Tabus: Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft 2014 Heft 02 9783666800078, 9783525317129, 9783647317120, 9783525404218, 9783525300565, 9783647300566, 9783525800072

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Tabus: Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft 2014 Heft 02
 9783666800078, 9783525317129, 9783647317120, 9783525404218, 9783525300565, 9783647300566, 9783525800072

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EDITORIAL ΞΞ Matthias Micus / Katharina Rahlf

Als vor der Europawahl im Mai hohe Umfragewerte für populistische Parteien in einer Reihe von Mitgliedsstaaten der EU die politischen Beobachter beschäftigten und für eine hektische Betriebsamkeit in den Redaktionsstuben sorgten, stieß der aufmerksame Zeitungsleser überall auf Tabus. Beziehungsweise richtiger: auf Tabubrüche und Tabubrecher. Denn dass Populisten Tabus brechen und mithin gegen die Konventionen und die Regeln von gutem Anstand, hergebrachter Sitte und dominanter Moral verstoßen, ist weitgehend unbestritten. Bloß machte diese Konjunktur des Tabubegriffs nur umso deutlicher, wie unklar, wie breit und nicht zuletzt deshalb eben auch schwammig sein Gehalt ist. Sicher, es gehört zum Standardrepertoire – bei der Begründung von Heftschwerpunkten nicht anders als wissenschaftlichen Abschlussarbeiten –, den Gegenstand des eigenen Interesses als diffus und unbestimmt und eben deshalb bestimmungsbedürftig darzustellen. Diese Klage mag bisweilen über die Substanz einer Phrase nicht hinausreichen, im Hinblick auf Tabus trifft sie dennoch zu. Grundsätzlich lässt sich nahezu alles und jedes tabuisieren. Tabus können Personen, Lebewesen, Dinge oder irgendeinen mit bestimmten Vorstellungen behafteten Gegenstand betreffen. Lexikalisch werden Tabus ganz grundsätzlich zwei Bedeutungen zugeschrieben: zum einen das Verbot, bestimmte Dinge auszusprechen und zu tun. Und zum anderen die – nennen wir sie völkerkundliche – Bedeutung, dass tabuisierte Handlungen, geheiligte Orte, besondere Speisen nicht vollzogen, betreten oder genossen werden dürfen. Mit dieser zweiten Zuschreibung beschäftigt sich der Ethnologe Gundolf Krüger in seinem Text über die »Polynesischen Wurzeln« von Tabus und ihre Darstellung in den Reisebeschreibungen von James Cook. Im Vordergrund unseres Heftschwerpunktes wird allerding die erste Bedeutung stehen. In ihrer Betonung des Verbotscharakters verweist sie – wie freilich gleichfalls die völkerkundliche Essenz – darauf, dass Tabus Trennlinien markieren, Grenzen des Handelns, Redens, Denkens. Und insofern wohnt dann Tabubrüchen eine subversive Kraft inne, da sie die Alltagsordnung infrage stellen, Automatismen aushebeln, Gewohnheiten brechen. Tabubrüche sind Provokationen. Und wie diese können sie in einem positiven Sinne Aufklärungseffekte zeitigen, eben weil sie die ausgetretenen Deutungspfade bewusst verlassen und das Gegebene in ein neues, anderes Licht

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tauchen. Ebenso wie dies bei Provokationen der Fall ist, führt aber auch bei Tabubrüchen die potenziell aufklärerische Entlarvungsabsicht leicht zu unsachlicher Moralisierung, unterkomplexer Personalisierung und also zur Eindeutigkeitsillusion von Schuldzuweisungen, einem dichotomen FreundFeind-Denken und einer verengten Realitätssicht, die sich bis zur »Insulation« (Dieter Claessens) steigern kann, bei der alles das, was außerhalb der eigenen Gruppe passiert, gar keine Bedeutung mehr besitzt. Ein erhellendes Beispiel dafür ist der Spitzensport, den Antje Dresen kritisch analysiert. Dabei sind Tabubrüche im Jargon der Soziologen »die bevorzugte Waffe der Mindermächtigen« (Rainer Paris). Die bestehenden Verhältnisse kritisieren, ihren eigenen Ansichten Gehör verschaffen, die gegebene Ordnung stören – und sei es auch nur in einem winzigen Detailaspekt –, können sie am einfachsten durch provokative Tabubrüche. Sie stellen daher eine bevorzugte Waffe im Handlungsarsenal von Minderheiten und Bewegungen dar. Wobei sich Macht und Ohnmacht in seltenen Fällen auch verkehren und die Starken punktuell zu Schwachen werden können, wenn sich die Rechtsprechung gegen sie stellt. In seinem »juristischem Kommentar zu den Grenzen von Transparenz« plädiert vor diesem Hintergrund Karl Felix Oppermann für die »Schutzlosen«. Andererseits dürfte es kein Zufall sein, dass, wer über Tabus nachdenkt, sehr schnell bei dem Themenkomplex der »Sexualität« landet. Sichtbar markieren schon die in aller Regel geschlossenen Türen der Schlafzimmer die oben erwähnten, für Tabus insgesamt charakteristischen Grenzen des Handelns, Redens und Denkens. Aller Säkularisierung zum Trotz ist der Geschlechtsverkehr – mindestens in den hochentwickelten Gegenwartsgesellschaften der sogenannten Ersten Welt – auch heute noch einer Vielzahl von Tabus unterworfen. Gleich mehrere Autoren thematisieren daher Fragen aus dem weiten Spektrum der Sexualität. Tobias Neef untersucht die Entwicklung des Tabus der Pädosexualität, Jan Soldat schreibt über Zoophilie, also das Verhältnis zwischen Menschen und Tieren, und Ute Frietsch über dasjenige zwischen Mann und Frau. Und wenn wir geschlossene Türen als Symbol für Tabuisierungen ansehen, dann dürfen wir, wenn wir von Sexualität sprechen, auch über den Verdauungsakt nicht schweigen. Bei diesem sind die Türen schließlich für gewöhnlich sogar verschlossen. »Scheiße« hat Florian Werner seinen schönen Essay sinnigerweise genannt und es geschafft, sein Thema und dessen Tabuisierung in einem einzigen Wort zusammenzufassen. Doch genug davon an dieser Stelle, viele Leser werden selbst angesichts der kurz gehaltenen Ausführungen bereits die Nase rümpfen und sich abwenden.

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Editorial

Beide Themenkomplexe zeigen folglich auch dies exemplarisch: Tabubrüche polarisieren, indem sie provozieren, sie trennen Gesellschaften in zwei gegensätzliche Lager. Der polarisierende Konflikt nun erzeugt klare Verhältnisse, der gemeinsame Gegner schweißt die Tabubrecher zusammen und stiftet ein intensiv empfundenes Gemeinschaftserlebnis. Der Druck von außen erzeugt eine kollektive Betroffenheit, überdeckt interne Differenzen und stiftet Einheit. Ist das der Grund, warum die aufgrund einer dezidiert individualistischen Mitgliedschaft notorisch zerstrittene FDP – wie Franz Walter in seinem Text rekonstruiert – eine Zeitlang auf die Strategie des Tabubruches setzte? Offenkundig indes ist, dass Tabubrüche den Tabubrecher brauchen. Sie benötigen den Helden, den Charismatiker. Dieser Held ist authentisch und aufrichtig, er verwandelt das Stigma der Mindermächtigen in Charisma, ihr Leiden, ihre Diskriminierung werden durch sein Opfer und seine Bewährung in Selbstbewusstsein und Stolz transformiert. Teresa Nentwigs Portrait über den französischen Agent Provocateur Dieudonné belegt dies anschaulich. Natürlich darf in einem Europawahljahr schließlich auch der Blick über den Tellerrand auf den EU-Raum nicht fehlen. Karin Priester zeigt, welches Provokationspotenzial unter einer vermeintlich friedlichen Oberfläche in den wechselseitigen Vorurteilen besteht. Wobei sich der Blick nach Europa auch deshalb anbietet, als Systeme, die wie die EU auf ausgeklügelten Konsensund Konfliktvermeidungsverfahren basieren, besonders leicht provoziert werden können und für Tabubrüche daher äußerst anfällig sind. Und ebenso selbstverständlich wird der Schwerpunkt auch in dieser Ausgabe wieder ergänzt um einen freien Teil, in dem Franz Walter ein Projekt des Instituts für Demokratieforschung resümiert und Susanne Eschenburg, Rainer Eisfeld und Jürgen Falter die Debatte über Theodor Eschenburg fortsetzen. Last but not least freuen wir uns sehr, dass uns der bekannte Künstler Karl Oppermann für die Bebilderung dieser Ausgabe eine Auswahl seiner Collagen großzügig zur Verfügung gestellt hat.

Editorial

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INHALT 1 Editorial ΞΞMatthias Micus / Katharina Rahlf

TABU >> ANALYSE

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Polynesische Wurzeln

Tabus in den Reisebeschreibungen von James Cook ΞΞGundolf Krüger

17 Tabubruch und liberale Selbstzerstörung Die FDP und der Fluch des Tabubruchs ΞΞFranz Walter

30 Medienkultur, Transgression, Affekt Zu Tabubrüchen in Fernsehserien ΞΞIvo Ritzer

39 SCHEISSE

Über stille Orte, schmutzige Wörter und die Tabuisierung des Analen ΞΞFlorian Werner

48 Doping, Bournout und Depression Tabus im Spitzensport ΞΞAntje Dresen

56 Wer das Sagen hat Geschlecht als Tabu ΞΞUte Frietsch

64 Von Tieren und Menschen

Der Film als Medium, über Tabus zu kommunizieren ΞΞJan Soldat

73 Europäische Kulturkämpfe

Die protestantische Ethik, der Populismus und die Macht des Vorurteils ΞΞKarin Priester

81 Das »stärkste Tabu«

Zum Tabu der Pädosexualität und seiner Infragestellung ΞΞTobias Neef

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INDES, 2014–2, S. 4–5, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014, ISSN 2191–995X

>> KOMMENTAR 91 Plädoyer für die Schutzlosen

Ein juristischer Kommentar zu den Grenzen von Transparenz ΞΞKarl Felix Oppermann

>> PORTRAIT 96  Von Klößen, einem Elefantengesicht und Pornografie Die unglaubliche Welt des Dieudonné ΞΞTeresa Nentwig

PERSPEKTIVEN >> STUDIE 107 Schweigen der Honoratioren

Der Chirurg Rudolf Stich, der National­sozialismus, das Göttinger Bürgertum und die Wissenschaft ΞΞFranz Walter

>> KONTROVERSE 119  Theodor Eschenburg und die deutsche Vergangenheit Die halben Zitate der Toten ΞΞSusanne Eschenburg

Kommentar zu Hans-Joachim Lang: »Die Enteignung Wilhelm Fischbeins – und was Theodor Eschenburg damit zu tun hat« ΞΞRainer Eisfeld

>> INTERVIEW 126  »Die deutsche Politikwissenschaft ist geschichtsvergessen« ΞΞEin Gespräch mit Jürgen Falter über die Kontroverse um Theodor Eschenburg und die Vergangenheit der Politikwissenschaft

INHALT

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SCHWERPUNKT: TABUS

ANALYSE

POLYNESISCHE WURZELN TABUS IN DEN REISEBESCHREIBUNGEN VON JAMES COOK 1 ΞΞ Gundolf Krüger

Während der Zeit der Spätaufklärung rückten in Europa jene Pazifik-Inseln »am anderen Ende der Welt« in den Fokus wissenschaftlicher Neugier und eskapistischer Sehnsüchte, deren Assoziationen bis in die Gegenwart eng mit 1 

Bei diesem Aufsatz handelt es sich um eine Zusammenfassung und Überarbeitung des folgenden Katalogbeitrages: Gundolf Krüger, Tabu. Die Macht der Götter in Polynesien, in: Ders., Ulrich Menter u. Jutta Steffen-Schrade (Hg.), Tabu?! Verborgene Kräfte – Geheimes Wissen, Katalog zur Niedersächsischen Landesausstellung 2012, Petersberg 2012, S. 13–25. 2 

Polynesien (Vielinselwelt) ist neben Melanesien (Schwarzinselwelt) und Mikronesien (Kleininselwelt) eine der drei Teilregionen von Ozeanien (Südsee). 3  Vgl. Karl-Heinz Kohl, Entzauberter Blick. Das Bild vom Guten Wilden und die Erfahrung der Zivilisation, Frankfurt a. M. 1983, S. 203. 4  Vgl. Nicholas Thomas, Cook. The Extraordinary Voyages of Captain James Cook, New York 2003, S. xx. 5  Vgl. Hans Ritz, Die Sehnsucht nach der Südsee. Bericht über einen europäischen Mythos, 2. Aufl., Göttingen 1983, S. 46.

dem Mythos vom »Südseeparadies« verknüpft sind: Polynesien mit seinen Archipelen Tahiti und den Gesellschaftsinseln, Tonga und Hawai’i.2 Als im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts mit der Kartographierung des Pazifischen Ozeans die endgültige Erschließung der Weltmeere durch die Franzosen und Engländer vollzogen wurde, entstanden durch die Expeditionsberichte in Europa Gegenweltprojektionen, die sich bis heute verklärend in der Werbung, in Fernreiseprospekten und im Genre exotischer Abenteuerfilme wiederfinden.3 Die Begegnungen jener Zeit waren geprägt vom Wechselspiel gegenseitiger Wertschätzung ebenso wie auch kultureller Missverständnisse und brüsker Ablehnung des jeweils Anderen. So, wie die Franzosen und Engländer die Südsee »entdeckten«, entdeckten die Bewohner Polynesiens ihrerseits ein Stück von Europa: Und mit diesen Begegnungen verbanden sich gleichermaßen Überraschungen und Irrtümer wie auch Gewalttätigkeiten und sprachliche Missverständnisse; auf beiden Seiten waren die Bewertungen der Begegnungen nicht einfach nur positiv oder negativ, sondern gekennzeichnet durch Unsicherheit und Vieldeutigkeit.4 TABU IN TAHITI Als der französische Kapitän Antoine de Bougainville (1729–1811) am 2. April 1768 Tahiti erreichte, wähnte er sich dem Paradies sehr nahe: »La Nouvelle Cythère« nannte er die Insel, in Anlehnung an das sagenhafte antike Kythera, das einst der Liebesgöttin Venus geweiht war.5 Ganz im Sinne dieser Huldigung urteilte auch Philibert Commerson (1727–73), Arzt und Naturforscher

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in Diensten Bougainvilles, über die Bewohner Tahitis: »Geboren unter dem schönsten Himmelsstrich, genährt von den Früchten eines Landes, das fruchtbar ist, ohne bebaut zu werden, regiert eher von Familienvätern als von Königen, kennen sie keinen anderen Gott als die Liebe«6. Polynesischer Realität entsprachen solche Schwärmereien nicht. Als eine filmische Auseinandersetzung mit den frühen Reisebeschreibungen ist das aus dem Jahr 1931 stammende Stummfilm-Werk »Tabu. A Story of the South Seas« von Friedrich Wilhelm Murnau (1888–1931) zu begreifen. Mythos und Realität verbinden sich in dieser unglücklichen Liebesgeschichte aus dem Gebiet der Gesellschaftsinseln zu einem Mosaik aus fiktionalen und eurozentrisch gefärbten Handlungsmustern, aber auch ethnographisch solide recherchierten Inhalten. Der Polynesier Matahi liebt Reri, eine junge Frau von Bora Bora. Diese wird jedoch zur Priesterin bestimmt und ist fortan für alle Männer tabu. Der Film lässt ebenso polytheistische Glaubensvorstellungen wie auch ein differenziertes Werte- und Normensystem erkennen, welches das soziale Leben in den vorkolonialen Gesellschaften Polynesiens regulierte. Mit letzterem verbinden sich im Film gesellschaftliche Rang- und Statuszuschreibungen, deren Gültigkeit und beständige Sicherung durch Vorschriften erfolgte, die sich in dem schillernden Begriff Tabu widerspiegeln. Ursprünglich fand das Wort Tabu durch den englischen Kapitän James Cook (1728–1779) und seine wissenschaftlichen Reisebegleiter Eingang in die englische Sprache, also bereits lange vor Murnaus Filmepos. Cook, der während seiner drei Südsee-Expeditionen (1768–1779/80) Tahiti viermal aufsuchte, maß dem Begriff Taboo vorrangig die Bedeutung im Sinne eines »Verbotes« bei. Reduziert auf diesen in Europa internalisierten Sinngehalt von etwas Verbotenem ist die Bezeichnung Tabu heute nicht nur bei uns, sondern auch in seinem Herkunftsgebiet Polynesien nach wie vor verbreitet. So findet der Begriff dort als »Stoppschild« (tapu bzw. hawaiisch kapu) Verwendung, um im Sinne von »No Trespassing« unerlaubtes Betreten von privaten Grundstücken oder Wegen zu verhindern. In ähnlicher Weise kennzeichnet das Wort traditionelle Orte wie Grab- und Gedenkstätten sowie Tempelanlagen aus vorkolonialer Zeit, deren unerlaubtes Betreten als Frevel gilt. Zusammengesetzt aus den Bestandteilen ta und pu als etwas »ganz besonders Gekennzeichnetem«, beinhaltete das polynesische Wort tapu in früheren Zeiten indes mehr als ein bloßes Verbot. Bereits während seiner ersten Reise in die Südsee (1768–71) erlebte Cook nicht nur die soziale, sondern auch die religiöse Tragweite dieses Begriffs. Nach der Umsegelung Südamerikas und einer mehr als zweimonatigen Fahrt durch den Pazifischen Ozean erreichte er Anfang April 1769 die Insel Tahiti. Tief beeindruckt von der freundlichen

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Tabus — Analyse

6  Zit. in Klaus-Georg Popp (Hg.), Louis Antoine de Bougainville – Reise um die Welt, Stuttgart 1980, S. 367.

Aufnahme durch die Einheimischen empfand er die Würdigung seiner Person als die eines Oberhauptes, gleichrangig mit den dortigen Herrschern. Der im Vergleich zu manchen seiner Zeitgenossen eher nüchtern denkende Cook durchschaute sehr schnell die fremde soziale Wirklichkeit und sah, dass es sich hier um eine stratifizierte Gesellschaft mit gottgleichen Herrschern handelte: Der arii (Häuptling) erteilte Befehle und ihm wurde strikt gehorcht; er durfte nur in bestimmter Weise angesprochen werden; seine Person, seine Kleidung, sein Besitz wurden geschützt durch tapu; er verfügte über Personen, die das tapu überwachten; er hatte seinen eigenen Tempel marae, seinen eigenen Versammlungsplatz, seinen eigenen Berg; als arii nui (großer Häuptling), waren sein Haus, sein Kanu, der Boden, den er betrat, sein Körper und besonders sein Kopf heilig.7 Auf eine enge Verknüpfung religiös-sakraler und sozialer Aspekte von Tabus deuteten auch Begegnungen auf den Tonga-Inseln während der zweiten und dritten Südsee-Reise (1772–75; 1776–79/80) hin, bei denen das Wort tapu im Zusammenhang mit ehrerbietenden Gesten gegenüber Obrigkeiten – oft im Flüsterton – Verwendung fand. Von den Insulanern wurde Cook deutlich gemacht, dass es sich speziell bei der südlichsten Insel des Archipels, die bis heute den Namen Tongatapu trägt, aus indigener Sicht in einer direkten Übersetzung des Begriffs um den »Heiligen Süden« handelte. Im dortigen Herrschaftsgebiet residierte das Oberhaupt Paulaho. Alltägliche Szenen der Unterwürfigkeit von Angehörigen des Volkes gegenüber diesem Herrscher und auch Häuptlingen aus dessen Umfeld ließen Cook folgern, dass der Begriff tapu im Königreich Tonga zur Einhaltung der vorgeschriebenen Etikette im Umgang mit einer despotische Züge tragenden Zentralgewalt diente. Cook beschrieb dies am Beispiel eines Essens, zu dem er eingeladen hatte, unter Verweis auf einige der Einheimischen, die angaben, dass die angebotenen Speisen (wohl wegen der Anwesenheit von Häuptlingen) für sie selbst als Untergebene tabu seien. Bereits zuvor auf Tahiti hatte er mit Erstaunen registriert, dass biswei7 

Vgl. John Cawte Beaglehole (Hg.), The Journals of Captain James Cook on his Voyages of Endeavour. The Voyage of the Resolution and Adventure 1768–1771, Bd. 1, Cambridge 1955, S. clxxviii–clxxix.

8  Vgl. ebd., S. 86; John Cawte Beaglehole (Hg.), The Journals of Captain James Cook on his Voyages of Discovery. The Voyage of the Resolution and Discovery 1776–1780, Bd. 3, Part One, Cambridge 1967, S. 116–129.

len Häuptlinge gefüttert werden mussten, weil sie offenbar einem Speisetabu unterlagen und die Nahrung nicht selbst mit ihren Händen berühren durften. Cook resümierte, dass das Wort Tabu offensichtlich eine sehr komplexe Bedeutung hätte bzw. eine komplizierte Angelegenheit wäre, die den Aspekt von Unberührbarkeit in sich bergen würde, im Allgemeinen aber einen von den gottgleichen Herrschern verordneten Verhaltenskodex kenzeichnete.8 SAKRAL BEGRÜNDETER VERHALTENSKANON Auf der zweiten Reise besuchte Cook im September 1773 eine Tempelanlage in Tahiti, um Genaueres über Bestrafungen bei Tabubrüchen in Erfahrung Gundolf Krüger  —  Polynesische Wurzeln

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zu bringen: »Eines Tages ging ich zu einem marai in Matavai […] ich begann […] zu fragen: […] ob dem Gott Schweine, Hunde, Federvieh usw. geopfert würden […] weiterhin fragte ich, ob […] Menschenopfer dargebracht würden […] alle […] Antworten schienen auf einen Punkt hinzudeuten, daß nämlich Menschen, die sich eines Verbrechens schuldig gemacht hatten, den Göttern geopfert wurden […] und solche im allgemeinen der unteren gesellschaftlichen Klasse des Volkes entstammten«9. Mehr religiös erhellenden Bezugsebenen von Tabus kam während der zweiten Reise Cooks (1772–75) der junge Georg Forster (1754–94), wissenschaftlicher Assistent seines Vaters, des Naturforschers Reinhold Forster (1729–1798), auf die Spur. Im August 1773 beobachtete er in der MatavaiBucht von Tahiti, dass dort an einer tempelähnlichen Anlage, die als Begräbnisplatz für Oberhäupter diente, vorbeigehende Einwohner ohne Unterschied

9  John Cawte Beaglehole (Hg.), The Journals of Captain James Cook on his Voyages of Discovery. The Voyage of the Resolution and Adventure 1772–1775, Bd. 2, Cambridge 1961, S. 233 f. (dt. Übers.: Krüger).

ihres Standes zum Zeichen der Ehrerbietung ihre ponchoartigen Gewänder (tiputa) an den Schultern entblößten. Er betrachtete diese Geste als eine von den Göttern begründete Vorschrift, sah solche Plätze als besonders heilig an und brachte sie in einen Zusammenhang mit dem Einfluss und der Macht von Göttern auf das Leben der Menschen, indem er urteilte: »Vielleicht halten sie dafür, daß die Gottheit an solchen Plätzen unmittelbar gegenwärtig sey«10. Eingedenk einer gesellschaftlichen Verfassung und der Teilung der Bevölkerung in drei Klassen, die er dem »alten europäischen Feudal-System« gleichsetzte, fiel ihm auf, dass sich in Tahiti ebenso wie in Tonga die soziale Ordnung in Gottesdiensten widerspiegelte, die »neben den Gräbern« abgehalten wurden: Die Gründe dafür verloren sich für ihn indes im Dunkeln, »denn die Religions-Artikel eines Volkes sind gemeiniglich dasjenige, wovon der Reisende die wenigste und späteste Kenntniß erlangt, zumal wenn er in der Landesprache so unerfahren ist als wirs in der hiesigen waren«11. Welche begrifflichen Konnotationen sich mit den religiös und sozial verankerten Verhaltensvorschriften verbanden, zeigt ein Blick auf Schilderungen, die das Spannungsfeld von Tabus zwischen der Einhaltung von etwas unausgesprochen Verbotenem und der unbeabsichtigten Verletzung oder gar dem bewussten Bruch des Nicht-Erlaubten festhalten. Die frühen Quellen der Encounter-Situation am Ende des 18. Jahrhunderts verweisen dabei immer wieder auf Gefahren, die von tabuisierten Personen, Objekten und Handlungen ausgingen, und die damit verbundenen menschlichen Gefühle der Furcht.12 In der Weise, wie das Ausmaß an Verbindlichkeit und Strenge von Tabus von den jeweiligen (gottgegebenen) Autoritäten abhing, so erfolgte auch deren Respektierung oder Bruch aus dem mehr oder weniger ausgeprägten Gefühl der Angst vor den Konsequenzen eines Tabubruchs.

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Tabus — Analyse

10  Georg Forster, Reise um die Welt, 1. Teil und 2. Teil, Georg Forsters Werke, Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe, bearb. von Gerhard Steiner, Bd. 2, Berlin 1989, S. 269. 11 

Ebd., S. 299, 362, 378.

12  Freud hat diesem TabuAspekt im Hinblick auf die Ambivalenz der menschlichen Gefühlsregungen eine besondere Würdigung gegeben. Indem er aber Tabus zentral auf den pathologischen Zustand von Zwangsgefühlen des Menschen zurückführte, übersah er, dass das Bewusstsein des Zwanges im Sinne einer Neurose den an Tabus beteiligten Akteuren in Polynesien fehlt und insofern ein Vergleich obsolet ist. Vgl. Sigmund Freud, Totem und Tabu, Leipzig 1925, S. 26–92. Siehe hierzu auch Sabine Helmers, Tabu und Faszination. Über die Ambivalenz der Einstellung zu Toten, Berlin 1989, S. 26–27. Steiner spricht von einer »Soziologie der Gefahr«, die es sich zur Aufgabe machen sollte, durch Tabu-Bestimmungen gefährliche Phänomene in einer Gesellschaft zu markieren und sie durch ihre Ausgrenzung in eine sozial verträgliche Form zu bringen. Vgl. Franz Steiner, Taboo, London 1956.

Dies zeigt mit Blick auf die verschiedenen Bedeutungen, dass man bei polynesischen Tabus von einem prohibitiven Kanon von expliziten Verboten sowie individuell entschiedenen Meidungen und Enthaltungen sprechen konnte: Während Verbote institutionalisierte oder private Untersagungen waren, stellten Meidungen ein persönlich abzuschätzendes vorsichtiges Verhalten wegen als gefährlich gedachter Zusammenhänge bzw. ein eingeschränktes Verhalten in Gefahrensituationen dar und wandelten sich dann zu Enthaltungen, wenn das Tabu z. B. körperliche oder nahrungsbedingte Abstinenz verlangte.13 Wie aus den Reiseberichten übereinstimmend deutlich wird, bestand mit dem System von sakral begründeten Verboten in den nach Ständen geschichteten Gesellschaften Polynesiens ein Ordnungsinstrument, das ebenso das soziale wie auch das politische und religiöse Leben in allen nur erdenklichen Bereichen zu durchdringen vermochte und dabei die allgegenwärtige Furcht vor den Konsequenzen bei Tabubrüchen für Leib und Leben systemerhaltend schürte. Das tapu-Prinzip schützte mithin Menschen mit Ansehen, Autorität und Rang und schien deren Macht zu legitimieren. Äußerlich erkennbar waren solche Personen weltlicher und sakraler Macht durch bestimmte Bekleidungen und Zeichen besonderer Würde, in Hawai’i waren dies zum Beispiel und vor allem mit Federn besetzte Helme und Schulterumhänge. MANIFESTATION DES GÖTTLICHEN Vor dem Hintergrund der genannten Deutungsebenen religionsgebundener Verflechtungen des Wortes Tabu muss dabei unter Berücksichtigung ethnographischer Untersuchungen aus späterer Zeit zur Begründung der Heiligkeit von bestimmten Personen festgehalten werden, dass sich die Angehörigen des Adels in den Gesellschaften Polynesiens genealogisch generell von den Göttern ableiteten. Insofern waren es Familien und Oberhäupter aus dieser Schicht, die aufgrund ihrer mehr oder weniger weit zurückreichenden Stammbäume für sich eine indirekte oder direkte Abkunft bzw. besondere Nähe zu den obersten Gottheiten innerhalb des polytheistischen Pantheons mit seinen drei bis sechs Hauptgottheiten, zahlreichen Protektorats- und Hausgottheiten, vergöttlichten Vorfahren und Kulturheroen beanspruchten. Als Manifestation des Göttlichen auf Erden ging deshalb von den unterschiedlichen Häuptlingsämtern und mit ihnen häufig verwandtschaftlich verbundenen Priesterämtern jene graduelle Tabuier-Gewalt aus, welche die sakralen Privilegien gegenüber dem gemeinen Volk rechtfertigte und sicherte. Um das tapu-Konzept in den vorkolonialen polynesischen Gesellschaften zu erhalten und permanent auszubalancieren, bedurfte es einer Kraft, für

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Tabus — Analyse

13  Vgl. Friedrich Rudolf Lehmann, Die polynesischen Tabusitten. Eine ethno-soziologische und religionswissenschaftliche Untersuchung, Leipzig 1930, S. 286–288; Franz Baermann Steiner, Tabu, truth, and religion. Selected Writings, Bd. 1, New York 1999, S. 107–109. Über persönliche Entscheidungsmöglichkeiten für Meidungen gingen indes die rigiden Essentabus, v. a. in Hawai’i (’ai kapu) und Tahiti, hinaus: Hundefleisch beispielsweise war ein so gutes Essen, dass man es mit den Göttern teilen musste. Nur Priestern und Adligen war offiziell ihr Verzehr gestattet, dennoch gab es gleichwohl auch inoffizielle, von der Obrigkeit zugelassene Möglichkeiten für Kinder und Frauen, an das begehrte Fleisch zu gelangen. Vgl. Marvin Harris, Wohlgeschmack und Widerwillen: die Rätsel der Nahrungstabus, 2. Auflage, Stuttgart 1989, S. 194–196.

die es bis heute in Polynesien den Begriff mana gibt. Dieser spirituelle, aus den polynesischen Schöpfungsvorstellungen generierte Energieträger manifestierte die Macht der Götter auf Erden. Als »das außerordentlich Wirkungsvolle«14 umfasste es im irdischen Leben schöpferische Potenz, Vitalität, Wachstum, Fruchtbarkeit, Erfolg und Kompetenz.15 Erfolgsbestimmt konnte mana durchaus losgelöst von Autoritätsstrukturen »ohne Wissen« wirken und auch als Glück begriffen werden.16 Im Wesentlichen aber grenzte das mana die Lebenssphäre von herausragenden Personen als besonders kraftgeladen und außergewöhnlich wirksam vom gewöhnlichen Leben (noa) ab. Mana war als Wirksamkeit höherer Abstrahlung, die ebenso Menschen wie auch Tieren, Pflanzen und sogar leblosen Dingen innewohnen konnte, mit dem tapu-Prinzip untrennbar verbunden. Es konnte vom Menschen ererbt (Häuptlinge) oder im Laufe des Lebens durch Leistung und Erfolg (z. B. als 14  Friedrich Rudolf Lehmann, Mana: der Begriff des »außerordentlich Wirkungsvollen« bei Südseevölkern, Leipzig 1922. 15  Vgl. Hermann Mückler, Einführung in die Ethnologie Ozeaniens. Kulturgeschichte Ozeaniens, Bd. 1, Wien 2009, S. 164.

Priester, Krieger) erworben bzw. rituell von Mensch zu Mensch übertragen werden. Schwankend in seiner Intensität, konnte mana auch verloren gehen: Gebrechen im Alter, Niederlagen im Kampf, Unentschlossenheit im politischen Handeln, falsch erachtete Auslegungen historischer Ereignisse, falsche Rezitationen von Häuptlings-Genealogien und nicht eintretende Prophezeiungen oder rituelle Verfehlungen sowie Tabuüberschreitungen bewirkten dies. Bei Häuptlingen und Angehörigen der Adelsschicht, die durch herausragende

16  Vgl. Mary Douglas, Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu, Berlin 1988, S. 148. 17  Während der dritten Reise wurden Cook und seine Begleiter selbst Zeugen eines Menschenopfers. Ein Bild dazu wurde von dem Zeichner der Reise, John Webber, angefertigt. Vgl. Rüdiger Joppien u. Bernard Smith (Hg.), The art of Captain Cook’s voyages, Bd. 3, The Voyage of the Resolution and Discovery, 1776–1780, Paul Mellon Centre for Studies in British Art, New Haven 1988, S. 49. 18  Hans-Jürgen Greschat, Mana und Tapu. Die Religion der Maori auf Neuseeland, Berlin 1980, S. 78–80. 19  Vgl. Werner Kreisel, Die pazifische Inselwelt. Eine Länderkunde, 2., völlig neu bearbeitete Auflage, Berlin 2004, S. 53.

Taten zu großem Ansehen gelangt waren, vollzog sich mit Hilfe ihres vermehrten mana bisweilen zu Lebzeiten bereits eine Apotheose. Verstarben sie ohne mana-Verlust, so blieb dieses mana in ihren Gebeinen zurück und strahlte auf die Lebenden am Bestattungsplatz ab bzw. erhielt sich in ihren aufbewahrten Knochen und Schädeln.17 Mana kann in seiner umfassendsten Bedeutung auch als »Treibstoff«18 des Lebens verstanden werden: Wo Leben sichtbar erblühte, wo Jagd und Fischfang erfolgreich waren, wo die Lebensbedingungen günstig waren und das Herrschaftsgebiet eines Häuptlings wuchs, dort wirkte mana, und die dafür verantwortliche, machtvolle und geheiligte Person besaß sehr viel davon.19 Das mana-schützende tapu-Prinzip verpflichtete Statusträger und Oberhäupter immer auch zu Gegenleistungen gegenüber dem Volk, denn dadurch wurde mana sichtbar gemacht und blieb erhalten bzw. konnte gesteigert werden. Insofern untersagte das Tabu als ein eng geflochtenes Netz von Verboten und Geboten bestimmte Handlungen dem Einzelnen nicht ausschließlich zu tun, sondern auch zu unterlassen. So gesehen wusste jeder Einzelne, was für ihn verboten, aber auch, was für ihn vorgeschrieben war bzw. welches Handeln für das Oberhaupt im richtigen Moment geboten erschien. Gundolf Krüger  —  Polynesische Wurzeln

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WÜRDEZEICHEN POLYNESISCHER GESELLSCHAFT In dem tributären Staatswesen des Inselreiches Tonga gab es die zentralen Gewalten zweier königgleicher Herrscherlinien (tu’i kanokupolu und tu’i tonga), unter den rivalisierenden Häuptlingstümern der Inselgruppen von Tahiti und Hawai’i waren es die höchsten Herrscher (ari’i nui bzw. ali’i nui), auf deren Veranlassung hin dem Volk im Rahmen von bestimmten Jahresfesten ein Teil der Abgaben in möglichst veredelter Form zurückgegeben wurde. Es war wichtig, »dass der Häuptling über die Fähigkeit und die Ressourcen verfügte, großzügige Feste auszurichten, denn das steigerte nicht nur sein persönliches Prestige, sondern auch das seines Stammes«20. Als beispielsweise James Cook im Januar 1779 nach Hawai’i kam, fand dort gerade das alljährliche makahiki-Fest statt. Es stand im Zeichen Lonos, des Gottes für Frieden und Fruchtbarkeit. Im Sinne einer Krafterneuerung der gesamten Gemeinschaft waren die Häuptlinge bei diesem Erntedankfest traditionell verpflichtet, verschiedene Tabuvorschriften aufzuheben: Vorübergehend gab es keine Schranken zwischen den gesellschaftlichen Klassen, keine Essenstabus zwischen den Geschlechtern und keine Ortstabus, zum Beispiel zur Meidung bestimmter sakraler Plätze. Einige Plätze in Polynesien indes waren so heilig, dass deren Betreten ganzjährig nur hohen Priestern erlaubt war. Die heiligste aller Tempelanlagen in Polynesien war der Ort taputapuatea in Raiatea, einer Insel, die zu den Gesellschaftsinseln zählt. Dieser Platz kann als »internationaler marae« bezeichnet werden und galt als besondere Weihestätte der Götter.21 Von diesem marae existiert heute nur noch ein viereckiger Umriss (42x8 m) mit den Resten eines steinernen Walles und einer Steinpyramide. Nicht zuletzt wegen seiner besiedlungsgeschichtlichen Relevanz aufgrund von Verbindungen zu gleichnamigen Orten in Hawai’i und Rarotonga (Cookinseln), ist dieser marae als zentraler Versammlungsort der Priesterschaften polynesischer Inseln zu betrachten und auch heute noch ein mit viel mana behafteter Ort der Zusammenkunft aktueller politischer Führer und Oberhäupter der polynesischen Inselstaaten.22 Auch Objekte und deren ausgewählte Materialien spiegelten als Würdezeichen das Gesellschaftssystem wider, indem sie mit viel mana behaftete Statusträger innerhalb der hierarchischen Ordnung visualisierten und im

20  Adrienne L. Kaeppler, Begegnungen im unbekannten Pazifik, in: Dies. u. a. (Hg.), James Cook und die Entdeckung der Südsee, Kunstund Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 2009–2010, München 2009, S. 88–92, hier S. 90. 21  Vgl. Teuira Henry, Ancient Tahiti, Honolulu 1928, S. 119 ff.

Fall von Oberhäuptern auch deren Heiligkeit erkennen ließen. Insofern gab es eine materialisierte Symbolik von mana und tapu. Geht man von den immanenten Bezugsebenen von Materialität aus, sind für Polynesien neben der sichtbaren und haptischen Stofflichkeit und der immateriellen gesellschaftlichen Verwertbarkeit im Sinne von Statuskennung und -zuschreibung, durch

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Tabus — Analyse

22  Der Platz taputapuatea von Raraotonga wird bis heute als Veranstaltungsort für Feste kultureller Identitätsfindung, wie z. B. beim Festival of Pacific Arts im Jahr 1992, genutzt.

die man besondere Gegenstände als mana-geladene Objekte oder Tabuzeichen begreifen konnte, auch rituelle Gesten zu berücksichtigen, die allein auf sinnlichen Wahrnehmungen beruhten. Innerhalb so gearteter Handlungen wurde beispielsweise mana als Energieträger über den Atem übertragen. Obwohl nicht sichtbar, wurden solche zwischen Häuptlingen und Kriegern vorkommenden Kraftübertragungen im Bewusstsein der Beteiligten »stofflich« wahrgenommen.23 Die »Vergegenständlichung« des mana hatte in Polynesien zu der Vorstellung geführt, dass unbelebte Materialien und kulturelle Artefakte durch den Kontakt mit mana-Trägern (v. a. Gottheiten und Häuptlingen) ihre außerordentliche Wirksamkeit entfalteten. Als besondere sichtbare Materialien galten in Polynesien Zähne von Walen, menschliche Haare, menschliche bzw. tierische Zähne und Knochen. Eine wichtige Rolle spielten auch rote Federn. Sie genossen, wie die Europäer schnell herausfanden, in ganz Polynesien, vornehmlich in Hawai’i und auf den Gesellschaftsinseln, allerhöchste Wertschätzung. Charakteristisch für die heiligsten Kulturzeugnisse von Hawai’i waren mit roten und gelben Federn besetzte Kleider, Götterbildnisse und kapu-Stäbe. Zum Schutz von James Cook und seiner Begleiter wurde auf Veranlassung eines hawaiischen Häuptlings ein Lagerplatz geschaffen, der sichtbar mit hölzernen und mit Federn besetzten kapu-Stäben gegen die Neugierde und die Aufdringlichkeiten von Einheimischen umgrenzt wurde.24 In der Folge seines Aufenthaltes mit Priestern und Häuptlingen konfrontiert, wurde Cook das ganze Ausmaß höchs23  Besonders von den neuseeländischen Maori sind viele Beispiele dafür bekannt. 24  Gekreuzte Tabuzeichen sind auch auf einer Abbildung zu sehen, die Cook im Kreis von Priestern zeigt. Zwei solcher Tabuzeichen befinden sich in der Ethnologischen Sammlung der Universität Göttingen. 25  Vgl. Adrienne L. Kaeppler, Die Göttinger Sammlung im internationalen Kontext, in: Brigitta Hauser-Schäublin u. Gundolf Krüger (Hg.), James Cook. Gaben und Schätze aus der Südsee. Die Göttinger Sammlung Cook/Forster, München 1998, S. 86–93; Bradd Shore, Mana and Tapu, in: Alan Howard, Robert Borowsky (Hg.), Developments in Polynesian Ethnology, Honolulu 1989, S. 137–174, hier S. 154.

ter kapu-geschützter Symbole im religiösen, sozialen und politischen Leben schließlich gewahr: Kopf und Rücken als heiligste Körperteile von Herrschern wurden stets mit Federmänteln bzw. Federcapes und Federhelmen bedeckt. Diesen Kleidungsstücken gemein war, dass sie neben den applizierten roten Federn, die dem Träger göttliche Lebenskraft schenkten, in der Regel auch halbmondförmige Muster aus gelben Federn besaßen. Während Umhänge Abfolgen von halbmondförmigen Bögen aufwiesen, hatte der Helm einen gelben Federkamm in Gestalt eines nach oben gewölbten Halbmonds, der im rechten Winkel zum Umhang gewissenmaßen dessen Fortsetzung am Kopf darstellte. Der für solche gelben Muster verwendete Begriff hoaka enthielt Potenzen wie »Pracht« und »Leuchtkraft«, »Ruhm«, »Erschrecken« und »Abwehrkraft«.25 Als Cook am 26. Januar 1779 von dem mächtigsten hawaiischen Häuptling, Kalani’opu’u, zahlreiche Federarbeiten als Gastgeschenk erhielt, dürfte dies als eine Geste des Teilens von mana auf gottgleicher Ebene gewertet werden. Rote Federn fanden sich auch als sichtbarstes Zeichen von Federbildnissen ki’i hulu manu wieder, die entweder den Friedensgott Lono oder Gundolf Krüger  —  Polynesische Wurzeln

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den Kriegsgott Kuka’ilimoku repräsentierten. Letzterer hatte der Mythologie zufolge als rot gefiederter Vogel die ersten Adelsgeschlechter von Tahiti aus nach Hawai’i schützend begleitet und deren Usurpation des Archipels gesichert.26 Mit Kuka’ilimoku identifizierten sich in Hawai’i die Häuptlinge ali’i.27 Das weltweit besterhaltene Bildnis des hawaiischen Kriegsgottes Kuka’ilimoku befindet sich in der Ethnologischen Sammlung der Universität Göttingen. Es wurde anlässlich einer großen Ausstellung der Academy of Arts in Honolulu, Hawai’i, im Jahr 2006 gezeigt. Nicht zu übersehen war bei dieser Schau, dass viele Besucher hawaiischer Abstammung dem Federbildnis als ältestem und wertvollstem Zeugnis ihrer traditionellen Kultur mit ganz besonderer Wertschätzung und Ehrerbietung begegneten. Immer wieder wurde betont, dass von dem wirkmächtigen Federbildnis eine nie versiegende spirituelle Kraft bzw. göttliche Abstrahlung ausgeht.

Dr. Gundolf Krüger, geb. 1950, Studium der Ethnologie, Anthropologie und Volkskunde in Göttingen, Promotion 1984. Ab 1982 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Göttingen; 1987/88 wissenschaftlicher Museumsassistent am Ethnologischen Museum Berlin; 1988 bis 1990 Referent für Öffentlichkeitsarbeit am Linden-Museum Stuttgart, Staatliches Museum für Völkerkunde. Seit 1991 tätig als Kustos der Ethnologischen Sammlung und als Dozent am Institut für Ethnologie der Georg-August-Universität Göttingen. Forschungs- und Filmprojekte in Polynesien und Mikronesien.

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26  Vgl. Marshall Sahlins, Der Tod des Kapitän Cook. Geschichte als Metapher und Mythos als Wirklichkeit in der Frühgeschichte des Königreichs Hawaii, Berlin 1989. 27  Vgl. Valerio ­Valeri, Kingship and Sacrifice. Ritual and Society in ancient Hawaii, Chicago 1985.

TABUBRUCH UND LIBERALE SELBSTZERSTÖRUNG DIE FDP UND DER FLUCH DES TABUBRUCHS ΞΞ Franz Walter

Die Bürgerlichkeit schwand. Und damit wandelte sich auch der politische Stil; er wurde derber, gewann plebejische Züge. Kaltschnäuzige Tabubrecher ersetzten besonnene Honoratioren. Und dies setzte insbesondere in den 1980er/ 1990er Jahren ein. An die Stelle des alten Bürgertums trat in den mittel- und westeuropäischen Gesellschaften eine an Zahl stärkere, kulturell hingegen wenig ambitionierte »neue Mitte«. Mit der klassischen liberalen Partei von Maß und Ausgleich hatte diese neubürgerliche europäische Mitte kaum etwas im Sinn. Aus dem Zentrum der europäischen Gesellschaften – und oft auch aus herkömmlichen liberalen Parteien – heraus wuchs vielmehr ein plebiszitärer Populismus heran, der in seinem Feldzug gegen die alten »Herrschafts- und Blockadekartelle« in Politik und Staat neue Wählersegmente einzusammeln versuchte. Nicht ganz wenige in diesem bürgerlichen Spektrum waren beeindruckt, wie insbesondere ein agiler Kärntner seine sieche liberale Kleinpartei zu einer breiten Sammlungsbewegung des Protests hochtrimmte, welche die Altparteien in immer neuen Kampagnen virtuos vor sich hertrieb und damit die Themen auf der politischen Agenda platzierte. So setzten sich in mehreren europäischen Ländern radikal-populistische Parteien der rechten Mitte in der Krise der bisherigen Großparteien durch; neben Österreich noch in der Schweiz, in den Niederlanden und in Skandinavien. Einige politische Formationen gehörten zur liberalen Parteifamilie. Sie wurden zum Vorbild des Chefs der FDP in Nordrhein-Westfalen, Jürgen W. Möllemann. Dieser galt seit den 1970er Jahren als enfant terrible der FDP, hoch begabt, aber in seinem Ehrgeiz aller Skrupel bar und letztlich unberechenbar in seinen Aktionen. Möllemann hatte den Aufstieg der neu-populistischen Attackierer in den Nachbarländern genau verfolgt. Normen und Regeln zu brechen, wurde über ihn zum freidemokratischen Projekt Anfang des 21. Jahrhunderts. Bei den ersten Bundestagswahlen im vereinten Deutschland hatte die FDP mit 11,0 Prozent der Wählerstimmen noch glänzend abgeschnitten, nicht zuletzt in den neuen Bundesländern. Aber das klassische Honoratiorenmodell passte nicht recht auf die in den Jahrzehnten der SEDHerrschaft entbürgerlichte Gesellschaft der Nachwende-Zeit. Im Westen

INDES, 2014–2, S. 17–29, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014, ISSN 2191–995X

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Deutschlands schwand ebenfalls die alt-mittelständische Bürgerlichkeit von ehedem dahin, sodass die klassische Freie Demokratische Partei während der 1990er Jahre nach und nach schrumpfte, im Bund und in den Regionen stetig an Macht verlor. JEDEN TAG GEGEN EINE REGEL VERSTOSSEN Umso strahlender erschienen die Erfolge des Neupopulismus in der rechten Mitte einiger Nachbarländer. Deren Erfolgsrezept1 taugte, so sah es Möllemann, auch für Deutschland, zumal es auf seinen persönlichen wie politischen Charakter perfekt zugeschnitten schien. Man hatte, wie sein Berater Fritz Goergen gerne frotzelte, nur jeden Tag geräuschvoll gegen eine Regel zu verstoßen, hatte mit vernehmlicher Verve die längst fälligen Tabus der vermeintlichen »political correctness« zu brechen. Mit der permanenten Provokation wollte man die »Bedenkenträger« aufreizen, sich selbst durch deren schrille Warnrufe in das Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung schieben. Als Adressaten der Erregungskampagnen hatte man nicht das herkömmliche, seriöse und arrivierte Bürgertum im Blick, jedenfalls nicht in erster Linie. Als »Partei für das ganze Volk« wollte man vielmehr reüssieren – sich mithin an Zahl wie Einfluss deutlich vergrößern. Auf dieser Basis hatten sich schließlich alle neuen Sammelparteien der Ungeduld, der hämischen und polarisierenden Gags, vor allem der Affekte begründet und ausgebaut. Sie lebten davon, diese Erregungen fortwährend zu aktivieren, statt sie zu dämpfen. Sie agierten nicht mehr wie früher die Altliberalen als primär elitärer Interessenvereine der »Wohlhabenden«, sondern als Protestvehikel (auch) der »einfachen Leute«, verfolgten gewissermaßen das »Bündnis von Elite und Mob« (Jan Philipp Reemtsma). Schließlich hatten die Modernisierungsströme der letzten Jahrzehnte in der Gesellschaft nicht nur links-libertäre Wertemuster begünstigt und postmaterialistisch-ökologische Strömungen genährt, sondern ebenso prononcierte Gegenwelten dazu gespeist. Hier siedelten Verdrossenheit über den Staat, Verachtung der großen Volksparteien, aber erst recht Verdruss über Grüne und ihre Ökopredigten, Ärger über hohe Abgabenlasten, Wut über den zu teuren Wohlfahrtsstaat, Misstrauen gegenüber schlecht ausgebildeten Migranten. Die neuliberalen Parteien des Protests waren allesamt Bünde der antiökologischen Gegenreform, Kampftruppen der Autofahrer, der Staatsverdrossenen, der Steuerverweigerer, der vom Feminismus gepeinigten Männer. Weil dieser Parteientypus organisations- und mitgliederschwach blieb, musste er sich auf die mediale Performance konzentrieren. Da er über gewachsene Loyalitäten nicht verfügte, brauchte er ständig das mobilisierende Thema, die aggressive Zuspitzung,

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Tabus — Analyse

1  Oliver Geden, Diskursstrategien im Rechtspopulismus, Wiesbaden 2006.

die medial transportierbare Kampagne. Er musste durchgehend Budenzaubereien veranstalten, sonst schwand sein Nimbus als Kraftnatur und Trüffelschwein für gesellschaftliche Probleme, die den »einfachen Leuten« unter den Nägeln brannten, worüber die Pressemenschen zunächst aber nicht schrieben, die »politische Klasse« nicht redete. Aufreger und Event wurden zur raison d’être der Parteistrategie. An die Spitze des populistischen Neuliberalismus gelangten infolgedessen die Tribune der changierenden Events, die sich und ihre Partei durch gezielte Tabubrüche und Erlebniskampagnen stets in den Schlagzeilen und Scheinwerferlichter hielten. Sie waren die Matadore der politics by entertainment. Programmatisch waren diese teleplebiszitären Charismatiker immer unscharf geblieben. Sie wussten nur, was sie nicht mochten, was ihnen geradezu verhasst war. Im Übrigen protegierten sie das neureiche Cash-Denken und die traditionsentwurzelte Beschleunigungsmonomanie der neuen Mitte. Dazu rochierten Parteien dieses Typus von einem »Wutpunkt« zum nächsten, von einem mobilen Event zum anderen. Ihre Anführer gerierten sich als Virtuosen der permanenten Kampagne, der fortwährenden Zuspitzung, der atemlosen Ereignissteigerung. Natürlich waren Tücken und Gefahren immanent. Tabubrecher reklamieren für sich, Pioniere des Fortschritts, gar der Aufklärung zu sein, die ans Licht bringen, was Hüter religiöser Sitten, Wächter überlebter Konventionen, Wärter vermeintlich sakrosankter Regeln im Dunklen belassen wollen, um die Verhältnisse, wie sie sind, zu konservieren. Daher war der Tabubruch historisch meist eine Angelegenheit von radikalen Demokraten, Anarchisten, Nihilisten, Bohemiens, kritischen Literaten, Revoluzzern, subversiven Aktionisten – schließlich den 68ern. Und oft genug waren sie mit ihrer konventionskritischen Verve auch im Recht. Je mehr Tabus in einer Gesellschaft existierten, desto enger wäre sie, klagte Ralf Dahrendorf im Jahr 1961, als er seinen Missmut über die »Provinzialität« und »dumpfe Enge« der Bonner Republik in der Zeitschrift magnum freien Lauf ließ: »Tabus machen unfrei, denn sie beschneiden das elementare Recht, Fragen zu stellen.« Auf diese Weise aber, so der Soziologe, werde das gesellschaftliche Selbstverständnis über kurz oder lang zur Lüge, mit der Folge, dass das Tabu von heute »die Ursache der Revolution von morgen sein« werde. Dahrendorf hielt Tabus schlechthin für »Achillesfersen der Gesellschaft«.2 Ein Soziologe der vorangegangenen Generation, Max Scheler, hatte eine andere Perspektive auf das Phänomen. Er fürchtete vielmehr das Res2  Ralf Dahrendorf, Politik im Garten der Tabus, in: magnum, H. 36/1961, S. 58 u. S. 73.

sentiment, die Aggression der Ohnmächtigen, die wider den Stachel von Autoritäten und Normen zu löcken versuchten. Willkür ersetze am Ende Franz Walter  — Tabubruch und liberale Selbstzerstörung

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Ehrfurcht, die Grenzüberschreitung entbinde die Gemeinschaft, heble die Regeln aus – unterminiere die christliche Nächstenliebe.3 Das mochte eine übertrieben pessimistische Sichtweise gewesen sein, während Dahrendorfs vehemente Attacken auf die Allgegenwärtigkeit konfliktunterdrückender und herrschaftssichernder Tabus viele gute Gründe auf ihrer Seite hatten. Und dennoch war gerade zum Ende des Jahrzehnts, an dessen Beginn Dahrendorf das Regime der Tabus linksliberal herausgefordert hatte, historisch ebenfalls wieder zu beobachten, dass statt der verkündeten neuen diskursiven Offenheit eine schroff dogmatische Alternativmetaphysik folgen kann, ungeduldig, herrisch Zustimmung verlangend, nicht minder einseitig und apodiktisch. Zugleich wurde durch den Bruch von zivilisierenden Tabus – auch solche existierten schließlich – fortgenommen, was zuvor unterschwellige Aggressionen, Ressentiments, Destruktionstriebe einigermaßen im Zaum hielt, was auch heterogene Gruppen zusammenleben ließen, was Gesellschaften entlastete. Symbole, Routinen, Rituale, eben auch Tabus bieten komplexen Gesellschaften Orte der Selbstverständlichkeit, in denen der Einzelne nicht ein weiteres Mal genötigt ist, unaufhörlich neu und allein aus sich heraus, also rundum eigenverantwortlich und ohne den Fundus verbindlicher kollektiver Normen Entscheidungen zu treffen. Was tabuisiert, routinisiert, ritualisiert ist, steht nicht zur Disposition, braucht demzufolge nicht wieder und wieder reflektiert und gewogen werden, mindert so die Last der Überforderung. Das indes widersprach ganz der neoliberalen Weltsicht, die im letzten Fünftel des 20. Jahrhunderts ihre Triumphe in der neuen europäischen Mitte feierte, bemerkenswerterweise – wenngleich anfangs eher spielerisch gehalten – durch »68« vorbereitet, von den generationellen Nachfolgern ideologisch dann weiter zugespitzt. Grenzen hatten weggeräumt zu werden, Bindungen störten nur noch, stabile Werte und Glaubensüberzeugungen waren dem Fortschritt hinderlich, daher zu entsorgen. Die Tabubrecher des neubürgerlichen Populismus öffneten und pluralisierten im Zuge ihrer Kampagne keineswegs die Debatte, sie schieden sie vielmehr in bipolare, unversöhnliche Flanken einer martialisch beschrieben Frontauseinandersetzung. Sie agitieren nach Schwarz-Weiß-Mustern, ihre Rhetorik unterminierte auch ganz unverzichtbare Tabus; Stil und Sprache polarisierten die politische Kultur. Überhaupt waren und sind es seltsame Gestalten, die sich im Lager neubürgerlicher Tabus-Sprenger fanden und finden, mit verkorksten Biografien, zuweilen seelisch geschädigt, zügellos in ihrer Eitelkeit, mitunter autoritär und autoaggressiv zugleich. Politische Anführer dieser Art sind nicht selten von Ehrgeiz getriebene Figuren mit einer ordentlichen Portion Chuzpe.

