Liberalismus: Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft 2016 Heft 02 [1 ed.] 9783666800160, 9783525351178, 9783647351179, 9783525351215, 9783647351216, 9783525800164

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Liberalismus: Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft 2016 Heft 02 [1 ed.]
 9783666800160, 9783525351178, 9783647351179, 9783525351215, 9783647351216, 9783525800164

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INDES Vandenhoeck & Ruprecht

Heft 2 | 2016 | ISSN 2191-995X

ZEIT SCHRIFT FÜR POLITIK UND GESELLSCHAFT

Liberalismus Gary S. Schaal  Liberale Gesellschaftsordnungen  Elif Özmen  Liberalismus

und soziale Gerechtigkeit  Reinhard Loske  Die Grünen als neue L­ iberale? Jörn Leonhard  Europäische Liberalismen  Tom Mannewitz Libertärer Paternalismus und Demokratie

Neuerscheinungen zur DDR-Geschichte

Bernd Florath Annäherungen an Robert Havemann

Markus Anhalt Die Macht der Kirchen brechen

Biographische Studien und Dokumente

Die Mitwirkung der Staatssicherheit bei der Durchsetzung der Jugendweihe in der DDR

Analysen und Dokumente. Wissenschaftliche Reihe des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU), Band 43. 2016. 668 Seiten mit 67 Abb., gebunden € 50,– D ISBN 978-3-525-35117-8 eBook: € 39,99 D ISBN 978-3-647-35117-9

Der Band enthält Analysen und bisher unveröffentlichte Dokumente zu Robert Havemanns Entwicklung zum Gegner des SED-Regimes.

Analysen und Dokumente. Wissenschaftliche Reihe des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU), Band 45. 2016. 221 Seiten, gebunden € 18,– D ISBN 978-3-525-35121-5 eBook: € 14,99 D ISBN 978-3-647-35121-6

Die Studie zeichnet die Anfänge der Jugendweihe in der DDR bis zum Ende der 1950er Jahre nach und klärt über die Mitwirkung der Staatssicherheit bei der Durchsetzung kirchenpolitischer Ziele auf.

www.v-r.de

EDITORIAL ΞΞ Leona Koch / Matthias Micus / Marika Przybilla

Nach der letzten Bundestagswahl waren die Liberalen schon für tot erklärt worden. Spätestens seit den diesjährigen Landtagswahlen in Baden-­ Württemberg und Rheinland-Pfalz hat sich diese Diagnose jedoch als verfrüht erwiesen. Bereits 2015 hatte die FDP mit ihrem Wiedereinzug in die Bürgerschaften Bremens und Hamburgs Lebenszeichen ausgesandt. Und es war auch keineswegs der erste Abgesang auf die Partei: Schon Anfang der 1970er, in der Mitte der 1980er und zum Ende der 1990er Jahre hatten professionelle Interpreten des Politischen ihr die Totenglocken geläutet. Aktuell sitzen freidemokratische Abgeordnete in immerhin acht von 16 Landtagen – eine Präsenz, die sich die FDP in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre wahrscheinlich gewünscht hätte, als sie eine halbe Dekade lang bloß noch in vier Landesparlamenten Delegierte stellte. Die Liberalen, so scheint es, besitzen mehr Leben als die Katzen. Schon diese wenigen Zeilen werfen freilich eine ganz grundlegende Frage auf: Ist die FDP das politische Sprachrohr des Liberalismus, und zwar das einzige und exklusive? Kann die FDP das Alleinvertretungsrecht für den ­Liberalismus reklamieren? Lässt sie sich gar mit dem Liberalismus gleichsetzen? Oder, um aus dem Beitrag von Hans Vorländer in diesem Heft zu zitieren: »Von welchem Liberalismus ist indes die Rede? […] Von einer Bewegung, einer Partei, einer Philosophie?« In Arbeiten zur politischen Ideengeschichte und in parteienwissenschaftlichen Längsschnittanalysen sind dergleichen Identifikationen durchaus üblich. Da wurzelt die SPD, aus der Arbeiterbewegung hervorgegangen, im sozialistischen Lager; die CDU repräsentiert als Nachfolgeorganisation der katholischen Zentrumspartei, nach dem Zweiten Weltkrieg erweitert um protestantisch-konservative Gesellschaftssegmente, das christlich-konservative Spektrum; und die FDP stellt demzufolge den Partei gewordenen Libe­ ralismus dar. Vor diesem Hintergrund bleibt aller unter Beweis gestellten Überlebensfähigkeit zum Trotz die Schwäche der FDP erklärungsbedürftig. Schließlich ist die deutsche Gesellschaft insgesamt gegenwärtig wahrscheinlich so liberal wie nie zuvor. Nie ließen sich Lebensstilvorlieben und sexuelle Präferenzen freier pflegen und unkaschierter ausleben. Historisch neu dürfte – trotz aller fortbestehenden Defizite – ebenfalls das Ausmaß sein, in dem Frauen

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zwischen Arbeit und Familie, Privatheit und Öffentlichkeit wechseln und wählen können. Unter Angela Merkel hat sich mittlerweile auch die CDU gesellschaftspolitisch weitgehend liberalisiert – vom Kita-Ausbau über die Frauenquote in Unternehmen bis hin zur Gleichstellung Homosexueller. Überhaupt haben Gruppenzwänge, die den Einzelnen in seiner Selbstentfaltung einzuschränken vermögen, nach drei Jahrzehnten der sozialen Differenzierung, Individualisierung und Pluralisierung viel von ihrer einstigen Kraft eingebüßt. Freilich wird im noch jungen 21. Jahrhundert in der öffentlichen Meinung als Liberalismus weniger der Gesellschafts- als vielmehr der Wirtschafts­ liberalismus etikettiert: neuliberal genannte Strategien, die den Marktkräften huldigen. Allerdings kommt die Konjunktur von L ­ eistungsbekenntnissen – noch einmal – kaum der nobel-distinguierten FDP zugute. Stattdessen hat zuletzt die volkstümelnde, isolationistische, Ängste schürende AfD einen steilen Aufstieg erlebt. Der Liberalismus ist mithin ein schillerndes Phänomen, statt einer Einheit ähnelt er eher einem Mosaik, bestehend aus zahlreichen Teilchen und Bindestrichkonstruktionen: dem Links- und dem Nationalliberalismus, Wirtschaftsund Gesellschaftsliberalismus, Rechtsstaats- und Kulturliberalismus. Gibt es ihn überhaupt, den einen Liberalismus? In einem instruktiven Buch hat der französische Philosoph Jean-Claude Michéa vor einigen Jahren diese Frage bejaht: Der Liberalismus lasse sich in all seinen Strömungen und F ­ acetten auf gemeinsame Prinzipien zurückführen. Michéa zufolge lassen sich die Anfänge der Moderne und des Liberalismus auf die Zeit der Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts datieren. Als Resultat des Traumas mörderischer Bürgerkriege gründe der Liberalismus in dem Bestreben, in Frieden zu leben und sich friedlich den eigenen Angelegenheiten widmen zu können. Insofern die Wurzeln der Gewalthandlungen in der Ruhmsucht der Herrschenden und im Anspruch der Massen, exklusiv im Besitz des Richtigen und Wahren zu sein, gesehen worden seien, das Menschenbild des Liberalismus also grundskeptisch sei, richte die liberale Utopie ihre Hoffnungen einer vernunftorientierten Gesellschaft auf die überpersönlichen und also neutralen Strukturen von Recht und Markt. Da der liberale Staat folglich keine Vorgaben für Werte und Lebensweisen machen dürfe und seine Legitimität einzig daraus schöpfe, dem Einzelnen größtmögliche Freiheit zu gewähren, solange anderen dadurch kein Schaden entstehe, habe er andererseits keine Möglichkeiten, auf das individuelle Tun einzuwirken und etwa wünschenswerte Verhaltensweisen zu fördern oder moralische Standards zu setzen. Dieses Dilemma lösen ­Liberale, Michéa zufolge, durch die »unsichtbare Hand« des Marktes auf. Der freie wirtschaftliche Tausch solle automatisch und ­logisch eine friedliche und

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gerechte Gesellschaft hervorbringen. Weil also der Markt viel mehr als das Recht das Gelingen, den Zusammenhalt und den Fortbestand liberaler Gesellschaften verbürge, liefen die liberalen Prinzipien in letzter Instanz in den »Mechanismen des Markts« zusammen. Weshalb denn die »seelenlose Welt des zeitgenössischen Kapitalismus« der »real existierende Liberalismus« sei. Soweit Michéas Interpretation, der man natürlich nicht folgen muss. Kaum bestreitbar hingegen dürfte sein, dass derzeit die Grenzen der Idee einer ­liberalen Gesellschaft ausgelotet werden, dass die liberale freidemokratische Partei in Deutschland zuletzt ein Schattendasein gefristet hat und das Konzept einer liberalen Wirtschaftsordnung und eines deregulierten Marktes gegenwärtig angefeindet wird. In einer solchen Situation muss sich der Liberalismus seiner selbst vergewissern, die unveräußerlichen Fundamente freilegen und zu zeitgemäßen Handlungsstrategien verdichten. In vielleicht besonderem Maße stellt sich für den Liberalismus aktuell die Frage nach der Substanz seines »Ismus«: Was macht ihn aus? Was sind seine unterschiedlichen Facetten, was seine perspektivischen Ziele? Die vorliegende Ausgabe von INDES versucht mit ihrem Schwerpunkt, einen Beitrag zur Diskussion über den Liberalismus zu leisten. Wie stets wird die Debatte dadurch nicht abgeschlossen werden (können), und die Auswahl an Themen und Texten bleibt notgedrungen unvollständig. In gewisser Weise ist die INDES damit selbst liberal, stellt das Bekenntnis zu kontroversen Diskursen, zur uneingeschränkten Legitimität differenter Blickwinkel auf die Wirklichkeit und zur permanenten Revisibilität von Erkenntnissen und Entscheidungen doch geradezu ein Markenzeichen liberalen Denkens dar. D ­ arüber hinaus wünschen wir – wie stets – viel Spaß bei der Lektüre.

EDITORIAL

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INHALT

1 Editorial ΞΞLeona Koch / Matthias Micus / Marika Przybilla

LIBERALISMUS >> ANALYSE



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Der Liberalismus und seine Feinde Über Erfolg und Scheitern liberaler Ideen ΞΞHans Vorländer

18 Aspekte einer neuen Ordnungsökonomik Wie Wirtschaftstheorie und Bürgergesellschaft wieder zueinander finden können ΞΞStefan Kolev

25 Ein historischer Kollektivsingular

Das Phänomen des Liberalismus in europäischer Perspektive ΞΞJörn Leonhard

34 Die Moral des Bäckers

Prinzipien einer liberalistischen Marktethik ΞΞMichael Baurmann

43 If you’re a liberal, how come you’re so poor? Liberalismus und soziale Gerechtigkeit ΞΞElif Özmen

50 Wer etwas verändern will,

muss mit Widerständen rechnen Zur Rolle der Frau im Liberalismus ΞΞInes Soldwisch

59 Grenzen der Privatsphäre

Neues über Liberalismus und Religion ΞΞJohannes Fioole

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INDES, 2016–2, S. 4–5, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2191–995X

66 Keine Freiheit ohne Staat!

Was Kants politischer Liberalismus uns heute noch zu sagen hat ΞΞPhilipp-Alexander Hirsch

77 Liberale Gesellschaftsordnungen

Wie die Wandlungen des Liberalismus unser Leben unter Druck gesetzt haben ΞΞGary S. Schaal

84 Liberalismus im Islam

Was bleibt vom Arabischen Frühling? ΞΞThorsten Hasche



>> PORTRAIT 91 Der »Liberalismus der Furcht«

Judith N. Shklars Liberalismustheorie im Kontext ΞΞAndreas Hess

103 Die Grünen als liberale Partei?

Eine Warnung vor allzu mühelosen Häutungen ΞΞReinhard Loske

PERSPEKTIVEN

>> ANALYSE 113 Auf dem Umweg zur Knechtschaft?

Das Spannungsverhältnis von Nudging und Demokratie ΞΞTom Mannewitz

123 Die Sozialdemokratie in der Vertrauenskrise Geld, Moral und andere Kleinigkeiten ΞΞKarin Priester



>> INTERVIEW 131 Qualität vor Quantität

Ein Gespräch über die Crux der Wissenschaft ΞΞCaspar Hirschi

Inhalt

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SCHWERPUNKT: LIBERALISMUS

ANALYSE

DER LIBERALISMUS UND SEINE FEINDE ÜBER ERFOLG UND SCHEITERN LIBERALER IDEEN ΞΞ Hans Vorländer

Der Liberalismus hat immer Angriffsflächen geboten. Der Sozialismus sprach ihn schuldig, den Kapitalismus erfunden zu haben. Der Konservatismus hat ihm nicht verziehen, die Liberalisierung überkommener, ehedem durch Religion und Tradition bestimmter Lebensformen bewirkt zu haben. Die Entfesselung der Marktkräfte auf der einen Seite, die Sprengung natürlicher Gemeinschaften auf der anderen Seite: Der Liberalismus sah nie gut aus. Und doch scheint er die westlich geprägte moderne Welt wie keine andere Strömung geformt zu haben. Zur konstitutionellen Grundausrüstung west­ licher Demokratien muss er gerechnet werden. Auch hat er in den modernen kapitalistischen Gesellschaften die ökonomischen und weltanschaulichen Verhaltensnormen der Menschen nachhaltig geprägt. Und deshalb steht der ­Liberalismus auch gegenwärtig im Kreuzfeuer von Kritik und Anfeindung; von links, aber nicht nur von dort, wegen der Ökonomisierung aller Lebenswelten, von rechts, weil er Kultur, Identität und Nation untergrabe. Schon wird die »illiberale Demokratie«1 als die letzte Rettung des Abendlandes ausgerufen. Zeit also für eine Verteidigung des Liberalismus? Von welchem Liberalismus ist indes die Rede? Von den Anfängen im 17. und 1  Zit. nach der Rede des ungarischen Premier­ ministers Viktor Orbán vom 30. Juli 2014 anlässlich des 25th Bálványos Summer Free University and S­ tudent Camp, URL: http://www.kormany.hu/ en/the-prime-minister/theprime-minister-s-speeches/ prime-minister-viktor-orban-sspeech-at-the-25th-balvanyossummer-free-university-andstudent-camp [eingesehen am 09.05.2016].

18. Jahrhundert, vom Aufstieg und Scheitern im 19. und 20. Jahrhundert? Vom Rechtsstaats-, Wirtschafts-, Kultur- oder Sozialliberalismus? Von einer Bewegung, einer Partei, einer Philosophie? Vom kontinentaleuropäischen, britischen oder nordamerikanischen Liberalismus? Was ist gemeint, wenn der Liberalismus bemüht wird, um ihm die kulturellen Verwerfungen moderner Gesellschaften und die Krisen marktwirtschaftlich organisierter Ökonomien anzulasten? Welcher Liberalismus hätte heute noch Erklärungs-, vor allem Mobilisierungskraft? Was an ihm soll gerettet, was erneuert, verteidigt oder verworfen werden?

INDES, 2016–2, S. 7–17, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2191–995X

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Schnell waren die Euphorie der europäischen Revolutionen des Jahres 1989 und die damit verbundene Hoffnung, der Transformationsprozess der ostund mitteleuropäischen Gesellschaften könne reibungslos nach dem liberalen Muster von Demokratie, Marktwirtschaft und Rechtsstaatlichkeit vollzogen werden, verflogen. Ernüchterung und Enttäuschung stellten sich ein. Und auch in den westlichen Industrieländern, in denen die Idee liberaler Demokratie in ihrer Verbindung mit den Prinzipien gesellschaftlicher Autonomie und freimarktwirtschaftlicher Ökonomie infolge jahrzehntelanger Praxis eingeübt war, begannen, nach dem Verlust des kommunistisch-sozialistischen Gegenbildes, alsbald die Selbstzweifel zu nagen. Neben den sozialen und ökonomischen Spannungslagen, die sich mit dem Wegfall von Marktgrenzen verschärften, hatte sich die »offene Flanke der offenen Gesellschaft« zu erkennen gegeben: Sind liberale Gesellschaften im Inneren so gefestigt, dass sie die Probleme zu lösen vermögen, die sich aus der Öffnung politischer wie wirtschaftlicher Grenzen ergeben – von der ökonomischen Wettbewerbsfähigkeit auf globalisierten Märkten bis zu Problemen der Migration und des Umgangs mit ethnischer und kultureller ­Heterogenität im Innern –, ohne dass sie, wie einige von ihnen in den 1920er und 1930er Jahren, ihre freiheitliche Ordnung gefährden oder aufgeben? Oder könnten ein Mangel und deshalb die besondere Gefährdung der liberalen Gesellschaft gerade darin bestehen, dass diese, wie der verstorbene Joachim Fest vor vielen Jahren bereits geschrieben hat, »keinen greifbaren, die Leiden und Ängste der Menschen rechtfertigenden Lebenssinn« vermittelt? Liberale Gesellschaften halten »keinen mobilisierenden Zukunftsprospekt bereit und werfen den einzelnen auf lediglich das zurück, was er als individuelle Erfüllung begreift«. Hat sich der Liberalismus also mit seiner Emphase von individueller Freiheit, wirtschaftlicher Entfaltungsmöglichkeit und gesellschaftlicher Modernisierung so weit überreizt, dass er nun, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, nicht nur seine politische Schlagkraft, sondern auch seine soziale und kulturelle Überzeugungskraft eingebüßt hat? Wie bei allen Ismen verfängt sich auch ein liberaler Ismus in stereotypisierender Vereinfachung, dehn- und nutzbar für alle möglichen Feind- und Freundzuschreibungen. In einem Feld konkurrierender Ideologien und Weltanschauungen mochten Sozialismus, Konservatismus und Liberalismus noch Deutungs- und Orientierungsfunktion haben. Nach dem Ende der Block- und Systemkonkurrenzen aber blieb von der mobilisierenden Macht der Ideologeme und Theoreme wenig übrig. So wirken auch die immer wieder gestellten Fragen, ob der Liberalismus noch eine Chance oder ob er sich totgesiegt und deshalb überflüssig gemacht habe, eigentümlich

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Liberalismus — Analyse

abgestanden – zumal sie in ideenpolitischer Hinsicht und parteipolitischer Absicht immer, wenig überraschend, ganz unterschiedlich beantwortet werden können. Aber das verwundert kaum, denn Kontexte wie politische Gegnerschaften haben intellektuelle Strömungen wie politische Bewegungen und Parteien unterschiedlich aussehen lassen. Wie die liberalen Eigengeschichten variieren auch Fremdbilder und historische Analysen der Liberalismen. POLITISCHE AUSZEHRUNG UND PROGRAMMATISCHE FRAGMENTIERUNG Der Liberalismus mag ursprünglich die Philosophie einer sozialen Bewegung gewesen sein, welche die Revolutionen in Nordamerika und in Frankreich wie auch den deutschen Vormärz wesentlich prägen konnte. In diesen Revolutionen brach sich eine neue Weltsicht Bahn, die mit den hergebrachten feudalistischen und monarchisch-absolutistischen Traditionen nicht mehr vereinbar war. Das aufstrebende Bürgertum suchte die neue kommerzielle Gesellschaft gegen die (land-)aristokratischen Privilegien und Widerstände durchzusetzen und den Raum von Handel und Erwerb über die lokalen Märkte und Landesgrenzen hinaus auszudehnen. Politisch sollte die neue Gesellschaft nach den Prinzipien individueller Freiheit und rechtlicher Gleichheit verfasst und Herrschaftsausübung an die Wahrung individueller Grundrechte und durch von repräsentativ und gewaltenteilig eingerichteten Institutionen gesetztes Recht gebunden sein. Der Liberalismus schien hier, in England mehr noch als in Deutschland, zunächst bestimmender Part einer politisch-sozialen Emanzipationsbewegung zu sein, die angetreten war, die bestehenden politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse zu überwinden, und dabei als »Bewegungspartei«2 die revolutionäre Einheit von Wirtschafts- und Bildungsbürgertum einerseits 2  Carl von Rotteck u. Carl Theodor Welcker, ­Bewegungspartei und Widerstand- oder Stillstandspartei, in: Dies. (Hg.), Staats-Lexikon oder ­Encyklopädie der Staatswissenschaften in Verbindung mit vielen der angesehendsten Publizisten Deutschlands, Bd. 2, Altona 1835, S. 558–565 – Für die historische Rekonstruktion folge ich meinen Ausführungen in: What’s liberal? Der Liberalismus zwischen Triumph und Erschöpfung, in: Aus Politik und ­Zeitgeschichte, H. 10/1995, S. 38–59.

und Massenbewegung der Bauern und Handwerker andererseits verkörpern konnte. Doch bald schon erlahmte die soziale und politische Integrationskraft des Liberalismus. Die Revolution radikalisierte sich, in sozialer wie auch in demokratischer Hinsicht. Die »liberale Partei«, wie Friedrich Julius Stahl sie in Abgrenzung von der »demokratischen Partei« bezeichnete, bestand sowohl auf einer begrenzten und repräsentativen Form der Demokratie wie auch auf dem Merkmal bürgerlicher Selbstständigkeit, an das bspw. auch die Ausübung des Wahlrechts gebunden war. Damit war aber zugleich ein Prozess eingeleitet worden, der zur besitzindividualistischen Verengung des Liberalismus führte – aus dem sozialen Leitbild einer klassenlosen Bürgergesellschaft wurde eine Ideologie des Besitz- und ­Bildungsbürgertums. Hans Vorländer  —  Der Liberalismus und seine Feinde

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Der Liberalismus als politische Partei hielt zwar in Deutschland zunächst noch an den zentralen politischen Forderungen nach Konstitutionalisierung der Staatsgewalt, Parlamentarisierung und Freiheitsrechten fest, wie etwa die Deutsche Fortschrittspartei bei ihrer Gründung 1861. Als »regierende« Partei in Preußen und im Deutschen Reich aber gab der deutsche Liberalismus Ministerverantwortlichkeit, allgemeines Wahlrecht (anstelle des preußischen Dreiklassen-Wahlrechts) und politische Freiheitsrechte zugunsten sozialer und ökonomischer Status-quo-Wahrung wieder auf. Der politische Liberalismus in Deutschland suchte neue, nationale und konservative Allianzen; und wo er das nicht tat und auf seinem ursprünglichen Emanzipationsprogramm bestand, wurde er randständig. Dieser Prozess der politischen Auszehrung und programmatischen Fragmentierung setzte in Deutschland früher als etwa in Großbritannien ein; doch letztlich, unwiderruflich nach 1918, führte er überall dazu, dass sich der politische Liberalismus nur noch im Rahmen kleiner Parteien organisieren ließ. Dies schloss zwar nicht aus, dass liberale Parteien – flüchtige – Renaissancen im Parteiensystem erleben konnten, die zumeist durch ihre strategische Schlüsselposition, in Deutschland als Mehrheitsbeschafferin, in Koalitions- und Regierungsbildungsprozessen begünstigt wurden. Doch bedeutete die programmatische Fragmentierung fast immer die Identifikation des politisch organisierten Liberalismus mit einem Bindestrich-Liberalismus, der entweder, entsprechend der richtungsideologischen Positionierung, als Rechts- oder Linksliberalismus daherkam, oder der sich, gemäß der inhaltlichen Profilierung, als Bürgerrechts-, Wirtschafts-, Sozial- oder Kulturliberalismus definierte. Reformulierungen eines Gesamtliberalismus, der das Programm des revolutionären Liberalismus eingeholt und aktualisiert hätte, blieben die Ausnahme; sie fanden sich etwa im New Liberalism der englischen Liberal Party um die Jahrhundertwende oder im mit den »Freiburger Thesen« von 1971 verknüpften Reformliberalismus der bundesdeutschen FDP. Schließlich musste der parteipolitische Liberalismus als Folge dieser

Entwicklung politischer Auszehrung und programmatischer Fragmentierung immer wieder mit ansehen, wie liberale Themen und liberales Personal auswanderten und sich vielfach bei konkurrierenden Parteien und Bewegungen eine neue Organisationsheimat suchten. ERNEUERUNG ZU BEGINN DES 20. JAHRHUNDERTS Der ideenpolitische Liberalismus des späten 17. und 18. Jahrhunderts dachte die kommerzielle Gesellschaft voraus, ohne allerdings deren soziale und ökonomische Auswirkungen, die erst um die Wende ins 20. Jahrhundert mit der

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Liberalismus — Analyse

Ausbildung des Industriekapitalismus in ihrer vollen Schärfe und Tragweite deutlich wurden, absehen und theoretisch antizipieren zu können bzw. zu wollen. Das Janusgesicht des Liberalismus wurde deutlich; sein programmatischer Anspruch – Befreiung aus den Zwängen von Herkunft, von Tradition und Fremdbestimmung – sowie sein ökonomisches Modernisierungsstreben erzeugten neben Gewinnern auch soziale Verlierer. Als politische Partei verlor der Liberalismus an Bedeutung und Einfluss. Die liberale Theorie wurde zur Revision ihrer Grundlagen gezwungen, um nicht zu einer den Status quo verteidigenden Klassenideologie abzusinken. Reformliberale Bewegungen formierten sich an der Wende in das 20. Jahrhundert, reagierten auf das Anwachsen von sozialistischer und Arbeiterbewegung, hatten dort, wo sie wie in England früh die Anpassung an die veränderten Verhältnisse zu vollziehen suchten, großen, allerdings temporär begrenzten Erfolg, konnten aber dort, wo wie im Deutschland des Kaiserreichs der Parteiliberalismus ohnehin schon geschwächt und gespalten war, keine nachhaltige Wirkung entfalten. Doch unabhängig vom konkreten politischen Schicksal des organisierten Liberalismus vermochten die Erneuerungsbemühungen teilweise programmatische Korrekturen zu vollziehen, die den Liberalismus zumindest ideenpolitisch auf die Verhältnisse des 20. Jahrhunderts einstellten, ohne dabei die gesamtliberale Perspektive aus den Augen zu verlieren. Denn wollte der Liberalismus an seinem ursprünglichen sozialen Leitbild einer klassenlosen Gesellschaft freier, gleicher und selbstständiger Bürger festhalten, wie das bspw. von Lothar Gall für den badischen Liberalismus des frühen 19. Jahrhunderts analysiert werden konnte, musste er sich den aufbrechenden Problemen Hans Vorländer  —  Der Liberalismus und seine Feinde

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von Marktversagen, sozialer Ungleichheit und besitzindividualistischer Verengung des Freiheitsbegriffs stellen. Der neue und soziale Liberalismus öffnete Wirtschaft und Gesellschaft dem – begrenzten – politischen und gesellschaftlichen Zugriff, um auf diese Weise die sozialen und materiellen Voraussetzungen individueller Freiheitsausübung, Freiheitsmehrung und Freiheitserhaltung sicherzustellen und die Effizienz des marktwirtschaftlich-kapitalistischen Systems zu erhöhen. Zu diesem Zweck gab der Reformliberalismus auch das bis dahin wohlgehütete Tabu einer politischen Intervention in die Produktions- und Distributionssphäre des Marktes auf. Das konnte dann zum einen die Rückführung oder, wo dies nicht gelingen konnte, die Begrenzung wirtschaftlicher Konzentrations-, Trust- und Kartellbildung intendieren; das konnte aber auch – mit der Forderung nach ökonomischer Demokratie, Unternehmensmitbestimmung und Betriebsparlamentarismus – auf die innere Organisation von Industrieunternehmen und die Begrenzung von Eigentümerpositionen abzielen. Und es hieß last but not least auch die Unterstützung einer progressiven Einkommenssteuer, deren Aufgabe es war, Mittel für den sozialen Ausgleich, und nicht nur für infrastrukturelle oder bildungspolitische Maßnahmen des Staates, bereitzustellen. Mit der sozialen und gesellschaftspolitischen Neuorientierung des Liberalismus eröffneten sich zugleich auch weiterführende Perspektiven. Dass sich nun auch Liberale über Industriepolitik den Kopf zerbrechen konnten, bewies der aus der Liberal Summer School stammende »Liberal Report« über »Britain’s Industrial Future« von 1928, der als Yellow Book in die Geschichte einging und für lange Zeit als die »liberale Bibel« der englischen Liberalen galt. Und John Maynard Keynes, der sich mit seiner bekannten Rede »Am I a Liberal?« vor der Liberal Summer School als Liberaler bezeichnete, war derjenige, der in seiner »General Theory« über Beschäftigungs- und Nachfragepolitik das wirtschaftspolitische Instrumentarium der Regierungen des 20. Jahrhunderts erweiterte und damit einem »sozialdemokratisch« genannten Jahrhundert die theoretische Möglichkeit eines staatswirtschaftlichen Interventionismus eröffnete. Und schließlich wurde auch der »­ Beveridge-Report« von 1942 zum Eckpfeiler des britischen Wohlfahrtsstaates. Doch hatte die Reformkonvergenz zwischen einem erneuerten Liberalismus und der politischen Arbeiterbewegung ihre Grenzen. Sozialliberale waren und blieben in der liberalen Traditionslinie, weil sie an den zentralen liberalen Werten Individualismus und Freiheit festhielten, auch wenn diese eine gewisse soziale Anreicherung und Neubestimmung erfuhren. Zugleich bestand die Überzeugung fort, dass Marktgesellschaft und ökonomische

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Liberalismus — Analyse

Freiheit tendenziell die beste Gewähr für individuelle Entfaltung und allgemeinen Wohlstand böten. War der Eingriff des Staates in Wirtschaft und Gesellschaft notwendig, um die sozialen Voraussetzungen und Bedingungen von Freiheit zu erhalten, so gab es doch Unterschiede zwischen den Staatskonzeptionen sozialistischer und liberaler Reformer. Für sozialliberale Reformer blieb der Staat nur begrenzt die Antwort auf die soziale Frage. Der Staat war nur von instrumenteller Bedeutung für die Verwirklichung der zentralen Werte des Liberalismus und deshalb zugleich auch ultima ratio. Das war in Deutschland nicht immer so deutlich, galt aber besonders für die englischen und amerikanischen Varianten des Reform­ liberalismus. Letzterer stand in einer starken anti-etatistischen und zugleich radikal-demokratischen Tradition und konnte deshalb auf politische Rezepte setzen, die in Europa, vor allem in Kontinentaleuropa, bereits an ihre Grenzen gestoßen waren: nämlich die Bewältigung der sozialen Frage durch Assoziationen der Selbsthilfe und die Kanalisierung der industriellen und politischen Konfliktlagen durch politische und wirtschaftliche Gegenmachtbildung. In Deutschland hatte der Staat seit jeher eine herausragend starke Stellung gegenüber der Gesellschaft besessen; Bismarck hatte ihn als Daseinsvorsorgestaat begründet, sodass er auch den liberalen Reformern als das zentrale Medium gesellschaftlicher Modernisierung erschien. Doch gerade der englische New Liberalism und der amerikanische Reformliberalismus zeigten, dass der Liberalismus durchaus einen eigenständigen Ansatz zur Bewältigung der sozialen und ökonomischen Probleme der Industriegesellschaft gefunden hatte. Er ließ zu, die soziale Existenzsicherung des einzelnen und die Rahmenverantwortung des Staates für Wirtschaft und Gesellschaft zu Programmbestandteilen eines zeitgemäßen Liberalismus zu machen, ohne damit den Weg in den bürokratisierten Daseinsvorsorge- und Wohlfahrtsstaat vorzuzeichnen. AMBIVALENZEN DES ÖKONOMISCHEN NEOLIBERALISMUS Ralf Dahrendorf, Soziologe und bekennender Liberaler mit Sitz im britischen Oberhaus, nannte das 20. Jahrhundert das »sozialdemokratische Jahrhundert«. Damit brachte er die von Liberalen geteilte Beobachtung auf den Begriff, wonach sich im 20. Jahrhundert ein im Wesentlichen staatszentrierter, von allen demokratischen und sozialen Parteien formulierter Politiktypus herausgebildet und dem Sozial- und Wohlfahrtsstaat zum Durchbruch verholfen habe. Liegt hierin ein historisches Verdienst von Arbeiterbewegung und Sozialdemokratie, so wurden am Ende des 20. Jahrhunderts vor allem, wenngleich nicht nur, von Liberalen Zweifel an der Finanzierbarkeit und Hans Vorländer  —  Der Liberalismus und seine Feinde

