 57 f., 74, 89, 99, 123, 137, 241 f. Euthanasie  44, 46, 48 f., 52, 57, 86, 123, 247, 279, 287 Evangelikales Christentum, siehe auch evangelikale Christen  13, 247, 249, 261 Familienplanungszentrum  200, 208, 230, 236–243, 266, 274 f., 283, 286 Family Planning Association (FPA)  56, 81, 113 FDP  93, 222, 269, 290 Feministisches Frauengesundheits­ zentrum  195 Finkbine, Sherri  210 Fischer, Erica  196 Focke, Katharina  222 f. Food and Drug Administration (FDA) ​ 143, 146, 170–172, 176, 178 Fötus  14, 212, 217, 219, 234, 247–250, 254 f., 258 f., 261, 271, 273 f., 279 Frankfurt am Main  97, 191, 212, 221, 225–227 Frankreich  19, 39, 42, 45, 98, 141, 221, 291 Frauenbewegung  13 f., 18 f., 28, 32, 130, 142 f., 168, 170, 176, 181–185, 187,

319

Register

189–192, 195, 201, 203 f., 208, 212, 221 f., 226, 239, 242 f., 252, 256, 258 f., 271, 285–288, 291 f. Freiwilligkeit  8, 13, 28, 45, 136 f. Friedan, Betty  182 Fristenlösung  219 f., 222–224, 269, 276 f., 285, 292 Galton, Francis  34 Gamble, Clarence  91, 110 Gampe, Franz  85, 94, 100 Geburtenkontrolle  9, 18, 21, 30–32, 35, 37–39, 41–43, 53–55, 61, 63, 71, 73–75, 81 f., 84, 89, 98 f., 102, 107, 109, 113, 134, 139, 156, 172, 194, 283 f. Geburtenrückgang  128, 139, 160–162, 167, 285 Geschlechtskrankheiten  64, 68, 84 f., 96, 131, 165 f., 192 Gesenius, Heinrich  97, 250 f., 284 Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses (GzVeN)  10, 36, 44–46, 52, 121, 124, 209 Gould, Joan  211 Graf, Charlotte  121 Gräfenberg, Ernst, siehe auch Gräfenberg-Ring  36, 42 Griswold v. Connecticut  70, 185 Großbritannien  16, 32, 36, 81, 98, 141, 144, 148, 174, 207, 210, 215, 218, 262, 286, 291 Grotjahn, Alfred  38 f., 40 f., 43 f., 49, 52, 90, 104, 126, 240, 283, 287 Grünen, Die  15, 242, 269 f., 276, 290 Günther, Hans K. F.  50 Guttmacher, Alan F.  67, 70 f., 75, 129, 135 f., 144 f., 169, 211, 216 f., 288, 292 Haberlandt, Ludwig  141 Hahn, Martin  44 Haiti  183 Hamburg  18, 47, 86, 89, 97, 124, 196, 200, 208, 225, 230, 237 f., 243, 266, 274, 286 Hanau  130, 233 Hänel, Kristina  289 Hawaii  261, 271 Heidelberg  195 f., 200

Heinrichs, Jürgen  163, 237, 263, 269 f. Hellman, Louis  71, 170 Himmler, Heinrich, siehe auch ­Himmler’scher Polizeierlass  52, 85, 90, 96, 102 Hirschfeld, Magnus  30, 36 Hitler, Adolf  76, 82, 287 Hobbing, Eva  97, 119, 191, 218–220, 241, 284 Hodann, Max  30, 35, 41 f. Höffner, Joseph Kardinal  274 Holocaust  15, 74, 212, 275 f., 279, 287 f. Human Betterment Foundation  75, 135, 187 Humanistische Union  212, 273, 276 Huxley, Julian  42, 47, 124 Hyde Amendment  270 Hysterektomie  235 f. Indiana  10 Indien  21, 74, 84, 89 Indikationenlösung 15, 219 f., 222, 224, 228, 243, 260, 277 Informed consent  174, 187, 204, 258 f. Ingle, J. Forrest  85 IPPF  12, 81, 83, 89 f., 96 f., 102–104, 114, 151, 187, 189, 199, 202, 214 f., 218, 225, 284, 287 Italien  36, 42, 63, 76, 152, 196, 202, 261 Japan  33, 76, 82–84, 261, 287 Johnson, Lyndon B.  77, 79, 111 Jugendkriminalität  105, 282 Jugoslawien  207, 216 Kalifornien  10, 192, 196, 226, 249, 291 Karlsruhe  245 Kassel  85–88, 97, 100, 103, 128, 151, 225, 262, 266 Katholiken  63, 71, 156, 158, 247, 249, 254 Kaufmann, Hannes  86 Kaupen-Haas, Heidrun  43, 52, 240 f. Kellogg, Hamilton H.  72 Kennedy, John F.  77 Kepp, Richard  164–166, 168, 179, 218, 284