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3  Max Scheler, Das Ressentiment im Aufbau der Moralen, Frankfurt a. M. 1978, S. 34 ff.

Im tiefsten Inneren mögen sie ihre Anhänger gar verachten, da sie diese ja als leichte Beute ihrer Verführungskünste erlebten. Und doch genießen sie diesen Moment: Das Bad in der Menge, die Jubelstürme und gläubigen Blicke ihrer Anhänger, die enthemmten Gefühlsausbrüche der Epigonen. Sie lieben infolgedessen die Regelverletzungen, mit der sie ihre Anhänger entzücken und ihre Gegner zur Weißglut treiben. Und sie beugen sich lustvoll dem ehernen Gesetz der steten Radikalisierung ihrer Methode. Sie wissen und warten zunehmend erregt darauf, dass die jeweils nächste Provokation noch ein Stück deftiger ausfallen muss und wird. Und so schlüpfte auch Möllemann, als er 2000 die FDP in den nordrheinwestfälischen Landtagswahlkampf hineinführte, in die Rolle des modernen Volkstribuns, inszenierte sich als Rächer der von der Politik Vergessenen im fleißigen Teil des Volkes zwischen Aachen und Brakelsiek. Damit katapultierte er die zuvor außerparlamentarische FDP im größten deutschen Bundesland auf bemerkenswerte 9,8 Prozent der Stimmen. Mit der Methode Möllemanns schienen dem Liberalismus neue Zielmarken zu winken. Diese Stimmung jedenfalls griff in der FDP um sich, setzte die über Jahre gedemütigten Mitglieder der Partei geradezu unter Strom. Das galt auch für Guido Westerwelle, den Parteivorsitzen der FDP seit 2001. Anfangs zierte er sich noch, dem Vorschlag Möllemanns zu folgen, als Kanzlerkandidat der FDP seine Partei in den Bundestagswahlkampf 2002 zu 4  Richard Herzinger, Am Rande der Egalität, in: Der Tagesspiegel, 22. 10. 2002. 5  Torben Lütjen u. Franz Walter, Medienkarriere in der Spaßgesellschaft? Guido Westerwelle und Jürgen W. Möllemann, in: Ulrich von Alemann u. Stefan Marschall (Hg.), Parteien in der Mediendemokratie, Wiesbaden 2002, S. 390–419. 6  Fritz Goergen, Projekt 18, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12. 11. 2002. 7  Rainer Paris, Stachel und Speer. Machtstudien, Frankfurt a. M. 1998, S. 57 ff. 8  Peter Carstens, Das Ende einer politischen Allianz, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05. 10. 2002.

führen. Doch die Freien Demokraten verfielen auf ihren Parteitagen in einen Rausch, in eine bis dahin unbekannte Ekstase, die an kollektive Hysterie erinnerte,4 als Möllemann die Delegierten schreiend in Wallung brachte und Aufbrüche zu neuen Größen in Aussicht stellte. Westerwelle, dem Politics by Entertainment alles andere als fremd war,5 brüllte daraufhin ähnlich lautstark mit,6 ließ sich nun auf dem Bundesparteitag in Mannheim im Mai 2002 tatsächlich zum Kanzlerkandidaten küren. Die Stimmung in der FDP kochte über; immerhin hatte man die Zehn-Prozent-Marke in Umfragen gerade überschritten. Das Projekt »18-Prozent«, das Möllemann ins Leben gerufen hatte und dem sich auch die zunächst zögerlichen Patriarchen der Alt-FDP anschlossen, wirkte nun nicht mehr wie bloße Hochstapelei. Man musste nur weiter nachlegen. Eine Politik der Provokation duldete kein gemächliches Innehalten.7 Und Westerwelle folgte, so der Korrespondent der FAZ, »bis zur Bundestagswahl konsequent den Gedankenspuren Möllemanns«8 und dem Kurs einer »Protestpartei der Mitte«. Möllemann und Westerwelle – beide postulierten das 18-Prozent-Ziel, fantasierten gar im kleinen Kreis zuweilen schon von einem 25-Prozent-Potenzial, das eine Partei der Couleur, wie sie ihnen vorschwebte, nutzen könne. Franz Walter  — Tabubruch und liberale Selbstzerstörung

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»ICH WÜRDE MICH AUCH WEHREN, UND ZWAR MIT GEWALT« Immerhin 28 Prozent der von der Forschungsgruppe Wahlen befragten Wähler gaben Jürgen Möllemann im Mai 2002 Recht, als der dem stellvertretenden Vorsitzenden des Zentralrats der Juden in Deutschland, Michel Friedman, vorwarf, »mit seiner intoleranten und gehässigen Art« dem Antisemitismus zu9 

Monika Hinner, Total normal, in: ravensrückblätter, Jg. 29 (2003) Nr. 114, online einsehbar unter http://www.ravensbrueckblaetter.de/alt/archiv/114/3_114. html [eingesehen am 31. 3. 2014]. 10  Hierzu auch Samuel Salzborn, Anti-Jewish Guilt Deflection and National SelfVictimization: Antisemitism in Germany, in: Lars Rensmann u. Julius H. Schoeps (Hg.), Politics and Resentment. Antisemitism and Counter-Cosmopolitanism in the European Union, Leiden 2011, S. 397–424, hier S. 406 ff.

11  Auch, wenngleich wenig nuanciert, Hajo Funke u. Lars Rensmann, Wir sind so frei. Zum rechtspopulistischen Kurswechsel der FDP, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 7/2002, S. 822–828. 12  Zit. bei Thomas Mittmann, Vom »Historikerstreit« zum »Fall Hohmann«. Kontroverse Diskussionen um Political Correctness, in: Lucian Hölscher (Hg.), Political Correctness. Der sprachpolitische Streit um die nationalsozialistischen Verbrechen, Göttingen 2008, S. 60–105, hier S. 90. 13 

Online einsehbar unter http://www.wahlrecht.de/ umfragen/forsa/2002.htm [eingesehen am 31. 03. 2014].

14 

»Ich würde mich auch wehren« (Interview mit Jürgen Möllemann), in: die tageszeitung, 04. 04. 2002.

15 

Zit. bei Corinna Emundts, FDP beharrt darauf, Israel freimütig zu kritisieren, in: Frankfurter Rundschau, 10. 04. 2002.

zuarbeiten.9 Das entsprach ganz dem alten, von prominenten deutschen Politikern jedoch seit Jahrzehnten nicht mehr gehörten Klischee, dass »die Juden« durch ihr anstößiges Verhalten selber Schuld daran trügen, dass alle anderen sie nicht mögen.10 Zu dem Zeitpunkt war die FDP, war zumindest Jürgen W. Möllemann in eine neue Richtung des kalkulierten Tabubruchs unterwegs, die auf die israelische Außenpolitik zielte und dabei schlummernde, bislang unartikuliert gebliebene antisemitische Affekte in Teilen der deutschen Bevölkerung mit einer bemerkenswert skrupelfreien Entschlossenheit und Energie weckte und durch immer neue Anspielungen wachhielt.11 Der Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, äußerte Fassungslosigkeit und nannte die Erklärung Möllemanns »die größte Beleidigung, die eine Partei in der Geschichte der Bundesrepublik nach dem Holocaust« öffentlich lanciert habe.12 Möllemann hingegen sah sich durch tausende von zustimmenden Briefen, durch anfeuernde Forumsbeiträge im Internet, vor allem aber: durch einen Anstieg der Umfrageergebnisse im Laufe des Monats Mai auf zwölf Prozent13 ganz in seinem Treiben bestätigt. In diesen Wochen standen auch der Parteivorsitzende und gewichtige Teile der FDP hinter ihm, stellten sich zumindest nicht gegen ihn, denn noch wirkte die Magie, prosaischer: die Gier, die das 18-Prozent-Versprechen ausgelöst hatte. Andere politische Parteien im Zentrum des Parlamentarismus trauten sich nicht, die Kritik an Israel zuzuspitzen und in der politischen Arena unmissverständlich zu repräsentieren. Hier war also etwas einzusammeln, was bislang unbeheimatet geblieben war. Darin lag schließlich die Räson des Projekts der »Protestpartei der Mitte«. Anfang April 2002 legte Möllemann los. »Ich würde mich auch wehren«, verteidigte er unter anderem die Selbstmordanschläge von Palästinensern, »und zwar mit Gewalt. Und ich würde das nicht nur im eigenen Land tun, sondern auch im Land des Aggressors.«14 Im Präsidium der FDP durfte sich Möllemann zunächst großen Rückhalts erfreuen. Man habe es dort genossen, so der Parteisprecher, sich »in einem befreiten Sinne« der israelischen Regierung gegenüber erklärt zu haben.15 Die nächste Runde läutete Möllemann Ende April 2002 ein, als die FDPFraktion im Düsseldorfer Landtag den bisherigen grünen Abgeordneten Jamal Karsli aufnahm. Karsli, aus Syrien stammend, hatte als Politiker der Grünen, indes ohne Absprache mit seiner Partei, im September 2001 Israels Politik Franz Walter  — Tabubruch und liberale Selbstzerstörung

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als »Staatsterror« bezeichnet, der »jedem Vergleich mit anderen Terrorregimen der jüngeren Geschichte«16 standhalte. Im März 2002 gab Karsli, immer noch Mitglied der grünen Partei und Fraktion, eine Pressemeldung heraus, die den Titel trug: »Israel wendet Nazi-Methoden an.« Bevor die Grünen ihn vor die Tür setzen konnten, kündigte Karsli selbst seine Mitgliedschaft in der Partei und die Zugehörigkeit zur Fraktion am 23. April 2002 auf, um von Möllemann prompt zum Liberalen geadelt zu werden. Eine Woche später gab der frisch konvertierte Liberale der weit rechts stehenden Wochenzeitung Junge Freiheit ein Interview, in dem er ausführte: »Man muss zugestehen, dass der Einfluss der zionistischen Lobby sehr groß ist: Sie hat den größten Teil der Medienmacht in der Welt inne und kann jede auch noch so bedeutende Persönlichkeit kleinkriegen. […] Vor dieser Macht haben die Menschen in Deutschland verständlicherweise Angst.«17 Der Topos von der »jüdischen Weltverschwörung« kehrte über den Liberalismus in die deutsche Politik zurück. Man konnte sich an Heinrich von Treitschke, den nationalliberalen Historiker und Abgeordneten der Kaiserreichsjahre, erinnert fühlen, der 1879 dem Antisemitismus mit seinem Ausruf »Die Juden sind unser Unglück« Entree ins deutsche Bürgertum verschaffte. Immerhin: Im klassischen Bürgertum, insbesondere auch bei größeren Unternehmern regte sich erhebliches Unbehagen über die politischen Zündeleien Möllemanns. Die reputierlichen Ex-Granden der Partei, Otto Graf Lambsdorff, Burkhard Hirsch, Klaus Kinkel, Hans-Dietrich Genscher, Wolfgang Gerhard und am schärfsten Hildegard Hamm-Brücher mahnten jetzt auch den Parteichef, in der Causa Karsli nicht mehr bloß zu lavieren, sondern mit Möllemann Tacheles zu reden. Hamm-Brücher schrieb an ihren Vorsitzenden Anfang Mai 2002 einen eindringlich appellierenden Brief:18 »Sehr geehrter Herr Vorsitzender, lieber Herr Westerwelle, es lässt mir keine Ruhe, genauer gesagt: Es beunruhigt mich sehr, dass sich unsere Partei in ihren Äußerungen zur Nahost-Politik mehr und mehr den sattsam bekannten antiisraelischen und einseitig propalästinensischen Positionen des Herrn Möllemann annähert. Für viele unserer angestammten Wähler und Mitglieder (zu denen ich mich zähle) wird das nachgerade unerträglich, weil dahinter eine neue Variante von Antisemitismus salonfähig wird. Ich denke dabei auch an verstorbene Liberale wie Ignatz Bubis und Heinz Karry, die diesen opportunistisch ins rechte Fahrwasser einmündenden Kurs nie und nimmer gebilligt hätten. Zwar werden seitens der Partei immer mal wieder Details dementiert, bisher ist aber niemals eine eindeutige Distanzierung zu Möllemanns Kurs erfolgt. (Der

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Tabus — Analyse

16  Zit. nach Pascal Beucker, Eine schnelle Karriere ins Aus, in: die tageszeitung, 13.05.2002. 17  Zit. nach o.V., Klare Worte, in: die tageszeitung, 17. 05. 2002. 18  Dokumentiert auf http:// www.judentum.net/deutschland/hamm-bruecher.htm [eingesehen am 31. 03. 2014].

einzige Widerspruch kam bisher von Frau Leutheusser-Schnarrenberger, wofür ich ihr ausdrücklich danken möchte.) So muss sich der Eindruck verstärken, dass sich die FDP für Wähler profilieren will, die den auf beiden Seiten grausam geführten Kampf für und gegen das Existenzrecht Israels zum Vorwand nehmen, um ihren mehr oder weniger getarnten Antisemitismus zu rechtfertigen. So jedenfalls wird das nicht nur von jüdischen Mitbürgern verstanden. Ich schäme mich für meine Partei, dass dieser Eindruck überhaupt entstehen konnte, und dafür, dass er nicht entschlossen, aufrichtig und glaubwürdig zerstreut wird. Heute ist dies nun ein neuerlicher (und auch mein letzter) Versuch, Sie, sehr geehrter Herr Westerwelle, zu einer unmissverständlichen Kursänderung zu bewegen. Falls dies nicht geschieht, werde ich die FDP, der ich seit 1948 angehöre, verlassen.19 Wenn wir nicht wenige Monate vor der Bundestagswahl stünden, würde ich den Schritt, der mir schwer fällt, schon jetzt tun. Noch aber überwiegt ein Rest an Verbundenheit und Rücksicht zu meiner Partei, der ich in einem entscheidenden Wahlkampf, wenn irgend möglich, nicht schaden möchte. Jedoch werde ich in diesem Sinne die weiteren Äußerungen und Positionen der Parteiprominenz (auch in ihren Zwischen- und Untertönen) aufmerksam verfolgen. Neuerliche, tendenziell antisemitische und antiisraelische Stellungnahmen würden zu den angekündigten Konsequenzen führen. In der Hoffnung, dass diese, meine »ultima ratio« nicht notwendig sein wird, 19  Den Austritt vollzog sie dann am 22. September 2002, am Sonntag der Bundestagswahlen. Vgl. o.V., Frust wegen Möllemann: Hamm-Brücher verlässt die FDP, in: Spiegel Online, 22. 09. 2002, online seinsehbar unter http://www.spiegel.de/ politik/deutschland/frust-wegenmoellemann-hamm-bruecherverlaesst-die-fdp-a-215424.html [eingesehen am 31. 03. 2014]. 20  Thomas Hanke, Zynische Profilierung, in: Financial Times Deutschland, 18. 04. 2002. 21  Vgl. Peter Pagral, Nicht ohne Möllemann, in: Berliner Zeitung, 01. 06. 2002; Bettina Gaus, Ein Schwatz an der Sonne, in: die tageszeitung, 23. 07. 2002. 22  Marianne Heuwagen, Die nachtschwarze Seite des Provokateurs, in: Süddeutsche Zeitung, 31. 05. 2002.

verbleibe ich mit guten Wünschen Ihre (Noch)parteifreundin Hildegard Hamm-Brücher« Zuvor hatte Westerwelle selbst das Thema »Kritik an Israel« als »parteipolitisches Waisenkind« identifiziert. Und dieses elternlose Kind hätte er, so die Financial Times Deutschland, nur zu gerne »adoptiert«20. Aber das war nun, seit Ende Mai 2002, so einfach nicht mehr möglich. Denn jetzt sanken erstmals wieder die Umfragewerte der FDP. In den kulturellen Leitmilieus waren die verwegene Vorgehensweise Möllemanns und die anfangs wohlwollende Sekundanz Westerwelles auf eine für die FDP verheerende Resonanz gestoßen. Auch im Gros der gewerblichen Bürger war die augenzwinkernde Funktionalisierung verborgener antisemitischer Einstellungsdispositionen zum Nutzen besserer freidemokratischer Wählerwerte genierlich. Westerwelle stürzte in diesen Wochen ab.21 Anfang Mai hatte er noch bestens gelaunt mobil und optimistisch die Republik bereist und das Volk als Spaßpolitiker unterhalten. Zum Ende des Monats begegnete man einem Mann Anfang vierzig, der um Jahre gealtert schien, fahl und grau im Gesicht, sich seiner keineswegs mehr sicher.22 Die Medien verspotteten ihn jetzt als »Zauderer«. So, in dieser Verfassung, startete Westerwelle nach einem Jahr Parteivorsitz zu seiner ersten Franz Walter  — Tabubruch und liberale Selbstzerstörung

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Auslandsreise als Chef der Freien Demokraten: nach Israel. Dort musste er sich – hochroten Kopfs – vom israelischen Premier Sharon bitter schelten lassen.23 Zurück in Deutschland zog Westerwelle die Trennungslinie zu Möllemann jetzt schärfer: Karslis Zugehörigkeit zur freidemokratischen Landtagsfraktion in Nordrhein-Westfalen endete am 6. Juni 2002. EXITUS EINER STRATEGIE Möllemann hingegen, der in der FDP außerhalb Nordrhein-Westfalens allmählich mehr und mehr die Unterstützung verlor, fühlte sich durch die andauernde Flut von Schreiben bestärkt, da deren Verfasser ihn zur Fortführung seiner Kampagne anfeuerten. Vier Tage vor den Bundestagwahlen eröffnete Möllemann die nächste Runde. Über acht Millionen Wurfsendungen landeten in den Briefkästen in Nordrhein-Westfalen mit einem Foto Möllemanns auf der Frontseite und der Losung: »Klartext. Mut. Möllemann. Einer wie wir.«24 Rückseitig bekam man abermals Möllemann zu Gesicht, der im Text als engagierter Kämpfer für den Frieden im Nahen Osten portraitiert wurde. Darunter folgten zwei weitere Abbildungen, die eine vom israelischen Ministerpräsidenten, Ariel Sharon, die zweite von Michel Friedman, die beide als friedensunwillige Kriegstreiber und diffamierende Kontrahenten des sich »beharrlich für eine friedliche Lösung des Nahost-Konfliktes«25 einsetzenden Jürgen W. Möllemann dargestellt waren. Dieser machte keinen Hehl daraus, dass der Überraschungscoup wenige Tage vor den Wahlen dafür sorgen sollte, dass sein Landesverband ein überproportional gutes Ergebnis einfahren möge, um seine innerparteilichen Kritiker bloßzustellen. Doch behielt Möllemann schon nach Schließung der Wahllokale nicht mehr die Interpretationshoheit. Die FDP, die doch auf sein Drängen hin die 18 Prozent angepeilt hatte, landete bei 7,4 Prozent, hatte also auch gegenüber dem Umfragehoch im Mai 2002 nahezu fünf Prozent eingebüßt. Ende September 2002 erschien das fast allen Beobachtern des Politischen als schwere Nieder-

23  Karen Andresen u. a., Projekt Größenwahn, in: Der Spiegel, 04. 11. 2002.

lage. Dafür sprach einiges, allerdings nicht alles. Schließlich hatten gerade Erstwähler der FDP überproportional stark ihre Stimme gegeben. Ganz vergebens also waren die Spaß- und Eventkampagnen, war der Medienfuror der Westerwelle-Möllemann-Partei seit dem Jahr 2000 nicht. Seither jedenfalls wurde die Wählerschaft der FDP bis 2009 sukzessive juveniler und deutlich männerdominiert. Bei den 18–24-jährigen jungen Männern in Ost-Deutschland übertraf die FDP sogar mit 12,4 Prozent der Stimmen die PDS, die le-

24  Ebd. 25  Zit. nach Wolfgang Benz, Möllemann-Affäre, in: Ders. (Hg.), Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. 4, Ereignisse, Dekrete, Kontroversen, Berlin 2011, S. 250 f., hier S. 251.

diglich auf 11,8 Prozent kam.26 Mit dem freidemokratischen Populismus der Jahre 2000/01/02 drang die Partei, wie ursprünglich ja durchaus kühl kalkuliert, in neue, für sie keineswegs unproblematische Wählerschichten ein.

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Tabus — Analyse

26  Vgl. Eckhard Jesse, Junge Frauen wählen lieber SPD, in: Die Welt, 19. 11. 2003.

Der Anteil der Arbeiter an den FDP-Wählern stieg von 3,5 Prozent auf 6,5 Prozent; die Quote der Arbeitslosen verdreifachte sich gar. Ein Viertel der neu gewonnen Wähler hatte zuvor eine extreme Rechtspartei gewählt; im Gegenzug verlor die FDP die meisten Stimmen an die Grünen.27 In der postmaterialistischen Generation der 35- bis 44-Jährigen – also ausgerechnet der Generation des Parteivorsitzenden Westerwelle – fand die FDP, anders als die Grünen, wenig Anklang. Noch geringer hingegen fiel der Zuspruch bei den über 60-Jährigen aus. Insofern hatte sich die FDP elektoral beträchtlich gewandelt. Sie war erheblich jünger, auch östlicher, partiell proletarischer, weniger libertär und urban geworden.28 Auf der nationalen Ebene hatte sie an Selbständigkeit gewonnen, da nun auch ihr Erstwählervolumen bei über fünf Prozent lag. Indes erfuhr die FDP bei den Bundestagswahlen, dass ihre Eigenständigkeit und ihr souveränes Erststimmenpotenzial machtpolitisch wenig nutzten. Im bürgerlichen Lager reduzierte sich durch den freidemokratischen Verzicht auf eine Koalitionsaussage das Stimmensplitting; hart umkämpfte Wahlkreise fielen infolgedessen an die SPD, nicht an die Union. Der Selbstständigkeitskurs der FDP hatte die Niederlage des altbürgerlichen Lagers 2002 mit verursacht.29 Zwar hatten die Freien Demokraten in Nordrhein-Westfalen, dem Heimatverband von Möllemann, 9,3 Prozent eingefahren, hatten also den Bundesdurchschnitt um 1,9 Prozentpunkte übertroffen. Gleichwohl: Möllemann hatte deutlich mehr Zuwachs versprochen; und die Partei hatte über Monate von weit besseren Ergebnissen geträumt. Nun aber war man weder Volks27  Vgl. o.V., FDP profitiert deutlich von rechten Wählern, in: Handelsblatt, 11. 10. 2002. 28  Vgl. auch Manfred Güllner, Die FDP: Zwischen Renaissance des Liberalen und rechtspopulistischen Anfeindungen, in: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, H. 1/2003, S. 94. 29  Vgl. Patrick Horst, Wahljahr 2002 – eine Bilanz, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, H. 1/2003, S. 239 ff. 30  Jan Ross, Das liberale Finale. Guido Westerwelle und Jürgen Möllemann im Vergleichstest, in: Die Zeit, 26. 04. 2001. 31  Paris, Stachel und Speer. S. 57 ff.

partei geworden, noch hatte man an politischer Bedeutung zugelegt. Die FDP wirkte über Monate angeschlagen, brutal ausgenüchtert, bar allen Elans

und Selbstbewusstseins. Der Tod Möllemanns Anfang Juni 2003 tat noch zusätzlich seine Wirkung. Denn schließlich war die Politik der Provokation von Westerwelle und dem größten Teil seiner Partei begeistert mitgetragen worden.30 Fast alle hatten ja in die suggestiven Triumpfchoräle eingestimmt, hatten sich wie im Fieberwahn von den populistischen Sirenengesängen des »Projekt 18« betören lassen. Doch das politische Instrumentarium der eskalierenden Tabubrüche war nun einmal hochambivalent und für eine im Kern honoratiorenhafte Partei nur schwer anzuwenden. Denn die Politik der Provokation erforderte eiserne und zynische Konsequenz. Der jeweils nächste Regelverstoß musste noch unverschämter, maßloser, hybrider daherkommen, sonst trivialisierte, verpuffte er.31 Eben das aber entgrenzte Politik, enthemmte und radikalisierte sie, konnte gar – wie man bei Möllemann hatte sehen können – tödlich ausgehen. Extremistisch-populistische Parteien mit verwegenen Außenseitern und unbürgerlichen Existenzen mögen das in Kauf nehmen und Franz Walter  — Tabubruch und liberale Selbstzerstörung

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ertragen können. Aber Establishmentparteien des arrivierten liberalen Bürgertums geraten aus den Fugen. Und mehr zu diesen als zu jenen gehörten nun einmal die Freien Demokraten in Deutschland. HALBHERZIGES REVIVAL MIT KLÄGLICHEM AUSGANG Gleichwohl schlüpfte Guido Westerwelle Mitte Februar 2010, als seine Partei nach ihrem großen Wahlerfolg und den dann folgenden enttäuschenden Wochen des Regierungsbeginns in einen rasanten Sinkflug geriet und binnen 100 Tagen die Hälfte ihrer Wähler verlor, wieder zurück in die heikle Rolle.32 Ein wenig wirkte das so, als würde er die Krankheitssymptome seiner Partei, den Absturz in der Demoskopie, mit den Krankheitsursachen bekämpfen wollen, da ja gerade die Großspurigkeit der Oppositionsansprache erheblich zu den nachfolgenden Frustrationen über die Regierungspraxis beigetragen hatte. In der anhaltend bescheidenen bis geringen Beliebtheit Westerwelles hatten sich schon über mehrere Jahre hinweg die Tücken des Typus des medialen Tabubrechers offenbart. Westerwelle hatte sich zwar probat so verhalten, wie Kommunikationswissenschaftler oder Spindoktoren lange Zeit die Zukunftskompetenz von Politikern in der Mediengesellschaft zu beschreiben pflegten. Er war stets auf allen Kanälen präsent, ließ besonders Unterhaltungsformate nicht aus, hatte dort nicht durch Überdifferenzierungen gelangweilt, sondern mit pointierten, knappen und polemisch-provokativen Formulierungen Zuschauer wie Programmmacher bei Laune gehalten. Westerwelle galt infolgedessen bis in das Frühjahr 2002, dann wieder in den Jahren der freidemokratischen Opposition zur Großen Koalition als ein Virtuose der Medienpolitik. Aber eben dieser Dauertanz auf allen medialen Bühnen wandte sich dann gegen ihn. Die Soundbites verschlissen sich; man wurde der Parolen überdrüssig; man konnte sein Gesicht nicht mehr sehen, die schrille Tonlage seiner Statements kaum mehr ertragen. Medienvirtuosität birgt in sich – je erfolgreicher sie zunächst wirkt – die Keime des Scheiterns. Dabei hatte man nach dem Suizid von Möllemann den Eindruck, dass Westerwelle fürderhin ein gebranntes Kind war, dass er fortan die innere Eskalationsdynamik einer politischen Verbalität, die kalt und gezielt den gesellschaftlichen Comment provoziert, scheuen würde. Denn nochmals: Der Provokateur darf nicht stehenbleiben; er muss sich von Runde zu Runde steigern, schärfer werden, seine dichotomischen Polarisierungen – Fleißige versus Faule, guter Markt gegen bösen Staat, leuchtender Liberalismus kontra finsterer Sozialismus – immer schneidender vortragen. Anfang 2010 schien Westerwelle in der Not seiner Partei dieses Risiko – sehr viele andere politische Methoden standen ihm von Sozialisation und politischem Temperament

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Tabus — Analyse

32  Thomas Maron, ­ esterwelle will jetzt klare W Kante zeigen, in: Stuttgarter Zeitung, 12. 02. 2010.

auch nicht recht zur Verfügung – eingehen zu wollen. Viel wirkliche Liberalität, Pluralität und Weltoffenheit konnten am Ende dann nicht mehr übrig bleiben. Und die von den jüngeren Liberalen, wie dem zwischenzeitlichen Generalsekretär Christian Lindner, angestrebte Neumodellierung der FDP als eine Partei mit etwas mehr Wärme, mit einer größeren Neigung zur Fairness und Solidarität musste dabei ebenfalls auf der Strecke bleiben.33 Am Ende waren beide Wege versperrt. Ein deutscher Außenminister konnte nicht als Kampagnenführer einer fortwährenden Entrüstungspolitik und kumulativen Zuspitzung durch die Welt der Diplomatie ziehen. Also ließ Westerwelle von der Methode ab, die indes Erwartungen geweckt hatte, welche sich aber nun politisch nicht einlösen ließen. Doch auch die Alternative, der sanfte Liberalismus mit Zeichen sozialer Empathie, war nun nicht postwendend einzuführen. Dazu hatte man Stimmungen und Emotion zu sehr in die ganz andere Richtung geschürt und gelenkt. Zum Schluss war in der FDP alles unscharf. Dergleichen allerdings können sich Tabubrecher nicht leisten. Schärfe und Verschärfung liegt in der inneren Logik politisch gezielt eingesetzter Provokationen. Das kann eine Zeit lang eine beträchtli33  Sigrid Averesch, Ganz schnell nach oben, in: Berliner Zeitung, 14. 12. 2009.

che Dynamik erzeugen. Den Ausgang aber bildet nahezu unweigerlich: die Selbstdestruktion.

Prof. Dr. Franz Walter, geb. 1956, ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Göttingen.

Franz Walter  — Tabubruch und liberale Selbstzerstörung

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MEDIENKULTUR, TRANSGRESSION, AFFEKT ZU TABUBRÜCHEN IN FERNSEHSERIEN ΞΞ Ivo Ritzer

Im Vorwort zur ersten Neuauflage seiner berühmten Studie »Film als subversive Kunst« im Jahr 1997 nahm der Filmhistoriker Amos Vogel eine Generalabrechnung mit dem US-amerikanischen Fernsehen vor. Dieses habe eine Verkümmerung künstlerischer Praxis bewirkt und »eine betäubende, bösartige Fadesse« hinterlassen. Während Vogel dem Kino noch immer ein artistisches Potenzial attestierte, sah er die Organisationsform und die Inhalte des Fernsehens als Grund wie als Ausdruck einer von Konsumismus und Kommerzialisierung beherrschten Kultur, die den Intellekt beleidige: »Der Raum, in dem diese Infantilisierung der Menschheit am klarsten hervortritt, ist die monströse Struktur des amerikanischen Fernsehens. Zum ersten Mal in der Geschichte wird das mächtigste Massenmedium einer Gesellschaft ausschließlich von

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INDES, 2014–2, S. 30–38, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014, ISSN 2191–995X

der Werbewirtschaft und vom Markt kontrolliert«1. Das Fernsehen wurde als Teil einer »Bewusstseinsindustrie« diffamiert, die durch ihre schematischen Produkte einen universellen »Verblendungszusammenhang« konstituiere.2 Im selben Jahr, in dem Vogel seine polemischen Zeilen formulierte, startete der US-amerikanische Pay-TV-Sender HBO seine bahnbrechende Eigenproduktion Oz (1997–2003), die von den Insassen eines Hochsicherheitsgefängnisses handelte und einen neuen Typus des seriellen Erzählens etablierte. Er ist definiert durch multiple Konflikte, die sich nicht länger auf eine Episode beschränken, sondern die einzelnen Folgen zu übergreifenden Handlungsbögen verbinden. Auf den Erfolg von Oz bei Publikum und Kritik ließ der Sender HBO rasch weitere Serien wie The Sopranos (1999–2007), Six Feet Under (2001–2005), The Wire (2002–2008) oder Deadwood (2004–2006) folgen, heute laufen True Blood (seit 2008), Boardwalk Empire (seit 2010) oder Game of Thrones (seit 2011). Mit ihnen kultiviert der Sender seinen Ruf als Innovator des seriellen Erzählens, während das Raffinement der Erzählweisen weiter verstärkt wird. Dem Beispiel von HBO folgten andere Sender, der Pay-TV-Kanal Showtime lancierte mit Californication (seit 2007), Dexter (2006–2013) und Homeland (seit 2011) vergleichbar komplexe Serien, und auch die Kabel-Sender FX und AMC starteten betont anspruchsvolle Programme: Sons of Anarchy (seit 2008), oder Justified (seit 2011) zum einen, Breaking Bad (2008–2013) oder 1  Amos Vogel, Film als subversive Kunst, St. AndräWördern 1999, S. I. 2  Siehe dazu Theodor W. ­Adorno, Prolog zum Fernsehen, in: Ders., Eingriffe. Neun kritische Modelle, Frankfurt a. M. 1963, S. 69–80; Hans Magnus Enzensberger, Baukasten zu einer Theorie der Medien, in: Claus Pias u. a. (Hg.), Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis ­Baudrillard, Stuttgart 1999, S. 264–278. 3  Steven B. Johnson, Everything Bad is Good for You, London 2005, S. 13. 4  Jason Mittell, Narrative Complexity in Contemporary American Television, in: The Velvet Light Trap, H. 58/2006, S. 29–40, hier S. 38.

The Walking Dead (seit 2010) zum anderen. Durch die Vielzahl der Protagonisten entsteht auch hier ein Panorama der Perspektiven, das weniger ein homogenes Bild formen will, sondern vielmehr ein Kaleidoskop heterogener Bilder darstellt. Wo Vogel seine Hoffnungen noch auf das Kino richtete, gilt nun das Kino als ein reaktionäres Medium, das zu seinen »primitiven« Wurzeln bei Jahrmarkt und Varieté zurückkehrt, während das lange Zeit als proletarisch diffamierte Fernsehen ein ungeahntes künstlerisches Potenzial zu entfalten scheint. Fernsehen ist plötzlich ein Raum legitimer Kunstproduktion, dem symbolisches Kapital und damit artistische Güte zugeschrieben werden. Die pessimistische Bestandsaufnahme von Amos Vogel hat sich damit kaum eine Dekade später in ihr Gegenteil verkehrt. Nun wird das US-Fernsehen emphatisch als Instanz eines »positive brainwashing«3 gerühmt, die ihr Publikum zu »amateur narratologists«4 mache, indem sie intellektuelle Leistungen nicht nur ermögliche, sondern sogar stimuliere. Das Serielle ist damit nicht mehr pejorativ unter den Verdacht der unoriginellen Wiederholung gestellt. Es besitzt jetzt »werthaften« Kunstcharakter, gilt mithin als autonomes »Artefakt«. Ivo Ritzer  —  Medienkultur, Transgression, Affekt

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TRANSGRESSION DES TABUS Sind die zeitgenössischen Serien des Quality TV damit ein letzter Triumph bürgerlicher Ästhetik auch im Fernsehen? Als legitime »Kunstwerke« scheinen sie ihrem Publikum zu erlauben, sich im Kant’schen Sinne in das »Artefakt« zu versenken und ein »uninteressiertes und freies Wohlgefallen« am Schönen zu entfalten, dem »kein Interesse, weder das der Sinne, noch das der Vernunft, […] Beifall abzwingt«5. Eine ästhetische Kontemplation also, das die bildungsbürgerliche Rezeption nicht nur begünstigt, sondern geradezu konstituiert? Dass dem nicht generell so ist, zeigen bereits die ersten der neuen US-Serien. Von Anfang an zeichnen sie sich durch eine Liebe zur konfrontativen Darstellung aus, die auf den ersten Blick so gar nicht ins Bild eines interesselosen Wohlgefallens zu passen scheint. Schon The Sopranos bietet ein Kompendium von Akten der Gewalt, regelmäßig wird geschlagen, gestochen und geschossen, bis hin zur berühmt-berüchtigten Folge University (Staffel 3, Episode 6), in der eine schwangere Frau nicht nur sexuell missbraucht, sondern auch mit Dutzenden Schlägen zu Tode geprügelt wird. Dies ist aber nur der Gipfelpunkt einer Serie, die Vergewaltigung, Verstümmelung und Mord immer wieder aufs Neue zur Darstellung bringt. Täter sind die Titelfiguren selbst – ein signifikanter Bruch mit den Erzählkonventionen des Fernsehens und der Krimiserie, die es mehr oder weniger untersagen, »Verbrecher und Kriminelle als zentrale Identifikationsfiguren einer Serie einzuführen«6. Nicht zuletzt auch deshalb sorgt The Sopranos für eine bis dato unbekannte Aggression und Ambivalenz in US-Fernsehserien, die von zahlreichen Titeln fort- und weitergeführt wird. Insbesondere die Historienserie Spartacus (2010–2013) will hier mit ihrer expliziten Darstellung von Sex und Gewalt weiter gehen als jede andere Serie zuvor. Produziert von Robert Tapert und Sami Raimi, lehnt sie sich in der narrativen Konstruktion bei Ridley Scotts Gladiator (2000) und der HBOSerie Rome (2005–2007) an, bedient sich jedoch ästhetischer Strategien, die eher an Tinto Brass’ Skandalfilm Caligula (1979) erinnern. Zur Darstellung kommen erotische Begegnungen, heterosexuelle ebenso wie homosexuelle, einvernehmliche ebenso wie gewaltsame Sexualpraktiken. Indes konzentriert sich die Serie auf die Darstellung von Gladiatorenkämpfen vor ekstatischem Publikum, während derer Extremitäten ebenso selbstverständlich abgetrennt werden wie Köpfe und Eingeweide ebenso regelmäßig aus geöffneten Leibern quellen, wie Blut aus verletzten Adern fließt. Es geht solchen Serien ganz gezielt darum, sich antithetisch zu Fragen des »guten Geschmacks« zu verhalten. Mit Amos Vogel wären sie damit als »subversiv« zu bezeichnen, weil sie »die allgemein gültige Moral und Religion«

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Tabus — Analyse

5  Immanuel Kant, Die Kritik der Urteilskraft, Köln 1995, S. 123. 6  Annekatrin Bock, Family Values. The Sopranos und die neue Ära der Krimi- und Familienserie, in: Sascha Seiler (Hg.), Was bisher geschah. Serielles Erzählen im zeitgenössischen amerikanischen Fernsehen, Köln 2008, 160–171, hier S. 161.

attackieren und aufbegehren würden »gegen Gesetz und Ordnung«. Für Vogel wird durch den »Angriff auf das visuelle Tabu und die Beseitigung dessen [d]er Begriff von den ewigen Werten in Frage gestellt, ihre geschichtliche Bedingtheit unsanft enthüllt«7. Vogel bezieht sich hier indirekt auf Sigmund Freud, wenn er das Tabu als repressives Instrument der Triebregulierung begreift. So bestimmt schon Freud das Tabu als ein Prohibitiv, das zivilisatorischen Fortschritt garantiere, indem es Grenzen markiere, d. h. religiöse und moralische Diktate erlasse. Dabei wird es sowohl mit dem Heiligen als auch mit dem Unheimlichen assoziiert, das Tabu verfüge über sakrale Qualität und rufe gleichzeitig Abscheu hervor. Tabus sind nach Freud soziokulturell verankert und reglementieren die Koexistenz von Menschen im öffentlichen Raum, sie bestimmen Schranken des Erlaubten, innerhalb derer ein kollektiver Diskurs stattfindet. Obwohl das Tabu zufällig, geradezu willkürlich konstruiert werde und kulturell bedingt sei, wirke es in bemerkenswerter Beständigkeit, bleibe also über große historische Perioden konstant. Für Freud sind es vor allem Eros und Thanatos, die ebenso archaische wie aktuelle Tabus darstellen. Beide besäßen eine enge Verbindung zum Irrationalen, weil sie Verzicht und damit Verdrängung implizierten. Sexualtrieb und Todestrieb versuchten den Menschen unbewusst, gerade weil ihm ihre Tabuierung bewusst sei: »Das Tabu ist ein uraltes Verbot, von außen (von einer Autorität) aufgedrängt und gegen die stärksten Gelüste der Menschen gerichtet. Die Lust, es zu übertreten, besteht in deren Unbewußten fort«8. Damit wären Theorie und Praxis des Tabubruchs als deviante Aktionen in Opposition zur tabusetzenden Macht zu sehen. Durch seine Konzentration auf das zwanghafte Moment neurotischer Handlungen beschäftigt sich Freud weder näher mit der verbietenden Instanz noch mit der sozialen Kontextualisierung tabuierter Felder. Wichtig aber bleibt seine Betonung des Tabus als Urkonflikt des Menschen: das Begehren des Subjekts nach einem Objekt, das ihm verboten ist, wodurch auch die subjektive Begierde nach dem erwünschten Objekt untersagt ist. Die Tabuierung begründet damit einen Mangel, der dem Subjekt zum Zwecke seiner Disziplinierung verordnet wird. Und da Begehren ohne Mangel nicht existieren kann, käme die Aufhebung des Mangels einer Zerstörung des 7  Amos Vogel, Film als subversive Kunst, St. AndräWördern 1999, S. 201. 8  Sigmund Freud, Totem und Tabu, Frankfurt a. M. 1956, S. 42 f.

Objekts der Begierde gleich. Wo Freud aus der strukturellen Opposition von Angst vs. Lust seine Definition neurotischer Pathologie ableitet, bleibt auf einer generelleren Ebene das gesellschaftskonstituierende Moment des Tabus zu nennen. In der bürgerlichen Gesellschaft fungiert das Tabu als ein Stabilisator dominanter Macht, Ivo Ritzer  —  Medienkultur, Transgression, Affekt

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das bestehende Herrschaftsverhältnisse stützt, indem es etablierte Moralkodizes unantastbar macht. Die Festlegung von Verboten und Geboten stiftet einen normativen Rahmen, der den legitimen Handlungsraum der sozialen Subjekte absteckt. Im Gegenzug bestimmen die Projektionen des sozialen Subjekts ein tabuiertes Feld, das als potenzieller Ort tabubrechender Praktiken fungieren kann. Heute ist es vor allem der mediale Raum, in dem Verbotenes zugelassen ist, um stellvertretend ausgelebt zu werden. Gedacht mit Freud reflektieren und reproduzieren Medien nicht nur die in der Gesellschaft aktivierten Tabus, sie könnten Tabus durch ihre Eigenschaft als symbolische Systeme auch selbst modifizieren. Die virtuelle, d. h. mediale Tabuverletzung würde deshalb immer auch ein Aktualisierungspotenzial für den sozialen Handlungsraum des Individuums bergen, mithin sogar als mögliche Stimulation fungieren. Aus dieser Perspektive wäre den gegenwärtigen US-Serien des Quality TV durchaus ein »subversives« Moment zu attestieren, weil sie ästhetische Konventionen in Frage stellen und damit die Möglichkeit einer Veränderung des Bestehenden (ästhetisch wie sozial) artikulieren. Was nicht ist, das könnte sein. Mit der Freud’schen Konzeption des Tabus wären die ästhetischen Dispositionen der neuen US-Serien ein widerständiges Element, das die unter der Oberfläche harmonischer Koexistenz verborgenen Deutungskämpfe artikuliert. Sie stünden Prozessen der Transgression als Praktiken der Grenzüberschreitung nahe, wie George Bataille sie in seinem Plädoyer für die Aufhebung bürgerlicher Wertsysteme definiert. Bataille unterstellt dem Tabu analog zu Freud einen grundlegenden »irrationalen Charakter«, so dass es einerseits »Ruhe und Vernunft« in der Gesellschaft schaffe, andererseits aber auch ein »Zittern« impliziere, das »nicht die Intelligenz, sondern das Gemüt befällt«9. Für Bataille ist das Tabu zugleich Funktion wie Effekt gesellschaftlicher Unterdrückung. Dagegen setzt er eine sinnlose Verausgabung leiblicher Energien, die gegen das Nützlichkeitsdenken der Arbeitswelt opponieren. Die gewaltsame Tötung von Leben und die nicht auf Fortpflanzung abzielende Sexualität fungieren bei Bataille als Möglichkeiten, Spiritualität in einer entzauberten Welt zu finden und aus dem Imperativ der Profitmaximierung auszubrechen. So könnten orgiastische Rauschzustände neo-sakrale Momente hervorrufen, welche die tabuierte Grenze überschreiten, ohne das Bewusstsein der Grenze durch einen prä-zivilisatorischen Regress zu verlieren. Vielmehr würde die durch das Tabu geschaffene Demarkationslinie zwischen Erlaubtem und Verbotenem als signifikante Bedingung ekstatischer Erfahrung operieren, die intensives Lust- und Schmerzempfinden einschließt.

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Tabus — Analyse

9  Georges Bataille, Der heilige Eros, Frankfurt a. M. 1984, S. 59.

Serien wie Spartacus sind ästhetisch, d. h. in ihrer Erzählform zwar nicht vergleichbar radikal angelegt wie Batailles avantgardistische Präferenzen. Ihre explizite Darstellung von Eros und Thanatos wäre mit Bataille aber dennoch als Strategie zu deuten, die gegen den Erfahrungsverlust einer »entzauberten« Welt revoltiert. In ihnen würde sich das Potenzial zu einer Verschwendung von Energie zumindest dergestalt andeuten, dass gerade Sex- und Gewaltfiktionen den Körper des Zuschauers direkt reizen wollen. In diesem Sinn wären die aktuellen Fernsehserien des Quality TV als eine elementare Herausforderung zu sehen: sowohl gegenüber einem gespaltenen Subjekt, das sich souverän glaubt, als auch gegenüber den sozialen Institutionen, die diese Illusion der Souveränität durch zensierende Maßnahmen aufrechterhalten wollen. ÖKONOMIE DES AFFEKTS Wie gehen narrative Komplexität und dieser Fokus auf Tabubrüche in den neuen US-Serien zusammen? In einer Medienlandschaft, die dem Zuschauer zu jeder Sendung multiple Alternativen offeriert, ist es unverzichtbar, das eigene Produkt mit einer Identität zu versehen, die es von anderen Sendungen unterscheidet. Das gilt insbesondere für Pay-TV-Kanäle, die nicht auf Werbekunden angewiesen sind, sondern sich über private Abonnenten finanzieren. Das Pay-TV muss seinen Zuschauern ein Programm offerieren, das sie von Monat zu Monat, von Sendung zu Sendung bindet. Dazu gilt es nicht zuletzt, Aufmerksamkeit zu sichern, ergo eine zerstreute Rezeption zu verhindern. Sowohl komplexes Erzählen als auch spekulative Tabubrüche können als Strategien begriffen werden, um sich der Konzentration der Zuschauer zu versichern. Es soll eine ästhetische Erfahrung kognitiver und emotionaler Intensitäten entstehen, durch die eine Bindung an das Programm erfolgt. Durch audiovisuelle Sensationen werden die Sinne der Rezipienten auch gezielt körperlich stimuliert. Antonio Negri und Michael Hardt sprechen hier von affektiver Arbeit, d. h. einer Arbeit, die Affekte produziert wie »Behagen, Befriedigung, Erregung oder Leidenschaft«10. Diese immaterielle Affektproduktion hat im Falle der US-Serien das Ziel, ein Stammpublikum zu gewinnen. Hier zeigt sich ein Kapitalismus, der nichts mehr zu tun hat mit dem Primat der Normierung und Zentralisierung, das noch die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts bestimmte. Es ist ein Kapitalismus, der das Heterogene und Abweichende gelten lässt. Er erfordert nicht länger einfach eine disziplinierende 10 

Michael Hardt u. Antonio Negri, Multitude. Krieg und Demokratie im Empire, Frankfurt a. M. 2004, S. 126.

Macht, die nur Verbote erteilt, vielmehr lassen sich neue Märkte erschließen, indem Lebens- und Ausdrucksformen zugelassen werden, die der gesellschaftlichen Norm nicht entsprechen. Das ist unter den Bedingungen einer Ivo Ritzer  —  Medienkultur, Transgression, Affekt

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Gesellschaft, in der jeder Geschmack tendenziell ein Nischengeschmack zu sein scheint, nicht mehr nur eine Option, sondern eine Notwendigkeit zur Sicherung der ökonomischen Fortexistenz. Die drastischen Sex & CrimePhantasien von US-Serien des Quality TV stellen damit weniger Fragen nach ihrer Ideologie hinsichtlich der Botschaften oder des Fiktionalitätsgrades, zu problematisieren wäre viel eher deren Funktion in einer fragmentierten Medienlandschaft. Dort scheint alles erlaubt, wofür bezahlt wird. Im Zuge seiner Auseinandersetzung mit den Schriften George Batailles hat Michel Foucault von einer Welt gesprochen, »die sich in der Grenzerfahrung entfaltet, die sich im Exzeß, der die Grenze übertritt, bildet und auflöst«11. Heute scheint die Transgression selbst Teil des Establishments zu sein. Dessen Raffinesse besteht darin, diese Neutralisierung zu verbergen. »They never make you feel like you’re working for ›the man‹«, sagt die Journalistin und Dokumentarfilmerin Alexandra Pelosi über ihre Arbeitgeber bei HBO.12 Mit Michel Foucault aber wäre auszuführen, dass die Darstellung von Gewalt und speziell der in den vermeintlich so prüden USA verdrängten Sexualität eindeutig »for the man« arbeitet. Gegen die freudianisch inspirierten Schriften von Wilhelm Reich und Herbert Marcuse hat Foucault gezeigt, dass in der bürgerlichen Gesellschaft der Sexus keineswegs von Subordination oder Tabuierung zu »befreien« ist13. Stattdessen sei das Sexualverhalten der Individuen reglementiert durch Verwaltung. Es werde öffentlich gemacht, um diskursive Analysen vornehmen zu können, d. h. den Sexus mit »eine[r] Menge von Aussagen« zu verknüpfen, »die einem gleichen Formationssystem zugehören«14. Sowohl der medizinische als auch der juristische und nicht zuletzt der mediale Diskurs in Film und Fernsehen (für den Foucault selbst sich nicht sonderlich interessiert) organisieren dann die Ausübung von Macht in Form einer permanenten Thematisierung sexueller Handlungen. »Die modernen Gesellschaften«, schreibt Foucault, »zeichnen sich nicht dadurch aus, dass sie den Sex ins Dunkel verbannen, sondern dass sie unablässig von ihm sprechen und ihn als das Geheimnis geltend machen«15. Entscheidend wäre nicht die vermeintliche Notwendigkeit, den Sexus durch Repräsentation zu befreien und die erzwungenen Begrenzungen des Tabus zu überschreiten, um sich den Mechanismen der Macht zu widersetzen, wie es noch Reich und Marcuse postulieren. Entgegen der vorherrschenden Überzeugung, dass Begehren und Sexualität durch ein repressives System unterdrückt würden, macht Foucault deutlich, dass das Individuum selbst aktiver Agent dieser Repression ist. Die Diskurse über den Sex seien zwar auch Restriktionsprozessen unterworfen, es entstünden aber vor allem immer mehr Diskurse, die schließlich in einer Wissenschaft über den Sex

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11  Michel Foucault, Zum Begriff der Übertretung, in: Ders., Schriften zur Literatur, Frankfurt a. M. 1988, S. 69–89, S. 72. 12  Zitiert in Thomas A. Mascaro, Documentaries Overview. Form and Function, in: Gary R. Edgerton u. Jeffrey P. Jones (Hg.), The Essential HBO Reader, Lexington 2008, S. 239–261, hier S. 255. 13  Vgl. Herbert Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, Frankfurt a. M. 1995; Wilhelm Reich, Die sexuelle Revolution, Frankfurt a. M. 1966. 14  Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt a. M. 1981, S. 156. 15  Michael Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, Frankfurt a. M. 1983, S. 49.

mündeten: einer scienta sexualis als »Wille zum Wissen«, die Sexualität nicht sublimiere, sondern kanalisiere. Diese Kanalisierung aber äußert sich nicht in der sexuellen Praxis, sie wird stattdessen im Verbalen ausgehandelt oder durch mediale Repräsentationen manifest. Kampagnen von konservativen Interessengruppen mögen für stärkere Zensurmaßnahmen eintreten, in einem Foucault’schen Sinne wären sie aber nicht Vertreter einer Instanz, die illegitime Praktiken tabuiert, sondern gerade durch ihr öffentliches Agieren auf die Agenda setzt. Es geht ihnen nicht darum, Tabus unbewusst zu lassen, vielmehr wollen sie durch permanente Überwachung des gesendeten Materials ein Wissen über mediale Transgressionen erwerben, das ihnen Macht verleiht. Sie sammeln akribisch Fakten und sitzen nach Möglichkeit vierundzwanzig Stunden am Tag vor den Bildschirmen, um keine Grenzüberschreitung zu verpassen. Die Einwerbung von Wissen verbannt dadurch Verbotenes nicht aus dem Diskurs, sie wirkt eher als Stimulans zu immer genauerer, immer präziserer, immer akkuraterer Suche nach weiteren Grenzüberschreitungen. Der Erfolg dieser Suche muss dann öffentlich kommuniziert werden, um die eigene Anstrengung zu rechtfertigen. Freilich steckt dahinter eine prekäre Doppelmoral: Das Tabuierte wird attackiert, ist zugleich aber nötig, um die Attacke zu legitimieren. Der Tabubruch konterkariert damit nicht den dominanten Wertekodex, er hilft ihn vielmehr zu stabilisieren. Transgressor und Zensor sind voneinander abhängig, sie verstärken sich gegenseitig in »unaufhörlichen Spiralen der Macht und der Lust«16. Sowohl der Akt der Grenzüberschreiung als auch die Ausübung von Zensur sind für Foucault gleichermaßen mit einem Lustgewinn verbunden, der »Lust, Macht auszuüben«. Letztere finde Lust daran, durch immer explizitere Diskurse immer mehr kontrollieren zu können, ersterer erfreue sich dagegen an der Lust, »dieser Macht entrinnen zu müssen«. Das Brechen von Tabus generiere eben dadurch Macht, dass Macht gebrochen werde. Auf diese Weise konstituierten sich »Reizkreise«17, die sich aneinander entzündeten und gegenseitig perpetuierten. Tabusetzende und tabubrechende Instanz erregten sich nach dem Prinzip der Reziprozität, d. h. Lust entstünde in wechselseitiger Machtausübung in einem endlosen Kreislauf, wobei die Rollen von Dominierendem und Dominiertem ständig wechselten. Während stärkere Zensur gefordert wird, gehen die Sender, allen voran Pay-TV-Kanäle wie HBO und Showtime, immer weiter mit der Darstellung von 16 

Ebd., S. 61. 17  Ebd.

Nacktheit, Sexualität, Gewalt und profaner Sprache. Die Lust am Tabubruch und die Lust an seiner Ahndung entsprechen einander. Foucaults Thesen können daher als wichtiger Referenzpunkt gelten, weil sie sich explizit gegen Ivo Ritzer  —  Medienkultur, Transgression, Affekt

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die Forderung wenden, der Macht ein ›natürliches‹ Begehren entgegenzustellen, das vermeintlich vom Tabu gemaßregelt wird. Foucault sieht beide unentwirrbar verschränkt, nicht weil die Macht allumfassend wirkt, sondern weil sie von überall her kommt, auch den Wunsch mit einschließt: »Das Machtverhältnis ist immer schon da, wo das Begehren ist: es in einer nachträglich wirkenden Repression zu suchen ist daher ebenso illusionär wie die Suche nach einem Begehren außerhalb der Macht.«18 Für Foucault wird damit ein Tabubruch unmöglich, weil er der Macht immanent ist. Nicht mehr nur das Begehren nach Transgression fungiert als Teil der Macht, in der modernen Mediengesellschaft scheint die Transgression selbst von der Macht durchsetzt zu sein. Ihre Stimulation zum Exhibitionismus will auch noch das Intimste öffentlich werden lassen, und die Subjekte stimmen dem nicht nur zu, sondern begehren ihre Unterwerfung. Die von Freud bis Bataille noch gezogenen Demarkationslinien, wie sie in der bürgerlichen Gesellschaft als Horizont subversiver Praktiken fungieren, können damit kaum noch aufrechterhalten werden, eben weil der Raum des Tabuierten selbst von Machtstrukturen dominiert ist. So können Tabus allenfalls neu definiert, nicht aber Gegenstand von Subversion sein. Transgressive Akte bilden demnach kein Außen der Macht. Transgressiv an den Serien des Quality TV sind mithin nicht ihre narrativen Strategien, sind nicht ihre offenen Darstellungsweisen von Nacktheit, Sex und Gewalt; transgressiv ist nur die Funktionsweise des Kapitals, das alle Grenzen überwindet, die der Ästhetik, des Geschmacks und der Legitimation. Der Tabubruch in TV-Serien dagegen bildet kein Außen zur Ökonomie des Affekts. Er ist ihr vollkommen immanent.