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Zukunftsfähigkeit dieses Konzeptes geäußert. Die Grenzen der Finanzierbarkeit schienen erreicht, der Daseins- und Risikovorsorgestaat drohte sich selbst zu überfordern, Regelungsdichte und Bürokratie wurden als Bevormundung des Bürgers, vor allem aber als Instrument der Verharzung gesellschaftlicher und ökonomischer Strukturen angesehen. Dieser Ansicht nach schien die Handlungsfähigkeit des Staates an einer Überlast von Aufgaben zu ersticken. So meldete sich bereits in den 1980er Jahren eine Strömung innerhalb des liberalen Lagers wieder zu Wort, die Parallelen zwischen dem bürokratischen Wohlfahrtsstaat und dem Staat des Ancien Régime zog und eine alte, auch von Wilhelm von Humboldt ausbuchstabierte Forderung neu einklagte: nämlich die Freisetzung von Individuum und Gesellschaft von bürokratischer Bevormundung, bei gleichzeitiger Reduzierung der Aufgaben des Staates auf das jeweils denkbare Minimum. In Frankreich und England, aber auch in den Vereinigten Staaten, weniger jedoch in Deutschland, erwachte ein neues Interesse am Liberalismus. Dabei handelte es sich im Wesentlichen um einen erneuerten Wirtschaftsliberalismus, der nun das begriffliche und politische Instrumentarium bereitstellte, um die Modernisierung der Industriestrukturen und die Zurückdrängung staatlicher Wirtschafts- und Sozialinterventionismen durch eine Politik der Privatisierung, der Subventionskürzungen, der Steuersenkungen und der »Entfesselung« unternehmerischer Initiative zu befördern. Der Erfolg dieser wirtschaftsliberalen Politiken war unterschiedlich, in sozialer Hinsicht auch zweischneidig, weil sie zwar, wie in den USA und England, den wirtschaftlichen und technologischen Strukturwandel beschleunigten, zugleich aber auch das soziale Gefüge erschütterten. Dieser offensiv formulierte und teilweise aggressiv implementierte Wirtschaftsliberalismus vollzog eine – national unterschiedlich konsequente – Wende von staatlichen zu marktwirtschaftlichen Problemlösungsansätzen; er wurde zuerst, als Reagonomics und Thatcherism, von eher konservativen politischen Gruppierungen durchgesetzt, dann jedoch, quasi in einer ironischen Volte der herkömmlichen ideologischen Lagerzuschreibungen, von sozialistisch-sozialdemokratischen und auch (in Deutschland) grün-alternativen Parteien fortgeführt und, was die Deregulierung der Finanzmärkte betraf, sogar auf die Spitze getrieben. Mit dem Versuch, die europäische Sozialdemokratie zu erneuern, sie für neue Schichten der aufstiegsorientierten gesellschaftlichen Mitte zu öffnen, konnte der neue ökonomische Liberalismus auch als globales Ordnungskonzept einen hegemonialen Status erlangen. Seine Etikettierung als Neoliberalism entsprang dem Bedürfnis, einen Kampfbegriff verfügbar zu machen, mit dem der – vor allem linke, globalisierungskritische – Widerstand

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Liberalismus — Analyse

mobilisiert werden konnte. Dabei wurde allerdings übersehen, dass der deutsche ordnungspolitische Diskurs mit Neo- bzw. Ordoliberalismus gerade ein in den 1950er Jahren entwickeltes Konzept zu bezeichnen wusste, welches dem Markt Regulierungen dort auferlegte, wo er dysfunktional zu werden drohte oder vermachtete Strukturen, wie in Kartells oder Monopolen, ausbildete. Wer immer an der Weiterentwicklung liberaler Programmlagen interessiert ist, könnte hier konzeptionell fündig werden, wenn es bspw. darum geht, die wirtschaftliche Macht und die Überwachungsmöglichkeiten von Internetkonzernen zugunsten individueller Zugangschancen, informationeller Selbst­bestimmung und gleicher Teilhabe zu regulieren. Schließlich geht es hierbei nicht nur um Marktchancen und die Bewahrung individueller Freiheitsräume, sondern unmittelbar auch um die Ermöglichung von zivilgesellschaftlicher Autonomie und politischer Öffentlichkeit, also von Strukturen und Prozessen, von denen durchaus gesagt werden kann, dass sie zum Kernbestand liberaler Programmtradition gehören. Mit diesem ökonomischen Neoliberalismus gaben sich freilich die Ambi­ valenzen liberaler Programmtraditionen zu erkennen; und zwar insofern, als der ökonomische Liberalismus mit seinem Leitbild des seine ökonomischen Interessen verfolgenden Wirtschaftsbürgers die sozialen, humanen und ökologischen Folgen wirtschaftlichen Handelns konzeptionell externalisiert. Zwar lag in der Logik dieses Leitbildes stets die Erwartung, dass ein Modell individueller Interessenverfolgung den Wohlstand der Gesamtgesellschaft zu mehren in der Lage ist; doch machte es Natur, Um- und Nachwelt zu Untertanen von instrumenteller Vernunft und auf kurzfristige Bedürfnisbefriedigung abzielenden Zwecksetzungen und blendete, in Ermangelung anderer als über Individualinteressen und Marktrationalität vermittelter Steuerungsmechanismen, die Folgewirkungen ökonomischen Handelns aus. Dabei vermochte die mit diesem Modell verbundene – frühliberale – ­Erwartung, dass eine »unsichtbare Hand«3 den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Selbstlauf harmonisch und spontan ordnend lenkte, nur so lange zu verfangen, wie das Marktprinzip selbst von kulturellen Praktiken und rechtlichen Regeln eingebunden werden konnte. Das hatten der Moralphilosoph Adam Smith noch in der menschlichen Grunddisposition der sympathy und Alexis de Tocqueville später in einer auf religiösen Gemeinschaften aufruhenden politischen Kultur gewährleistet gesehen. Aber schon Max Weber sah den sich dynamisch entwickelnden Kapitalismus seines kulturell-religiösen (protestantischen) »Geistes« entkleidet. Im Grunde hatte damit der Erfolg 3  Adam Smith, Der Wohlstand der ­Nationen. München 1978, S. 371.

des liberalen Wirtschaftsmodells nicht nur seine eigenen Entstehungsgrundlagen wegrationalisiert, sondern auch seine sozial balancierenden kulturellen Hans Vorländer  —  Der Liberalismus und seine Feinde

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Dispositionen verzehrt. Dass ein ungehemmter Wirtschaftsliberalismus mit seinen Imperativen von Konkurrenz, Effizienz und Profit auch die individuellen Verhaltensdispositionen prägen sollte, die Ökonomisierung der Lebenswelten Verluste an Nähe, Gemeinschaft und Zusammenhalt mit sich brachte und deshalb auch seine soziomoralischen Grundlagen untergrub, hatte der amerikanische Soziologe Daniel Bell schon in den frühen 1960er Jahren als die »kulturellen Widersprüche des Kapitalismus« pointiert herausgearbeitet. Womöglich liegt hier die entscheidende offene Flanke des ideenpolitischen Liberalismus: Selten genug ist ihm dort, wo er um Deutungs- und Gestaltungsmacht mit anderen Strömungen konkurrierte, gelungen, die ökonomische mit der kulturellen Seite in ein Verhältnis der Balance zu setzen, weshalb ihm die Rolle des hartherzigen Zerstörers von gesellschaftlichem Zusammenhalt, von Moral und Tradition zugeschrieben worden ist, während den Konservatismen und Sozialismen in ihren jeweiligen historischen Gewändern die Rollen der Bewahrer oder Erneuerer von Gemeinschaft und sozialen Ligaturen attestiert worden sind. Im Spiel von Schurke und Held, von good guy und bad guy, hatte der Liberalismus zumeist die schlechteren Karten. Aufgrund dieser wechselvollen Entwicklung des parteipolitischen und der Ambivalenzen des ideenpolitischen Liberalismus verwundert keineswegs, dass die historischen wie programmatischen Liberalismen Angriffsflächen boten und Anfeindungen ausgesetzt blieben. Gleichwohl kann kein Zweifel bestehen, dass liberale Ideen und Vorstellungen deutende und gestaltende Kraft besaßen und in die politische Grundstruktur moderner politischer und gesellschaftlicher Ordnungen eingesickert sind. Demokratisierung, Konstitutionalisierung und Rechtsstaatlichkeit, Grund- und Bürgerrechte sind Bestandteile der europäischen und nordamerikanischen Demokratien. Individualisierung und Pluralisierung der Lebenswelten haben zu einer kulturellen Liberalität geführt, die für moderne, ausdifferenzierte Gesellschaften, die ihren Zusammenhalt nicht mehr so ohne Weiteres aus Tradition, Religion oder geteilten Überzeugungen begründen können, konstitutiv ist. Gewiss lassen sich die institutionellen Grundstrukturen wie auch die politisch-­kulturelle Verfasstheit nicht einer spezifischen historischen Strömung exklusiv zurechnen. Sie gehören mittlerweile, genauso wie die Politiken sozialer Existenz­ sicherung, zur Grundausstattung einer demokratischen Ordnung. Und doch sind sie keineswegs unumstritten. Das waren sie historisch nie, und sie sind es auch gegenwärtig nicht. Populistische und national-konservative Bewegungen und Parteien, die sich ironischerweise, wie in den Niederlanden oder in Österreich, »freiheitlich« nennen, und Regierungen, wie sie sich zuletzt in Osteuropa, Ungarn

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und Polen etablieren konnten, bestreiten das Konzept der liberalen Demokratie. In ihren Augen zersetzt die durch Meinungs-, Versammlungs-, Presseund Glaubensfreiheit gewährleistete Pluralität von Werten, Interessen und Lebensformen den politischen und gesellschaftlichen Zusammenhalt. Mehr noch: Populisten reklamieren, den Volkswillen unmittelbar zu vertreten, und ignorieren deshalb die verfassungsmäßig garantierten Rechte von ethnischen, religiösen und kulturellen Minderheiten. Das Phantasma einer organischen Einheit des Gemeinwesens folgt einer Logik, welche die Idee der Differenz und des Anderen aus dem Vorstellungshaushalt der Demokratie eliminiert. Die liberale Demokratie hingegen hat sich historisch als das politische Ordnungsmodell herausgestellt, das die soziokulturelle Diversität am besten zu akkommodieren versteht. Jene nationalkonservativen, rechtspopulistischen Strömungen müssen auch deshalb als anti-liberale Bewegungen beschrieben werden, weil sie die gleichberechtigte politische wie kulturelle Teilhabe aller Bürger bestreiten, indem sie Vorrechte einer nativen, alteingesessenen Bevölkerung behaupten. Solche Diskurse des Ausschlusses werden auf der Ebene kultureller Identitätsansprüche geführt und tangieren vor allem die Menschen, die neu in ein politisches Gemeinwesen »einwandern«. Das betrifft keineswegs nur Flüchtlinge und Migranten, sondern auch solche, die den konstruierten Herkunftsgemeinschaften nicht entsprechen, wiewohl sie formal die gleichen Mitgliedschaftsrechte als Bürger besitzen. Dieser sich in zeitgenössischen »neurechten« Bewegungen wie etwa den »Identitären« zum Ausdruck bringende völkisch national untersetzte Ethnozentrismus stellt eine elementare Herausforderung für ein Gemeinwesen dar, welches sich den universellen Grundsätzen der Menschen- und Grundrechte verpflichtet weiß. Der Liberalismus wird hier zur begrifflichen Projektionsfläche, ihm werden Prof. Dr. Hans Vorländer  ist Lehrstuhlinhaber für Politische Theorie und Ideengeschichte an der TU Dresden. Als ­Direktor des dortigen Zentrums für Verfassungs- und Demokratie­forschung arbeitet er zu Themen der Demokratie, des Konstitutionalismus und des Liberalismus. Zuletzt erschien von ihm: »Pegida. Entwicklung, Zusammensetzung und Deutung einer Empörungsbewegung« (zus. mit Maik Herold u. Steven S ­ chäller, Wiesbaden 2016).

die vermeintlichen Pathologien der Gegenwartsgesellschaft zugeschrieben, ganz ähnlich wie in den 1920er Jahren, als ein anti-liberaler, mit westlicher Demokratie, französischer Zivilisation, britischem Parlamentarismus und jüdischem Kosmopolitismus identifizierter Generalverdacht einen völkischnationalen Konservatismus entstehen ließ, der, von den »konservativ-revolutionären« Intellektuellen vorbereitet, dem Nationalsozialismus den Weg und der geopolitischen und ethnischen Feinderklärung die Richtung vorgab. Es könnte also sein, dass der Liberalismus wieder einmal gegen seine Feinde verteidigt werden muss.

Hans Vorländer  —  Der Liberalismus und seine Feinde

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ASPEKTE EINER NEUEN  ORDNUNGSÖKONOMIK WIE WIRTSCHAFTSTHEORIE UND BÜRGERGESELLSCHAFT WIEDER ZUEINANDER FINDEN KÖNNEN ΞΞ Stefan Kolev

Dass der Liberalismus in die Defensive geraten ist, ist schwer zu über­sehen. Die Deutungsmuster sind vielfältig und sehr von der Brille abhängig, durch die der Beobachter auf dieses Krisenphänomen blickt. Im Folgenden entscheide ich mich für die Perspektive eines »politischen Ökonomen«, was zweierlei bedeuten soll: Zum einen will ich das Skalpell des Volkswirtes nutzen und nehme dabei die klassische Sicht der political economy ein, die sich erst seit dem letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts hin zur economics verengt hat; zum anderen verbinde ich mit dem Bild des politischen Ökonomen auch die Vorstellung, dass der Volkswirt die politische Praxis nicht nur nicht scheut, sondern ganz gezielt den Kontakt und Dialog mit ihr sucht. Liberalismus und Ökonomik sind durch die Ideengeschichte über lange Strecken als enge Verwandte, bisweilen fast als Zwillinge, marschiert – wenn man die Ökonomik als eine frühe gesellschaftliche Theorie der Selbstorganisation sieht, ist das nicht verwunderlich. Deshalb verspreche ich mir von einer solchen Warte sowohl eine zutreffende Diagnose als auch eine Therapie, die für den Liberalismus wie für die Ökonomik gleichermaßen einen Schub auslösen können. Denn auch die Ökonomik steckt in einem ziemlichen Schlamassel und sieht sich mit wesentlichen Legitimationsproblemen konfrontiert – bis hin zur Feststellung vom »Bankrott der Ökonomen«1. Diese Krise wurde im Zuge des »jüngsten Methodenstreits« im Jahr 2009 ausgiebig diskutiert, zunächst hitzig in der Presse und anschließend sachlicher in der Fachliteratur.2 Zentral für die folgende Analyse ist die Beobachtung, dass sich Teile des Faches zwei Versäumnisse vorwerfen lassen müssen: Sie haben erstens das »Denken in Ordnungen« ad acta gelegt und zweitens über längere Zeiträume die Mahnung des Kieler Doyens Herbert Giersch in den Wind geschlagen, demzufolge

1  Karen Horn, Der Bankrott der Ökonomen. Die Finanzkrise enthüllt auch das Versagen der Wirtschaftswissenschaften, in: Internationale Politik, H. 12/2008, S. 54–55, hier S. 54.

Ökonomen gegenüber der Gesellschaft eine »Bringschuld« haben. Beides an sich und besonders in Kombination hatte in den vergangenen Jahrzehnten gravierende Konsequenzen. Zum einen sind die Erkenntnis­fortschritte über die Funktionsweisen der Wirtschaftsordnung oft in einer eigenartigen Abkapselung und auf Kosten der Analysen über die Interdependenzen

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INDES, 2016–2, S. 18–24, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2191–995X

2  Vgl. Volker Caspari  u. Bertram Schefold (Hg.), Wohin steuert die ökonomische Wissenschaft? Ein Methodenstreit in der Volkswirtschaftslehre, Frankfurt a. M. 2011.

mit den anderen gesellschaftlichen Teilordnungen erfolgt. Im Hinblick auf das zweite Versäumnis sind zum anderen die Bezüge zu den »Kunden« des ­Faches – ­Studenten, benachbarte Wissenschaften, Medien und nicht zuletzt die Bürge – vielfach sträflich vernachlässigt worden. Für den Liberalismus war und ist dieser blinde Fleck verheerend: Die filigrane Idee der Freiheit, welche in ihrer Geschichte oft gerade von Ökonomen mit besonderer Eleganz weiterentwickelt wurde, verlor an wissenschaftlichem Halt. Oder, noch schlimmer, sie wurde von »Ökonomisten« verteidigt – eine Figur im Denken des liberalen Ökonomen Wilhelm Röpke, die Simplifikateure bezeichnet, die ausschließlich die Logik des Marktes verinnerlicht haben und diese ohne jede Sensitivität imperialistisch auf jegliche Bereiche der Gesellschaft übertragen. Damit aber genug des Lamentos. Die Erschütterungen des Faches durch die gegenwärtige Finanz- und Wirtschaftskrise sowie die Katharsis des »jüngsten Methodenstreits« haben verschiedene zarte Pflänzchen aufkommen lassen. Eine davon erscheint mir für die Zukunft des Liberalismus besonders vielversprechend, da sie das Zeug hat, die alte Liaison zwischen Ökonomik und Liberalismus wiederzubeleben: die Neue Ordnungsökonomik. Ihr gilt der verbleibende Teil dieses Beitrages: Welcher Notwendigkeit sie entspringt, was ihre Wurzeln und vor allem ihre Entwicklungspotenziale sind. Sich sozialwissenschaftlich mit Ordnungsbegriffen zu befassen, ist gleichzeitig verlockend und vertrackt. Die brillante Analyse Andreas Anters zeigt eindrücklich, welche jahrhundertealten mannigfachen Ladungen, Paradoxien und Unwägbarkeiten »Ordnung« mit sich bringt – aber auch wie zentral der Topos der Ordnung für das abendländische Denken ist.3 Wenn man sich Anter anschließt und Ordnung als Distinktionsprinzip auffasst, durch das es erst möglich wird, Grenzen zu ziehen und Sphären voneinander zu scheiden, so kann die Wirtschaftsordnung als diejenige Sphäre der heutigen Gesellschaft eingegrenzt werden, die durch individuelle freiwillige Tauschprozesse auf Märkten charakterisiert ist. Zwar kann man dem »Denken in Ordnungen« einen altmodischen Klang attestieren, aber auch gleichzeitig Sympathie für eine Ökonomik empfinden, die gerade diese Figur in den Mittelpunkt stellt. Als Ordnungsökonomen bezeichne ich demnach Denker, welche die Gesetzmäßigkeiten des Marktes erkennen wollen, dies aber stets unter Bezugnahme auf die komplexen Verbindungen zwischen Wirtschaft und Gesellschaft tun. Prominente Beispiele aus der länger zurückliegenden Theoriegeschichte wären Adam Smith, 3  Vgl. Andreas Anter, Die Macht der Ordnung. Aspekte einer Grundkategorie des Politischen, Tübingen 2007, S. 43–94.

Karl Marx, John Stuart Mill oder Max Weber, während im weiteren 20. Jahrhundert Denker wie Walter Eucken, Friedrich August von Hayek, Wilhelm Röpke, James Buchanan oder Elinor Ostrom zu nennen sind. Stefan Kolev  —  Aspekte einer neuen Ordnungsökonomik

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Der zeitgenössische amerikanische Ökonom Peter Boettke bezeichnet diese Ordnungsökonomen als Vertreter einer mainline economics, die er den Vertretern einer mainstream economics gegenüberstellt, in deren Reihen etwa David Ricardo, die in der Nachfolge Alfred Marshalls entstandene Neoklassik sowie die keynesianische Makroökonomik zu verorten wären.4 Der Unterschied ist ein doppelter: Während die zur mainline gehörenden Ordnungs­ökonomen erstens auf das qualitative Verstehen der Wirtschaftsordnung setzen und zweitens diese in ihren Bezügen zu anderen Teilordnungen sehen, kappen die zum mainstream gehörenden isolierenden Ökonomen gerade diese Bezüge und fokussieren sich auf das quantitative Erklären. Hans Albert, in seiner erst jüngst veröffentlichten Habilitationsschrift von 1955 der Eucken’schen Ordnungsökonomik gegenüber noch skeptisch eingestellt, lobt sie fünfzig Jahre später dafür, dass sie nach Antworten auf die Kant’sche Frage »nach den Bedingungen der Möglichkeit einer Ordnung der Freiheit in der heutigen Gesellschaft«5 gesucht habe. Die deutschen Wurzeln dieser Suche liegen zwar im ordoliberalen Freiburg; die Freiburger Schule ist aber als ein Knoten im komplexen Geflecht des europäischen und transatlantischen Neoliberalismus der Zwischen- und Nachkriegszeit zu sehen. Ohne hier auf den Facettenreichtum einzelner Denker eingehen zu können,6 lässt sich das Denken der traditionellen Ordnungsökonomik auf beiden Seiten des Atlantiks7 unter dem Motto laissez-faire within rules zusammenfassen. ­Kurioserweise wurde dem Neoliberalismus seit der Umdeutung des Begriffes als Fremdbezeichnung ab den 1970er Jahren gerade vorgeworfen, jegliche Regelwerke schleifen zu wollen, was aber mit dem Programm der Autoren, die in den 1930er Jahren »neoliberal« noch als Selbstbezeichnung geprägt haben, herzlich wenig zu tun hat. Was sich hinter laissez-faire within rules

4  Vgl. Peter J. Boettke, Living Economics. Y ­ esterday, Today, and Tomorrow, Oakland 2012, S. 42–65. 5  Hans Albert, Wirtschaft, Politik und Freiheit. Das Freiburger Erbe, in: Nils Goldschmidt (Hg.), Wirtschaft, Politik und Freiheit, Tübingen 2005, S. 405–419, hier S. 414. 6  Vgl. Stefan Kolev, Neoliberale Staatsverständnisse im Vergleich, Stuttgart 2013, S. 271–283.

verbirgt, ist das Vertrauen auf die Mechanismen der Selbstorganisation innerhalb einer Ordnung, solange dies im Rahmen guter Regeln passiert. Was nun gute Regeln sind, darauf fokussiert sich die Suche des ordnungsökonomischen Programms überhaupt. Die Ordnungsökonomen haben die Gretchenfrage der political economy nach der bestmöglichen Arbeitsteilung zwischen Markt und Staat stets im Blick und stellen die für Liberale allzeit knifflige Frage nach der Rolle des Staates nicht quantitativ (»Wie viel Staat?«), sondern qualitativ (»Welcher Staat?«). Offensichtlich scheuen sie solche normativen Fragen nicht – und so ist der an ihre Adresse gerichtete Vorwurf der »Kryptonormativität«8 gewissermaßen absurd. Erstens kann man einem Wissenschaftler, der sich selbst als »ordoliberal« oder »neoliberal« bezeichnet, schwer ankreiden, er würde seine Präferenz zugunsten der Freiheit verbergen; zweitens ist dieser Wert der

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7  Vgl. Ekkehard A. Köhler u. Stefan Kolev, The Conjoint Quest for a Liberal Positive Program: »Old Chicago«, Freiburg, and Hayek, in: David M. Levy u. ­Sandra J. Peart (Hg.), F. A. Hayek and the Modern Economy. Economic Organization and Activity, New York 2013, S. 211–228. 8  Vgl. Gebhard ­Kirchgässner, Wirtschaftspolitik und Politik­ system: Zur Kritik der traditionellen Ordnungstheorie aus der Sicht der Neuen Politischen Ökonomie, in: Dieter Cassel u. a. (Hg.), Ordnungspolitik, München 1988, S. 53–75.

Freiheit bei den Ordnungsökonomen an ein bedingtes Werturteil geknüpft: Wenn der Bürger eine auf Märkten beruhende Wirtschaftsordnung mit ihren Ergebnissen als erstrebenswert erachtet (dann und nur dann), muss er auch den Wert der wirtschaftlichen Freiheit akzeptieren, bei deren Abwesenheit Märkte kaum denkbar wären.9 Angesichts dieses reichen Erbes der traditionellen Ordnungsökonomik: Warum nun von einer Neuen Ordnungsökonomik sprechen und nicht einfach die Theoriegeschichte nachbeten? Weil Theoriegeschichte zwar ein Reservoir fast unendlicher Inspirationen ist, nicht aber zum Ersatz für eigenständige Theoriebildung werden darf. Alle Sozialwissenschaften sind in einem permanenten inneren Wandel begriffen, genau wie die Fragen, welche die Gesellschaft an sie richtet. Die Tradition ist also fruchtbar zu machen und gleichzeitig radikal neu zu denken. Im Zuge des erwähnten »jüngsten Methodenstreits« wurde von Nils Goldschmidt, Gerhard Wegner, Michael ­Wohlgemuth und Joachim Zweynert eine Position formuliert,10 die seitdem bei verschiedenen Konferenzen des Erfurter Wilhelm-Röpke-Instituts in Kooperation mit anderen Institutionen vertieft wurde und unter der Überschrift »Neue Ordnungsökonomik« in einem aktuellen Band in der Reihe des Freiburger »Walter Eucken Instituts« beim Mohr Siebeck Verlag ausführlich gefasst wird. Was sind die vier Rollen einer solchen Neuen Ordnungsökonomik und wie können sie dem Liberalismus neue Impulse verleihen? 1. Ordnungsökonomik als Schnittstellenökonomik: Goldschmidt, Wegner, Wohlgemuth und Zweynert identifizieren zwei Hauptfragen des ökonomischen Denkens: erstens die Suche nach Gesetzmäßigkeiten wirtschaftlicher Prozesse und zweitens die Erforschung der Wechselwirkungen dieser Prozesse mit der sozialen Umwelt. Zwar haben auch frühere Ordnungsökonomen ihre Energie schwerpunktmäßig der zweiten Hauptfrage gewidmet; wegen der zunehmenden Spezialisierung und Ausdifferenzierung innerhalb des Faches soll dieser Fokus nunmehr aber noch weiter geschärft werden. Nils Goldschmidt hat an anderer Stelle einen solchen Zugang zur 9  Vgl. Viktor Vanberg, Die normativen Grundlagen von Ordnungspolitik, in: ORDO. Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, Jg. 48 (1997), S. 707–726. 10  Vgl. Nils Goldschmidt u. a., Was ist und was kann Ordnungsökonomik?, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.06.2009.