320 Kiesinger, Kurt-Georg  225 Kingsolving, Arthur B.  72 Kirchhoff, Heinz  97, 151 f., 164, 179, 284 Knieper, Barbara  280 f. Kohl, Helmut  265 Kolumbien  21, 119, 133, 286 Konsumgesellschaft  65, 68, 76, 79, 93 f., 96, 100, 104, 155, 162, 265, 273, 278 Lafontaine, Oskar  266 Landau  241 f. Latinx  109, 117, 119, 137 Lebensraum  76, 82, 287 Lebensschutzbewegung  13, 19, 246, 251, 253, 270, 276, 287 Léderer, Ilse  21, 82, 85–92, 100–102, 123 f., 241, 284 Leese, Rosemarie  97 f. Lehfeldt, Hans  41 f. Lenz, Fritz  86 Levine, Raphael B.  135 Lippes, Jack  176 Loeffler, Lothar  123 f. Lorenzen, Kerstin  196 Los Angeles  129 f., 136, 144, 192 f. Lothrop, Hanny  196 Ludwig, Bruni  196, 198–202, 226 Mackenroth, Gerhard  104 Maier, Uta  277 Mainline-Protestantismus  68, 92, 247 Malthus, Thomas, siehe auch neo-­ Malthusisch  34, 73, 75 Mannheim  131 Marvel Comics  115 Maryland  209 Massachusetts  33, 57, 70, 142, 185, 192 McCormick, Katherine  141, 146 Mead, Margaret  78 Mecklenburg, Marjorie  271 Mehlan, Karl-Heinz  16, 97, 129, 292 Meissner-Blau, Freda  196 Memmingen  267 f. Mendoza, Ofelia  114

Register

Menne, Klaus  280 f. Menschenrecht  21, 132 f., 247 Mensinga, Wilhelm  197 Menzel, Beate  196 Merkl, Helmuth  131 Mexican Americans  112, 115, 133 Meyer-Roland, Ulla  263 Minneapolis  72 Missouri  254 Modellversuch  225, 227, 229, 243, 286 Moore, Hugh  74 f., 84 Moynihan, Daniel Patrick, siehe auch Moynihan Report  111 Mühlheim an der Ruhr  131 München  39, 97, 195 f., 221, 267 Münster  233 f., 265 f. Mußehen  94, 105, 138, 161, 285, 293 Mussolini, Benito  36 Nachtsheim, Hans  44, 97, 108, 121–125, 137, 148, 284, 287 Namibia  88 NARAL  13, 217, 257, 259, 268 Nathanson, Bernard  253, 257–260, 291 National Organization for Women (NOW) ​13, 178, 182, 217 National Right to Life Committee  249, 257, 271 Nationalsozialismus  7, 14 f., 17, 28, 30 f., 42–54, 63, 82, 89, 93 f., 102, 104, 106, 121 f., 124, 126, 155, 197, 201, 209, 240, 286–288, 290 Nelson, Gaylord  176 Nelson Hearings  176–183, 185 Nerad, Lorijo  261 New Deal  58 New York  30 f., 34, 42, 57, 69–71, 75, 112–115, 132, 136, 158, 178, 217 f., 233, 256 f. Nidationshemmer  246, 252 f. Niederlande  16, 32, 36, 81, 207, 216, 219, 227, 233, 266, 291 Niedersachsen  233 f., 238 Nilsson, Lennart  247 Nordrhein-Westfalen  96, 235 Norsigian, Judy  196