Dr. phil. Ivo Ritzer, Lehrkraft für besondere Aufgaben am Medienwissenschaftlichen Seminar der Universität Siegen; Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Mediendramaturgie/Filmwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz; Lehrbeauftragter für Bild-, Kultur- und Medientheorie an der Fachhochschule Mainz. Promotion zur Dialektik von Genreund Autorentheorie (2009). Gründer und Sprecher der AG Genre der Gesellschaft für Medienwissenschaft. Aktuelle Publikation: Genre Hybridisation: Global Cinematic Flows (hg. mit P.W. Schulze; Marburg: Schüren 2013).

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Ebd., S. 101.

SCHEISSE ÜBER STILLE ORTE, SCHMUTZIGE WÖRTER UND DIE TABUISIERUNG DES ANALEN ΞΞ Florian Werner

Vom Sonnenkönig Ludwig XIV. wird berichtet, dass er sich allmonatlich im Beisein seines Hofstaats eine Darmspülung verabreichen ließ. Von seinem ältesten Sohn, dem Dauphin, schrieb Ludwigs Schwägerin Lieselotte von der Pfalz, er habe es »gern, daß man ihm auf dem Kackstuhl« seine Aufwartung machte.1 Ein venezianischer Gesandter am französischen Hof schließlich soll, wenn er offiziellen Besuch bekam, eigens zu diesem Anlass auf dem Klostuhl Platz genommen haben. Eine solch zwanglose Zurschaustellung intimer Körperverrichtungen würde heutzutage, selbst wenn die politischen Beziehungen zwischen zwei Nationen erheblich zerrüttet sind, als wenig staatsmännisch gelten. US-amerikanische Diplomatinnen mögen zwar hinter vorgehaltener Hand »Fuck the EU!« raunen − aber dass sie vor ihren europäischen Kollegen den Hintern entblößen, ist nicht bekannt. Und dass ein öffentlicher Stuhlgang gar als Ausdruck herrschaftlicher Autorität aufgefasst werden könnte, ist schlechthin undenkbar. Offenbar hat sich unser Verhältnis zum menschlichen Körper und seinen Ausscheidungen in den vergangenen Jahrhunderten entscheidend gewandelt: Was im Europa der Frühen Neuzeit noch als selbstverständlich galt, ist heute mit diversen Tabus belegt. Warum aber verursacht der Anblick defäkierender Erwachsener bei den meisten Menschen Ekel (oder zumindest Heiterkeit)? Weshalb gelten der Geruch von Kot sowie das Geräusch der Darmentleerung als anstößig? Ja warum ist selbst das hygienisch erwiesenermaßen unbedenkliche Wort Scheiße in vielen sozialen Situationen tabu? DER STILLE ORT Natürlich ist die Ausscheidung der Ausscheidungen aus dem Alltag keine ganz neue Entwicklung. Wir dürfen vermuten, dass Kot schon seit Jahrtausenden eine sonderbare Materie darstellte, etwas, das man bemüht war, von 1  Zit. in Paul Englisch, Das skatologische Element in Literatur, Kunst und Volksleben, Stuttgart 1928, S. 176.

den Stätten anderer elementarer Verrichtungen wie Essen, Schlafen und Beten fernzuhalten. So gibt bereits das Alte Testament genaue Anweisungen, wie das Kriegslager von fäkalischen Verschmutzungen reinzuhalten

INDES, 2014–2, S. 39–47, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014, ISSN 2191–995X

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sei: »Und du sollst draußen vor dem Lager einen Platz haben, wohin du zur Notdurft hinausgehst«, heißt es im fünften Buch Mose. »Und du sollst eine Schaufel haben und wenn du dich draußen setzen willst, sollst du damit graben; und wenn du gesessen hast, sollst du zuscharren, was von dir gegangen ist.«2 Mit den uns geläufigen Scham- und Peinlichkeitsgefühlen belegt wurden die menschlichen Ausscheidungen allerdings erst zu Beginn der Frühen Neuzeit, als die Menschen in immer engeren und komplexeren Sozialsystemen zusammenzuleben begannen und dadurch der Zwang zur Selbstkontrolle wuchs. War es zum Beispiel am Braunschweiger Hof offenbar noch bis ins sechzehnte Jahrhundert üblich gewesen, sich während des Essens einfach vor der Tür des Speisesaals oder wo immer einen der Stuhl- oder Harndrang überkam zu erleichtern, so verfügte die Braunschweigische Hofordnung von 1589 unmissverständlich, »dass niemand […] unter, nach oder vor den Mahlzeiten […] die Wendelsteine, Treppen, Gänge und Gemächer mit dem Urin oder anderm Unflath verunreinigen, sondern wegen solcher Nothdurft an gebührliche, verordnete Orte gehen« solle. Entsprechend galt es am Wernigeroder Hof gemäß der Hofordnung von 1570 mit einem Mal als unfein, »den Bauern gleich […] vor das Frauenzimmer, Hofstuben und andrer Gemach Thüren oder Fenster seine Nothdurft« zu verrichten.3 Dass dies schriftlich niedergelegt werden musste, weist darauf hin, dass ein solches Verhalten zuvor gang und gäbe gewesen sein muss und als nicht besonders anstößig galt. Dass es dem französischen König noch hundert Jahre später möglich war, sich vor seinen Untergebenen zu entblößen, zeigt, dass außerdem entscheidend war, wer sich vor wem entblößte: »In der stratifikatorischen Gesellschaft alten Typs bezog sich jede Distinktion, die hygienische inbegriffen, auf das System der Statusunterschiede«, schreibt der Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke.4 Rangniedere mussten ihren Körper in Gegenwart von Höhergestellten durchaus unter Kontrolle haben. In den folgenden Jahrhunderten änderte sich dieses eher zwanglose Verhalten gegenüber dem Kot: Die Defäkation wurde nun zunehmend aus dem öffentlichen Blickfeld verbannt. Aus der kollektiv genutzten Latrine beziehungsweise dem sogenannten sprâchhûs (wo man sich also während des Defäkierens unterhalten konnte) wurde das individuelle ›Privet‹ und später das ›Klosett‹ – ein Wort, das von dem lateinischen Verb claudere, ›abschließen‹ kommt und eng mit den Begriffen Klause und Kloster verwandt ist. Der Name ist Programm: Um 1900 wurden in den Wohnungen des europäischen Bürgertums die Toiletten und Badezimmer erstmals mit von innen verriegelbaren Schlössern versehen.

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2  Martin Luther, Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers, Stuttgart 1999, Dtn 23,13–14. 3  Zit. in Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation: Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2 Bde., Bd. 1, Frankfurt a. M. 1997, S. 269. 4  Albrecht Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr: Mediologie des 18. Jahrhunderts, München 1999, S. 45.

Die mit dieser Entwicklung einhergehenden Techniken der hygienischen und symbolischen Reinhaltung wurden dabei immer raffinierter. 1857 wurde von einem Amerikaner namens Joseph Gayetty das moderne Toilettenpapier erfunden. 1928 brachte der deutsche Unternehmer Hans »Hakle« Klenk die erste Klopapierrolle mit garantierter Blattzahl auf den Markt. Heute werden die menschlichen Exkremente bereits im Kleinkindalter mit Einwegwindeln aufgefangen und umgehend in luftdichten Eimern entsorgt. Im Erwachsenenalter versenkt man sie in einem jener als Tiefspüler bezeichneten Porzellanstandardbecken, die in den vergangenen Jahrzehnten den traditionellen mitteleuropäischen Flachspüler verdrängt haben. Toilettensteine und Raumluftsprays übertünchen den dabei entstehenden Geruch. Bedenkt man, dass die Einwohner einer Stadt von der Größe Berlins täglich geschätzte achthundert Tonnen Kot produzieren, dann ist es geradezu erstaunlich, dass man auf unseren Straßen nur hin und wieder über einen Hundehaufen stolpert. Die meisten Exkremente verschwinden so unsichtbar in den Gedärmen der Stadt, als hätte es sie nie gegeben. DIE AROMEN DER ANDEREN So wie sich unser Verhältnis zum Anblick defäkierender Menschen seit Beginn der Frühen Neuzeit geändert hat, war auch unser Verhältnis zum Kotgeruch erheblichen historischen Wandlungen unterworfen. Einstmals galten Exkremente nämlich nicht selten als wohlriechend, anregend, ja geradezu heilsam. Noch im neunzehnten Jahrhundert rühmte der Arzt und Sozialreformer Alexandre Parent-Duchâtelet den therapeutischen Wert der Kloakendüfte: Sie seien für die strotzende Gesundheit der Pariser Kanalreiniger und Darmsaitenmacher verantwortlich.5 Und der Engländer Edward D’Anson schrieb 1848 in einem Bericht für die Londoner Kanalkommission, dass die in den Londoner Abwasserschächten beschäftigten Arbeiter durch die Ausdünstungen der Kloake vor der Gefahr einer Ansteckung durch die Cholera 5  Vgl. Alain Corbin, Pesthauch und Blütenduft: Eine Geschichte des Geruchs, Frankfurt a. M. 1992, S. 280. 6  Vgl. David L. Pike, Sewage Treatments: Vertical Space and Waste in Nineteenth-Century Paris and London, in: William A. Cohen u. Ryan Johnson (Hg.), Filth: Dirt, Disgust, and Modern Life, Minneapolis 2005, S. 51–77, hier S. 67.

geschützt seien.6 Der Glaube an die heilsame Kraft der Fäkaldämpfe hatte in der englischen Hauptstadt Tradition: Als im siebzehnten Jahrhundert in London die Pest wütete, ließen die Behörden die städtischen Senkgruben öffnen, um die Seuche durch Kotgestank zu bezwingen. Diese Maßnahme verdankte sich den physikalischen und medizinischen Theorien der Zeit: Man glaubte, die Luft durch intensive Gerüche von Krankheitserregern reinigen zu können; zugleich meinte man, dass starke Aromen in der Lage seien, die Widerstandskraft des menschlichen Organismus zu stärken. Die moderne mikrobiologische Florian Werner  —  SCHEISSE

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Auffassung, dass Krankheiten wie Pest und Cholera nicht etwa durch Miasmen, das heißt durch giftige Ausdünstungen des Erdbodens, sondern durch Bakterien übertragen werden, setzte sich erst in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts durch. Doch der Geruch von Scheiße war nicht nur wegen seiner therapeutischen Qualitäten sanktioniert – er war auch, zumindest in den Städten, allgegenwärtig und das bedeutet paradoxerweise: Er war nicht da. Unser Geruchssinn ist nämlich vor allem darauf konditioniert, Veränderungen in der Geruchslandschaft wahrzunehmen (so wie unser Auge vor allem auf Bewegungen reagiert und unser Ohr auf laute oder fremdartige Geräusche). Nach ungefähr fünfzehn Minuten nehmen die meisten Menschen einen sie dauerhaft umgebenden Geruch nicht mehr bewusst wahr. Da Gestank aber letzten Endes eine subjektive Kategorie ist, also nur abhängig von einem Riechenden existiert, der sich durch ein bestimmtes Aroma gestört fühlt, kann man sagen: In einer Stadtwohnung des achtzehnten Jahrhunderts, die über keine Kanalisation, kein fließendes Wasser und keine ausreichende Belüftung verfügte, stank es gar nicht. Zumindest nicht nach Wahrnehmung der damals dort Lebenden − nach heutigen mitteleuropäischen Maßstäben war der Geruch vermutlich unerträglich. Neben medizinischen und wahrnehmungspsychologischen Gründen mag aber auch das sich wandelnde Verständnis vom menschlichen Körper dazu beigetragen haben, dass die Empfindlichkeit gegenüber Gerüchen damals deutlich weniger ausgeprägt war, als sie es heute ist. Der Leib des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Menschen wurde nämlich noch nicht als etwas von seiner Umgebung Getrenntes, Abgeschlossenes verstanden, sondern galt als ein mehr oder minder durchlässiger Bereich, der ständig von Miasmen, Flüssigkeiten und anderen Stoffen durchspült wurde. Er war ein »Durchzugsgebiet kosmischer Flutungen« und stand in ständigem osmotischem Austausch mit seiner Umgebung.7 Diese Auffassung zeigt sich vielleicht am deutlichsten daran, dass die Haut noch nicht als Grenze zwischen Innen und Außen aufgefasst wurde, sondern als durchlässige Membran galt, durch die alle möglichen Elemente in den Körper eindringen oder ihn verlassen konnten. Im Krankheitsfall bemühte man sich entsprechend nicht um äußerliche Hygiene, sondern versuchte, die schädlichen Stoffe durch Aderlass, Schröpfen und nicht zuletzt die Verabreichung von Abführmitteln und Klistieren aus dem Körper zu entfernen. Die heute gebräuchliche Beschimpfung, dieser oder jener habe den Arsch offen, dürfte damals mithin noch über wenig Beleidigungspotenzial verfügt haben. Im Gegenteil wurde etwa Wolfgang Amadeus Mozarts Vater Leopold nicht

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7  Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr, S. 47.

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müde, in seinen Briefen zu betonen, dass es »nichts gesünders« gebe, »als wenn man offnes Leibs ist«.8 Erst gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts wurde die schützende Funktion der Epidermis erkannt und der Leib entsprechend als ein in sich geschlossener Organismus begriffen. Indem sich das Augenmerk des modernen Menschen zunehmend auf die eigenen Körpergrenzen richtete, wuchs die Intoleranz gegenüber den Ausscheidungen und den Aromen der Anderen. Anders gesagt: Solange der Mensch noch als ein Körper unter vielen in einem Meer aus kosmischen Strömungen trieb, konnte er sich selbst, im wahrsten Sinne des Wortes, nicht riechen. Als er jedoch allmählich ein Bewusstsein seiner eigenen Autonomie und Individualität entwickelte, wurde er zunehmend sensibler: Nun konnte er, im übertragenen Sinne des Wortes, Andere nicht mehr riechen. Von ihnen ausgehende Gerüche wurden fortan geradezu als körperlicher Übergriff empfunden, als Eindringen in eine persönliche Sphäre, die zuvor so noch nicht existiert hatte. Und im selben Maß, in dem die Empfindlichkeit gegenüber dem Kot zunahm, wuchs auch die Sensibilität gegenüber den ihn bezeichnenden Wörtern. DAS SCHMUTZIGE WORT Der Ausdruck Scheiße stellt vermutlich das stärkste verbale Minuszeichen dar, das die deutsche Sprache kennt. Er verwandelt alle Gegenstände, Personen oder Vorgänge, auf die er angewendet wird, gewissermaßen in deren semantisches Exkrement. Dem Ding, das als Scheißding bezeichnet wird, ist sein symbolischer Wert entzogen – gerade so wie ein Apfel nach der Verdauung einen Großteil seiner Nährstoffe eingebüßt hat. Das war keineswegs immer so. Etymologisch lässt sich das Wort Scheiße auf die indogermanische Wurzel *skei-d- zurückführen, die zunächst nichts weiter als ›spalten‹ oder ›trennen‹ bedeutete – unser neuhochdeutsches Wort scheiden entstammt derselben Wurzel, ebenso der Begriff Schisma für eine Kirchen- sowie der Begriff Schizophrenie für eine Bewusstseinsspaltung. Im ursprünglichen Wortsinn war Scheiße also nichts weiter als etwas, das vom Körper getrennt wurde. Auch nachdem sich die Bedeutung des Worts sch’ze im Mittelhochdeutschen auf das Endprodukt der Darmtätigkeit verengt hatte, besaß der Begriff zunächst noch keinen obszönen Beiklang, sondern bezeichnete lediglich den Durchfall. Als Martin Luther jedoch Anfang des sechzehnten Jahrhunderts die Bibel ins Deutsche übersetzte und damit maßgeblich zur Entwicklung des Neuhochdeutschen beitrug, hatte das Verb scheißen in all seinen Beugungsformen bereits einen negativen Beigeschmack. Wenn der Reformator etwa in

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8  Zit. in Joseph Heinz Ebl u. Walter Senn (Hg.), Mozarts Bäsle-Briefe, München 1978, S. 47.

einer seiner Tischreden beklagte, die einstmals so große und herrliche Stadt Rom sei »nu zerrissen, und der Teufel hat den Papst, seinen Dreck, darauf geschissen«, meinte er damit natürlich nicht, dass der alte Widersacher sich am Verzehr des Kirchenoberhaupts den Magen verdorben und deswegen Durchfall bekommen habe, sondern tat relativ unzweideutig seine Ablehnung für den Katholizismus kund.9 Dass der Vorwurf, man habe eine wie auch immer geartete Verbindung mit dem Teufel, für einen kirchlichen Würdenträger eine Beleidigung darstellt, ist klar. Dass dieser Vorwurf aber in verletzender Absicht mit dem Begriff der Scheiße verbunden wird, ist nicht selbstverständlich – setzt dies doch voraus, dass man die Darmtätigkeit und deren Resultat als etwas Anstößiges, Schlechtes betrachtet. Denn damit ein Wort oder Wortfeld beleidigend wirken kann, muss es natürlich negativ besetzt sein: Normalerweise wird in allen Gesellschaften gegen das stärkste Tabu angeflucht, weshalb katholische Menschen tendenziell gotteslästerlich schimpfen, in protestantisch geprägten Ländern anal oder genital geflucht wird und in Kulturen mit starken Familienbanden bevorzugt die Mutter verunglimpft wird. Auf den Kot übertragen bedeutet das: In einer Gesellschaft, die dem Prozess der Defäkation noch vergleichsweise wertneutral gegenüberstand, dürfte auch der Vorwurf des Scheißens, des Scheißeseins oder Geschissenwerdens wenig beleidigende Kraft gehabt haben. Wie die Sozialanthropologin Mary Douglas gezeigt hat, gibt es nämlich keinen Schmutz an sich, sondern dieser existiert immer nur in Abhängigkeit von gesellschaftlich definierten Grenzen: In Kulturen, in denen besonders großer Wert auf Sauberkeit gelegt wird, ist die Gefahr der (sprachlichen oder tatsächlichen) Verunreinigung daher entsprechend größer.10 Erst mit den stetig wachsenden hygienischen Ansprüchen der Moderne – als deren vorläufige Höhepunkte Erfindungen wie das feuchte Toilettenpapier, die Einwegwindel mit auslaufsicheren Beinbündchen oder der WC-Geruchskiller mit Meeresbrisearoma gelten dürfen – avancierte der Ausdruck Scheiße im Neuhochdeutschen zum wirkmächtigsten deutschsprachigen Schimpfwort. DIE RENAISSANCE DES FÄKALEN 9  Martin Luther, D. Martin Luther’s Tischreden oder Colloquia, Leipzig 1846, S. 687. 10  Vgl. Mary Douglas, Reinheit und Gefährdung: Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu, Frankfurt a. M. 1988.

Aber: Gerade das Unterdrückte drängt bekanntlich immer wieder mit Macht an die Oberfläche. Vor allem in jenen Bereichen der Kultur, die traditionell die Grenzen des Ehrbaren und Erlaubten ausloten, erleben Exkremente derzeit eine erstaunliche Renaissance. Aus dem Kunstbetrieb sind sie fast nicht mehr wegzudenken: Werke wie Mark Quinns Shit Head (eine Portraitbüste, die der Künstler aus seinen eigenen Exkrementen formte) oder Wim Delvoyes Florian Werner  —  SCHEISSE

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Cloaca-Maschine, deren einziger Zweck darin besteht, eine den menschlichen Exkrementen ähnelnde Substanz zu produzieren, können sich der Aufmerksamkeit einer fasziniert-amüsiert-empörten Öffentlichkeit sicher sein. Kinofilme wie Borat grabbeln lustvoll und − wenn man für solche Formen des Fäkalhumors empfänglich ist − durchaus auch lustig im Kot. Und auch in der Literatur ist eine neue Freude an der exkrementellen Überschreitung auszumachen: Bestseller wie Charlotte Roches Roman »Feuchtgebiete« widmen sich mit Hingabe dem Anus und dessen Ausscheidungen. Natürlich fordern Tabus stets auch ihren Bruch heraus. Dennoch stellt sich die Frage: Was macht ausgerechnet die alltäglichste und allgemein-menschlichste aller Substanzen zu einem solch bevorzugten Thema und Werkstoff in Kunst, Kino und Literatur? Möglicherweise ist ein Grund für die derzeitige Renaissance des Fäkalen darin zu suchen, dass Kot eine zwar prosaische, aber potente Herausforderung an unsere spätkapitalistische Gesellschaft darstellt. Inmitten einer durchrationalisierten, bis in alle Winkel erforschten, auf maximale Effizienz und reibungsloses Funktionieren ausgerichteten Welt stellt er so etwas wie eine letzte Grenze dar: eine scheinbar sinn- und wertlose Substanz, die sich nicht ohne Weiteres in die marktwirtschaftliche Logik der westlichen Welt einfügen lässt. Täglich wendet jeder Mensch beträchtliche Zeit und Energie auf, bloß um eine Materie herzustellen, die unmittelbar nach der Produktion beseitigt wird. Unter dem Strich verbringt er ein knappes Jahr seiner Lebenszeit mit einer Tätigkeit, die kein vorzeigbares oder gar verkäufliches Resultat zeitigt. Kot ist das Absurde, das Überflüssige schlechthin. Durch seine schiere Präsenz stellt er das Idealbild des vernünftigen, auf Profit ausgerichteten Homo oeconomicus in Frage. Darüber hinaus stellt er eine Art authentischer Materie dar, die in unserer zunehmend virtualisierten Mediengesellschaft eher selten geworden ist. Ein Kuhfladen auf dem Dorfplatz, ein Hundehaufen auf dem Gehweg oder ein Bremsstreifen auf der öffentlichen Toilette lässt sich nicht einfach löschen, wegklicken oder mit cut and paste an einen anderen Ort verschieben. Er mag uns ekeln – aber er ist immerhin echt. Die Faszination, die man beim Anblick von Quinns Shit Head oder einem anderen Exkrementalkunstwerk empfinden mag, verdankt sich einer Aura des Realen, die keine noch so täuschende Nachahmung aus Kunststoff je erreichen kann. Ja möglicherweise wissen wir die Präsenz eines Kothaufens sogar umso mehr zu schätzen, je stärker wir in Kino, Kunst und Kommunikation von Simulacra umgeben sind. Aus dem Tiefland des medialen Bullshits, der uns täglich umgibt, erhebt sich ein dampfender Haufen wie eine stolze Bastion der Authentizität.

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Nicht zuletzt äußert sich in der zeitgenössischen Sehnsucht nach dem Fäkalen möglicherweise auch ein romantisches Verlangen, den zivilisatorischen Repressionsmechanismen der westlichen Welt zu entkommen oder ihnen doch immerhin einen ganzheitlichen Lebensentwurf entgegenzusetzen, der auch die übel riechenden Seiten des Daseins nicht verleugnet. Wenn Sacha Baron Cohens Filmfigur Borat − in einer der berühmtesten Szenen des gleichnamigen Films − bei einer gepflegten amerikanischen Dinnergesellschaft einen Plastikbeutel mit Exkrementen an den Tisch bringt: Lachen wir dann über das vorgebliche Hinterwäldlertum des vermeintlichen kasachischen Reporters? Oder lachen wir nicht vielmehr über die konsternierten Reaktionen seiner Gastgeber, jener hygienebesessenen Amerikaner, die, wie der Schriftsteller William Burroughs einmal polemisch formulierte, »am liebsten […] hinunter in ihren Magen springen und das Essen verdauen und die Scheiße rausschaufeln« würden?11 Vielleicht sehnen wir uns inmitten unserer Tiefspüler, Toilettenduftsteine und sensitiven Feuchttücher ja insgeheim nach etwas mehr Dreck im Leben. Vielleicht vermissen wir jenes unschuldige Kindheitsalter, in dem wir noch nicht dem anal-retentiven Imperativ unterworfen waren, sondern defäkieren konnten, wann und wo wir wollten. Vielleicht träumen wir manchmal von einer Zeit, als unsere Ausscheidungen noch nicht mit den heute gültigen 11  William S. Burroughs, Naked Lunch: Die ursprüngliche Fassung, Zürich 2009, S. 245.

Schamgefühlen und Tabus belegt waren, sondern man dem französischen Thronfolger noch auf dem Kackstuhl seine Aufwartung machen konnte.

Dr. Florian Werner, geb. 1971, studierte Anglistik, Amerikanistik und Germanistik in Tübingen, Berlin und Aberdeen und wurde 2007 mit einer Arbeit über apokalyptische Motive im US-amerikanischen HipHop promoviert. Er schreibt erzählende Sachbücher und Prosa, spielt Fußball in der Deutschen ­Autorennationalmannschaft und arbeitet für den Hörfunk. Seine Bücher wurden u. a. ins Englische, Spanische und Japanische übersetzt und mehrfach ausgezeichnet. Zum Thema erschien: »Dunkle Materie: Die Geschichte der Scheiße« (Nagel & Kimche 2011).

Florian Werner  —  SCHEISSE

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DOPING, BOURNOUT UND DEPRESSION TABUS IM SPITZENSPORT ΞΞ Antje Dresen

PROLOG Im Sport spiegeln sich soziale Phänomene, Strukturen und Prozesse wider, die sich auch gesamtgesellschaftlich beobachten lassen. Als »Mikrokosmos der Gesellschaft« ist der Sport Ausdruck des soziokulturellen Wertesystems jener Gesellschaft, in der er ausgeübt wird. Dazu gehören gesellschaftliche Krisen, Trends, Moden und Anschauungsweisen.1 Ebenso schärft der Sport als soziologisches Brennglas den Blick für gesellschaftliche Prozesse, Detailprobleme können hier mikroskopisch fokussiert werden.2 Zum Beispiel führt uns der Sport über sein Leistungspostulat Grundzüge einer wettbewerbsorientierten Leistungsgesellschaft vor Augen. Leistungserwartung und -optimierung sind zu Motoren gesamtgesellschaftlicher Dynamiken und Arbeitswelten geworden, in die Akteure über Abhängigkeits-

1  Vgl. Otmar Weiß, Einfüh­rung in die Sport­ soziologie, Wien 1999, S. 12 f.

verhältnisse eingebunden sind.3 Eben dieses Leistungsprinzip als eines der zentralen Deutungsmuster moderner Gesellschaften führt der Hochleistungssport eindrücklich vor Augen. Im Spitzensport sind Menschen in ihrer Rolle als »Athletin« bzw. »Athlet« »hyperinkludiert«. Das bedeutet, dass ihre gesamte Lebensweise in zeitlicher, körperlicher und sozialer Hinsicht vollends auf den Sport ausgerichtet ist. Der Körper ist dabei das Vehikel der Leistungsoptimierung für möglichst siegreiche Wettkämpfe, persönliche Bestzeiten oder auch Maßnahmen der Körpermodellierung. Um die Athleten spannt sich zugleich ein Netzwerk aus Trainern, Managern, Ärzten, Sponsoren, Journalisten, die Erfolge erwarten und an diesen partizipieren wollen. Im Zuge dieser Logiken gewinnen auch Tabus an Bedeutung. Themen wie Doping bzw. Medikamentenmissbrauch sowie Burnout und Depression sind in Sport und Gesellschaft in ihrer Komplexität unterbelichtet. Die Leistungsprinzipien bilden dazu die erklärende Kulisse. Gerade in der sportsoziologischen Debatte werden sowohl der Griff zu Dopingmitteln und -methoden als auch Überforderungserscheinungen, die sich als Burnout und Depression äußern, auf ein erfolgsorientiertes und strukturell produziertes

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INDES, 2014–2, S. 48–55, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014, ISSN 2191–995X

2  Vgl. Peter Becker u. a., Egalisiert und maximiert. Zur Planung und Konstruktion sportlicher Höchstleistungen – ein Unterrichtsmodell, in: Ders. (Hg.), Sport und Höchstleistung, Reinbek bei Hamburg 1987, S. 185–210, hier S. 186 ff.; Antje Dresen, Doping im Spitzensport als soziales Problem. Ursachen und Folgen eines gesellschaftlichen Diskurses, Wiesbaden 2010, S. 353. 3  Vgl. Pavel Dietz u. Antje ­Dresen, Medikamenten­ missbrauch an deutschen Universitäten als Ausdruck einer Leistungsgesellschaft, in: Arne Göring u. Daniel Möllenbeck (Hg.), Bewegungsorientierte Gesundheitsförderung an Hochschulen. Theoretische Perspektiven, empirische Befunde und Praxisbeispiele, Göttingen 2014 (im Druck).

Anspruchsniveau zurückgeführt – und demnach als zu verheimlichende Anpassungsreaktion gedeutet.4 Tabus sind aus dieser Perspektive »soziologische Tatbestände«5. Sie können als äußere, einengende Regeln und Verbote aufgefasst, aber auch als »Selbstverständlichkeiten« empfunden werden.6 Für die (Sport-)Kultur stellen Tabus damit Bezugsgrößen dar, die soziales Handeln steuern sowie zentrale Orientierungsmuster und Verhaltensbegrenzungen schaffen. Die Frage lautet also: »Wie, unter welchen sozialen Bedingungen und mit welchen Folgen zeigen sich Tabus als selbstverständliche Bestandteile des modernen Spitzensports?« Eine Exkursion in die Hochleistungssport-Arena soll Aufschluss über die vermeintlichen Tabus »Doping« und »Burnout/Depression« geben. Den theoretischen Rahmen gibt Erving Goffman vor, indem er die notwendige Dramaturgie in der Selbstdarstellung des Alltags unterstreicht.7 Sie geht mit einer Inszenierung von Wirklichkeit und einem interessengebundenen Verdunkeln der Hintergrundkulisse einher. Den methodologischen Weg weist daran anknüpfend Michel Foucault. Mit Blick auf Gesellschaft und ihre Diskurse des Gesagten und Nicht-Gesagten geht es ihm darum, »die Bedingungen ihrer Existenz zu bestimmen« . Übertragen auf den Kontext von Ta8

bus bedeutet dies gerade nicht, das Nebulöse, Verbotene gewissermaßen als »Dunkelfeld« zu erforschen. Vielmehr beginnt die Suche »unterhalb dessen, was manifest ist […].«9 Angesichts dessen wird nun gezeigt, wie Sport, Publikum, Medien, Politik und Wirtschaft zusammenwirken und so legitimieren, was wahr ist und was nicht, was kommuniziert wird und was nicht, was sanktioniert wird und was nicht – also kurzum, was zur Dramaturgie des Sports offiziell gehören darf und was nicht. DIE SIEGESORIENTIERTE SPITZENSPORT-ARENA UND IHRE DROHKULISSE DES SCHEITERNS Der Sport verfügt aus gesellschaftsanalytischer Sicht über besondere strukturelle Merkmale, die ihn von anderen sozialen Teilsystemen wie den Medien, der Wirtschaft, der Politik oder der Wissenschaft unterscheiden. So geht es im Sport neben Spannungselementen, Regeln und einer überhöhenden Sportmoral um die »Kommunikation körperlicher Leistungen«10, die im Spitzensport besonders siegesorientiert ausgerichtet ist.

4  Vgl. Karl-Heinz Bette u. Uwe Schimank, Doping im Hochleistungssport. Anpassung durch Abweichung, 2. Auflage, Frankfurt a. M. 2006; Dresen, Doping im Spitzensport; Dietz u. Dresen, Medikamentenmissbrauch. 5  Émile Durkheim, Die Regeln der soziologischen Methode, 3. Auflage, Frankfurt a. M. 1995, erstmals 1895, S. 105. 6  Vgl. Karl-Heinz Hillmann, Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 1994, S. 859. 7  Vgl. Erving Goffman, Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, 8. Auflage, München 2000. 8  Michel Foucault, Archäologie des Wissens, Frankfurt a. M. 1981, S. 43. 9 

Ebd.

Mit diesem strukturellen Kern steht der Sport gleichsam in einem Netz von Austauschbeziehungen zu seinen Umwelten. Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Medien zeigen sich am Sport interessiert – und können jene spektakulären

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Tabus — Analyse

10  Otmar Weiß, Einführung in die Sport­soziologie, Wien 1999, S. 10.

Erfolge, die der Sport über kontinuierliche Leistungen erbringt, nach ihrer systemimmanenten Logik verwerten. Den Medien geht es unter anderem um Einschaltquoten und Auflagenhöhen, der Wirtschaft um Werbemöglichkeiten, Imagetransfer und Produktverkauf, der Politik um Prestigegewinn und Wählbarkeit sowie der (Sport-)Wissenschaft um Reputationssteigerung durch die Begleitung sportlicher Leistungsträger. Dabei ist das Publikum in seinen Informations- und Unterhaltungsbedürfnissen, als potenzieller Käufer von Sportprodukten oder als Wähler in die Austauschbeziehungen zwischengeschaltet.11 Kennzeichnend für diese Dynamiken ist die Ausrichtung auf »höher, schneller und weiter«. Diese Logik lässt sich auch als »Anspruchsinflationierung«12 oder Überhöhung von Siegesorientierungen bezeichnen. Je mehr vor dieser Drohkulisse nun Siege gefordert werden, umso riskanter wird die Möglichkeit des Scheiterns für die Athleten. Diese Gefahr erweist sich als ein permanenter und penetranter Begleiter in einer Hochleistungssportkarriere. Scheitern im Sinne von Verlieren mit der Folge erschwerter Akquise von notwendigen finanziellen Ressourcen ist zu allen Zeiten effizient und zielgerichtet zu umgehen. Nicht nur die Erfolgsorientierung gilt also, 11  Vgl. Bette u. Schimank, Doping im Hochleistungssport, S. 111 ff.; Klaus Cachay u. Ansgar Thiel, Soziologie des Sports. Zur Ausdifferenzierung und Entwicklungsdynamik des Sports der modernen Gesellschaft, Weinheim 2000, S. 134 ff.; Dresen, Doping im Spitzensport, S. 196 ff. 12  Karl-Heinz Bette u. Uwe Schimank, Die Dopingfalle. Soziologische Betrachtungen, Bielefeld 2006, S. 12. 13  Vgl. Antje Dresen, Der Zweite ist der erste Verlierer – Scheitern und seine Äquivalente im Sport, in: René John u. Antonia Langhof (Hg.), Scheitern – Ein Desiderat der Moderne?, Wiesbaden 2014 (im Druck). 14  Vgl. Cachay u. Thiel, Soziologie des Sports, S. 143 f. 15  Bette u. Schimank, Anpassung durch Abweichung, S. 424. 16  Goffman, Wir alle spielen Theater, S. 40.

vor allem die Möglichkeit des Scheiterns ist zu vermeiden.13 Dieser Handlungsentwurf wird angesichts der typischen Zukunftsunsicherheit und Pfadabhängigkeiten von Athletenbiografien sehr bedeutsam. Das hohe Trainingspensum macht es fast unmöglich, nebenbei einen anderen Beruf auszuüben, um so im Falle des sportlichen Misserfolgs einer alternativen Existenzsicherung nachgehen zu können. Die Zeitspanne, die von Spitzensportlern zu Höchstleistungen genutzt werden kann, ist vollkommen auf den Beruf und die Identität eines Spitzensportlers ausgelegt.14 Im Zuge der unsicheren Berufschancen nach der Sportkarriere trägt zudem die hohe Körperabhängigkeit des Sportlers zu einem strukturellen, weil überindividuellen Risikopotenzial des Scheiterns im Sport bei, denn jeder »Sportler unterliegt […] dem ständigen Risiko des Scheiterns durch Verletzungen, Krankheit und körperlichen Leistungsabbau«15. Aufgrund dieser Gefahren im Wettbewerbssystem Sport bedeutet dies für den Athleten, möglichst dem Ideal des siegreichen Sportlers zu entsprechen. Und »wenn jemand in seiner Darstellung bestimmten Idealen gerecht werden will, so muss er Handlungen, die nicht mit ihnen übereinstimmen, unterlassen oder verbergen«16. DOPINGHANDELN UND VERHÜLLUNGSSTRATEGIEN Ein dopender Athlet steckt typischerweise in einer biografisch prekären Situation. In der siegesorientierten Spitzensport-Arena lässt sich die Handlungswahl Antje Dresen  — Doping, Bournout und Depression

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des Dopings angesichts der Konkurrenzverhältnisse und sportbiografischen Risikopotenziale zunächst als »Mehrzweckwaffe« bzw. Fluchtweg aus der biografischen Falle begreifen.17 Die Handlungsstrategie des Dopings überbrückt die Kluft zwischen sozialem Erfolgsdruck und dem Risikofaktor des eigenen Körpers, indem sie zur Erhöhung eigener Erfolgschancen beiträgt. Gleichzeitig muss sich ein Athlet aber darum bemühen, den »schönen Schein« eines »sauberen Athleten« aufrecht zu erhalten. Er hat bei seiner Selbstdarstellung vor den Umfeldakteuren des Spitzensports »die offiziell anerkannten Werte der Gesellschaft zu verkörpern und zu belegen«18. Und diese sind eben auf einen »sauberen Sport« ausgelegt, ein Ideal, an dem sich Medien, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft orientieren. Wegen möglicher Reputationsverluste wird Doping daher als Störfaktor des »schönen Scheins« negiert, bagatellisiert und personalisiert; das Netzwerk Spitzensport lehnt Doping offiziell ab. Denn ein Zuviel an Doping und vor allem an Dopingdebatte stört sowohl die Medien, weil dann die Sportzuschauer fernbleiben, als auch die Politik, der dann ein »schlecht gemachter Job« vorgeworfen wird, ist sie doch für die Dopingbekämpfung verantwortlich. Zugleich wirkt sich ein umfassender Dopingdiskurs hinderlich auf das Sportsponsoring und die Reputation u. a. der Sportmedizin aus. So wird der einzelne Athlet als »Sündenbock« an den Pranger gestellt, während auf der Hinterbühne viele vom erfolgsstabilisierenden Doping profitieren.19 In diesem Prozedere spielt das vielfach aus dem wissenschaftlichen Blick geratende Publikum eine herausragende Rolle. Denn es verlangt aus seinen Bedürfnissen nach fulminanten Sporterlebnissen heraus das kaum Mögliche, wenn es trotz des zugespitzten Widerspruchs zwischen grenzenlosem Siegescode und überfordertem Athletenkörper »ehrliche« sportliche Erfolge sehen will. Da der Nutzen des Spitzensports für die Massenmedien, die wirtschaftlichen Sponsoren und die politischen Förderer direkt vom Publikumsinteresse abhängt, ist deren Haltung zum Doping eindeutig vorgezeichnet. Sie passen sich den Publikumsinteressen an.20 Dies geschieht über eine moralische Dis-

17  Vgl. Bette u. Schimank, Die Dopingfalle, S. 114. 18  Goffman, Wir alle spielen Theater, S. 35. 19  Vgl. Karl-Heinz Bette u. Uwe Schimank, Doping – der entfesselte Leistungssport, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), Jg. 56 (2008) H. 29–30, S. 24–31. 20  Vgl. Bette u. Schimank, Die Dopingfalle, S. 205 ff.

kussion, die zuvörderst nicht um die Lösung der bestehenden Widersprüche kreist, »weil ihr Ziel nicht die Änderung struktureller Bedingungen ist. Sie fungiert vornehmlich zur PR-artigen Beruhigung der Öffentlichkeit«21. Anders ausgedrückt: Es geht um die funktionale Moralisierung für den Erhalt des gesamten Aktionssystems. Das Vertrauen in den Sport muss symbolhaft aufrechterhalten werden, während Doping als Handlung und »seine Funk-

21  Peter Becker u. a., Egalisiert und maximiert. Zur Planung und Konstruktion sportlicher Höchstleistungen – ein Unterrichtsmodell, in: Ders. (Hg.), Sport und Höchstleistung, Reinbek bei Hamburg 1987, S. 185–210, hier S. 21.

tion für das soziale System verborgen bleiben muss«22. Moralisierungsstrategien werden somit für die Doping-Subkulturen zu einer funktionalen Notwendigkeit. Dopende Athleten erkennen das offiziell

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Tabus — Analyse

22  Niklas Luhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation, Berlin 1995, S. 313.

Erlaubte an und versuchen entsprechend dieses Wertekodexes, die auf Doping beruhenden Leistungen durch Beschwichtigungsstrategien und »entsprechende Innovationen im Kaschieren abzusichern […] Diese Praktiken 23  Bette u. Schimank, Doping im Hochleistungssport, S. 218 f. 24  Sylvia Schenk, Hindernisse, Täuschungen und Selbsttäuschungen im Anti-DopingKampf, in: Ralf Meutgens (Hg.), Doping im Radsport, Kiel 2007, S. 130–136, hier S. 134. 25  Bette u. Schimank, Doping im Hochleistungssport, S. 224. 26  Zit. in Werner Franke u. Udo Ludwig, Der verratene Sport, Gütersloh 2007, S. 117; vgl. hierzu auch Dresen, Doping im Spitzensport, S. 308.

fingieren Regeltreue und simulieren Natürlichkeit«23. Vor zwar sporthungrigen, aber potenziell moralisch ächtenden Umfeldakteuren ist wichtig, sich innerhalb einer geschönten Realität darzustellen. Erwischte Radfahrer etwa reagieren angesichts dieser Logik »selbstverständlich mit Schweigen bzw. Leugnen und können sich so am ehesten der Solidarität der Kollegen und künftiger Chancen in einem Team sicher sein«24. Noch im Fall der Überführung gilt: »Wichtige Bezugsgruppen sollen nicht düpiert werden«25. Beispielhaft hierfür ist die »Dopingbeichte« von Erik Zabel, der im Frühjahr 2007 mit seinem Teamkollegen Rolf Aldag Stellung zur Tour de France 1996 nahm. Zabel entschuldigte sich bei seinen Fans und seiner Familie und erklärt in einer Pressekonferenz: »Ich habe gedopt, weil es ging. Wir waren Gefangene unseres Denksystems«26. Derartige Rechtfertigungen können auch als »Enttäuschungserklärungen« verstanden werden. Die jeweilige Erklärung darf »der Norm nicht schaden.

27  Niklas Luhmann, Rechtssoziologie, Opladen 1983, S. 56. 28  Erving Goffman, Interaktionsrituale. Über Verhalten in direkter Kommunikation, Frankfurt a. M. 1967, S. 18. 29  Vgl. Dietz u. Dresen, Medikamentenmissbrauch; Daniel Möllenbeck u. Arne Göring, Sportliche Aktivität, Gesundheitsressourcen und Befinden von Studierenden: Eine Frage des Geschlechts?, in: Simone Becker (Hg.), Aktiv und gesund? Interdisziplinäre Perspektiven auf den Zusammenhang zwischen Sport und Gesundheit, Wiesbaden 2014, S. 449–474. 30  Depressive Erkrankungen zählen mit Angststörungen zu den häufigsten psychischen Erkrankungen in der deutschen Allgemeinbevölkerung, vgl. Walter Rätzel-Kürzdörfer u. Manfred Wolfersdorf, Prävention depressiver Erkrankungen, in: Klaus Hurrelmann u. a. (Hg.), Lehrbuch Prävention und Gesundheitsförderung, 3. Auflage, Bern 2010, S. 237–248, hier S. 237.

Sie muss daher das enttäuschende Ereignis von der Erwartung distanzieren«27. Für die Selbstdarstellung der Athleten bedeutet dies im Goffman’schen Sinne, auf der Bühne Sport die erwartete Rolle des »sauberen Athleten« als Normalität zu kommunizieren, um davon dann das Dopingvergehen als Abweichung entschuldigend zu erklären. Diese »Techniken der Imagepflege«28 werden umso notwendiger, je mehr die Akteure des inner- und außersportlichen Umfelds Einfluss auf die Biografie des Athleten haben. BURNOUT/DEPRESSION UND DIE NOTWENDIGKEIT DES VERBERGENS Ein problematisches Anspruchsniveau zeigt sich allerdings nicht nur im Spitzensport, sondern auch in anderen Bereichen, zum Beispiel auf dem Weg der Qualifikation für die moderne Arbeitswelt. So geht es schon in Schule, Ausbildung und Studium darum, Leistungserwartungen bestmöglich zu erfüllen. Vor der strukturellen Drohkulisse eines durchökonomisierten Wissenschafts- und Bildungssystems, angesichts der Knappheit an Zeit, begrenzter kognitiver, körperlicher und häufig auch finanzieller Ressourcen sowie aufgrund von Konkurrenzverhältnissen gilt es, effektiv und effizient möglichst sehr gute Abschlüsse oder Arbeitsergebnisse zu erzielen.29 Dieses auf Perfektion ausgelegte Räderwerk kann zu Überforderungserscheinungen bei den Akteuren führen, die sich in einem Burnout-Syndrom und/oder einer Depression ausdrücken können.30 Dabei wird unter Burnout Antje Dresen  — Doping, Bournout und Depression

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bislang überwiegend ein arbeitsbezogenes Syndrom verstanden, welches sich aus den Dimensionen emotionale Erschöpfung, Depersonalisation oder Zynismus und verminderte Leistungsfähigkeit zusammensetzt.31 Das klinisch klassifizierte Bild der Depression hingegen umfasst Rückzugstendenzen, Hoffnungs- und Hilflosigkeit, Neigung zur Selbstentwertung und Schuldzuweisungen an die eigene Person. Im Vordergrund einer sogenannten depressiven Episode finden sich ein oder mehrere belastende Lebensereignisse, die als Verlust, Überforderung und Kränkung empfunden werden.32 Die Bedeutung psychosozialer Risikofaktoren im Vorfeld einer depressiven Erkrankung wird in den einschlägigen Studien als groß eingeschätzt.33 Wie das Phänomen des Dopings können Burnout und Depressionen als Produkte inflationärer Erfolgserwartungen gedeutet werden. Gerade im Spitzensport werden sie allerdings als vermeintlicher »Zustand der Unzulänglichkeit«34 tabuisiert. Zwar scheint in der öffentlichen Wahrnehmung das Thema »Burnout« als »Ausgebranntsein« eher »fashionable« zu sein als eine »Depression« als angebliche »Charakterschwäche«. So habe der Burnout-Erkrankte immerhin im Vorfeld für seinen Beruf »gebrannt« und sich so gewissermaßen »aufgeopfert«.35 Doch in der siegesorientierten Spitzensport-Arena ist jede Art von scheinbarer Schwäche, von Verletzungen oder Phasen der Erfolglosigkeit unerwünscht. Insofern ist auch hier wiederum von den Athleten bei ihrer Selbstdarstellung vor allem »Ausdruckskontrolle«36 gefragt. Ungeachtet des seelischen Gemütszustandes, der Zukunftsängste und der Leistungsgrenzen gilt es, auf der Vorderbühne Leistungsfähigkeit zu demonstrieren. Athleten sind in ihrer Rolle totalisiert und stehen mit ihren Körpern als Vehikel der Leistungsfähigkeit und -steigerung im Zentrum des Interesses aus dem inner- und außersportlichen Umfeld. Leistungsstagnation oder gar Rückschritte wirken sich nicht nur empfindlich auf die Sportkarrieren aus, sondern ebenso auf das an den Erfolgen partizipierende Netzwerk. Dessen Bedürfnisse dürfen aufgrund der existentiellen Abhängigkeiten des Athleten nicht enttäuscht werden. Vermeintliche »Schwäche« wird deshalb häufig im doppelten Sinne »überspielt« und ein Burnout, ebenso wie eine Depression, dementsprechend negiert bzw. tabuisiert. Im Unterschied zum sündenbockzentrierten Doping-Tabudiskurs ist hier allerdings die Rolle des Publikums als Teil des »Ensembles«37 etwas anders

31  Vgl. Wolfgang P. Kaschka u. a., Burnout: a fashionable diagnosis, in: Deutsches Ärzteblatt International, Jg. 108 (2011) H. 46, S. 781–787. 32  Vgl. Rätzel-Kürzdörfer u. Wolfersdorf, Prävention depressiver Erkrankungen, S. 239. 33  Vgl. Ferdinand Keller, Belastende Lebensereignisse und der Verlauf von Depressionen, Münster 1997; Manfred Wolfersdorf u. a., Psychosoziale Faktoren, in: Michael Bauer u. a. (Hg.), Akute und therapieresistente Depression, 2. Auflage, Heidelberg 2005, S. 446–455. 34  Alain Ehrenberg, Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Frankfurt a. M. 2008, S. 37. 35  Vgl. Kaschka u. a., Burnout, S. 781.

gelagert. Mit Blick zum Beispiel auf das tragische Beispiel vom Profi-Fußballtorwart Robert Enke, der sich im Jahr 2009 aufgrund einer Depression das Leben nahm und damit zumindest kurzfristig eine Problemdebatte über Depressionen im Sport entfachte, fielen die Reaktionen der Öffentlichkeit

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Tabus — Analyse

36  Goffman, Wir alle spielen Theater,, S. 48. 37  Ebd., S. 93.

inklusive Teamkollegen, Fans, Sportbegeisterter, (Sport-)Politiker und Journalisten mitfühlend und anteilnehmend aus. Der Ex-Skisprungstar Sven Hannawald machte im Jahr 2005 sein Karriereende anlässlich von Depressionen öffentlich, sein Teamkollege Martin Schmitt sagte fünf Jahre später, er leide am Burnout-Syndrom. Ebenso taten der Profi-Fußballer Sebastian Deisler sowie der Trainer und Funktionär Ralf Rangnick ihre Depression öffentlich kund. Auch ihnen wurde eher Verständnis als Empörung zuteil. Trotz dieser Ausnahmen werden die Burnout-Symptomatik ebenso wie Depressionen weitestgehend tabuisiert, um das kommerzielle Ganze nicht zu gefährden. Die »Verkettung« der medial-industriellen HochleistungssportArena bestimmt über »die Identität und die Hartnäckigkeit der Themen«38. Burnout und Depression gehören noch nicht dazu. FAZIT Die Phänomene Doping und Burnout/Depression zeigen, dass die Verständigung über Tabus im Kontext des Spitzensports typischerweise auf leistungsorientierte Interessen mehrerer gesellschaftlicher Gruppen zurückgeht. Dabei haben die verschiedenen Akteure im Sport unterschiedlich viel (oder wenig) Macht. Sowohl in Bezug auf Doping als auch Burnout/Depression sind die Athleten diejenigen, die sich am stärksten in monetären Abhängigkeitsverhältnissen befinden und daher die schwächsten Glieder in der Verwertungskette sind. Für sie ist dramaturgisch notwendig, emotionale Krisen und die Einnahme leistungsfördernder Substanzen zu tabuisieren, sollen doch die Bezugsgruppen – Medien, Financiers, Publikum etc. – nicht enttäuscht wer38  Foucault, Archäologie des Wissens, S. 54. 39  Bette u. Schimank, Doping im Hochleistungssport, S. 219.

den. Gleichzeitig fühlen sich viele Sportler aufgrund des exorbitanten Anspruchsniveaus und der vorherrschenden Konkurrenzverhältnisse bei gleichzeitig begrenzten Ressourcen überfordert. »Und diese Überforderung durch Ambivalenz stimuliert eine Lügen-, Schweige- und Verheimlichungskultur.«39

Prof. Dr. Antje Dresen ist Juniorprofessorin für Sportsoziologie am Institut für Sportwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Analysen sozialer Probleme, Dopingforschung, Körper- und Selbstkonzepte sowie Kinder- und Jugendsport.

Antje Dresen  — Doping, Bournout und Depression

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WER DAS SAGEN HAT GESCHLECHT ALS TABU1 ΞΞ Ute Frietsch

OFFENE GEHEIMNISSE Man kann sich fragen, ob der Bereich des Geschlechtlichen in demokratischen westlichen Gesellschaften überhaupt (noch) tabuisiert ist. Auf den ersten Blick stellt sich der gesellschaftliche Umgang mit Geschlecht und Sexualität heute schließlich als weitgehend freizügig dar. Auf den zweiten Blick zeigt sich allerdings, dass die Enttabuisierung von Sex(ualität) sowie Geschlecht(erverhältnissen) abhängig ist von Aspekten wie dem Ort des Geschehens, dem Medium der Darstellung und dem Status der beteiligten Personen. Die Aushandlung dessen, was sich in dieser Hinsicht sagen und zeigen lässt, ist ein gesellschaftlicher Prozess – in den auffallend viel Arbeit investiert wird: Die Aushandlung ist offensichtlich gesellschaftlich produktiv. Sie verändert zudem die Vorstellung von Tabus überhaupt, denn der Bereich des Sexuellen ist paradigmatisch für die Vorstellung von Tabu: Was sich nicht unumwunden offen ansprechen lässt, ist zumindest so ähnlich wie der intime Bereich des Sexuellen. Insofern dürften Tabus aller Art eine strukturelle Übereinstimmung mit dem sexuellen Tabu aufweisen – selbst wenn es dieses für ›uns‹ (Erwachsene, Bürger westlicher Gesellschaften etc.) gar nicht mehr im strikten Sinne geben sollte. Angesichts des freizügigen Umgangs mit Sex(ualität) sowie dem paradigmatischen Charakter von Sex(ualität) für das Tabu wirkt die Rede von Tabus für die deutsche Gesellschaft generell etwas zu streng oder absolut:

1  Eine leicht veränderte Version des Textes erschien bereits auf der Website »TABU: Bruch. Überschreitungen von Künstlerinnen. Interkulturelles Wissenschaftsportal der Forschungsplattform Elfriede Jelinek«, online einsehbar unter https://jelinektabu.univie.ac.at/ tabu/tabu-geschlecht/ute-frietsch/ [eingesehen am 22. 05. 2014].

Wenn Sex(ualität) nicht mehr wirklich tabu ist, gibt es dann überhaupt noch Tabus? Oftmals zutreffender scheint der Ausdruck »offenes Geheimnis«.2 Ein offenes Geheimnis ist ein Geheimnis, das zwar von allen gewusst wird, aber nicht explizit ausgesprochen werden darf bzw. sollte. Der spezifische Reiz im Umgang mit offenen Geheimnissen erklärt sich u. a. daraus, dass er Geschick erfordert. Man muss das Spiel verstehen (wie der pragmatische Anthropologe und Aufklärer Kant gesagt hätte3), wenn man von dem Geheimnis profitieren möchte. Wer das Geheimnis ausplaudert, kommt um seinen Gewinn. Dabei scheint es sich eher um einen Verstoß gegen den guten Geschmack zu handeln als um einen Tabubruch im Sinne eines Zivilisationsbruches.

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INDES, 2014–2, S. 56–63, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014, ISSN 2191–995X

2  Vgl. Pierre Bourdieu, Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns, Frankfurt a. M. 1998 [1994], S. 167. Bourdieu behandelt das offene Geheimnis im Rahmen seiner »Ökonomie der symbolischen Güter«. 3  Immanuel Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Vorrede, in: WA XII: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 2, Frankfurt a. M. 1995, S. 399–402, hier S. 400.