Ordnungsökonomik als »Schnittstellenökonomik« bezeichnet, die angehalten ist, wegen ihres Untersuchungsobjektes dezidiert Andockebenen mit und Kontexte zu den anderen Sozialwissenschaften zu suchen. Wenn man etwa die Stammväter der ökonomischen und der politischen Theorie (etwas schablonenhaft) mit Adam Smith und Thomas Hobbes ausmacht, so würde an der ordnungsökonomisch vermittelten Schnittstelle zwischen beiden Wissenschaften der Ökonom seine Sensibilität für vertikale K ­ onzepte wie Macht und Herrschaft schärfen, während der PolitikwissenschaftStefan Kolev  —  Aspekte einer neuen Ordnungsökonomik

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ler verstärkt über die horizontalen zwischenmenschlichen Beziehungen ­reflektieren könnte. Das Ergebnis einer solchen Wissensteilung könnte sein, dass für die interagierenden Sozialwissenschaftler die Offenheit gegenüber einer liberal(er)en, also Horizontalität, Freiwilligkeit und Spontaneität betonenden, Ordnung steigt – aber auch, dass diese Ordnungsvorstellung von der sonst im liberalen Diskurs häufig anzutreffenden Naivität gegenüber zentralen Kategorien des Politischen geheilt wäre. 2. Ordnungsökonomik als Ideenspeicher: Auf die Geschichte ordnungsökonomischen Denkens ist oben auch deshalb eingegangen worden, weil heutige Ordnungsökonomen – im Gegensatz zum Gros des Faches – zu einer besonderen Affinität zur Geschichte ökonomischen Denkens neigen. Der gravierende Fehler aber, dass man sich damit begnügt und die Ordnungsökonomik so zu einer »Kathederwissenschaft« verkommt, deren glorreiche Geschichte gebetsmühlenartig vom Katheder gelehrt, nicht aber weitergedacht wird, wurde zuletzt im »jüngsten Methodenstreit« nicht ganz zu Unrecht früheren Generationen ordoliberaler Lehrstuhlinhaber vorgeworfen. Daraus haben heutige Ordnungsökonomen gelernt. Neue Ordnungsökonomik wird heute, sei es im Rahmen von Programmen wie »Philosophy, Politics and Economics« (etwa an der Universität Witten/ Herdecke) oder »Plurale Ökonomik« (demnächst an der Universität Siegen), deshalb mit theoriegeschichtlichem Nexus unterrichtet, damit Studenten sich an den Gedankengebäuden der »Giganten« reiben und daran wachsen können, statt vor ihnen in Ehrfurcht zu erstarren. Ein Comeback der Geschichte des ökonomischen Denkens – noch ein sehr zartes Pflänzchen – wäre für den Liberalismus deshalb eine immense Bereicherung, weil große Teile der liberalen Ideengeschichte gerade im ökonomischen Denken ihren Ausdruck gefunden haben. Diese Ideengeschichte wieder jenseits von Plattitüden und Klischees auch unter jüngeren Ökonomen zu kennen und kritisch zu diskutieren, wäre ein Riesengewinn auch für den gesellschaftlichen Diskurs über die Freiheit und ihre Voraussetzungen. 3. Ordnungsökonomik als kreativer Antreiber: Jede Wissenschaft braucht ­Dynamik. Die Vertreter des isolierenden mainstream erwecken oft in ­Debatten um die Zukunft des Faches den Eindruck, dass sie methodologische Diskussionen für verlorene Liebesmüh halten, was als Stolz auf die Beherrschung ihrer komplexen quantitativen Verfahren verstanden werden kann oder aber als Selbstzufriedenheit des alten ökonomischen Standesdünkels einer »Physik der Sozialwissenschaften«. Der Neuen Ordnungsökonomik kommt hier die wichtige Querdenker-Rolle zu, diese Selbstzufriedenheit zu stören und auch nach anderen Wegen zu suchen. Im Lichte jahrzehnte-

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langer »Verstehen vs. Erklären-Debatten« in den Sozialwissenschaften können gerade Ordnungsökonomen die Frage stellen, ob ein qualitatives Verstehen wirtschaftlicher Prozesse nicht eine gewinnbringende Ergänzung für ein Fach darstellt, das ansonsten in seiner mathiness zu erstarren droht. Mit diesem Begriff kritisierte der renommierte Makroökonom Paul Romer jüngst nicht nur die ausschließliche Fixierung des Faches auf die Sprache der Mathematik, sondern auch die Praxis, Mathematik gerade nicht für eine höhere Transparenz, sondern für das Kaschieren eigener, in die Modellierung eingebauter Werturteile zu verwenden.11 Eine solche andauernde kritische Reflexion könnte die Ökonomik wieder zu einem bunten Fach werden lassen, in dem verschiedene Ansätze in einen fruchtbaren Wettbewerb miteinander treten – und wäre so auch für die Öffentlichkeit wieder ein interessanter Sparringspartner, womit wir bei der vierten Rolle wären. 4. Ordnungsökonomik als Bürgerberatung: Es ist befremdlich, wenn man auf Tagungen gerade bei jungen Kollegen eine Aversion gegenüber einem Dialog mit der Gesellschaft vernimmt. Zwar sind die Anreize des heutigen Wissenschaftsbetriebs eindeutig nicht zugunsten solcher Tätigkeiten gesetzt. Gleichzeitig leben wir aber in einer Welt, in der eine politökonomische Krise die nächste jagt. Sich in Zeiten mannigfacher und überlappender Krisen in Enthaltsamkeit gegenüber der Öffentlichkeit zu üben, muss verwundern; ganz davon abgesehen, dass hierzulande fast alle Ökonomen auf öffentlich finanzierten Posten forschen. Das heißt natürlich nicht, dass jeder in der Profession gleichermaßen nach außen kommunizieren soll – gerade unserem Fach muss das Prinzip der Vorteile aus Arbeitsteilung klar sein. Es heißt aber schon, dass wenn jemand das Jaspers’sche »Wagnis der Öffentlichkeit« eingeht, er dafür von seinen im Elfenbeinturm verharrenden Kollegen – wobei die Legitimität dieser akademischen Ausrichtung nicht bestritten werden soll – Respekt und nicht Hohn verdient hat. Es sind gerade die Ordnungsökonomen, die hier als Kommunikatoren infrage kommen, die in ihrer qualitativen Forschung auf eine geübte Sprache angewie11  Vgl. Paul M. Romer, Mathiness in the Theory of Economic Growth, in: American Economic Review, Jg. 105 (2015), H. 5, S. 89–93.

sen sind und diesen Trumpf auch gegenüber der Öffentlichkeit nutzen sollten. Dabei geht es mir in Anlehnung an Susanne Cassel nicht so sehr um Politikberatung im Sinne von Politikerberatung, sondern um Politikberatung als Bürgerberatung für all jene, die politökonomisch interessiert sind.12 Ich gehe natürlich

12  Vgl. Susanne Cassel, Politikberatung und Politikerberatung. Eine institutionenökonomische Analyse der wissenschaftlichen Beratung der ­Wirtschafts­­po­litik, Bern 2004, S. 75–114.

nicht von einer Parteinahme der Ordnungsökonomen zugunsten des organisierten Liberalismus aus, verspreche mir aber von ihrer bürgerberatenden Aktivität eine bessere Qualität des politökonomischen Diskurses insgesamt, wo auch die liberalen Positionen an Qualität gewinnen müssen, um Anklang zu finden. Stefan Kolev  —  Aspekte einer neuen Ordnungsökonomik

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Ich glaube nicht, dass eine solche Ausrichtung utopisch ist: Durchaus gibt es Wissenschaftler, die hier als role model dienen können. Friedrich August von Hayek etwa, einer der fruchtbarsten liberalen Denker des 20. Jahrhunderts, lässt sich gut entlang der skizzierten vier Rollen beschreiben. Mit dem Verlassen der isolierenden Ökonomik in den späten 1930er Jahren wurde er mit seiner Ordnungsökonomik in den darauffolgenden Jahrzehnten erstens zu einem permanenten Grenzgänger zwischen den Sozialwissenschaften. Zweitens hat Hayek enorme Energien in den Erhalt und die Revitalisierung der Theoriegeschichte investiert. Drittens war er methodologisch mit dem Rationalitätsparadigma zunehmend unzufrieden und hat mit seinem erkenntnistheoretischen Hirnforschungs-Exkurs in den 1950er Jahren zur Begründung der Neuroökonomik beigetragen. Und viertens war er ein genuin politischer Ökonom, da er wesentlich das Format des liberalen think tank im Groß­britannien der 1950er Jahre prägte und über dieses Format, direkt und indirekt, zum Umschwung des gesellschaftlichen Klimas in der angelsächsischen Welt vor und während der Thatcher-Reagan-Revolution beitrug. Eine These zum Abschluss: Wir leben sicher nicht in der besten aller möglichen Welten, nach meiner festen Überzeugung aber in der freiheitlichsten, die es historisch je gegeben hat – bei allen Schwierigkeiten, mit denen die westliche Welt derzeit konfrontiert ist. Die liberale Ordnung ist offensichtlich eine fragile, wie uns täglich vorgeführt wird. Extremismen aller Couleur, im Inland wie im Ausland, versuchen, diese Fragilität auszunutzen. Zugleich weist diese Ordnung aber, in den Begriffen des englischen Ordnungsökonomen Mark ­Pennington, einen hohen Grad an Robustheit auf.13 Diese Robustheit ist umso mehr gegeben, je mehr sich Sozialwissenschaftler in die oft hysterischen Debatten einmischen und zu deren Versachlichung und Abkühlung beitragen. Ob wir nationale, supra- oder internationale Institutionen meinen: Diese benötigen bei aller Unvollkommenheit nicht den Presslufthammer, sondern das Skalpell. Damit die liberale Bürgergesellschaft die Flut an krisenhaften Bildern verarbeiten kann, ohne unterkomplexen Lösungsvorschlägen und damit dem Chaos zu verfallen, benötigt sie einen Ordnungsdiskurs über die Wirtschaft und Gesellschaft von morgen. Die Stimme einer Neuen Ordnungsökonomik wäre da sicher eine Bereicherung. Prof. Dr. Stefan Kolev, geb. 1981, ist Volkswirt und Professor für Wirtschaftspolitik an der Westsächsischen ­Hochschule ­Zwickau. Außerdem ist er stellvertretender Vorstandsvorsitzender des ­Wilhelm-Röpke-Instituts in Erfurt. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Geschichte des ökonomischen Denkens, Ordnungsökonomik und Austrian Economics sowie die W ­ irtschaftsgeschichte der Planwirtschaften.

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13  Vgl. Mark Pennington, Robust Political Economy. Classical Liberalism and the Future of Public Policy, Cheltenham 2010, S. 2–12.

EIN HISTORISCHER KOLLEKTIVSINGULAR DAS PHÄNOMEN DES LIBERALISMUS IN EUROPÄISCHER PERSPEKTIVE ΞΞ Jörn Leonhard

Die Zukunft besitzen, den Fortschritt und die Entwicklungsrichtung der ­Geschichte verkörpern: So brachten Liberale im frühen 19. Jahrhundert ihre Vorstellungen auf den Punkt. Theodor Mundt, eine der prominentesten ­Figuren des Jungen Deutschland, definierte den Begriff Liberalismus 1834 wie folgt: »Der Liberalismus will nichts als die Zukunft der Geschichte.«1 Und nicht weniger emphatisch äußerte sich wenige Jahre später der Hallenser Student Rudolf Haym in einem Streit um den Begriff Liberalismus: »Wir eben sind die Zeit!«2 In einer seit der Französischen Revolution und den Kriegen Napoleons von tiefgreifenden Umbrüchen gekennzeichneten Epoche sprach aus diesen Äußerungen ein ungebrochenes Vertrauen. So gewährte der Liberalismus den Zeitgenossen eine politisch-konkrete und eine universell-historische Orientierung. Die Berufung auf ihn gab der eigenen Gegenwart einen Ort im historischen Fortschrittsprozess, sie wies dieser Gegenwart eine positive Entwicklungsrichtung zu und vermittelte eine suggestive Trennlinie zwischen rückschrittlicher Vergangenheit und verheißungsvoller Zukunft. Aus dem Gegensatz zwischen Rückschritt und Fortschritt ließ sich der eigene geschichtliche Standort ableiten. Der Liberalismus, so eine zeitgenössische 1  Theodor Mundt, Moderne Lebenswirren, Leipzig 1834, S. 33. 2  Rudolf Haym, Aus meinem Leben, Berlin 1912, S. 110. 3  Wolfgang Menzel, Die deutsche Literatur. 2 Theile, Stuttgart 1828, hier zit. nach Heinrich Heine, Sämtliche Schriften 1817–1840, hg. von Klaus Briegleb, Frankfurt a. M. 1981, S. 444–456, hier S. 450; vgl. Jörn Leonhard, Liberalismus. Zur historischen Semantik eines europäischen Deutungsmusters, München 2001, S. 309.

Auffassung der 1830er Jahre, schreite »in demselben Maße fort, wie die Zeit selbst, oder ist in dem Maße gehemmt, wie die Vergangenheit noch in die Gegenwart herüber dauert«3. Etwas mehr als 120 Jahre später konnte von diesem Optimismus keine Rede mehr sein. Denn auf dem Gründungstreffen der Freien Demokratischen Partei im Dezember 1948 stellte Theodor Heuss die Frage, ob sich das Etikett »liberal« überhaupt noch zur Benennung einer Partei eigne, die nach ihrem Selbstverständnis in der historischen Tradition des Liberalismus stehe. Die Namenswahl »Freie Demokratische Partei« drückte, so Heuss, den verbreiteten Zweifel daran aus, »ob das Wort ›Liberalismus‹, in dem ein Stück geschichtlichen Erlebens des 19. Jahrhunderts steckt, noch und wieder fruchtbar werden kann, oder ob es diese Gegenwart vielleicht belastet

INDES, 2016–2, S. 25–33, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2191–995X

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mit der Erinnerung an die Zeit, da ein Teil der ›Liberalen‹ im Kampf gegen Kirchlichkeit sich übte, oder an die Epoche, da von dem ›Manchestertum‹ kein Weg zu einer eigenmächtigen Sozialpolitik führte«4. Zwischen beiden Diagnosen stand mindestens aus deutscher Sicht eine fundamentale Krise des Liberalismus im frühen 20. Jahrhundert, die ­T homas Mann in seinem Roman »Der Zauberberg« thematisierte. Hier ließ der Schriftsteller aus dem Blick von 1924 zurück die Vorkriegsepoche des Liberalismus verhandeln. Aus dem skeptischen Rückblick der 1920er Jahre auf das lange 19. Jahrhundert inszenierte Mann einen Streit darüber, aus welchen Traditionslinien jenes Europa hervorgegangen sei, das für den Schriftsteller durch den Erfahrungsbruch des Ersten Weltkrieges schon Teil der Vorvergangenheit geworden war. Repräsentierte Ludovico Settembrini als Renaissancehumanist und unverbesserlicher Anhänger des Vernunftsoptimismus die bürgerliche Fortschrittsidee, so stand Leo Naphta für Jesuitentum und kommunistische Apokalypse. Schon die nur auf den ersten Blick widersprüchliche Mischung dieser Kennzeichen verriet etwas über den Umbruch der ideologischen Werte und Positionen. Während sich Settembrini zur Fortschrittsgeschichte Europas bekannte, die mit der Renaissance ihren Ausgang genommen habe und ohne die es weder Humanismus noch Sittlichkeit, weder Aufklärung noch Freiheit, die bürgerlichen Revolutionen so wenig wie den modernen Staat habe geben können, hielt Naphta dem eine unterkühlte Logik entgegen: Das »heroische Lebensalter« sei längst vorüber. Die Revolution der Zukunft gehe nicht mehr um liberale Ideale, sondern ruhe auf Disziplin, Opfer und Ich-­Verleugnung. Für den wollenden Menschen könnten bürgerliche Freiheit und humanistische Gerechtigkeit nur Lähmung, Schwäche und die Nivellierung aller Gegensätze bedeuten. Man sei »gerecht gegen den einen Standpunkt oder gegen den anderen. Der Rest war Liberalismus, und kein Hund war heutzutage mehr damit vom Ofen zu locken«.5 Politische und universelle Erlösungshoffnungen und vorzeitige Nachrufe, aber auch programmatische Neuerfindungen und Häutungen bilden ein Leitmotiv der Geschichte des Liberalismus. Hinter der vermeintlichen Vagheit und Konturlosigkeit steht eine Pluralität von Definitionen, stehen Skepsis und Kritik, die das Phänomen schwer fassbar zu machen scheinen. Insofern gilt Friedrich Nietzsches Diktum, demzufolge definierbar nur sei, was keine Geschichte habe, für den Liberalismus in ganz besonderer Weise.6 Aber gibt es überhaupt so etwas wie eine einzige historische Erzählung des Liberalismus? Oder muss man das historische Phänomen vielmehr aus seiner Vielfalt und Widersprüchlichkeit heraus verstehen, die sich von seinen ganz unterschiedlichen Erfahrungs- und Handlungsräumen ableiten? Oder anders gefragt: Ist

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4  Theodor Heuss, Rede auf dem Gründungstreffen der FDP vom 10./11. Dezember 1948, zit. nach Bundesvorstand der Freien Demokratischen Partei (Hg.), Zeugnisse liberaler Politik. 25 Jahre F.D.P., Bonn 1973, S. 13 ff.; vgl. Jörn Leonhard, Semantische Deplazierung und Entwertung – Deutsche Deutungen von liberal und Liberalismus nach 1850 im europäischen Vergleich, in: Geschichte und Gesellschaft, Jg. 29 (2003), H. 1, S. 5–39. 5  Thomas Mann, Der Zauberberg (1924), in: Ders., Große kommentierte Frankfurter Ausgabe, Bd. 5/1, hg. und textkritisch durchgesehen von Michael Neumann, Frankfurt a. M. 2002, S. 603 u. S. 1047. 6  Vgl. Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral, Zweite ­Abhandlung: ›Schuld‹, ›schlechtes Gewissen‹, Verwandtes, in: Ders., Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. 5, hg. von Giorgio Colli u. Mazzino Montinari (1967), München 1993, S. 317.

die oben angedeutete Niedergangsgeschichte eine gesamteuropäische oder ist sie nur den Erfahrungen im deutschen Katastrophenjahrhundert geschuldet? Wer nach verbindlichen Deutungen sucht, der wird am ehesten in der klassischen Ideengeschichte fündig. Hier markiert der Liberalismus einen der wichtigsten Traditionszusammenhänge, aus denen die moderne westliche Demokratie entstanden ist. Dazu zählen sowohl der gewaltenteilige Verfassungs- und Rechtsstaat als auch die parlamentarische Demokratie westlichen Typs. Wer sich auf diese Perspektive einlässt, wandert häufig auf den Höhenkämmen der Geistesgeschichte und politischen Theorie von Hobbes, Montesquieu und Locke bis zu Rousseau und Kant. In der Logik des Rückblicks liegt die Konstruktion einer universell bestimmbaren Ideengröße mit einem scheinbar verbindlichen Kanon politischer, sozialer oder ökonomischer Wertvorstellungen, eben ein europäischer Liberalismus. Der Umstand, dass dessen Ursprünge in dieser Sicht vor die Epochenwende des Jahres 1789 und jedenfalls vor die eigentliche Entstehung des Begriffes Liberalismus in der politischen und sozialen Sprache fallen, erklärt die Vielzahl liberaler Urväter und Geburtsstunden von Sokrates bis Max Weber. Vor dem Hintergrund einer solchen ideengeschichtlichen Kanonisierung gerät der Liberalismus dann auch zum Geburtshelfer der Modernisierung unter bürgerlichen Vorzeichen: Menschen- und Bürgerrechte, Gewaltenteilung, Parlamente, Verfassungen, Gewerbefreiheit und Freihandel sind seine Synonyme, und die Geschichte des Liberalismus verwandelt sich in eine scheinbar geradlinige Vorgeschichte der Gegenwart. Es ist kein Zufall, dass man auf solche historischen Erzählungen immer wieder zurückgegriffen hat, weil sie erfolgreiche Pioniere im Westen Europas und in Nordamerika von Nachzüglern und Verlierern in Mittel- und Osteuropa unterschieden. So zitierte man die erfolgreichen Revolutionen von 1776 in Nordamerika und 1789 in Frankreich als Auftakt eines bürgerlichen Jahrhunderts – so wenig diese Revolutionen bürgerliche Revolutionen gewesen waren. Großbritannien geriet zum Modell ebenso erfolgreicher wie gewaltloser liberaler Reformen seit 1689. Die Whig interpretation of history bot dabei im 19. Jahrhundert eine ungemein suggestive Selbstdeutung der eigenen nationalen Geschichte als permanenter Kampf um die Verteidigung der politischen Freiheit an: die Erzählung einer kontinuierlichen Erfolgs­ geschichte, in der ökonomische und politisch-konstitutionelle Modernisierung stets parallel verliefen und die den verglichen mit Kontinentaleuropa so ganz anderen Entwicklungspfad Großbritanniens in die Moderne erklärte. Vor diesem Hintergrund der erfolgreichen westlichen Modelle konnte der mittel- und osteuropäische Liberalismus nur als Defizit- und NiederJörn Leonhard  —  Ein historischer Kollektivsingular

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gangsgeschichte begriffen werden. Der »Sonderweg« Deutschlands, seine Anfälligkeit gegenüber der totalitären Herausforderung, schien die historisch notwendige Folge eines schwachen Liberalismus zu sein, der seine Ideale nach dem Scheitern der Revolution von 1848/49 dem Machtstaat Bismarcks geopfert habe. Wer die Entwicklung des Liberalismus in Deutschland betrachtete, geriet allzu schnell auf die abschüssige Bahn einer bloßen Defizitgeschichte des Bürgertums. Dahinter verbarg sich das Denken vom historischen Ergebnis her, die Geschichte reduzierte sich zur bloßen Vorgeschichte der Gegenwart. Angesichts der Erfahrungen der totalitären Diktaturen im 20. Jahrhundert und des Ost-West-Konflikts nach 1945 ließen sich solche Vorstellungen zur anglo-amerikanischen liberalen Tradition verdichten, die man auch »dem Westen« zuschreibt.7 So suggestiv diese Vorstellung von westlichen Modellen mit erfolgreichen Revolutionen – egal ­ ob 1689, 1776 oder 1789 – und einer langen Defizitgeschichte von Nation und Nationalstaat in Deutschland auch ist: Sie greift in dieser Einseitigkeit nicht. Denn bei näherem Hinsehen erweisen sich sämtliche Modelle als durchaus ambivalent. Zur britischen Erfahrung gehörten die denkbar illiberalen Praktiken in seinem Kolonialreich und die Krisen in Irland. In Frankreich spaltete das Erbe der Revolution von 1789 die französische Gesellschaft lange in Les deux France, sodass der Liberalismus hier mit jedem neuen der vielen Regimewechsel im 19. Jahrhundert neue Ausrichtungen erhielt. In den Vereinigten Staaten verdeckte die Unabhängigkeit von 1776 viele Konflikte, die wie die Sklaverei im Bürgerkrieg der 1860er Jahre wieder blutig hervortreten sollten. Demgegenüber geht die deutsche Geschichte des 19. Jahrhunderts nicht im Diktum einer Gesellschaft ohne erfolgreiche Revolutionen auf, mit einem schwachen, vielfach gespaltenen bürgerlichen Liberalismus, der nach 1918 dem aufstrebenden Nationalsozialismus nichts entgegenzusetzen gehabt habe. Der Nationalstaat von 1871 war um 1900 viel mehr als ein autoritärer Machtstaat: Er war auch ein

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7  Vgl. Heinrich August Winkler, Geschichte des Westens, 4 Bände, München 2009–2015.

Fortschrittsmodell als Rechts-, Verwaltungs- und Sozialstaat sowie als Gehäuse einer Wissensgesellschaft, die ein hohes Maß an globaler Vernetzung kennzeichnete. Und all diese Errungenschaften lassen sich ohne bürgerliche Modernitätsansprüche und das Erbe des Liberalismus nicht erklären. Die genannten Beispiele verweisen auf Spezifika, auf besondere Entwicklungswege, Handlungsräume und Erfahrungen, deren historische Vielfalt man verstehen und aushalten muss, wenn man den Liberalismus jenseits normativer Projektionen verstehen will. Das beginnt schon bei der Geschichte des historischen Begriffs und seiner Verwendung in der politischsozialen Sprache der Zeitgenossen. Was Menschen in Frankreich um 1815 unter den »idées libérales« verstanden, unterschied sich erheblich von den »­liberalen Ideen« in Deutschland oder den »idee liberali« in Italien. Waren »libéral« und »libéraux« in Frankreich nach 1815 und spätestens nach der Julirevolution von 1830 zu Parteibezeichnungen geworden, weil es seit 1814 eine Verfassung, ein nationales Parlament und das komplizierte Erbe der Revolution gegeben hatte, blieb das Adjektiv »­l iberal« für deutsche Zeitgenossen noch lange Ausdruck einer ganz bestimmten, der Aufklärung und der Vernunftidee verpflichteten Gesinnung, eines spezifischen Habitus, der mit Parteien und vor allem mit der radikalen Französischen Revolution nichts zu tun haben wollte. Ausgerechnet die zu Urvätern des europäischen Liberalismus stilisierten britischen Reformer, welche die Katholikenemanzipation und die Wahlrechts­ reform von 1832 umsetzten, verzichteten ausdrücklich auf die Selbstbezeichnung »liberal«, die ihrer Meinung nach die Nähe zu den revolutionären Umwälzungen Kontinentaleuropas ausdrückte. Im vermeintlichen Mutterland des bürgerlichen Liberalismus dominierten nicht nur die Namen der aus dem 17. Jahrhundert stammenden aristokratischen Parlamentsparteien der Whigs und Tories, sondern auch noch lange deren exklusiver Politikstil, der mit demokratischer Teilhabe an der Politik wenig zu tun hatte. Jörn Leonhard  —  Ein historischer Kollektivsingular

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Auf was genau sich der Begriff bezog, blieb abhängig von den besonderen historischen Erfahrungen und Erwartungen in den verschiedenen europäischen Gesellschaften: Die erstmals während des Staatsstreichs des jungen Revolutionsgenerals Bonaparte am 18. Brumaire 1799 in Paris an prominenter Stelle verkündeten »idées libérales« wurden zu einem Ausdruck des revolutionären Erbes von 1789, indem sie für den Schutz von bürgerlicher Freiheit und privatem Eigentum gegen die radikalen Revolutionsanhänger standen.8 Das machte den Begriff für die bürgerlichen Gewinner der Revolution in Frankreich attraktiv, und zwar über den Untergang Napoleons hinaus. Anders in Spanien: Als die in Cádiz zusammengetretenen Stände, die Cortes, eine nationale Verfassung verabschiedeten, die eine konstitutionelle Monarchie ohne Inquisition und Kirchenbesitz vorsah, bezeichneten sich die Anhänger als liberales. In Deutschland schrieb man um 1815 von den »liberalen Grundsätzen« und blickte, zumal in den neuen Rheinbundstaaten, auf Frankreich, von dessen fortschrittlichen Institutionen – wie dem napoleonischen Code Civil, dem modernen Eigentumsrecht oder den Geschworenengerichten – man Reform­ impulse für die eigenen Gesellschaften und eine Stabilisierung der neuen Staatlichkeit erwartete. Doch zugleich blieb die Abgrenzung von der gewaltsamen Revolution leitend; die »liberalen Grundsätze« könnten, so hieß es, nur vernünftig und gewaltlos sein. Deutsche Zeitgenossen verbanden damit um 1815 bereits die doppelte Hoffnung der Befreiung von der napoleonischen Militärdespotie einerseits, der positiven Freiheit, die auf Verfassung und N ­ ationalstaat zielte, andererseits.9 In dieser Vielfalt von Erfahrungen und Erwartungen bildete der Liberalismus die Spannung zwischen Traditionen und Dynamik ab, zwischen Beharrung und Wandel. Der neue Begriff machte die daraus entstehenden Konflikte erkennbar, aber er entzog sich gerade deshalb auch der Eindeutigkeit. Eines allerdings verband diese unterschiedlichen Übergänge: Die universell gedachte Einheit von Staats- und Gesellschaftsverfassung, der societas ­c ivilis sive res publica, zerbrach durch die Aufklärung auf programmatischer, durch die Revolutionen auf praktisch-politischer sowie durch den Übergang zum bürgerlichen System der Bedürfnisse auf wirtschaftlich-sozialer Ebene.10 So erfuhren Zeitgenossen die erlebte Geschichte jenseits von Vernunfts­ optimismus und Entwicklungskontinuum als Abfolge tiefgreifender Umbrüche. Die um 1800 aufkommenden Ismen standen vor diesem Hintergrund für eine Verzeitlichung, mit der man der Geschichte Herr zu werden glaubte: durch die Begründung einer organischen Kontinuität im Konservatismus; in der Zuordnung einer innerweltlichen Zukunftsprojektion für die eigene Gegenwart im Liberalismus; vermittels einer Gesellschafts- und

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8  Vgl. Jörn Leonhard, »1789 fait la ligne de démarcation«: Von den napoleonischen idées libérales zum ideologischen Richtungsbegriff libéralisme in Frankreich bis 1850, in: Jahrbuch zur Liberalismus-Forschung, Jg. 11 (1999), S. 67–105. 9  Vgl. Ders., From European Liberalism to the Languages of Liberalisms: The Semantics of Liberalism in European Comparison, in: Redescriptions. Yearbook of Political Thought and Conceptional History, Jg. 8 (2004), S. 17–51. 10  Vgl. Ders., ­Liberalismus, S. 296 u. S. 567.

Geschichtsutopie im Kommunismus; oder im Versuch, in der Erlösungs­ botschaft des Nationalismus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenzufügen. Aber wo und wie setzten sich solche handlungsleitenden Konzepte und Ideen durch, wo und wie prägten sie Gesellschaften konkret? Einerseits dominierte auch hier eine ausgesprochene Vielfalt von Voraussetzungen und Handlungsbedingungen, andererseits näherten sich in der Phase der 1860er und 1870er Jahre, nach dem Abschluss der Nationalstaatsbildung in Italien und Deutschland, die Bedingungen der europäischen Gesellschaften tendenziell an. Im Gegensatz zur Vorstellung des 19. Jahrhunderts als Zeitalter des triumphalen Liberalismus dominierten Liberale keinesfalls überall auch politisch die Machtzentren. Wo Liberale in Paris 1848 wie selbstverständlich die konstitutionelle Monarchie gegen die Republik eintauschten, blieb für deutsche Liberale im März 1848 die Republik das Synonym für soziale Anarchie und die Revolution der Straße. Ihnen ging es um Verfassung und Nationalstaat, wo immer möglich nicht auf Barrikaden, sondern in Kooperation mit reformbereiten Regierungen. Seit den 1860er Jahren traten dann überall Parlamente, Wahlen und parteipolitisch organisierte Interessen in den Vordergrund. Mit der Entwicklung eines politischen Massenmarktes mit entsprechenden Kommunikations- und Medienwirkungen ging die energische Organisation politischer, sozialer und ökonomischer Interessen einher. Auch die neuen Herausforderungen der Politik in Europa wurden tendenziell ähnlicher: Nach den Konflikten um politische Partizipation und Repräsentation, Verfassungsgebung und Nationalstaat traten nun neue Phänomene wie die soziale Frage der Industriearbeiter und die Folgen der Urbanisierung in den Vordergrund. Deutsche Liberale taten sich mit all diesen Veränderungen schwerer als Liberale in anderen europäischen Gesellschaften. Dazu trug der Widerspruch zwischen einem allgemeinen Männerwahlrecht auf Reichsebene nach 1871 und dem Dreiklassenwahlrecht in Preußen bei, aber auch die ausbleibende Parlamentarisierung des neuen Nationalstaates, in dem sich die konstitutionelle Monarchie vor Oktober 1918 nicht zur parlamentarischen fortent­w ickelte. Das aus dem frühen 19. Jahrhundert stammende liberale Leitbild des Staatsbürgers, das auf aufgeklärter Gesinnung, Bildung und wirtschaftlicher Unabhängigkeit beruhte, blieb dabei sozial exklusiv. Nur auf kommunaler Ebene, wo das Wahlrecht eingeschränkt blieb, vermochten sich die Liberalen als politische Kraft so erfolgreich zu halten, dass sie politikgestaltend wirken konnten. Die Monopolstellung, die den deutschen Liberalismus als Kern der Nationalbewegung ausgezeichnet hatte und die ihm die überparteiliche Rolle einer Jörn Leonhard  —  Ein historischer Kollektivsingular

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politischen Garantiemacht der Nationalstaatsgründung eingebracht hatte, konnten Liberale in Deutschland spätestens nach 1880 nicht bewahren. Denn im Gegensatz zu Italien, wo der politische Katholizismus in Opposition zum Nationalstaat verharrte, erkannten die von Bismarck zunächst so verfemten »Reichsfeinde« der Katholiken und Sozialisten das Reich als Handlungsrahmen an. Sie etablierten sich als politische Parteien weit erfolgreicher als die Liberalen, die über kein stabiles soziokulturelles Milieu verfügten und unter der Tendenz zur organisatorischen Spaltung litten. Zumal in Europa die konfessionelle Trennlinie die Wirkungsmöglichkeiten und Mobilisierungspotenziale von Liberalen bestimmte: Während in Deutschland Konservative und Liberale um die Stimmen der protestantischen Bevölkerungsteile konkurrierten, blieben in Großbritannien die Nonkonformisten außerhalb der Anglikanischen Kirche eines der stabilsten Wählerreservoire der Liberalen. Während in Frankreich bereits die von den zurückgekehrten Bourbonen gewährte Charte Constitutionnelle von 1814 die konstitutionelle Monarchie eingeführt hatte, blieb die Verfassungsgebung für viele Liberale in Deutschland, zumal in Preußen, bis 1848/49 eine Erwartung, war sie jedenfalls in weiten Teilen Deutschlands keine selbstverständliche Realität. Dennoch stellte der Liberalismus in Deutschland mehr als eine Verfassungsbewegung dar. Lange Zeit lief sein Gesellschaftsideal angesichts der von traditionalen Gewerbe- und Produktionsstrukturen bestimmten Situation auf die Idee einer klassenlosen Bürgergesellschaft hinaus. Erst mit dem um 1900 stärker akzentuierten Sozialliberalismus reagierte man langsam auf die notwendige Integration der Industriearbeiter in den neuen Nationalstaat. Die soziale Utopie des Liberalismus war nicht der bourgeois im marxistischen Klassensinne, sondern der citoyen, citizen oder »Staatsbürger«. Aber gerade in Deutschland lief dieses Staatsbürgerideal mit der fortschreitenden Industrialisierung Gefahr, zum bloßen Anachronismus zu werden, der nicht länger schichtenübergreifend integrativ, sondern durchaus klassenbestimmt konfliktverschärfend wirken konnte.11 Unter besonderen Bedingungen und bei vorhandener Reformbereitschaft stand der Liberalismus auch dem Adel offen. Das galt nicht nur für Teile des italienischen Adels in der Phase des Risorgimento, für ungarische Magyaren oder den Adel in Polen. Vor dem Hintergrund ganz anderer Traditionsbindungen, die bis zu den Konflikten zwischen Krone und Parlament im 17. Jahrhundert reichten, erwuchsen in Großbritannien erst in den 1850er und 1860er Jahren aus einem dezidiert aristokratischen Politikverständnis, dem Ideal der Treuhänderschaft der Whigs für die Freiheitsrechte des englischen Volkes, eine moderne Parteiorganisation und eine Personalisierung

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11  Vgl. Jörn Leonhard, »Die Zukunft der G ­ eschichte«? – Carl von Rotteck und die ­Widersprüche des deutschen Frühliberalismus, in: Stefan Gerber u. a. (Hg.), Zwischen Stadt, Staat und Nation. Bürgertum in Deutschland, Bd. 1, Göttingen 2014, S. 373–389.

der Politik. Charismatische Führung wie unter Premierminister Gladstone, die Integrationskraft eines historisch begründeten Zweiparteiensystems und die programmatische Öffnung gegenüber der sozialen Frage der Industriearbeiter stabilisierten den parteipolitischen Liberalismus in Großbritannien vor 1914. Aber die Probleme um die Durchsetzung der Home Rule in Irland, die Erfahrung des Krieges und der Aufstieg der Labour Party stellten diese Konstellation nach 1918 infrage. Auch die Abkehr von vermeintlich eindeutigen Niedergangs- und Defizitgeschichten des Liberalismus in Mittel- und Osteuropa bedeutet nicht den Verzicht auf Differenzierung – im Gegenteil. In der relativ größeren Bedeutung von Adel und Bürokratien für den Liberalismus in vielen mittel- und osteuropäischen Gesellschaften bildeten sich historische Entwicklungsunterschiede ab. Aber von hier aus kann und sollte man nicht vorschnell darauf schließen, was Liberale konkret bewirken konnten. Während etwa die Grenzen des parteipolitischen Liberalismus in Deutschland auf Reichsebene nach 1871 immer deutlicher wurden, bildeten Kommunen einen geschützten Handlungsraum. Die erfolgreiche Revolution großer Teile des liberalen Bürgertums lief in Deutschland nicht auf eine politische Machtkontrolle auf Reichsebene hinaus, sondern konzentrierte sich dort auf die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung Deutschlands zu einem Laboratorium der Moderne. Die historischen Forderungen der Liberalen des 19. Jahrhunderts sind im parlamentarischen Verfassungs- und Rechtsstaat am Beginn des 21. Jahrhunderts weitgehend erfüllt worden. Aber mit dem scheinbaren Triumph liberaler Prinzipien korrespondiert zugleich ein Bedeutungs- und Funktionsverlust liberaler Parteien in Europa, die den Ausweis ihrer Identität nicht länger im Etikett »liberal« suchen. Den Liberalismus können heute viele politische Akteure für sich reklamieren.12 Ob und wovon man vor diesem Hintergrund die 12  Vgl. Anselm DoeringManteuffel u. Jörn Leonhard, Liberalismus im 20. Jahrhundert – Aufriss einer historischen Phänomenologie, in: Dies. (Hg.), Liberalismus im 20. ­Jahrhundert, Stuttgart 2015, S. 13–32.