321

Register

North Carolina  33, 109 Notestein, Frank  73 Notlagenindikation  220, 222, 224, 230, 233, 240, 246, 262, 269, 274 NSDAP  43, 124, 241 Nürnberg  85, 130, 235 Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse ​ 256, 275 Obdachlose, siehe auch Obdachlosensiedlungen  109, 127 f., 130–132, 137, 286, 288 Oeter, Ferdinand  126 Oeter, Karl  216 Osborn, Fairfield  75, 84 Osnabrück  157, 234 Ottesen-Jensen, Elise  88 Our Bodies, Ourselves  25, 170, ­183–189, 193–199, 204 Oxnam, George Bromley  69 Papst Paul VI  156 f., 167, 195 Papst Pius XII  247 Paragraph 218  14–16, 19, 36 f., 40, 47, 93, 130, 193, 195, 208 f., 212 f., 216, 219, 224–227, 232 f., 240, 242 f., 246, 250, 252, 267, 269 f., 276 f., 280, 282, 285, 287, 292 f. Parsons, Talcott  73 Patentex  36, 148, 150, 153 Pearl, Robert S.  73 Pearson, Robert J.  271 Peselli, Ferdinando  130 Petersen, Peter  240 Phoenix (Arizona)  72 Pierson, Richard N.  60 f. Pillenpause  139, 150, 186, 197, 200 Pincus, Gregory  140–142, 146 f., 149, 151 Popenoe, Paul B.  86 Population Council  73 Post-Abortion-Syndrome  261 f. Post-Partum-Approach  129, 137 Potts, Malcolm  187, 215, 218, 234 Präger, Anna Luise  165 Protestantismus  80 Puerto Rican Young Lords Party  134

Puerto Rico  17, 74, 114, 133 f., 137, 142–144, 146 f., 149, 167, 183, 190 Rama Rau, Lady Dhanvanthi  114 Rational Choice  21, 26 f. Reagan, Ronald  260, 276 Reardon, David  261 Reichsverband für Geburtenregelung ​ 85, 93, 100 Relf, Minnie Lee und Alice  130 Retzlaff, Ingeborg  240 Rheinland-Pfalz  96, 263 f., 266 Rhythmus-Methode, siehe auch KnausOgino-Methode  63, 79, 94, 121, 150, 156 Rice-Wray, Edris  142 Rockefeller, Nelson D.  217 Rockefeller-Stiftung  119 Rock, John  142, 146, 156 Roe v. Wade  15, 42, 188, 217, 223, 231, 243, 247, 249, 255–257, 283 Rose, Kenneth  57 Rosenberg, Alfred  51 Rowohlt Verlag  195 f. Ruben-Wolff, Martha  37, 39–41 Rüsselsheim  266 Rüther-Stehmann, Mechthild  269 Saarbrücken  266 Saarland  233 Sachs, Sadie  31, 39 Saller, Karl  50 Sanders, Helke  191 Sanger, Margaret  12, 18, 20, 30–42, 52 f., 56, 59, 63 f., 72 f., 77, 81–85, 88–91, 97, 100, 102 f., 106, 108 f., 140 f., 146, 151, 283 f., 287, 291 Santiago de Chile  214 Scheidler, Joseph  13 Schering  139, 148 f., 151, 200 Schleswig-Holstein  85, 238 Schmidt-Schiek, Lilli-Lore  228, 252 Schmincke, Richard  30 Schubnell, Hermann  97, 216 Schwangerschaftskonfliktberatung  13, 19, 202, 208, 224, 227, 245 f., 280, 284, 286, 292