Ich beginne meinen Text mit vagen Formulierungen wie »scheint« und »dürfte«, die in diesem Kontext nicht als rhetorisch zu interpretieren sind. Offensichtlich sind die Fragen, ob Geschlecht(erverhältnisse) bzw. Sex(ualität) tabuisiert werden und ob es überhaupt noch Tabus gibt, nicht einfach zu beantworten. Dass man in diesen Fragen etwas im Dunkeln tappt, ist aussagekräftig für das Thema Tabu selbst.4 WAS ES HEISST, DAS SPIEL ZU VERSTEHEN (I) Begeben wir uns ins Privatfernsehen, um den angesprochenen Zusammenhängen des guten und schlechten Geschmacks bzw. der Tabus und Tabubrüche etwas genauer nachzuspüren. Am 08. Februar 2014 um 20.15 Uhr beispielsweise wird auf dem Privatsender RTL in der Sendung »Deutschland sucht den Superstar« eine kleine Szene übertragen, in der die genannten (Macht-)Aspekte – die Abhängigkeit der (Ent-)Tabuisierung vom Ort des Geschehens, vom Medium der Darstellung und dem Status der beteiligten Personen – auf anschauliche Weise zum Ausdruck kommen. Laut Medienanalyse schauen 5,22 Millionen Zuschauer an diesem Abend die Sendung, der Marktanteil beträgt damit 16,7 Prozent – das Geschehen lässt sich insofern als durchaus repräsentativ beurteilen. Der Kandidat, der angetreten ist, um sich als Superstar zu profilieren, trägt einen Papagei bei sich. Mieze Katz, Sängerin der Berliner Elektropopband »Mia.« und Mitglied der Jury, verlässt ihren Platz in der Jury, tritt auf den Kandidaten zu und nimmt den Papagei auf ihre Schulter. Daraufhin wirft Rapper Prince Kay One, als weiteres Mitglied der Jury, einen Witz in den Sendesaal: »Mieze ist gut zu Vögeln«. Die Fernsehredaktion spielt einen Tusch, um den bemerkenswerten Gehalt dieser Aussage zu unterstreichen. Es folgt ein Moment gespannter Stille: Wie wird Mieze Katz mit dieser Herausforderung umgehen? Wird jemand sein Gesicht verlieren? Die Kamera schwenkt interessiert auf den Pop-Produzenten Dieter Bohlen, der mit offenem Mund anerkennend grinst. Aus dem Off meldet sich die RTLRedaktion mit einem »Hey Kay« zu Wort, das sich sowohl als Ermahnung wie als Ermunterung interpretieren lässt. Pop-Sängerin Marianne Rosen4  Vgl. meine früheren Reflexionen zum Thema unter Ute Frietsch, Der Wille zum Tabu als Wille zum Wissen, in: Dies. u. a. (Hg.), Geschlecht als Tabu. Orte, Dynamiken und Funktionen der De/Thematisierung von Geschlecht. Reihe Gender Codes, hg. v. Christina von Braun u. a., Bielefeld 2008, S. 9–16.

berg, drittes der vier Mitglieder der Jury, wird eingeblendet, wie sie sich, ihrerseits wortlos, mit skeptischem Blick ihrem Kollegen zuwendet. Der Kandidat übernimmt relativ geschickt das Wort und sagt: »Äh, ja, das sehe ich gerade. Sie streichelt gut.« Jury-Mitglied Kay lacht. Die Redaktion spielt einen Walzer ein. Mieze Katz ignoriert den Witz, dreht sich mit dem Papagei auf der Schulter selig lächelnd, wie ein kleines Mädchen, tanzend im Kreis und geht schließlich mit dem Vogel auf ihren Platz zurück. Damit ist Ute Frietsch  —  Wer das Sagen hat

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Tabu — Analyse

der produktive Gehalt der Situation jedoch noch nicht erschöpft. Der Kandidat greift die Aussage nochmals auf und sagt: »Kay One hatte definitiv recht«. Der Rapper wiederholt grinsend: »dass sie gut zu Vögeln ist? Siehste ja«. Der Kandidat erwidert: »Ja, ja, das sympathisiert, definitiv« – eine Formulierung, die er sich vermutlich vor der Sendung zurecht gelegt hatte, um die Anwesenheit seines Papageis zu erklären. Sängerin und Jury-Mitglied Mieze Katz ignoriert die Aussage abermals. Das kleine Intermezzo wird zwischen den Mitgliedern der Jury nicht weiter thematisiert, eine Metaebene wird nicht eingeführt. Der Vorfall wird auch in dem Begleittext des Mitschnitts, der auf der Website von RTL – übrigens im entscheidenden Moment von Werbung unterbrochen – zu sehen ist, nicht thematisiert. Die Pointe wird stattdessen verschoben: Im Anschluss an die geschilderte Szene diskutieren die Mitglieder der Jury darüber, dass »der Papagei Mieze vollgekackt« hat. Die RTL-Redaktion nutzt diesen Vorfall für die URL-Adresse des Mitschnitts.5

Das fäkale Element toppt den sexuellen Witz und soll ihn damit als harmlos erweisen – andernfalls wäre es wohl dem Schnitt zum Opfer gefallen. Fernsehformate, die nicht live ausgestrahlt werden, lassen sich je nach Wunsch inszenieren. Die einzelnen Akteure handeln entsprechend dem Platz, der ihnen strukturell zugewiesen ist. So leistet die Szene u. a. Folgendes: Der Machtraum der Show wird stabilisiert, indem unterstrichen wird, wer in der Jury das Sagen hat. Wenn Dieter Bohlen – auf Börse online vom 08. Februar 2014 auch als »Urvater Bohlen« bezeichnet – grinst, dann ist die Aussage ok: Der Prinz ist der Prinz, er folgt seinem Vater, dem König, und bleibt als Nachfolger legitimiert. Zugleich wird eine gewisse, zum Entertainment gehörende Spannung ausgespielt: Das Machtgefälle zwischen Jury und Kandidaten setzt sich offenbar innerhalb der Jury fort. Die Jurymitglieder werden auf diese Weise plastischer, ihr Charakter und ihre Position im Betrieb deutlicher. Daraus wiederum ergeben sich Fragen persönlicher Art, aus denen sich weitere Plots entwickeln ließen: In welcher Beziehung stehen die Mitglieder der Jury zueinander, sind sie miteinander intim etc.? Die Jurymitglieder erweisen sich so als die eigentlichen Stars: Ihre persönlichen Affären und Relationen scheinen von öffentlicher Bedeutung zu sein. Da sie zugleich aber persönlich sind, werden sie mit der üblichen Ambivalenz 5  Online einsehbar unter http://www.rtl.de/cms/sendungen/ superstar/dsds-news/dsds-2014tobias-ebenbergers-papageikito-kackt-jurorin-mieze-voll376ad-918a-10–1793815.html [eingesehen am 11. 02. 2014].

von Sagen und Nicht-Sagen, Zeigen und Nicht-Zeigen behandelt. Dieser Anstand der Ambivalenz bleibt zumindest solange gewahrt, wie eine Person nicht den sozialen Tod erleidet. Der soziale Tod bestünde u. a. darin, dass sich jedwedes intime Detail offen in der gesellschaftlichen Manege verreißen und breittreten ließe. Ute Frietsch  —  Wer das Sagen hat

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DIE ANFORDERUNGEN EINER HETEROSOZIALEN ÖFFENTLICHKEIT Die Tabuisierung oder Enttabuisierung von Geschlechterverhältnissen sowie von sexuellen Aktionen hat eine gesellschaftliche Funktion, die je nach Ort des Geschehens verschieden ist. Auf der heterosozialen Bühne des Privatfernsehens lässt sich Geschlechtlichkeit auf andere Weise inszenieren und verhandeln als beispielsweise in einer homosozialen Gemeinschaft wie dem Vatikan.6 Zugleich sind die gesellschaftlichen Milieus nicht absolut voneinander geschieden. Gerade die Print- und audiovisuellen Medien sind Garanten dafür, dass Milieus miteinander konfrontiert werden und sich intime Details zwischen ihnen transportieren lassen. Die Badewanne des Limburger Bischofs Tebartz-van Elst, die 2013 ob ihrer hohen Herstellungskosten in die mediale Diskussion gelangte, lässt sich beispielsweise als intimes Detail – im Sinne einer tabuisierten und daher gerade wissenswerten Vergeschlechtlichung7 – interpretieren. Sie wird zum Symbol, das seine sexuelle Semantik u. a. aus den parallelen Diskussionen um den sexuellen Missbrauch bezieht, der in der katholischen Kirche in den letzten Jahrzehnten seitens vermeintlich zölibatärer Amtsträger praktiziert wurde. In den homosozialen Gemeinschaften der Kirche, etwa den Klöstern, wurde Sexualität auf andere Weise gelebt als in den heterosozialen Gemeinschaften der heutigen bürgerlichen Öffentlichkeit.8 Die bürgerliche Öffentlichkeit rüttelt u. a. an den Tabus homosozialer Gemeinschaften, indem sie das vermeintliche oder gelebte Zölibat problematisiert. Die Diskussion der Vor- und Nachteile zölibatären Lebens ist dabei keine rezente Erscheinung. Sie war beispielsweise ein wesentlicher Aspekt der frühneuzeitlichen Konfrontation von Protestantismus und katholischer Kirche. Zölibatspflicht galt zudem nicht allein für Klöster: Die Zölibatspflicht der Universitätsgelehrten des hohen Mittelalters

6  »Homosozial« ist nicht gleichbedeutend mit »homosexuell«. Unter einer homosozialen Gemeinschaft versteht man eine Gemeinschaft, in der eine Geschlechtsgruppe unter sich ist. In einer heterosozialen Gemeinschaft begegnen sich Angehörige beider bzw. mehrerer Geschlechter. 7  Vgl. Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Bd. 1. Frankfurt a. M. 1989 [1976]. 8  Michel Foucault gebrauchte für diesen Zusammenhang den Begriff »Monosexualität«, der sich wiederum von »Homosexualität«, aber auch von »Homosozialität« unterscheidet. Vgl. Michel Foucault, »Das wahre Geschlecht«, in: ders., Herculine Barbin. Über Hermaphrodismus, hg. v. Wolfgang Schäffner u. Joseph Vogl, Frankfurt a. M. 1998 [1978]. 9  Gadi Algazi, Eine gelernte Lebensweise: Figurationen des Gelehrtenlebens zwischen Mittelalter und der Frühen Neuzeit, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, H. 2/2007, S. 107–118.

etwa wurde erst im Verlauf der Frühen Neuzeit aufgehoben.9 Gerade am Beispiel der Universitäten lässt sich allerdings aufzeigen, dass auch säkulare Demokratien Schwierigkeiten haben mit dem heterosozialen Umgang in Öffentlichkeit und Arbeitswelt, wenngleich dieser für sie in gewisser Weise charakteristisch ist. Der Zugang von Frauen zu Universitäten wurde erst im 20. Jahrhundert üblich. Angesichts der mittlerweile realisierten Gleichberechtigung in Hinblick auf Studienzugang und untere akademische Abschlüsse trauern Wissenschaftler allerdings gelegentlich offen der homo-

10  Vgl. dazu das Statement eines Geisteswissenschaftlers im Zuge seiner Emeritierung: Jürgen Trabant, »Jan und Hein und Klaas und Pit«, in: Gegenworte, H. 12/2003 (Der Mythos und die Wissenschaft), S. 46–48, online einsehbar unter http://www.gegenworte. org/heft-12/trabant-probe.html [eingesehen am 11. 02. 2014].

sozialen Atmosphäre früherer Zeiten nach.10 Eine interessante Intervention stellt in diesem Zusammenhang die Empfehlung des Soziologen und Genderforschers Stefan Hirschauer dar, in der Arbeitswelt ein »Undoing Gender« – eine konsequentere, auch habituelle Geschlechtsneutralität – zu praktizieren.11 Heterosoziale Umgangsformen sind demnach gewöhnungsbedürftig, sie

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Tabu — Analyse

11  Stefan Hirschauer, Das Vergessen des Geschlechts. Zur Praxeologie einer Kategorie sozialer Ordnung, in: Bettina Heintz (Hg.), Geschlechtersoziologie, Wiesbaden 2001, S. 208–235.

müssen in der Arbeitswelt habituell angeeignet und den jeweiligen Anforderungen entsprechend transformiert werden.12 Professionelle Versachlichung im Umgang mit Geschlechterverhältnissen scheint ein Weg zu sein, sowohl das sexuelle Tabu wie den sexuellen Tabubruch aufzuheben, die den heterosozialen Umgang verkomplizieren können. Heterosozialer Umgang lässt sich demnach in der demokratischen Arbeitswelt gefahrloser realisieren, wenn er nach dem Vorbild des homosozialen Umgangs praktiziert – also, zumindest oberflächlich, entsexualisiert – wird. Für die Welt des Entertainments gelten allerdings andere Regeln: Eine Versachlichung der Geschlechterverhältnisse mag zwar effizient sein. Der Unterhaltungsbetrieb profitiert jedoch gerade von dem Reiz des Tabus, der in einer heterosozialen Öffentlichkeit inszeniert und ausgespielt werden kann. DAS TABU UND DER ZUSAMMENHALT VON GEMEINSCHAFTEN Das Thema Tabu ist bis heute von seiner Konzeption im Rahmen der Psychoanalyse Sigmund Freuds geprägt.13 Als Inbegriff von Tabu kann daher das Inzest-Tabu gelten. Gerade auch dieses vermeintlich stabilste aller Tabus scheint in der Gegenwart u. a. aufgrund der veränderten Voraussetzungen der Reproduktions- und Verhütungsmedizin zu »erodieren«. Wurde der Inzest zwischen Geschwistern bereits in der modernen Literatur sowie im 12  Für den Bereich der Politik vgl. Annette Knaut, Frauen im Deutschen Bundestag. Indizien und Funktion der Tabuisierung von Exklusion, in: Frietsch u. a. (Hg.), Geschlecht als Tabu, S. 63–77.

modernen Kino thematisiert und romantisiert, so wird das Inzestverbot seit einigen Jahren auch juristisch neu verhandelt. Inzest stellt für moderne Gesellschaften keine unumgängliche biologische Gefahr dar. Insofern ist durchaus vorstellbar, dass selbst der Inzest zwischen Vater und Tochter als Straftatbestand des sexuellen Missbrauchs kategorisiert und das Inzestverbot in der Bundesrepublik (Paragraf 173 des StGB) – wie etwa in Frankreich bereits

13 

Vgl. Sigmund Freud, Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker, in: Gesammelte Werke, Bd. 9, London 1948 [1913].

geschehen – abgeschafft werden könnte.14 Lässt es sich als Zeichen fortschreitender Aufklärung interpretieren, wenn moderne Gesellschaften weniger Tabus benötigen?15 Sexualität wird in den westlichen Gesellschaften generell sehr viel offener verhandelt, seit sie sich in ihrer zentralen Komponente, der Reproduktion, wissenschaftlich-­technisch

14  Vgl. Irene Berkel, Die Erosion des Inzestverbots, in: Dies. (Hg.), Postsexualität. Zur Transformation des Begehrens, Gießen 2009, S. 87–104.

reglementieren und fortschreitend beherrschen lässt. Sex(ualität) bleibt zwar von Bedeutung für den Bestand der Gattung. Dass sich der sexuelle Akt jedoch technisch substituieren lässt, scheint mit einer weiteren diskursiven Öffnung einherzugehen.

15  Zur Entgegensetzung von Aufklärung und Tabu in der Psychoanalyse Freuds vgl. Frietsch, Der Wille zum Tabu, in: Dies. u. a. (Hg.), Geschlecht als Tabu, S. 9–16.

Es ist dabei auffällig, dass sich Gesellschaften heute ganz zentral interkulturell voneinander abgrenzen, indem sie ihren jeweiligen öffentlichen Umgang mit Sexualität und sexuellen Differenzen gegeneinander geltend machen. Differenzen zwischen Christentum und Islam etwa machen sich seit Ute Frietsch  —  Wer das Sagen hat

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einigen Jahren paradigmatisch am Kopftuch fest, das zu einem Symbol für die Verhüllung weiblicher Körperlichkeit geworden ist.16 Als Reaktion auf Islamisierungstendenzen im Nahen Osten wird dabei auch dem Feminismus, der die Themen Sex(ualität) und Geschlecht(erverhältnisse) in Hinblick auf Machtverhältnisse intensiv diskutiert – und insofern enttabuisiert –, in westlichen Demokratien eine neue, eher ungewohnte Anerkennung zuteil: Auch in politisch konservativen Kreisen kann die Verhandlung von Sex(ualität) und Geschlecht(erverhältnissen), die mit dem Ziel einer Gleichberechtigung der sozialen Geschlechter geführt wird, an Popularität gewinnen, insofern sie sich dazu instrumentalisieren lässt, den Unterschied des ›eigenen‹ europäischen Lebensstils von dem der ›anderen‹ zu verdeutlichen. Tabus und soziale Ungleichheit scheint es dann prinzipiell nur bei den sich verhüllenden ›anderen‹ zu geben, während die ›eigene‹ Gesellschaft und Identität als aufgeklärt propagiert werden. WHY DON’T WE DO IT IN THE ROAD? Bei aller Versachlichung des Umgangs der Geschlechter, die sich in heterosozialen Arbeitswelten beobachten lässt, bleiben sexuelle Akte von der Öffentlichkeit tendenziell ausgeschlossen: ›Wir‹ machen es in der Regel nicht auf der Straße – insofern man das zuweilen aggressive Sprechen über Sex nicht selbst als einen performativen Akt versteht.17 Mit dem körperlichen sexuellen Vollzug wäre – um es formal auszudrücken – eine Intensität gegeben, die im öffentlichen Austausch selbst keinen Platz hat, sondern lediglich indirekt (in der Werbung etc.) adressiert und aufgerufen werden kann. In der bürgerlichen Öffentlichkeit hält sich insofern die Ambivalenz, die für das Tabu charakteristisch ist: In der Dunkelheit des Kinos sind sexuelle Akte öffentlich darstellbar, am FKK-Strand ist man zwar am hellichten Tag nackt, begegnet sich jedoch nicht sexuell etc. Die Öffentlichkeit der neuen deutschen Massen-Bordelle kann zwar in Talkshows verhandelt werden, scheint aber selbst eher Teil einer Subkultur und insofern Teil einer Quasi-Öffentlichkeit oder Halbwelt zu sein. Auf RTL wiederum kann man den sexuellen Akt zwar direkt öffentlich ansprechen – man benötigt dazu aber zumindest eine Person als Gegenüber, die es gleichwohl nicht gehört haben will. WAS ES HEISST, DAS SPIEL ZU VERSTEHEN (II) Tabus oder offene Geheimnisse erfordern die ambivalente Rede von Sagen und Nicht-Sagen, die George Orwell in seinem Roman »1984« so brillant am Sprachgebrauch von Diktaturen aufgezeigt hat.18 Was sich nicht unumwunden offen ansprechen lässt, ist – ich wiederhole mich – ähnlich dem intimen

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Tabu — Analyse

16  Vgl. die Analysen in Christina von Braun u. Bettina Mathes, Verschleierte Wirklichkeit. Die Frau, der Islam und der Westen, Berlin 2007; Bettina Dennerlein u. a. (Hg.), Verschleierter Orient – Entschleierter Okzident? (Un) Sichtbarkeit in Politik, Recht, Kunst und Kultur seit dem 19. Jahrhundert, Paderborn 2012. 17  Vgl. Die Ausführungen zu »hate speech«, Pornographie, Homophobie und Zensur in: Judith Butler, Hass spricht. Zur Politik des Performativen, Berlin 1998. 18  George Orwell, 1984, New York/Scarborough 1981 [1949].

Bereich des Sexuellen. Darin zeigt sich eine strukturelle Übereinstimmung zwischen dem Bereich des sexuell Tabuisierten und dem Bereich der politisch repressiven Macht, die bestehen bleibt, auch wenn Sexualität oder der Sex selbst vielleicht gar nicht länger (wie in der Welt der Kinder) gegen den Willen (je)des Einzelnen unterdrückt werden. Wer an ein Tabu oder offenes Geheimnis gebunden ist und wer nicht, erweist sich im sprachlichen Umgang und ist abhängig vom jeweiligen Status der Personen. Wer die Macht hat, spricht nicht darüber und zeigt es nicht, weil er das Tabu, an das er selbst nicht vollständig gebunden ist, erhalten will (Bohlen). Wer die Macht haben möchte, spricht das Tabuisierte offen aus, um die Spielregeln in seinem Sinne zu verändern (Kay). Wer die Macht hingegen weder hat noch im gegebenen Kontext erlangen kann, der hat u. a. die Möglichkeit, sich wie ein Kind zu verhalten, das noch gar nicht verstehen kann, was die Erwachsenen da sagen: Damit wahrt er sein Gesicht und hält die spielerische Ambivalenz des Tabus aufrecht (Katz; Rosenberg wählt eine etwas andere Strategie). An diesem – durchaus intelligenten – Verhalten wird deutlich, dass der Gesichtsverlust schlimmer sein kann als der Maulkorb des Tabus. Auf RTL ist wahrscheinlich nicht der Sex tabuisiert. Es wird jedoch aufs deutlichste inszeniert, dass im gegebenen Rahmen für Frauen und Männer unterschiedliche Normen gelten: und dies – also das Geschlechterverhältnis – ist tendenziell tabu (in diesem Kontext selbst nicht sag- oder verhandelbar). Am Thema Sex wird insofern deutlich, wer in einer bestimmten gesellschaftlichen Konstellation das Sagen hat und wer nicht. So sind es schließlich Fragen der Macht, über die man sich Gedanken machen kann, wenn sich jemand im öffentlichen Raum als mundtot erweist. Am Spiel von Tabuisierung und Enttabuisierung lassen sich Machtverhältnisse analysieren, die gesellschaftlich heterogen sind und unablässig bearbeitet werden. Die Analyse ist jeweils wiederum selbst Teil dieses Prozesses.

PD Dr. Ute Frietsch ist Kulturtheoretikerin und Philosophin. 2014 lehrt sie als Gastprofessorin an der Universität Mainz im Fach Geschichte. 2013 erschienen ihre Bücher »Häresie und Wissenschaft. Eine Genealogie der paracelsischen Alchemie« und (gemeinsam herausgegeben mit Jörg Rogge) »Über die Praxis des kulturwissenschaftlichen Arbeitens. Ein Handwörterbuch«.

Ute Frietsch  —  Wer das Sagen hat

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VON TIEREN UND MENSCHEN DER FILM ALS MEDIUM, ÜBER TABUS ZU KOMMUNIZIEREN ΞΞ Jan Soldat

Ich mag die Kategorie »Tabu« nicht. Das war für mich immer gleichbedeutend mit einer Art von ignoranter Ausgrenzung. Auch habe ich mich mit der Betitelung »Tabubrecher« immer falsch verstanden gefühlt. Nur weil ich mich in meinen dokumentarischen Arbeiten oft mit von der öffentlichen Gesellschaftsnorm abweichenden Sexualitäten beschäftigt habe, ist dies nicht gleichbedeutend mit dem Anspruch oder dem Wille nach Tabubruch. Da habe ich mich oft als Projektionsfläche der Ängste und dem Ärger anderer wiedergefunden. Was ich jedoch rückblickend erkenne, ist, dass die mit einer gesellschaftlichen Tabuisierung verbundene Verdrängung natürlich immer wieder Momente und Energien schafft, die sich gegen dieses Verschwinden-lassen-wollen diverser Themen wehren. Nicht-existieren-dürfende Bilder haben in mir immer mehr Angst und Unbehagen bewirkt als die letztendliche Konfrontation mit realen Bildern oder Situationen. Für meine dokumentarische Arbeit war stets ein Antrieb, ein verborgenes Bild ans Licht zu bringen. Etwas mir Unbekanntes sichtbar zu machen. Dabei habe ich in erster Linie tatsächlich nur an mich gedacht. Mein Interesse und meine Faszination an einem Thema waren ausschlaggebend. Das war immer ein Wechselspiel aus etwas Unbekanntem und der Identifikation damit. Als Filmemacher benötige ich eine Ausgewogenheit von Nähe und Distanz, um mich einem Thema überhaupt widmen zu können. Bin ich zu nah, bin ich der Bewältigung nicht fähig, bin ich zu weit weg, habe ich keine Verbindung. Tabubruch könnte jedoch auch im positiven Sinne als eine Art Relativierung des »Tabus« verstanden werden. Eine Brechung der Ausgrenzung ein Stück weit hin zur Normalität, zum Alltäglichen. Diese positiv besetzte Wirkung eines Tabubruchs fände ich wiederum erstrebenswert. Nicht zwangsläufig im Sinne von Akzeptanz, viel mehr jedoch hinsichtlich der Schaffung eines Raums von Koexistenz. Das heißt Tabubruch als Form der Integration von Andersartigkeit. Andersartigkeit meine ich in diesem Zusammenhang immer ausgehend von einem selbst. Das Kennenlernen und Erfahren anderer Realitäten habe ich stets als Bereicherung und Erweiterung empfunden. Denn ein Problem bei gesellschaftlich tabuisierten Themen ist, dass sie oft

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INDES, 2014–2, S. 64–72, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014, ISSN 2191–995X

schon in den Köpfen, Körpern und Gefühlen der Menschen stecken, ohne dass überhaupt ein realer Abgleich stattgefunden haben muss. Mit meinen Filmen habe ich versucht, diese Möglichkeit zum Abgleich der eigenen Realität zu geben. Ein – wenn auch abstraktes, da über die Leinwand stattfindendes – Kennenlernen als Option für den Zuschauer, sich in Beziehung zu setzen. Im Folgenden möchte anhand meines Erstjahresfilms »Geliebt«, den ich an der Hochschule für Film- und Fernsehen »Konrad Wolf« in Potsdam-Babelsberg realisiert habe, etwas näher auf die Möglichkeit der Sichtbarmachung tabuisierter Bilder eingehen. Bei »Geliebt« handelt es sich um einen 15 minütigen Dokumentarfilm über zwei junge Berliner Zoophile und deren emotionale und sexuelle Bindung zum Hund. Vorbereitend zur Recherche und zum Dreh sah ich mir »ZOO« von Robinson Devor an. Der Film handelt von einer Gruppe Männer, die sich hin und wieder treffen, um gemeinsam ihrer sexuellen Lust am Pferd nachzugehen. Der Film hinterließ ein Unbehagen in mir. Das ungute Gefühl kam nicht überwiegend, wie man vermuten könnte, vom Thema, sondern auf Grund der Darstellung, und nicht weil diese zu schockierend oder explizit war. Ganz im Gegenteil. Denn ein Teil der Protagonisten wollten sich nachvollziehbarer Weise nicht mit Gesicht zeigen und redeten folglich aus dem Dunkel. Ein anderer Teil der Gruppe erklärte sich nicht einmal dazu bereit und wurde durch Schauspieler ersetzt. Zudem gab es Sequenzen, in denen Pferdeherden im Mondlicht mit der Kamera abgefahren wurden. Dies hatte etwas Traumverwandtes und überzog den Film mit etwas Mystischem. Auch wenn ich diese Mittel auf methodischer Ebene verstand und selektiv als wirksam erachtete, empfand ich diese Art und Weise der Umsetzung im Gesamtfilmkontext dem Thema der Zoophilie nicht förderlich. Eine derart tabuisierte emotionale und sexuelle Hingezogenheit durfte meiner Meinung nach aus Verantwortung gegenüber den Protagonisten nicht weiter abstrahiert werden. Für mich bedeutet jegliche Form der Abstraktion in diesem Fall: Entfremdung und vor allem Distanz. Nach dem Film verlangte es mich jedoch bzw. gerade wegen ihm nach Nähe. Ich wollte Verständnis. Wie eingangs beschrieben: Kein Verständnis im Sinne von ausschließlicher Akzeptanz oder Wohlwollen des Ausübens sexueller Praktiken mit Tieren. Mich verlangte es nach einem offenen Kennenlernen. Ich wollte Gesichter sehen, Menschen, die einfach ihre Beziehung zum Tier beschreiben. Ohne Diskurs, ob das nun richtig oder falsch sei. Um Menschen, welche sich selbst als zoophil bezeichneten, kennenzulernen, begab ich mich in entsprechende Internet-Foren und traf mich mit mehreren Männern, um über mein Vorhaben eines dokumentarischen Portraits

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Tabu — Analyse

zu sprechen. Nach allen Gesprächen entschied ich mich schließlich für J. und P., zwei junge Männer aus Berlin. Mir erschien es sehr produktiv, dass zwischen den beiden schon eine Beziehungsdynamik bestand, die ich für den Film nutzen konnte. Weiterhin fand ich passend, dass sie ihre Beziehung zu ihren Hunden auf eine Weise im Alltag integriert hatten, die dem Hund eine Art Vermenschlichung zusprach. Der Hund saß mit auf der Couch, schlief im selben Bett, sie aßen gemeinsam. Das hatte für mich eine Normalität, die mir sehr entgegen kam, um das bestehende Tabu und dem diesem Thema immanenten »Schockeffekt« entgegen wirken zu können. J. und P. waren ungefähr mein Alter. Dadurch hatte ich das Gefühl, etwas aus meiner Generation erzählen zu können. Ich hatte den Eindruck, dass es uns verband, dass wir an einem ähnlichen Punkt im Leben waren und uns darüber austauschen konnten. Wir teilten dieselbe Sehnsucht nach Nähe und Verständnis, die letztlich über den Film ihren Ausdruck finden sollte. Wir wollten alle drei etwas zeigen, gehört und gesehen werden. Ich glaube, dieses gemeinsame Bedürfnis war der stärkste Antrieb, den Film machen zu können. Den sexuellen Akt mit dem Hund wollte ich von Anfang an in dem Film thematisieren, da es der Punkt war, von dem aus sich entschied, wie die Beziehung von Mensch und Tier weiterhin von außen bewertet werden würde. Mir war es wichtig, ihn nicht nur zu benennen, sondern auch zu zeigen. Ich dachte, es sei dem Film und seinem Thema dienlicher, ein Bild zu schaffen, das im Kopf jedes Zuschauers den Platz einnimmt, an dessen Stelle dieser ansonsten seine eigene Bilder von eventueller Angst, Ekel, Abwehr und Gewalt setzen würde. Ich ging also davon aus, dass jeder Zuschauer zuerst mit eher negativ besetzten und mit Verunsicherung verknüpften Gefühlen reagieren und daraus Angstbilder erschaffen würde. Ich mutmaßte, dass alles, was im Kopf des Zuschauers vorgeht, wenn er von dem Thema und genauer vom sexuellen Akt zwischen Mensch und Tier hören und daran denken würde, schlimmer wäre als das, was in der Realität tatsächlich zu sehen sein würde. Dem wollte ich ein anderes Bild entgegensetzen. Ein Bild, dem man sich nicht entziehen kann. Ein Bild, das Klarheit schafft, egal wie diese aussehen mag. Ein Bild, das auch wehtun kann, nicht weil es inhaltlich tatsächlich verletzend ist, sondern weil der Zuschauer sich damit konfrontieren muss und es Kraft kostet, die selbst produzierten, inneren Bilder wegzuschieben und zu überwinden. Der Dokumentarfilmkontext hob für mich an dieser Stelle das gesetzliche Verbot auf, sexuelle Handlungen mit Tieren abzubilden. Das Verbot beinhaltete für mich eine Ausschließlichkeit, die mein Film für sich nicht beanspruchte. Die Bettszene war schließlich nur ein Teil von vielen, die ich aus dem Alltagsleben meiner beiden Protagonisten filmen würde. Jan Soldat  —  Von Tieren und Menschen

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Den Sex über die Körperlichkeit des Kuschelns und Küssen zweier nackter Lebewesen anzudeuten, schien sensibler als die tatsächliche Abbildung des sexuellen Aktes zwischen Mensch und Hund. Der endgültige Schnitt dieser Szene in ihrer Länge und ruhigen Beobachtung der Bewegungen verschafft dem Ganzen etwas Zartes und auch Unbeholfenes, das ich so nicht erwartet hätte. Als die Pfote der Schäferhündin um den Hals des Mannes fällt, das hat etwas Unglaubliches. In diesem Moment werden Bilder »nachgespielt«, die dem Zuschauer aus zwischenmenschlichen Bettszenen bekannt sind. Das erstaunt und verunsichert gleichermaßen, wie ich finde. Dieses Bild veräußerlicht die tatsächlich stattfindende Zuneigung zwischen Hund und Mensch an Hand einer Geste und schafft ein zärtliches Gegenbild zu allen Horrorfantasien und zwingt damit zwangsläufig zum Überdenken. Im Schnitt kam uns zusätzlich die Idee, kurze Teile der Bettszene an den Anfang des Films zu setzen. Dies wurde oft als zusätzliche Provokation und reißerisch empfunden. Ich finde es nach wie vor folgerichtig, da es mein ursprüngliches Interesse an dem Thema widerspiegelt und von Beginn an klarstellt, warum und unter welchem Gesichtspunkt sich der Zuschauer die beiden jungen Männer anschauen sollte. Ich empfinde diese Entscheidung als ehrliche Fokussierung hinsichtlich des Themas und meines Interesses. Der Zuschauer wurde zwar gleich zu Beginn überrumpelt, aber eben auch konzentriert. Die anfänglichen Ausschnitte brachten auch ein Gleichgewicht zur weitaus längeren Bettszene im zweiten Drittel des Films. Ich glaube, so hat der Zuschauer die Möglichkeit, sich aus einer eventuellen Abwehr über die Länge des Films hinweg den Protagonisten anzunähern. Hätte es die Bilder am Anfang nicht gegeben, bestünde meiner Meinung nach die Gefahr, dass die spätere Bettszene eine zu große Distanz zwischen Zuschauern und Protagonisten schafft und es dem Film nicht mehr gelingen würde, die Beziehung zu seinen Protagonisten zu halten. Da ich befürchtete, der Zuschauer würde sich dann so sehr zurückziehen und auch überfordert sein, dass er allem, was folgenden würde, nicht mehr offen genug begegnen hätte können. Diesem Gedankengang nach hat sich die Bettszene sogar selbst entschärft. Bei der Vorführung des Films kamen des Öfteren Fragen auf, wie offen und auf Augenhöhe ich meinen Protagonisten begegnen würde. Einerseits versuche ich, im Film die Ernsthaftigkeit und das Interesse meinerseits zu vermitteln, andererseits hat die strenge Form des Films etwas sehr Begrenzendes und Einengendes. Mein Grundansatz war, dass ein Film nichts Absolutes ist und ein Film auch nicht das Absolute einer Person darstellen kann. Er kann immer nur ein Ausschnitt sein. Diese Ansicht, die Überzeugung vom

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Tabu — Analyse

Ausschnitthaften angesichts der Vielfältigkeit jeder Person, meine ich in Bezug auf meine Herangehensweise und filmische Methode. Also wollte ich auch nicht dem Anspruch verfallen, »alles« über die beiden jungen Männer erzählen zu müssen. Ich entschied mich, Arbeit, Freunde, Familie, den Großteil ihrer Vergangenheit einfach zu ignorieren und nicht im Film vorkommen zu lassen. Ich entschied mich vor allem gegen das filmische Abbilden des Umfeldes und der Familie, welche ausschließlich mit Abneigung auf die gelebte Zoophilie meiner beiden Protagonisten reagierten, da ich befürchtete, meine Protagonisten dadurch in eine Opferrolle zu pressen. Ich dachte, ein abwehrender, negativ urteilender Kontext würde sie in ihrer Souveränität schwächen und der abgeneigte Zuschauer würde dies als willkommene Einladung zur Symphathisierung mit der Gegenseite nutzen können. Da der Schutz der Souveränität meiner Protagonisten stets mein Anliegen war, würde ich es genauso wieder machen. Dennoch erschrickt mich das Totalitäre daran. Dass meine auf Klarheit und Offenheit orientierte Methode Wissen begrenzt, eingrenzt und ausgrenzt. Die Tatsache, dass ich, um Neugierde zu wecken und Offenheit zu wahren, immer Abstriche werde machen müssen. Auch sehe ich einerseits einen Widerspruch zwischen der Relativierung des Tabus Zoophilie und der Normalisierung von dessen Exklusivität, indem ich mich überhaupt eines solchen Themas bediene, über das es kaum Bewegtbildmaterial gibt. Folglich muss das Endprodukt diese Exklusivität erst recht bedienen, was sich jedoch inhaltlich nicht zwangsläufig auswirken muss. Andererseits war und ist für mich die einzige logische Konsequenz daraus, mich einem solchen Thema zu widmen. Und zwar mit dem Anspruch, alles dafür zu tun, ihm den Charakter des Abnormalen zu nehmen, um es auf eine Ebene zu bringen, in dem es nicht mehr abschreckt. Eine Ebene, auf der von Andersartigkeit, den eigenen Bedürfnissen, Verletzungen und Sehnsüchten gesprochen werden kann und darüber eine Annäherung zum Publikum stattfinden kann. Denn erst dann, zumindest dachte ich das, wird konstruktive Kritik und ein Verständnis frei von Abwehr und Angriff möglich sein. Oft wurde ich gefragt: »Wie hast du die Jungs dazu gekriegt, also so offen und frei vor der Kamera?« Ich begegne meinen Protagonisten offen und bin neugierig. Ich komme ja mit einem Bedürfnis zu ihnen, ich möchte etwas erfahren, etwas kennenlernen. Aber deshalb werden Menschen nicht auf einmal offen und frei. Sie sind es einfach und wenn überhaupt, dann erhalte ich das bzw. sie öffnen sich weiter, weil ich eben versuche, zuzuhören und mich einzulassen. Aber auch das ist noch lange keine allgemeingültige Methode, die immer funktioniert. Letztendlich ist es etwas sehr Persönliches, was sich Jan Soldat  —  Von Tieren und Menschen

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manchmal auch schwer in Worte fassen lässt. Ich bin auch schon oft gescheitert, mit vielen Menschen wird man einfach nicht warm. Das ist wie in jeder Begegnung oder Beziehung: mit dem einen geht man nur ins Kino, dem anderen erzählt man alles über sein Sexleben, dem nächsten möchte ich nicht mal erzählen, was ich zum Frühstück gegessen habe. Und kalkuliert eine zwischenmenschliche Verbindung nur für den Film aufzubauen, das mache ich nicht. Freiwilligkeit spielte bei mir auf allen Seiten immer eine sehr große Rolle. Interesse, Neugierde und Offenheit können da helfen, aber letztendlich bedarf es einer Verbindung, die darunter liegt, eines gemeinsamen Verständnisses für die Dinge. Auch wenn es nur für den Moment ist. Bezüglich der Motivation meiner Protagonisten nannte ich bisher nur die Sehnsucht danach, gehört zu werden und ernsthafte Aufmerksamkeit entgegengebracht zu bekommen. Weiterhin bin ich der Meinung, dass Exhibitionismus ein scheinbar notwendiger Bestandteil ist, sich vor einer Kamera zu zeigen, unabhängig vom Thema und der Art der Darstellung. Rückblickend habe ich diesen Exhibitionismus zeitweise als Grenzverletzung und Grenzüberschreitung der Protagonisten im Umgang mit sich selbst wahrgenommen. Es hat einerseits etwas sehr Mutiges und Ehrliches, andererseits ist es auch ein Kamikazeeinsatz gegen sich selbst. Beide Protagonisten haben es einmal ähnlich formuliert: nämlich, dass sie angesichts des gesellschaftlichen Tabus und ihrer gesellschaftlichen Position ohnehin nichts zu verlieren hätten. Das begründet sowohl die Schwierigkeit, Protagonisten zu finden, genauso aber auch die Einfachheit, immer wieder solche Themen behandeln zu können, weil es immer wieder Menschen mit von der Norm abweichenden Neigungen geben wird, die deshalb und bzw. oder aus ihrer eigenen Sicht heraus am Rande einer Gesellschaft stehen. Das Bedürfnis danach, dazuzugehören und sich mitzuteilen, wird an dieser Stelle oft noch größer und steht gleichzeitig im Gegensatz zu der damit bewusst verbundenen Abgrenzung zum Rest der Gesellschaft, andererseits aber im Einklang mit dem Stolz auf die eigene Andersartigkeit. Der Schritt, sich in Form eines Films auf einer öffentlichen Leinwand zu offenbaren, stellt in meinen Augen deshalb in mehrfacher Hinsicht eine Grenzüberschreitung für und durch die Protagonisten dar. Sich mit diesem Thema in einem Film zu zeigen, wird immer das Risiko negativer und ausgrenzender Reaktionen auf die Protagonisten in deren Privatleben beinhalten. Um dieses Risiko einzudämmen, haben wir die Namen aus dem Abspann genommen und uns unabhängig davon, ob es die Möglichkeit gegeben hätte, dazu entschieden, den Film nicht im Internet oder Fernsehen zu zeigen. Filmfestivals

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Tabu — Analyse

haben sich für mich innerhalb der letzten drei Jahren als ein geschützter und entsprechender Raum dafür erwiesen, eine risikobehafteten Film zeigen zu können, ohne dass dies negative Konsequenzen für die Protagonisten hätte. Auf der anderen Seite besteht eine Grenzüberschreitung im integrativen Sinne. Denn das Zeigen des Films und die Anwesenheit von J. und P. haben sowohl den beiden als auch dem Publikum neue soziale Kontakte und Erkenntnisse gebracht. Auch ohne die Anwesenheit der beiden schätze ich den Film als Einblick in eine den meisten fremde Lebensrealität, was im Grunde bei jedem Film erst einmal eine Bereicherung darstellt. Auch lebt »Geliebt«, wie der Dokumentarfilm generell von verschobenen Grenzen und damit verbundenen Grenzüberschreitungen. Hätte der eine der beiden jungen Männer nicht ein anderes Verständnis von Intimität, als ich es habe, hätte er sich nicht derart vor der Kamera zeigen können. Ein Beispiel: P. fiel es sehr leicht, sich vor der Kamera nackt zu zeigen und mit seiner Hündin intim zu werden. Das stellte für ihn ein sicheres Feld dar und bestätigte ihn in seinem Dasein als Zoophiler. Es erfüllte somit eine Schutzfunktion für ihn. Genauso hat die sprachliche Preisgabe im Interview für beide Schutzcharakter, da sie sich mit ihren Worten die eigene Realität aufrechterhalten und diese ihnen vom Film rückwirkend wiedergegeben wird. Insofern erschien mir die »Tanzszene«, in welcher sich beide vor dem Fernseher zu dem Spiel »Raving Rabbids« auf der WII verhalten, als eine weitaus intimere Angelegenheit. Diese Art der Bewegung war verglichen mit der Sexualität scheinbar schambehafteter, aber auf jeden Fall verunsichernder für beide Protagonisten. Die Bewegung beim Tanz wurde meines Erachtens von beiden nicht als ein souveräner Akt für die Kamera empfunden. Ich finde, dies spürt man als Zuschauer auch. Ohne es direkt in Worte fassen zu können, ist der Film an dieser Stelle etwas anderes, es herrscht eine andere Energie vor. In dem Moment des Tanzens sah ich bei P. zum ersten Mal etwas Kindliches, was seiner sonst eher starren Körperhaltung zuwiderlief. Bei J. nahm ich überrascht eine körperliche Spannung wahr, über die mich bisher sein sonst eher weicher, androgyner Eindruck hinweg getäuscht hatte. Ich sah die Szene deshalb trotz ihrer Fremdheit zum restlichen Material als Öffnung und Bereicherung an, weshalb sie auch im Film blieb. Das Aufzeigen unterschiedlicher Intimitäten beinhaltet nicht nur die Darstellung von ausgeübter Sexualität, sondern umfasst jegliche Art der Körperlichkeit und Aktion vor der Kamera. Das heißt, das Abbilden eines alltäglichen Ganges durch die eigene Wohnung drückt genauso Intimität aus wie ein gesprochenes Wort, egal wie banal es erscheinen sollte. Das Beisein der Kamera ist in jeglicher Hinsicht ein Eingriff in die Intimsphäre der Gefilmten. Jan Soldat  —  Von Tieren und Menschen

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Ich finde diese Erkenntnis sehr hilfreich, da sie einerseits am Beispiel der Sexualität Berührungsängste nehmen und den Mut schaffen kann, diese ähnlich technisch und alltäglich zu filmen wie einen Gang über die Straße. Andererseits schärft sie die Sensibilität für jede Situation aufs Neue. Natürlich sollte man sich angesichts der Ultimativität einer allgegenwärtigen Intimität nicht hemmen lassen, sondern es eher als Geschenk betrachten, daran teilhaben zu dürfen. Ich habe oft gezweifelt und mir Vorwürfe gemacht, dass ich diesbezüglich meine Protagonisten ausnutze, da sie vor und auch für die Kamera etwas taten, was ich selbst nicht tun würde. Daher dachte ich, ich müsste auch bereit sein, mich nackt vor einer Kamera zu zeigen, oder zumindest aus Solidarität nackt hinter der Kamera stehen. Solche und ähnliche Gedanken bedeuten aber auch, dass ich meine Protagonisten nicht in ihren Bedürfnissen ernst nehmen würde. Wenn sie derartige »Gegenleistungen« von mir erwarten würden, könnten sie dies ja äußern. Auch würde einer solchen Forderung Folge zu leisten bedeuten, eine Drehsituation zu schaffen, in der ich mich auf eine vollkommen andere, für mich nicht vertretbare Art in den Film involvieren würde. Das hätte nach meinem Standpunkt etwas Verfälschendes. Die Einteilung »vor« und »hinter« der Kamera wird es beim Film immer geben. Auch die dazugehörige Fremdheit, genauso die Überwindung dieser Fremdheit und des Unbekannten, werden stets Bestandteile des Filmemachens bleiben. Es sollte klar sein und gegebenenfalls immer wieder klar gemacht werden, was der Grund des Zusammentreffens zwischen Filmemacher und Protagonist ist. Das heißt nicht, dass nicht auch Freundschaften oder längere Bekanntschaften aus einer filmmotivierten Zusammenkunft entstehen könnten. Nur täuscht die Set- und Drehnähe oft ein näheres und intimeres Verhältnis vor, als es tatsächlich existiert. In dieser Hinsicht ist jeder Dreh ein Extrem- und Ausnahmezustand und war für mich früher oft auch befremdlich, weil in eben diesem Punkt sich die Grenzen zwischen Nähe und Distanz kurzzeitig verschieben, teilweise auch verfälschen und mit Beendigung eines Drehs nochmals neu setzen. Die Prämisse lautet: Einer will etwas sehen, der andere möchte etwas zeigen. Ich habe mir daher als Ziel gesetzt, eine Sensibilität zu entwickeln, um zu erkennen, wann dieses Verhältnis ins Ungleichgewicht gerät. Denn dann ist Gefahr gegeben, dass die Freiwilligkeit meiner Protagonisten eingegrenzt wird.

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Jan Soldat, geb. 1984, nahm noch während seines Studiums an der Hochschule für Film und Fernsehen »Konrad Wolf« in Potsdam-Babelsberg mit seiner Kurzdoku »Geliebt« an den Wettbewerben der Berlinale Shorts sowie von VIS teil. 2012 kehrte er mit gleich zwei Kurzfilmen zur Berlinale zurück: »Crazy Dennis Tiger« im Jugendfilmwettbewerb und »Zucht und Ordnung« im Panorama. Für seinen Diplomfilm »Der Unfertige« (2013) wurde er jüngst mit dem Cinemaxxi Award Best Short Film in Rom ausgezeichnet und für den Kurzfilmpreis der Deutschen Filmkritik nominiert.

EUROPÄISCHE KULTURKÄMPFE DIE PROTESTANTISCHE ETHIK, DER POPULISMUS UND DIE MACHT DES VORURTEILS ΞΞ Karin Priester

Der Bankrott des Bankhauses Lehman Brothers hat 2008 eine Banken- und Finanzmarktkrise ausgelöst, unter deren Folgen vor allem die südeuropäischen Länder leiden. Eine reine Staatsschuldenkrise, liest man hierzulande: Diese Länder hätten über ihre Verhältnisse gelebt, seien von Klientelismus und Korruption geprägt und müssten nun die Folgen ihres sorglosen Tuns tragen. Eine Krise, die vor allem durch die hegemoniale Rolle Deutschlands und seine Austeritätspolitik forciert werde, sagen die Betroffenen. Beim Kampf der Kleinen gegen die Großen geht es nicht nur um ökonomische Krisenbewältigung, um Zinssätze, Moratorien oder Schuldenschnitte, sondern auch um ein kulturelles Identitätsnarrativ: Demnach haben nicht etwa die nationalen Eliten dieser Länder versagt und sich durch Immobilienspekulationen, landschaftsverschandelnde Baubooms, Steuerverweigerung und Kapitalflucht bereichert, sondern die Großen (die EU und Deutschland) würden den Kleinen ihr kulturelles Selbstverständnis, ihre Arbeitsethik und ihre Lebensform aufzwingen. Zeiten der Krise sind auch Zeiten wechselseitiger Schuldzuweisungen, in denen die Völkerpsychologie wieder zu Ehren kommt, alte, längst verschüttete kulturelle Gräber aufgerissen werden und nationale Vorurteile Konjunktur haben. I. Während die deutsche vox populi immer schon wusste, was von »faulen Griechen«, levantinischen Schlawinern und regierungsunfähigen Italienern zu halten sei, kontern die Betroffenen mit dem Vorwurf nordischer Arroganz, Überheblichkeit und Schulmeisterei. Der südliche David tritt den ungleichen Kampf gegen den nördlichen Goliath mithilfe des Narrativs der kulturellen Überfremdung an. Das Überfremdungssyndrom zeigt sich zum einen im Vormarsch der protestantischen Ethik, zum anderen im vermeintlich heraufziehenden Vierten Reich. Was Hitler mit seinen Panzern nicht gelungen sei, das strebe nun Kanzlerin Merkel an: Hegemonie statt Lebensraum. Beide Narrative beziehen sich genealogisch aufeinander. Von Luther über den calvinistischen Preußenkönig

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Friedrich II. zu Hitler und in ungebrochener Kontinuität zur preußischen Pfarrerstochter Angela Merkel. Der alte Religionskrieg zwischen Reformation und Gegenreformation lebt als Gegensatz zweier Kulturen, der lateinisch-katholisch-südeuropäischen und der nordeuropäisch-protestantischen, wieder auf. Im italienischen Corriere della Sera war unter dem Titel »›Strenge‹ Protestanten im Norden gegen ›laxe‹ Katholiken im Süden« zu lesen: »Die anti-italienische und anti-mediterrane Rhetorik nährt sich unbewusst von Stereotypen, die sowohl kulturell als auch religiös behaftet sind.«1 In das strapazierte Gewebe der EU werde altes Gift injiziert. Und der Mann mit der Giftspritze sei nicht etwa der gebürtige Franzose Calvin, sondern ein Deutscher: der Reformator Luther. Auch der griechische Außenminister Evangelos Venizelos von der sozialdemokratischen Pasok erklärte die desolate Lage in seinem Land mit nordeuropäischem Kulturimperialismus. »Hier haben wir es mit dem Problem der protestantischen Ethik zu tun. An den Griechen wird eine pädagogische Erniedrigung statuiert.«2 In der spanischen Zeitung El País erläuterte Ulrich Beck im Schnellverfahren die ethischen Grundlagen des Kapitalismus: »Merkel versucht, die Theorien Max Webers über die protestantische Ethik als Antrieb des kapitalistischen Geistes zu bestätigen.«3 Luthers auf ökonomische Rationalität verkürzte Thesen würden das Fundament der europäischen Politik bilden. Ralf Dahrendorf befand weniger plakativ, der Konsumkapitalismus habe die protestantische Ethik des Sparens längst abgelöst. Eine Rückkehr zu ihr könne es nicht geben, wohl aber eine Abkehr vom Pumpkapitalismus mit seinem »fröhlichen Schuldenmachen« hin zu mehr Nachhaltigkeit, langfristigem Denken und Verantwortung.4 II. Vom Kampf zweier Mentalitäten, der protestantischen Arbeitsethik und dem katholischen Savoir-vivre, weiß auch der Spiegel zu berichten: »Die Spanier haben […] ihre Siesta, das gemeinsame Essen mit der Familie, die Muße, die Kunst des guten Lebens, gegen mehr Arbeit und mehr Konsum getauscht.«5 Ach ja, die Muße und das gute Leben unter dem katholischen Krummstab, natürlich auch unter Franco, und die rigiden Nordländer mit ihrer calvinistischen Arbeitsethik! Schon Mussolini, der Duce einer Modernisierungsdiktatur, aber wahrlich kein Jünger Luthers oder Calvins, ist gegen das dolce far niente seiner Landsleute angetreten. Diese Mentalität behindere Italien auf dem Weg in eine moderne Industrienation und müsse überwunden werden: keine Mandoline spielenden Capri-Fischer mehr, sondern moderne Zeitökonomie, Arbeitsdisziplin in taylorisierten Großfabriken und Züge, die endlich pünktlich fahren.

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1  Massimo Franco, Protestanti »Rigorosi« del Nord contro Cattolici »Lassisti« del Sud, in: Corriere della sera, 07. 09. 2012. 2  »Unsere Erfolge sind beeindruckend.« (Interview mit Evangelos Venizelos), in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 04. 01. 2014. 3  »Alemania impone sus recetas con una plantilla moral.« (Interview mit Ulrich Beck), in: El País, 05. 05. 2013, online einsehbar unter http://internacional.elpais. com/internacional/2013/05/04/ actualidad/137689289_599630. html [eingesehen am 06. 01. 2014]. 4  Ralf Dahrendorf, Nach der Krise: Zurück zur protestantischen Ethik? Sechs Anmerkungen, in: Merkur, H. 5/2009, S. 373–381. 5  Max A. Höfer, Siempre la Siesta. Südeuropa fühlt sich und die lateinische Lebensart bedroht. Absurd ist das nicht, in: Der Spiegel, 24. 01. 2013.

Das vermeintlich gute Leben der Südländer, kaum dagegen ihre Armut und ihr Zwang zur Emigration, prägt die deutsche Vorstellungswelt seit Winckelmann und Goethe, auch wenn diese längst vom Bildungsbürgertum zum Pauschaltourismus abgesunken ist: Siesta, Fiesta, Corrida, Amore, O sole mio, laxe Sitten, keine nordisch-bierernsten, sondern allzeit unbeschwerte Menschen. Und dieses Universum der Glückseligkeit wollen die schmallippige Preußin Merkel und die von ihr dominierte EU uns jetzt nehmen? Und eifern wir, mit Decken und Wärmestrahlern den nördlichen Kältegraden trotzend, nicht längst bei Latte Macchiato der mediterranen Lebensart nach? III. Eine der letzten Bastionen des gelungenen Lebens ist die Siesta, die bekanntlich mit dem Klima zusammenhängt und in Zeiten von Klimaanlagen obsolet geworden ist. Auch dieses hohe Kulturgut fällt nun dem Diktat der Modernisierer zum Opfer, schaffte doch der sozialdemokratische Ministerpräsident Zapatero 2006 die Siesta im öffentlichen Dienst ab. Wieder ein Etappensieg der protestantischen Ethik auf ihrem Vormarsch in Europa! Noch in den 1960er Jahren war die Siesta auch in den Kaufhäusern italienischer Großstädte gang und gäbe: Die Geschäfte schlossen in der Regel von 13 bis 16 Uhr, übrigens auch sämtliche Bibliotheken. Eine Verkäuferin brauchte für den Gang zur Bushaltestelle, für Warte- und Fahrzeit rund eine Stunde, um ihre Wohnung in einer der tristen Vorstädte zu erreichen. Seit Pasolinis neorealistischen Filmen hat sich dort nicht viel geändert. Besorgungen kann sie nicht erledigen, weil Ämter, Geschäfte oder Praxen ebenfalls der Siesta frönen. Für das Essen »in Muße« bleibt kaum mehr als eine Stunde, was exakt der nordeuropäischen Mittagspause entspricht. Inzwischen ist es 15 Uhr, höchste Zeit, wieder den Rückweg zu ihrer Arbeitsstelle im Stadtzentrum anzutreten, wo sie bis 20 Uhr hinter der Ladentheke steht. Dann wieder rund eine Stunde Retour, um gegen 21 Uhr ihr Domizil zu erreichen. Vier Mal täglich »Muße« und gelassene Lebensart im dröhnenden Straßenverkehr in überfüllten Verkehrsmitteln, Hitze und Abgase gratis. Wen wundert es, dass die Geburtenrate, neben Deutschland, vor allem in den südeuropäischen, mehrheitlich katholischen Ländern Spanien, Griechenland, Italien und Portugal die niedrigste in Europa ist? IV. Lange vor den neuen Zuchtmeistern Europas, der EU und Deutschland, hatte in Italien schon in den 1930er Jahren die taylorisierte Massenproduktion eingesetzt. Das Erfolgsmodell FIAT 500 (der Topolino) datiert von 1936 und löste Karin Priester  —  Europäische Kulturkämpfe

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die Massenmotorisierung der Italiener aus. Aber solange FIAT das erfolgreichste Industrieunternehmen des Landes war, fühlte der »gemeine Mann« sich weder von der protestantischen Ethik noch von Deutschland überfremdet, sondern war stolz auf die Errungenschaften der Moderne und seinen, wenn auch bescheidenen, sozialen Aufstieg zum Autobesitzer. Damit ist es seit langem vorbei. Die Umstellung der fordistischen Produktionsweise auf ursprünglich kleine Familienunternehmen, von denen einige, wie Benetton oder Diesel, den Zugang zum Weltmarkt geschafft haben, hat Tausende von Industriearbeitern »freigesetzt«. Ihre Frustrationen wurden von der Linken nur halbherzig aufgefangen. Dagegen waren die Rechtspopulisten, die Lega Nord und Berlusconis Forza Italia, aber auch die »Bewegung fünf Sterne« (M5S) unter Beppe Grillo, mit nationalen und ethnischen Stereotypen rasch bei der Hand. Auf der Ebene des common sense zeigt Volkes Finger auf Immigranten, Asylanten und illegal im Land lebende außereuropäische Zuwanderer. Die Berlusconi-Presse schürt dagegen die Furcht vor nordeuropäisch-protestantisch-preußischer Überfremdung und zückt als Trumpfkarte die Erinnerung an Auschwitz. Auch der libertäre, nicht sonderlich nationalistische Grillo lässt auf seinem Internet-Blog gegen die mitteleuropei wettern. Angetan mit Jackett und Krawatte, also sichtbar abgehoben von der brava gente, dem tüchtigen, rechtschaffenen Volk der Italiener, versuchten diese arroganten Mitteleuropäer, ihre Hegemonie über die Nachbarländer durchzusetzen.6 Welche Gefahr von den »Invasoren« droht, zeigt ein Demonstrationsschild mit der Aufschrift: »No to 4th Reich!«. Populisten haben sich immer schon als alternative Kraft jenseits von rechts und links verstanden. Das gilt für die »Alternative für Deutschland« (AfD) ebenso wie für die 2010 gegründete »Alternative« in Italien, deren Initiatoren allerdings meist linke Veteranen von der ehemaligen kommunistischen Partei sind. Gegen die selbstreferenzielle »politische Kaste« von rechts, Mitte und links propagiert sie eine »neue, umfassende Volkseinheit«. Ihr »Manifest für das neue Europa« kombiniert Vernünftiges wie die Einführung der Tobin-Steuer, des Trennbanksystems und die Reform der EU an Haupt und Gliedern mit der Unvernunft verschwörungstheoretischer Zuspitzungen: »Ein planetarischer Club mit totalitären Tendenzen zerstört das Europa der Völker […] Unsere Zukunft ist in ernster Gefahr. Schrittweise, ohne es zu merken, sind wir in die Hände einer Oligarchie ohne Vaterland und ohne Seele geraten.«7 Es fehlt nur der Hinweis auf die »vaterlands- und seelenlosen« Juden. Wie Grillo plädiert auch die linkspopulistische »Alternative« für den Austritt Italiens aus dem Euro und raunt: »Weg vom Euro, oder wir werden wie Jugoslawien enden.«

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6  So der M5S-Abgeordnete Giorgio Girgis Sorial am 22. 10. 2013 auf dem GrilloBlog, online einsehbar unter http://www.beppegrillo.it/ movimento/parlamento/2013/10/ sovranita-basta-con-la-solidarieta-finanziaria-alla-germania [eingesehen am 05. 01. 2014]. 7  Online einsehbar unter www.alternativa-politica.it/ manifesto-nuova-europa/ [eingesehen am 08. 01. 2014].