Einheit des Liberalismus ableitet, hängt immer von der jeweiligen Perspektive ab. Insofern verraten solche Projektionen viel über die Erwartungen der Beobachter, aber wenig über Gehalt und Gestalt des Liberalismus selbst. Wer sich ihm als historischem Phänomen nähert, der muss Vielfalt und Widersprüche aushalten, die sich einfachen Definitionen entziehen.

Prof. Dr. Jörn Leonhard  ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte Westeuropas am Historischen Seminar der Universität Freiburg. Seine wichtigsten Publikationen: »Liberalismus – Zur historischen Semantik eines europäischen Deutungsmusters« (München 2001); »Empires und Nationalstaaten im 19. Jahrhundert« (Göttingen 2010, zus. mit ­Ulrike von Hirschhausen); »Die Büchse der Pandora. Geschichte des Ersten ­Weltkriegs« (München 2014). Derzeit arbeitet er an einer Globalgeschichte der Friedenskonferenzen und Friedensverträge 1918 bis 1923.

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DIE MORAL DES BÄCKERS PRINZIPIEN EINER LIBERALISTISCHEN MARKTETHIK ΞΞ Michael Baurmann Zum Gründungsmythos des Liberalismus gehört, dass der Markt eine »moralfreie Zone« sein soll, in der moralische Normen und Motive überflüssig oder sogar schädlich sind, weil eine »unsichtbare Hand« dafür sorgt, dass aus eigeninteressiertem Handeln ein Ergebnis im allgemeinen Interesse zustande kommt. In diesem Zusammenhang darf dann das berühmte Zitat von Adam Smith nicht fehlen, wonach wir nicht vom Wohlwollen des Metzgers, Brauers oder Bäckers abhängen, um das von ihnen zu erhalten, was wir benötigen. Nun hat aber bereits Smith betont, dass ein Markt zwar allein auf Basis des Eigeninteresses funktionieren mag, dass allerdings eine moralische Motivation der Marktteilnehmer die wirtschaftlichen Aktivitäten auf einem Markt durchaus unterstützt: Auch wenn wir auf den Altruismus des Bäckers nicht angewiesen sind, sollte uns dessen Moral deshalb nicht gleichgültig sein. Und Smith hat darüber hinaus angenommen, dass der Markt ein moralisches Handeln sogar fördern kann und in dieser Hinsicht bspw. einer aristokratischen Gesellschaft überlegen ist – ich werde darauf zurückkommen. Damit gehört auch Adam Smith zu der von Alfred Hirschman rekonstruierten ideengeschichtlichen Tradition der »Schottischen Aufklärung«, die in einem Markt nicht nur eine Maschinerie zur Steigerung wirtschaftlicher Effizienz, sondern in dem Doux Commerce des friedlichen Handels auch eine moralische Institution gesehen hat, die zur Temperierung gefährlicher Leidenschaften und Triebe beiträgt.1 Was ist von dieser weitgehend vergessenen Sichtweise heute zu halten? Kann und sollte ein moderner, »aufgeklärter« Liberalismus an diese Tradition wieder anknüpfen? Dafür möchte ich im Folgenden plädieren.2 Für eine Untersuchung der Rolle der Moral im Markt lassen sich die Beziehungen von Marktakteuren in drei Kategorien unterscheiden: Austausch­ beziehungen, Kooperationsbeziehungen und Konkurrenzbeziehungen. Dementsprechend lässt sich die Fragestellung differenzieren: Braucht der Markt eine Ethik des Austausches, eine Ethik der Kooperation und eine Ethik der Konkurrenz? Die Austauschbeziehung als bilaterale Vertragsbeziehung, durch die Güter und Leistungen transferiert werden, ist die Kerninstitution des Marktes. Und hier kann man sich zunächst zu Recht auf das Zitat von Adam Smith berufen: Wir sind in der Tat nicht auf das Wohlwollen von Produzenten oder Dienstleistern angewiesen, damit sie uns ihre Produkte oder Leistungen anbieten.

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1  Vgl. Albert O. Hirschman, Leidenschaften und I­nteressen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg, Frankfurt a. M. 1987. 2  Vgl. Michael Baurmann, Lokale und globale Verantwortung von Unternehmen. Drei Thesen zum Verhältnis von Markt und Moral, in: Ludger Heidbrink u. Alfred Hirsch (Hg.), Verantwor­ tung als marktwirtschaftliches Prinzip. Zum Verhältnis von Moral und Ökonomie, Frankfurt a. M. 2008, S. 117–144.

Aber mittlerweile ist ebenfalls eine ökonomische Binsenweisheit, dass die mit dem Transfer von Gütern und Leistungen verbundenen Transaktionskosten und Risiken erheblich gesenkt werden können, wenn man auf die moralische Integrität der Partner vertrauen kann.3 Angesichts der notorischen Lückenhaftigkeit von Verträgen, von unvermeidlichen Informationsasymmetrien, Unsicherheiten bei der Vertragsabwicklung, Anreizen zur Untererfüllung oder zu einem direkten Vertragsbruch kann die Orientierung an einer Kaufmannsmoral komplizierte Verträge, aufwendige Kontrollen und den Rückgriff auf Unwägbarkeiten rechtlicher Sanktionen überflüssig machen. Wenn ich darauf vertrauen kann, dass mein Vertragspartner mich nicht hintergeht und sich auch an informelle Verabredungen hält; dass er nicht jede Gelegenheit ergreift, um auf meine Kosten einen Sondervorteil herauszuholen; dass er sich ernsthaft bemüht, seine Vertragspflichten zuverlässig zu erfüllen und mich über die Qualität seiner Leistungen nicht täuscht – dann erhöht sich meine Erwartungssicherheit, sinken meine Risiken und ich kann mir Investitionen in Instrumente für Absicherung und Gefahrenabwehr sparen. Die an Vertragsbeziehungen Beteiligten werden sich deshalb schon aus Eigeninteresse eine wirksame Ethik des Austauschs wünschen und erhoffen. Eine solche Kaufmannsmoral wird also nicht von außen in den Markt importiert, sondern ihre Normen erwachsen »endogen« aus den wirtschaftlichen Beziehungen der Marktakteure selber. Und auch wenn diese Normen im Einzelfall den Verzicht auf opportunistische Handlungsweisen verlangen und damit ein »Opfer« erfordern, können sie sich für die Beteiligten längerfristig in der baren Münze reibungslos funktionierender ökonomischer Beziehungen auszahlen. Eine Ethik des Austauschs ist deshalb kein Fremdkörper auf dem Markt, sondern ein »Schmiermittel« für Markttransaktionen, das die wirtschaftliche Effizienz insgesamt erhöht. Der zweite große Bereich wirtschaftlicher Aktivitäten auf dem Markt sind die Kooperationsbeziehungen innerhalb von Unternehmen. In einem Unternehmen werden keine Güter und Leistungen in bilateralen Verträgen getauscht; sondern die Mitglieder eines Unternehmens arbeiten kontinuierlich zusammen, um durch ein gemeinsames Handeln ein bestimmtes Gut zu produzieren. Wie jedes kooperative Handeln ist auch diese Kooperation durch das notorische soziale Dilemma bedroht, dass Anreize für den einzelnen bestehen können, Beiträge auf Kosten anderer zurückzuhalten. Dabei lässt sich in den meisten Fällen kaum vollständig kontrollieren, ob sich jemand rück3  Vgl. Francis ­Fukuyama, Trust: The Social Virtues and the Creation of Prosperity, New York 1995.

haltlos einsetzt, ob er seine Fähigkeiten ausschöpft und seine optimale Leistungsfähigkeit entfaltet, ob er sein Wissen und sein Know-how restlos einbringt und Aufgaben bei günstigen Gelegenheiten nicht auf andere abwälzt. Michael Baurmann  —  Die Moral des Bäckers

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In einem Unternehmen existiert deshalb wie in jedem Kontext kooperativen Handelns ein fundamentales Interesse an Personen als Partnern, die eine Arbeitsmoral internalisiert haben, sich nicht opportunistisch als Drückeberger und Trittbrettfahrer betätigen und ihre Pflichten auch dann erfüllen, wenn sich ihnen Gelegenheiten bieten, gefahrlos auf Kosten anderer zu profitieren. Es ist eine Illusion, dass man allein mithilfe äußerer Anreize, mit Sanktionen, Gratifikationen, Kontrollen, Hierarchien und rechtlichen Regeln die Moral persönlicher Integrität und Vertrauenswürdigkeit in einem Unternehmen vollständig und gleichwertig ersetzen könnte.4 Auch hier gilt deshalb, dass die Nachfrage nach Arbeitsmoral intern entsteht, aus den Beziehungen der Marktteilnehmer untereinander – und auch hier schränkt eine Ethik der Kooperation wirtschaftliche Effizienz nicht ein, sondern stärkt sie im Gegenteil sowohl für das einzelne Unternehmen als auch eine Volkswirtschaft insgesamt. Im dritten Bereich geht es um eine Ethik des Wettbewerbs; sie betrifft die Beziehungen zwischen konkurrierenden Marktakteuren. Ein moderner ­Liberalismus kann sich hier ebenfalls auf Adam Smith beziehen, der mit Nachdruck darauf hingewiesen hat, dass wirtschaftliche Konkurrenz auf dem Markt weder Kampf noch Krieg ist, sondern wie bei einem sportlichen Wettkampf ein Wettbewerb nach Regeln. Fairness ist die moralische Tugend, die sich in der freiwilligen Einhaltung dieser Regeln manifestiert. Dabei geht es sowohl um geschriebene als auch ungeschriebene Regeln. Wesentliche Regeln des marktlichen Wettbewerbs sind meistens durch eine Rechtsordnung gegeben, die verbietet, einen Wettbewerber zu töten, zu bestehlen, zu betrügen, durch üble Nachrede zu schädigen, aber auch ihn zu bestechen oder mit ihm wettbewerbsunterlaufende Absprachen zu treffen. Fairness im Wettbewerb verlangt aber mehr als die Einhaltung dieser formellen Regeln. Fairness umfasst – sowohl im Sport als auch auf dem Markt – ebenfalls informelle Normen, die teilweise gar nicht oder nur schwer zu verrechtlichen sind. Dazu gehört, dass man nicht versucht, im Wettbewerb durch Täuschung, Manipulation oder andere unlautere Maßnahmen erfolgreich zu sein. Solche Regeln der Fairness und des Fairplay sind keine Einschränkungen und Restriktionen für einen wirksamen Wettbewerb. Vielmehr sollen sie das eigentliche Ziel eines Wettbewerbs fördern und dazu beitragen, dass tatsächlich diejenigen erfolgreich sind, die nach den Kriterien des jeweiligen Wettbewerbs die beste Leistung erbringen. Die Ziele, die mit der Einrichtung eines Marktes und seiner Wettbewerbsmechanismen verfolgt werden, betreffen eine effiziente Ressourcenallokation, kontinuierliche Anreize für Innovationen und ein quantitativ breites Angebot an qualitativ möglichst guten und preiswerten Produkten. Betrug,

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Liberalismus — Analyse

4  Vgl. Margit Osterloh u. Antoinette Weibel, Investition Vertrauen, Wiesbaden 2006.

Täuschung, Drohung, Bestechung, Manipulation oder Rent Seeking mögen Mittel sein, mit denen man Marktrivalen ausstechen kann – sie sind aber keine Mittel, die eine effiziente Ressourcenallokation, Innovationen oder die Produktqualität fördern. Das gilt auch für weniger drastische Verhaltensweisen, die nach den Normen eines informellen Markt-Fairplay unterlassen werden sollten. Konkurrenten aus dem Markt zu verdrängen, indem man rufschädigende Gerüchte über sie verbreitet, sie mit nicht kostendeckenden Preisen ruiniert, momentane Notlagen und Unglücksfälle ausnutzt, Kartelle bildet oder politische Macht gegen sie mobilisiert, dient nicht den Zielen des Marktes, sondern schadet ihnen. Auch eine Ethik des Wettbewerbs mit Fairness als Kerntugend erwächst insofern aus den Marktbeziehungen selber – in diesem Fall aus den Beziehungen zwischen konkurrierenden Akteuren, die sich wechselseitig ein faires Verhalten erhoffen. Und auch in diesem Fall fördert die Verbreitung einer Moral der Fairness die genuinen Ziele einer Marktwirtschaft, statt sie einzuschränken. Marktakteure können aber jenseits ihrer Beziehungen zu Vertragspartnern, Kooperationspartnern oder Konkurrenten negative Externalitäten produzieren, die unbeteiligte dritte Parteien in mehr oder weniger massiver Weise schädigen: Umweltbelastungen, technologisch bedingte Gefährdungen und Risiken, aber auch soziale und gesellschaftliche Folgen, wie die Entwertung von Fähigkeiten und Qualifikationen oder die indirekte Förderung und Unterstützung unerwünschter gesellschaftlicher Zustände und politischer Verhältnisse. Einige solcher Externalitäten werden durch rechtliche Verbote, Auflagen, Besteuerungen oder ökonomische Steuerungsinstrumente unterbunden, andere sind potenzielle Gegenstände moralischer Normierungen. Sie lassen sich als eine Forderung nach Rücksichtnahme zusammenfassen. Rücksichtnahme bedeutet, Handlungsziele nicht ungeachtet ihrer Nebenfolgen und Kosten für andere Personen zu verwirklichen, sondern sich bei der Realisierung der eigenen Ziele entsprechenden Einschränkungen zu unterwerfen. Bei der Forderung, auf negative Externalitäten Rücksicht zu nehmen, handelt es sich um eine Forderung, die außerhalb des Marktes ihren Ursprung hat. Anders als die bisher erörterten Moralnormen für ethisch vertretbares wirtschaft­ liches Handeln hat ihre Umsetzung eine Einschränkung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Marktes zur Folge. Liegen hinreichend gravierende externe Effekte vor, wird bei einem Marktgleichgewicht die Wohlfahrt der Gesellschaft nicht maximiert; ein soziales Optimum kann in diesem Fall nur durch Abstriche an der Effizienz des Marktes erreicht werden. Angesichts der Wertschätzung einiger der Güter, die durch negative Externalitäten beeinträchtigt werden können, ist das kaum ein Problem – etwa Michael Baurmann  —  Die Moral des Bäckers

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im Bereich des Umweltschutzes. Eine Güterabwägung zwischen negativen Externalitäten und Markteffizienz ist aber nicht immer einfach und eindeutig. Hierbei existiert eine große Grauzone, vor allem auch dann, wenn es um Bereiche geht, die nicht oder nur schwer justiziabel sind – oder die in nationalen Rechtsordnungen unterschiedlich und möglicherweise stiefmütterlich behandelt werden. Trotzdem sollte auch aus einer liberalistischen Sichtweise klar sein, dass negative Externalitäten auftreten können, deren gesellschaftliche Kosten eindeutig höher sind als die betriebs- und volkswirtschaftlichen Kosten, die bei ihrer Verhinderung anfallen würden. In diesen Fällen ist moralisch geboten, durch formelle rechtliche und informelle ethische Regeln das Auftreten solcher Externalitäten zu verhindern. Bei der Vermeidung von negativen Externalitäten geht es um die Vermeidung schädlicher Handlungsfolgen, nicht um ein aktives Handeln zugunsten der Herbeiführung positiver Folgen. Es geht also etwa darum, dass ein Unternehmen kein Abwasser in einen Fluss leitet oder darauf verzichtet, in einer Diktatur zu investieren – aber nicht darum, die Wasserqualität des Flusses durch die Finanzierung einer städtischen Kläranlage zu verbessern oder eine Diktatur durch politische Aktivitäten gezielt zu bekämpfen. Das führt zu einer neuen Frage: Gibt es jenseits der Forderung nach Rücksichtnahme und damit der Vermeidung negativer Externalitäten weitergehende und berechtigte moralische Forderungen besonders an Unternehmen nach einem aktiven Handeln zugunsten Dritter und möglicherweise für das Allgemeinwohl insgesamt? Mangelnde Verantwortung für das Ganze ist ja einer der Vorwürfe, die man gerne gegen Unternehmen und Unternehmer erhebt. Kaufmannsmoral, Arbeitsmoral, Fairness und Rücksicht fordern von Marktakteuren lediglich eine lokale Verantwortung. Sie fordern nicht, dass man sich generell für das menschliche Wohlergehen engagiert, öffentliche Güter bereitstellt oder aktiv für soziale Gerechtigkeit im eigenen Land oder auf der Welt insgesamt eintritt. Im Unterschied dazu können wir es als Bürger und als politisch Handelnde durchaus als moralische Pflicht betrachten, eine Verbesserung menschlicher Lebensverhältnisse auch aktiv herbeizuführen – und sei es durch eine Spende an eine Hilfsorganisation oder das öffentliche Eintreten für eine humanitäre Politik.5 Im Unterschied zu einem nur rücksichtsvollen Handeln umfasst ein solches Handeln aus Solidarität ein aktives Eintreten für die Belange und Interessen anderer. Die Frage lautet demnach: Soll das Prinzip der Solidarität ebenfalls zu den Prinzipien einer liberalen Marktethik gehören und somit insbesondere von Unternehmen als potenziell mächtigen und einflussreichen Akteuren nicht nur eine lokale, sondern auch eine globale Verantwortung gefordert werden?

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Liberalismus — Analyse

5  Vgl. Peter Singer, One World. The Ethics of Globalization, New Haven 2002.

Das Konzept des Corporate Citizenship bejaht diese Frage.6 Ihm zufolge sollen sich Unternehmen als gute (Unternehmens-)Bürger verhalten und sich mit ihren besonderen Ressourcen und Möglichkeiten aktiv für ökologische, politische und kulturelle Belange engagieren. Mit Begriffen wie Corporate Responsibility oder Corporate Social Responsibility wird eine moralische Verantwortung für Unternehmen postuliert, die eine moralische Verantwortung der Normalbürger sogar übersteigt. Demgegenüber sollte eine Marktethik im Geiste des Liberalismus die Auffassung verteidigen, dass der Markt zwar keine moralfreie Zone ist, aber doch als eine moralentlastete Zone gesehen werden kann: entlastet eben um die Bürde einer solch uneingeschränkten globalen Verantwortung. Unternehmen wären demnach nicht als Corporate Citizens zu betrachten und ihre Rolle müsste klar von der des verantwortlichen Bürgers in der politischen Gemeinschaft und Zivilgesellschaft unterschieden werden. Argumente für eine solche Moralentlastung des Marktes stützen sich auf die grundsätzlichen Aufgaben und die Funktionsweise des Marktes sowie auf die Voraussetzungen, unter denen dieser als wirtschaftliche Institution die gewünschten Ergebnisse erzielen kann. Wir präferieren ja einen Markt als Organisationsprinzip für unsere Wirtschaft, weil wir der Überzeugung sind, dass durch einen Markt wirtschaftliche Produktivität in höherem Maße gewährleistet wird als durch alternative wirtschaftliche Institutionen und Organisationsprinzipien. Der zentrale Mechanismus, der diese Leistungen erbringen soll, ist der Wettbewerb. Damit ein Wettbewerbssystem wirksam funktioniert, müssen allerdings bestimmte Bedingungen erfüllt sein: Die Einhaltung der Regeln des Fairplay wurde bereits erörtert. Aber es gibt grundlegendere Bedingungen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien hier drei genannt: ­Ressourcenkonzentration, Wissensfokussierung und begrenzter Altruismus. Ressourcenkonzentration bedeutet, dass die Teilnehmer an einem Wett­ bewerb die ihnen im Wettbewerb zur Verfügung stehenden Mittel und Möglichkeiten exklusiv dazu verwenden, Erfolg in der Konkurrenz zu ihren Mitbewerbern zu haben. Verwenden einzelne oder alle Konkurrenten ihre Ressourcen dagegen auch für Zwecke außerhalb der Wettbewerbsziele, werden die Resultate des Wettbewerbs insgesamt schlechter ausfallen. Wissens6  Vgl. Peter Ulrich, ­Republikanischer Liberalismus und Corporate Citizenship, in: Herfried Münkler u. Harald Bluhm (Hg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn, Bd. IV: Zwischen Normativität und Faktizität, Berlin 2002, S. 273–291.

fokussierung bedeutet, dass Wettbewerber ihr intellektuelles Potenzial zielgerichtet zum Erwerb wettbewerbsrelevanter Informationen und zum Aufbau eines dem Erfolg im Wettbewerb dienenden Wissens einsetzen. Auch in dieser Hinsicht gilt, dass nur dann ein optimales Gesamtergebnis des Wettbewerbs erzielt werden kann, wenn dieses Potenzial nicht für externe Ziele zweckentfremdet wird. Begrenzter Altruismus schließlich bedeutet, dass die Teilnehmer Michael Baurmann  —  Die Moral des Bäckers

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an einem Wettbewerb ihre eigenen Interessen und Ziele im Wettbewerb systematisch höher bewerten als die Interessen und Ziele ihrer Konkurrenten und die Interessen und Ziele Außenstehender. Ohne einen in diesem Sinne begrenzten Altruismus kann es überhaupt keinen oder nur einen sehr eingeschränkt funktionierenden Wettbewerb geben: Wenn Fußballspieler aus Mitleid mit der anderen Mannschaft auf das Toreschießen verzichten würden, wäre das Fußballspiel als Wettkampfveranstaltung beendet. Die Forderung nach Solidarität und globaler Verantwortung von Unternehmen läuft diesen Bedingungen für einen wirksamen Marktwettbewerb zuwider: Ihre Umsetzung verlangt eine Verwendung von Unternehmensressourcen für wettbewerbsexterne Zwecke, sie setzt die Erweiterung des Wissensbestandes des Unternehmens um Informationen und Kenntnisse voraus, die für erfolgreiche soziale, gesellschaftliche oder politische Initiativen und Aktivitäten relevant sind; und sie macht schließlich eine deutliche Relativierung der Unternehmensinteressen und -ziele gegenüber den Interessen und Zielen anderer kollektiver oder individueller Akteure notwendig. Eine Umsetzung der Forderung nach Solidarität und globaler Verantwortung von Unternehmen müsste deshalb zwangsläufig die Leistungsfähigkeit und Effizienz des wirtschaftlichen Wettbewerbs vermindern. Daraus folgt freilich nicht, dass man die potenziell segensreichen Konsequenzen solidarischen Handelns grundsätzlich infrage stellen müsste. Solidarität wird aber nicht unbedingt wirkungsvoller, wenn man sie unterschiedslos von allen einfordert. Der Gesellschaft nützt es insgesamt und auf lange Sicht mehr, wenn Unternehmer ihre Produkte mit höchstmöglichem Ressourceneinsatz, maximalem Wissen und konsequentem Willen zum Erfolg herstellen, als wenn ein Teil ihrer Ressourcen, ihres Wissens und ihrer Motivation für andere Ziele und Zwecke abgelenkt wird, die dann zwangsläufig nicht mit der gleichen Effektivität und Qualität verwirklicht werden können. Die moralischen Pflichten von Unternehmen zu begrenzen und sie von einer globalen Verantwortung und einem solidarischen Handeln zu entlasten, ist daher moralisch nicht anrüchig und keine Einladung zu einem unmoralischen Handeln. Die Rechtfertigung für eine solche Moralentlastung ist vielmehr selber moralisch, weil sie unterstellt, dass nur auf diesem Weg ein optimales Ergebnis im gemeinsamen Interesse aller erzielt werden kann. Wer ein Wettbewerbs­ system, egal in welchem Bereich, installieren will, weil er sich von einem Wettbewerb eine bessere Leistung als von anderen Organisationsprinzipien erhofft, dem muss klar sein, dass er damit ein Verhalten der Konkurrenten ermöglichen und bestärken muss, das mit moralischen Prinzipien in anderen Verhaltens­ bereichen nicht übereinstimmt – aber selber durchaus moralisch gerechtfertigt

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ist. Das kann ein genuin moralisches Argument sein, das dazu führt, in bestimmten Kontexten auf gewisse moralische Anforderungen zu verzichten. Ich komme am Ende noch einmal auf die Hoffnung von Adam Smith zurück, dass der Markt nicht nur von Moral profitieren, sondern dass er sie möglicherweise auch selber fördern kann: »Glücklicherweise ist in den mittleren und unteren Gesellschaftsklassen die Straße zur Tugend und diejenige zum Glück […] in den meisten Fällen fast durchaus die gleiche. In all den mittleren und niedrigeren Berufen können wirkliche und echte berufliche Fähigkeiten, verbunden mit kluger, rechtschaffener, standhafter und mäßiger Lebensführung nur sehr selten eines guten Erfolges ermangeln. […] Der Erfolg solcher Leute hängt beinahe immer von der Gunst und der guten Meinung ihrer Nachbarn und Standesgenossen ab und dieser können sie selten teilhaftig werden, sofern sie sich nicht einer wenigstens halbwegs geordneten Lebensführung befleißigen. Das gute alte Sprichwort ›Ehrlichkeit ist die beste Politik‹, bewährt also in solchen Lagen beinahe immer seine volle Wahrheit. In solchen Verhältnissen können wir deshalb im allgemeinen einen beträchtlichen Grad von Tugend erwarten und zum Glück für die Sittlichkeit der Gesellschaft ist dies die Lage des weitaus größten Teiles der Menschheit.«7 Smith fährt dann fort, dass »in den höheren Lebensständen« die Sache »unglücklicherweise nicht immer ebenso günstig« liege: »An den fürstlichen Höfen, in den Salons der Vornehmen, wo Erfolg und Beförderung nicht von der Achtung verständiger und wohlunterrichteter Standesgenossen abhängen, sondern von der grillenhaften und törichten Gunst unwissender, eingebildeter und stolzer Vorgesetzter, da tragen allzu oft Schmeichelei und Falschheit den Sieg davon über Verdienst und Fähigkeiten. In diesen Gesellschaftskreisen wird die Fähigkeit, Gefallen zu erregen weit mehr beachtet als die Fähigkeit, wirkliche Dienstleistungen zu vollbringen.« In diesem Zitat weist Adam Smith nicht nur auf den Wert moralischen Verhaltens für ein Funktionieren des Marktes hin; er drückt auch die Erwartung aus, dass der Markt selber ein solches Verhalten fördert und verstärkt. Er unterstellt dabei, modern gesprochen, die Wirksamkeit eines »Reputationsmechanismus«: Demnach erhöhen Personen, die den Ruf erworben haben, vertrauenswürdig und zuverlässig zu sein, damit auch ihre Chancen, als Partner in Beziehungen akzeptiert zu werden, die in besonderer Weise auf diese Eigenschaften angewiesen sind – etwa in Transaktionen mit erhöhtem Risiko. Bleibt einer Person der Zugang zu solchen Beziehungen dagegen versperrt, 7 

Adam Smith, ­Theorie der ethischen Gefühle, Hamburg 1994, S. 89 f.

weil man ihr misstraut, dann entgehen ihr auch die möglichen Vorteile aus einer Teilnahme an solchen Beziehungen. Michael Baurmann  —  Die Moral des Bäckers

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Ein solcher Reputationsmechanismus kann auf dem Markt in allen drei der skizzierten Kontexte wirksam werden: in Austauschsituationen, bei der Kooperation und in der Konkurrenz. Man hat, wie auch Smith stillschweigend unterstellt, in der Regel durchaus realistische Chancen, Personen mit moralischer Integrität zu identifizieren und sich von solchen fernzuhalten, von denen ein rein opportunistisches Verhalten droht. Diese Chancen variieren mit der Intensität der Kontakte zu aktuellen und potenziellen Partnern und mit der sozialen Einbettung ökonomischer Transaktionen. Reputation bildet sich aber nicht nur in direkten persönlichen Interaktionen, sondern ebenfalls über die weitverzweigten Informationsnetzwerke und zahlreichen formellen und informellen Institutionen, mit denen in einer Gesellschaft Kompetenz und persönliche Integrität bewertet und »zertifiziert« werden. Die Annahme ist deshalb nicht unplausibel, dass sich ein »Markt der Tugend« herausbilden kann, auf dem sich die moralische Integrität von Personen als Partnern in wirtschaftlichen Beziehungen auszahlt, die dementsprechend verstärkt und gefördert wird.8 Die Hoffnung wäre allerdings übertrieben optimistisch, dass ein solcher »Markt der Tugend« allumfassend sein kann. Moral zahlt sich nicht in jedem Kontext aus – weder auf dem Markt noch in der Gesellschaft insgesamt. Auch Personen, die als Vertragspartner, Arbeitnehmer oder Unternehmer eigennützige Ziele ohne jede moralische Selbstbeschränkung verfolgen, können erfolgreich Nischen im Markt und in der Gesellschaft finden. Aber es besteht auch kein Grund zu der Annahme, dass ein Reputationsmechanismus in einer Marktgesellschaft wirkungslos ist. Als Fazit für die Botschaft einer liberalistischen Marktethik können zwei Schlussfolgerungen gezogen werden. Erstens: Der Markt ist keine moralfreie, jedoch eine moralentlastete Zone. Zweitens: Die »unsichtbare Hand« des Marktes fördert auch das Moralangebot. Den freien gesellschaftlichen Kräften ist deshalb insgesamt eine größere moralische Produktivkraft zuzutrauen, als antiliberale Sichtweisen unterstellen, die nach Religionen, Traditionen oder der Politik rufen, um dem Markt von außen Moral zu oktroyieren.