322 Schwarzhaupt, Elisabeth  154 Schwarzer, Alice  192, 221, 223 Schweden  10, 42, 81, 174, 210–212, 247, 291 Seaman, Barbara  170, 173–176, 180, 187, 198, 204, 259 Searle  139, 145 Seelmann, Kurt  97 Seidel, Ina  7 Selbstbestimmungsrecht der Frau  8, 32, 40, 166, 216, 241, 252, 256 Sexualaufklärung  7, 13, 40, 61, 82, 85, 99, 105, 128, 155, 163, 247, 270, 293 Sexualkundeatlas  163 Sexualreformbewegung  9, 23, 28, 30 f., 37, 53 f., 98, 106, 209 Silent No More  268 Simmel-Joachim, Monika  42 South Carolina  33, 75, 109 Sowjetunion  37, 40, 45, 82, 216 Spanien  42, 202, 261 Späth, Lothar  260 f. SPD  38, 93, 212, 222, 269, 290 Spirale  36, 130 f., 176, 178, 186, ­188–190, 193 f., 197, 200, 202, 235, 252, 288, 291 Sterilisation  7, 10, 12–14, 16 f., 21, 28, 45 f., 49, 54, 108 f., 120–126, 129–131, 134–137, 146, 152, 154, 178, 188–190, 194, 197, 201, 207, 236, 287 f., 293 Stewart, Douglas  134 f. Stöcker, Helene  30, 36 f., 41 f. Stone, Hannah  33 Strafrechtsreform  14, 153, 213 f., 282 Studentenbewegung  18, 94, 167, 182, 191, 199, 226, 286 Stuttgart  97, 108, 206, 269 Stutzin, Joaquin  40–42 Stutzin, Käte  39–42 Supreme Court  15, 217, 255 f., 271 Swenson, Norma  196 Theissen, Horst  267 The Population Bomb  74 The Silent Scream  253, 257, 259–261, 272, 278, 291 Thoß, Elke  266

Register

Tietze, Christopher  64, 170 Truman, Harry S.  56 Tubenligatur  122 Türkinnen  130, 286 Tyrer, Louise B.  259 Überbevölkerung  9, 25, 34, 55, 72–76, 78–80, 82, 84, 88, 133, 135, 137, 142, 154 f., 159 f., 197, 225, 243, 256, 284, 288 Uhse, Beate  94, 199 Ulmer Denkschrift  154 Ultraschall  236, 247–249, 258 f., 261, 281 Unfruchtbarkeit  29, 57, 107, 139, ­141–143, 146, 149 f., 152 f., 281 UNRRA  85, 102 U.S. v. One Package of Japanese Pessaries  33 Vasektomie  122, 131, 176 Verlag Frauenoffensive  195 Verschuer, Otmar Freiherr von  44 Viguie jr., Juan E.  114 Vogt, William  75, 84, 113 Voluntary Motherhood  32 Wacker, Inge  196 Washington DC  110, 136, 183 WEBA  261 Weimarer Republik  9, 14, 18, 23, 31, 36–38, 42 f., 45, 53 f., 91, 93, 98, 101, 106, 209, 212, 222, 240, 242, 250, 283 Wilke, Barbara  247, 254–256, 259 Wilke, Jack  247, 254–256, 259 Wohnungsnot  91, 98, 103, 108, 120 Wolff, Lotte  41 f. Wolff, Ulrich  220, 237 Wolfson, Alice  183 Women’s Liberation  176, 182–184, 204 World Health Organization  172 World Population Congress, Genf  38 World Population Emergency Campaign ​73 Wuermeling, Franz-Josef  93, 98

Register

Wunschkind 7–9, 66, 80, 98, 105–107, 125 f., 133, 214, 220, 222 f., 240, 243, 249 f., 281 f., 291, 293 f. Wunschkindpille  7, 16, 153 Zero Population Growth  135, 187

323 Zimmer, Fritz  215 Zwangssterilisation  17, 36, 43 f., 46, 48, 50, 124, 126, 129, 187, 197, 201, 235, 240, 287 Zweiter Weltkrieg  9, 15, 61, 64, 72, 76, 79, 82, 84, 93, 104, 109, 127, 288