V. Die populistische Polarisierung zwischen unten und oben, Volk und Eliten hatte sich schon unter dem niederländischen Medienpopulisten Pim Fortuyn in eine Polarisierung zwischen Innen und Außen transformiert. Wir, das homogene Volk, stünden gegen sie, den »planetarischen Club«, die transnationale Oligarchie und generell gegen das Andere, sei es der Islam oder, Karin Priester  —  Europäische Kulturkämpfe

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speziell seit der Krise, das wiedererstandene Preußen. Dazwischen agiere eine besonders perfide Spezies von Politikern, die als Söldner Brüssels oder Lakaien Deutschlands die Interessen des Volkes für ein Linsengericht verschacherten. Einer der Initiatoren des genannten Manifests, der Ökonomieprofessor Bruno Amoroso, bezeichnet die Ministerpräsidenten Monti und Letta als von Deutschland eingesetzte »Quislinge«. Die neoliberale, militaristische Politik der europäischen Führungsgruppen habe »Monster« wie den »deutschen Revanchismus mit seiner Verachtung für die südeuropäischen und mediterranen Völker«8 hervorgebracht. Von der deutschen Hegemonie zum Vierten Reich ist es nur ein Schritt. Mit der Erinnerung an die deutsche Vergangenheit lassen sich Emotionen schüren und europäische Spaltpilze züchten. Vorurteile beginnen dort, wo strukturelle Veränderungen visualisiert werden und eine Gestalt annehmen. Und diese trägt, vor allem in griechischen Karikaturen, die Uniform des deutschen Landsers. Für einen Medieneklat sorgte der griechische Linkspolitiker Alexis Tsipras von der Partei Syriza. Er brach das Interview mit einem FAZJournalisten kurzerhand ab, als dieser die Formulierung »Gauleiter Schäuble« und eine Merkel-Hitler-Karikatur in der Parteizeitung Avgi ansprach.9 Er, Tsipras, widersetze sich der Politik Merkels, die nicht nur Griechenland, sondern ganz Europa zerstöre. Aber wo gehobelt wird, da fallen Späne. Der kollektive Volkszorn kann mit der Erinnerung an das Nazi-Regime nicht nur entflammt, sondern auch zu einem zwischen rechts und links changierenden nationalen Befreiungskampf geschürt werden. Das Problem ist nicht die Kritik an der Politik einer bestimmten Regierung, sondern die Ausweitung dieser Kritik auf ein ganzes Land, dem quasi ein genetischer Code zugeschrieben wird. Aus der Kritik an Merkel wird solchermaßen ein Anti-Germanismus, den mit besonderer Verve der französische Linkspopulist Mélenchon vertritt: »Niemand hat Lust, Deutscher zu sein […]. In 15 Jahren werden wir [Franzosen] zahlreicher als Deutschland sein.«10 Klingt so die Linke des 21. Jahrhunderts? VI. In Frankreich liegen die Dinge dabei etwas anders, war das Land doch bis zur europäischen Pentarchie Ende des 18. Jahrhunderts selbst die Hegemonialmacht in Europa und zog die gleichen Vorurteile mit etlichen Körnchen Wahrheit auf sich wie heute Deutschland: Arroganz, Überheblichkeit, Bevormundung, Expansionsdrang. Selbst Präsident Mitterand, nominell immerhin ein Sozialist, war besessen vom »Rang« Frankreichs, auch wenn das Land nur noch eine Mittelmacht mit erheblichem Modernisierungsstau war. Der

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8  »L’egemonia tedesca e la v­ iolenza del mercato.« (Interview mit Bruno Amoroso), online einsehbar unter http:// www.agoravox.it/L-egemoniatedesca-e-la-violenza.html [eingesehen am 04. 02. 2014]. 9  »Und willst du nicht mein Bruder sein.« (Interview mit Alexis Tsipras), in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. 07. 2013. 10  Jean-Luc Mélenchon, »Personne n’a envie d’être allemand«, in: Libération 10. 06. 2013.

nostalgische Blick richtet sich daher auf Frankreich als EU-Gründungsmacht, das an der Seite des aus guten Gründen politisch zurückhaltenden Deutschland seinen Rang in der Welt behaupten konnte. Dass zu den EU-Gründerländern auch Italien gehört, hindert Franzosen nicht an massiven Vorurteilen gegenüber ihren südlichen Nachbarn, die als Arbeitsmigranten schon in den 1930er Jahren die Sündenböcke für alle Übel der damaligen französischen Gesellschaft waren. Deutschland hat seine »Ithaker«, Frankreich seine »Ritals«, wie Italiener im Volksjargon genannt werden.11 Die EU war in ihren Anfängen ein westeuropäisches Projekt. Adenauer, Schuman, De Gasperi und De Gaulle standen für die katholische Identität Europas mit einem rheinisch-provinziellen Deutschland, das an der Elbe endete. Östlich davon begann nicht nur das Reich des Antichrist, sondern auch der kulinarische Kulturbruch mit Kartoffeln und Korn als Hauptnahrung. Wäre die EU karolingisch-katholisch und Frankreich ihre Führungsmacht geblieben, dann gäbe es keine Krisen, keine Disparitäten, keinen Volkszorn. Der Publizist Eric Verhaeghe erklärte in einem Interview zum Thema Populismus: »Wir hätten nie zulassen dürfen, dass das wiedervereinigte Deutschland Berlin als Hauptstadt wählt. […] Solange Westdeutschland von Preußen getrennt war, war das europäische Projekt kohärent und erfolgreich. Von dem Tag an, als Westdeutschland in den preußischen Expansionismus zurückfiel, hat Europa sein Gleichgewicht verloren.«12 Der Tabubruch begann mit der deutschen Wiedervereinigung 1989. Nur ein Jahr später wurden in Frankreich erstmalig Teile eines 1945 verfassten Memorandums des Philosophen und hohen Staatsbeamten Alexandre Kojève veröffentlicht, auf den sich der 11 

Rital, zusammengesetzt aus der Abkürzung R für rapatriés und italiens, also etwa: »Rückkehr-Italiener«.

12  Le FN et les partis populistes européens sont-ils aujourd’hui les seuls à proposer une offre politique claire sur l’Europe? (Gruppeninterview), in: atlantico, 11. 10. 2013, online einsehbar unter http:// www.planet.fr/print/471094 [eingesehen am 05. 01. 2014].

italienische Philosoph Giorgio Agamben beruft. Kojève hatte mit seiner Formel »lateinisches Reich« die Blaupause für den Übergang vom Vorurteil zum politischen Mythos geliefert. VII. Im März 2013 dachte Agamben in La Repubblica laut darüber nach, was wäre, »[w]enn sich ein lateinisches Reich im Herzen Europas formieren würde«, so der Titel des Textes. Die Debatte nahm aber erst Fahrt auf, als die linke französische Libération den Text veröffentlichte und den im Konditional formulierten Titel zu einem Imperativ verschärfte: »Das lateinische Reich gehe zum Gegenangriff über!«13 Italien, Spanien und Frankreich mögen sich unter der

13  Giorgio Agamben, Se un impero latino prendesse forma nel cuore d’Europa, in: La Repubblica, 15. 03. 2013; Ders., Que l’Empire latin contre-attaque!, in: Libération, 24. 03. 2013.

geistigen Führung der katholischen Kirche gegen das protestantisch-preußisch dominierte EU-Reich erheben. Portugal mit seinem traditionell guten Verhältnis zu Großbritannien ist im neuen Reich ebenso wenig vorgesehen wie das nicht-katholische Griechenland. Karin Priester  —  Europäische Kulturkämpfe

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Agamben geht es um die Bewahrung eigenständiger Lebensformen, eigener Kultur und Religion.14 Wenn Südeuropäer gezwungen würden, wie Deutsche zu leben, führe dies zum Verlust ihres kulturellen Erbes und ihrer »Lebensform«. Als Philosoph denkt er weniger an Flamenco oder Sirtaki, sondern an den römisch-katholischen Geist. Dieser Geist ist das letzte Bollwerk gegen die Moderne, die mit der protestantischen Irrlehre ihren Anfang nahm und zur Dominanz der Ökonomie über »das Politische« führte. Einen Vorgeschmack auf die Lebensform im neuen Reich konnte man bei den französischen Massenprotesten gegen die Legalisierung der Homo-Ehe bekommen. Außer dem Geist der Toleranz kamen nur vier Hühner zu Schaden, aber der Symbolwert war groß, könnte doch auch ein gallischer Hahn den Märtyrertod im Kampf gegen die Unmoral gestorben sein. Umberto Eco, wie alle Aufklärer auch ein großer Spötter, berichtet von einem fiktiven theologisch-berlusconischen Kongress in Smullendorf, das fast so teutonisch-schwerfällig klingt wie Voltaires Spottname Tundertentronck für einen westfälischen Baron. In Smullendorf also tritt in Ecos Spiel mit Klischees die südlich-katholische Lebensform in Gestalt des Jesuitenpaters Cock (engl. für die Manneszier) und des nach einer Champagnermarke benannten Paters Dom Perignon O.S.B. auf. Den Kontrapunkt bilden der amerikanische, die protestantische Sparethik verkörpernde Professor Pennypeepy und ein Vertreter bekannt stumpfer deutscher Gelehrsamkeit. Prof. Stumpf von der Universität Tübingen vertritt zum Thema »Berlusconi, die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus« eine bahnbrechende These: Berlusconis Habitus und seine Politik seien typisch protestantisch, zeige sich doch die Gnade Gottes durch wirtschaftlichen Erfolg. Allerdings vertrete der Medienmogul eine häretische Variante, denn er warte nicht auf Belohnung im Jenseits, sondern verspreche sie schon hienieden: Autobahnen, eine Million Arbeitsplätze, Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und als größte Gnadengabe die tägliche Präsenz des Großen Bruders auf dem Bildschirm.15 Uns schwant: Bunga-Bunga ist in Wahrheit das Werk eines hochherzigen Philanthropen zur Rettung sittlich gefährdeter junger Frauen, ist doch dessen Urheber längst von der protestantischen Ethik durchdrungen. Man versteht, warum Agamben kein Freund seines abtrünnigen Landsmannes ist. Prof. Dr. Karin Priester war bis 2007 Professorin für Politische Soziologie am Institut für Soziologie der Universität Münster. In den letzten Jahren ist sie mit zahlreichen Veröffentlichungen, darunter zwei Büchern, zum Thema »Populismus« hervorgetreten. Z.Zt. arbeitet sie an einem Buch zum Thema »Mystik und Politik«, in dessen Zentrum die populismus- und demokratietheoretischen Arbeiten von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe stehen.

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14  Diese postmodernen Ziele sind aber vor dem Hintergrund der Zukunftsvision von Agambens Gewährsmann Kojève zu lesen. Dieser hatte bereits 1945 detaillierte Vorstellungen von einem lateinischen Reich unter Führung Frankreichs entwickelt, darunter die Annexion des Saargebiets und die Vertreibung der deutschen Bevölkerung sowie ökonomisch eine Art Morgenthau-Plan für Deutschland. Eine vollständige Version seines Textes ist auf Englisch unter dem Titel »Outline of a Doctrine of French Policy«, online einsehbar unter http://www. marxists.org/reference/subject/ philosophy/works/fr/kojeve2.htm [eingesehen am 11. 02. 2014].

15  Umberto Eco, Come si insegna l’ironia?, 2001, online einsehbar unter www. golemindispensabile.it/index. php?_idnodo=6054&_idfrm=107 [eingesehen am 08. 01. 2014].

DAS »STÄRKSTE TABU« ZUM TABU DER PÄDOSEXUALITÄT UND SEINER INFRAGESTELLUNG ΞΞ Tobias Neef

Als am 10. Februar 2014 die Geschäftsräume des SPD-Abgeordneten Sebastian Edathy durchsucht wurden, ließ die Reaktion seiner Parteigenossen nicht lange auf sich warten. Einmütig verkündete die Parteiführung, dass das Verhalten Edathys weder mit einer Mitgliedschaft in der sozialdemokratischen Partei noch in der Bundestagsfraktion vereinbar sei.1 Edathy hatte offensichtlich, fernab von Fragen der strafrechtlichen Relevanz, in einer Weise die Aufmerksamkeit auf sein Privatleben gezogen, die ihn auch als Parteimitglied unhaltbar machte. Natürlich ließ sein »Fall« Erinnerungen an die Geschehnisse um die vergangene Bundestagswahl wach werden. Schnell war damals von einem Tabubruch bei den Grünen die Rede gewesen, von Verirrungen, die viel zu lange angedauert hätten. Nach einer für grüne Verhältnisse desaströsen Wahl war in Reaktion auf die Niederlage umgehend eine junge Garde für den Bundesvorstand gefunden worden, die nicht durch den Makel der Parteivergangenheit befleckt war – allein schon aus Altersgründen, weil sie noch nicht dabei war, als die Debatten zur Pädosexualität bei den Grünen geführt wurden. Es ist in gewisser Weise erstaunlich: Der Tabubruch der Grünen zeigt seine härtesten Effekte über dreißig Jahre, nachdem er begangen wurde. Aber wann genau wurde eigentlich dieses Tabu gebrochen, welche Entwicklung geht mit einem Tabubruch einher? Und welche Rückschlüsse über die aktuelle Funktionalität von Tabus lassen sich aus dieser befremdenden Ge1  Vgl. Hubert Gude u. Veit Medick, SPD-Ordnungsverfahren: Edathy droht Parteiausschluss, in: Spiegel Online, 17. 02. 2014, online einsehbar unter http://www.spiegel.de/ politik/deutschland/spd-gabrielstrebt-parteiordnungsverfahrengegen-edathy-an-a-954005.html [eingesehen am 21. 05. 2014]. 2  Vgl. Theodor W. Adorno, Sexualtabus und Recht heute, in: Ders., Kulturkritik und Gesellschaft II, Frankfurt a. M. 1977, S. 533–554, hier S. 544–547.

schichte ziehen? Um diese Fragen zu beantworten, möchte ich mich in einem ersten Rückblick der Strukturierung eines Diskurses widmen, der sich anschickte, einen Tabukomplex infrage zu stellen, von dem noch in den 1960er Jahren gesagt wurde, er sei der in der bundesrepublikanischen Gesellschaft am stärksten tabuisierte überhaupt.2 Abschließend soll der Umgang mit dem Tabu des pädosexuellen Begehrens in den 1970er Jahren mit den aktuellen Geschehnissen verglichen werden. ERSTE RISSE Den Anfangspunkt einer Entwicklung zu setzen, die zu einem Tabubruch führt, ist schwierig und sicherlich ist diese Setzung auch in einem gewissen

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Maße willkürlich. Dem Tabubruch durch eine Pädosexualitätsbewegung am Ende der 1970er Jahre war eine Entwicklung vorausgegangen, die sich über mehr als ein Jahrzehnt erstreckte, in eigenen, geschützten Räumen Dynamik aufnahm und sich organisierte, um schließlich für die Öffentlichkeit sichtbar zu werden. Die ersten Wegbereiter dieser Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg kamen zudem überraschenderweise nicht aus den Ecken, in denen der öffentliche Tabubruch schlussendlich vollzogen wurde. Autoren wie Johannes Werres oder Willhart S. Schlegel, die schon in den 1960er Jahren in den Zeitschriften der ersten deutschen Homophilenbewegung und in der sich nach dem Zweiten Weltkrieg wieder formierenden Sexualwissenschaft Schriften mit Bezugnahme zur Päderastie, also der sexuellen Beziehung zwischen pubertären Jungen und erwachsenen Männern, verfassten, können eher dem konservativen Milieu zugeordnet werden. In ihren Artikeln mischen sich ein pseudowissenschaftlicher Konstitutionsbiologismus und ein an Hans Blüher angelehntes Verständnis eines pädagogischen Eros, also einer den Charakter formenden und anleitenden Funktion des älteren Sexualpartners, mit Thesen über die Zusammenhänge zwischen Kultur- und Sittenverlust einerseits, fehlender Prägung der Jugendgeneration durch Ältere andererseits.3 Auf diesem doppelten Boden von körperlicher Natur und kultureller Menschheitsentwicklung proklamierten diese Autoren eine Notwendigkeit zur sexuellen Führerschaft und räsonierten über die segensreichen Effekte der Formung durch den Älteren auf die Entwicklung des jugendlichen Mannes. Diese krude Mischung aus NS-inspirierter naturwissenschaftlicher Charakterstudie und sexualpädagogischen Spekulationen lag am Ausgangspunkt eines Diskurses, der sich dem proklamierten Tabu der kindlichen Sexualität von der Seite des Begehrens her widmete. In einer sich nach dem Zweiten Weltkrieg neu konstituierenden Sexualwissenschaft war der Diskurs über das Wesen der Sexualität noch vielfältig, waren die Impulse aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen noch heterogen und kritische Auseinandersetzungen mit den zweifelhaften Methoden rassistischer Körperwissenschaften noch nicht geführt. Dementsprechend gelangten die Veröffentlichungen von Werres und Schlegel zu einiger Prominenz in einer wissenschaftlichen Nische. Obwohl sie sich ausdrücklich nicht der kindlichen, sondern nur der jugendlichen Sexualität widmeten, obwohl sie sich nicht mit der Befreiung oder Fragen der Freiheit, sondern mit der Führerschaft und der Funktionalität beschäftigten, könnte man sagen, dass die Veröffentlichungen aus dieser Zeit anfingen, das Thema der Lust am Kind zu umkreisen, es zum Gegenstand wissenschaftlicher Vermessung zu machen.

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3  Vgl. u. a. Norbert Weissenhagen, Eine neue Typologie zieht Veränderungen nach sich, in: Der Weg, Jg. 16 (1963) H. 2, S. 451–453; Jack Argo, Buchbesprechung: »Greek Love« von J. Z. Eglinton, in: Der Weg, Jg. 18 (1965), S. 213; Willhart S. Schlegel, Die Sexualinstinkte des Menschen. Eine naturwissenschaftliche Anthropologie der Sexualität, Hamburg 1962; Ders., Körper und Seele Stuttgart 1957. »Norbert Weissenhagen« und »Jack Argo« sind zwei der Pseudonyme, die Johannes Werres ebenso wie Schlegel für seine Veröffentlichungen in Schwulenmagazinen nutzte.

Zeitgleich mit den ersten Veröffentlichungen von Werres und Schlegel tauchten in Deutschland auch die ersten Veröffentlichungen aus dem Ausland auf. Der niederländische Psychologe Frits Bernard verfasste ab 1960 primär in den Niederlanden eine Vielzahl von wissenschaftlichen Veröffentlichungen zur Ephebophilie, also zum sexuellen Begehren Erwachsener, das sich auf Kinder ab der Pubertät richtet, und zur Pädophilie, außerdem Bezugnahmen auf die Veröffentlichungen Schlegels sowie Romane, die sich dem Thema der Pädophilie widmeten. Es waren Beschreibungen pädophiler Beziehungen, erste Erhebungen, die er unter niederländischen Pädophilen durchführte. Anfangs veröffentlichte er unter einem Pseudonym, später, ab circa 1970, unter eigenem Namen. Bernard war ohne Zweifel eine der wichtigsten Figuren in der Konstitution eines Diskurses, der sich anschickte, das pädosexuelle Begehren sag- und praktizierbar zu machen, ihm Normalität zu verleihen. Denn Bernard wollte ebenso wenig wie Schlegel die bürgerliche Moral an sich in Frage stellen. Er strebte die Anerkennung von Pädosexualität als legitimer Sexualpraxis an. Bernard gründete schon in den 1950er Jahren die Enclave Kring, die erste Organisation, die sich dezidiert der Legalisierung pädosexueller Handlungen widmete. Dieser Verein arbeitete anfangs im Stillen und versuchte, Kontakt zum COC , der größten niederländischen Schwulenorganisation, aufzu4  Frits Bernard, Wurde das Ziel beinahe erreicht?, in: Ders. (Hg.), Pädophilie ohne Grenzen. Theorie, Forschung, Praxis, Frankfurt a. M. 1997, S. 23. 5  § 175 StGB existierte zwischen 1872 und 1994 und war ein Paragraph, der dezidiert Anfangs sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts sowie Unzucht mit Tieren unter Strafe stellte. Er wurde 1935 von den Nazis verschärft und erstmals 1969 so reformiert, dass sexuelle Handlungen unter Männern über 21 Jahren straffrei waren, sowie Handlungen zwischen Jugendlichen unter 18, ab 1973 galt die Straffreiheit nur für sexuelle Beziehungen zwischen volljährigen Männern und zwischen Minderjährigen. Erst 1994 wurde der § 175 nach Jahrzehnten des Kampfes um Anerkennung abgeschafft und so die Rechtssituation für Schwule der der Heterosexuellen angeglichen.

bauen.4 Er legte in den kommenden Jahren den Grundstein dafür, dass in verschiedenen europäischen Ländern eine Bewegung entstand. Durch die Organisation von Kongressen und die Unterstützung bei der Gründung erster Partnerorganisationen in Frankreich, der Schweiz, Dänemark, Belgien und der Bundesrepublik entstanden Strukturen, die innerhalb der Homophilenbewegung oder auch in Anlehnung an sie den Diskurs über den pädagogischen Eros aufnahmen. In der Bundesrepublik geschah dies insbesondere durch die Kritik am § 175 StGB, der als dezidierter Schwulenparagraph generell den sexuellen Kontakt zwischen Minderjährigen und Volljährigen unter Strafe stellte.5 Schon in den Vorjahren dieser Organisationsgründungen entstanden erste Zeitschriften, die dezidiert für Päderasten verfasst wurden und sich in ihrer Definition der Päderastie den Veröffentlichungen von Schlegel und Werres bedienten. Anfang der 1970er Jahre, in einer Zeit, in der die deutsche Homophilenbewegung in eine Krise geriet und die zweite deutsche Schwulenbewegung als studentisch geprägte Bewegung ihre ersten Strukturen entwickelte, entstanden Zeitschriften wie Pikbube oder Ben, die sich dezidiert der »Knabenliebe« widmeten und dem Verhältnis zwischen Jugendlichen und Päderasten einen legitimierenden Unterbau verschafften. Diese Tobias Neef  — Das »stärkste Tabu«

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Zeitschriften produzierten eine erste Art kollektiver Identität, die im Begehren am jugendlichen Mann bestand. Um sie herum bildeten sich die ersten päderastischen Organisationen, insbesondere die DAB 1756, aus der später die DAP (Deutsche Arbeitsgemeinschaft Pädophilie) hervorging. Wenngleich diese ersten Organisationsstrukturen nicht von Dauer waren und ihre Apologeten der Knabenliebe ein sexuelles Machtverhältnis bejubelten, das sich als nicht anschlussfähig an den Imperativ der sexuellen Befreiung erweisen sollte, so sind sie dennoch erste Stimmen eines Diskurses, der sich dezidiert dem Kind als Lustobjekt widmete. SICHTUNG DES TERRAINS Flankiert wurden diese ersten organisatorischen Entwicklungen von einem anschwellenden wissenschaftlichen Diskurs, der sich ab den beginnenden 1970er Jahren ebenfalls der Sichtung des als tabuisiert vermerkten Terrains der Pädosexualität widmete. Diese Ausweitung des Diskurses spielte sich in einem relativ kurzen Zeitraum ab: Von Anfang der 1970er bis Mitte der 1980er Jahre erschienen zahlreiche Veröffentlichungen, die sich der kindlichen Sexualität widmeten, und zwar aus einem spezifisch pädagogischen Blickwinkel. Es formierte sich ein Diskurs über ihre Natur, ihre Zusammenhänge zur charakterlichen Entwicklung des späteren Erwachsenen und über das Verhältnis zwischen unterdrückter, kindlicher Sexualität und bürgerlicher Gesellschaft. Fehlentwicklungen wurden angemahnt, Entfaltung gefordert, kurzum, eine Aufmerksamkeit für den kindlichen Sex entstand, die das aktive Kind als Subjekt des Fortschritts und das inaktive als in Zukunft pathologisch deformiertes erscheinen ließ. All diese Darstellungen von Zusammenhängen bauten eine gesteigerte Bedeutung des Sexes für die Gesellschaft auf, und der Imperativ der Befreiung schien sich im Hinblick auf die kindliche Sexualität Bahn zu brechen. Sex wurde in dieser Zeit zum generellen Antipoden der Macht – und damit zugleich per se zur antirepressiven und gesellschaftsbefreienden Praxis. Dieser Diskurs gebar seine eigenen Propheten, die sich wortstark in Szene setzten, bedeutungsschwanger Tabus reklamierten und ihren Bruch an den Beginn eines neuen Zeitalters setzten. Das redselige Sprechen vom eigenen Schweigen über den Sex7 scheint ein Charakteristikum dieser Zeit zu sein, ein Verhalten, das man als inszenierten Tabubruch bezeichnen könnte. Kommen wir jedoch zurück zu dem, was als wirkliches Tabu bis dahin unangetastet geblieben war, und zu demjenigen Akteur, der es nicht bei lautstarken Äußerungen belassen wollte. In diesem aufbrechenden Klima war es möglich, die Frage der Pädophilie unter einem dem Tabubruch förderlichen

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Tabu — Analyse

6  DAB 175 ist die Abkürzung für Deutscher Arbeitskreis Betroffener des § 175. 7  Michel Foucault, Der Wille zum Wissen I. Sexualität und Wahrheit, Frankfurt a. M. 1986, S. 18.

Signum anzusprechen: dem der wissenschaftlichen Durchdringung und Rationalisierung. Bernard veröffentlichte 1972 die Studie »Sex met Kinderen« (Sex mit Kindern), und verfasste in den Folgemonaten eine Vielzahl von Artikeln in verschiedenen prominenten pädagogischen, medizinischen und psychologischen Zeitschriften – und das europaweit. Angeschoben durch diese Veröffentlichungen gab es in deutschen Zeitschriften ab 1972 Debatten, die sich aus pädagogischer, psychologischer, medizinischer und rechtsphilosophischer Perspektive dem Pädophilen als Subjekt und der kindlichen Sexualität als seinem Gegenstand widmeten. Die Zeitschriften, die dem Thema Raum gaben, spielten zugleich mit dem Charme des Tabubruchs und der Kontroversität des Themas. Unter dem Titel »Pädophilie: Verbrechen ohne Opfer« erschien im April 1973 eine Ausgabe der pädagogischen Fachzeitschrift Betrifft: Erziehung, in der ein Artikel Bernards abgedruckt und einigen progressiven Psychologen, Psychiatern, Pädagogen und Strafrechtlern die Möglichkeit zur Stellungnahme gegeben wurde. Selbstverständlich kam Bernard in seinen Untersuchungen zu dem Ergebnis, dass pädosexuelle Handlungen am Kind keine schwerwiegenden Effekte auf die psychische Gesundheit haben und stattdessen sogar positive Effekte aus diesem Verhältnis hervorgehen würden. Spätestens hier war ein Tabubruch vollzogen. Im Schutze der wissenschaftlichen Äußerung, ohne größere Aufregung. Und in einem Raum, der sich als wissenschaftlicher in seinem Selbstverständnis der Herrschaft von irrationalen Tabus entzog. Dennoch gab es Widerspruch. Dieser fiel jedoch verhalten aus, versuchte, auf der spärlichen Basis bisher erhobener Daten zu argumentieren, oder kritisierte die Intransparenz des Zustandekommens von Bernards Ergebnissen. Interessanter erscheinen aber diejenigen Antworten, die sich dem Tenor Bernards anschlossen. Eberhard Schorsch etwa, in dessen Artikel der Imperativ der Befreiung der kindlichen Sexualität Kontur bekam und in den Nexus der Systemüberwindung gebracht wurde. Dem antisexuellen Ideal der herrschenden Gesellschaft stellte er die befreite kindliche Sexualität als Ausgangspunkt für die Überwindung der herrschenden Verhältnisse entgegen: »Eines ist wohl deutlich. Der zentrale und entscheidende Ausgangspunkt für eine Änderung in den Grundlagen ist die Kindersexualität. Hier genügt nicht eine liberale Toleranz, ein darüber Hinwegsehen über sexuelle Aktivität von Kindern, auch nicht eine Aufklärung im Sinne einer Wissensvermittlung über die Fortpflanzung. Eine liberale Haltung, daß kindliche Sexualität ›nicht schlimm‹ 8  Vgl. Eberhard Schorsch, Liberalität reicht nicht, in: Betrifft: Erziehung, H. 4/1973, S. 23.

sei, bedeutet daß dem Kinde positive Erfahrungen im Zusammenhang mit der Sexualität vorenthalten werden.«8 Tobias Neef  — Das »stärkste Tabu«

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Arme kindliche Sexualität. Gerade in den Folgejahren sollte der Ballast ihres angeblichen revolutionären Potenzials in den fortschrittlichen, pädagogischen Diskursen an ihr haften bleiben, wodurch die Hoffnungen einer gescheiterten Generation auf die nächste übertragen wurden. Es brauchte jedoch einige weitere Jahre und andere Akteure, um den Tabubruch in die Öffentlichkeit zu tragen. Und es bedurfte einer Bewegung, die sich in ihrem Selbstverständnis der Rolle des Tabubrechers annahm. Als im Jahr 1978 die Deutsche Studien- und Arbeitsgruppe Pädophilie ( DSAP) gegründet wurde, entstand eine erste nach außen gerichtete Bewegung. Die DSAP schaltete Anzeigen in der taz, sie trat öffentlich auf, beteiligte sich an Diskussionen, sprich: Sie gab der Pädophilie ein Gesicht, und zwar eines, dass zugleich dem öffentlichen Bild des Pädophilen widersprach und mit ihm spielte. Die DSAP vereinte ein heterogenes Feld sich etablierender pädosexueller und päderastischer Gruppen. In ihr organisierten sich, neben einem bürgerlichen Netzwerk und wissenschaftsorientierten Lager, auch linke Gruppen, die sich einer Auseinandersetzung mit der Öffentlichkeit stellen wollten.9 Das öffentliche Auftreten war stets ein Konfliktthema. Da, wo die Einen sich der Öffentlichkeit als seriöser, wissenschaftsnaher Verein präsentieren wollten, waren die Anderen darauf bestrebt, von den übrigen sexualpolitisch emanzipativen Bewegungen Solidarität einzufordern und mit ihren Aktionen lauthals am Tabu zu rütteln. Gerade über diese Konflikte um den Umgang mit dem Tabu kam es in dieser ersten bundesweiten Bewegung zum Zerwürfnis.10 Dennoch: Die Organisation, die wohl erstmals so etwas wie einen öffentlichen Tabubruch inszenierte, schaffte dies, da sie interventionistisch dachte, wissenschaftliche Unterstützung organisierte und zugleich von den sie umgebenden emanzipativen Bewegungen Solidarität einforderte. Und trotzdem verhallte ihr Ruf, für große Teile 9  Vgl. u. a. Franz Walter u. a., Die Pädophiliedebatte bei den Grünen im programmatischen und gesellschaftlichen Kontext. Erste und vorläufige Befunde zum Forschungsprojekt, S. 62–66, online einsehbar unter: http://www. demokratie-goettingen.de/content/uploads/2013/12/Paedophiliedebatte-Gruene-Zwischenbericht. pdf [eingesehen am 15. 05. 2014]. 10  Vgl. Dieter F. Ullmann, Der Anfang lag im deutschen Herbst. Ein Rückblick auf die Pädobewegung, in: BVH ­MAGAZINchen, Nr. 4 (1989), S. 72–73.

der Öffentlichkeit unhörbar, in den subkulturellen Räumen von Schwulenbewegung und alternativem Milieu. 1983 zerbrach die DSAP an ihren inneren Konflikten, die sie schon ab 1981 weitestgehend außer Gefecht gesetzt hatten. Dennoch, als die Debatte über die Abschaffung der sogenannten Schutzaltersgrenze schlussendlich die Grünen erreichte, war das tabuisierte Feld längst beschritten, gesichtet und das Tabu der pädosexuellen Lust besprochen, angegriffen, verteidigt und kritisiert worden. Von einem eigentlichen Tabubruch durch die Grünen kann – so gesehen – keine Rede sein. ÜBER DIE FUNKTION VON TABUS Folgt man Sigmund Freud in seiner Tabudefinition, so kommt dem Tabu eine sakrale Funktion innerhalb einer Gesellschaft zu. Eine Berührung mit Tobias Neef  — Das »stärkste Tabu«

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ihm, so Freud, sorgt dafür, dass die Person selbst »tabu«, also unberührbar, wird. Freud, der sich in seiner Definition auf die von Ethnologen freigelegten Wurzeln des Begriffes bezog, hob jedoch die Funktion von Personen hervor, denen es gestattet ist, sich dem Tabu zu nähern: Hohepriester oder Schamanen beispielsweise, die auf bestimmte Arten mit tabuisierten Gegenständen oder auch Bereichen in Kontakt treten und die Kommunikation zur Außenwelt ermöglichen konnten.11 In gewisser Weise scheint der moderne Umgang mit Tabus immer noch einer solchen Ordnung zu gehorchen, nur sind es in der säkularisierten Gesellschaft weniger die Priester oder Hüter des Sakralen, denen der Kontakt mit dem Tabu zugestanden wird, als die Beherrscher der Techniken, die den Umgang mit dem Tabu erlauben, ohne von ihm und seinen ausgrenzenden Konsequenzen getroffen zu werden – mithin die Wissenschaft. Die Entwicklung, die dem Tabubruch der Pädosexualität vorausging, weist auf interessante Charakteristika des Tabubruchs als modernem Phänomen hin. Zum einen gibt es konkrete Vorbedingungen, die ein Subjekt als Tabubrecher und nicht (nur) als pervers, delinquent oder schlicht wahnsinnig erscheinen lassen. Es bedarf der eigentlichen Enttabuisierung durch wissenschaftliche Diskurse, die sich auch dezidiert diesem Gegenstand, der Sichtung des tabuisierten Terrains, widmen. Der Tabubrecher ist also ein besonderes Subjekt, das in einem prekären Verhältnis zur Rationalität steht. Es bedurfte in gewisser Weise eines kritischen Spiels mit dem Tabu, bevor zu seinem Kern vorgedrungen werden konnte. Die kreisende Annäherung an das Thema, die Sichtung der kindlichen Sexualität durch Freud und die Thematisierung der Existenz eines Tabus durch die Wissenschaft, die ihm erst Kontur und Namen gaben, waren die Voraussetzung dafür, dass sich, auch im wissenschaftlichen Raum, überhaupt Äußerungen vollziehen konnten, die als Rationalisierung des Gegenstandes verstanden wurden. Ein Tabu wird also in einem langen Prozess zersetzt, in Frage gestellt, in geschlossenen Räumen besprochen und bearbeitet. Hinzu kommt, dass in Zeiten, in denen eine deutlichere Trennung zwischen Privatem und Öffentlichem gezogen wird, der Tabubruch ein Phänomen der Öffentlichkeit ist. Das soll nicht bedeuten, dass Tabus nicht im Privatraum funktionieren würden oder hier nicht existent wären, ihre Verinnerlichung und ihre Verknüpfung mit dem Unterbewussten sind ja gerade Gegenstand ihrer Kritik. Der Tabubruch bedarf jedoch seiner Bühne, und gerade das unterscheidet ihn von der Verletzung eines Tabus. Der Tabubruch ist ein diskursives Phänomen, er besteht gerade in der öffentlichen Reklamation von etwas, in der Besetzung seines Gegenstandes durch bestimmte Deutungen.

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Tabu — Analyse

11  Vgl. Sigmund Freud, Gesammelte Werke IX. Totem und Tabu, Frankfurt a. M. 1999, S. 26–45.

DAS PÄDOSEXUELLE TABU – DAMALS UND HEUTE Die Debatten über Sexualität, darauf wies Michel Foucault schon 1976 hin, sind durch Eigentümlichkeiten gekennzeichnet. Es gab in den 1970er Jahren einen weit geteilten Konsens, der darin bestand, dass Sexualität an sich und kindliche Sexualität im Speziellen tabuisierte Gegenstände seien, die es dem Schweigen zu entreißen und von der Unterdrückung zu befreien gelte. Das Spiel mit dem Tabu war in einer solchen Atmosphäre gekennzeichnet von dem, was Foucault als den »Gewinn des Sprechers« bezeichnet hat: »Bewusstsein, der herrschenden Ordnung zu trotzen, Brustton der Überzeugung von der eigenen Subversivität, leidenschaftliche Beschwörung der Gegenwart und Berufung auf eine Zukunft, deren Anbruch man zu beschleunigen glaubt. Ein Hauch von Revolte, vom Versprechen der Freiheit schwingt mit im Diskurs über die Unterdrückung des Sexes.«12 Die wissenschaftliche Kultur der 1960er und 1970er Jahre war in ihrer Kontroversität geprägt davon, dass bestehende Autoritäten – und Tabus wurden als Bestandteil der autoritären Strukturen einer Gesellschaft gesehen – infrage gestellt wurden. Eine sich in diesem Sinne kritisch verstehende Wissenschaft vertrat in großen Teilen ein etwas einseitig anmutendes Verständnis von Macht und Autorität. Autorität wurde mit konkreten Instanzen in Verbindung gesetzt: Patriarchat, Familie, Staat und der der Markt wurden als Instanzen angesehen, die insbesondere in Form von Unterdrückung und Verweigerung dem Individuum in seiner freien Entfaltung Grenzen setzten. Für die Ambivalenzen im Verhältnis zwischen Kind und (freier) Gesellschaft, für 12 

Foucault, Der Wille zum Wissen I, S. 16 f.

13  Zu den Promotoren der Forderung nach Abschaffung der Schutzaltersgrenze gehörten nicht nur die Grünen, sondern ebenso Politiker der FDP sowie die Jungdemokraten als deren inoffizielle Jugendorganisation. Vgl. auch Franz Walter u. a., Die Pädophiliedebatte bei den Grünen im programmatischen und gesellschaftlichen Kontext. Erste und vorläufige Befunde zum Forschungsprojekt, online einsehbar unter: http://www.demokratie-goettingen.de/content/ uploads/2013/12/Paedophiliedebatte-Gruene-Zwischenbericht. pdf [eingesehen am 15. 05. 2014].

die Macht, die darin besteht, Kinder zu etwas »ja« sagen zu lassen, für das Bedürfnis nach Schutzräumen zur freien Entfaltung gab es in diesem Weltbild nur wenig Platz – und Ungereimtheiten und Fragwürdigkeiten gingen im Strudel des Diskurses unter. Nur so kann die eigentümliche Blindheit für die fragilen Machtverhältnisse zwischen Kindern und Erwachsenen und die Konsequenzen eines Tabubruchs erklärt werden, die schlussendlich auch Parteien und Parteiorganisationen13 erfasste. Interessanterweise war es dennoch nicht der Prozess wissenschaftlichen Fortschrittes, der dazu führte, dass das Tabu wieder auf feste Beine gestellt wurde, sondern eine Art hegemonialer Kampf. Die Schattenseiten der Sexualität kamen in den 1980er Jahren insbesondere durch Frauenbewegung und Opferverbände in die Debatte. Es waren also in vielen Fällen Geschädigte selbst, die im Gerede von befreiter Sexualität eine Verdeckung von Machtverhältnissen erkannten und diese zur Sprache brachten, und die Wissenschaft Tobias Neef  — Das »stärkste Tabu«

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scheint in den beginnenden neunziger Jahren in ihrer Themensetzung diesen neuen Verhältnissen gerecht zu werden. Verglichen mit dem sorglosen Umgang mit Pädosexualität in den 1970er und 1980er Jahren stellt sich die heutige Debatte als reflexhaft aufbrausend und zugleich zurückhaltend dar. Im Hinblick auf die aktuellen Debatten, die sich um das Tabu des pädosexuellen Begehrens herum abspielen, lässt sich interessanterweise so etwas wie die Rückkehr zur sakramentalen Kraft des Tabus beobachten. Die Hysterie, mit der die Sozialdemokraten auf die Thematik Edathys reagieren und lautstark die Respektierung des Tabus einfordern, zeugt davon. Edathy ist mit dem Tabu in Berührung gekommen, und er ist damit gänzlich abseits von der Frage der strafrechtlichen Relevanz zu einer unhaltbaren Person geworden. Auch im wohl aktuellsten Fall des Zusammentreffens zwischen Parteien und Kindesmissbrauch, dem Fall des Grünen-Mitarbeiters Bernd K., besteht die Reaktion in einer fast panischen Abgrenzung und der eiligen Versicherung der Nichtberührung.14 Diese fast rituelle Beschwörung der eigenen Reinheit zielt darauf ab, dem Zorn der Gesellschaft, der die Grünen im vergangenen Jahr traf, zu entgehen und verdeckt den eigentlichen Kern des Problems, das dem pädosexuellen Tabu eigen ist. Pädosexualität ist weder ein schichtspezifisches noch in sonst irgendeiner Weise eindeutig lokalisierbares Phänomen. Genaue Daten über den Anteil von Menschen mit pädosexuellem Interesse gibt es nicht, er liegt nach vorsichtigen Schätzungen bei ein bis drei Prozent der Bevölkerung. So gesehen ist es sonnenklar, dass sich in jeder Partei und jeder politischen Couleur pädosexuelle Menschen finden lassen. Diesem Umstand ist mit Sicherheit nicht durch deren Ausgrenzung und die darauf folgende Rückkehr zum Alltagsgeschäft genüge getan, sondern es müssen Wege und Möglichkeiten gefunden werden, mit dieser Orientierung zu leben, ohne anderen Menschen zu schaden.

Tobias Neef, geb. 1980, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Demokratieforschung der Uni Göttingen mit den Schwerpunktbereichen Transformation westlicher Demokratien und neue sozialen Bewegungen. Derzeit forscht er in einer Arbeitsgruppe zu »Umfang, Kontext und Auswirkungen pädophiler Forderungen in den Milieus der Neuen Sozialen Bewegungen sowie bei den Grünen.« Die dazugehörige Studie erscheint voraussichtlich im kommenden Herbst.

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Tabu — Analyse

14  Vgl. Arno Frank, »Sie schweigen, er weint«, in: die tageszeitung, 15. 05. 2014.

KOMMENTAR

PLÄDOYER FÜR DIE SCHUTZLOSEN EIN JURISTISCHER KOMMENTAR ZU DEN GRENZEN VON TRANSPARENZ ΞΞ Karl Felix Oppermann

Was wurde sich in letzter Zeit wieder aufgeregt! Zum einen über diese abgehobenen Prominenten wie Alice Schwarzer oder Uli Hoeneß, die sich öffentlich als Moralapostel präsentieren, abseits des Rampenlichts aber die Gesellschaft beklauen, indem sie etwa Unsummen geheimen Geldes bei Vontobel & Co. lagern. Und zum anderen über die Figur des arroganten Amerikaners in Gestalt der NSA , der sich jeder Verhältnismäßigkeitsprüfung verweigernd und sich über jegliches Anstandsgefühl hinwegsetzend unserer Kommunikationsdaten ermächtigt, selbst die Kanzlerin präventiv ausspioniert, uns kollektiv anlügt und sich dann auch noch dreist hinstellt und behauptet, es sei doch alles rechtmäßig und durch die Terrorabwehr gerechtfertigt gewesen. Dem Empörungschor blieb gar nichts anderes übrig, als unisono zu singen: Was ist bloß aus unserem Rechtsstaat geworden, wo ist nur unsere Souveränität, unsere Glaubwürdigkeit, unsere Wehrfähigkeit? Irgendjemand muss doch für Moral und Gerechtigkeit sorgen können? Ein Glück, dass es noch anständige Leute gibt, die sich ihren Dienstherren widersetzen, an das große Ganze denken, Missstände aufdecken, öffentlich machen! Die Gesellschaft hat einfach ein Recht auf die transparente Wahrheit! Und wie man so sang, friedlich und in guter Absicht, wurde, ohne dass ihn jemand aus- oder auch nur ansprach, der Verrat dienstlich erlangter Geheimnisse salonfähig. Mit anderen Worten: Sowohl die Verletzung des Steuergeheimnisses als auch die »Unauthorized Communication of National Defense Information«, jeweils lupenreine Straftaten nach § 355 StGB bzw. § 793 (d) 18 U.S. 1  Mglw. ebenfalls verwirklicht §§ 641, 798 (a) (3) 18 U.S. Code, s. Criminal Complaint AO 91 (Rev. 08/09).

Code1, wurden gesellschaftlich, abseits vom Juristischen, legitimiert. Nun kann man im Fall Snowden sicher auch juristisch hervorbringen, dass nicht das deutsche, sondern das US-amerikanische Dienstgeheimnis gelüftet,

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die deutsche Strafrechtsordnung also nicht verletzt wurde. Außerdem lässt sich – ebenso rechtswissenschaftlich – sicher trefflich darüber diskutieren, inwiefern bei klassischen Whistleblower-Fällen, also denen von z. B. Snowden, Assange oder Ellsberg, die staatstragende Bedeutung der Tat die selbige rechtfertigt. In Fällen des Öffentlich-Machens von Selbstanzeigen in Steuersachen aber, wie denen von Alice Schwarzer oder Uli Hoeneß, gibt es rechtlich gesehen keinen ansatzweise in Betracht kommenden Rechtfertigungs- oder Entschuldigungsgrund, der zu Straffreiheit oder zumindest Strafmilderung des das Geheimnis lüftenden Amtsträgers führen könnte.2 Das ist ein echtes rechtsstaatliches Tabu. Wie kommt es aber, dass trotz der imposanten Medienpräsenz und einer breit gefächerten Fachanalyse, der ansonsten kein Detail zu entgehen scheint, der Auslöser des Ganzen, die Verletzung des Steuergeheimnisses durch einen Amtsträger der Bundesrepublik Deutschland, unreflektiert bleibt? Ein Grund dafür könnte die mangelnde Quote sein, die eine solche Diskussion den Medienanstalten liefern würde. Es wird wohl niemand ernsthaft behaupten, dass der spitzfindige Inhalt einer »Sind unsere Steuerdaten beim Staat noch gut aufgehoben?«-Diskussion eine reale Chance gegen die restliche ausschlachtbare Fülle einer prominenten Steuerbetrugsfigur hätte. Jedenfalls stieß die Tatsache, dass sich sogar der Präsident des Bundesfinanzhofs selbst zu Wort meldete und das Bekanntwerden des Falls Hoeneß kritisierte,3 auf kaum hörbares Echo und der Steuerfall Alice Schwarzer ging im Hoeneß’schen Nachrichtengewitter nahezu vollständig unter. Nachdem die Skandalwelle nun aber abgeebbt ist, hätte eine solche Debatte jedoch auch aus Mediensicht durchaus ihre Existenzberechtigung. Schließlich ist jeder von uns betroffen und dem menschlichen Datenleck ausgesetzt, welches es

2  Zu den allgemeinen Rechtfertigungsgründen des § 355 StGB vgl. Roland Schmitz u. a., Münchener Kommentar zum StGB, München 2014, § 355 Rn. 106 f.

vorzieht, für den Moment wichtig, interessant und gefragt zu sein, anstatt seiner Pflicht nachzukommen und sich dem Staat gegenüber integer und loyal zu verhalten. Doch Loyalität und Integrität sind derzeit medial nicht en vogue, jedenfalls nicht so sehr wie Transparenz. Transparenz ist, so formuliert es Ivan Krastev zutreffend, unsere neue politische Religion. Befeuert durch den technischen Fortschritt und die dadurch mögliche Echtzeitkontrolle etwa des Politikers durch den Bürger, wird Transparenz peu à peu zum politisierten Idealbild.4 Ob diese Entwicklung

3  O.V., Steuergeheimnis verletzt: Höchster Steuerrichter kritisiert Bekanntwerden von Fall Hoeneß, in: Spiegel-Online, 25. 04. 2013, online einsehbar unter http:// www.spiegel.de/wirtschaft/ soziales/oberster-­steuerrichterkritisiert-bekanntwerden-vonfall-hoeness-a-896570.html [eingesehen am 28. 03. 2014].

generell zu befürworten ist, mag dahingestellt sein. Problematisch wird es aber spätestens dann, wenn die Selbstverständlichkeit politischer Transparenz auf private Transparenz abfärbt, oder, um bei den Eingangsbeispielen zu bleiben, Staatsaffären und Privataffären im gesellschaftlichen Empfinden über einen Kamm geschert werden.

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Tabu — Kommentar

4  Ivan Krastev, The transparancy delusion, in: Eurozine, 02. 02. 2013, online einsehbar unter http://www.eurozine.com/ articles/2013–02–01-krastev-en. html [eingesehen am 02. 04. 2014].

Karl Felix Oppermann  —  Plädoyer für die Schutzlosen

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Wirft man einen Blick auf unsere Rechtsordnung, wird dies noch deutlicher: Das Steuergeheimnis, also die Intransparenz privater Steuerangelegenheiten, ist in Deutschland im Gegensatz zu anderen Ländern wie bspw. Schweden politisch explizit gewollt5 und »Ausfluss des verfassungsrechtlich garantierten Anspruchs des Bürgers auf informationelle Selbstbestimmung«6 – der Staat (als Organ) hat einen solchen (rechtlichen) Anspruch hingegen nicht. Und dennoch scheint sich eine gesellschaftliche Sichtweise eingestellt zu haben, die Prominente weniger als Bürger und mehr als »öffentliches Allgemeineigentum« erscheinen lässt. Ein maßgeblicher Grund hierfür ist sicher im Medienrecht zu finden, welches bei der Abwägung von allgemeinem Persönlichkeitsrecht und Informationsinteresse der Öffentlichkeit in der Regel auf die Hervorgehobenheit der Rolle im öffentlichen Leben der einzelnen Person abstellt,7 die Privatsphäre von Prominenten dabei teilweise erheblich beschränkt und dadurch mittelbar eine Akzeptanz in der die Medien konsumierenden Gesellschaft produziert: Je größer die gesellschaftliche Resonanz, desto legitimer die Veröffentlichung. Doch das ist nicht das, was Legislative und Judikative erreichen wollen. Das Interesse der Öffentlichkeit ist nämlich nicht gleich dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit. Bloßes Interesse ließe sich salopp mit Quote übersetzen. Bei der juristischen Abwägung kommt es aber auf das Informationsinteresse an, welches aus demokratietheoretischer Sicht zunächst einmal der öffentlichen Meinungsbildung dienen soll. Die Veröffentlichung von Informationen setzt demnach ein berechtigtes Interesse der Öffentlichkeit an seiner

5  Paul Pfaff, Kommentar zum Steuergeheimnis, Berlin 1974, S. 218.

Erlangung voraus, wohingegen bloße kommerzielle Interessen auf Seiten des Veröffentlichenden nicht ausreichen.8 Indes: Auch der BGH hat das Idealbild einer lediglich sachlich interessierten Gesellschaft begraben und sieht, sich der Realität anpassend, eine skandalanfällige Öffentlichkeit als berechtigt an, indem er bspw. Caroline zu Hannover hinzunehmen auferlegt, dass »die Allgemeinheit ein berechtigtes Interesse daran hat zu erfahren, wo sie sich aufhält und wie sie sich in

6  Jens Intemann u. a., Abgabenordnung, München 2009, § 30 Rn. 5. 7  Vgl. Christoph Teichmann, Abschied von der absoluten Person der Zeitgeschichte, in: Neue Juristische Wochenschrift, H. 27/2007, S. 1917.

der Öffentlichkeit gibt, sei es beim Einkaufen auf dem Marktplatz, in einem Café, bei sportlicher Betätigung oder sonstigen Tätigkeiten des täglichen Lebens«9. Trotzdem ist juristisch kein Fall denkbar, in dem einer Person, gleich wie prominent sie sein mag, überhaupt kein Rückzugsbereich irgendeiner Privatheit gewährt wird. Schon allein wegen seiner schwer kontrollierbaren Eigendynamik legt der

8  Zur schwer fassbaren Definition des Informationsinteresses im Medienrecht Axel Beater, Informationsinteressen der Allgemeinheit und öffentlicher Meinungsbildungsprozess, in: Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht, H. 8–9/2005, S. 602 [604].