Prof. Dr. Michael Baurmann  hat seit 1997 einen Lehrstuhl für Soziologie an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf inne. Seine Forschungsgebiete umfassen die Allgemeine Soziologie, Theorien sozialer Kooperation und Vertrauen sowie die Soziale Erkenntnistheorie. Er war ­Gastprofessor und Fellow an der Australian National University, der New York University, dem Instituto Tecnológico Autónomo de ­México und dem Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald. Seit über dreißig Jahren ist er ­Mitherausgeber von Analyse & Kritik: Zeitschrift für Sozialtheorie. Er ist am NRW Fortschrittskolleg »Online-Partizipation« und an der Gründung eines Düsseldorfer Instituts für Internet und Demokratie beteiligt.

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8  Vgl. Michael Baurmann, Der Markt der Tugend. Recht und Moral in der liberalen Gesellschaft, Tübingen 2002.

IF YOU’RE A LIBERAL, HOW COME YOU’RE SO POOR? LIBERALISMUS UND SOZIALE GERECHTIGKEIT ΞΞ Elif Özmen

Ein Gespenst geht um in der Welt – das Gespenst des Liberalismus! Gegensätzliche Mächte haben sich zu einer Hetzjagd gegen dieses Gespenst verbündet; denn als Feindbild taugt es sowohl für erklärtermaßen »rechte« wie auch »linke« politische Bewegungen. Während erstere ihr vermeintlich kulturrevolutionäres Potenzial gegenüber der egoistischen, wertevergessenen und dekadenten liberalen Lebensform beschwören, nehmen letztere die Ausbeutungs- und Verelendungsmechanismen der liberalen Wirtschaftsund Sozialordnung in den Blick. Denn, so der Gemeinplatz, wer über den Liberalismus reden will, dürfe über den Kapitalismus nicht schweigen. Freiheitliche Gesellschaft und freie Marktwirtschaft hängen demzufolge zusammen und bringen unweigerlich ungerechte soziale Verhältnisse hervor. Während die erste These systematischer Natur ist – sie betrifft die »innere Logik« des Liberalismus bzw. des liberalen Freiheitsverständnisses –, handelt es sich bei der zweiten um eine empirische Behauptung, die nichtsdestoweniger auf einem normativen Konzept von sozialer Ungerechtigkeit beruht. Im Folgenden werde ich mich auf diese systematischen und normativen Aspekte des Liberalismus beziehen, um dem Gemeinplatz eine angemessenere Darstellung und der Feind- und Gespensterbeschwörung einen würdigeren Gegner entgegenzustellen. WAS IST LIBERALISMUS (NICHT)? ÜBER FREIHEIT, GLEICHHEIT UND INDIVIDUALISMUS Als Bezeichnung einer politischen Tradition und eines bestimmten Sets politischer Überzeugungen wird der Liberalismus seit dem 18. Jahrhundert mit einschneidenden politischen Ereignissen und Proklamationen – der Entwicklungsgeschichte des Parlamentarismus und Konstitutionalismus, der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechtsidee, ja überhaupt: der modernen 1 

Vgl. Richard ­Arneson (Hg.), Liberalism, 3 Bd., Cambridge 1992.

Demokratie – verbunden. Parallel dazu lässt sich eine philosophische Ideengeschichte anhand der klassischen Autoren, Werke und Argumente erzählen.1

INDES, 2016–2, S. 43–49, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2191–995X

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Entlang dieser historischen Linien hat sich der Liberalismus als eine politikphilosophische Theorie herausgebildet, der zufolge das Individuum Vorrang gegenüber der sozialen Gemeinschaft und der politischen Gesellschaft genieße. Die natürliche, d. h. nicht-konventionelle Gleichheit und Freiheit der Individuen, eine Konzeption unveräußerlicher und gleicher Freiheitsrechte, die durch den Staat anzuerkennen und zu schützen sind, die Beschränkung staatlichen Handelns auf das, was gegenüber den B ­ ürger/-innen gerechtfertigt werden kann, Zwang als Ultima Ratio: Diese normativen Grundprinzipien des Liberalismus finden sich bei seinen klassischen (­Locke, Rousseau, Kant, Smith, Mill) ebenso wie bei zeitgenössischen Vertretern (Rawls, D ­ workin, Gaus, Scanlon). Gegenwärtig hat sich die Theorie des Liberalismus weit ausdifferenziert. So wird etwa unterschieden zwischen einem klassischen, modernen und einem Neo-Liberalismus oder zwischen einem sozialdemokratischen, utilitaristischen, egalitaristischen, perfektionistischen und libertaristischen ­Liberalismus oder einem kontinentalen und englischen oder einem politischen und comprehensive Liberalismus.2 Was diesen Bindestrich-Liberalismen gemeinsam ist, was sie also – bei allem Streit über das »richtige« Bündel von liberalen Prämissen, Prinzipien und Politiken – eint, ist ein spezifisches Verständnis von »Freiheit«, »Gleichheit« und »Individualismus«. Damit sind an dieser Stelle weniger die inhaltlichen Ausformungen3 als vielmehr die komplementären und miteinander verschränkten Verhältnisse dieser Grund­ konzepte zueinander gemeint. Ein (normativer) Individualismus ist der Ausgangspunkt der liberalen Theoriebildung. Demzufolge ist die politische Ordnung eine Konvention, die erst durch die Zustimmung der Individuen Legitimität gewinnt und erst in Hinsicht auf diese Individuen – ihre Zwecke und Rechte, ihre Interessen und Wünsche, ihr Wohlergehen, ihre Sicherheit – eine Funktion hat. Daher gelten ausschließlich Individuen (und nicht etwa die Natur, Vernunft, Religion, Moral oder tradierte Autoritäten) als rechtfertigender Ursprung legitimer politischer Ordnungen. Diese Individuen werden als frei (schon die Etymologie legt es ja nahe, den Liberalismus als »Theorie, welche die Freiheit betrifft«, zu verstehen) und gleich begriffen: Allen kommen die gleichen Freiheitsansprüche zu. Somit sind die Freiheit und die Gleichheit des Einzelnen unverzichtbare, nicht aufeinander oder auf anderes reduzierbare liberale Normen, die gleichwohl miteinander verschränkt sind in einem dialektischen, aufeinander verweisenden Verhältnis.4 Dieses trio liberale von Freiheit, Gleichheit und Individualismus bildet den normativen Rahmen des liberalen Gerechtigkeitsverständnisses und bestimmt die Grenze für das, was sich aus liberaler Perspektive über soziale Gerechtigkeit sagen lässt.

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2  Vgl. Christine Bratu u. Moritz Dittmeyer, Liberalismustheorien, Hamburg 2017 (i. E.). 3  Natürlich gibt es auch charakteristisch liberale Interpretationen dieser Grundkonzepte; vgl. Paul Kelly, Liberalism, Cambridge 2005. 4  Ausführlich dargestellt in Elif Özmen, Wahrheit und Rechtfertigung. Die begründungs­ theoretischen Grundlagen des Liberalismus, Kap. 1, i. V.

Als Referenz soll im Folgenden die »Theory of Justice« von John Rawls dienen – ein Werk, dessen Bedeutung für die politische Philosophie der Gegenwart kaum überschätzt werden kann und mit dessen Erscheinen im Jahre 1971 eine bis in die Gegenwart andauernde Renaissance des Liberalismus wie auch der Liberalismus-Kritik begonnen hat. Gerade weil der Rawls’sche L ­ iberalismus eine sozialstaatliche Lesart erlaubt,5 erscheint er besonders gut geeignet, um die Leerstellen des Liberalismus bezüglich sozialer Gerechtigkeit darzustellen und normativ zu evaluieren. JOHN RAWLS’ LIBERALE THEORIE DER GERECHTIGKEIT Bereits in den ersten Abschnitten der Theorie der Gerechtigkeit wird der Untersuchungsgegenstand bestimmt und begrenzt.6 Gerechtigkeit sei eine Tugend derjenigen sozialen Institutionen, die ein gesellschaftliches System der Kooperation und der Konkurrenz ermöglichten, das allen Beteiligten diene. Probleme der Gerechtigkeit sind Probleme der gerechten Verteilung von (moderat) knappen Gütern. Ziel der Theorie ist, ein Gerechtigkeitskriterium zu bestimmen für die Struktur und Wirkungsweise politischer und gesellschaftlicher Institutionen (z. B. Verfassung, Parlament, Justiz, Wirtschaftsordnung), die eben diese Güter verteilen. Als gerechtigkeitsrelevante Grundgüter gelten Rechte, Freiheiten, Chancen, Einkommen, Vermögen und Selbstachtung. Diesen Gütern ist laut Rawls zu eigen, dass sie gesellschaftlich bedingt sind – »natürliche« Güter wie Gesundheit, Intelligenz, Schönheit kann man schlichtweg nicht institutionell (um-)verteilen. Des Weiteren zeichnen sich Grund­g üter dadurch aus, dass jeder vernünftige Mensch sie haben will – unabhängig davon, wer dieser Mensch ist, wie und wo er lebt, was er außerdem noch will. 5  Vgl. Wilfried Hinsch, Rawls’ Differenzprinzip und seine sozialpolitischen Implikationen, in: Siegfried Blasche u. Dieter Döring (Hg.), Sozialpolitik und Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1998, S. 17–74.

Rawls stellt seine Gerechtigkeitskonzeption explizit in die Tradition des Gesellschaftsvertrags von Locke, Rousseau und Kant – was sich nicht nur in der kontraktualistischen Argumentationsfigur des Urzustandes, sondern auch in der begründungstheoretischen Rolle des trio liberale bestätigt. Ein legitimes Gerechtigkeitskriterium sei dasjenige, welches »freie und vernünftige Menschen in ihrem eigenen Interesse in einer anfänglichen Situation der Gleichheit zur

6  Für eine exemplarische Darstellung und Interpretation vgl. Julian Nida-Rümelin u. Elif Özmen, John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit, in: Manfred Brocker (Hg.), Geschichte des Politischen Denkens, Frankfurt a. M. 2007, S. 651–666.

Bestimmung der Grundverhältnisse ihrer Verbindung annehmen würden«7. Für Rawls kommt hierbei politischer Gerechtigkeit ein lexikalischer Vorrang zu: »1. Jedermann soll gleiches Recht auf das umfangreichste System gleicher Grundfreiheiten haben, das mit dem gleichen System für alle anderen verträglich ist.« Aber sozio-ökonomische Verhältnisse gelten ebenfalls als Gegenstand von Gerechtigkeitsurteilen: »2. Soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten sind

7  John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1979, S. 28.

so zu gestalten, daß (a) vernünftigerweise zu erwarten ist, daß sie zu jedermanns Vorteil dienen, und (b) sie mit Positionen und Ämtern verbunden sind, die Elif Özmen  —  If you’re a liberal, how come you’re so poor?

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jedem offen stehen.«8 Mit dem ersten Grundsatz werden politische Grund­g üter (Rechte, Freiheiten) verhandelt im Sinne gleicher (»egalitaristischer«) Bürgerund Menschenrechte, wohingegen der zweite Grundsatz, der die sozio-ökonomischen Grundgüter betrifft (Chancen, Einkommen, Vermögen), Egalitarismus um Wohlfahrt ergänzt. Demzufolge kann es gerechtfertigte wirtschaftliche und soziale Ungleichheiten geben, wenn das jedermann – und besonders der am schlechtesten gestellten Gruppe der Gesellschaft – den größtmöglichen Vorteil bringt (»Differenzprinzip«) und mit Ämtern und Positionen verbunden ist, die allen gemäß fairer Chancengleichheit offenstehen. Laut Rawls sind sozio-ökonomische Grundgüter auch von gesellschaftlicher Wertschöpfung und individueller Leistung abhängig, sodass eine kompetitive Wirtschafts- und Sozialordnung zu ihrer Vermehrung, hingegen ein strenger Egalitarismus (z. B. der Sozialismus) zu Mangel und Armut führen würde. Wenn also Maßnahmen der Produktivitätssteigerung allen dienen, sind damit verbundene ungleiche Verteilungen nicht von vorneherein oder gar begrifflich als ungerecht zu betrachten. SOZIALE GERECHTIGKEIT – EINE KATEGORIE DES UNSINNS? Der Begriff der sozialen Gerechtigkeit ist, anders als sein inflationärer Gebrauch in der tagespolitischen Agitation erwarten lässt, durchaus unklar.9 Insofern er distributiv verstanden wird und sich auf die Verteilung von Gütern und deren sozialen Ort und gesellschaftlichen Rahmen bezieht, hat die liberale Gerechtigkeit selbstverständlich soziale Implikationen. Mit Rückgriff auf Rawls können die folgenden Aspekte als paradigmatisch für den liberalen Gerechtigkeitsbegriff betrachtet werden: • Gerechtigkeit ist das leitende soziale Ideal des Liberalismus, welches das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen, die Organisation ihrer Ansprüche und Verbindlichkeiten, das, was sie sich als Bürger/-innen wechselseitig schulden, betrifft. Soziale Kooperation dient der Befriedung zu erwartender interpersoneller Konflikte, zuvorderst durch die Institutionalisierung der Normierungs- und Sanktionierungskompetenzen. Zu diesen staatlichen Kompetenzen gehört auch die Regelung der Verteilung der Früchte und Lasten der Zusammenarbeit, primär von Rechten, Pflichten, Chancen und Teilhabemöglichkeiten. • Die liberale Gesellschaftsordnung geht von einer Konvergenz der Gemeinschaft der Kooperationsfähigen (den freien, gleichen, ihre eigenen Zwecke und Interessen verfolgenden, gleichsam a-sozialen Individuen) und der Gerechtigkeitsgemeinschaft (den kooperations-, partizipations- und marktfähigen Bürger/-innen) aus. Insofern die Einzelnen als unverwechselbare, unersetzbare, unverfügbare Persönlichkeiten gelten, ist jede Einschrän-

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Liberalismus — Analyse

8  Ebd., S. 81. 9  Vgl. Frank Nullmeier, Soziale Gerechtigkeit – ein politischer »Kampfbegriff«?, in: Aus Politik und Zeit­geschichte, H. 47/2009, S. 9–14.

kung ihrer Freiheit zur Selbstbestimmung (z. B. durch die Gemeinschaft, Gesellschaft oder den Staat) legitimationsbedürftig. Die liberale Ordnung gründet auf einem normativen Postulat der gleichen Freiheit. Das sichert nicht nur, primär mit den Mitteln des Rechts, die Bedingungen der individuellen Autonomie und der friedlichen Koexistenz, sondern stellt darüber hinaus staatliches Handeln unter den Vorbehalt der Legitimierung durch die und gegenüber den betroffenen Individuen. • Liberale Gerechtigkeit meint zuvorderst politische Gerechtigkeit. Gleiche garantierte subjektive Grundrechte gelten als Bedingung der Möglichkeit für liberale citoyenneté. Neben Prinzipien der Rechtssicherheit und Rechtsstaatlichkeit, politischen Wahl-, Partizipations- und Kommunikationsrechten und persönlichen Grundfreiheiten wird politische Gerechtigkeit durch Abwehrrechte (oder »negative Freiheiten«) konstituiert. Hierzu zählt gemeinhin neben dem Recht auf Leben, Unversehrtheit, Freiheit und Sicherheit der Person auch das Recht auf (persönliches) Eigentum. Der liberale Individualismus wie auch sein Freiheitskonzept haben eine »possessive« Färbung. Auch wenn individuelle Freiheiten nicht in der Vorstellung des Selbsteigentums aufgehen,10 sind die liberale Erwerbs- und Arbeitstheorie sowie das Verdienst-, Vertrags- und Handelsprinzip an die Vorstellung gekoppelt, dass meine Tätigkeiten und deren Erträge mir (und nur mir) »gehören« und ich daher frei bin, sie (im wahrsten Sinne des Wortes) zu Markte zu tragen. Dieser Brückenschlag vom politischen zum Wirtschaftsliberalismus ist aus der inneren Logik des Liberalismus betrachtet zwar nicht notwendig, aber besonders naheliegend. Die sozialen und ökonomischen Dimensionen der Gerechtigkeit finden ihren Ausdruck, aber eben auch ihre Grenze innerhalb dieser legitimatorischen, politischen und rechtlichen Kontexte des Liberalismus. Mit gleichen Rechten, formaler Chancengleichheit und gerechten Prinzipien für das Zustandekommen von sozio-ökonomischen Verteilungen sind die Sphären der liberalen Gerechtigkeit abgesteckt; eine darüber hinaus gehende staatliche Gestaltung sozialer 10  So eine neo-marxistische Lesart und Kritik; siehe C. B.  Macpherson, The Political Theory of Possessive Individualism, Oxford 1962, S. 271: »The assumptions of possessive individualism are peculiarly appropriate to a possessive market society [where the individual] is human in his capacity as proprietor of his own person.«

Verhältnisse hat hier keinen systematischen Ort. Im Gegenteil: Dass sich der Liberalismus mit der Idee eines bedingungslosen Existenzminimums, sozialen Grundrechten, gemeinschaftlicher Solidarität in nicht selbstverschuldeten Notlagen und vor allem der Korrektur von Marktergebnissen durch staatliche Umverteilungen schwertut, erscheint nur folgerichtig angesichts eines individualistischen Freiheits-, Leistungs- und Verantwortungsprinzips und eines prinzipiellen Vertrauens in die effizienten, unparteilichen, wohlfahrtsdienlichen Mechanismen des freien Marktes. Für einen Autor wie Friedrich August Elif Özmen  —  If you’re a liberal, how come you’re so poor?

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von Hayek bewährt sich die Freiheitlichkeit der liberalen Gesellschaftsordnung auch und gerade durch die freie Marktordnung, sodass die Idee einer über diese politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Regelungen hinausgehenden »sozialen« Gerechtigkeit gegenstandslos und unsinnig sei.11 Das bedeutet freilich nicht, dass der Liberalismus sozialen Missständen und Notsituationen mit Gleichgültigkeit begegnet, sondern dass diese aus dem Anwendungsbereich der liberalen Gerechtigkeit – d. h. der Verantwortung staatlicher Institutionen und den legitimen politischen Handlungen – herausfallen. Gegen mögliche Nachteile von Krankheit, Behinderung, Berufsunfähigkeit, Arbeitslosigkeit müsse man sich demzufolge privat versichern oder auf das moralische und karitative Engagement seiner Mitmenschen verlassen. Grundsätzlich bin ich der Auffassung, dass eine solche umfassende und komplexe politikphilosophische Theorie wie auch die Praxis in der freiheitlichen Demokratie eine anspruchsvolle kritische Würdigung verdienen. Die Grundlagen des Liberalismus, die unter dem Schlagwort trio liberale skizziert worden sind, erscheinen normativ zu attraktiv, um durch das Gespenst des »Kapitaliberalismus« erschüttert zu werden. Gleichwohl ist eine normative Evaluation der liberalen Gerechtigkeit und seiner sozialen Dimensionen (bzw. seiner Leerstellen) nicht nur möglich, sondern, wie ich zum Abschluss an zwei Fragestellungen (ergo: Forschungsperspektiven) schemenhaft beleuchten will, auch angeraten für eine Verteidigung des Liberalismus gegen seine Verächter.12 1. Ist der Liberalismus überhaupt geeignet, die sozialen und ökonomischen Gerechtigkeitsprobleme der Gegenwart zu erfassen? Auch der zeitgenössische Liberalismus scheint zu sehr seinen Entstehungsbedingungen im 18. und 19. Jahrhundert verhaftet zu sein, um die gegenwär-

11  Siehe F. A. von Hayek, Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit, Landsberg 1981, S. 112: »Der Ausdruck ›soziale Gerechtigkeit‹ gehört nicht in die Kategorie des Irrtums, sondern in die des Unsinns, wie der Ausdruck ›ein moralischer Stein‹.«

tigen lokalen und globalen Probleme der Gerechtigkeit erfassen zu können. Schon in den westlichen liberalen Demokratien mit der zunehmenden Globalisierung von Wirtschafts- und Leistungsströmen und der Lokalisierung von Armut, insbesondere aber der Verknappung von Arbeit, verliert der Glaube an das individualistische Verdienst-, Leistungs- und Verantwortungsprinzip und an die »sozialen Kräfte« des Marktes an Anziehungskraft. Für eine Theorie der internationalen Gerechtigkeit hingegen kann die liberale Argumentationsweise für das Gewicht und die Priorität der politischen Gerechtigkeit schwerlich überzeugen. Die gegenwärtigen Probleme der Weltgesellschaft – zuvorderst Weltarmut und erzwungene Migration – sind Probleme der Gerechtigkeit, für die etwa Rawls’ liberaler Entwurf keine adäquate Problembetrachtung, geschweige denn eine -lösung bereithält.13 Das Vertrauen, das der Liberalismus dem Gesetzgeber und dem Markt in Fragen der sozialen

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Liberalismus — Analyse

12  Für alle folgenden Ausführungen zu Rawls siehe auch Elif Özmen, Freiheit als Interesse höchster Stufe. John Rawls über politische und soziale Rechte im Konflikt, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Beiheft 125/2010, S. 51–68. 13  Bezeichnenderweise betrachtet Rawls nur den ersten Grundsatz der Gerechtigkeit als internationalisierbar; siehe John Rawls, Das Recht der Völker, Berlin 2002. Für eine Kritik daran siehe Thomas Pogge, World Poverty and Human Rights, Cambridge 2008.

Sicherung entgegenbringt, erscheint nicht allgemein, sondern nur bezüglich solcher Gesellschaften begründet, die einen relativ hohen Wohlstandssockel, moderate Güterknappheit und moderate Güterungleichheit sowie eine etablierte Tradition der Solidarität, Wohltätigkeit und des karitativen Engagements aufweisen. Zugleich steht einer »politischen« Interpretation des Liberalismus, die dessen Geltungsansprüche mit einer historisch kontingenten »Hintergrundkultur« verbindet und dadurch auch relativiert,14 der im Kern universalistische normative Gehalt des trio liberale entgegen. 2. Bedeutet die lexikalische Nachordnung der sozialen Gerechtigkeit gegenüber der politischen, dass wir auch eine Gesellschaft als gerecht betrachten müssen, in der alle gleiche umfassende politische Rechte und Freiheiten haben, aber in der viele extrem arm sind, vielleicht um ihr Überleben kämpfen müssen? Dieser Frage kann man mit Rawls entgegnen, dass der Wert der Freiheit (und im Übrigen auch die Selbstachtung und die Anerkennung durch Dritte) nicht nur von institutionellen Garantien, sondern auch von sozioökonomischen Voraussetzungen abhängt. Eben deswegen umfasst das Rawls’sche Gerechtigkeitskriterium zwei Grundsätze. Die Wahl und Interpretation des zweiten Grundsatzes im Sinne einer gerechtfertigten Ungleichheit hängt aber von einer stillschweigenden Voraussetzung ab, von der meines Erachtens der ­Liberalismus im Ganzen zehrt: dass nämlich die Gesellschaft keine extreme, gar lebensbedrohliche Armut oder andere radikale Formen der Verelendung und Exklusion aufweist. Für eine solche Gesellschaft können die Personen im Urzustand rationalerweise davon ausgehen, dass z. B. ein soziales Grundrecht auf ein Existenzminimum überflüssig ist, schlichtweg weil das Differenzprinzip für alle Bürger/-innen selbstverständlich viel mehr als ein Existenzminimum ermöglichen wird. Aber auch hier bleibt vorläufig die Frage offen, was der – seinem eigenen historischen und systematischen Anspruch 14  Zum politischen Liberalismus vgl. das zweite systematische Werk von John Rawls, Politischer ­Liberalismus, Frankfurt a. M. 1995.

nach verallgemeinerbare – Liberalismus Gesellschaften in anderer, weniger glücklicher Verfassung anzubieten hat, solchen Gesellschaften, die – sei es kontingenterweise, sei es »selbstverschuldet« – radikaler sozio-ökonomischer Güterknappheit ausgesetzt sind.

Prof. Dr. phil. Elif Özmen, geb. 1974, lehrt seit 2013 praktische Philosophie an der Universität Regensburg. Aktuelle Forschungsschwerpunkte sind das Verhältnis von (Un-)Wahrheit und Politik sowie die anthropologischen Grundlagen normativer (politischer und e­ thischer) Theorien. Neueste Veröffentlichungen: »Politische Philosophie zur Einführung« (Hamburg 2013); »Über Menschliches. ­Anthropologie zwischen Natur und Utopie« (als Hg., Münster 2016) und »Hans ­Kelsens Politische Philosophie« (als Hg., Tübingen 2017).

Elif Özmen  —  If you’re a liberal, how come you’re so poor?

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WER ETWAS VERÄNDERN WILL, MUSS MIT WIDERSTÄNDEN RECHNEN ZUR ROLLE DER FRAU IM LIBERALISMUS ΞΞ Ines Soldwisch

Würden wir aktiven Liberalen die Frage stellen, welche Rolle Geschlecht generell im aktuell politischen Liberalismus spielt, würde die Antwort wahrscheinlich lauten: Keine. Diese Antwort ist deswegen so wahrscheinlich, weil die Frage nach dem Geschlecht mental automatisch gekoppelt scheint an die Frage: Gibt es genug Frauen? Gerade in der aktuellen politischen Situation in Deutschland im Jahr 2016 scheint diese für den modernen Liberalismus unserer Zeit nur noch eine Frage am Rande zu sein: Katja Suding in Hamburg und Lencke Steiner in Bremen sind für die Freien Demokraten als Spitzenkandidatinnen in die lokalen Vertretungen eingezogen, Cécile Bonnet-Weidhofer ist Spitzenkandidatin für Mecklenburg-Vorpommern, die Bundes-FDP hat mit Marie-Agnes Strack-Zimmermann und Katja Suding zwei Stellvertreterinnen und mit Nicola

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INDES, 2016–2, S. 50–58, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2191–995X

Beer eine Generalsekretärin neben einem männlichen Bundesvorsitzenden. Die FDP kokettierte sogar in einem Wahlslogan zu den Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt mit ihrem männlichen Spitzenkandidaten: »Wir können auch Männer«. Die angesprochene Frage lautet aber nicht, ob es genug Frauen im ­L iberalismus gibt, sondern: »Welche Rolle spielten und spielen Frauen im Liberalismus?« Wagen wir in diesem Sinne einen Blick auf den organisierten politischen Liberalismus, um den es im Folgenden historisch und aktuell gehen soll. Denn im organisierten Liberalismus, der sich Eigenverantwortung, die Freiheit des Einzelnen, die Unterstützung von persönlichem Engagement auf die Fahnen schreibt, sind Frauen nicht so selbstverständlich, wie man annehmen möchte. Aber es gab sie, die liberalen Frauen – allerdings vielleicht weniger als bei den Konservativen oder in der Sozialdemokratie, wenn man die parlamentarischen Vertretungen nach 1945 betrachtet. Einzelne liberale Frauen waren wegweisend für die Gleichberechtigung in der Gesellschaft, für die Akzeptanz liberaler Parlamentarierinnen in der Weimarer Republik und in der Bundesrepublik, für die Durchsetzung liberaler Grundwerte wie die oben beschriebenen in der 1948 in Heppenheim neu gegründeten FDP.1 Insofern spielten und spielen Frauen im Liberalismus durchaus eine Rolle. Dass sich dieser Befund nicht in Sitzen der parlamentarischen Vertretungen und erst in jüngerer Zeit begrenzt in Spitzenpositionen niedergeschlagen hat, ist eine andere Geschichte. Vereinzelt ist in der Literatur von einer liberalen Frauenbewegung zu lesen.2 Dies führt zu weit. Wenn überhaupt von einer Frauenbewegung als 1 

Vgl. hier die g­ rundlegende Studie von Heinemann. 2  Vgl. Irmgard Schwaetzer (Hg.), Die liberale Frauen­ bewegung, Berlin 2007.

3  Vgl. bspw. Gertrud Bäumer, Im Licht der Erinnerung, Tübingen 1953; Alice Salomon, Charakter ist Schicksal, Lebenserinnerungen, hg. von Rüdiger Baron u. Rolf Landwehr, Weinheim 1983; Marie-Elisabeth Lüders, Fürchte Dich nicht. Politisches und Persönliches aus mehr als 80 Jahren, Köln 1963; Marie Baum, Rückblick auf mein Leben, Heidelberg 1950.

Konglomerat einzelner Aktivitäten gesprochen werden kann, dann eher von einer bürgerlichen Frauenbewegung, die sich vornehmlich aus dem Bürgertum rekrutierte und später durch einzelne Frauen in aktive liberale Parteipolitik überging. Zwar rekrutierten sich auch die ersten liberalen Parteien aus dem Bürgertum, doch bürgerliches Frauenengagement hatte in diesen frühen Jahren noch nichts mit liberaler Parteipolitik zu tun. Den bürger­l ichen – auch liberal denkenden – Frauen ging es um Emanzipation, um aktive Teilhabe an der Gesellschaft durch Bildung und Beschäftigung. Die liberale Programmatik des 19. Jahrhunderts war dies nicht. Von den Schwierigkeiten ihres politischen und sozialen Engagements, aber auch von tiefer Überzeugung und Begeisterung zeugen die autobiografischen Schriften der Protagonistinnen dieses Beitrags3 und die – leider immer noch – rare Sekundärliteratur. Ines Soldwisch  —  Wer etwas verändern will, muss mit Widerständen rechnen

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LIBERALE POLITIKERINNEN DER WEIMARER ZEIT Eine Politisierung der Frauen vollzog sich schon während der Revolution von 1848 und dann kontinuierlich seit dem ausgehenden Kaiserreich. Seit 1908 durften sich Frauen in politischen Vereinen engagieren und auf Parteitagen sprechen – was sie auch getan haben. Hier tauchten erste Persönlichkeiten auf, die als Repräsentantinnen einer liberalen Politik interpretiert werden können. Um aber eine Bewegung zu attestieren, waren es nicht genug. Bei ihnen handelte es sich um Ausnahmefrauen wie Helene Lange, Gertrud Bäumer, Alice Salomon, Katharina von Kardorff-Oheimb, Marie-­Elisabeth Lüders und Elly Heuss-Knapp. Sie alle waren über das weitgespannte Netzwerk der bürgerlichen Frauenbewegung miteinander verbunden, um ihrem Ziel – soziale und frauliche Belange in die aktive Politik einzubringen, ja sich selbst in der Politik Gehör zu verschaffen – näher zu kommen. Eine große Netzwerkerin war Katharina von Oheimb, die ihre Aufgabe nach der Einführung des Frauenwahlrechts 1919 darin sah, »Frauen durch politische Schulung zu verantwortungsvollen ›Staatsbürgern‹ zu erziehen und zur aktiven politischen Mitarbeit zu animieren«4. Ihre Vorstellungen unterschieden sich jedoch von denen ihrer Kolleginnen: Sah die seit 1920 für die DVP im Reichstag sitzende von Oheimb die Rolle der Frau darin, »tüchtigen, großen Männern eine Stütze zu sein«5, fochten ihre linksliberalen Mitstreiterinnen für die gleichberechtigte Existenz von Frauen auch in der Politik. Dabei ging es ihnen vornehmlich um eine gleichberechtigte Existenz in der Gesellschaft, ja um Chancengleichheit. Die »Frauenfrage« war dabei immer »zugleich eine soziale Frage«6. Liberale Frauen setzten sich ein für das gleiche Recht von Frauen auf Bildung, Ausbildung und Berufsausübung, dies auch gegen männliche liberale Programmatik. Dieser Befund galt auch in der Bundesrepublik: »Wer in Gesellschaft und Politik etwas verändern will, muss mit vielen Widerständen rechnen. Die liberalen Frauen haben diese Widerstände vielfältig erfahren, am schmerzlichsten, wenn sie aus ihrer eigenen Partei kamen.«7 So etwa, als nach der Vereinigung der linksliberalen Parteien 1910 zur Fortschrittlichen Volkspartei die politische Gleichstellung der Frau, für die u. a. Lange und Bäumer gekämpft hatten, nicht Teil liberaler Parteiprogrammatik wurde. Martha Zietz protestierte auf dem Parteitag: »Die […] delegierten Frauen erklären, dass die Weigerung der Partei, die politische Gleichberechtigung der Frau als Programmforderung aufzustellen, dem Geist des Liberalismus völlig widerspricht und somit das Ausbreiten des Liberalismus schädigt«.8 Helene Lange, geboren 1848, erlebte 1919 noch die Einführung

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Liberalismus — Analyse

4  Zit. nach Cornelia Baddack, Katharina von Kardoff-Oheimb (1879–1962), in: Schwaetzer, S. 81–95, hier S. 84. 5  Zit. nach ebd., S. 87. 6  Christiane Scheidemann, Gertrud Bäumer – Frauenrechtlerin, Pädagogin, liberale Politikerin und Schriftstellerin, in: ­Schwaetzer, S. 43–61, hier S. 43. 7  Liselotte Funcke, Nachwort der Herausgeberin, in: Dies. (Hg.), Frei sein, um andere frei zu machen, Stuttgart 1984, S. 287 f., hier S. 287. 8  Zit. nach Kerstin Wolf, Helene Lange – eine Lehrerin als Pionierin der bürgerlichen Frauenbewegung, in: Schwaetzer, S. 29–41, hier S. 40.

des Wahlrechts für Frauen und saß in diesem Jahr der Hamburger Bürgerschaft als Alterspräsidentin vor, ehe sie ihre letzten Lebensjahre der historischen Aufarbeitung der Frauenbewegung widmete. Gertrud Bäumer setzte sich für eine verbesserte Mädchen- und Frauenbildung ein, engagierte sich hier selbst wie ihre liberalen Kolleginnen Helene Lange, Alice Salomon und Elly Heuss-Knapp. Alle unterrichteten an der 1908 von Salomon gegründeten Sozialen Frauenschule in Berlin-Schöneberg, an der auch Friedrich ­Naumann zeitweilig mitwirkte.9 Auch Marie-Elisabeth Lüders kam zu ihrem politischen Engagement durch Alice Salomon. Als sie nach Naumanns Tod für zehn Jahre im Reichstag saß, arbeitete sie engagiert gegen die Benachteiligung von Frauen im Berufsleben und für die Jugendwohlfahrt; am Reichswohlfahrtsgesetz von 1922 hatte sie großen Anteil.10 Sie gilt heute als politisch vielleicht einflussreichste Parlamentarierin der frühen Bundesrepublik.11 In Weimar hatte sie noch im Schatten von Bäumer gestanden, die nach 1945 kaum mehr aktiv war. Lüders war ab 1953 im Deutschen Bundestag aktiv, eröffnete als Alterspräsidentin 1953 und 1957 die Wahlperiode. Ihre breite Erfahrung der Weimarer Zeit kam der FDP zugute, besonders bei der B ­ eratung des Gesetzes zur Gleichberechtigung von Mann und Frau auf dem G ­ ebiet des bürgerlichen Rechts.12 Charakteristisch für die liberale engagierte Frau war ihre Universalität; viele der hier Angesprochenen waren nicht nur in der Politik tätig, wie viele 9 

Vgl. Christiane Scheidemann, Alice Salomon (1872–1948), Sozialarbeiterin und -pädagogin, Publizistin und Frauenrechtlerin, in: Schwaetzer, S. 63–79, hier S. 73.

ihre männlichen Kollegen, sondern arbeiteten zudem als Rechtsanwältinnen, Ärztinnen, Lehrerinnen, aktive Mitglieder der Frauen­bewegung und waren neben ihrem politischen Mandat publizistisch tätig. Durch diese Vielfältigkeit bildeten sie ein enges Netzwerk unter sich, um ihre Öffentlichkeitswirkung

10  Vgl. Jürgen Frölich, Marie-Elisabeth Lüders (1878– 1966): »… wir sind fanatische Men­schenrechtlerinnen«, in: Schwaetzer, S. 97–110, hier S. 101. 11 

Vgl. ebd., S. 109.

12  Vgl. Friedrich Henning, Der Beitrag von Frauen zur Politik der F.D.P. von 1945 bis heute, in: Liselotte Funcke (Hg.), Frei sein, um andere frei zu machen, Stuttgart 1984, S. 129–153, hier S. 135. 13  Vgl. Scheidemann, Gertrud Bäumer, S. 52.

zu steigern. Insofern war die Rolle der Parlamentarierinnen im politischen Liberalismus eine fachpolitisch orientierte. Sie wussten, wovon sie sprachen, beschritten in ihren Berufen selbst innovative Wege und versuchten diese dann in die eigene Parlamentsarbeit einfließen zu lassen, was teilweise gelang. Männliche Unterstützung durch Parteikollegen gab es, allerdings in sehr begrenztem Umfang. Friedrich Naumann und Theodor Heuss, die zum Beispiel mit Gertrud Bäumer in der Zeitschrift Die Hilfe zusammenarbeiteten, unterstützten das liberale Engagement ihrer Kolleginnen. So wurde Bäumer zu einer der ersten weiblichen Reichstagsabgeordneten und liberalen Mandatsträgerinnen sowie 1920 Ministerialrätin im Reichsministerium des Innern. Zudem unterrichtete sie an der nach einer Idee von Naumann gegründeten Hochschule für Politik.13

Ines Soldwisch  —  Wer etwas verändern will, muss mit Widerständen rechnen

53

LIBERALE POLITIKERINNEN IM DEUTSCHEN BUNDESTAG Der Anteil der weiblichen FDP-Bundestagsmitglieder liegt seit 1949 weit unter dem der männlichen. Seit 1949 nahmen insgesamt 124 Frauen ein Bundestagsmandat an.14 In den ersten zehn Wahlperioden war der Frauenanteil in der FDP-Fraktion marginal: Er lag durchweg bei weniger als einem Zehntel. Erst nach 1976 stieg er auf zehn bis 15 Prozent an. WP

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

(49–53) (53–57) (57–61) (61–65) (65–69) (69–72) (72–76) (76–80) (80–83) (83–87)

Weibl. Abg.

3

4

3

5

3

2

3

4

7

4

Anteil in %

5,8

8,3

7,3

7,5

6

6,7

7,1

10

13

11,8

Weibliche FDP-Abgeordnete im Deutschen Bundestag WP 1–1015

Hier verwundert nicht, dass die Konzentration auf bestimmte, dringende Fragen notwendig war. Wie Heinemann 2010 richtig attestierte, hatte das programmatische Credo nach 1945 bis in die 1960er Jahre hinein gelautet: »Frauenfragen sind Menschheitsfragen.«16 Doch auch danach wurde die Sozial- und Kulturpolitik, deren Bestandteil weiterhin die Gleichberechtigung der Frau war, national und international nicht vernachlässigt. Die Konzentration auf diese Thematik verband liberale Frauen der Weimarer Republik und der Bundesrepublik. In ihren Augen waren Sozial- und Kulturpolitik von ihren männlichen Kollegen vernachlässigt worden. ­Liberales weibliches Verdienst war, Fragen der Sozialpolitik zu bearbeiten, aber gleichzeitig in anderen Bereichen – Finanzen, Justiz, Außenpolitik – zu arbeiten und respektiert zu werden. Dies beweist die politische Arbeit von DiemerNicolaus, Funcke, Lüders, Hamm-Brücher, Schwaetzer und Schnarrenberger.

54

Liberalismus — Analyse

14  Zahlen nach: Deutscher Bundestag, Liste aller Mitglieder des Deutschen ­Bundestages, URL: http://webarchiv.bundestag.de/cgi/show. php?fileToLoad=3041&id=1223 [eingesehen am 13.04.2016]. 15  Deutscher B ­ undestag, Liste aller Mitglieder des Deutschen Bundestages (1949–1998), URL: http://webarchiv.bundestag.de/cgi/show. php?fileToLoad=627&id=12 [eingesehen am 19.04.2016]. 16 

Heinemann, S. 11.

Bei den ersten gesamtdeutschen Wahlen 1990 stieg der Anteil weiblicher Abgeordneter innerhalb der FDP-Fraktion erstmals auf über zwanzig Prozent an. Nach einem vorübergehenden Rückgang lag er seit der Jahrtausendwende bis zur Auflösung der Fraktion 2013 dann recht stabil bei etwa einem Viertel. 11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

(87–90)

(90–94)

(94–98)

(98–02)

(02–05)

(05–09)

(09–13)

Weibl. Abg.

7

17

8

6

13

15

23

Anteil in %

12,3

21,5

17

14

27,7

24,6

24,7

WP

Weibliche FDP-Abgeordnete im Deutschen Bundestag WP 11–1717

Die ersten Frauen, die in den Bundestag einzogen, waren Margarete Hütter, Herta Ilk und Friederike Mulert – alle drei waren Nachrückerinnen. Hütter rückte 1949 für Theodor Heuss ins Parlament nach, nachdem dieser 17  Zahlen nach: Deutscher Bundestag, Liste aller Mitglieder des Deutschen Bundestages. 18 

Vgl. Henning, S. 132.

19  Vgl. Ina Hochreuther, Frauen im Parlament. Südwestdeutsche Abgeordnete seit 1919, Stuttgart 1992, S. 196 ff.; Martin Schumacher, M.d.B. – Die Volksvertretung 1946–1972, URL: http://www.kgparl.de/onlinevolksvertretung/online-mdb.html [eingesehen am 13.04.2016].

sein Mandat infolge seiner Wahl zum Bundespräsidenten niedergelegt hatte. Sie arbeitete im Bundesausschuss für Kriegsopfer- und Kriegsgefangenen­ fragen; unter ihrer Mitarbeit entstanden die Gesetze zur Kriegsgefangenenentschädigung und Heimkehrerhilfe.18 Nach der Legislaturperiode ging sie in den Diplomatischen Dienst, unterbrach ihre Tätigkeit dort von 1955 bis 1957 kurzzeitig, um als Nachrückerin für Karl Georg Pfleiderer erneut ein Bundestagsmandat wahrzunehmen. Von 1972 bis 1974 war Hütter in San Salvador die erste weibliche Botschafterin der Bundesrepublik.19 Ilk, von 1919 bis 1933 Mitglied der DDP, von 1948 bis 1953 Mitglied des Landesvorstands der FDP-Bayern und von 1950 bis 1964 Mitglied des Bundesvorstands der FDP, begann ihr Bundestagsmandat 1949 als Nachrückerin für Ines Soldwisch  —  Wer etwas verändern will, muss mit Widerständen rechnen

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den verstorbenen Fritz Linnert. Sie war die erste Juristin im bundesdeutschen Parlament und in der Fraktion zuständig für Sozial- und Gleichstellungspolitik. Im Bundestag arbeitete sie bis 1957.20 Sie war maßgeblich beteiligt am Gesetz zur Regelung der Gleichberechtigung von Mann und Frau auf dem Gebiet des bürgerlichen Rechts 1957, am Jugendgerichtsgesetz 1953 und an der Novellierung des Reichsjugendwohlfahrtsgesetzes 1953.21 Mulert zog 1952 in den Bundestag ein, als die Zahl der Berliner Abgeordneten erhöht worden war. Ihr Fachgebiet war als Ärztin die Gesundheitspolitik. 1945 Mitbegründerin der LDP in Thüringen, war Mulert am Ende der 1940er Jahre nach West-Berlin geflüchtet und 1951 der FDP beigetreten.22 Auf die Arbeit dieser »Pionierinnen« bauten später über einhundert liberale Parlamentarierinnen auf. Die meisten FDP-Parlamentarierinnen gehörten dem Bundestag ein bis drei Wahlperioden an. Es gab sie jedoch, die liberalen Berufspolitikerinnen, allen voran Irmgard Schwaetzer, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger und Birgit Homburger, die sechs Wahlperioden dem Deutschen Bundestag angehörten, dicht gefolgt von Liselotte Funcke mit fünf und Emmy Diemer-­ Nicolaus, Hildegard Hamm-Brücher und Ulrike Flach mit drei Wahlperioden in der liberalen Fraktion.23 Sie lebten mit ihrer Politik vor, dass eine Spezialisierung über die Sozialpolitik hinaus möglich war und ist und in den letzten zwanzig Jahren mehr und mehr Normalität geworden ist. Diemer-Nicolaus war als Volljuristin u. a. prädestiniert für die Mitarbeit am Bundesbaugesetz von 1960, an der Bundesrechtsanwaltsordnung von 1958, der Verwaltungsgerichtsordnung von 1960 und am Deutschen Richtergesetz von 1961. In den Folgejahren widmete sie sich vorwiegend weiter dem Bereich des Rechtswesens und der Justiz.24 Funckes Kernthemen ab 1961 waren als Mitglied des Finanzausschusses die Steuerpolitik, aber auch die Kulturpolitik, hier speziell die Förderung von Wissenschaft und Forschung.25 Beide, Diemer-Nicolaus und Funcke (1969 bis 1979 Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages), setzten sich neben ihren Kernthemen für die Erleichterung der Situation von Frauen in Beruf und Familie ein.

20  Vgl. ebd. 21  Vgl. Henning, S. 131 f. 22  Vgl. Schumacher. 23  Vgl. Deutscher Bundestag, Liste aller Mitglieder des Deutschen Bundestages. 24  Vgl. Henning, S. 137 f.

Hamm-Brücher als »Grande Dame des Liberalismus«26, als die sie auch nach ihrem Parteiaustritt 2002 galt, spielte im Liberalismus nach 1945 eine Leitrolle, die sie bis zur Kandidatur für das Bundespräsidentenamt geführt hat. Unterstützung erhielt sie schon früh von führenden Liberalen, u. a. Theodor Heuss und Thomas Dehler, die ihr Talent und ihre Überzeugung erkannten und ihr parteipolitisches Engagement wohlwollend begleiteten.27 Seit 1976 im Bundestag, wurde sie zur Parlamentarischen Staatsministerin im Auswärtigen Amt ernannt, hier zuständig für auswärtige Kulturpolitik.

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Liberalismus — Analyse

25  Vgl. ebd., S. 138. 26  Zit. nach Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Hildegard Hamm-Brücher, Leben in Verantwortung und Demokratie, in: Schwaetzer, S. 167–182, hier S. 167. 27  Vgl. ebd., S. 171.

Irmgard Schwaetzer widmete sich als Apothekerin vermehrt der Sozialund Gesundheitspolitik; sie hatte u. a. maßgeblichen Anteil am Zustandekommen des Arzneimittel- und Betäubungsmittelgesetzes und beschäftigte sich mit dem Krebsbericht der Bundesregierung. Bei dem Misstrauensvotum gegen Bundeskanzler Helmut Schmidt im Jahr 1982 stimmte sie als einzige der weiblichen Liberalen für Helmut Kohl. Auf dem darauffolgenden Parteitag wurde sie 1982 zur ersten Generalsekretärin der FDP gewählt und behielt dieses Amt bis 1984. Ihr folgten Cornelia Schmalz-Jacobsen (1988–1991), Cornelia Pieper (2001–2005) und seit 2014 Nicola Beer. Schwaetzer erweiterte ihre Kernthemen und war von 1991 bis 1994 Bundesministerin für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger betrat 1990 die bundespolitische Bühne und wurde als zweite liberale Abgeordnete auch Ministerin: 1992 bis 1996 und 2009 bis 2013 bekleidete sie das Amt der Bundesjustizministerin. Anerkennung verschaffte ihr vor allem ihre Prinzipienfestigkeit bei Bürgerrechtsthemen. So trat sie 1996 von ihrem Ministeramt zurück, um nicht den FDP-Mitgliederentscheid für den sogenannten Großen Lauschangriff umsetzen zu müssen; das Bundesverfassungsgericht gab ihren Bedenken später Recht. Auch während ihrer zweiten Amtszeit weigerte sich Leutheusser-­Schnarrenberger konsequent, die vom Koalitionspartner geforderte Vorratsdatenspeicherung von Telekommunikationsdaten in ein Gesetz zu gießen – was ihre Geradlinigkeit bei Rechtsstaatsthemen untermauerte. ZUSAMMENFASSUNG Kehren wir zum Anfang zurück. 2016 scheint die Frage nach der Rolle der Frauen in der aktiven FDP-Politik nur noch eine am Rande zu sein. Die Analyse hat gezeigt, dass die Frage quantitativ und qualitativ problematisch ist. Welche Rolle spielten Frauen quantitativ im Liberalismus? Ein Anteil liberaler Parlamentarierinnen in der FDP-Fraktion von 24,7 Prozent in der 17. Wahlperiode steht einem von 5,8 Prozent in der ersten Wahlperiode gegenüber. Das ist für eine Partei, die sich die Chancengleichheit, das Leistungsprinzip und die Freiheit des Einzelnen auf die Fahnen schreibt, nicht viel. Diese Parlamentarierinnen spielten allerdings eine wichtige qualitative Rolle in der inhaltlichen Ausrichtung des Liberalismus, besetzten etwa solche Lücken der Sozialpolitik, die aktive Liberale noch heute zu füllen suchen. Thematisch ging es den parteipolitisch aktiven Frauen noch bis in die ersten Jahre der Bundesrepublik hinein um die eigene Akzeptanz in der Politik sowie um die Thematisierung von Fragen, die sich um Frauenrechte und Gleichberechtigung im Familienrecht, in der Ausbildung und im Beruf drehten. Ines Soldwisch  —  Wer etwas verändern will, muss mit Widerständen rechnen

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»Dass uns vor allem die Reformen des Straf- und Eherechts heute selbstverständlich erscheinen, ist das große Verdienst dieser modernen Liberalen.«28 Dieser Befund von Ulrich Goll lässt sich auf viele Gebiete ausweiten. Die Soziale Frage ist jedoch das einigende Moment in ihren jeweiligen Aus-prägungen in der Geschichte der Liberalen seit Beginn ihrer parlamentarischen Arbeit. Vieles, für das die liberalen Frauen vor 1933 gestritten haben, scheint heute, 55 Jahre nach der ersten Tätigkeit liberaler Frauen im Bundestag, erreicht – auch wenn letztlich andere Kernthemen zum Gegenstand liberaler Frauenpolitik wurden; vor allem die Sozialpolitik in all ihren Ausprägungen trieb die FDP-Politikerinnen immer um. Der FDP hätte gutgetan, dies mehr für ihre eigene Programmatik zu nutzen und ihre Frauen zu unterstützen, statt sich wie in den letzten 15 Jahren immer wieder gegen das Diktum der sozialen Kälte wehren zu müssen. Es gab sie, die soziale Kompetenz der Liberalen; nicht nur bei ihren Frauen, aber hauptsächlich dort. In der Partei selbst blieb ihre Rolle allerdings im Vergleich blass und ihr Einfluss beschränkt. Frauen spielen im Liberalismus quantitativ noch immer – leider – eine zu geringe Rolle. Der Weg für Frauen in Spitzenämter mit Verantwortung und Einflussmöglichkeiten ist in der FDP ein beschwerlicher. Das Frauenbild des Liberalismus bleibt ein blasses. Quantitativ bleibt noch vieles offen. Auch heute sind Frauen in der Führungsriege der Liberalen rar und in der Öffentlichkeit zu wenig präsent. In den letzten zwei Jahren ist manches passiert. Die Bundesspitze der FDP ist weiblicher geworden, die regionalen Parlamente auch. Warten wir die nächste Bundestagswahl ab!

Ines Soldwisch promovierte 2004 über die Geschichte der Liberal-­Demo­kratischen Partei (LDP) in Mecklenburg im Zeitraum 1946–1952. Seit 2007 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Institut der RWTH Aachen. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Geschichte des Liberalismus und der europäischen Integration. Jüngste Publikationen: »Der Staatsmann über den Staatsmann. Heuss’ Gedanken zu Otto von Bismarck«, in: Jahrbuch zur Liberalismusforschung, Jg. 27/2015, S. 117–127; »Braucht Macht einen Ort? Architektur für das Europäische Parlament als postmoderne Institution, in: Frank Pohle (Hg.), Karl der Große – Karl charlemagne der Grosse: Orte der Macht, Aachen 2014, S. 450–456; »Theodor Heuss im Original – Ausgewählte Dokumente in der Analyse« (als Hg. zusammen mit Jürgen Frölich, Hamburg 2013).

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Liberalismus — Analyse

28  Ulrich Goll, Dr. Emmy Diemer-Nicolaus, Verant­ wortung in Stadt, Land und Bund, in: Schwaetzer, S. 123–135, hier S. 123.

GRENZEN DER PRIVATSPHÄRE NEUES ÜBER LIBERALISMUS UND RELIGION ΞΞ Johannes Fioole

»JA, ICH MEINE AUCH EIGENTLICH GOTT!« Im Februar 2016 sendet der niederländische Nachrichtensender NPO ­Radio 1 ein Interview1 mit dem katholischen Kulturtheologen Frank ­Bosman, der im Rahmen einer Debatte zur Sterbehilfe die These vertritt, das Individuum verfüge nicht über sein eigenes Leben. Rund fünf Minuten lang bemüht sich Bosman, sein Argument mit säkularen Gründen zu rechtfertigen, und kündigt zu Beginn des Gesprächs auch explizit an, dass sein Plädoyer unabhängig von Gott sei. Es lautet wie folgt: Das, was das Individuum ausmache, sei wesentlich das Produkt der Investitionen anderer: von Eltern, Kollegen, Lehrern und so weiter. Das lebensmüde Individuum übersehe, dass sein Leben eigentlich gar nicht privat sei, sondern einen unbedingten Wert für ihm nahestehende Menschen habe. Für die Umgebung eines Individuums sei das Leben des Individuums prinzipiell wert- und sinnvoll, so Bosman. Ein Anspruch auf Sterbehilfe sei demnach abzulehnen, schlussfolgert er. Die Interviewerin Margje Fikse leckt nunmehr Blut. Am Ende des Gesprächs entfaltet sich eine Dynamik, die es wörtlich wiederzugeben lohnt. Ich übersetze:

1  Vgl. NPO Radio 1: Dit is de Dag: Je bent niet de Baas over je Eigen Leven, Sendung vom 05.02.2016, URL: http:// www.radio1.nl/item/342568%27Je%20bent%20niet%20 de%20baas%20over%20 je%20eigen%20leven%27.html [eingesehen am 14.04.2016]. 2  Sich zu duzen, ist im Niederländischen viel geläufiger als in der deutschen Sprache und insbesondere unter Gleich­ altrigen – wie in diesem Fall – kein verlässliches Indiz für den Ausdruck der Nähe, der Respektlosigkeit, des Informellen o. Ä. Bosman und Fikse duzten sich während des gesamten Interviews.

Fikse: »Aber verstehst du auch, dass Menschen, die nicht glauben oder kein Bewusstsein Gottes haben, dass die das anders sehen?«2 Bosman: »Nun ja, ich versuche hier ja gerade einen Argumentationsstrang zu entwickeln, aus dem ich Gott und das Göttliche explizit zu entfernen versuche, indem ich plausibel mache, dass wir das Leben voneinander bekommen haben.« Fikse: »Ja, und doch meine ich, dass die Leute [die Zuhörer] jetzt denken: ›Ja […], aber er [Bosman] […] meint doch eigentlich Gott!‹.« Bosman: »[lauter als zuvor und hörbar gereizt] Ja, ich meine auch eigentlich Gott! [Pause, danach in hohem Tempo weiter] Aber ich finde es auch unsinnig: Warum sollte man kein Argument verteidigen dürfen, indem man irgendwo ein göttliches Element einbaut? Ich meine, der Löwenanteil der Weltbevölkerung glaubt einfach

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an Gott, also sollten wir nicht so tun, als sei ich irgendein merkwürdiger Vogel, der einen Minderheitsstandpunkt einnimmt!« Das Ende des Interviews, das wir durchaus kurios nennen dürfen, ist nicht nur für den Psychologen reizvoll. Es geschieht mehr: Recht stümperhaft entwickelt Bosman hier ein säkulares Argument, obwohl er eigentlich etwas ganz anderes sagen will, nämlich etwas offen Religiöses. Fikse, die weiß, mit wem sie redet, erwartet diese religiöse Argumentation natürlich auch vom Theologen und hakt deswegen mit Recht unnachgiebig nach. Warum aber führen zwei erwachsene Menschen dann zunächst ein fünfminütiges Bühnenstück

3  Vgl. Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch, A 250; vgl. auch Ders., Zum ewigen Frieden, Fn. BA 21.

auf, das erst durch Bosmans Emotionen entlarvt wird? LIBERALISMUS DER ÖFFENTLICHEN RECHTFERTIGUNG Die Antwort liegt auf der Hand: Bosman passt sich lange Zeit den im niederländischen Rundfunk offenbar wirkungsmächtigen liberal-säkularen Diskursregeln an. Religiöse Argumente sind in der politischen Öffentlichkeit der Niederlande natürlich nicht verboten, gelten aber als deplatziert, taktlos, vielleicht sogar peinlich, denn: Religion ist etwas Privates. In dieser Pointe steckt politiktheoretische Musik. Unter liberalen Theoretikern hat sich seit den späten 1980er Jahren – zunächst in den USA , doch längst auch hierzulande – eine lebhafte Debatte entfaltet, die darauf abzielt, die klassisch liberale Trennung von Religion und Politik zu präzisieren und neu auszutarieren. Ausgangspunkt der Diskussion ist die auf Kant zurückgehende Forderung der öffentlichen Rechtfertigung: Gesetze, welche die Freiheit von Individuen einschränken, sind nur dann legitim, wenn sie vor jedem Bürger gerechtfertigt werden können.3 Der Leser erahnt vermutlich die Wurzel des Streits schon: Strittig ist, ob religiöse Argumente dieses ­K riterium erfüllen können. Die Schriften von John Rawls4, Robert Audi5 und Jürgen Habermas6 erweisen sich seit Langem als dominante Diskussionsstränge der Debatte.7 Dort lesen wir eine exklusivistische Handhabe des religiösen Arguments. Abstrahieren wir nämlich von zahlreichen Klauseln und Einschränkungen, die den Lehrsatz üblicherweise ergänzen, so lässt sich die These der Autoren wie folgt zuspitzen: Religiöse Bürger und/oder Politiker sollten in der informellen Öffentlichkeit und/oder in staatlichen Institutionen auf den Gebrauch religiöser Argumente verzichten und ihre Anliegen stattdessen mit vorgeblich säkularen, allgemein akzeptablen oder öffentlichen Argumenten rechtfertigen. Kurzum: Aus dieser exklusivistisch-liberalen Sicht hat der Bürger Frank Bosman mustergültig und tugendhaft gesprochen.

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Liberalismus — Analyse

4  Vgl. John Rawls, Political Liberalism, New York 1993. 5  Vgl. Robert Audi, Religious Commitment and Secular Reason, Cambridge 2000. 6  Habermas hat seine Thesen in unzähligen Aufsätzen und über mehrere Jahrzehnte entwickelt. Einleitend empfehle ich die Sammelbände Jürgen Habermas (Hg.), Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a. M. 2005 sowie Ders. (Hg.), Nachmetaphysisches Denken II, Frankfurt a. M. 2012. 7  Hilfreiche Sekundärliteratur zum Thema findet der Leser in: Stefan Grotefeld, Selbstbeschränkung als Bürgerpflicht? Religiöse Überzeugungen, politische Deliberation und Gesetzgebung, in: Alberto Bondolfi u. a. (Hg.), Ethik und Gesetzgebung. Probleme – Lösungsversuche – Konzepte, Stuttgart 2000, S. 65–89; Ulrich Willems, Religion als Privatsache? Eine kritische Auseinandersetzung mit dem liberalen Prinzip einer strikten Trennung von Politik und Religion, in: Michael Minkenberg u. Ders. (Hg.), Politik und Religion, Wiesbaden 2003, S. 88–112 und Ulrich Willems, Religion und Moderne bei Jürgen Habermas, in: Ders. u. a. (Hg.), Moderne und Religion. Kontroversen um Modernität und Säkularisierung, Bielefeld 2013, S. 489–526.