öffentliche Diskurs auf solche Details jedoch wenig Wert. Grundsätzlich wäre dies auch gar nicht besonders dramatisch. In diesem Fall allerdings führt es zu einem Zustand, in dem sich die Rechtswissenschaft den vermeintlich immer

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Tabu — Kommentar

9  BGH-Urteil, abgedruckt in: Neue Juristische Wochenschrift, Heft 17/1996, S. 1128 [1130].

liberaler werdenden Ansichten der Gesellschaft in Sachen Berichterstattung anpasst. Dies wiederum erweckt den (unzutreffenden) Eindruck, als würde sie dies aktiv befürworten, und legt den Grundstein für noch liberalere Ansichten. Letztendlich kann diesem ungünstigen Korrelationsverhältnis nur Einhalt geboten werden, indem entweder eine konstruktive öffentliche Debatte hierüber in Gang gesetzt wird, oder die Legislative verfassungsmäßige Wege findet, in angemessener Art und Weise einzuschreiten. Einen, wenn auch überzeichnenden Einblick in solche gesetzgeberischen Möglichkeiten bietet ein Vergleich zum sog. Beweisverwertungsverbot. Das Prinzip des Beweisverwertungsverbots ist vor allem aus dem Strafprozessrecht bekannt und besagt grundsätzlich, dass Beweise, die auf einem durch die Rechtsordnung nicht vorgesehenen Weg, also beispielsweise durch Folter (§ 136a  III 2 StPO), zu Tage gebracht wurden, nicht gerichtlich verwertbar sind.10 Dem zugrunde liegt die Prämisse, dass Verfolgung und Beweisbarkeit von Straftaten nicht zu neuen Straftaten motivieren, sondern bereits begangene Straftaten durch die legalen Beweisbeschaffungsmittel einer wehrfähigen Rechtsordnung aufgeklärt werden sollen. Übertrüge man dies nun auf die Berichterstattung und stellte zum Beispiel die Veröffentlichung von Informationen unter Strafe, die durch einen schwerwiegenden Verstoß gegen solche Straftatbestände erlangt wurden, welche das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Bürgers in besonderem Maße schützen, hätte dies mehrere Folgen: Einerseits schützte man Journalisten vor dem Weg in die Strafbarkeit, weil nicht nur die Beschaffung der Informationen unter Strafe stünde, sondern auch die Verwertbarkeit unterbunden würde. Andererseits dämmte man den von Amtsträgern ausgehenden Informationsfluss weitgehend ein, da die Veröffentlichungsmotivation sowohl vom Informanten als auch vom Informationsempfänger schlicht nicht mehr gegeben wäre. Und außerdem würde man bei alledem die (verfassungsrechtlich geschützte) Potenz der Medien nur zum Schutz des Bürgers, nicht aber zu Lasten der Transparenz des Staates beschränken, da die Veröffentlichung von Informationen, bspw. aus dem Fundus von Whistleblowern, wegen eines feh10 

Detaillierter Michael Greven u. Rolf Hannich, Karlsruher Kommentar zur StPO, München 2013, Vorb. § 94, Rn. 10 ff.

lenden allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Staates nach wie vor nicht unter Strafe gestellt wäre. Aufregen könnten wir uns also weiterhin, nur eben nach moralisch aufgewertetem Standard.

Karl Felix Oppermann, geb. 1990, ist Mitarbeiter des Instituts für Demokratieforschung. Er studierte Jura in Göttingen und Barcelona und promoviert derzeit über internationales und europäisches Privatrecht.

Karl Felix Oppermann  —  Plädoyer für die Schutzlosen

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PORTRAIT

VON KLÖSSEN, EINEM ELEFANTENGESICHT UND PORNOGRAFIE DIE UNGLAUBLICHE WELT DES DIEUDONNÉ ΞΞ Teresa Nentwig

Und Toooooooooor! Schießt ein Fußballer ein Tor, kann er seine Freude auf unterschiedliche Weise zum Ausdruck bringen: Er kann zum Beispiel die Arme hochreißen, einen Luftsprung machen oder einen Teamkollegen umarmen. Der französische Profifußballer Nicolas Anelka wählte am 28. Dezember 2013 eine andere Möglichkeit. Bei einem Ligaspiel seines englischen Vereins West Bromwich Albion feierte er seinen Ausgleichstreffer mit einer Quenelle: Er streckte seinen rechten Arm dem Körper entlang in Richtung Boden; die linke Hand kreuzte den Oberkörper, wobei alle fünf Finger flach

1  Zit. nach https://twitter.com/ vfourneyron [eingesehen am 29. 03. 2014]. Bei dieser und allen weiteren Übersetzungen aus dem Französischen ins Deutsche handelt es sich um Übersetzungen durch die Verfasserin. 2  Zit. nach Pascal ­Bruckner, Le racisme anti-blanc existe, c’est l’antisémitisme!, in: Le Monde, 05. 01. 2014.

auf den Arm gelegt wurden. Einfacher ausgedrückt: Anelka reagierte auf sein Tor mit einem umgedrehten Nazigruß. In Frankreich löste diese Geste einen Sturm der Entrüstung aus. Die damalige Sportministerin Valérie Fourneyron sprach noch am gleichen Tag auf Twitter von einer »schockierenden, ekelerregenden Provokation«1. Auf einem Fußballplatz hätten Antisemitismus und Anstiftung zum Hass nichts zu suchen, so die Ministerin weiter. Anelka hingegen betonte, dass er »weder Rassist noch Antisemit«2 sei. Der Quenelle-Gruß »war lediglich eine besondere Widmung für meinen Freund, den Humoristen Dieudonné«3. Der englische Fußballverband FA sah das anders: Er hielt die Quenelle für antisemitisch und sperrte Anelka Ende Februar 2014 für fünf Spiele. Außerdem wurde der Franzose zu einer Geldstrafe von 80.000 £ (etwa 97.300  €) verurteilt und zum Besuch eines Aufklärungskurses verpflichtet.4 Um seinen »Bruder«5 Anelka zu verteidigen und sich mit ihm zu solidarisieren, wollte Dieudonné, der Schöpfer der Quenelle, nach England reisen. Daraus wurde jedoch nichts, denn das britische Innenministerium verweigerte

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INDES, 2014–2, S. 96–105, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014, ISSN 2191–995X

3  Zit. nach Rosalie Lucas u. Didier Micoine, La provocation d’Anelka, in: Le Parisien, 29. 12. 2013. 4  Mittlerweile spielt Anelka nicht mehr für seinen Verein West Bromwich Albion. Nachdem der Fußballprofi Mitte März 2014 per Twitter angekündigt hatte, seinen Vertrag aufzulösen, gab der Verein bekannt, dass Anelka mit 14-tägiger Frist entlassen sei. 5  Zit. nach Olivier Mukuna, Dieudonné: »Je veux aller en prison«, in: Femmes de chambre, 31. 12. 2013, online einsehbar unter http://www. femmesdechambre.be/dieudonneje-veux-aller-en-prison/ [eingesehen am 31. 03. 2014].

ihm die Einreise. Einreiseverbote gegen Individuen würden verhängt, wenn es Bedenken hinsichtlich der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit gebe, hieß es zur Begründung. Dieudonné steht damit unter anderem in einer Reihe mit den russischen Skinheads und Serienmördern Pavel Skachevsky und Artur Ryno, die ebenfalls nicht nach Großbritannien kommen dürfen. Auf den Beschluss des britischen Innenministeriums reagierte Dieudonné übrigens auf seine Weise: Bei seinem Auftritt im schweizerischen Nyon machte er eine Quenelle gegenüber »all diesen Leuten, die Dieudonné angreifen«, eingeschlossen »die Königin von England«.6 VON DER PARISER VORSTADT AUF DIE GROSSEN BÜHNEN DER REPUBLIK Einreiseverbot für Dieudonné – dass es einmal so weit kommt, wäre noch vor einigen Jahren niemandem im Traum eingefallen. Um die Jahrtausendwende zählte Dieudonné – zu Deutsch übrigens »der Gottgegebene«, für seine Fans »Dieudo« – jenseits des Rheins noch zu den besten Komikern des Landes. Er füllte die größten Hallen, erhielt Auszeichnungen, trat auch als Schauspieler auf, darunter 2002 in »Asterix & Obelix: Mission Kleopatra«. Zuvor hatte Dieudonné das hingelegt, was man wohl als Blitzkarriere bezeichnen kann. Dabei sah es anfangs nicht danach aus, dass Dieudonné eines Tages zu den größten Komikern Frankreichs gehören würde. Dieudonné M’bala M’bala, der stets nur unter seinem Vornamen auftritt, wurde 1966 in einer Kleinstadt bei Paris geboren und wuchs in einem kleinbürgerlich-intellektuellen Milieu auf. Seine Mutter stammte aus der Bretagne und studierte damals Soziologie; sein Vater, ein gebürtiger Kameruner, arbeitete als Buchhalter. Nachdem sich Dieudonnés Eltern relativ bald nach seiner Geburt getrennt hatten, kehrte sein Vater nach Kamerun zurück und gründete dort eine neue Familie. Mit seiner Mutter und seinem älteren Bruder zog Dieudonné, der katholisch ge6  Zit. nach Eric Albert, Dieudonné interdit de séjour en Angleterre, une décision »relativement rare«, in: Le Monde, 04. 02. 2014. 7  Zit. nach Robert Belleret, Les dérapages d’un humoriste tenté par la politique, in: Le Monde, 20. 02. 2004. 8  Zit. nach Henri Haget u. Gilles Médioni, Dieudonné, le comique qui dérape, in: L’Express, 19. 01. 2004.

tauft ist, mehrfach im Großraum Paris um, wobei die Familie nicht in Hochhaus-, sondern in Bungalowsiedlungen lebte. Sonntags stand regelmäßig ein Kirchenbesuch auf dem Programm. Doch so behütet, wie es sich anhört, waren seine Kindheit und Jugend nicht, denn auch mit der »sehr harten«7 Welt der Problemviertel kam Dieudonné in Berührung. Später, als Erwachsener, erzählte er zudem gern von rassistischen Beleidigungen, deren Opfer er in der Metro geworden sei. Sein langjähriger Freund Élie Semoun kann das nicht glauben: »Dieudo? Er war einen Kopf größer als die anderen und besaß den braunen Judogürtel. Niemand wäre auf die Idee gekommen, ihn zu provozieren …«8 In der Tat: Bereits mit fünf Jahren begann Dieudonné mit Judo, einer Kampfsportart, die Teresa Nentwig  —  Von Klößen, einem Elefantengesicht und Pornografie

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ihm zu einer athletischen Figur und viel Selbstbewusstsein verhalf. Dass das mit den rassistischen Beleidigungen so nicht stimmt, gestand er denn auch selbst ein: »Ja, es ist wahr. Ich habe da vielleicht ein bisschen übertrieben.«9 Dieudonné langweilte sich in der Schule, machte aber trotzdem sein Abitur. Anschließend versuchte er sich im kaufmännischen Bereich – unter anderem verkaufte er Kopiergeräte und Autos. Parallel dazu trat er ab 1990 mit Élie Semoun, den er in der Abschlussklasse des Gymnasiums kennengelernt hatte, bei Partys von Freunden auf. Die beiden amüsierten die Gäste mit so großem Erfolg, dass sie sich entschieden, mehr aus ihren Fähigkeiten zu machen und das Rampenlicht zu suchen. So kam es, dass Dieudonné und Semoun mit ihren Sketchen unter anderem in dem legendären Pariser Cafétheater »Café de la Gare« auftraten. Dann ging alles ganz schnell: Dank mehrerer Fernsehauftritte im Jahr 1992 erlangten die beiden Komiker rasch Berühmtheit und wurden »ein Stern am Himmel der Unterhaltung«10. Dem Publikum gefiel es, wie dieses ungleiche Paar – Dieudonné ist groß, dunkelhäutig und katholisch getauft, Semoun klein, weiß und jüdisch – mit der eigenen Gegensätzlichkeit spielte und dabei immer wieder den Kanon des politisch Korrekten brach. Doch die Trennung des populären Duos erfolgte bereits 1997, unter anderem aufgrund finanzieller Streitigkeiten. Dieudonné trat von nun an allein auf – noch im gleichen Jahr inszenierte er das Stück »Dieudonné – Ganz allein«. Mittlerweile kann er auf 15 verschiedene One-Man-Shows zurückblicken, denn fast jedes Jahr erklomm er mit einem neuen Programm die Bühnen unseres Nachbarlandes. DIE GUTEN UND DIE BÖSEN An seine gemeinsamen Erfolge mit Élie Semoun konnte Dieudonné anknüpfen. Doch weil er bald eine ungeahnte Radikalisierung vollzog, wurde Dieudonné vom allseits gefeierten Star zu einem äußerst umstrittenen Künstler, ja Politaktivisten. Hatte er zunächst der antirassistischen, ökologischen Linken angehört, so näherte er sich seit 2004/2005 der extremen Rechten an, was sich mehr und mehr auch auf der Bühne zeigte. Ein Massenpublikum, wie noch in den 1990er Jahren, erreicht Dieudonné heute so zwar nicht mehr, aber noch immer füllt er große Hallen bis auf den letzten Platz. Seine Ideologie setzt sich seit einigen Jahren aus drei Hauptkomponenten zusammen. Zunächst einmal ist seine Judenfeindlichkeit zu nennen. Dieu-

9 

Zit. nach ebd.

10  Thomas Hahn, Die Erfindung des umgekehrten Hitlergrußes, in: Die Welt, 03. 01. 2014.

donné ist überzeugt, dass die Juden weltweit die Fäden zögen und für alles Übel in der Welt verantwortlich seien. Die Krankheit Aids beispielsweise hält er für eine Erfindung Israels, »um das schwarze Volk Afrikas auszulöschen«11.

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11  Zit. nach Anne-Sophie Mercier, La vérité sur Dieudonné, Paris 2005, S. 15.

Überhaupt: Die Schwarzen seien seit jeher von den Juden unterdrückt und ausgebeutet worden. Dass sich die Medien mit der Zeit mehr und mehr von ihm distanziert haben – das französische Fernsehen boykottiert ihn mittlerweile –, erklärt Dieudonné ebenfalls mit der Macht der »zionistischen Lobby«, die ihm gegenüber ein Projekt der »Endlösung« ausgeheckt habe.12 Eng zusammen mit diesem ersten Punkt hängt das zweite wesentliche Merkmal von Dieudonnés Weltsicht: Er beklagt seit Jahren, dass die Kolonisation und der Sklavenhandel nicht die gleiche Aufmerksamkeit wie die Shoah erführen, deren Aufarbeitung und Gedenken schon mehrere Jahrzehnte die französische Kultur prägen würden. In diesem Sinne sagte Dieudonné im November 2004: »Wir befinden uns in einer Zeit, wo die Völker Wiedergutmachung verlangen. Die Länder, die mit den Nazis zusammengearbeitet haben, werden stark von den Kindern der jüdischen Opfer unter Druck gesetzt. Sie müssen Entschädigungen zahlen. Unser Volk hat auch das Recht auf eine solche Beachtung.«13 Dieudonné versteht sich also als Vertreter von Minderheiten, deren Erinnerungskultur angeblich verdrängt werde. Diese Haltung geht mit einer heftigen Kritik an dem Stellenwert einher, den Frankreich der Erinnerung an die Vernichtung der europäischen Juden durch die Nationalsozialisten einräumt. Im Februar 2005 beispielsweise, kurz nachdem der 60. Jahrestag der Befreiung der Konzentrationslager begangen worden war, bezeichnete Dieudonné das Gedenken an die Shoah als »Pornografie der Erinnerung«14. Anderthalb Monate später brachte er seine Überzeugung, dass die Juden – auf Kosten der Schwarzen – über das Monopol des historischen Leids verfügten, noch einmal auf drastische Weise zum Ausdruck: »In dem Schulbuch meiner Kinder habe ich die Seiten über die Shoah herausgerissen. Ich werde es solange machen, bis unser Schmerz endlich anerkannt ist.«15 Doch Ungerechtigkeiten sieht Dieudonné in Frankreich nicht nur im Hinblick auf die Erinnerungskultur. Er ist vielmehr überzeugt – und dies ist die dritte zentrale Komponente seiner Ideologie –, dass Menschen mit Migrationshintergrund im Land des republikanischen Universalismus noch immer minderwertig behandelt würden. Die Araber und Muslime, die in Frankreich le12 

Zit. nach ebd., S. 142.

ben, hält er beispielsweise für »Opfer von Diskriminierungen«. Sie würden »als Bürger zweiter Klasse angesehen«. Bei den Schwarzen, so Dieudonné, sei es

13 

Zit. nach ebd., S. 61. 14 

Zit. ebd., S. 149.

noch schlimmer: Sie hätten keine Rechte und würden »als Affen betrachtet«.16 Seine Gesinnung zieht insbesondere zweierlei nach sich: Zum einen gibt sich Dieudonné als Kämpfer gegen soziale Ungerechtigkeiten, zunächst und

15 

16 

Zit. nach ebd., S. 33 u. S. 164.

vor allem gegen die Ungerechtigkeiten, die Schwarze und Araber, aber ebenso

Zit. nach ebd., S. 99.

klärt auch den Erfolg, den er bei (jungen) Bewohnern der Banlieues hat. Zum

die »kleinen Leute« erfahren, wie auch immer deren Hautfarbe ist. Dies er-

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anderen nimmt Dieudonné eine extrem kritische Haltung gegenüber dem »System« ein, das heißt gegenüber den Eliten in der Politik, in der Wirtschaft und in den Medien. GRENZÜBERSCHREITUNGEN Bei seinen Shows werden die Zuschauer immer wieder Zeugen seines Judenhasses. Im Dezember 2008 beispielsweise, während seines Auftritts in der großen Pariser Veranstaltungshalle »Zénith«, huldigte Dieudonné dem bereits mehrfach verurteilten Negationisten Robert Faurisson: Er holte diesen auf die Bühne und umarmte ihn, während ein Mann, der als deportierter Jude verkleidet war, Faurisson den »Preis für Unbeirrbarkeit und Unverfrorenheit« verlieh. Das Publikum – darunter Jean-Marie Le Pen und der führende Theoretiker der »Neuen Rechten« in Frankreich, Alain de Benoist – reagierte auf diese Provokation mit Beifallsstürmen. Fünf Jahre später, im Dezember 2013, drohte Dieudonné dem jüdischen Radiomoderatoren Patrick Cohen von der Bühne seines Pariser Theaters »La Main d’Or« herab mit folgenden Worten: »Wenn der Wind dreht, bin ich nicht sicher, ob er Zeit hat, seine Koffer zu packen (…). Wenn ich ihn, Patrick Cohen, reden höre, sage ich mir, verstehst du, die Gaskammern, schade …«17 Anlass für diesen Ausfall war die Weigerung Cohens, Dieudonné in seine Sendung einzuladen. Bereits an diesen beiden Beispielen wird deutlich: Dieudonnés Erfolgsrezept »ist der ständige Tabubruch. Seine Geschäftsgrundlage bildet die permanente Transgression aller Regeln des Anstands und des guten Geschmacks.«18 Doch es ist nicht nur sein Antisemitismus, den er auf der Bühne zur Schau stellt. Auch die Systemkritik ist elementarer Bestandteil seiner Shows. Mehr noch: Dieudonné hat mit der Quenelle ein Symbol erfunden, um seinen Protest gegen das Establishment zum Ausdruck zu bringen. Eigentlich ist die Quenelle eine Spezialität aus Lyon. Es handelt sich um einen länglichen Kloß aus Fisch oder Fleisch. Zugleich ist Quenelle aber auch eine Metapher für den ausgestreckten Zeigefinger. Dieudonné will die Quenelle »dem System […] in den Hintern stecken«, wie er Ende 2013 in einem Interview sagte.19 Erstmals führte Dieudonné die Quenelle im Jahr 2005 aus. Seitdem entwickelte sie sich mehr und mehr zu einem Erkennungszeichen, mit dem sich seine Anhänger grüßen. Ja: In den sozialen Netzwerken ist die Quenelle mittlerweile ein Massenphänomen. Ob Soldaten vor der Synagoge Beth David in Paris oder Schüler vor einem Bild Anne Franks bei der Wanderausstellung »Anne Frank, eine Geschichte von heute« – im Internet sind unzählige Fotos von Menschen zu sehen, die eine Quenelle machen. Viele von ihnen haben vermutlich kein Bewusstsein für die Tragweite dieser Geste.

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17  Zit. nach Frédéric Potet, Manuel Valls veut interdire les spectacles de Dieudonné, in: Le Monde, 28. 12. 2013. 18  Michaela Wiegel, Wider den Provokateur, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 11. 01. 2014. 19  Zit. nach Mukuna, Dieudonné.

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Denn Wissenschaftler sind sich einig: Bei der Quenelle handelt es sich nicht lediglich um einen Akt gegen das System, sondern ganz klar und gerade auch um eine antisemitische Geste. Der Soziologe Michel Wieviorka etwa bezeichnete die Quenelle als »verschwommene Synthese des Nazigrußes und des Stinkefingers, des Judenhasses und der Ablehnung des Systems«20. Auch bekannte Rechtsextreme machten schon die Quenelle: Dieudonnés Kompagnon Alain Soral etwa, Vordenker der extremen Rechten, zeigte den Quenelle-Gruß im Juli 2013 inmitten der Stelen des Holocaust-Mahnmals in Berlin. Drei Monate später führten Jean-Marie Le Pen und Bruno Gollnisch, die beide für den Front National (FN) im Europäischen Parlament sitzen, die Quenelle nach einer Plenarsitzung in einem Straßburger Restaurant aus. STAMMGAST IM GERICHTSSAAL Für seine Äußerungen und »Sketche« wurde Dieudonné bereits mehrfach verurteilt. Zunächst verlor er keinen Prozess. Das lag daran, dass die Richter äußerste Vorsicht walten ließen: Sie hoben immer wieder das Recht auf Meinungsfreiheit hervor. In den letzten Jahren jedoch veränderte sich die Rechtsprechung. Im Herbst 2009 beispielsweise stand Dieudonné vor Gericht, weil er den Holocaust-Leugner Faurisson auf die Bühne geholt hatte. Er gestand zwar seine Absicht, »zu provozieren und zu schockieren«. Zugleich aber hob Dieudonné die künstlerische Freiheit hervor und versicherte, dass seine Provokationen für die Journalisten bestimmt gewesen seien. »Das war eine Liveshow, ein humoristisches Werk. Es besteht ein Spiel mit den Medien; ich habe ihnen ein humoristisches Attentat auf meine Art abgeliefert. […] Ihre Hysterie, überall Antisemitismus zu sehen, erscheint mir verdächtig und obszön. […] Ich bin das Barometer für die Redefreiheit.«21 Die Richter zeigten jedoch keine Gnade – sie verurteilten Dieudonné wegen »öffentlicher Beleidigung« von Personen jüdischer Herkunft oder jüdischen Glaubens zu einer Geldstrafe von 10.000 €. Dieudonné, der überzeugt ist, dass sich die Justiz »in den Händen der Juden«22 befinde, legte gegen das Urteil Berufung ein. Anfang Februar 2011, als er deswegen erneut vor Gericht erscheinen musste, sagte er: »Es war ein exzellenter Abend. Es war sehr lustig. Die Leute haben gelacht. […] Es ist das erste Mal, dass sich ein Künstler vor dem Berufungsgericht befindet, um zu fragen: ›Habe ich das Recht, mein Publikum zum Lachen zu bringen?‹«23 Hier wird erneut deutlich, dass sich Dieudonné hinter dem Recht auf Humor und der Meinungsfreiheit verschanzte. Mit dieser Haltung hatte er allerdings kein Glück: Das Gericht bestätigte die Geldstrafe von 10.000 €. Insgesamt wurde Dieudonné bisher zu ca. 65.000 € Strafe verurteilt. Er begann jedoch erst im Frühjahr 2014, diese Summe abzubezahlen. Zuvor

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20  Michel Wieviorka, Derrière l’affaire Dieudonné, l’essor d’un public »antisystème«, in: Le Monde, 01. 01. 2014. 21  Zit. nach Abel Mestre u. Caroline Monnot, Face au juge, Dieudonné plaide »l’attentat humoristique«, in: Le Monde, 24. 09. 2009. 22  Zit. nach Michel Briganti u. a., La galaxie Dieudonné. Pour en finir avec les impostures, Paris 2011, S. 36. 23  Zit. nach o. V., Devant les juges, Dieudonné invoque le droit à l’humour, in: Le Monde. fr, 03. 02. 2011, online einsehbar unter http://www.lemonde.fr/ societe/article/2011/02/03/devantles-juges-dieudonne-invoque-ledroit-a-l-humour_1474932_3224. html [eingesehen am 02. 04. 2014].

hatte er stets behauptet, kein Geld zu haben. Doch das stellte sich als falsch heraus, denn Ende Januar 2014 wurden bei der Durchsuchung seines Privathauses ungefähr 650.000 € und 15.000 $ in bar beschlagnahmt. Die Razzia geschah im Rahmen der Voruntersuchung gegen Dieudonné wegen »betrügerischer Zahlungsunfähigkeit«, »Geldwäsche« und »Unterschlagung von Gesellschaftsvermögen«. SEINE SYMPATHISANTEN – EINE BUNTE MISCHUNG Trotz seiner Tabubrüche und Verurteilungen hat Dieudonné unzählige Fans. Bei der Frage nach dem Warum hilft ein Blick in die Hallen, in denen er auftritt: Araber, Schwarze, Weiße, Jugendliche aus der Unterschicht wie auch aus der Mittelschicht, linke Wähler, Linksradikale und Rechtsextreme, Rassisten und Antirassisten, Antisemiten und Antizionisten – sie stehen dort nebeneinander und lachen über die gleichen Witze. Dieudonné selbst verglich sein Publikum folglich einmal mit »einer Box voller Buntstifte«24. Der Philosoph Alain Finkielkraut formulierte es kürzlich weniger bildhaft: »Das Publikum von Dieudonné repräsentiert die Verschiedenheit der französischen Bevölkerung […].«25 Gerade die dunkelhäutigen Besucher seiner Shows, die häufig in vielerlei Hinsicht Diskriminierung erfahren und denen nicht selten politische Orientierungspunkte fehlen, begrüßen, dass Dieudonné den Kampf gegen Rassismus zu seinem Thema gemacht hat. In Dieudonné, der sich selbst als Opfer von Rassismus inszeniert, erkennen sie sich wieder – er ist zu ihrem Helden, zu ihrer Ikone geworden. Doch wie kommt es, dass sich unter den Zuschauern seiner Shows auch junge Leute befinden, die aus der Mittelschicht stammen, politisch eher ge24  Zit. nach Soren Seelow, Génération Dieudonné, in: Le Monde, 09. 01. 2014.

mäßigt, ja häufig links sind und die jeglichen Antisemitismus von sich wei-

25  Zit. nach Vincent Tremolet de Villers, »Nous sommes engagés dans un mouvement de profanation intégrale«, in: Le Figaro, 11. 01. 2014.

heraus, dass er für viele Kult ist; sie halten Dieudonné »für den begabtes-

sen? Dieser Frage ging Anfang 2014 Soren Seelow, Journalist bei Le Monde, nach. Er sprach mit zahlreichen Anhängern Dieudonnés und fand dabei

26  Zit. nach Seelow, Génération. 27  Zit. nach ebd.

ten Komiker seiner Generation«26. In diesem Zusammenhang zitiert Seelow den 22-jährigen Nico, der an der Sorbonne Jura studiert und bei der letzten Präsidentschaftswahl im ersten Wahlgang die Neue Antikapitalistische Partei ( NPA) und im zweiten Wahlgang die Sozialistische Partei (PS) gewählt hat. Schon im Alter von 16 Jahren sei er Fan von Dieudonné geworden, wobei ihn dessen »Kampf« für die »Gleichheit aller vor dem Lachen« fasziniere, so Nico.27

28 

So beschreibt sich Guillaume selbst. Zit. nach ebd.

Nico wie auch Guillaume, ein 22-jähriger, »eher linker«28 Student der Sprachwissenschaft, führten zudem an, dass ihre Lehrer in der Schule von Teresa Nentwig  —  Von Klößen, einem Elefantengesicht und Pornografie

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Anfang an über den Holocaust gesprochen hätten, während beispielsweise der Völkermord in Ruanda nicht thematisiert worden sei. Dabei seien ihnen auch Schuldgefühle vermittelt worden, obwohl die Schuld aus ihrer Sicht bei den vorangehenden Generationen liege. Die Shows von Dieudonné, so die Folgerung Seelows, gäben den jungen Leuten die Möglichkeit, sich von dieser Schuldhaftigkeit zu befreien – sie seien wie »ein mächtiges Ventil«29 und ein Versuch, die Ungleichgewichte, die im Schulunterricht bei der Behandlung von rassistischen Verbrechen wahrgenommen worden seien, zu korrigieren. Hier wird deutlich, dass Dieudonnés Bestreben, den Holocaust – eigentlich das »höchste Tabu«30 – aus der kollektiven Erinnerung zu verdrängen, nicht nur in stark rechten Milieus auf Zustimmung stößt. Seit kurzem kann Dieudonné allerdings nicht mehr ganz so unbeschwert poltern wie bisher, denn der Staatsrat, das oberste Verwaltungsgericht in Frankreich, bestätigte am 9. Januar 2014 ein Auftrittsverbot. Weitere folgten unmittelbar darauf. Da die Auftrittsverbote speziell für sein Stück »Die Mauer« galten, kündigte Dieudonné bereits am 11. Januar 2014 an, statt dieser Show ein neues Programm zu zeigen. Schon zwei Tage später präsentierte er sein neues Stück mit dem Titel »Asu Zoa«, das er in »drei Nächten«31 geschrieben haben will. Es handele sich um eine Mischung aus »Tanz und Musik, Mimenspiel und sogar einigen Tai-Chi-Bewegungen […], inspiriert von überlieferten Mythen und primitiven Volksglauben«32. In seiner Show verzichtet Dieudonné denn auch auf seine kontroversesten Äußerungen und auf direkte Angriffe gegen Juden und die Shoah. Doch viele seiner doppelbödigen Sketche sind trotzdem nahezu identisch mit denen aus »Die Mauer«. Hinzu kommt: Asuzoa bedeutet in der in Kamerun gesprochenen Sprache Ewondo »Das Gesicht des Elefanten«. Da Dieudonné gern mit Sprache spielt,

29 

Seelow, Génération.

spekulierten verschiedene Webseiten, darunter das jüdische Online-Magazin Alliance, darüber, ob es sich dabei nicht um ein Anagramm von »USA ZOA« handelt. Dies steht für »Zionist Organization of America« und damit für die

30  So Alain Finkielkraut. Zit. nach Tremolet de Villers, Nous sommes engagés.

älteste pro-israelische Organisation in den USA. Das entschärfte Programm tat dem Zuschauerzustrom keinerlei Abbruch. So waren beispielsweise die zehn Auftritte, die Dieudonné Anfang Februar 2014 am Genfer See hatte, restlos ausverkauft. Das Publikum feierte ihn nach jeder Aufführung mit Standing Ovations. Möglicherweise trug die mediale Aufmerksamkeit, die Dieudonné zuvor durch Anelkas Quenelle und mehrere Auftrittsverbote erhalten hatte, zu diesem Auflauf bei. Das, was Dieudonné bereits im Februar 2005 gesagt hatte, scheint sich genau neun Jahre später mehr denn je bewahrheitet zu haben: »Je mehr man auf mich einschlägt, desto mehr kommen zu meinen Shows.«33

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31  Zit. nach Soren Seelow, A Paris, Dieudonné rejoue une version de son spectacle tout en sous-entendus, in: Le Monde, 15. 01. 2014. 32  Zit. nach o. V. (Kürzel: C. Zü.), Feu vert pour le nouveau show de Dieudonné à Nyon, in: Le Temps, 14. 01. 2014. 33  Zit. nach Mercier, Dieudonné, S. 157.

EINE ZWEITE KARRIERE IN DER POLITIK? Ein Portrait über Dieudonné wäre nicht vollständig, würde man nicht auch auf seine Versuche, in der Politik Fuß zu fassen, eingehen. Alle Kandidaturen bei Wahlen blieben zwar erfolglos; doch die Hartnäckigkeit, mit der er immer wieder erneut antrat, ist bemerkenswert: 1989 und 2001 kandidierte Dieudonné bei der Kommunalwahl, 1997 und 2002 bei der Parlamentswahl, 1998 bei der Regionalwahl sowie 2004 und 2009 bei der Europawahl. 2002 und 2007 wollte er zudem bei der Präsidentschaftswahl antreten. Beide Male gelang es ihm jedoch nicht, die fünfhundert Unterschriften von gewählten Volksvertretern vorzulegen, die notwendig sind, um als Kandidat zugelassen zu werden. Als Dieudonné seine ersten Schritte in der Politik unternahm, stand er den Grünen nahe34 und wollte mit seinen Kandidaturen das Erstarken des FN verhindern. »Die einzige Partei, die mich beunruhigt und gegen die ich mich engagiere, das ist der FN«, sagte er beispielsweise 1997, als er zur Parlamentswahl antrat.35 Doch das änderte sich bald: Wie schon erwähnt, driftete Dieudonné im neuen Jahrtausend in die rechtsextreme Ecke ab. Im November 2006 beispielsweise besuchte er eine Großveranstaltung des FN bei Paris. Im Jahr darauf begleitete Dieudonné Jean-Marie Le Pen nach Kame34  Zu seinen Unterstützern zählte zum Beispiel Daniel Cohn-Bendit. 35  Zit. nach Marie Quenet, Dieudonné, chronique d’un tête-à-queue politique, in: leJDD. fr, 11. 01. 2014, online einsehbar unter http://www.lejdd.fr/Societe/ Dieudonne-chronique-d-untete-a-queue-politique-647982 [eingesehen am 25. 03. 2014].

run. Der damalige Vorsitzende der FN wurde 2008 sogar Patenonkel seines dritten Kindes. Vermutlich wäre Dieudonné, nach 2004 und 2009, auch gern im Mai 2014 zur Europawahl angetreten. Doch nachdem er die Wahlkampfabrechnung für seine »Antizionistische Liste«, mit der er 2009 in den Europawahlkampf gezogen war, nicht fristgerecht eingereicht hatte, wurde er im Mai 2012 vom höchsten Gerichtshof in Frankreich, dem Verfassungsrat, zu drei Jahren »Unwählbarkeit« verurteilt. Vorerst bleiben Dieudonné für seine Systemkritik also nur die Bühne und das Internet.

Dr. Teresa Nentwig, geb. 1982, hat Politik und Französisch in Göttingen und Genf studiert. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind die niedersächsische Landesgeschichte und -politik, die gesellschaftliche und politische Entwicklung in Frankreich sowie Skandale. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Göttinger Institut für Demokratieforschung und arbeitet dort momentan in dem Projekt »Unternehmer und Gesellschaft« mit.

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PERSPEKTIVEN

STUDIE

SCHWEIGEN DER HONORATIOREN DER CHIRURG RUDOLF STICH, DER NATIONAL­ SOZIALISMUS, DAS GÖTTINGER BÜRGERTUM UND DIE WISSENSCHAFT ΞΞ Franz Walter

Seit dem 1. März 2010 existiert an der Georg-August-Universität das »Institut für Demokratieforschung«, das seit nun drei Jahren auch die Zeitschrift INDES herausgibt. Im Oktober 2010 zog dieses Institut in ein altes Gebäude an

der Göttinger Weender Landstraße 14, in die sogenannte »Villa Stich«. Hier, an der zur Straße gelegenen Außenwand der Immobilie, hing bis Ende 2010 eine der in Göttingen verbreiteten Gedenktafeln zur Erinnerung und Ehrung bedeutender Persönlichkeiten der Stadtgeschichte. Indes, es dauerte nur wenige Wochen, bis die Plakette abmontiert und die positive Reminiszenz an den früheren Hausherren, den Chirurgen Rudolf Stich (1875–1960), getilgt wurde. Das neue Institut störte sich daran, sein wissenschaftliches Domizil mit dem Namen eines früheren professoralen Angehörigen der Universität verbunden zu sehen, auf dessen Mitgliedschaft und Aktivitäten in nationalsozialistischen Organisationen zwischen 1933 und 1945 es verblüffend rasch 1  Daraus ist u.a. eine kluge und nuancenreiche Studie entstanden, die Anfang September 2014 im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht erscheinen wird: Katharina Trittel, Stine Marg u. Bonnie Pülm, Weißkittel und Braunhemd! Der Göttinger Mediziner Rudolf Stich im Kaleidoskop. Am Projekt beteiligt waren neben den Mitarbeiterinnen des Instituts für Demokratieforschung ebenfalls die Lehrstühle Prof. Dirk Schumann (Neuere und Neueste Geschichte) und Prof. Claudia Wiesemann (Ethik und Geschichte der Medizin).

in Folge einiger erster Archivrecherchen gestoßen war. Diese Hinweise veranlassten die Leitung der Universität dazu, die Plakette von der Hausfront zu entfernen, im nächsten Schritt auch die historischen Zusammenhänge gründlicher von Demokratieforschern, Medizinhistorikern und Geschichtswissenschaftlern untersuchen zu lassen.1 EHRENBÜRGER MIT ALLERLEI VERDIENSTKREUZEN Im Folgenden hat es – wenngleich im Ganzen moderat, da von den mit Rudolf Stich freundschaftlich verbundenen Zeitgenossen heute kaum noch jemand lebt – einige Äußerungen des Unverständnisses, auch der Ablehnung gegenüber der Plaketten-Demontage sowie den jetzt kritischen Rückblicken

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auf die Biografie Stichs gegeben. Schließlich, so wurde angeführt, hatte ihn die Stadt doch selbst in den frühen Jahren der Bonner Demokratie mit der Ehrenbürgerschaft ausgezeichnet, hatte die neue Republik ihn mit dem Bundesverdienstkreuz geehrt, die Georgia Augusta ihm zu seinem 85. Geburtstag die Albrecht-von-Haller-Medaille verliehen. Diese besondere Wertschätzung galt, hieß es weiter, wohl gewiss einem unzweifelhaft großen akademischen Lehrer, der hunderte von tüchtigen Chirurgen ausgebildet hatte, der selbst in unzähligen Operationen tausenden von kranken Mitbürgern ihr Leid gelindert, wenn nicht das Leben gerettet hatte, der – so belegen es vielfältige Zeugnisse – in seinem Beruf aufging, sich seinem heilenden Tun hingebungsvoll und aufopfernd verschrieben hatte. Allein um diese herausragenden Leistungen ging es, so die Verteidiger der Stich’schen Ehrungen, als man ihn für sein Lebenswerk staatlich belobigen und würdigen wollte, um den weit überdurchschnittlichen Einsatz, die exzellente Expertise, die selbstlose Pflichterfüllung eines hervorragenden Fachmanns auf seinem Gebiet, das doch mit Politik rein gar nichts zu tun hätte. An Auszeichnungen hat es im Leben Stichs in der Tat nicht gefehlt. Auch in den zwölf Jahren der NS-Diktatur konnte er sich verschiedene Verdienstkreuze ans Revers heften. 1934 erhielt er das Ehrenkreuz für Frontkämpfer, 1938 das Goldene Treudienst-Ehrenzeichen, 1942 das Kriegsverdienstkreuz II. Klasse mit Schwertern.2 Aber als eine pure Prämie für überragende Leistungen lediglich auf seinem Fach- und Berufsgebiet hatte Stich all diese Medaillen und Kreuze nicht verstanden. Bis 1945 begriff er seine Tätigkeit keineswegs als unpolitische Profession. Er war nicht nur als Privatperson erfreut über den 30. Januar 1933, ein Datum, das er stets als Jahrhundert- bzw. Jahrtausendereignis feierte.3 Stich ging auf die sechzig Jahre zu, als das NS-Regime sich festsetzte. Er war, wenngleich sein Alter ihm jeden Dispens ermöglicht hätte, von 1939 bis 1945 Dekan der Medizinischen Fakultät. Als solcher räsonierte er in Vorträgen über den Wert von Zwangssterilisationen für die rassische Qualität des deutschen Volkes, stellte »krankes« negativ dem »hochwertigen Erbgut« gegenüber4, huldigte Hitler als »Arzt unseres Volkes […], der es aus schwerster Not und Krankheit der Genesung zuführt«5. Karrieristische Motive trieben ihn allen Anschein nicht primär, berufliche Zwänge nötigten ihn keineswegs dazu, den Nationalsozialisten Girlanden der Lobpreisung zu winden, ihren Organisationen mit Aplomb beizutreten. Das Postulat der Volksgemeinschaft entsprach vielmehr ganz seiner Lebensmaxime – als Arzt. In der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft kam dem Arzt nach der Überzeugung Stichs eine besondere, tragende Funktion und Aufgabe zu. Der »politische Arzt«, wie er selbst diese Rolle definierte, hatte

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Perspektiven — Studie

2  Auskunft Stichs an die SABrigade 57 über Auszeichnungen vom 27. 12. 1943 in seiner SA-Akte, BA Berlin BA SA/4000003676. 3  Vgl. Rudolf Stich, Rede auf der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, dokumentiert in W. Körte u. a. (Hg.), Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie. 59. Tagung, 24. bis 27 April 1935, Berlin 1935 (Archiv für klinische Chirurgie. Kongressorgan der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, Bd. 183), S. 3–9. 4  Rudolf Stich, Der Arzt als Gesundheitserzieher, UAG, Nachlass Stich, Cod. Ms. Stich. 5  Michael Sachs, Prof. Dr. med. Rudolf Stich (1875–1960), in: Hans-Ulrich Steinau u. Hartwig Bauer (Hg.), Deutsche Gesellschaft für Chirurgie 1933–1945. Die Präsidenten, Heidelberg 2011, S. 112 f.

sich um eine gesunde, eine erbbiologisch zukunftsträchtige Volksgemeinschaft zu kümmern, nicht das chronisch, aussichtslos Kranke zu umsorgen. Sozial-, auch rassenhygienische Vorstellungen dieser Art und eugenischer Ehrgeiz verbanden sich trefflich mit der nationalsozialistischen Ideologie. Im Übrigen war Stich stets ein begeisterter Soldat; und über die Affinitäten des Soldaten und des Arztes sann er viel und öffentlich. Den Feldherr im Krieg und den Chef einer chirurgischen Abteilung stellte er auf die gleiche Stufe. Sie – und nur sie allein – durften, mussten in schwierigen Situationen entscheiden, hatten die Verantwortung über Leben und Tod zu tragen.6 An der Front und im Operationssaal konnte man liberale Gepflogenheiten, parlamentarische Usancen, das demokratische Palaver nicht dulden. Für Stich, im Kaiserreich groß geworden und sozialisiert, bildete der militärische Wertekanon, verschärft noch durch die Erfahrungen des Beratenden Chirurgen im Fronteinsatz, die Brücke zum Nationalsozialismus. STICH UND SAUERBRUCH – DEUTSCHE CHIRURGEN DES JAHRGANGS 1875 Vieles davon war schließlich bei seinem Jahrgangsgenossen und berühmten Kollegen in der Chirurgie, Ferdinand Sauerbruch, ebenfalls zu finden. Auch Sauerbruch war ganz in der Mentalität und dem weltpolitischen Großmachtanspruch der Wilhelminischen Ära aufgewachsen, war dann überrascht und schockiert vom Ausgang der Ersten Weltkriegs, verbittert über den Vertrag von Versailles, verunsichert von der Revolution 1918/19, danach ohne großes Vertrauen oder warme Sympathien für die neue Republik. Wie Stich begrüßte auch Sauerbruch gleich nach dem 30. Januar 1933 freudig und öffentlich den Nationalsozialismus, in der Hoffnung, dass dessen jugendliche Dynamik und Willenskraft die alte Herrlichkeit des Deutschen Kaiserreichs wieder herstellen möge. Den Nationalsozialisten war die medizinische Reputation Sauerbruchs, die bekanntlich weit über Deutschland hinausreichte, einiges wert. Sie statteten ihn mit allerlei Preisen und Ehrungen aus. 1934 ernannten sie ihn zum Preußischen Staatsrat, 1937 erhielt er den Deutschen 6  Rezension von Rudolf Stich zu Eugen Bircher, Arzt und Soldat, in: Bruns Beiträge zur klinischen Chirurgie, Nr. 171/1941.

Nationalpreis für Kunst und Wissenschaft, das von Hitler geschaffene Pendant zum ihm verhassten Nobelpreis. 1942 avancierte Sauerbruch zum Generalarzt. Und er war ein Profiteur der nationalsozialistischen Forschungsförderung, nicht zuletzt auf dem Gebiet der genetischen Experimente; er

7 

Zdenek Zofka, Der KZ-Arzt Josef Mengele. Zur Typologie eines NS-Verbrechers, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Bd. 34 (1986), S. 245–267, hier S. 258.

bewilligte selbst Projekte, die die schaurigen Versuche von Josef Mengele in Auschwitz finanzierten.7 »Im Namen der Wissenschaft und mit Hilfe der DFG sind in diesen Projekten Menschen zu reinem Versuchsmaterial degra-

diert, gequält, ihrer Würde, ihrer Gesundheit und immer wieder auch ihres Franz Walter  —  Schweigen der Honoratioren

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Lebens beraubt worden. Zwar wurde dies in den Anträgen nicht offengelegt, dennoch muß unverständlich bleiben, daß ein renommierter und erfahrener Wissenschaftler (wie Ferdinand Sauerbruch), der seinerzeit Leiter der Fachsparte Medizin in der DFG war, solche Vorhaben passieren ließ, ohne auch nur ein einziges Zeichen eines Zweifels zu hinterlassen.«8 Allerdings wandte sich Sauerbruch gegen die Durchführung der sogenannten »Gnadentötung an unheilbar kranken Personen«, die berüchtigte »Aktion T 4«; dies soll auch seinen Abstand zum Nationalsozialismus eingeleitet haben.9 In der Agonie des Nationalsozialismus hielt Sauerbruch, ohne allerdings zu resistenten oder gar widerständigen Aktivitäten irgendwelcher Art überzugehen, stärker Kontakt mit nationalkonservativen Gegnern Hitlers.10 Dagegen hielt Stichs Glauben an den »Führer« ungebrochen bis in den Mai 1945. Stich war nicht einfach ein Mitmacher, der sich den Bedingungen fatalistisch fügte. Er engagierte sich politisch aus freien Stücken, was seines Alters wegen von ihm nicht eigentlich erwartet wurde; Passivität wäre nicht mit existenzbedrohenden Sanktionen begegnet worden. In der Lokalgesellschaft der Göttinger Universitätsstadt erkoren ihn die Nationalsozialisten zum Vorbild aus der Generation der »Altakademiker«, von denen in den Augen der Nazis viele den »nationalen Aufbruch« und die Geburt eines »neuen Deutschlands« nicht verstanden. Stich indes hob sich davon ab, wie die NS-Organisationen in ihren Berichten häufig lobend festhielten: Der Chirurg zeigte besonderen Eifer für die nationalsozialistische Sache.11 Selbst mit 69 Jahren, unmittelbar vor Kriegsende, beteiligte sich der Arzt noch an Schießübungen

8  Rede des DFG-Präsidenten Prof. Ernst-Ludwig Winnacker anlässlich der Einweihung des Mahnmals zur Erinnerung an die Opfer nationalsozialistischer Euthanasieverbrechen in Berlin-Buch am 14. Oktober 2000, online einsehbar unter http://www.dfg.de/download/pdf/ dfg_im_profil/reden_stellungnahmen/2000/rede_win_einweihung_mahnmal_2000_10_14. pdf [eingesehen am 28. 03. 2014]. 9  Wolfgang Paul Strassman, Die Strassmanns: Schicksale einer deutsch-jüdischen Familie über zwei Jahrhunderte, Frankfurt a. M. 2006, S. 27.

seiner SA-Formation. Gewiss, Stich gehörte nicht jener berüchtigten »Generation des Unbedingten« an, die Michael Wildt am Beispiel des Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes charakterisiert und zuerst in den Geburtsjahrgängen 1902 bis 1912 verortet hatte.12 Stich, 1875 geboren, war vielmehr in einer »generell ruhigen Zwischengeneration«13, ohne prägende Nietzsche-Lektüre und

10  Jörg Hauptmann, Ferdinand Sauerbruch und das Dritte Reich. Plädoyer für eine differenzierte Betrachtung, online einsehbar unter http://www. maik-foerster.de/pdf/joerghauptmann-sauerbruch_dossier.pdf [eingesehen am 28. 03. 2014].

jugendbewegte Aufbrüche, aufgewachsen. In der Tat: Die sozialen Blockierungserfahrungen und auch die durch die fortwährenden Gewalterlebnisse seit 1914 freigesetzten Enthemmungen im Austrag politischer Konflikte auf Seiten der »verlorenen« oder »überflüssigen Generation« unterschieden sich kräftig vom ruhigen, kontinuierlichen und kalkulierbaren Lebensweg Stichs. Eine vergleichbare Radikalität nationalsozialistischen Denkens und Handelns ist bei ihm zwischen 1933 und 1945

11  Personal-Antrag auf Beförderung zum Sanitäts-Obersturmführer in der SA-Brigade 57 vom 15. 12. 1938, BA Berlin. 12  Vgl. Michael Wildt, Generation des Unbedingten. Das Führungskorps des Reichssicherheitshauptamtes, Hamburg 2003.

fraglos nicht zu finden. Vorangegangene humanistische, auch liberale, im Laufe der 1920er Jahre stärker konservative Prägungen und Einstellungsmuster wirkten, neben dem die Agilität politischer Radikalität beschränkenden

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13  Hans-Peter Schwarz, Adenauer. Der Aufstieg: 1876–1952, Stuttgart 1986, S. 91.

höheren Alter, hemmend und dämpfend auf die Versuchungen des radikalfaschistischen Unbedingtseins. Gleichwohl, Stich ging sehr viel weiter als seine Altersgenossen bürgerlicher Herkunft mit ihrer verbreiteten Distanz zur Demokratie und Moderne. Er blieb nicht beim Konservatismus oder bei obrigkeitsstaatlichen Sentimentalitäten stehen, kultivierte auch nicht die Attitüde, zwar durchaus wohlwollend, doch dabei leicht reserviert auf die neuen Kräfte der »nationalen Erhebung« zu schauen und sich zuweilen, gleichsam entre nous, über die Parvenüs ein wenig zu mokieren. Stich rechnete auch nicht in erster Linie mit zusätzlichen Karrierechancen durch Adaption an das NS-System. Er ging in die SA, in die SS, dann in die NSDAP, weil er von deren Dynamik, deren eisernem Willen und der biologistisch-völkischen Zielsetzung in wesentlichen Teilen fasziniert war, sie als beeindruckend konsequente Fortführung vaterländisch-militärischen Verhaltens in der Politik sah und bewunderte. Auch in der privaten Korrespondenz mit Freunden, denen er vertraute, bezeichnete sich Stich stolz als Nationalsozialist »des Herzens«14. Und sein wohl engster Freund wie Schüler, der erste Nachkriegsrektor der Universität Heidelberg, Karl Heinrich Bauer, schrieb wenige Tage nach Kriegsende bekümmert, dass sich Stich »bis zum letzten Augenblick« für Hitler »exponiert« habe, sich bedauerlicherweise in all den Jahren auch von getreuen Kameraden und Zöglingen »nicht belehren lassen wollte«15. Stich also zählte zumindest zu den Funktionsträgern der alten bürgerlichen oder adligen Eliten oft 14 

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Brief von Stich an Bauer vom 28. 09. 1935, Universitätsarchiv Heidelberg, NL Bauer, Ordner XV Spezialakten, 4. Schriftwechsel, Stich, Rudolf, Göttingen. Brief von Bauer an Thea Tschakert, 15. 5. 1945, Universitätsarchiv Heidelberg, NL Bauer, Korrespondenz.

konservativ-deutschnationaler Provenienz, die durch ihre Fertigkeiten und Kompetenzen zum Effizienzerhalt, mehr noch: zur Effizienzsteigerung der nationalsozialistischen Gesellschaft konstitutiv beigetragen, durch Konsens und Akklamation die Loyalität zur modernen, auf plebiszitäre Legitimation angewiesenen Mobilisierungsdiktatur gestützt und abgesichert hatten. Aber Stichs Leben zwischen 1933 und 1945 beschränkte sich nicht auf Gehorsam, Gefolgschaft, Integration und Anpassung. Er ertrug das nationalsozialistische System nicht duldend, er legte sich ins Zeug für den Erfolg des Regimes, lobte den inneren Kern der Ideologie, verknüpfte die völkische Doktrin mit der Rä-

16 

Stich an Theodor Lochte, 1944, SUB Handschriftenabteilung Cod.Ms. Stich, 16, Worte zum 80. Geburtstag.

17  Isabel Heinemann u. Patrick Wagner, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Wissenschaft – Planung – Vertreibung: Neuordnungskonzepte und Umsiedlungspolitik im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2006, S. 7–21, hier S. 9.

son des Ärztestandes, setzte noch Anfang 1945 alle Erwartungen trotzig auf den »Endsieg«.16 Damit stand er nicht allein, da »die ›Selbstmobilisierung‹ für die Interessen des Regimes das dominante Verhaltensmuster deutscher Wissenschaftler während des Nationalsozialismus darstellte.«17 Natürlich wird Stich bei alledem ein großartiger Operateur gewesen sein, ein offenkundig begeisternder Lehrer der Medizin, wohl auch ein fürsorglicher Arzt, sorgender Vater und verlässlicher Freund. Stich war nicht nur ein gefragter Chirurg, der als Mit-Erfinder der Gefäßnaht galt, für deren zeitgleiche Franz Walter  —  Schweigen der Honoratioren

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Entwicklung der Franzose Alexis Carrel 1912 den Nobelpreis für Physiologie und Medizin erhielt, sondern ebenso Teil der Honoratiorenschaft, ein Bürger, der in der Öffentlichkeit in Erscheinung trat und Einfluss nahm. Göttingen war eine übersichtliche Stadt, auch die Göttinger Universität erschien bis in die 1950er Jahre als eine überschaubare Institution, die mit dem heutigen Massenbetrieb nicht vergleichbar ist. Rudolf Stich war in diesem Mikrokosmos nicht nur eine Schlüsselfigur der Medizinischen Fakultät, er war kontinuierlich in die Verwaltungsarbeit der Universität und in die politischen Angelegenheiten der Stadt eingebunden. So fungierte er als Mitglied im Verwaltungsrat des Universitätsbundes, ließ sich gelegentlich in Ratssitzungen

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sehen. Gleichzeitig bildete sein Haus einen gesellig-kulturellen Treffpunkt der bürgerlichen Gesellschaft Göttingens; nicht nur die unmittelbaren Kollegen und Assistenten weilten hier, sondern auch Künstler und Vertreter der Geisteswissenschaften, die großzügig bewirtet wurden. PERSILSCHEINE FÜR DIE RASSENHYGIENIKER Aber eine Gedenktafel allein mit seinem Namen an der Frontseite eines »Instituts für Demokratieforschung«? Die politischen Normen, von denen Stich sich leiten ließ und die mit seinem Namen auch künftig verbunden bleiben, sind natürlich nicht geeignet, als Vorbild für Stadt, Universität, Institut, gar die Demokratie prominent herausgestellt zu werden. Insofern war es nicht ohne Sinn, die Plakette zum Lobe des Rudolf Stich am Haus in der Weender Landstraße 14 zügig zu entfernen. Aber war und ist damit das Problem gelöst? Historisch lernende Reflexionen, auf die es in solchen Fällen ankommt, können so unterbleiben, gewissermaßen gleich mit entsorgt worden.18 Liegt aber darin nicht das eigentliche, genuine Problem? Warum hat es in Göttingen – und man wird etliche Beispiele gerade in der Medizin gleichermaßen 18  Zu diesem Komplex vgl. sehr differenziert Hans-Ulrich Thamer, Straßennamen in der öffentlichen Diskussion: Der Fall Hindenburg, in: Matthias Freese (Hg.), Fragwürdige Ehrungen!? Straßennamen als Instrument von Geschichtspolitik und Erinnerungskultur, Münster 2012, S. 251–260. 19 

Wolfgang Schieder, Spitzenforschung und Politik. Adolf Butenandt in der Weimarer Republik und im »Dritten Reich«, in: Ders. u. Achim Trunk (Hg.), Adolf Butenandt und die KaiserWilhelm-Gesellschaft. Wissen­ schaft, Industrie und Politik im »Dritten Reich«, Göttingen 2004, S. 23–77, hier S. 66 f.

20  Sheila Faith Weiss, Humangenetik und Politik als wechselseitige Ressourcen. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik im »Dritten Reich« (Forschungsprogramm »Geschichte der Kaiser-WilhelmGesellschaft im Nationalsozialismus«, Bd. 17, Max-PlanckGesellschaft) Berlin 2004, S. 39.

in anderen Universitäten finden, immer noch – bis dahin nie eine öffentliche Debatte über die Rolle Stichs im Nationalsozialismus gegeben? Auch im Falle des Chirurgen-Stars Sauerbruch blieb dergleichen lange aus. Markant war andernorts besonders die Karriere des Rassenhygienikers Otmar von Verschuer. Als einer der Direktoren in der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und gefördert durch Geld von der DFG hatte dieser gemeinsam mit seinem erklärten Lieblingsschüler und dem »wohl skrupellosesten Naturwissenschaftler des ›Dritten Reiches‹«19 Josef Mengele – dessen Dokotorvater er zudem war – zwischen Berlin und Auschwitz die mörderischen Zwillingsforschungen betrieben. Diese Vergangenheit schadete von Verschuer und seiner unzweifelhaft großen Reputation als »weltweit anerkannte Kapazität«20 nach 1945 keineswegs. Aus dem Rassehygieniker, der zwischen 1942 und 1945 im Teufelspakt zwischen Biomedizin und Nationalsozialismus begierig die Möglichkeiten ergriff, über die Konzentrations- und Vernichtungslager des Regimes an »Menschenmaterial« für die genetische Forschung heranzukommen und es ohne die zu anderen Zeiten geltenden moralischen oder rechtlichen Begrenzungen nutzen zu können, wurde ein Humangenetiker, der eine Professur an der Universität in Münster bekleidete, dort auch als Dekan fungierte und sich neben der Förderung zur Strahlengenetik durch das Bundesdeutsche Ministerium für Atomfragen weiterhin der großzügigen Zuwendungen der Deutschen Forschungsgemeinschaft erfreute, wie dessen Präsident ein gutes halbes Jahrhundert nach den Verbrechen der Medizin selbstkritisch Franz Walter  —  Schweigen der Honoratioren

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festhielt: »Die DFG hat genau diesen Otmar von Verschuer bis weit in die 1960er Jahre gefördert, als einen national und international hoch angesehenen Wissenschaftler. Bereits auf den ersten Blick ist aus der Akte zu erkennen, daß er für genau dasselbe Thema gefördert wurde, für das er auch 25 Jahre zuvor unterstützt wurde: nämlich Zwillingsforschung. Und niemand hat in den Nachkriegsjahren daran Anstoß genommen.«21 Dass man sich »von ihm weder als Person je distanziert, noch seine in der Rassenforschung basierten Axiome und Fragestellungen je einer (selbst-)kritischen Reflexion unterzog«22, hatte er wesentlich einem (keineswegs uneigennützigen) Persilschein-Gutachten u. a. seines Freundes und Kollegen Adolf Butenandt, von 1924–1933 Student, Doktorand und Privatdozent am Chemischen Institut der Universität Göttingen, Nobelpreisträger, von 1960 bis 1972 Präsident der Max-PlanckGesellschaft, zu verdanken.23 Und Rudolf Stich? Selbst in der privaten Korrespondenz zwischen den Schülern, die ja nach 1945 eine positive Erinnerungskultur für ihren früheren Chef und Meister bemerkenswert umsichtig und zielstrebig kreiert und

21  Rede Winnacker.

reproduziert hatten, finden sich nicht einmal Andeutungen von nachdenklichen Erwägungen über die Einlassungen Stichs nach 1933. Wie konnte der Mantel des Schweigens über diese düsteren Schatten in der Biografie Stichs so widerspruchslos in der Universitätsstadt, im Milieu der geistigen Eliten gespannt werden, dass all die ehrenden Preise in den 1950er Jahren in ungestörter Harmonie übergeben wurden? Und mindestens ebenso verwunderlich ist, wie bar aller Kritik im Jahr 1985 in einem feierlichen Akt die städtische Gedenktafel an Stichs früherem Wohnhaus angebracht wurde. Immerhin hielt im selben Jahr der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker am 8. Mai zum »40. Geburtstag der Beendigung des Krieges in Europa und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft« seine damals und noch viele Jahre später weithin gerühmte Rede vor dem Bundestag. Darin führte er aus: »Jeder Deutsche konnte miterleben, was jüdische Mitbürger erleiden mußten, von kalter Gleichgültigkeit über versteckte Intoleranz bis zu offenem Haß. Wer konnte arglos bleiben nach den Bränden der Synagogen, den Plünderungen, der Stigmatisierung mit dem Judenstern, dem Rechtsentzug, den unaufhörlichen Schändungen der menschlichen Würde? Wer seine Ohren und Augen aufmachte, wer sich informieren wollte, dem konnte nicht entgehen, daß Deportationszüge rollten. Die Phantasie der Menschen mochte für Art und Ausmaß der Vernichtung nicht ausreichen. Aber in Wirklichkeit trat zu den Verbrechen selbst der Versuch allzu vieler, auch in meiner Generation, die wir jung und an der Planung und Ausführung der Ereignisse unbeteiligt waren, nicht zur Kenntnis zu nehmen, was geschah.«24 Weizsäcker mahnte

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22  Carola Sachse, Adolf Butenandt und Otmar von Verschuer. Eine Freundschaft unter Wissenschaftlern, in: Wolfgang Schieder u. Achim Trunk (Hg.), Adolf Butenandt und die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Wissenschaft, Industrie und Politik im »Dritten Reich«, Göttingen 2004, S. 286–319, hier S. 315. 23  Norbert N. Proctor, Adolf Butenandt (1903–1995), Nobelpreisträger, Nationalsozialist und MPG-Präsident: ein erster Blick in den Nachlass, Ergebnisse 2, Max-Planck-Gesellschaft, Berlin 2000, S. 28; Sachse, Butenandt, S. 307–318. 24  Richard von Weizsäcker, Rede zum 40. Jahrestag der Beendigung des Krieges in Europa und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft am 8. Mai 1985 in der Gedenkstunde im Plenarsaal des Deutschen Bundestages, online einsehbar unter http://www.hdg.de/lemo/ html/dokumente/NeueHerausforderungen_redeVollstaendigRichardVonWeizsaecker8Mai1985/ [eingesehen am 28. 03. 2014].

die Deutschen, endlich Maßstäbe für die Beurteilung dieser Vergangenheit zu finden: »Schonung unserer Gefühle durch uns selbst oder durch andere hilft nicht weiter. Wir brauchen und wir haben die Kraft, der Wahrheit, so gut wir es können, ins Auge zu sehen, ohne Beschönigung und ohne Einseitig25  Ebd. 26  Brief vom Ministerial­ direktor a. D. Dr. Helmut Bojunga an den Oberpräsidenten in Hannover, 16. Juli 1945, UAG, Kur. PA Stich, Bl. 206.

keit.«25 Nichts davon war in Göttingen gut zwei Monate nach dieser Rede zu erleben, als am 19. Juli 1985 die geladenen Gäste aus Wissenschaft, Politik und Familienkreis der Laudatio auf Stich und der Enthüllung der ihn ehrenden Plakette akklamierten. BARBAREIEN DER LEITWISSENSCHAFTEN

27  Beurteilung der SA-Sanitätsführer vom 15. Dezember 1938, zit. n. Sebastian Stoeve, Rudolf Stich, Göttinger Chirurg von 1911 bis 1945, Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Medizinischen Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen, Göttingen 2001, S. 21. 28  Rudolf Stich, Eröffnungsansprache und Geschäftsbericht des Vorsitzenden, in: Verhandlungen der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, 61. Tagung, 31. März bis 3. April 1937, Berlin 1937, S. 1–13, hier S. 11.

Schaut man sich das Personal der Medizinischen Fakultät von der Weimarer Republik bis in die frühe Bundesrepublik an, so entdeckt man erstaunliche Personalkontinuitäten: Georg Benno Gruber, Pathologieprofessor in Göttingen seit 1928, 1946 emeritiert auf eigenen Wunsch, Hermann Rein, seit 1932 Professor für Physiologie und von 1946 bis 1948 Rektor der Universität, oder Gottfried Ewald, von 1934 bis 1954 Direktor der Universitätsnervenklinik – um nur einige zu nennen. Sie alle besaßen vermutlich wenig Interesse daran, dass Stich im Gedächtnis blieb als jemand, der sich »über die bloße Parteizugehörigkeit hinaus all die Jahre hindurch zur Partei bekannt«26 hat, als »einwandfreier Nationalsozialist von gerader Haltung«27, als Mediziner, den die Gedanken der genetischen Auslese faszinierten, als Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, der

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Vgl. zu den Umständen Anikó Szabó, Vertreibung, Rückkehr, Wiedergutmachung, Göttinger Hochschullehrer im Schatten des Nationalsozialismus, Göttingen 2000, S. 191. 30  Hierzu und im folgenden Heiner Fangerau, Etablierung eines rassenhygienischen Standardwerkes 1921–1941. Der BaurFischer-Lenz im Spiegel der zeitgenössischen Rezensionsliteratur, Marburger Schriften zur Medizingeschichte, Bd. 43 (2001), online einsehbar unter http://www-brs. ub.ruhr-uni-bochum.de/netahtml/ HSS/Diss/FangerauHeiner/diss. pdf [eingesehen am 15. 05. 2014]; Ders. u. Irmgard Müller, Das Standardwerk der Rassen­ hygiene von Erwin Baur, Eugen Fischer und Fritz Lenz im Urteil der Psychiatrie und Neurologie 1921–1940, in: Der Nervenarzt, Jg. 73 (2002) H.11, S. 1039–1046.

forderte, »[…] rücksichtslos durchzugreifen, wenn vererbte schwere körperliche Fehler geeignet sind, ganze Familien ins Verderben zu stürzen«28. Zusätzlich zeigte die Medizinische Fakultät der Universität Göttingen nach 1945 robuste Konstanzen im Denken und Handeln, als sie beispielsweise den Rasseforscher Fritz Lenz auf einen Lehrstuhl setzte.29 Lenz hatte eine eindeutige akademische Karriere als Protagonist der Rassenlehre hinter sich.30 1919 hatte er seine »Erfahrungen über Erblichkeit und Entartung« zunächst lediglich am Beispiel von Schmetterlingen summiert, um damit erfolgreich zu habilitieren. Drei Jahre später wurde er Mitherausgeber des schon zuvor von ihm redaktionell geleiteten Archivs für Rassen- und Gesellschaftsbiologie. Dazwischen, im Jahr 1921, erschien sein zusammen mit Eugen Fischer und Erwin Baur verfasstes Buch »Grundriss der menschlichen Erblichkeitslehre und Rassenhygiene«, fortan als »Standardwerk«, ja: als die »Charta« der Rassenhygiene schlechthin gepriesen, welche den in der Landsberger Festung einsitzenden Adolf Hitler bei der Niederschrift von »Mein Kampf« sehr beeinflusst haben soll, wie Lenz selbst in einer Besprechung des Buchs 1931 hervorhob. Überhaupt habe Hitler – dem Lenz Franz Walter  —  Schweigen der Honoratioren

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den Mut attestierte, »auch unpopuläre Wahrheiten auszusprechen«, da er vor einer aus Frankreich drohenden »Vernegerung« Europas warnte – »die wesentlichen Gedanken der Rassenhygiene und ihre Bedeutung mit großer Empfänglichkeit und Energie sich zu eigen gemacht«31. 1923 gelangte Lenz, an der Universität München, als außerordentlicher Professor auf den

31  Fritz Lenz, Die Stellung des Nationalsozialismus zur Rassenhygiene, in: Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie, Jg. 25 (1931), S. 300–308.

ersten Lehrstuhl für Rassenhygiene in Deutschland überhaupt. Da Sujet und Schriften von Lenz als Speerspitze des wissenschaftlichen Fortschritts galten, avancierte er 1927 zum Abteilungsleiter der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, der Vorläuferin der heutigen Max-Planck-Gesellschaft also, für »Anthropologie, Menschliche Erblichkeitslehre und Eugenik« in Dahlem. In diesen Jahren erregte er überdies als furioser Antifeminist Aufsehen, da er die »Damen von der Emanzipation«, deren Sinn nach Berufstätigkeit stand, als elementare Gefahr für die Substanz der »nordischen Rasse«, die er als die »männlichste Rasse auf Erden« pries, geißelte.32 Für die faschistische Staatsidee zeigte Lenz bereits vor 1933 viel Sympathie, da er hier ein adäquates Gehäuse für eine weitere Realisierung seiner rassenhygienischen Expertise und Ambitionen sah. Und als Experte stellte er sich auch den Nationalsozialisten an der Macht trotz eines für ihn charakteristischen Eigensinns weithin zur Verfügung. Lenz war, so der Bielefelder Historiker Hans-Walter Schmuhl, »für nationalsozialistische Gesundheits- und Sozialpolitiker der interessanteste Kooperationspartner im Lager der Rassenhygieniker«.33 Er wirkte im Sachverständigenausschuss für Bevölkerungs- und Rassenpolitik mit, der im Sommer 1933 am Gesetzeswerk zur »Verhütung erbkranken Nachwuchses« beteiligt war. 1940 war er in die Diskussionen dort um ein »Gesetz zur Sterbehilfe bei Leistungsunfähigen und Gemeinschaftsfremden« und zur Entwicklung des »Generalplan-Ost« involviert.34 Überhaupt reklamierte Lenz eifrig für sich, »zur Vorbereitung an der nationalsozialistischen Weltanschauung« einen erheblichen Beitrag geleistet zu haben.35 Die Machtverhältnisse unter dem neuen Regime ebneten ihm dann auch im November 1933 den Weg als Ordinarius an der Berliner Universität, wie dieses Jahr insgesamt natürlich einen »entscheidenden Durchbruch markierte, denn Rassenhygiene und Rassenanthropologie rückten nun schlagartig ins Zentrum staatlicher Aufmerksamkeit und Förderung.«36 Nach dem nationalsozialistischen Bankrott und dem grauenvollen Genozid bemühte sich die Universität Göttingen zeitgleich mit der Universität Münster gleichwohl um diese »Schlüsselgestalt für die Herausbildung einer

32  Helga Satzinger, Rasse, Gene und Geschlecht. Zur Konstituierung zentraler biologischer Begriffe bei Richard Goldschmidt und Fritz Lenz, 1916–1936, Vorabdruck aus dem Forschungsprogramm »Geschichte der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus«, hg. v. Carola Sachse im Auftrag der Präsidentenkommission der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e. V., Berlin 2004, S. 21. 33  Hans-Walter Schmuhl, Grenzüberschreitungen. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik 1927–1945 (Reihe »Geschichte der KaiserWilhelm-Gesellschaft im Nationalsozialismus«, Bd. 9) Göttingen 2005, S. 200 f. Allerdings betont Schmuhl auch, dass Lenz den Nationalsozialisten in vielen Fragen durchaus querdenkerisch entgegentrat, ebd., S. 201. 34  Sabine Schleiermacher, Rassenhygiene und Rassenanthropologie an der Universität Berlin, in: Christoph Jahr (Hg.), Die Berliner Universität in der NS-Zeit. Bd. I: Strukturen und Personen, Wiesbaden 2005, S. 71–88, hier S. 83. 35  Bernhard von Brocke, Bevölkerungswissenschaft im nationalsozialistischen Deutschland, in: Demographie – Demokratie – Geschichte. Deutschland und Israel. Tel Aviver Jahrbuch für Geschichte 2007, Göttingen 2007, S. 145–163, hier S. 148.

nationalsozialistischen Rassehygiene«37. Im Frühjahr 1946 stattete die Uni ihn mit einer außerordentlichen Professur, dann ab 1952 mit einer ordentlichen Professur für menschliche Erblehre aus. Wie 1923, als Lenz den ersten

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36  Christoph Jahr, Einleitung, in: vom Bruch u. a., Die Berliner Universität, S. 9–16, hier S. 11.

37  Hans-Christian Harten u. a., Rassenhygiene als Erziehungsideologie des Dritten Reichs: Bio-bibliographisches Handbuch, Berlin 2006, S. 8.

Lehrstuhl für Rassenhygiene erhielt, so war er nun wieder zunächst der erste und einzige Ordinarius für Menschliche Erblehre in Nachkriegsdeutschland, bis dann 1951 Otmar Freiherr von Verschuer in Münster den Reigen fortsetzte.38 Als Lenz 1976 starb – auf seinen Lehrstuhl war ihm 1957 sein früherer Schüler und Assistent der Jahre 1936–1938 am Kaiser-Wilhelm-Institut Peter Emil Becker, ebenfalls Mitglied in SA und NSDAP, gefolgt39 –, sandte die Georgia Augusta einen ehrenden Nachruf »auf den gütigen und vorbildlichen Lehrer«, den Pionier der »Humangenetik an den deutschen Universitäten«, der einer »Bewertung von ›Rassen‹ niemals zugestimmt« habe.40 Dabei hatte Lenz schon 1921 argumentiert, wie der Potsdamer Professor Hans-Christian Harten u.a darlegten, »dass das nordische Blut stärker in den höheren Ständen und in deutschen Professoren fließe, nordische Typen aber in geringerem Maße an Verbrechen beteiligt seien etc. Lenz glaubte, Begabungsunterschiede zwischen Rassen in Europa ausgemacht zu haben, nach denen die durchschnittliche Begabung aufgrund des höheren Anteils der nordischen Rasse in Nordwesteuropa am höchsten ausgeprägt sei, während sie in Süd- und Osteuropa am geringsten ausfalle.«41 Doch auch die Söhne

38  Vgl. Peter Emil Becker, Zur Geschichte der Rassenhygiene. Wege ins Dritte Reich, Stuttgart 1988.

des Verstorbenen mochten ihren Vater, wie einer von ihnen in einer Gedenkrede zu dessen 100. Geburtstag deutlich machte, nicht posthum dem Säurebad der biografischen Vergangenheitskritik aussetzen: »Fritz Lenz, unser Vater, Großvater usw. hat kein leichtes Leben gehabt; es hat zwei Weltkriege

39  Becker selbst hatte die Mitgliedschaft in der NSDAP geleugnet, dazu nun Frank Hill, Dr. Peter Emil Becker and the Third Reich, in: American Journal of Medical Genetics. Part A, H. 8/2013, S. 1983 f.; Lawrence A. Zeidman u. Daniel Kondziella, Peter Becker and His Nazi Past: The Man Behind Becker Muscular Dystrophy and Becker Myotonia, in: Journal of Child Neurology, Jg. 29 (2014) H. 4, S. 514–519. 40  Dokumentiert in Hanfried Lenz, Mehr Glück als Verstand: Erinnerungen, Norderstedt 2002, S. 128–130. 41  Ebd., S. 7. 42  In: Lenz, S. 225. 43  Gerhard Maunz, Selbstverständlich ohne uns zu erregen, in: Der Spiegel, 19. 08. 1968.

und die schwierigen Nachkriegs- und Zwischenkriegszeiten umspannt. Bei dieser Perspektive fällt einem das moderne Schlagwort von der Vergangenheitsbewältigung ein. Dabei handelt es sich, so weit ich sehe, oft um das Heraussuchen verdammenswerter Äußerungen oder Entscheidungen, die als Grundlage einer moralischen Verurteilung dienen. Vor dieser düsteren Folie hebt sich die eigene Vortrefflichkeit wirkungsvoll und strahlend ab. Auf solche pharisäische Weise wollen wir unseren Vater nicht bewältigen.«42 Der Sohn Widukind, der so sprach, hatte übrigens die Nachfolge des Zwillingsforschers Otmar von Verschuer nach dessen Emeritierung am Genetischen Institut der Universität Münster angetreten. Verdienstvollerweise hatte Widukind Lenz indessen als erster Wissenschaftler überhaupt in den frühen 1960er Jahren den Verdacht geäußert (und damit Recht behalten), dass das thalidomidhaltige Schlaf-und Beruhigungsmittel Contergan für Missbildungen bei Kindern verantwortlich war, weshalb ihn der Spiegel anerkennend als »Ritter ohne Furcht« bezeichnete.43 Dennoch und zusammen: Ein Gegenstand kritischer Erörterung war das lange Schweigen der Honoratioren, der Universität und der Stadt nicht oder Franz Walter  —  Schweigen der Honoratioren

117

kaum. Und so dürfte es hier wie andernorts bleiben, wenn man sich damit allein zufrieden gäbe, Gedenktafeln zügig zu entfernen, um das Unangenehme dem Blickfeld zu entziehen, zu vergessen, gleichsam abzuhaken. Dabei gibt es, eigentlich überraschend, noch eine Fülle aufzuarbeiten, fast siebzig Jahre nach Ende der nationalsozialistischen Exzesse, an denen deutsche Bildungsbürger – wie eben Rudolf Stich – mit Eifer und voller wissenschaftlicher Überzeugung mitgewirkt hatten. Gerade in der Medizin waren moderne, ehrgeizige, heute würde man sagen »exzellente« Forschungsaspirationen anschlussfähig an den Nationalsozialismus in seinem radikalsten Stadium.44 Die »Leitwissenschaften«45 Eugenik und Rassenhygiene stießen ebenfalls in der »internationalen Wissenschaftlergemeinschaft«46eine beträchtliche Zeitspanne lang auf Resonanz und bemerkenswerte Zustimmung. Militarisierung und Forcierung der Rüstungsproduktion weckten in den Katastrophenjahren des 20. Jahrhunderts an Universitäten und Stätten der Spitzenforschung verlässlich Begehrlichkeiten, um durch geschmeidige Anpassung der wissenschaftlichen Projekte an den neuen Bedarf der Aufrüstung massiv neue Ressourcen und Fördermittel zu akquirieren. In solchen historischen Situationen des »Ausnahmezustandes«, des Kampfes des Guten gegen das Böse, der Wachsamkeit gegenüber dem »Feind«, scheinen auch große Teile der Wissenschaft bereit, die ethischen Grenzen ihres Tuns abzureißen.47 Der »Ausnahmezustand« bietet derart viel (Menschen-)»Material« und Möglichkeiten für das forschende Experiment, die auszuschlagen gerade ehrgeizigen, ganz der »Sache« und der »Problemlösung« verschriebenen Wissenschaftlern offenkundig schwer fallen. Aus sich heraus kennt der Drang der Wissenschaft keine Grenzen, zugespitzt: keine Moral, kein Mitleid, keine Nachsicht. Auch das sollte man nicht beschweigen und durch den Kult von »Bildungsbürgerlichkeit«, »Eliten« und »Exzellenzen« vernebeln.

Prof. Dr. Franz Walter, geb. 1956, ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Göttingen.

118

Perspektiven — Studie

44  Indes: Die gebieterische Phrase vom »neuesten Stand der Wissenschaft« lässt auch heute noch die community stramm stehen. Es hat schon Gründe, dass gerade totalitäre Systeme ihre Ideologien gerne als pure Wissenschaft ausgeben. Denn Wissenschaft beansprucht Wahrheit. Und wer sich der Ideologie widersetzt, stellt sich gegen die Wissenschaft, verleugnet, was wahr ist – und entpuppt sich so als Schädling, den es zu bekämpfen und »auszumerzen« gilt. 45  Jürgen Simon, Kriminalbiologie und Zwangssterilisation. Eugenischer Rassismus 1930–1945, Münster 2001, S. 33; Stefanie Westermann u. a., Medizin im Dienst der »Erbgesundheit«. Einleitende Bemerkungen, in: Dies. (Hg.), Medizin im Dienst der »Erbgesundheit«: Beiträge zur Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene, Berlin 2009, S. 15–22, hier S. 18. 46  Stefan Kühl, Die soziale Konstruktion von Wissenschaftlichkeit und Unwissenschaftlichkeit in der internationalen eugenischen Bewegung, in: Heidrun Kaupen-Haas u. Christian Saller (Hg.), Wissenschaftlicher Rassismus: Analysen einer Kontinuität in den Human- und Naturwissenschaften, Frankfurt a. M. 1999, S. 111–121, hier S. 112 f. 47  Hierzu auch Michael ­Grüttner u. Rüdiger Hachtmann, Wissenschaften und Wissenschaftler unter dem National­ sozialismus, in: Michael Grüttner u. a. (Hg.), Gebrochene Wissenschaftskulturen. Universität und Politik im 20. Jahrhundert, Göttingen 2010, S. 143–147, hier S. 146.

KONTROVERSE

THEODOR ESCHENBURG UND DIE DEUTSCHE VERGANGENHEIT DIE HALBEN ZITATE DER TOTEN ΞΞ Susanne Eschenburg

Theodor Eschenburg war mein Vater. Mein gan-

über sinnentstellende Wiedergabe und die Ver-

zes erwachsenes Leben lang hielt ich mich aus

nachlässigung des Kontextes. Ich empfand das als

gutem Grund aus seinem öffentlichen Leben fern.

langweilig und ohne jede Relevanz für den Rest

Unsere Beziehung war privater Natur, wenn auch

meines Lebens. Gesicht und Namen dieses ver-

nicht unpolitisch. Unzählige Male aß ich mit ihm

dienstvollen Dozenten habe ich längst vergessen.

zu Mittag oder zu Abend, lange über die Mahl-

Umso erstaunter war ich, dass mir seine Lehren

zeit hinaus debattierend, oft streitend und selten

wieder in Erinnerung kamen, als ich die Aufsätze

einer Meinung. So viel Nähe macht in die eine oder

über meinen Vater las.

andere Richtung befangen. Nach der Verleihung bei der ich selber nicht anwesend war, wohl aber

HANNAH ARENDT UND DIE INNERE EMIGRATION

meine beiden als Ehrengäste geladenen Schwes-

Hannah Arendt besuchte in den 1950er Jahren

tern, hatte ich jedoch zum ersten Mal das Gefühl,

Theodor Eschenburg in Tübingen. Sie debattierte

ich müsste mich vor meinen längst verstorbenen

und rauchte mit ihm zusammen einen Abend lang

Vater stellen, weil er, der immer so streitbar und

im Politischen Seminar vor faszinierten Studenten

argumentationsstark war, sich nicht mehr selbst zur

und Studentinnen. So erinnerte sich noch Jahr-

Wehr setzen kann. Inzwischen sind viele, viele Ver-

zehnte später Sibylle Krause-Burger.1 Offenbar

öffentlichungen in jede Richtung erschienen. Das

hatte Arendt keine Berührungsängste, gemein-

des Theodor-Eschenburg-Preises an Claus Offe,

Meiste ist inzwischen erörtert. Doch ich empfinde

sam mit Theodor Eschenburg aufzutreten, mit

es als Ärgernis, in welcher Weise prominente, aber

ihm, der kein Widerstandskämpfer war, den man

längst verstorbene Autoren zitiert werden. Dazu ei-

nach ihren Kriterien auch nicht als Inneren Emig-

nige Bemerkungen.

ranten bezeichnen konnte. Mehr als fünfzig Jahre später wird nun Theodor Eschenburg wegen sei-

VORBEMERKUNG

ner Tätigkeit als Verbandsfunktionär für die Kurz-

Als ich 19 oder vielleicht auch schon 20 Jahre alt

warenbranche – es geht um Knöpfe, Schnallen,

war – ich kann mich nicht mehr so genau erin-

Sicherheitsnadeln, Reißverschlüsse, Taschenlam-

nern – musste ich einen Kurs besuchen, in dem

penbatterien und Ähnliches – wieder und wieder

wissenschaftliches Zitieren gelehrt wurde. Ein äl-

getadelt. Der nach ihm benannte Preis wurde abge-

terer Herr mit wenig Charisma dozierte über An-

schafft. Hubertus Buchstein und Tine Stein werfen

führungszeichen, Fußnoten, korrektes Paraphra-

ihm posthum vor, Hannah Arendt zitierend, dass

sieren und ebensolche Quellenangaben, aber auch

er nicht in die Innere Emigration gegangen sei.2

INDES, 2014–2, S. 119–125, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014, ISSN 2191–995X

119

Wie die Innere Emigration für einen Intellektuel-

wies mich auf eine Stelle im Vorwort von Inge

len ohne jede praktische Fähigkeiten hätte ausse-

Malek-Kohlers Buch »Im Windschatten des Drit-

hen sollen, vielleicht als Tomatenzüchter oder als

ten Reiches«7 hin. Doch hier benutzte Theodor

Schäfer, darüber schweigen sie.

Eschenburg das Wort von der »getarnten inneren

Noch aus einem anderen Grund ist Hannah

Emigration« im Hinblick auf das Ehepaar Engel-

Arendt in diesem Zusammenhang bemerkenswert:

sing und nicht auf sich selber. Folgerichtig schil-

Sie hielt 1969, zum 80. Geburtstag Martin Heideg-

derte er in seinen Memoiren sein Verhalten in die-

gers, eine Rede, in der sie den »Heimlichen König

ser Zeit als Katz- und Maus-Spiel mit den Nazis,

im Reich des Denkens« wortreich lobte, seine Art

um einerseits nicht aufzufallen, da und dort einem

der Philosophie bewundernd beschrieb. Erst in den

jüdischen Freund weiter zu helfen und sich in vie-

letzten drei Minuten erwähnte sie sein Verhalten

len Fällen vor Dingen zu drücken, die er verab-

als Rektor der Freiburger Universität während des

scheute.8 Vermutlich machte es ihm auch nur diese

Dritten Reiches – und dies in einer Sprache, die

Einstellung möglich, jenen fünfseitigen Brief an

nur diejenigen verstehen können, die um Heideg-

das Reichswirtschaftsministerium zu schreiben,

gers Verhalten im Dritten Reich wissen. Heidegger

der in der aktuellen Kontroverse um sein Verhal-

hatte eindeutig nationalsozialistische Reden gehal-

ten im Nationalsozialismus eine zentrale Stellung

ten, ebensolche Texte veröffentlicht und seinen

einnimmt.9 Er war dort bekannt. Dadurch gab es

jüdischen Doktorvater Edmund Husserl aus der

wenigstens eine winzige Chance, dass dieser Brief

Universität herausgedrängt. Er erhielt nach dem

wohlwollend gelesen und Wilhelm Fischbein doch

Krieg bis 1951 ein Lehrverbot. Das alles hielt nun

einen Pass erhalten würde. Der Brief eines unbe-

Hannah Arendt nicht davon ab, noch 1969 eine en-

kannten »Inneren Emigranten« oder gar kein Brief

thusiastische Laudatio zu halten. Darüber hinaus

hätte Fischbeins Situation nicht verbessert.

3

4

unterstützte sie die Übersetzung und Herausgabe seiner Werke in den USA tatkräftig. Warum tat sie das? Weil sie »ihn liebte« , wie ich

In »Theodor Eschenburg (II)« beruft sich Eisfeld auf Ralf Dahrendorfs letztes Buch.10 Dort, so Eis-

mit 19, aber auch noch mit 63? Werden wir damit

feld, würden Theodor Eschenburgs Erinnerungen

der klugen Hannah Arendt gerecht? Ich denke,

als »ein Lehrbuch der Anpassung, wenn nicht des

nein. Möglicherweise war sie der Auffassung, Hei-

Mitläufertums« bezeichnet. In einem Artikel in der

degger habe genug gebüßt; oder seine Werke und

Stuttgarter Zeitung steht: »Kaum jemand außer

die Neuerfindung des Denkens seien trotz sei-

Ralf Dahrendorf wies zu seinen [gemeint ist Theo-

ner Verfehlungen im Dritten Reich so bedeutend,

dor Eschenburgs, Anm. d. Verf.] Lebzeiten darauf

dass sie gelobt und verbreitet werden müssten. Wie

hin, dass er nicht ›der enthusiastischste Demo-

auch immer, wer Hannah Arendt gegen Theodor

krat‹ war.«11 Liest man nur Eisfelds Artikel, so kann

Eschenburg zitiert, sollte ihr Verhalten gegenüber

man den Eindruck gewinnen, dass Dahrendorf, der

Heidegger und das Treffen in Tübingen nicht ver-

langjährige Freund, der 197912, 198413 und 198914

schweigen.

jeweils einen langen lobenden Artikel zu den gro-

Soweit ich weiß, hat sich mein Vater niemals als Innerer Emigrant bezeichnet. Udo Wengst

120

RALF DAHRENDORF

bei Dahrendorf lese? Gewiss liebte sie Heidegger

5

Perspektiven — Kontroverse

6

ßen Geburtstagen verfasst und 2004 einen ehrenden Vortrag15 anlässlich des 100. Geburtstages

gehalten hatte, plötzlich seine Meinung geändert

wurde ein Brief Bobbios aus dem Jahr 1935 – Bob-

habe. Auf einmal, so scheint es, kritisierte er Theo-

bio war 25 – an den Duce gefunden, in dem er den

dor Eschenburg heftig wegen seines Verhaltens im

Faschismus preist und seine eigene faschistische

Dritten Reich und einer undemokratischen Hal-

Gesinnung unterstreicht. Bobbio, der 1993 noch

tung in bundesrepublikanischer Zeit. Ich konnte

lebte, »war von dem vergessenen Brief tief scho-

das nicht glauben und kaufte das Buch.16 In die-

ckiert«. Dahrendorf stellt die Frage: »War der Brief

sem kann man zwar in der Tat das erwähnte Zi-

[…] eine lässliche Sünde?« Und er antwortet: »Ich

tat auf Seite 107 lesen. Es ist allerdings Teil eines

denke ja.« Nun könnte man sich natürlich über-

längeren, überwiegend positiven Abschnittes über

legen, was Dahrendorf über Theodor Eschenburg

meinen Vater – wenngleich mit einigen kritischen

geschrieben hätte, wenn er von der Sache Fisch-

Einsprengseln.

bein gewusst hätte, und dieser noch Gelegenheit

Ralf Dahrendorf schreibt über Eschenburgs

gehabt hätte, wie Bobbio zu seinem Verhalten Stel-

Angst und sein Zurückweichen, aber er konsta-

lung zu nehmen. Ich aber halte solche Überlegun-

tiert auch seine Distanz zur nationalsozialistischen

gen angesichts derart vieler Konjunktive für grob

Ideologie. Der Abschnitt endet mit folgendem Re-

unzulässig.

sümee: »Eschenburg war also allenfalls ein Eras-

Ralf Dahrendorfs Meinung unter Berücksichti-

mier der mittleren Ordnung. Auch dieses Urteil

gung der Sache Fischbein können wir nicht mehr

setzt voraus, dass man seine Bemühungen um An-

ergründen. Er ist tot. Alles, was wir nach der Lek-

passung als lässliche Sünde betrachtet. Wer das to-

türe ähnlicher Fälle und vieler Details in die eine

talitäre Regime erlebt hat, wird das tun. Kritik ist

oder andere Richtung vermuten, ist pure Kaffee-

vor allem an dem möglich, was Eschenburg nicht

satzleserei. Wer sich dennoch und ungeachtet des-

getan hat; es gibt keine Taten, die ihm zur Last lie-

sen im Reich des »könnte«, »hätte«, »müsste« be-

gen. Überdies hat er selbst die Geschichte seines

wegen möchte, der sollte das dann aber zumindest

Opportunismus mit fast naiver Offenheit in sei-

in jede und nicht nur in die ihm genehme Rich-

nen Lebenserinnerungen geschildert. Was hätte

tung tun. Im Übrigen: Das folgende Zitat aus der

der 30-jährige 1933 anders machen sollen? Helden

Stuttgarter Zeitung fand ich zufällig, in der Fest-

sind, wie wir gesehen haben, Erasmier nicht, und

schrift zum 85. Geburtstag. Dahrendorf schreibt

Märtyrer auch nicht.«17 Anders als Eschenburgs

hier: »Eschenburg mag nicht der enthusiastischste

Kritiker lobt Dahrendorf ausdrücklich die Erinne-

Demokrat unter den Großen der Nachkriegszeit

rungen. Die Sache Fischbein kannte er allerdings

sein – als Verfechter des Rechtstaats, der im Be-

nicht. Wie wäre sein Resümee ausgefallen, wenn

wußtsein der Menschen lebt, ist er nicht zu über-

er davon gewusst hätte? Vor allem, wenn man be-

treffen.«19

denkt, dass Theodor Eschenburg diese Geschichte nicht in seinen Erinnerungen erwähnte, sei es, weil

GOTTFRIED BENN

er sie schlicht vergessen hatte, weil er sie für unbe-

Hannah Bethke flicht in ihren letzten Aufsatz ein

deutend hielt oder sie bewusst verschwiegen hatte.

langes Zitat von Gottfried Benn ein, das sie eben-

Einige Seiten zuvor schreibt Dahrendorf über

falls gegen Theodor Eschenburg verwendet.20

Noberto Bobbio, den berühmten italienischen

Sie verbindet es mit dem immer gerechtfertigten

Politikwissenschaftler und Antifaschisten. 1993

Aufruf, die Verbrechen der Nazizeit niemals zu

18

Susanne Eschenburg  — Theodor Eschenburg und die deutsche Vergangenheit

121

vergessen. Gottfried Benn beklagt hierin, dass die

Man darf im Übrigen nicht unterschlagen, wie

Eliten aus der Vor-Nazizeit in einer Festsitzung der

Gottfried Benn selber das Dritte Reich überlebte.

Deutschen Akademie Goebbels applaudiert hät-

Er wurde 1935 auf eigenen Wunsch Militärarzt.

ten, obwohl ihnen die Gräueltaten der Nazis da-

Das Militär war für ihn, der in die Kritik der Na-

mals bereits bekannt waren. Sie hätten gewusst,

zis geraten war und ein Schreib- und Veröffentli-

dass jüdische Kinder deportiert wurden und für

chungsverbot erhalten hatte, ein sicherer Ort.24 Er

immer verschwanden. »[Sie] schlagen mit die Ju-

selbst nannte es im erwähnten Artikel »bis 1938

den tot und bereichern sich an ihren Beständen,

[…] die aristokratische Form der Emigration«25.

überfallen kleine Völker und plündern sie mit der

Trotz der Einschränkung »bis 1938« blieb er frei-

größten Selbstverständlichkeit bis aufs Letzte aus

lich bis 1945 Militärarzt.

[…]«. Als Teilnehmer dieser peinlichen Veran-

Ich kritisiere in keiner Weise Gottfried Benns

staltung wurden von Benn genannt: »Die großen

Entscheidung, schon gar nicht im Jahre 2014 vom

Dirigenten, die ordentlichen Professoren für Phi-

Ledersofa aus, das vor der blauen Wand mit den

losophie oder Physik, Ehrensenatoren noch aus

schönen Bildern in meinem Arbeitszimmer steht.

den alten anständigen Zeiten, Pour-le-mérite-Trä-

Ich habe alles Verständnis für seine Entscheidung.

ger der Friedensklasse, Reichsgerichtspräsidenten,

Doch ich empfinde es als zutiefst unlauter, Theo-

kaiserliche Exzellenzen, Verleger, ›erwünschte‹ Ro-

dor Eschenburg und Gottfried Benn gegeneinander

manschreiber, Goethe-Forscher, Denkmalspfleger,

auszuspielen. Beide handelten in ähnlicher Situa-

Staatsschauspieler, Generalintendanten, der ehr-

tion ähnlich. Der eine kam in der Kurzwarenbran-

bare Kaufmann […]«.22

che unter, der andere im Sanitätsdienst der Wehr-

21

Doch was haben der berechtigte Aufruf Bethkes

macht. Doch dem einen wirft man vor, er habe das

mit Benns Zitat und das Zitat mit Theodor Eschen-

Naziregime durch seine Arbeit stabilisiert und es

burg zu tun? Gottfried Benn beschimpfte die Eliten

damit länger am Leben gehalten. Über die Tätig-

aus besseren Zeiten, die aufgrund ihrer Erziehung

keit des anderen schweigt man. Müsste nicht beide

und ihrer herausgehobenen gesellschaftlichen

nach der Logik von Bethke und Eisfeld dieselbe

Stellung Goebbels hätten widersprechen müssen.

Kritik treffen?

Theodor Eschenburg gehörte nun genau nicht zu den »großen Dirigenten, den internationalen Gelehrten« und anderen aufgezählten Prominenten. An den erwähnten Gräueltaten gegenüber Juden war er nicht beteiligt. Pour-le-Mérite-Träger der Friedensklasse wurde er erst 1968.23 War er jemals in der Deutschen Akademie bei einem derartigen Vortrag? Auch bei großzügigster Auslegung sehe ich nicht, dass Gottfried Benn einen weitgehend unbedeutenden Mann von 34 Jahren, der in einer gut bezahlten Stellung Knopf- und Reißverschlussfabrikanten bei Management-Aufgaben unterstützte, gemeint haben könnte.

122

Perspektiven — Kontroverse

Susanne Eschenburg, geb. 1949, ist die vierte und jüngste Tochter von Theodor und Erika Eschenburg. Sie war von 1972 bis 2013 Lehrerin an verschiedenen ländlichen Grund-und Hauptschulen in der Bodenseeregion. Seit August 2013 ist sie im Ruhestand. Sie ist Mutter von vier erwachsenen Kindern und lebt zusammen mit ihrem Ehemann am Bodensee.

Anmerkungen

1  Vgl. Sybille Krause-Burger, Da kommt Pachulke aus Kirchentellinsfurt, in: Hermann Rudolph (Hg.), Den Staat denken – Theodor Eschenburg zum Fünfundachtzigsten, Berlin 1990, S. 63 f. 2  Vgl. Hubertus Buchstein u. Tine Stein, Die »Gnade der späten Geburt«? Politikwissenschaft in Deutschland und die Rolle Theodor Eschenburgs, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Jg. 58 (2013) H. 9, S. 101–112, hier S. 108. 3  Hannah Arendt, Erinnerungen an Martin Heidegger, Rundfunkrede, die komplette Fassung ist inzwischen leider unter http:// www.youtube.com/watch?v=Dj8TvPJ50z4 nicht mehr einsehbar, eine gekürzte Fassung findet sich unter http://www.youtube.com/ watch?v=a8O6zvAGR-c [eingesehen am 09. 05. 2014]. 4  Vgl. Ralf Dahrendorf, Versuchungen der Unfreiheit, München 2006, S. 31 f. 5  Ebd., S. 31. 6  Telefonat d. Verf. mit Udo Wengst im Oktober 2013. 7  Inge Malek-Kohler, Im Windschatten des Dritten Reiches, Freiburg 1986, S. 14. 8  Vgl. Theodor Eschenburg, Letzten Endes meine ich doch, Berlin 2000. 9  Vgl. Brief der Vorprüfstelle Schnitz- und Formerstoffe verarbeitenden Industrie an das Reichswirtschaftsministerium zu Händen von Herrn Kreuz, Bundesarchiv R 3101/18383, S. 705–709. 10  Vgl. Rainer Eisfeld, Theodor Eschenburg (II): »Der innere Widerstand gegen ein totalitäres Regime verlangt eben besondere Verhaltensweisen«, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Jg. 61 (2013) H. 6, S. 522–542, hier S. 524. 11  Rainer Eisfeld, Theodor Eschenburg. Ein Diener des Dritten Reiches, in: Stuttgarter Zeitung, 18. 9. 2013.

14  Vgl. Ralf Dahrendorf, Das Lob der Institutionen, in: Hermann Rudolph (Hg.), Den Staat denken. Theodor Eschenburg zum Fünfundachtzigsten, Berlin 1990, S. 65–69. 15  Vgl. Ralf Dahrendorf, Institutionelle Sorgen in Europa, in: Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Institut für Politikwissenschaft (Hg.), Eschenburg-Vorlesung 2004, Tübingen 2005, S. 27–38. 16  Vgl. Dahrendorf, Versuchungen. 17  Ebd., S. 109 f. 18  Hierzu und im Folgenden ebd., S. 104 ff. 19  Ralf Dahrendorf, Das Lob der Institutionen, in: Hermann Rudolph (Hg.), Den Staat denken, Theodor Eschenburg zum Fünfundachtzigsten, Berlin 1990, S. 65–69, hier S. 69. 20  Vgl. Hannah Bethke, Hellhörig bleiben gegenüber dem Verschweigen der NS-Vergangenheit!, in: Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft, Jg. 3 (2013) H. 4, S. 136–140. 21  Gottfried Benn, Zum Thema Geschichte, einsehbar unter http:// www.luebeck-kunterbunt.de/Rangfolge/Benn_ueber_Geschichte.htm [eingesehen am 09. 05. 2014]. 22  Ebd. 23  Vgl. Urkunde zur Aufnahme Theodor Eschenburgs in den Orden Pour le Mérite, in: Eberhard-Karls-Universität Tübingen, Institut für Politikwissenschaft (Hg.), Theodor Eschenburg (1904–1999) – Tübinger Perspektiven, Katalog zur Ausstellung anlässlich seines 100. Geburtstages, Tübingen 2004, S. 94. 24  Vgl. Ekkehart Krippendorff, Der »Fall Eschenburg«: Die Bankrotterklärung der Politikwissenschaft, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Jg. 58 (2013) H. 12, S. 87–93, hier S. 90. 25  Gottfried Benn, Zum Thema Geschichte, einsehbar unter http:// www.luebeck-kunterbunt.de/Rangfolge/Benn_ueber_Geschichte.htm [eingesehen am 09. 05. 2014].

12  Vgl. Ralf Dahrendorf, Praeceptor Germaniae. Theodor Eschenburg zum 75. Geburtstag, in: Die Zeit, Jg. 34 (1979) H. 43. 13  Vgl. Ralf Dahrendorf, Mahner, Wächter, oft auch Donnerer: Zum 80. Geburtstag von Theodor Eschenburg, in: Die Zeit, Jg. 40 (1985) H. 44.

KOMMENTAR ZU HANS-JOACHIM LANG: »DIE ENTEIGNUNG WILHELM FISCHBEINS – UND WAS THEODOR ESCHENBURG DAMIT ZU TUN HAT«, IN: INDES, H. 1/2014, S. 133–144.1 ΞΞ Rainer Eisfeld

Hans-Joachim Lang beansprucht, auf Grundlage

sich als abschließende Bewertung für ihn ergibt:

der »überlieferten Akten« (S. 142) den »Arisie-

»An der ›Arisierung‹ der Firma Runge & Co. hat

rungs«-Fall Fischbein dergestalt »nachvollzieh-

er [Eschenburg, Anm. d. Verf.] ebenso wenig An-

bar auszubreiten und einzuordnen« (S. 134), dass

teil wie am Fortgang und Ende der Lozalit AG.«

Rainer Eisfeld  — Theodor Eschenburg und die deutsche Vergangenheit

123

(S. 142) Jedoch lässt Lang relevante Dokumente

diesem Vorgang dar? Von Anfang an habe ich ge-

unerwähnt, gibt andere – gleichfalls für den Zu-

äußert, dass Eschenburg durch »Vorschläge« an

sammenhang wesentliche – Archivalien lückenhaft

der Durchführung des Arisierungsverfahrens

wieder und zieht selbst aus denjenigen archivali-

mitwirkte5 – wie denn auch anders? Nochmals:

schen Unterlagen, die er erwähnt, keine Folgerun-

Handelt es sich bei Vorschlägen, Stellungnahmen,

gen für die Gültigkeit seiner Schlussbehauptung.

eben Beratung, nicht selbstredend auch um Mit-

Nachstehend wird dies belegt.

wirkung?

Mit der Anm. 6 und dem dazugehörigen Satz im Text (S. 134) erweckt Lang außerdem den Ein-

(2) Aus dem Vermerk des Reichswirtschaftsmi-

druck, er habe meinen jüngsten Aufsatz zum

nisteriums ( RWM) über die Besprechung am

Thema zur Kenntnis genommen. Dort hatte ich

01. 11. 1938, an der Eschenburg teilnahm, zitiert

ausführlich aus den Akten zitiert und frühere Aus-

Lang auf S. 138, rechte Spalte Mitte, lediglich lü-

sagen Langs explizit kritisiert. Statt sich damit

ckenhaft6: Er spart aus, dass Eschenburg »es eben-

auseinanderzusetzen, fällt Langs Aufsatz – wie

falls für erforderlich« hielt, »zunächst die Arisie-

gleichfalls zu zeigen sein wird – hinter den erreich-

rungsfrage schnellstens zu lösen«. Er übergeht

ten Diskussionsstand (nicht bloß in den Blättern,

ebenfalls, dass Eschenburg »für die Durchfüh-

sondern auch in den Vierteljahresheften für Zeitge-

rung der Arisierung […] zwei Firmen« nannte, »die

schichte) noch zurück.

im Exportgeschäft besonders rührig sein sollen«.

2

3

Den Satz im Vermerk, Eschenburg werde »auch (1) Auf S. 137 schreibt Lang: »Entscheidungsbefug-

eingehende Vorschläge für die Arisierungsfrage

nisse hat er [Eschenburg, Anm. d. Verf.] nicht […]

einreichen« schwächt Lang ab zu: »[…] will sich

Prüfungsstellen der Reichsgruppe Industrie sind

Eschenburg noch Vorschläge für eine ›Arisierung‹

[…] Berater der staatlichen Behörden.« Das trifft

überlegen.« (S. 138)

zu. Freilich: Analog dazu, jedoch mit einem für

124

den Zusammenhang ausschlaggebenden Zusatz,

(3) Dort, wo Lang auf Eschenburgs Brief an das

hatte ich bereits in meinem Artikel in den Blättern

RWM vom 08. 11. 1938 eingeht (S. 138), verzich-

auf S. 112 vermerkt: »Offenkundig beschränkte

tet er auf die Erwähnung von Eschenburgs »Be-

[Eschenburgs] Part sich auf die Beraterrolle des

treff«, nämlich: »Ausstellung eines Reisepasses

hinzugezogenen Verbandsfunktionärs. Die Ent-

für den Juden Wilhelm J. Fischbein«. Unerwähnt

scheidungen trafen andere. Von Belang ist, wie er

lässt er außerdem den kompletten Briefabschnitt

sich in seiner Rolle verhielt – mit welchen tatsäch-

mit Eschenburgs »vorsorglich« dem RWM mitge-

lichen oder potenziellen Folgen für den Betroffe-

teilter »Vermutung« über Fischbeins »Benutzung

nen –, sprich: wie weit er sich in den Dienst des

deutscher Devisen im Auslande«7, mit, wie ich ge-

NS-Staats stellte und wie aktiv oder zurückhaltend

zeigt habe8, potenziell fatalen Konsequenzen für

er dessen Interessen vertrat.«

den Unternehmer. Nirgendwo wird Eschenburgs

4

Außerdem aber ist hinsichtlich der Schlussbe-

Dienstfertigkeit gegenüber dem NS-Regime so

hauptung des Aufsatzes von entscheidender Wich-

deutlich wie hier; und an keiner anderen Stelle

tigkeit: Stellt Beratung staatlicher Behörden beim

fällt Langs Aufsatz so eindeutig hinter den Dis-

Vorgang einer Arisierung etwa keinen »Anteil« an

kussionsstand zurück.9

Perspektiven — Kontroverse

(4) Weiter unterschlägt Lang den RWM-Vermerk

Anmerkungen

vom 15. 11. 1938, wonach der zuständige Referent

(5) Unzutreffend ist schließlich Langs vorletzter

1  Der Kommentar stützt sich auf die beiden Aufsätze von Hans Woller u. Jürgen Zarusky, Der »Fall Theodor Eschenburg« und das Institut für Zeitgeschichte, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Jg. 61 (2013) H. 4, S. 551–565, online einsehbar unter http://www. dvpw.de/fileadmin/docs/Woller-Zarusky_Eschenburg.pdf [eingesehen am 15. 05. 2014] sowie Rainer Eisfeld, Staatskonservative Kollaboration. Theodor Eschenburgs Agieren in einem Mikrokosmos des »Dritten Reichs«, in: Blätter für deutsche und internartionale Politik, Jg. 59 (2014) H. 2, S. 107–120, online einsehbar unter www.blaetter. de/archiv/jahrgaenge/2014/februar/staatskonservative-kollaboration [eingesehen am 15. 05. 2014].

Satz auf S. 142, Eschenburg werde »in den über-

2  Vgl. Eisfeld, Staatskonservative Kollaboration.

lieferten Akten nach 1938 nicht mehr genannt«.

3  Vgl. ebd., S. 114–117.

Fischbein am Vortag erneut an Eschenburg verwiesen hatte und Fischbein am selben Nachmittag Eschenburg aufsuchen wollte.10 Kein »Anteil« Eschenburgs am Vorgang der Arisierung?

Bereits in meinem zweiten ZfG-Aufsatz habe ich gezeigt, dass Eschenburgs Name nochmals als Adressat eines RWM-Schnellbriefs vom März 1939 auftaucht, mit der Maßgabe, er solle der nunmehr arisierten Firma Lozalit AG seine besondere Aufmerksamkeit widmen und auf eine Stärkung des Exports hinwirken.11 Es mag mühsam anmuten, diesen Angaben bis

4  Vgl. ebd., S. 112. 5  Vgl. Rainer Eisfeld, Theodor Eschenburg: Übrigens vergaß er noch zu erwähnen … Eine Studie zum Kontinuitätsproblem in der Politikwissenschaft, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Jg. 59 (2011) H. 1, S. 27–44, hier S. 32. 6  Vgl. hierzu und im Folgenden die ausführliche Wiedergabe des Dokuments in Eisfeld, Staatskonservative Kollaboration, hier S. 114 f. 7  Ebd., S. 115. 8  Vgl. ebd., S. 116. 9  Vgl. hierzu auch Woller u. Zarusky, Der »Fall Theodor Eschenburg« und das Institut für Zeitgeschichte, hier S. 557.

ins Detail zu folgen. Aber sie rekonstruieren Schritte

10  Vgl. Eisfeld, Staatskonservative Kollaboration, hier S. 116.

eines Arisierungsverfahrens, in dem Eschenburg

11  Vgl. Rainer Eisfeld, Theodor Eschenburg (II): »Der innere Widerstand gegen ein totalitäres Regime verlangte eben besondere Verhaltensweisen«, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, Jg. 61 (2013) H. 6, S. 522–542.

dem NS-Regime mit mündlichen wie schriftlichen Bekundungen zuarbeitete – in schroffem Gegensatz zu Langs Behauptung im Schlusssatz seines Beitrags. Diese Bekundungen Eschenburgs sind –

Die beiden vorangegangenen Texte setzen

das sollte keinen Augenblick vergessen werden –

die Kontroverse »Theodor Eschenburg und

zu beurteilen vor dem Hintergrund der Situation

die deutsche Vergangenheit« aus I­ NDES

des Jahres 1938, in dem die Diffamierung und Ent-

H. 4/2013 und H. 1/2014 fort.

rechtung jüdischer Deutscher für jeden sichtbar drastisch zugenommen hatten.

Prof. Dr. Rainer Eisfeld, geb. 1941, war seit 1974 Professor für Politikwissenschaft Universität Osnabrück, 2002 Gastprofessor an der UCLA und wurde 2006 emeritiert. Seit 1994 ist er Mitglied des Kuratoriums de Gedenkstätten Buchenwald/ Mittelbau-Dora und von 2006 Mitglied des IPSA Executive Committee. Seine jüngste Buchveröffentlichung: Ausgebürgert und doch angebräunt. Deutsche Politikwissenschaft 1920–1945 (2. überarbeitete Auflage, Baden-Baden: Nomos 2013).