Diese Spielart der öffentlichen Rechtfertigung hat ihre Vorzüge. Sie verspricht, konfessionelle Mehrheiten davon abzuhalten, die Politik als Instrument ihrer partikularen Vorstellungen des Guten zu vereinnahmen. Die immer etwas schwammige Forderung nach weltanschaulicher Neutralität des Staates gewinnt an klärenden Konturen. So entsteht ein Arrangement, das säkularen Bürgern eine extensive Freiheit von Religion garantiert – darü8  Vgl. Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen ­Staates, Übers. Walter Euchner, ­Neuwied 1966 [1651], Kap. 43. 9  John Locke, Ein Brief über Toleranz, Übers. Julius Ebbinghaus, Hamburg 1996 [1689], S. 12. 10  Thomas Jefferson vertrat einen Tausch, der in der USamerikanischen Staatskirchentrennung bis heute tonangebend ist: Die religiöse Lebensführung erhält einen unbedingten Schutz, sofern sie sich von staatskirchlichen Ambitionen fernhält; vgl. Thomas Jefferson, Notes on Virginia, Query XVII, in: Andrew A. Lipscomb u. a. (Hg.), The Writings of Thomas Jefferson. Definitive Edition, Bd. 2, Washington 1905 [1784], S. 217–225. 11  Larry Alexander, Liberalism, Religion, and the Unity of Epistemology, in: San Diego Law Review, Jg. 30 (1993), S. 763–797, hier S. 790.

ber freut sich nicht nur der halsstarrige Atheist. Und ja, möglicherweise tut es der Rationalität der öffentlichen Debatte gut, wenn sie von sibyllinischmetaphysischen Figuren, die nicht für jeden nachvollziehbar sind, verschont bleibt und nüchternes, kompromissorientiertes Denken über moralines Gerede triumphiert. Mit einem Wort: Die Trennung von Politik und Religion wird hier konsequent zu Ende gedacht und dürfte manchen Konflikt zwischen religiöser und säkularer Moral im Keim ersticken. Für die Religionsgemeinschaften bedeutet die liberale Utopie indes wenig Heilvolles. Privat, das war die Religion im Liberalismus natürlich schon immer. Der Ahnvater Hobbes unterschied den privaten fides von der öffentlich erzwingbaren confessio;8 Locke trennte die Staatsgewalt von der »care of souls«9; und auch im Jefferson’schen Kompromiss10 ist die Dichotomie zwischen Öffentlichem und Privatem ein Fluchtpunkt. In diesen Theorien ist die Privatsphäre ein Abwehrschutz – und nur als solcher ist sie Wesensmerkmal der Religionsfreiheit, deren Errungenschaft in Zeiten virulenter Religionskriege und religiöser Verfolgung sich die Liberalen mit Recht auf die Fahnen schreiben dürfen. Mit der Verbannung der Religionen aus der informellen Öffentlichkeit und der Tabuisierung religiöser Sprache in der politischen Debatte erhält das Trennungsprinzip jedoch eine neue Qualität. Aus dem verheißungsvollen individuellen Recht auf Privatheit wird eine politisch-ethische Pflicht, sich zu zügeln, sich zu mäßigen, unpolitisch zu sein. Religionen dürfen sich nicht länger, sondern sollen sich in die private Sphäre begeben, »where they can

12  Siehe Badredine Arfi, ­Habermas and the Aporia of Translating Religion in Democracy, in: European Journal of Social Theory, Jg. 18 (2015), H. 4, S. 489–506. 13 

Vgl. etwa Nicholas Wolters­ torff, The Role of Religion in Decision and Discussion of Political Issues, in: Robert Audi u. Ders. (Hg.), Religion in the Public Square. The Place of Religious Convictions in Political Debate, Lanham 1997, S. 67–120.

somehow remain ›true‹ but impotent […]«11. Die bloß institutionelle Trennung von Kirche und Staat (Laizität, laïcité) erweitert sich zur religionsfreien ­Öffentlichkeit des Laizismus (laïcisme). Es ist nicht wenig, religiösen Bürgern und Politikern zuzumuten, ihre Anliegen in säkulare Sprache zu übersetzen; das dürfte ohne beträchtliche semantische Verluste kaum möglich sein.12 Doch einmal unterstellt, aber nicht zugestanden, jedes religiöse Argument hätte ein gleichwertiges säkulares Pendant: Dann trüge der religiös Sprechende erheblich höhere Bürden der Selbstbeschränkung als sein säkularer Gesprächspartner. Wer in dieser Ungleichheit eine Unfairness wittert,13 dürfte gewiss nicht übertreiben. Natürlich Johannes Fioole  —  Grenzen der Privatsphäre

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wurden noch viel mehr Gründe – sie sind nicht alle schlagend – gegen die exklusivistische Position von Rawls, Audi und anderen ins Feld geführt.14 Erstaunlicherweise ist jedoch in eine offene Flanke, die wir das Demokratiedefizit taufen könnten, nur sehr selten gestoßen worden.15 Ich vermute, dass dieses Rezeptionshindernis darauf zurückzuführen ist, dass nahezu alle liberalen Demokratietheorien von Prominenz auf Repräsentativorgane setzen und öffentlichen Debatten einen geringeren Stellenwert beimessen, als dies in deliberativen oder republikanischen Konzepten geschieht. Gewissermaßen immunisiert das die liberale Theorie gegen Vorwürfe einer restriktiven Debattenkultur. Mit etwas Abstand betrachtet erkennen wir jedoch eine Denkfalle, die es zu meiden gilt: Fangen Liberale nämlich an, über Meinungsfreiheit zu schreiben, bleiben starke Argumente für eine offen ausgetragene Debatte nicht aus – auch wenn die Deliberation im Liberalismus grundsätzlich instrumentell begründet, niemals konstitutiv für Politik ist. DAS PROBLEM LOKALEN WISSENS Nun ist hier nicht der Ort, um auf politiktheoretische Einzelheiten einzugehen. Der Leser erlaube mir jedoch, meine These in einem Durchgang durch grobe Linien des Themas wenigstens anzudeuten. Meine Grundüberlegung ist simpel: Nicht hinter jedem religiösen Argument – einerlei, ob es mehrheitsfähig ist oder nicht – verbirgt sich ein übergriffiges Gesetz. Wiewohl mir ebenso wenig einleuchten will, dass religiöse Gründe eine herausragende demokratische oder liberale Qualität haben, darf doch die Möglichkeit nicht ausgeschlossen werden, dass im Interesse säkularer Bürger liegen könnte, sie zu hören. Etliche Beispiele liegen nicht fernab unserer Erfahrung. Säkulare Bürger und Politiker könnten etwa aus politischer Opportunität heraus religiöse Argumente akzeptieren oder religiöse Gruppen als Akt der Anerkennung fördern; vielleicht – und warum sollten sie nicht? – können religiöse Quellen den Ungläubigen gar inspirieren. Wer vermag schon, einen neuen Martin Luther King auszuschließen? Ob (und wenn ja: wen) religiöse Argumente je nach Kontext überzeugen können, bleibt allerdings unbeantwortet, wenn religiöse Bürger sich tugendhaft an das liberal-exklusivistische Selbstbeschränkungsgebot halten. Die leidenschaftlichste – aber dadurch nicht weniger pointierte – Anklage gegen solcherlei Diskurseinschränkungen ist John Stuart Mills »On Liberty«. Das Buch greift in jedem seiner Kapitel auf das Argument zurück, dass niemand (geschweige denn der Staat) den individuellen oder öffentlichen Nutzen von

14  Die Kritiken – alles nähere Detail übergehe ich hier gänzlich – stecken insbesondere die Fragen ab, ob Vernunft und Glaube über­ haupt epistemologisch trennbar sind, ob die Intrans­parenz durch religiöse Selbstbeschränkung respektlos ist, ob sich hinter Begriffen wie »öffentlich«, »neutral« oder »das Rechte« nicht eigentlich eine liberale Weltanschauung verbirgt, ob Religionen ein besonderes Konfliktpotenzial haben oder ob diese Position eine authentische religiöse Lebensführung erschwert. 15  Ansätze für eine elaborierte Kritik, auf die ich nachfolgend lose aufbauen werde, lese ich gleichwohl in: Gerald F. Gaus u. a., The Roles of Religious Conviction in a Publicly Justified Polity. The Implications of Convergence, Asymmetry and Political Institutions, in: Philosophy & Social Criticism, Jg. 35 (2009), H. 1–2, S. 51–76 und Charles E. Larmore, Patterns of Moral Complexity, Cambridge 1987, Kap. 3.

politischen Ideen oder privaten Lebensführungen apriorisch bestreiten könne. Es bedürfe eines Experimentierforums, in dem Meinungen ausprobiert und geprüft werden: Das ist natürlich die freie, möglichst plurale Debatte:16

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Liberalismus — Analyse

16  Vgl. John S. Mill, On Liberty, Stuttgart 2009 [1859], S. 160 u. S. 182.

»In the case of any person whose judgement is really deserving of confidence, how has it become so? Because he has kept his mind open to criticism of his opinions and conduct. Because it has been his practice to listen to all that could be said against him […]. Because he has felt, that the only way in which a human being can make some approach to knowing the whole of a subject, is by hearing what can be said about it by persons of every variety of opinion, and studying all modes in which it can be looked at by every character of mind.«17 17  Ebd., S. 62. 18 

Vgl. ebd., S. 54.

19  Vgl. Jeremy Waldron, Religious Contributions in Public Deliberation, in: San Diego Law Review, Jg. 30 (1993), S. 817–848, hier S. 838.

Sich zu verweigern, eine Meinung zu hören, sei nichts anderes als die Annahme, die eigene Gewissheit habe absolute Geltung. Nach Ansicht von Mill ist evident, dass eine solche Haltung nicht tragbar ist. Zensurierende Bestrebungen seien somit streng abzulehnen.18 Die Rawls’sche Theorie etwa ermangelt dieses Mill’schen Arguments, was ihr eine merkwürdig konservative Note verleiht.19 Johannes Fioole  —  Grenzen der Privatsphäre

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Eine Aktualisierung der Mill’schen Denkfigur lesen wir bei Friedrich von Hayek. Die unangebrachte Überheblichkeit des Diskursverweigerers wirkt hier noch eine Spur ergreifender. Hayeks vielleicht innovativstes Argument für die dezentrale Planung bestand darin, den Markt als Lösung für das Problem fragmentierten und lokalen Wissens vorzuschlagen. Es gebe kein gesammeltes Wissen der Menschheit, sondern nur das beschränkte Wissen von Individuen. Marktpreise enthielten jedoch die gesammelten Informationen aller relevanten Marktteilnehmer.20 Aus diesem Denkgebäude hat Hayek »das Argument für die Freiheit« als hypothetischen Imperativ deduziert: Welche der unzähligen Ideen für eine große Zahl von Menschen nützlich sei, sei aufgrund einer Vielzahl an Zufälligkeiten unvorhersehbar und könne nur in der Praxis überprüft werden. Für diese Experimente eigne sich der Markt. Sei eine Idee erfolgreich, profitiere von ihr eben eine große Zahl an Menschen (übrigens auch von den genannten Zufälligkeiten). Sei uns also etwas an dem »Fortschritt und selbst [der] Erhaltung unserer Zivilisation« gelegen, seien wir gut beraten, jedem Individuum Freiheitsrechte zu gewähren: Es könnte ja sein, dass uns sonst Innovationen entgingen.21 Ich vermute in der argumentativen Selbstbeschränkung ein ganz ähnliches Problem wie jenes, das Hayek analysiert hat. Wie ich eben gezeigt habe, ist apriorisch, d. h. im Vorhinein einer offen ausgetragenen Debatte, nicht ersichtlich, welche Argumente und welche Vorschläge Bürger respektive Politiker überzeugen könnten. Das Wissen, das dem Individuum dafür zur Verfügung stehen müsste, wäre immens: Richtig betrachtet müssten ihm alle Präferenzen, Vorlieben, Optionen, Neigungen und Lebensumstände sämtlicher Mitbürger bis ins letzte Detail bekannt sein. Hayek hat derlei Selbstüberschätzung, die er nicht zuletzt bei Sozialwissenschaftlern beobachtete, die »Anmaßung von Wissen«22 genannt. Bemerken wir noch Folgendes: In weiten Teilen des klassischen Liberalismus ist trotz konsensueller laizitärer Staatskirchentrennung immer ein Ge-

20  Vgl. Friedrich A. von Hayek, Freedom and the Economic System, in: Bruce Caldwell (Hg.), Socialism and War. Essays, Documents, Reviews. The Collected Work of F. A. Hayek, Bd. 10, London 1997 [1939], S. 189–212.

meinplatz gewesen, auch das angeblich Dumme, Irrationale oder Unvernünftige durchaus nicht verstummen zu lassen. Die Wahrheit des einen – möge er sich außerhalb der politischen Foren noch so viele Verdienste erworben haben – hat keinen demokratischen Vorrang vor der des anderen;23 und je stärker sich die Bindung der liberalen Demokratietheorie an negative Freiheitskonzeptionen und individuelle Autonomie (bei Mill: an die romantische Vorstellung der Selbstverwirklichung) erwies, desto stärker war auch diese contraelitäre, antiexpertokratische Verpflichtung. Das Demokratieverständnis der exklusivistischen liberalen Position ist in dieser Hinsicht zwar durchaus mit dem der klassischen Liberalen vergleichbar.

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Liberalismus — Analyse

21  Vgl. Ders., Die ­Verfassung der Freiheit, Tübingen 1991 [1960], S. 37 ff. 22  Ders., Die Anmaßung von Wissen, in: Ordo, Jg. 26 (1975), S. 12–21 23  Vgl. Veit Bader, Religious Pluralism. Secularism or Priority for Democracy?, in: Political Theory, Jg. 27 (1999), H. 5, S. 597–633, hier S. 614.

Bei ersterer werden persönliche Ideale jedoch ausschließlich in der Privatsphäre verwirklicht – was im klassischen Liberalismus nicht im Voraus entschieden ist. Politische Überzeugungen kategorisch als Privatsache zu deklarieren, ist immer folgenreich, da politische Interessen unerfüllt bleiben. Übertragen auf das Anliegen religiöser Menschen können wir darin eine Einschränkung positiver Religionsfreiheit sehen. Mit Mill und Hayek gedacht, schlüge das Argument gegen die exklusivistische liberale Position noch höhere Wellen: Ohne religiöse Argumente riskieren auch säkulare Bürger, etwas zu verlieren. DIE INKLUSION VON RELIGION? So viel – oder so wenig – zu der in jüngster Zeit etwas in Vergessenheit geratenen liberalen Debattenkultur. Bühne frei also für eine inklusivistisch gedachte öffentliche Rechtfertigung, die das religiöse Argument tout court zulässt? Nicht ganz, denn das öffnete wiederum Tür und Tor für die vereinnahmende Religion. Keine Frage: Gottesfreunde des Kalibers Frank Bosman, sie wären für den mit den Wassern der Vernunft gewaschenen liberalen Atheisten auch in einer offenen Debatte eine leichte Beute. Aber alle liberale Hoffnung auf den demokratischen Tugenden des religiösen Bürgers ruhen zu lassen, der sich allein vom besten Argument leiten lässt? Das mutet fahrlässig an. Insbesondere im Falle konfessioneller Mehrheiten, die, so vermute ich, eine vergleichsweise geringe Volatilität und Dynamik aufweisen und so das dialektische Spiel um neue demokratische Allianzen drosseln, stünde zu befürchten, dass religiöse Bürger jegliches Interesse am Dialog mit säkularen Mitbürgern verlören. Der Standpunkt übersähe auch eine Überforderung der politischen Urteilskraft – ist doch selten präzisiert worden, wo die Grenzen einer vereinnahmenden Religion zu verorten sein könnten. Ist das nicht geklärt, gilt: ultra posse nemo obligatur. Vielleicht ist dies der Schlüssel zum gewinnbringenden Ausgleich von positiver und negativer Religionsfreiheit: Lassen sich Handlungen identifizieren, die eine liberale Theorie mit guten Gründen als unverhandelbar und in diesem Sinne als unpolitisch deklarieren kann? Oder anders: Gibt es so Johannes Fioole, M. A., M. Ed., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte des Göttinger Instituts für Politik­wissenschaft. Er promoviert zu den normativen Grenzen negativer Religionsfreiheit. Seine Forschungsinteressen umfassen den politischen Liberalismus, die politische Ethik (insbes. Markt und Moral) und das Politikfeld Religion.

etwas wie das unabdingbar Private als Gegensatz zu alledem, was Bürger oder Politiker zur Not auch mit einer religiösen Rechtfertigung beschließen könnten? In der aktuellen Debatte um Öffentlichkeit und Privatheit scheint mir das liberale Lehrgebäude nicht auf verlorenem Posten zu stehen. Bei der Suche nach entsprechenden Vorschlägen könnte es auf einen reichhaltigen Fundus an sachdienlichen Intuitionen zurückgreifen. Die Privatsphäre mag bei Rawls und anderen modernen Liberalen noch so unterkomplex bestimmt sein: Seit je ist sie liberales Hoheitsgebiet. Johannes Fioole  —  Grenzen der Privatsphäre

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KEINE FREIHEIT OHNE STAAT! WAS KANTS POLITISCHER LIBERALISMUS UNS HEUTE NOCH ZU SAGEN HAT ΞΞ Philipp-Alexander Hirsch

Seit jeher wird Immanuel Kant als Vordenker eines politischen Liberalismus in Anspruch genommen. Gerade in der deutschen Diskussion führt kaum ein Weg an dem Königsberger Philosophen vorbei, wenn man nach den geistigen Ahnherren des politischen Liberalismus fragt. Und in der Tat finden wir bei ihm viele entscheidende Elemente liberaler Staatsbegründung vorgedacht und theoretisch ausformuliert: die Anerkennung der Würde als absoluter, unantastbarer Wert des Menschen; die Zuschreibung von Freiheit als angeborenes Menschenrecht; die Rückbindung staatlicher Macht an die Gewaltunterworfenen durch einen ursprünglichen Vertrag, der staatliche Autorität als Ausdruck des vereinigten Volkswillens begreifen lässt und diese zudem gewaltenteilig verfasst. All dies mag erklären, warum Kant auch im deutschen Feuilleton den Status einer liberalen Gallionsfigur hat. Er wird als Vordenker der »repräsentative[n] Demokratie, flankiert von rechtsstaatlichen Garantien und dem zentralen Recht eines jeden auf Freiheit«1 porträtiert. Man rühmt Kants »Eintreten für den Kosmopolitismus und die individuelle Freiheit«2. Manche meinen gar, dass heutzutage »die deutsche Solidarität mit den Flüchtlingen Kantschen Prinzipien«3 folgt, denn – so hört man anderenorts – im Kantischen Weltbürgerrecht »steckt ja schon so etwas drin wie eine Willkommenskultur«, die Kant zu einem »Rechtsanspruch«4 weitergedacht habe. Kurz: Man sieht in Kant allenthalben den »[ü]berragenden Philosoph[en] der Freiheit«5. So sehr man zu Vielem beherzt Ja sagen möchte (und z. T. auch zu Recht kann), so sehr fehlt im liberalen Unisono zu Kant das Aber. Dieses Aber betrifft die Legitimität staatlicher Herrschaft, die bei Kant strikt von der Frage ihrer Gerechtigkeit und damit ihres liberalen Gehalts zu trennen ist. Deutlich wird die hiermit angesprochene Problematik an Kants Haltung zu einem Widerstandsrecht gegenüber ungerechter staatlicher Herrschaft, welche die Freiheitsrechte der Bürger gravierend verletzt. In dieser Frage muss jedes Staatsverständnis – und damit auch das Kantische – Farbe bekennen, hier entscheidet sich, wie weit der liberale Gehalt der jeweiligen politischen Theorie reicht. Die Widerstandsfrage duldet keine Unklarheit.

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INDES, 2016–2, S. 66–76, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2191–995X

1  Horst Dreier, »Wir hatten Gerechtigkeit erhofft«, in: Frankfurter ­Allgemeine Zeitung, 12.01.2015. 2  Pankaj Mishra, Was bleibt von Immanuel Kant?, in: Die Zeit, 17.12.2015. 3  Giannis Varoufakis, Die moralische Nation, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 13.09.2015. 4  Moderator Thorsten Jantschek, Deutschlandradio Kultur, Beitrag vom 27.09.2015. 5  Otfried Höffe, Die Trennung von Mein und Dein, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.03.2015.

Hierzu heißt es nun bei Kant: »Gehorcht der Obrigkeit […], die Gewalt über euch hat […].«6 Kant spricht von einer »Pflicht des Volks einen, selbst den für unerträglich ausgegebenen, Missbrauch der obersten Gewalt dennoch zu ertragen«7. Ein Widerstandsrecht ist laut Kant kategorisch ausgeschlossen, denn »d e r Herrscher im Staat hat gegen den Unterthan lauter Rechte und keine (Zwangs-)Pflichten«.8 Es wäre allerdings zu kurz gegriffen, Kant vorzuwerfen, vor der Staats­ autorität Preußens schlichtweg kapituliert zu haben, und seine Haltung zum Widerstandsrecht als systematisch inkonsistent zu verwerfen. Vielmehr fordert uns das Kantische Widerstandsverbot auf, bei Kant die Frage nach der Legitimität und die Frage nach der Liberalität staatlicher Herrschaft strikt getrennt zu verhandeln: Auch für Kant ist ein Staat genau dann liberal (oder weiter gefasst: gerecht), wenn er allen Mitgliedern Freiheit ermöglicht. Für ihn ist aber eine andere Frage, ob er auch nur genau dann legitim ist. Dass bei Kant die Kriterien für die Legitimität und die Gerechtigkeit politischer Herrschaft auseinanderfallen, ist ein Novum und letztlich Kants Staatsbegründung geschuldet. Diese bewegt sich – was das theoretische Instrumentarium anbelangt – in den Bahnen des politischen Kontraktualismus seiner Zeit. Wie etwa bei Hobbes und Rousseau, auf die Kant selbst wiederholt Bezug nimmt, wird auch bei Kant die Notwendigkeit des Staates aus den Defekten der Rechtsgemeinschaft im Naturzustand abgeleitet, denen der auf einen Gesellschaftsvertrag gegründete bürgerliche Rechtszustand abhelfen soll. Insoweit vollzieht die Kantische Philosophie keine zweite Kopernika­ nische Wende. Vielmehr versucht Kant lediglich, das klassische Theorem von Naturzustand und Gesellschaftsvertrag auf dem Fundament seiner 6  Rechtslehre, AA VI, S. 371; Kant wird hier nach der Akademieausgabe (hg. v. d. preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin seit 1900) zitiert, z. B. AA VII, S. 216 = Akademieaus­ gabe, Bd. VII, S. 216. 7 

Rechtslehre, AA VI, S. 320.

praktischen Philosophie neu zu interpretieren. In deren Zentrum steht – wenn man so will als Markenkern seiner praktischen Philosophie – die Erkenntnis, dass wir Menschen Rechte und Pflichten nur in unserer Eigenschaft als Person haben, deren Anspruch ist, »keinen anderen Gesetzen, als denen, die sie (entweder allein, oder wenigstens zugleich mit anderen) sich selbst giebt, unterworfen«9 zu sein. Wenn aber Verpflichtung hiernach stets nur als autonome – und insofern freie – Selbst-Verpflichtung denkbar

8  Ebd., S. 319. 9 

Ebd., S. 223.

10 

Ebd., S. 239.

11 

Ebd., S. 313.

12 

Ebd., S. 338.

ist, stellt sich für Kant das Problem, wie es dann überhaupt noch Recht als »das Vermögen, andere zu verpflichten«10, geben kann. Dies ist das K ­ antisch ­gewendete Naturzustandsproblem. Die Lösung dieses Problems sieht Kant in der Etablierung eines bürger­ lichen Zustands. Der Staat »ist die Vereinigung […] von Menschen unter Rechtsgesetzen«11; wobei die Staatsgewalt der Inbegriff des »vereinigten, a priori aus der Vernunft abstammenden Volkswillens«12 ist. Macht nun der Philipp-Alexander Hirsch  —  Keine Freiheit ohne Staat!

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Staat Rechte gegenüber dem Einzelnen geltend, so verpflichtet sich hierdurch das Rechtssubjekt als Teil dieses vereinigten Willens aller stets mittelbar selbst und findet hierdurch seine Freiheit »in einer gesetzlichen Abhängigkeit […] unvermindert wieder […], weil diese Abhängigkeit aus seinem eigenen gesetzgebenden Willen entspringt«13. Dabei ist der »ursprüngliche Contrakt, nach welchem alle […] im Volk ihre äußere Freiheit aufgeben, um sie als Glieder eines gemeinen Wesens […] sofort wieder aufzunehmen«14, ein reines ­Vernunftideal, welches ausschließlich als regulatives Prinzip funktioniert. Das Vernunftideal des vereinigten Volkswillens verlangt daher nicht, dass etwa Gesetze, rechtliche Urteile, politische Entscheidungen de facto von allen getragen oder mittelbar auf einen tatsächlichen Zustimmungsakt (zum Beispiel eine Parlamentswahl) zurückgeführt werden. Vielmehr begründet es für die politische Herrschaft lediglich die moralische Verpflichtung, den vereinigten Volkswillen als maßgeblichen Handlungsmaßstab anzustreben: Herrschaft ist so auszuüben, dass dem alle Gewaltunterworfenen unter Bedingungen der Freiheit und Gleichheit vernünftigerweise zustimmen könnten. Umgekehrt hat der Bürger im Gemeinwesen die tatsächlich bestehende Herrschaft als aktuellen Repräsentanten des vereinigten Volkswillens anzuerkennen. Erforderlich ist als Referenzpunkt des Vernunftideals in beiden Hinsichten lediglich, dass es eine politische Entität gibt, die faktisch in der Lage ist, Recht zu setzen und durchzusetzen. Was heißt dies nun für die zuvor angesprochene Trennung von Legitimität und Gerechtigkeit politischer Herrschaft? Weil sich Recht, verstanden als Befugnis zur Fremdverpflichtung, im Naturzustand nicht als autonome Selbstverpflichtung begreifen lässt, bedarf es notwendig des Staates, der als Repräsentant des vereinigten Volkswillens im Verhältnis zu den Bürgern Recht setzt und durchsetzt. Legitim ist der Staat daher bereits in dem Moment, in dem er effektiv diese Funktion der Rechtssetzung und -durchsetzung wahrnimmt. Gerecht ist der Staat jedoch erst dann, wenn sich die politische Herrschaft hierbei tatsächlich auch an den Vorgaben des ursprünglichen Vertrages, d. h. am Ideal des vereinigten Volkswillens orientiert. Insofern dies die Wahrung der ursprünglichen Freiheitsrechte der Bürger impliziert, können wir sagen, dass der Staat auch dann erst liberal ist. Mit Blick hierauf ist Kants kategorisches Widerstandsverbot nunmehr ­lediglich die Kehrseite des Legitimitätskriteriums politischer Herrschaft: Wenn Rechte aus den genannten autonomietheoretischen Gründen stets nur im und durch den Staat behauptet werden können, kann es keine legitime Rechtsdurchsetzung gegen den Staat geben. Denn nur durch »[u]nbedingte Unterwerfung des Volkswillens (der an sich unvereinigt, mithin gesetzlos ist)

68

Liberalismus — Analyse

13 

Ebd., S. 316.

14 

Ebd., S. 315.

unter einen souveränen (alle durch Ein Gesetz vereinigenden) Willen«, die allein »durch Bemächtigung der obersten Gewalt anheben kann«, kann »zuerst ein öffentliches Recht begründet« werden.15 Anders gesagt: Wer Recht zu setzen und durchzusetzen vermag, konstituiert sich dadurch als legitimer Repräsentant des vereinigten Volkswillens. Angesichts dessen kann man Kants Position auf der Landkarte der politischen Philosophie seiner Zeit als dritten Weg gegenüber Hobbes und ­Rousseau verorten. In der Legitimitätsfrage staatlicher Herrschaft fällt Kant nicht hinter Hobbes zurück, insofern nach beiden Recht nur im und durch den Staat bestimmt und durchgesetzt werden kann und es hierfür zuallererst der vertraglichen Vereinigung des Volkswillens unter einem machtvollen Herrscher bedarf. Kant geht jedoch in zwei entscheidenden Punkten über Hobbes hinaus: Zum einen ist die Staatsbegründung im Unterschied zu Hobbes nicht lediglich ein rein pragmatisches Klugheitsgebot des rationalisierten Selbsterhaltungswillens, um den konfliktträchtigen Naturzustand zu überwinden. Vielmehr besteht eine unbedingte Rechtspflicht zur bürgerlichen Gesellschaft, die aus dem autonomietheoretischen Defizit vorstaatlicher Rechtsgeltung folgt. Zum anderen führt der Hobbes’sche Gesellschaftsvertrag zur einseitigen Unterordnung unter den Willen des souveränen Herrschers und damit zur staatsrechtlichen Identität von Herrscher und Volk. Der Hobbes’sche Leviathan kann dem Volk mithin kein Unrecht tun, weil allein er inhaltlich festlegt, was recht und unrecht ist. Demgegenüber ist bei Kant der vereinigte Volkswille selbst der rechtliche Souverän – der Herrscher repräsentiert ihn bloß. Daher kann der ursprüngliche Vertrag normativ-kritisches Potenzial entfalten: Empirische Herrschaft hat sich an das Vernunftideal gerechter Herrschaft nach Maßgabe des vereinigten Volkswillens anzunähern. Tut sie dies nicht, handelt sie unrechtmäßig. Hierin, d. h. in der Gerechtigkeitsfrage politischer Herrschaft, folgt Kant Rousseau, insofern beide den vereinigten Volkswillen selbst zum Souverän machen, da nur dieser qua Selbstbestimmung notwendig richtige und damit gerechte Gesetze für das Volk machen kann. Hingegen kann bei Rousseau der so bestimmte Souverän nicht die politische Wirklichkeit abbilden, da es für Rousseau durchgehend der unmittelbaren politischen Partizipation des Volks zur Konstitution identitär-demokratischer Souveränität bedarf. Kant verzichtet jedoch genau hierauf und konstituiert den vereinigten Volkswillen als regulatives Vernunftideal, das nicht für den Ursprung des Staates steht, sondern für ein Entwicklungsziel, welches von der politischen 15 

Ebd., S. 372.

Wirklichkeit nie vollends eingeholt werden kann. Selbst eine repräsentative Philipp-Alexander Hirsch  —  Keine Freiheit ohne Staat!