Rainer Eisfeld  — Theodor Eschenburg und die deutsche Vergangenheit

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INTERVIEW

»DIE DEUTSCHE POLITIKWISSENSCHAFT IST GESCHICHTSVERGESSEN« ΞΞ E in Gespräch mit Jürgen Falter über die Kontroverse um Theodor Eschenburg und die Vergangenheit der Politikwissenschaft

Der Theodor-Eschenburg-Preis ist von der DVPW abgeschafft worden, ist die Entscheidung richtig oder falsch? Ich halte auch heute noch die Entscheidung für falsch. So ein Preis hat ja durchaus seinen Sinn, er ist identitätsstiftend, er soll die Mitglieder einer wissenschaftlichen Gesellschaft zusammenführen, ihnen ein Gefühl der Gemeinsamkeit bieten. Das war auch der Grund, warum wir damals den Preis, übrigens auf meinen Vorschlag hin, eingeführt hatten. Ich kannte das aus den USA von der American Political Science Association. Der Vorschlag, den Preis nach dem gerade verstorbenen Theodor Eschenburg zu benennen, stammte hingegen nicht von mir; ein Vorstandskollege brachte ihn ins Spiel, ich glaube, es war Ulrich von Alemann. Wir hatten dann im Vorstand einstimmig beschlossen, den Preis als eine herausgehobene Würdigung für ein wissenschaftliches Lebenswerk einzuführen und ihn nach Theodor Eschenburg zu benennen. Das war in Vorstand und Beirat unumstritten. Eschenburg gehörte zu keiner Schule, er hatte auch keine eigene gegründet, was in unseren Augen den Vorteil hatte, dass wir damit jedem Schulenstreit und möglichen Empfindlichkeiten aus dem Wege gingen. Eschenburg war schließlich eine der prägenden, stark in die Öffentlichkeit hineinwirkenden Gründergestalten der deutschen Politikwissenschaft. Sicher, wir hätten auch Ernst Fraenkel nehmen können, dann hätten wir heute nicht den Schlamassel, aber auf die Idee kam damals keiner von uns. Eschenburg war zwar nicht der geistig bedeutendere, aber auf jeden Fall der wesentlich prominentere potenzielle Namensgeber des Preises. Dass ein solcher Preis seine Berechtigung hat, belegt ja auch die Qualität der bisherigen Preisträger. Durch die Abschaffung des Preises tut man diesen bestimmt keinen Gefallen. Man

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INDES, 2014–2, S. 126–144, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014, ISSN 2191–995X

entwertet m.E. durch die Abschaffung nachträglich die Preisvergabe an die bisherigen Träger. Die Entscheidung, den Preis ganz abzuschaffen, halte ich auch deshalb für eine gravierende Fehlentscheidung, weil mir dabei einfach die Zukunftsperspektive fehlt. Angesichts der Diskussion um den Namensgeber hätte es eine Reihe von Alternativen gegeben: Man hätte beispielsweise den Preis ruhen lassen können, bis alles historiographisch sauber recherchiert und geklärt gewesen wäre, denn das ist es bis heute nicht. Eine andere Möglichkeit wäre gewesen, den jeweiligen Preisträgern zu überlassen, ob sie den Preis als »Theodor-Eschenburg-Preis« erhalten wollten oder nur als unbenannten Preis der deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft für ein wissenschaftliches Lebenswerk. Beide Alternativen hatte ich in einem langen Telefonat der jetzigen Vorsitzenden, Frau Abels, die pikanterweise aus Tübingen kommt, vorgeschlagen. Zwei Dinge finde ich besonders unprofessionell bei der Entscheidung, auf den Preis ganz zu verzichten: zum einen nicht abzuwarten, bis tatsächlich die Sachlage historiographisch zufriedenstellend geklärt gewesen wäre; zum anderen, nicht abzuwägen zwischen dem Eschenburg vorgeworfenen Handeln und seinen Verdiensten, die er ganz unzweifelhaft nach dem Zweiten Weltkrieg sowohl als Politiker als auch als Politikwissenschaftler und als eine Art publizistischer politischer Wegweiser erworben hatte. Das ist alles unhistorisch gedacht, mir persönlich zu moralisierend und selbstgerecht, aus der verengten Perspektive der Nachgeborenen, die ohne Einfühlungsvermögen, ohne die besonderen historischen und persönlichen Umstände zu bedenken, ge- und verurteilt haben. Was ist in Ihren Augen der gravierendste Vorwurf gegen Theodor Eschenburg? Es hat sich doch offenkundig im Laufe der Debatte, die 2011 durch Rainer Eisfeld angestoßen worden ist, einiges verschoben. Was ihm vorgehalten werden kann, ist, dass er überhaupt bei einem Arisierungsverfahren mitgemacht hat, wenn auch sichtlich qua Amt, in einer eher als Nebenrolle zu bezeichnenden Funktion, wobei er sich selbst, was den Passentzug angeht, zwei oder drei Tage später anders entschieden hatte als bei der eigentlichen Besprechung, nämlich zu Gunsten des betroffenen jüdischen Unternehmers. Zum zweiten kann man ihm vorhalten, dass das in seinen Lebenserinnerungen nicht angesprochen wird. Vielleicht ist es ihm entfallen, vielleicht war es ihm nicht wichtig genug. Immerhin war Eschenburg damals schon, also er die Erinnerungen schrieb, über neunzig Jahre alt. Der dritte Punkt, der ihm gerne vorgehalten wird, dass er kurzzeitig Mitglied einer SS-Motorbrigade war (ich glaube, es hieß Motorsturm), Ein Gespräch mit Jürgen Falter  —  »Die deutsche Politikwissenschaft ist geschichtsvergessen«

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erscheint mir dagegen weniger gravierend zu sein. Daraus machte er nie einen Hehl, erwähnte es in seinen Memoiren und sprach offen in seinen Seminaren darüber, wie mir berichtet wurde; er war nach eigenen Aussagen auch nur ganz kurz Mitglied dieses Motorsturms, obwohl das nicht belegt ist. NSDAP-Mitglied war Eschenburg nicht, auch dass er Antisemit gewesen sei, lässt sich ihm nicht vorwerfen, hierfür gibt es keinerlei Belege. Eher für das Gegenteil. Wie Gerhard Lehmbruch mir berichtete, hatte er sich über diese Mitgliedschaft im SS-Motorsturm sogar eher lustig gemacht und das als eine Art Jugendsünde, einen Fauxpas angesehen. Dass er an dem Arisierungsverfahren teilgenommen hat, ist unbestreitbar, in der Debatte ist das aber meines Erachtens historisch nicht richtig eingeordnet worden. Insbesondere ist in meinen Augen nicht adäquat diskutiert worden, was schwerer wiegt: die Mitläuferfunktion im Dritten Reich oder sein untadeliger demokratischer Lebensweg nach 1945. Mit Herbert Wehner, Kurt Georg Kiesinger und vielen anderen ist man nach 1945 deutlich glimpflicher verfahren. Wie empfinden Sie die Aufklärungsarbeit und die Bearbeitung dieses Falles in der DVPW? Es fand ein Symposium statt, ein Gutachten wurde in Auftrag gegeben, anscheinend wurde sich darüber hinaus auch um Transparenz bemüht. Und doch steht dieser Vorwurf im Raum: Der Preis wurde sehr schnell abgeschafft. Man hat sich Mühe gegeben, aber das Verfahren weist meines Erachtens doch so viele Mängel auf, dass meine Kritik nicht unbegründet ist. Zwar hat man ein Symposium veranstaltet, zu diesem aber wurden meines Erachtens nicht unbedingt die richtigen Leute aufs Podium eingeladen. Und das Gutachten von Frau Bethke ist durchaus kritikwürdig. So kann man kritisieren, dass sie am Ende eine eigene Empfehlung abgibt (nämlich, auf den Namen Eschenburg zu verzichten), eine Empfehlung, die nicht dem Zweck eines wissenschaftlichen Gutachtens entspricht. Wenn ich es richtig sehe, sollte sie lediglich Eschenburgs Rolle im Dritten Reich und in diesem besonderen Arisierungsverfahren erforschen. Was man auch kritisieren kann ist, dass Frau Bethke dem ehemaligen DVPW-Vorsitzenden, Hubertus Buchstein, sehr nahe steht, dass sie Mitarbeiterin von ihm in Greifswald ist und er auch an ihrem Promotionsverfahren als Zweitgutachter beteiligt war. Zumindest war das eine große Ungeschicklichkeit. So ein Gutachten hätte man nicht an jemanden vergeben dürfen, der mit einem der Protagonisten des ganzen Falles so eng verbunden ist. Das hätte man nach außen geben müssen, vielleicht an Udo Wengst, einen anerkannten Fachhistoriker, der seit Jahren an einer Eschenburg-Biografie arbeitet.

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Perspektiven — Interview

Mein eigentlicher Vorwurf aber bezieht sich auf die in meinen Augen überhastete Abschaffung des Preises. Man wollte in Vorstand und Beirat die Sache eben vom Tisch haben. Den Kollateralschaden, die Austritte mehrerer früher Vorsitzender und Vorstandsmitglieder, nahm man dabei in Kauf. Nachdem ich nun einmal meinen Austritt für den Fall einer Abschaffung des Preises angekündigt hatte, nicht öffentlich, aber gegenüber der Vorsitzenden und einer Reihe von Kollegen, blieb mir gar keine andere Wahl. Prinzipiell kritisiere ich vor allem die ungenügende historische Einordnung des Falles. Man muss bei der Beurteilung der Handlungen Eschenburg mehrerlei berücksichtigen: 1. seine persönliche Situation im Dritten Reich, 2. seine konkrete Rolle in diesem Arisierungsverfahren, die ja doch eher nebensächlicher Art war, 3. seine sonstige Tätigkeit im Dritten Reich, insbesondere sein Verhältnis zum Nationalsozialismus und seine Haltung gegenüber Juden, 4. die Rolle, die er vor 1933 und nach 1945 gespielt hat. Er war, wenn ich das richtig sehe, ein erklärter konservativ-liberaler Demokrat nach 1945, ein Nationalliberaler, der vor 1933 dem wahrhaftig unverdächtigen Stresemann nahe stand. Darüber hinaus war er, wie gesagt, nie Mitglied der NSDAP, und Antisemitismus kann man ihm, wie der Tübinger Journalist Hans-Joachim Lang nachgewiesen hat, ebenfalls nicht vorhalten. Was in meinen Augen viel zu wenig gewürdigt worden ist, waren seine positive Rolle nach 1945, seine politischen Verdienste für den Aufbau des Landes Württemberg-Hohenzollern, seine Bedeutung für die Etablierung des Faches Politikwissenschaft in der Nachkriegszeit und seine Rolle als eine Art publizistischer Praeceptor Germaniae, der nach meiner Erinnerung unerbittlich und mit Leidenschaft für die Einhaltung von Verfassungsregeln und demokratischen Normen focht. In den 1950er und 1960er Jahren war er enorm wichtig für die Interpretation des Grundgesetzes, für dessen Popularisierung. Bevor wir später auf diese zahlreichen schon gefallen Stichpunkte noch ausführlicher eingehen, eine etwas anders gelagerte Frage zu Ihrer persönlichen Motivation: Sie waren immerhin jahrzehntelang Mitglied in der DVPW, waren drei Jahre ihr Vorsitzender … … und sechs Jahre stellvertretender Vorsitzender, drei Jahre Beiratsmitglied, viele Jahre Arbeitskreis-Sprecher und Sprecher der Sektion »Politische Soziologie« …

Ein Gespräch mit Jürgen Falter  —  »Die deutsche Politikwissenschaft ist geschichtsvergessen«

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… wie kommt es dann, dass Sie über eine Meinungsverschiedenheit gleich mit Ihrem Austritt reagierten? Ich habe das vorher schon gesagt: Der Austritt kam, weil ich ihn angekündigt hatte. Und angekündigt hatte ich ihn, weil ich dieses Verfahren so, wie es abgelaufen ist, als nicht adäquat angesehen habe, insbesondere nicht adäquat dafür, wie eine wissenschaftliche Vereinigung mit der Vergangenheit eines ihrer wichtigen Gründungsmitglieder umzugehen hat. Da hätte ich, ich sage es noch einmal, mehr historische Sorgfalt und auch mehr Gelassenheit erwartet und zumindest den Versuch, den Preis als solchen zu retten, wenn es schon nicht durchsetzbar gewesen wäre, ihn weiter mit seinem bisherigen Namensgeber zu verbinden. Das alles fand ich doch recht dilettantisch. Und das habe ich auch so ausgedrückt. Falls mehr historische Evidenz vorgelegt worden wäre, hätte ich mich ja auch durchaus überzeugen lassen, aber dafür hat man sich nicht die Zeit genommen. Man wollte die Sache schnell bereinigen. Im Organisationsinteresse war das vielleicht auch nicht falsch gedacht. Denn das scheint ja immerhin gelungen zu sein. Aber nachdem ich nun den möglichen Austritt schon einmal angekündigt hatte, hätte ich mich gar nicht mehr anders verhalten können, als ich es getan habe. Alles andere wäre inkonsequent gewesen. Es gibt ja doch, wie wir vermuten, eine gewisse Identifikation mit der DVPW

Ihrerseits. Hätte da nicht eine weniger irreversible Konsequenz als der Austritt nahe gelegen? Natürlich gab es diese Identifikation, wenn mir die Sache nicht nahe gegangen wäre, hätte ich doch gar nicht mit solchen Konsequenzen drohen müssen. Ich bin beispielsweise 1983 und auch später trotz mehrfacher Aufforderung nicht in die DGfP [Deutsche Gesellschaft für Politikwissenschaft, die 1983 als Abspaltung von der DVPW gegründet wurde, Anm. d. Red.] eingetreten. Ich habe sogar mitverantwortlich verhindert, dass die Empiriker, vor allem die Wahl- und Einstellungsforscher, bei denen ich über viele Jahre eine gewisse zentrale Rolle gespielt habe, kollektiv zur DGfP übergetreten sind, wie es der eine oder andere vorhatte. Es gibt ganz wenige Einzelpersonen, die das gemacht haben, aber als Gruppe sind wir in der DVPW geblieben. Schon Anfang der 1970er Jahre habe ich zusammen mit

anderen den Arbeitskreis »Parteien, Parlamente, Wahlen« ins Leben gerufen und als Ko-Sprecher geleitet, wir haben dann später als Nachfolger den Arbeitskreis »Wahlen und politische Einstellungen« gegründet, dessen Vorsitzender und Ko-Sprecher ich über viele Jahre war, zudem war ich auch einige Jahre Sprecher der Sektion »Politische Soziologie«. Nein, meine

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Perspektiven — Interview

wissenschaftlich-organisatorische Heimat war die DVPW mit ihren vielen Arbeitskreisen, Ad-hoc-Gruppen und Sektionen, mit ihren großen Kongressen und ihrem regen wissenschaftlichen Binnenleben. Die DGfP war für mich damals nie eine ernsthafte Alternative. Eine enge Bindung ist, zumindest bei mir, Voraussetzung für emotionale Reaktionen. Insofern war, ich unterstreiche das nochmals, gerade diese enge Bindung an die DVPW, in der ich seit 1969 oder 1970 ununterbrochen aktiv war, die emotionale Grundlage meiner Entscheidung, auszutreten. Sie haben jetzt auch die Spaltung von DVPW und DGfP angesprochen und ihren eigenen Austritt. Im Prinzip würde man doch davon ausgehen, dass von Politologen, die sich fachgebietsmäßig mit Verteilungsfragen, Konflikten und Macht beschäftigen, ein Austritt erst als Ultima Ratio zu erwarten ist. Folgt aus dem Wissen, dass Politik aus Streit und Aushandlungsprozessen besteht, nicht Gelassenheit und die Erkenntnis, dass man immer einmal in der Minderheit ist und verliert, eben weil man weiß, dass die Aushandlungsprozesse immer weitergehen und auf Niederlagen bald schon wieder Siege folgen können? Ich glaube, das dürfen Sie nicht gleichsetzen. Als sich die DGfP abspaltete, geschah das in einer hochpolitisierten Situation. Damit hat die jetzige Situation relativ wenig zu tun. Ich habe auch keine Gegengruppierung gegründet, bin bisher noch nicht einmal in die andere Vereinigung eingetreten. Schon individuell betrachtet sah ich mich in einer anderen Situation. Aber auch strukturell gesehen sind beide Anlässe nicht vergleichbar. Ich wäre nicht ausgetreten, wenn das Verfahren für mich tatsächlich offen gewesen wäre, mit einem offenen Ende nach einem offenen Entscheidungsprozess und hinreichender Klärung der Sachverhalte. Einen Entscheidungsprozess, den man beispielsweise durch einen Mitgliederentscheid hätte flankieren können, nachdem ausreichend Material auf den Tisch gelegt worden wäre, hätte ich akzeptiert. Vielleicht hätte man die Biografie von Udo Wengst abwarten sollen, der, wie erwähnt, schon über Jahre an einem Werk über die Person Eschenburg und sein Leben arbeitet, das nächstes Jahr herauskommen soll. Diese Biografie ist schon ziemlich weit gediehen. Das wäre für mich der richtige Weg gewesen. Wenn dann am Ende aufgrund von Erkenntnissen, die mich überzeugt hätten, die Abschaffung des Namens erfolgt wäre, wäre ich selbstverständlich nicht ausgetreten. Gegen eine generelle Abschaffung des Preises aber wäre ich auch dann gewesen. Das ist für mich doch der eigentliche Sündenfall. So richtig transparent war das Verfahren übrigens auch deswegen nicht, weil die Diskussion in Vorstand und Beirat nicht hinreichend nach außen kommuniziert worden ist. Die Entscheidung, den Preis abzuschaffen, erfolgte Ein Gespräch mit Jürgen Falter  —  »Die deutsche Politikwissenschaft ist geschichtsvergessen«

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ungewöhnlicherweise einstimmig, wie es heißt, was angesichts der Pluralität der Zusammensetzung von Vorstand und Beirat doch eher verwundern sollte. Nein, die DVPW ist keine Partei, in der ich Mitglied war, wo man immer wieder einmal überstimmt wird; sie ist eine Organisation, mit deren Zielen und Praktiken ich mich identifizieren muss. Und in diesem Moment konnte ich mich nicht damit identifizieren, habe ich mich nicht durch sie vertreten gefühlt. Deshalb bin ich dann ausgetreten. Wahrscheinlich habe ich die Austrittsdrohung, wie gesagt: nicht öffentlich oder bestenfalls teilöffentlich, deswegen ausgesprochen, weil ich dachte, dass ich damit Einfluss auf den Entscheidungsprozess nehmen könnte. Davon waren aber die Mitglieder von Vorstand und Beirat sichtlich wenig beeindruckt, die dachten wahrscheinlich, der Falter tritt sowieso nicht aus, und wenn er das tut, ist das auch schnell wieder vergessen, womit sie recht haben mögen. Da überlagern sich zwei Vorwürfe: Zum einen kritisieren Sie Geschichtsvergessenheit oder historische Unkenntnis bei der Beurteilung des Falles Eschenburg sowie eine gewisse Unfähigkeit, Ereignisse historisch adäquat einzuordnen. Das ist richtig. Zum anderen, damit verbunden, werfen Sie unterschwellig den Eschenburg-Gegnern moralischen Rigorismus vor. Ist das vielleicht ein grundsätzliches Problem von Politikwissenschaftlern heute? Was mir gefehlt hat, da haben Sie völlig recht, ist die Historisierung des Ganzen. Historisierung bedeutet für mich: eine Einbettung in die Umstände und Möglichkeiten der damaligen Zeit. Eschenburg war ein kleiner Verbandsfunktionär, der eine Familie durchbringen wollte, der, wie gesagt, nie Nazi oder Antisemit war, soweit man das von heute aus beurteilen kann; er war ein Mann der sich angepasst hat, aber das noch nicht einmal in übermäßigem Maße, wie der schon erwähnte Tübinger Journalist Lang nachgewiesen hat. Diese Historisierung hat mir bei der Behandlung des Falls gefehlt. Moralischer Rigorismus funktioniert nur, wenn man auf Historisierung verzichtet. Wenn man also mit den Wertmaßstäben der Gesellschaft von heute, in der man vergleichsweise unbedrängt lebt, in der man sich, ohne Sanktionen befürchten zu müssen, frei äußern und frei entscheiden kann, wenn man also aus dieser Perspektive der Nachgeborenen Situationen und Prozesse beurteilt, die unter völlig anderen Umständen stattgefunden haben bzw. abgelaufen sind, d.h. Situationen, in denen es genau diese Bedrängnis durch Terror und Denunziation gab, in denen Angst existierte, in denen es neben vereinzeltem Heldentum eine weit verbreitete, geradezu kollektive Ängstlichkeit und,

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Perspektiven — Interview

ja, Feigheit vor dem Feind gab. Auf der Grundlage eines Heldentums ex post zu urteilen, habe ich immer für die falsche Kategorie gehalten, für historisch bestenfalls sinnlos. Ist das ein neueres Problem? Urteilten Politikwissenschaftler in früheren Jahrzehnten historisch fundierter? Weil sie von Haus aus gar keine Politikwissenschaftler waren, sondern andere Fächer studiert hatten? Konnten Sie ja auch nicht. Vor 1933 gab es Politikwissenschaft als etabliertes Universitätsfach in Deutschland noch gar nicht, und nach 1933 natürlich erst recht nicht, so dass man Politikwissenschaft in Deutschland einfach nicht studieren konnte. Eschenburg hatte Volkswirtschaft und Geschichte studiert und nicht Jura, wie viele aufgrund seiner häufig staatsrechtlichen Argumentationsweise geglaubt haben. Und obwohl etwa das Opus Magnum Karl Dietrich Brachers über die Auflösung der Weimarer Republik durchaus mit politikwissenschaftlichen Kategorien argumentiert, was ihm damals von vielen Historikern kritisch vorgehalten wurde, ist sein gesamtes Werk doch stark historisch geprägt. Ernst Fraenkel, um ein anderes Beispiel zu nennen, war Jurist, was er auch nie verleugnet hat, Richard Löwenthal ein Journalist, der ursprünglich einmal Nationalökonomie und Soziologie studiert hatte. Otto Heinrich von der Gablentz war, wenn ich es noch richtig im Kopf habe, ebenfalls von Hause aus Volkswirt, ebenso Arnold Bergstraesser, um nur einige der Gründungsväter der deutschen Nachkriegs-Politikwissenschaft zu nennen. Gibt es durch diesen Wechsel, der sich mit der zweiten Generation durchgesetzt hat, dass also diejenigen, die als Politologen tätig waren, aber gleichzeitig andere akademische – häufig historische – Hintergründe hatten, einen Verlust des Gespürs für historische Zusammenhänge? Ist das ein generelles Problem? Sie haben mit einem recht: Die moderne Politikwissenschaft schaut nur relativ selten in die etwas weiter zurückliegende Vergangenheit. Wir blicken allenfalls in die unmittelbare Vergangenheit, selten auf das, was länger zurückliegt. Fast alles, womit wir uns beschäftigen, wenn wir uns mit Parteien und Wahlen befassen, mit politischen Einstellungen, mit Strukturen, mit Prozessen oder was immer, bezieht sich ja fast ausschließlich auf einen hauchdünnen Ausschnitt der unmittelbar zurückliegenden Geschichte, aus der wir unsere Erfahrungen beziehen, die wir dann mithilfe von Hypothesen und gesetzesförmigen Aussagen in die Zukunft zu extrapolieren versuchen. Einen etwas weiterreichenden Blick in die Geschichte, den haben nur ganz wenige, ich würde sagen, eine winzige Minderheit der akademischen Politologen, zu der ich mich, so unbescheiden darf ich sein, selber zähle. Ich habe ja nicht Ein Gespräch mit Jürgen Falter  —  »Die deutsche Politikwissenschaft ist geschichtsvergessen«

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nur sehr viel über die Wähler der NSDAP geforscht und über Parteien und Wahlen in der Weimarer Republik, sondern arbeite im Augenblick über die Mitglieder der NSDAP, und insgesamt war ich historisch eigentlich stets genauso stark interessiert wie politikwissenschaftlich. Aber ich zähle ja auch schon zu den älteren Politikwissenschaftlern der dritten Generation. Eine gewisse Blickfeldverengung ergibt sich zweifellos aus der Struktur des Faches. Wir sind als Sozialwissenschaft eine Wissenschaft, die versucht, die Gegenwart zu erklären und die Zukunft zu prognostizieren. Der Blick in die Vergangenheit dient eigentlich immer dazu, diese als Steinbruch unserer Hypothesen und Theorien nutzbar zu machen. Das ist natürlich ein sehr verengter Blick. Diese Verengung hat auch mit der Ausbildung zu tun. Als ich in den 1960er Jahren des vorigen Jahrhunderts am Berliner Otto-Suhr-Institut den Diplomstudiengang Politikwissenschaft absolvierte, waren zwei historische Repetitorien selbstverständlich, und eine unserer Klausuren im Vordiplom war eine historische Klausur. Diese hatte in meinem Fall das schöne Thema: »Die schleswig-holsteinische Frage in der deutschen Revolution 1848/49«. Das war kein abgesprochenes Thema, darauf konnte man sich nicht besonders vorbereiten; es wurde einfach erwartet, dass man über die Zeit zwischen 1776 und 1945 hinreichend Bescheid wusste, um auch eine solche spezielle Fragestellung beantworten zu können. Diese historische Tiefendimension ist, zumindest in den Studienplänen und Prüfungsordnungen, weitestgehend verloren gegangen. Das ist nicht mehr in unseren Lehrplänen drin, weder in Mainz noch sonst wo, wenn ich das richtig überblicke. Das passt auch nicht mehr in die Struktur des Bachelor- und des Masterstudiums hinein. Insofern vermitteln wir den Studierenden eine andere Form der akademischen Bildung, als das früher der Fall war. Diejenigen, die auch an der historischen Tiefendimension interessiert sind, haben gar nicht die Möglichkeit, sich wirklich darin zu verbeißen, weil um die Ecke ja schon die nächste Klausur lauert. Das ist meines Erachtens auch ein Grund, warum wir im Fach nur wenig Potenzial haben, solche Dinge aus eigener Kraft zu untersuchen. Deswegen wäre es sicherlich besser und auch notwendig gewesen, ein oder zwei Gutachten von ausgewiesenen Historikern in Auftrag zu geben und dann in eine Debatte einzutreten, die eine Historisierung des Falles Eschenburg ermöglicht hätte. Bei der ganzen Auseinandersetzung war mir viel zu viel Bekenntnis und viel zu wenig Wissen beteiligt. Dass Rainer Eisfeld die Debatte mit der Euphorie des Entdeckers und dem Impetus einer höheren Moral initiiert hat, sollte man ihm nicht vorwerfen, auch wenn er nachgewiesenermaßen handwerkliche Fehler begangen hat. Was aber das Fach dann aus dieser Debatte gemacht hat, hat mich doch geärgert.

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Perspektiven — Interview

Ein Gespräch mit Jürgen Falter  —  »Die deutsche Politikwissenschaft ist geschichtsvergessen«

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Wenn, wie Sie vorhin ausgeführt haben, Geschichtsvergessenheit oft dazu führt, dass häufig, wie auch in der jetzigen Situation, eine Art moralischer Rigorismus entsteht – ist das nicht ein Problem für die Politikwissenschaft, bei der es oftmals keine »objektiven Wahrheiten« gibt, sondern die Bewertungsmaßstäbe immer auch neu ausgehandelt werden müssen? Das hängt sehr stark davon ab, von welchem wissenschaftstheoretischen Ansatz aus man Politikwissenschaft betreibt. Wenn Sie das wie ich von einem empirisch-analytischen Ansatz aus tun, dann wissen Sie natürlich um die Bedingtheit von Werturteilen und von der Unfähigkeit, Werturteile letztzubegründen. Sie wissen, dass irgendwann immer die Begründung abbricht, dass an irgendeiner Stelle eine dezisionistische Setzung notwendig wird, was ich als Grundwerte ansehe, dass ich zwar von einem bestimmten Wertefundament aus argumentiere, das man aber nicht weiter in Frage stellen kann, weil man sonst in einen unendlichen Regress käme, wie Hans Albert in seinem berühmten Münchhausen-Trilemma aufgezeigt hat. Es gibt aber in unserer Disziplin natürlich Protagonisten, die von einer anderen Position ausgehen und glauben, dass ihre Wertkonzeptionen sich objektiv begründen ließen, dass diese die unumstößlich richtigen seien, dass sie folglich für alle gelten müssten, für alle die richtigen seien. Solche Kollegen haben es naturgemäß leichter, unbedingte Urteile abzugeben, während jemand wie ich sich ständig die Frage stellen muss: Ist das angemessen, was ich mache? Ist es historisch angemessen, nehmen wir einmal einen extremen Fall, einen Entscheidungsträger des Mittelalters, Karl den Großen beispielsweise, mit den Kategorien Immanuel Kants zu kritisieren? Und das zu einem Zeitpunkt, als es diese Kategorien noch gar nicht gab? Ich bin da sehr skeptisch. Und dasselbe gilt natürlich für jemanden, der sich in einer strukturellen Bedrängnis befindet, und das galt für viele im Dritten Reich. Darf man die mit den Wertmaßstäben unserer freien Gesellschaft beurteilen, ohne die Situation zu berücksichtigen, in der sie sich befanden? Natürlich kann man es, aber soll man es, darf man es? Oder muss man ihnen nicht eine Art historischen Bonus gewähren und sie an dem messen, was zur damaligen Zeit in einer Güterabwägung möglich oder sinnvoll war, wenn man kein Held war und seine Familie und Kollegen nicht gefährden wollte? Und weiter müssen wir fragen: Wenn Eschenburg sich so falsch und verwerflich in diesem Arisierungsverfahren verhalten hat, wie ihm seine Kritiker unterstellen, kann das nicht doch aufgewogen, ja geheilt werden durch das, was er nachher, nach 1945, getan hat? Ist das unterstellte Schlechte, das er vorgeblich vor 1945 getan hat, so schwerwiegend, dass es nicht durch die demokratisch nun ja doch recht untadeligen fünf Jahrzehnte seines Lebens

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Perspektiven — Interview

danach aufgewogen und wieder gutgemacht werden kann? Diese Form der Reflexion fehlte mir weitestgehend in der Debatte. In meinen Augen war es eher eine Form von Ikonoklasmus als eine ernsthafte, ausgewogene, der Sache gerecht werdende Auseinandersetzung mit der Person und dem Wissenschaftler Theodor Eschenburg. In einem von Ihnen und Felix Wurm herausgegebenen Band über »50 Jahre DVPW« steht in einem der Aufsätze, dass die Politikwissenschaft ein Fach ohne

Erblasten sei, das im Unterschied zu anderen Fächern nicht frühzeitig mit Integrationsproblemen zu kämpfen gehabt hätte, die die Zusammenbindung von Emigranten oder Remigranten und Daheimgebliebenen und ehemaligen Nationalsozialisten bedeutet hat. Hängt der Eifer, der Furor, mit dem die Eschenburg-Debatte geführt wird, auch damit zusammen, dass das Fach bisher solche Vergangenheitsdiskussionen nicht führen musste, weil man davon ausgehen konnte, dass man ein von nationalsozialistischer Verstrickung weitestgehend freies Fach sei? Ganz frei waren wir nie. Als Vorfahren der etablierten Politikwissenschaft in Deutschland gab es in der Weimarer Republik u.a. die ›Auslandsstudien‹ oder die ›Auslandskunde‹, die im Rahmen der sogenannten Auslandswissenschaft im Dritten Reich weitergeführt wurden. Da gab es Berührungspunkte mit dem Nationalsozialismus. Das hat aber bei der Herausbildung und Etablierung des Faches kaum eine Rolle gespielt. Die Nachkriegs-Politikwissenschaft ist ja sehr stark von Emigranten aufgebaut worden, von Remigranten, so muss man vielleicht besser sagen. Sie ist sehr stark beeinflusst worden von deren Denken, von dem, was aus den USA zu uns zurückgekommen ist, so dass man viel weniger Probleme hatte als andere Fächer wie die Soziologie, die Nationalökonomie oder Jurisprudenz. Viele Juristen waren schwer belastet, man denke nur an Carl Schmitt oder Ernst Forsthoff. Oder denken wir an die Geschichtswissenschaft, wo solche wissenschaftlichen Leuchttürme wie Werner Conze oder Theodor Schieder, um nur zwei zu nennen, eine viel größere Nähe zu völkischen Vorstellungen und Konzepten aufwiesen, als man lange vermutet hatte. Solche belasteten Leitfiguren des Faches wie diese gab es in der Nachkriegs-Politikwissenschaft kaum. Da wir vor diesem Problem der Vergangenheitsbewältigung nicht standen, ist innerhalb unseres Faches auch die Debatte nicht so geführt worden wie, wenn auch teilweise mit großen Verzögerungen, in den Nachbarwissenschaften. Man hätte natürlich durchaus intensiver in die Geschichte des Faches schauen können, nicht alle der frühen Politikwissenschaftler hatten eine blütenweiße Weste, was die Nähe zum Nationalsozialismus anging. Und am Otto-Suhr-Institut war es uns zu Ein Gespräch mit Jürgen Falter  —  »Die deutsche Politikwissenschaft ist geschichtsvergessen«

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meiner Zeit durchaus bewusst, dass es als eine Art Vorläufer einmal eine Deutsche Hochschule für Politik gab, an der eben nicht nur Theodor Heuss gelehrt hatte. Einige der akademischen Lehrer der damaligen Zeit waren dann durchaus auch im und für das Dritten Reich tätig. Das alles wurde aber nicht im Sinne einer Vergangenheitsbewältigung des Faches diskutiert, weil keiner der Großen des Faches erkennbar impliziert war. Am Otto-Suhr-Institut ohnehin nicht. Wenn Sie mal kurz überlegen, wer dort alles gelehrt hat: Ernst Fraenkel musste als Jude fliehen vor den Nationalsozialisten, ebenso Ossip K. Flechtheim, Richard Löwenthal wurde verfolgt und floh, Otto Heinrich von der Gablentz war in der inneren Emigration und beim Widerstand, mein eigener Diplomvater, Gert von Eynern, ist in die Pantoffelindustrie gegangen und hat dort als Syndikus überlebt. Etwas ähnliches hatte auch Eschenburg gemacht. Also: Die Debatte ist nicht geführt worden, sie war auch nach damaliger Kenntnis nicht wirklich nötig; aber wenn man genauer hingeschaut hätte, hätte man natürlich feststellen können, dass der eine oder andere der Gründungsväter auch schon im Dritten Reich tätig gewesen war, das gilt beispielsweise für Michael Freund, der 1940 in die NSDAP eingetreten war, aber eben auch für Theodor Eschenburg und manchen anderen. Könnte die Reaktion auf Eschenburg auch mit einer Entwicklung in der Politikwissenschaft zusammenhängen, die zunehmend auf eine Spezialisierung und gegenseitige Isolierung der einzelnen Arbeitsfelder hinausläuft? Dass die moralische Fallhöhe einer Person wie Eschenburg, der sehr viel Kraft und Zeit in die populäre Übersetzung von Demokratie investiert und als eine Art Demokratielehrer der 1950er und 1960er Jahre fungiert hat, im Vergleich zu der eines Spezialisten deutlich höher ist? Ja, das ist ein guter Punkt: dass hier die Diskrepanz zwischen der späteren Predigt und dem früheren Leben als besonders stark empfunden wird. Dass man so jemandem etwas leichter und stärker übel nimmt als jemandem wie, sagen wir einmal, Hans Rattinger, Oskar Gabriel oder Hans-Dieter Klingemann, die immer sehr spezialisiert geforscht haben und nie für das Fach als Ganzes standen. Die eigentlich auch nie als Präzeptoren der wahren Demokratie aufgetreten sind. Es ist durchaus möglich, dass die Enttäuschung deswegen größer ist – so wie auch die Enttäuschung in der Geschichtswissenschaft über Conze, Schieder und andere, als herauskam, dass sie in Königsberg an irgendwelchen völkischen Konzeptionen und Projekten gearbeitet haben, besonders groß war. Allerdings: Wer kennt denn Eschenburg und das, was er gesagt und geschrieben hat, heute noch ernsthaft? Das ist doch

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nur die ältere Generation. Er hat nicht wirklich etwas Bleibendes hinterlassen in dem Sinne, wie das solche internationalen Leitfiguren des Faches wie Karl W. Deutsch, Gabriel Almond oder David Easton getan haben. Personen also, die ein Werk hinterlassen haben, an dem man sich heute noch reibt oder orientiert. Das tut man im Fall von Eschenburg nicht. Viele der Dinge, die er geschrieben hat, waren eigentlich eher für den Tag gedacht. Bestenfalls für ein Jahrzehnt. Für die Zeit zwischen Mitte der 1950er und dem Ende der 1960er Jahre vielleicht. Insofern ist es nicht so sehr das Werk, an dem man sich reibt, sondern es ist vielleicht doch die Wahrnehmung dieser Diskrepanz zwischen einer als in demokratischem Sinne untadelig geltenden Personen und der Tatsache, dass auf seiner Weste aus der Zeit des Dritten Reiches ein Fleck zurückgeblieben ist. Ist es das, was Eschenburg als Demokratielehrer oder, wie Sie es sagen, als politischer Praeceptor Germaniae mit Johannes Agnoli verbindet? Also der moralische Anspruch und die Fallhöhe? Agnoli, der sich durch seine dezidiert linken, antifaschistischen Warnungen vor Deformationen der politischen Nachkriegsgeschichte ebenfalls zu einer Art Musterdemokrat emporschwang? Bei dem es dann aber auch eine Kontroverse gab, als herauskam, dass er als junger Mann glühende Bekennertexte zu Mussolini und dem italienischen Faschismus verfasst hatte? Es ist für mich durchaus nachvollziehbar, dass sich der Funke der moralischen Erregbarkeit an solchen Persönlichkeiten schneller entzündet als an jemandem, der sich moralisch nicht so stark eingebracht hat, sondern nur mit seinem wissenschaftlichen Werk. Stellen Sie sich einmal vor, es würde entdeckt, dass Richard Löwenthal in seiner Jugend nicht Mitglied einer kommunistischen Organisation gewesen wäre, sondern ein führendes Mitglied der Jugendorganisation des Deutsch-Völkischen Schutz- und Trutzbundes? Dann wäre man wahrscheinlich genauso entsetzt. Insofern ist es vermutlich nicht ganz falsch, was sie sagen. Ich glaube dennoch, dass letztlich alle Diskrepanzen dieser Art als störend empfunden werden. Da gibt es einfach etwas, an dem man sich reiben kann, wenn man enttäuscht ist darüber, dass man jemanden, den man verehrt hat, den man auf ein Podest gestellt hat, der als untadelig dastand, dass der möglicherweise in seiner Jugend oder seinem jungen Erwachsenenalter an Dingen beteiligt war, die man nicht billigen kann. Das war eben auch in Agnolis Fall gegeben. Bei David Easton oder Talcott Parsons mit ihren theoretischen Gesamtentwürfen wäre das schon schwerer vorstellbar. Deren Werk würde auch nach solchen moralischen Attacken auf ihre persönliche Integrität wissenschaftlich überleben. Ein Gespräch mit Jürgen Falter  —  »Die deutsche Politikwissenschaft ist geschichtsvergessen«

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Trügt unsere Wahrnehmung, dass sich bei der Eschenburg-Debatte die Aufmerksamkeit relativ stark darauf richtet, ob und seit wann er ein zuverlässiger Demokrat war, wie er sich in der Weimarer Republik verhalten hat, ob es eine Nähe zu Carl Schmitt zum Beispiel gegeben hat, und ob seine Äußerungen zu Demokratie und Diktatur in den 1920er Jahren erkennen lassen, ob er damals schon Republikaner gewesen sei oder nicht? Oder wie er später in der Nachkriegszeit sich zu Demokratie und Diktatur geäußert hat? Da soll er gesagt haben, dass es in regelmäßigen Abständen eine Art temporärer Aufräum-Diktatur geben müsse, weil in den demokratischen Entscheidungsprozessen vieles liegen bleibe und dass sich dabei letztlich Probleme auftürmten, die irgendwann alle paar Jahre abgeräumt werden müssten. Lassen Sie mich zunächst auf dieses Bild der Aufräum-Diktatur eingehen. Die Frage, die wir uns in diesem Zusammenhang stellen müssen, ist: Ist die Äußerung von Eschenburg, man brauche alle paar Jahre oder Jahrzehnte so etwas wie einen wohlwollenden Diktator, als eine normative oder als eine empirische Aussage gedacht? Stellt er sozusagen eine Hypothese auf über eine von ihm gesehene Notwendigkeit oder Regelhaftigkeit, die er aus der Geschichte ableitet? Dann kann die Hypothese richtig oder falsch sein, sie kann theoretisch sinnvoll oder unsinnig sein; sie moralisch zu bewerten, wäre in diesem Falle abwegig. Hier zählten zunächst einmal nur der empirische Gehalt und die theoretische Sinnhaftigkeit. Oder meint er das Ganze normativ? Dass wir alle paar Jahre einen wohlwollenden Diktator haben sollten, damit Auswüchse der Demokratie beseitigt werden können? Das ist die Grundfrage, die wir stellen müssen, wenn wir diese Äußerung beurteilen. So aber ist sie meines Wissens nicht gestellt worden. Auch das hatte und habe ich an der Debatte auszusetzen. Und die zweite Frage lautet: Wie ist sein Verhalten in der Weimarer Republik zu beurteilen? Da kann ich mich eigentlich nur auf Udo Wengst verlassen, der darüber geschrieben hat, auch auf Hans-Joachim Lang, die beide herausarbeiten, dass Eschenburg zwar ein Kind seiner Zeit war, aber eindeutig auf der demokratischen und republikanischen Seite stand. Das belegen ja auch seine Nähe zu Stresemann, seine Mitgliedschaft in der DVP und später sein Versuch, auf dem Ticket der Staatspartei ein politisches Mandat zu erringen. Da wird meines Erachtens viel insinuiert und wenig bewiesen, was typisch für jemanden ist, der mit vorgefassten Meinungen an ein Thema herangeht. Politikwissenschaft ist immer auch eine Wissenschaft davon, wie bestimmte Einstellungen in ihren Konjunkturen verlaufen. Wann Menschen in welchen Perioden bestimmte Werte verinnerlichen und ausleben. Das ist ja nichts Statisches, sondern es unterliegt einer Dynamik, und ich habe das Gefühl, dass auch in

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Perspektiven — Interview

dieser Diskussion sich die Politikwissenschaft ungemein schwer tut damit, diese Dynamiken auch für ihre Mitglieder und Gründungsväter nachzuvollziehen und einzuordnen. Brauchen wir also ein starkes Plädoyer für eine Rehistorisierung der Politikwissenschaft? Ja natürlich, ganz eindeutig. Irgendwie scheint es ja durch meine Argumente durch, wenn sie genau hingehört haben, dass ich dieser Auffassung bin. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir tatsächlich eine Historisierung der Geschichte unseres Faches und der Biografien unserer Gründergeneration vornehmen müssen, und dass dabei moralischer Rigorismus sicherlich nicht das beste Instrument der Erkenntnis ist. Damit werden wir diesen Menschen, ihren Einstellungen und ihrer Entwicklung nicht gerecht. Wir müssen immer die tatsächlichen Zeitumstände in besonderer Weise berücksichtigen. Dass es in Deutschland in der Generation Eschenburg nur wenige ungebrochene Biografien gibt, das erschließt sich jedem, der sich nur ein wenig damit beschäftigt. Und Eschenburg war ja nun doch in meinen Augen vergleichsweise unbescholten. Er war nicht einmal Mitglied der NSDAP, obwohl es doch so einfach für ihn gewesen wäre, in die NSDAP einzutreten und auf diese Weise mitzuschwimmen. Das spricht doch stark dafür, dass er von dem Verein nicht allzu viel gehalten hat. Dieses Plädoyer würde für eine gewisse Generalisierung sprechen. Sie kritisieren, dass heutige Studenten kaum noch Allgemein- oder Generalwissen besäßen. Zwar werde in der Abschlussprüfung nach den Klassikern des politischen Denkens gefragt oder nach Werken der politischen Theorie, aber eigentlich immer nur nach einem Autor, häufig sogar nur nach einem einzigen Buch. Sie nannten Machiavelli und den »Principe«, und hier an ihrer Bürotür steht: Wer bei Ihnen eine Prüfung ablegen will, der muss sich darauf einstellen, dass er pro Teildisziplin nicht nur ein Thema auswählt, sondern mindestens zwei, aus dem dann eines oder beide von Ihnen für die Prüfung gewählt werden. Gleichzeitig haben Sie sich aber auch ganz vehement für die Spezialisierung des Faches Politikwissenschaft stark gemacht, als einzige Möglichkeit der Verwissenschaftlichung. Nur dadurch entwickelten sich professionelle Standards, um als eigenständiges Fach anerkannt zu werden. Wenn man Allgemeinwissen und Spezialisierung kombinieren will, bleibt man dann nicht notwendigerweise an der Oberfläche und geht nicht wirklich in die Tiefe? Was wollen Sie denn nun, Generalisierung oder Spezialisierung? Beides. Sehen Sie denn da einen Widerspruch? Politikwissenschaftliche Allgemeinbildung und Spezialisierung stehen doch nicht per se in Widerspruch zueinander. Sie können die notwendige Allgemeinbildung eines Ein Gespräch mit Jürgen Falter  —  »Die deutsche Politikwissenschaft ist geschichtsvergessen«

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Faches, den Überblick über Gegenstand, Fragestellungen und Herangehensweisen, im Bachelorstudium erwerben (früher war das das Vordiplom oder die Zwischenprüfung) und die Spezialisierung danach, im Masterstudium. Das ist übrigens auch immer nur eine Teilspezialisierung. Die eigentliche Spezialisierung kommt dann, wenn Sie anfangen zu forschen. Wenn wir forschen, spezialisieren wir uns immer, das geht einfach nicht anders. Mir persönlich war es allerdings immer zu langweilig, mein Leben lang nur ein Gebiet zu erforschen. Ich habe deshalb nacheinander auf ein paar Feldern zu forschen versucht. Es war dadurch immer zumindest eine temporäre Spezialisierung. Aber deswegen geht doch die Allgemeinbildung – nicht nur des Faches, sondern auch die Allgemeinbildung im klassischen Sinne – nicht notwendigerweise verloren. Ich nehme für mich in Anspruch, beides zu besitzen: Spezialkenntnisse auf den Gebieten, auf den ich geforscht habe bzw. forsche, einen allerdings im Laufe der Zeit oberflächlicher gewordenen Überblick über die Politikwissenschaft und das, was Dietrich Schwanitz in seinem Buch als klassische Allgemeinbildung bezeichnet hat. Aber diese Art von Allgemeinbildung wird doch zum Beispiel im Bachelorstudium sowieso vermittelt, da muss man doch relativ breit studieren. Ja, das ist das Ideal. Die Praxis sieht leider meistens anders aus. Auch in der Bachelorprüfung gehen Sie zum Prüfer, besprechen mit ihm, dass in der Prüfung nur noch auf ein einziges Werk, nämlich den Fürsten oder Tocquevilles Amerika oder ein bestimmtes Buch von John Stuart Mill oder vielleicht sogar nur zwei oder drei Kapitel des »Leviathan« eingegangen wird. Kant wählt niemand, der ist praktisch allen zu schwer. Da ist eine Verengung angelegt, eine extreme Verengung. Das ist Prüfungswissen, das nach der Prüfung im Allgemeinen ganz schnell wieder vergessen wird. Das ist nicht unbedingt exemplarisches Lernen, aber es sind exemplarische Prüfungen, die wir abhalten. So steht es nicht in den Prüfungsordnungen, aber ich bin sicher, dass ist in Göttingen nicht anders ist als in Berlin und Mainz: Dass sich eine gewisse Prüfungsfolklore entwickelt hat, von der man nicht mehr abweichen kann oder sich nicht abzuweichen traut. Bei mir ist das auch nur ein Kompromiss, wenn ich den Prüfungskandidaten sage: Ihr müsst über die Bundesrepublik insgesamt Bescheid wissen, über das gesamte politische System, umfangsmäßig so wie es bei Wolfgang Rudzio abgehandelt ist. Andere Kollegen prüfen ihre Kandidaten nur über die politische Kultur der Bundesrepublik oder deren Wahlsystem, über den Gesetzgebungsprozess oder was immer. Ich bin hier derzeit der Einzige bei uns am Institut, der auf etwas breitere Kenntnisse insistiert. Ich habe mich damit allerdings gegenüber den Kollegen

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Perspektiven — Interview

nicht durchsetzen können, obwohl ich auf die Etablierung des Mainzer Instituts für Politikwissenschaft, wie es heute existiert, durchaus einen gewissen Einfluss hatte. Durch diese Prüfungspraxis aber erfolgt eine Verengung des Lernens und eine daraus resultierende Verengung des Interesses und der akademischen Bildung. Die Interessen sind vielleicht da, aber da man ja eine gute Note erreichen will, verengt sich ganz zwangsläufig der Horizont. Ich selber habe noch »Die guten alten Zeiten« erlebt, als es undenkbar war, mit den akademischen Prüfern in der Diplomprüfung Spezialthemen abzusprechen. Für mein Diplom am Otto-Suhr-Institut im Jahre 1968 habe ich ein halbes Jahr nichts anders gemacht als praktisch den gesamten Kanon der damaligen Politikwissenschaft, so wie er am Otto-Suhr-Institut gelehrt wurde, aufzuarbeiten. Ich habe noch diese 1.000 Karteikarten, die ich damals mit Exzerpten des möglichen Prüfungsstoffs voll geschrieben hatte, und von dem Wissen, dass ich mir damals angeeignet habe, zehre ich heute noch. Die Idee war, dass man wirklich in allen Bereichen der Politikwissenschaft zumindest ein Grundwissen aufwies. Sonst hätte man ja auch nie über solch abwegige Themen schreiben können wie: »Die schleswig-holsteinische Frage in der deutschen Revolution 1848/49« oder »Die Rolle von Hypothesen im wissenschaftlichen Arbeitsprozeß«. Das war einfach ein Bestandteil des vorausgesetzten Wissens, des historischen Wissens im ersteren Falle, das von der französischen Revolution bis mindestens 1945 zu reichen hatte, des wissenschaftstheoretischen Rüstzeugs im letzteren. Vielleicht war das nicht unbedingt persönlichkeitsformend, aber zumindest kognitiv stark bildend. Lassen Sie uns abschließend noch einmal auf unsere Ausgangsfrage zurückkommen: Uns ist aufgefallen, dass Sie sowohl in der Causa Eschenburg als auch in der Agnoli-Debatte sehr engagiert waren und sich aktiv beteiligt haben. Bei der Eschenburg-Debatte durch Ihren Rücktritt, in der Agnoli-Debatte durch Ihren Beitrag zusammen mit Uwe Thaysen in der Zeitschrift für Parlamentsfragen. Das haben Sie nicht einfach passiv verfolgt, sondern Sie haben sich eingemischt. Wie kommt das? Hat das etwas damit zu tun, dass Sie aufgrund Ihrer eigenen wissenschaftlichen Tätigkeit gerade über die NSDAP und die NS-Zeit sich besonders angesprochen gefühlt haben oder spielt in diesen beiden Fällen vielleicht auch eine persönliche Bekanntschaft eine Rolle? Eschenburg habe ich nicht gekannt. Ich habe Eschenburg in meinem Leben nie getroffen. Ich sah ihn einmal bei irgendeiner Veranstaltung sozusagen über der Menge schweben, weil er ja so unglaublich groß war. Agnoli andererseits kannte ich sehr gut aus meiner Berliner Studentenzeit, wo ich zusammen mit anderen eine wissenschaftliche Studentenzeitung herausgegeben Ein Gespräch mit Jürgen Falter  —  »Die deutsche Politikwissenschaft ist geschichtsvergessen«

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hatte, in deren Beirat Agnoli war, zusammen mit Krippendorff, Löwenthal und Gilbert Ziebura, Uwe Thaysen kam später noch dazu. Ausschlaggebend ist, glaube ich, mein disziplinäres Engagement. Politisch bin ich bekanntlich weniger engagiert, zumindest nicht nach außen hin, ich bin auch parteipolitisch nicht organisiert, aber disziplinär war ich es immer. Schon weil ich glaube, dass unser Fach es wert ist, dass man sich auch mit fachinternen Angelegenheiten beschäftigt. Und sowohl bei Agnoli als auch bei Eschenburg, damit haben Sie völlig recht, spielt sicher auch meine Beschäftigung mit der Weimarer Republik und dem Dritten Reich eine große Rolle. Ich bin nun einmal in einer Zeit politisch sozialisiert und kognitiv geweckt worden, als man sich mit dem Nationalsozialismus, aber auch mit dem Stalinismus auseinandersetzte. Ich habe mich immer als Anti-Extremist verstanden und sehr wenig Verständnis für Menschen gehabt, die sich für Diktaturen gleich welcher Art erwärmen konnten. Im Gegenzug habe ich immer versucht, Verständnis für die Situation von Leuten zu entwickeln, welche zeitweilig die eine oder andere Position eingenommen haben. Ich habe zu verstehen versucht, ohne deswegen bestimmte Entscheidungen und Haltungen zu billigen. Ich bin halt ein unheilbarer Empiriker. Was wären dann für die Zukunft Ihre Schlussfolgerungen oder Ihre Forderungen betreffs des Umgangs der Politikwissenschaft mit ihrer eigenen Vergangenheit? Quidquis agis, prudenter agas et respice finem. Das heißt: Was immer Du tust, handle klug und bedenke das Ende. Das hätte ich mir auch bei der Entscheidung über den Theodor-Eschenburg-Preis gewünscht. Vielen Dank, Herr Professor Falter, für das Gespräch! Das Interview führten Matthias Micus und Felix Butzlaff.

Prof. Dr. Jürgen Falter, geb. 1944, ist Senior Research Professor für Politikwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und o. Mitglied der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz. Von 2000 bis 2003 war er Vorsitzender der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft.

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Perspektiven — Interview

INDES ZEITSCHRIFT FÜR POLITIK UND GESELLSCHAFT Herausgegeben von Prof. Dr. Franz Walter, Institut für Demokratieforschung der Georg-AugustUniversität Göttingen. Redaktion: David Bebnowski, Felix Butzlaff, Lars Geiges, Roland Hiemann, Julia Kiegeland, Dr. Robert Lorenz, Michael Lühmann, Dr. Torben Lütjen, Marika Przybilla. Konzeption dieser Ausgabe: Dr. Matthias Micus Redaktionsleitung: Katharina Rahlf (verantw. i. S. des niedersächs. Pressegesetzes), Dr. Matthias Micus. Redaktionsanschrift: Redaktion INDES c/o Göttinger Institut für Demokratieforschung Weender Landstraße 14, 37073 Göttingen, [email protected] Online-Auftritt: www.indes-online.de Anfragen und Manuskriptangebote schicken Sie bitte an diese Adresse, möglichst per E-Mail. – Die Rücksendung oder Besprechung unverlangt eingesandter Bücher kann nicht gewährleistet werden. INDES erscheint viermal jährlich. Bestellung durch jede Buchhandlung oder beim Verlag. Jahresbezugspreis € 60,– D / € 61,70 A / SFr 84,90; ermäßigter Preis für Studierende/Auszubildende (gegen Bescheinigung, befristet auf drei Jahre) € 36,90 D / € 38,– A / SFr 52,90; Einzelheftpreis € 16,95 D / € 17,50 A / SFr 23,50. Inst.-Preis € 120,– D / € 123,40 A / SFr 169,80. Jeweils zzgl. Versandkosten. Preisänderungen vorbehalten. Die Bezugsdauer verlängert sich jeweils um ein Jahr, wenn nicht eine Abbestellung bis zum 1.10. erfolgt. Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, D-37073 Göttingen. Anzeigenverkauf: Ulrike Vockenberg E-Mail: [email protected] (für Bestellungen und Abonnementverwaltung) oder [email protected] Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. ISBN 978-3-525-80007-2 ISSN 2191-995X © 2014 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Gestaltung, Satz und Lithografie: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: Memminger MedienCentrum, Memmingen Printed in Germany

BEBILDERUNG Die Collagen dieser Ausgabe entstammen Karl Oppermanns Serie »Doktorspiele«, die 1998 veröffentlicht wurde. Karl Oppermann, geboren 1930 in Wernigerode/Harz, später u. a. Professor für freie Malerei an der HdK (Heutige Kunst-Universität) Berlin, mit Ateliers in Barcelona und auf Elba. Einzelausstellungen u. a. in Berlin, Bogota, Barcelona, Bonn, Brüssel, Buenos Aires, Caracas, Frankfurt/Main, Genua, Hamburg, Krakau, Houston/Texas, Lima, Lissabon, London, New York, Paris, Plovdiv BG., Potsdam, Prag, Sao Paulo. Kunstpreise der Städte Wernigerode (2003) und St. Andreasberg (2006). Seine Werke sind im Besitz von Museen, öffentlichen und privaten Sammlungen. http://www.karloppermann.eu/ 2009 Errichtung der »Stiftung Karl Oppermann« an der Hochschule Harz. Der Letterado- Verlag publiziert 2005 seine Erinnerungen »Klatschmohn und Silberstift« (vergriffen), 2008 erscheint im Dr. Ziethen-Verlag Band 2, »Wechselgesang« und 2010 Band 3: »Nachschlag«.

Foto Werner: © Johanna Rübel Foto Soldat: © Miguel Bueno Foto Eschenburg: © Wolf Sperling

Zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit des Bundesjustizministeriums Manfred Görtemaker / Christoph Safferling (Hg.)

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