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Demokratie wird stets nur approximative Annäherung an das praktische Ideal des vereinigten Volkswillens bleiben. Kants ursprünglicher Vertrag begründet damit eine immerwährende Reformpflicht, real existierende politische Herrschaft diesem Ideal anzugleichen. Wie also ist Kants politischer Liberalismus angesichts der nun hinlänglich erörterten Differenzierung von Legitimität und Gerechtigkeit staatlicher Herrschaft zu bewerten? In einem Wort: Kants politischer Liberalismus ist staatlich gebunden. Ohne Staat gibt es keine Freiheit (Legitimität), aber jeder Staat ist auf Freiheit als Herrschaftsprinzip verpflichtet (Gerechtigkeit/Liberalität). Doch können wir das, was wir bei Kant vorfinden, überhaupt noch politischen Liberalismus nennen? Das hängt ganz davon ab, welchen Begriff von Liberalismus wir zugrunde legen. Bestimmen wir Liberalismus allein über die faktische Wahrung individueller Freiheitsrechte, so finden wir diesen bei Locke oder Rousseau, wo Herrschaft in dem Moment aufhört legitim zu sein, in welchem sie unantastbare Freiheitsrechte der Bürger nicht mehr wahrt, weil sie hierdurch ihre treuhänderische Pflicht verletzt (Locke) bzw. nicht mehr Ausdruck der volonté générale ist (Rousseau). Kant hingegen will Legitimität und Gerechtigkeit staatlicher Herrschaft nicht auf das jeweils andere reduzieren, um so die Skylla einer von Gerechtigkeitsprinzipien entbundenen Herrschaft einerseits und die Charybdis direkt-revolutionärer Einforderung gerechter Herrschaft andererseits gleichermaßen zu umschiffen. Dies leuchtet im Grundsatz auch heute unmittelbar ein: Der freiheitliche Staat ist auf die Wahrung individueller Freiheitsrechte verpflichtet. Doch gleichzeitig macht nicht jede obrigkeitliche Rechtsverletzung – mag sie im Einzelfall auch gravierend sein – den Staat illegitim und erlaubt uns den aktiven Widerstand. Etwas anderes mögen wir sicherlich im Falle eines systematisch gewalttätigen Unrechtsregimes sagen. Kant kann hier aber vor dem Hintergrund seiner Konzeption keine Nuancierungen einführen; durch die Trennung von Legitimität und Gerechtigkeit staatlicher Herrschaft nimmt er die Gefahr ihrer Pervertierung in Kauf. Gleichwohl zielt seine politische Philosophie programmatisch auf das Ideal einer liberalen, republikanischen Verfassung ab, deren Leitprinzip in formeller Hinsicht der vereinigte Volkswille und in materieller Hinsicht die Wahrung unveräußerlicher Freiheitsrechte ist. Wenn wir Liberalismus daher in diesem schwächeren,

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Liberalismus — Analyse

prozeduralen Sinne verstehen, können wir mit Recht von einem staatlich gebundenen politischen Liberalismus Kants sprechen. Hierin liegt auch das maßgebliche Erbe Kants für die politische Philosophie der letzten Jahrzehnte. Dadurch, dass er den vereinigten Volkswillen als notwendiges regulatives Vernunftideal politischer Herrschaft konzipierte, hat sich Kant vom klassischen voluntaristischen Kontraktualismus seiner

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Vorgänger verabschiedet. Gleichzeitig hat er (neben Rousseau) hierdurch modernen Theorien den Weg gebahnt, die in ebensolcher Weise die Rechtfertigung von politischen Normen und Gesetzen davon abhängig machen, dass ihnen vernünftige Menschen zustimmen können. So legitimieren sich die von Rawls in »A Theory of Justice« vorgestellten Gerechtigkeitsprinzipien über ihre Wahl in einem fairen unter den Bedingungen der Gleichheit stattfindenden Verfahren.16 Und in der Diskursethik trägt die ideale Sprechsituation eines allen zugänglichen, herrschaftsfreien und mit vernünftigen Argumenten gestalteten Diskurses die Begründungslast praktischer Normen.17 Mit Kants ideengeschichtlichem Erbe sind wir auch an einen Punkt gekommen, wo wir uns den eingangs aufgeworfenen großen »Freiheits-Fragen«, die den gegenwärtigen Liberalismus-Diskurs (sei es in der Wissenschaft oder im Feuilleton) bestimmen, erneut und nunmehr aus Kantischer Perspektive widmen können. Hierbei möchte ich drei Fragen exemplarisch herausgreifen: Erstens: Wie muss der liberale Staat verfasst sein? Zweitens: Wann sind die Mitglieder einer Gesellschaft wirklich frei? Und drittens: Gibt es ein Menschenrecht auf Staatszugehörigkeit? Wie muss der liberale Staat verfasst sein? – Kant wird gerne als Vordenker zentraler Strukturelemente des liberalen Staates zitiert, etwa: repräsentative Demokratie, Gewaltenteilung, Wahrung rechtsstaatlicher Grundsätze. Diese Aussagen verdienen Zustimmung; allerdings nur, sofern sie mit dem nötigen Vorbehalt formuliert werden. Im Zuge der erläuterten Trennung von Legitimität und Gerechtigkeit staatlicher Herrschaft bei Kant fungiert das Gerechtigkeitskriterium des vereinigten Volkswillens als regulatives Vernunftideal politischer Herrschaft. Der ursprüngliche Vertrag enthält also keine institutionellen Vorgaben für die Organisation des politischen Zusammenlebens, sondern stellt die Idee eines vereinigten Volkswillens lediglich als a priori gebotenes politisches Leitprinzip vor. Geboten ist daher allenfalls eine bestimmte Regierungsart, nicht jedoch eine bestimmte Staatsform; denn »[d]ie Idee einer mit dem natürlichen Rechte der Menschen zusammenstimmenden Constitution: daß nämlich die dem Gesetz Gehorchenden auch zugleich, vereinigt, gesetzgebend sein sollen, liegt bei allen Staatsformen zum Grunde«. Folglich betont Kant, dass die »Monarchen, ob sie gleich autokratisch herrschen, dennoch republicanisch (nicht demokratisch) zu regieren«18 verpflichtet sind. Anders gesagt: Eine Monarchie steht einer repräsentativen Demokratie in der Frage der Realisierung des Vernunftideals politischer Herrschaft in nichts nach, wenn funktional beide gleichermaßen in der Herrschaftsausübung gewaltenteilig verfahren sowie den vereinigten gesetzgebenden Willen aller repräsentieren.

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16  Siehe John Rawls, A Theory of Justice, ­Cambridge (Mass.) 1971. 17  Siehe bspw. Jürgen Habermas, Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, Frankfurt a. M. 1983. 18  Streit der F ­ akultäten, AA VII, S. 90 f.

Hier mit Kant mehr zu verlangen und aus dem ursprünglichen Vertrag institutionelle Vorgaben (etwa repräsentative Demokratie oder institutionelle Gewaltenteilung) ableiten zu wollen, hieße, Kants eigentümlicher Gesellschaftsvertragstheorie ihres normativ-kritischen Potenzials zu berauben. Dieses speist sich ja gerade daraus, dass der rechtliche Souverän das ewige praktische Ideal des vereinigten Volkswillens ist, dem gegenüber sich die politische Wirklichkeit stets nur annähern kann, ohne es jemals einzuholen. Gäbe es hingegen empirisch-institutionelle Vorgaben für die Ausgestaltung politischer Herrschaft, so wäre ein in endlicher Zeit erreichbarer Zustand gegeben. So viel zum Vorbehalt. Doch jeder Leser Kants merkt rasch, dass nach Kant die Demokratie – wohlgemerkt aus pragmatischen Gründen – dem ­Republikanismus am zuträglichsten ist.19 Mag auch die Monarchie unter einem benevolenten, moralisch kompetenten Herrscher dem Vernunftideal gerecht werden können, so birgt doch ersichtlich eine repräsentative Demokratie mit checks and balances deutlich weniger Gefährdungspotenzial in sich, dem Despotismus und Herrschaftsmissbrauch zu verfallen. Wann sind die Mitglieder einer Gesellschaft wirklich frei? – In jüngerer Zeit wurde in der politischen Philosophie die Diskussion über diese Frage unter dem Stichwort Republikanismus wiederbelebt. Philip Pettit hat – zuletzt in »Just Freedom« –20 wirkmächtig21 dafür Position bezogen, dass sich der liberale Gehalt einer politischen Gemeinschaft nicht in der Gewährung individueller Handlungsspielräume negativer Freiheit erschöpft, die durch ein bestimmtes System von Grundfreiheiten gesichert sind. Vielmehr stellt er dieser (libertaristischen) Freiheit als Nichteinmischung (freedom as non-interference) das anspruchsvollere Konzept einer Freiheit als Nichtbeherrschung (freedom as non-domination) gegenüber. Die Mitglieder einer Gesellschaft sind in diesem anspruchsvollen Sinne nicht bereits dadurch frei, dass ihnen bestimmte Handlungsspielräume fak19 

Vgl. ­Rechtslehre, AA VI, S. 339.

tisch gewährt werden, sondern erst dann, wenn diese Handlungsspielräume Ausdruck umfassender Selbstbestimmung sind. Diesem Ideal, so Pettit, würden jedoch gegenwärtige repräsentative Demokratien nicht gerecht, da die

20  Siehe Philip Pettit, Just Freedom, New York 2014. 21  Dies gilt auch für die politische Praxis, denn Pettit gehörte zum Beraterkollektiv der sozialistischen Partei Spaniens und sein Buch »Republicanism: A Theory of Freedom and Government« diente als theoretische Fundierung für politische Reformen unter der Regierung Zapateros.

Politik durch Parlamentswahlen nur mittelbar und inhaltlich vage beeinflusst werden könne. Eine liberale Gesellschaft erfordere daher einen Republikanismus, der ein umfassendes System öffentlicher Kontrolle durch institutionalisierte Interessenvertretungen der Bürger enthalte und so erst eine – im Wortsinne – demo-kratische Kritik und Regulierung der Regierenden durch das Volk selbst (contestatory democracy) ermögliche. Pettits Überlegungen zur contestatory democracy lassen sich nun durchaus als konsequenter Schritt mit Kant über Kant hinaus interpretieren. Auch Philipp-Alexander Hirsch  —  Keine Freiheit ohne Staat!

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Kant – und hier bewegt sich Pettit ersichtlich in Kantischen Bahnen – scheint der Sache nach bereits für eine kontestatorische Beteiligung der Bürger an der politischen Herrschaft einzutreten. Denn um eine republikanische Regierungsführung zu ermöglichen, muss das Volk die Möglichkeit haben, die Regierung auf dem Boden der Rechtsordnung auf den Volkswillen als Herrschaftsprinzip zu verpflichten. »[D]a jeder Mensch doch seine unverlierbaren Rechte hat, […] so muß dem Staatsbürger, und zwar mit Vergünstigung des Oberherrn selbst, die Befugniß zustehen, seine Meinung über das, was von den Verfügungen desselben ihm ein Unrecht gegen das gemeine Wesen zu sein scheint, öffentlich bekannt machen.«22 Hiermit setzt Kant auf die Meinungsfreiheit und das Potenzial öffentlicher Herrschaftskritik, um die politische Herrschaft zum republikanischen Leitprinzip des vereinigten gesetzgebenden Willens aller zu bewegen.23 Bedingung ist lediglich, dass sich die Kritik »durch die liberale Denkungsart des Unterthanen« stets »in den Schranken der Hochachtung und Liebe für die Verfassung« hält.24 Damit begreift Kants politische Philosophie – und das ist ein Novum – die bürgerliche Herrschaftskritik auf dem Boden der Verfassung als notwendiges Element politischer Herrschaft: contestatory democracy im ausgehenden 18. Jahrhundert. Damit aber Herrschaftskritik den nötigen Freiraum hat, ohne in aufrührerischen Widerstand umzuschlagen, geht Kant nicht den letzten, entscheidenden Schritt. Dieser besteht in dem von Pettit – und hierin geht er durchaus mit Recht über Kant hinaus – geforderten umfassenden System öffentlicher Kontrolle durch institutionalisierte Interessenvertretungen der Bürger. Kant kann diesen Schritt nicht gehen, weil er den Volkswillen lediglich als regulatives Herrschaftsprinzip aufstellt, das den Staat unabhängig von seiner institutionellen Ausgestaltung zur republikanischen Regierungsführung verpflichtet. Insofern würde er sich mit Freiheit als Nichteinmischung begnügen, da es hiernach nur auf die hypothetische Zustimmungsfähigkeit der Bürger zur Regierungsführung ankommt. Gleichwohl zielt seine politische Philosophie, die mit ihrer Staatsbegründung rechtliche Fremdverpflichtung als autonomietheoretisch zulässige Selbstverpflichtung begreifbar machen will, der Idee nach genau darauf ab, was Pettit unter den Konzepten der Freiheit als Nichtbeherrschung und der contestatory democracy anstrebt. Gibt es ein Menschenrecht auf Staatszugehörigkeit? – In Debatten um Flucht, Migration und Staatsbürgerschaft wird häufig auf Kants Weltbürgerrecht rekurriert, worunter Kant »das Recht eines Fremdlings, seiner Ankunft auf dem Boden eines andern wegen von diesem nicht feindselig behandelt zu werden«25, versteht. Während die einen hierin bereits einen Rechtsanspruch

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22  Gemeinspruch, AA VIII, S. 304. 23  Vgl. dazu auch Peter Niesen, Kants Theorie der Redefreiheit, Baden-Baden 2005. 24  Gemeinspruch, AA VIII, S. 304. 25  Zum ewigen ­Frieden, AA VIII, S. 357 f.

auf Zuwanderung verbürgt sehen, betonen andere, dass es sich lediglich um ein Besuchsrecht handele, das allenfalls asylähnliche Abwehrrechte, jedoch keinen positiven Einbürgerungsanspruch begründe. Enthält nun Kants Weltbürgerrecht einen moralischen Anspruch auf Staatszugehörigkeit? Insoweit es das Weltbürgerrecht anbelangt, lautet die Antwort sicherlich nein. Kant will nämlich mit diesem Recht weniger der Migration zum Rechtsanspruch verhelfen, als die Kolonialpolitik seiner Zeit geißeln; namentlich »das inhospitale Betragen der gesitteten, vornehmlich handeltreibenden Staaten unseres Welttheils«. Der »Ungerechtigkeit, die sie in dem Besuche fremder Länder und Völker (welches ihnen mit dem Erobern derselben für einerlei gilt) beweisen«26, hält Kant entgegen, dass ihnen das Weltbürgerrecht bloß ein Besuchsrecht eröffne. Dass hiernach Kants Weltbürgerrecht mit seiner dezidiert antikolonialistischen Stoßrichtung auf gegenwärtige Debatten über Migration und Staatsbürgerschaft nur schwerlich übertragbar ist, heißt gleichwohl nicht, dass Kant kein Recht auf Staatszugehörigkeit kennen würde. Vielmehr folgt ein solches bereits notwendig aus dem bereits Gesagten: Wenn nämlich Rechte nur innerhalb eines bürgerlichen Zustands geltend gemacht werden können (nota bene: das Kantische Naturzustandsproblem), implizieren angeborene Freiheitsrechte bereits den Anspruch auf Zugehörigkeit zu diesem Zustand. Mithin ist bei Kant das angeborene Recht »Freiheit« (und nicht etwa das Weltbürgerrecht) immer schon ein »Recht, Rechte zu haben« im Sinne Hannah Arendts;27 namentlich ein Anspruch auf Staatszugehörigkeit, kraft derer dem Individuum zuallererst positive Rechte zukommen. Hierbei ist diese Argumentation nicht auf einen genuin Kantischen Begründungsrahmen angewiesen. Denn sobald wir Menschenrechte allein qua Menschsein (gleichgültig aus welchen Gründen) anerkennen, erkennen wir Personen einen bestimmten Status als Freie und Gleiche zu: Als Mensch kann man Freiheit in Form gewisser Unabhängigkeit28 von äußerer Fremdbestimmung beanspruchen. Da dieses Recht qua Menschsein allen Menschen zu26 

Ebd., S. 358.

27  Vgl. dazu Hannah Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus, München 2008, S. 601–625. 28  Wie weit diese Unab­ hängigkeit reicht, ist dabei sekundär; hinreichend wäre insofern bereits die Anerkennung eines basalen Lebensrechts.

kommt, geht hiermit der Anspruch eines jeden einher, insoweit als Gleicher anerkannt und gleich behandelt zu werden. Jedoch bleiben diese Ansprüche ohne die Mitgliedschaft in einer staatlichen Gemeinschaft ein bloßes Lippenbekenntnis. Denn erst durch eine Staatszugehörigkeit, durch welche diesen Ansprüchen als Mitglied einer Vertragsgemeinschaft zur selbstbestimmten Durchsetzung verholfen wird, wird der Anspruch reziproker Freiheit und Gleichheit eingelöst. Staatenlose befinden sich – selbst wenn ihre Menschenrechte de facto gewahrt werden – stets in einer einseitigen Abhängigkeit, da ihre Freiheit letztlich Philipp-Alexander Hirsch  —  Keine Freiheit ohne Staat!

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vom Wohlwollen des Schutz gewährenden Staates abhängt. Erst als Staatsbürger befinden sie sich – um mit Kant zu sprechen – in einem Verhältnis reziproker Abhängigkeit zueinander und sind insofern als Gleiche frei von Fremdbestimmung, »weil diese Abhängigkeit aus [ihrem] eigenen gesetzgebenden Willen entspringt«29. Das Recht auf Staatszugehörigkeit kommt allerdings nur Staatenlosen zu, die keiner politischen Gemeinschaft angehören. Auch wenn man hierunter sicherlich Personen aus sogenannten failed states oder (faktisch) ausgebürgerte Menschen fassen kann, ist Kant damit gleichwohl für die gegenwärtige Debatte um Migration und Flucht – sofern es dort um Menschen mit einer Staatszugehörigkeit geht – nicht einschlägig. Daher lässt sich auch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Staatsform (zum Beispiel zu einer Demokratie) oder die Gewähr von Subsistenzbedingungen (etwa im Falle von Wirtschaftsflüchtlingen) Kantisch nicht rechtfertigen. Hierzu bedürfte es laut Kant stets eines »besondere[n] wohlthätige[n] Vertrag[es]«30. Dennoch gilt weiterhin: Wenn Staaten Menschenrechte materiell-rechtlich anerkennen, so legt sie diese Selbstverpflichtung im Umgang mit Staatenlosen darauf fest, diesen Personen Staatszugehörigkeit einzuräumen. Letztlich ist dies allerdings nur ein weiterer Aspekt des zentralen Gedankens der Kantischen Staatsbegründung. Freiheitsrechte verlangen stets nach einer staatlichen Ordnung, da Staatlichkeit die notwendige Bedingung für die Behauptung individueller Freiheit ist. Und hierin liegt für Kant der Kern seines politischen Liberalismus: Eine liberale Gesellschaft ist das Ziel, jedoch ist eine stabile Rechtsordnung der hierzu unumgängliche Weg.

Philipp-Alexander Hirsch, geb. 1984, ist ­studierter Jurist und Philosoph. Seine in Kürze ­erscheinende Dissertation »Freiheit und Staatlichkeit« hat er zur Rechts- und politischen Philosophie Immanuel Kants geschrieben. Gegenwärtig arbeitet er am Institut für Kriminalwissenschaften der Universität Göttingen und forscht schwerpunktmäßig auf den Gebieten der Rechtsphilosophie sowie des Straf- und Strafverfahrens­rechts.

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29  Rechtslehre, AA VI, S. 316. 30  Zum ewigen F ­ rieden, AA VIII, S. 358.

LIBERALE GESELLSCHAFTSORDNUNGEN WIE DIE WANDLUNGEN DES LIBERALISMUS UNSER LEBEN UNTER DRUCK GESETZT HABEN ΞΞ Gary S. Schaal

Der Liberalismus ist nicht nur die erfolgreichste politische Theorie, sondern auch die einflussreichste soziale Bewegung der Neuzeit.1 Trotzdem wurde und wird in der politischen Praxis und der politischen Ideengeschichte die Frage, ob auf dem Liberalismus eine gerechte und stabile Gesellschaftsordnung gegründet werden kann, immer wieder neu gestellt. In historischer Perspektive variieren die relevanten Gegner – der Sozialismus, Marxismus oder antiliberales konservatives Denken2 –, ebenso der Modus der Kritik. Besonders herausgefordert werden liberale Gesellschaftsordnungen durch das Aufzeigen ihrer immanenten Widersprüche und Dysfunktionalitäten. Im Folgenden sollen die Fragen, ob gerechte und stabile liberale Gesellschaftsordnungen existieren können und welcher sozioökonomischen und soziomoralischen Voraussetzungen sie bedürfen, von unterschiedlicher Warte aus betrachtet werden. DIE MÖGLICHKEIT EINER GERECHTEN UND STABILEN LIBERALEN GESELLSCHAFTSORDNUNG Die bis heute prägnanteste Antwort auf die oben aufgeworfenen Fragen hat der Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde artikuliert: »Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn 1  Für eine historisch kontextualisierte Einführung vgl. Edmund Fawcett, Liberalism. The Life of an Idea, Princeton 2014.

sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Andererseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus […] zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben […].«3

Siehe Stephen Holmes, The Anatomy of Antiliberalism, Harvard 1996.

Viele Kritiker des Liberalismus erkennen hierin nicht nur ein Paradox, son-

3  Ernst-Wolfgang ­Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit, Frankfurt a. M. 1976, S. 60.

laut Böckenförde eine liberale Gesellschaft für ihr Bestehen benötigt, wür-

2 

dern den Keim zur Selbstzerstörung jeder liberalen Gesellschaftsordnung; denn die »moralische Substanz« und die gesellschaftliche Homogenität, die den sich durch die sozialen Effekte ihres eigenen fortschreitenden Erfolges,

INDES, 2016–2, S. 77–83, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2191–995X

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d. h. durch Prozesse zunehmender Individualisierung und gesellschaftlicher Fragmentierung sowie durch das Eindringen ökonomischer Rationalität in immer weitere Bereiche der Gesellschaft, zunehmend auflösen. Aus dieser Perspektive sind liberale Gesellschaftsordnungen für ihren Bestand immer auf andere, nichtliberale Formen von Vergemeinschaftung angewiesen. In jüngster Zeit lassen sich in der Presse verstärkt Versuche erkennen, den Liberalismus und eine darauf aufbauende Gesellschaftsordnung neu und den politischen Herausforderungen der Zeit angemessen zu interpretieren.4 Dies wirft die Frage auf, warum die liberale Gesellschaftsordnung in den letzten Jahren in Misskredit geraten konnte.5 Hilfreicher als eine Aufzählung der hinlänglich bekannten Phänomene (so etwa die globale Schuldenkrise oder wachsende ökonomische und politische Ungleichheiten6) erscheint, die langfristigeren Prozesse hinter diesem Ansehensverlust auszumachen. NEOLIBERALE UMWERTUNG LIBERALER WERTE Denn es sind fundamentale Transformationen auf der Ebene liberaler Leitideen und grundlegender Prinzipien, die zur zeitgenössischen Diskreditierung liberaler Gesellschaftsordnungen beigetragen haben: Seit seiner Erfindung im 17. Jahrhundert kann zwischen einem politischen und einem ökonomischen Liberalismus differenziert werden.7 Die Notwendigkeit der Trennung von politischer und ökonomischer Sphäre wurde von beiden Liberalismen mehr als drei Jahrhunderte lang betont. Der zeitgenössische ökonomische Liberalismus stellt diese Trennung jedoch erfolgreich infrage. Entsprechend sind seine Leitideen seit den späten 1970er Jahren nicht nur in der ökonomischen, sondern auch in der politischen und gesellschaftlichen Sphäre deutungsmächtig geworden. Der Neoliberalismus ist ein auf das Ideal der

4  Vgl. Rainer Hank, Ein Hoch auf die Freiheit, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.03.2012; Lisa Herzog, Die Freiheit ­gehört nicht nur den Reichen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 05.03.2012; Nils Minkmar, Die Leute denken selbst, in: Der Spiegel, 12.03.2016. 5  Vgl. Colin Crouch, Das befremdliche Überleben des ­Neoliberalismus, Berlin 2011.

Marktfreiheit radikal verkürzter ökonomischer Liberalismus. Der freie Markt alleine ist jedoch kein angemessenes Integrations-, Koordinations- und Distributionsmedium von materiellen und immateriellen Gütern in einer moder-

6  Vgl. Armin Schäfer, Der Verlust politischer Gleichheit, Frankfurt a. M. 2015.

nen, fragmentierten Gesellschaft. Darauf hat Michael Walzer überzeugend in seiner Monografie »Sphären der Gerechtigkeit« hingewiesen.8 Der liberale Philosoph Gerald Gaus bezeichnete Freiheit dementsprechend als »fundamental liberal principle«9. In den letzten Jahren erfolgte jedoch eine Neubewertung zentraler liberaler Werte, die zu einer neuen Wertehierarchie geführt hat. Ausgangspunkt dieser Umwertungen waren Theoretiker, die der Chicago School nahestanden, also Vertreter des ökonomischen Liberalismus. Im Zuge dieses Prozesses verdrängte Eigentum die Freiheit als zentralen liberalen Wert und es ist kaum übertrieben, Eigentum als Fetisch des zeitgenössischen Neoliberalismus

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7  Für die folgenden Ausführungen vgl. Gary S. Schaal u. a., Ökonomischer und ideologischer Neoliberalismus, in: Gesellschaft. Wirtschaft. Politik, Jg. 63 (2014), H. 4, S. 529–540. 8  Siehe Michael Walzer, Sphären der G ­ erechtigkeit, Frankfurt a. M. 2006. 9  Gerald Gaus, Justificatory Liberalism, Oxford 1996, S. 162.

zu bezeichnen.10 Die Austeritätspolitik, die in Europa seit 2008 als Reaktion auf die Wirtschafts-, Währungs- und Schuldenkrise betrieben wird, kann in diesem Kontext als politische Manifestation der neoliberalen Leitidee des Eigentums interpretiert werden.11 Der zeitgenössische Neoliberalismus hat in Anlehnung an die theoretischen Arbeiten des Ökonomen und Nobelpreisträgers Gary S. Becker die ökonomische Rationalität, d. h. die individuelle Handlungsorientierung an Kosten-Nutzen-Kalkülen, zur universellen Basis menschlichen Handelns erhoben.12 Ihm gelang dabei das Kunststück, den Eigennutz aus der Sphäre des Moralischen in jene der Amoralität zu verschieben und damit die Leitidee des sittlich verantwortungsvollen Handelns von Individuen, die einen prominenten Platz in der liberalen Ideengeschichte besessen hatte, auf die hinteren Ränge zu verweisen. EINE ANSPRUCHSVOLLE KONZEPTION LIBERALER GESELLSCHAFTSORDNUNG Die bisherigen Überlegungen haben zweierlei verdeutlicht: Einerseits gründet die zeitgenössische Kritik an liberalen Gesellschaftsordnungen auf einer extrem verkürzten und inhaltlich entkernten Version des ökonomischen ­Liberalismus, mit der – im wahrsten Sinne des Wortes – kaum ein Staat zu machen ist; und andererseits wird die Position vertreten, dass auch ein anspruchsvoller politischer Liberalismus und eine damit korrespondierende 10  Diese Kritik ist aus ­ arxistischer Perspektive m bereits von C. B. Macpherson, The Political Theory of Possessive Individualism, Oxford 1962, für den klassischen politischen Liberalismus artikuliert worden. 11  Vgl. Mark Blyth, Austerity. The History of a Dangerous Idea, Oxford 2013. 12  Vgl. Gary S. Becker, Ökonomische Erklärung menschlichen Verhaltens, Tübingen 1993. 13  Vgl. Larry Siedentop, Inventing the ­Individual. The Origins of Western Liberalism, London 2015.

liberale Gesellschaftsordnung einen fatalen Determinismus zur Selbstauf­ lösung besäßen. Aus diesen zwei sehr unterschiedlichen Perspektiven müsste also die eingangs gestellte Frage, ob auf dem Liberalismus eine gerechte und stabile Gesellschaftsordnung gegründet werden kann, verneint werden. Im Folgenden soll allerdings eine dritte Position ausbuchstabiert werden, die in der Lage ist, zugleich den Wert einer liberalen Gesellschaftsordnung und ihre empirische Stabilität zu demonstrieren. Diese dritte Position erscheint politisch dringend geboten, weil spätestens nach 9/11 das Erbe des europäischen Aufklärungsprozesses in Form von liberaler Freiheit und Rechtsstaatlichkeit in allen westlichen Demokratien Gefahr läuft, verspielt zu werden. Schlagen wir an dieser Stelle den Bogen zurück zu Böckenfördes These und fragen, auf welche soziomoralischen Bestände eine richtig verstandene, d. h. unverkürzte liberale Gesellschaftsordnung zurückgreifen kann. Der politische Liberalismus war ideengeschichtlich jene Kraft, die der Idee des normativen Individualismus seine politische Form gab13 und entsprechend

14  Norberto Bobbio, Liberalism and ­Democracy, London 2005, S. 9.

argumentierte Norberto Bobbio: »[w]ithout individualism, there can be no liberalism«14. Auf diesem Individualismus basiert das Primat der Freiheit Gary S. Schaal  —  Liberale Gesellschaftsordnungen

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im klassischen politischen Liberalismus. Stehen Freiheit und Individualismus im Gegensatz zu einer gerechten liberalen Gesellschaftsordnung? Nein, vielmehr bedingen sie sich. Dieses Argument soll im Folgenden näher ausgeführt werden. Der klassische politische Liberalismus hat seine Freiheitstheorie immer schon in der Form eines vertragstheoretisch legitimierten Modells politischer und gesellschaftlicher Ordnung entfaltet.15 Gesellschaftliche Ordnung ist somit nicht das Andere der Freiheit, sondern eine ihrer – wenn auch voraussetzungsvollen – Konkretisierungsformen unter Bedingungen gesellschaftlicher Kontingenz. Innerhalb der Gesellschaft treten sich die BürgerInnen im klassischen politischen Liberalismus primär als InhaberInnen natürlicher und positiver Rechte, d. h. als Rechtspersonen gegenüber. Die Idee von (positivem) Recht als Medium gesellschaftlicher Kooperation, Koordination und Integration ist jedoch implikationsreich. Grundlegend resultiert aus dem liberalen Prinzip, dass alle Menschen dieselben Menschenrechte und alle StaatsbürgerInnen dieselben Staatsbürgerrechte besitzen und das Recht nicht nur gleichermaßen auf alle BürgerInnen Anwendung findet, sondern auch aus denselben Rechten dieselben Ansprüche abgeleitet werden können. Gleichheit bedeutet in der liberalen Gesellschaft Gleichheit zur Freiheit: »There is one form only of equality – equality in the right to liberty – which is not only compatible with liberalism but actually demanded by its view of freedom.«16 Damit zielt die Idee des Rechts (wenn auch historisch häufig kontrafaktisch) darauf, dass die RechteinhaberInnen sich als Gleiche wahrnehmen und behandeln müssen – denn nur dann können sie auch frei sein. Aber vermindert nicht jede Form von Recht die Freiheit des Individuums in der liberalen Gesellschaft? Die Antwort auf diese Frage hängt von der Genese des Rechts und seiner Substanz ab. Auf letzteren Punkt hat Stephen Holmes prominent verwiesen.17 Er argumentiert, dass Recht durch Verbote und Sanktionsdrohungen (z. B. durch Tempobeschränkungen auf Autobahnen) zwar Handlungsfreiheit begrenzen, aber auch handlungsermächtigend wirken könne. Holmes nennt beispielhaft die Regeln von Gesellschaftsspielen, die für ihn eine konstitutive, d. h. handlungsermächtigende Funktion besitzen. Denn niemand würde argumentieren, dass die Regeln des Schachspiels Handlungsfreiheit einschränkten; vielmehr ermöglichen sie das Spiel erst. Analog erhöhen konstitutive Gesetze die Freiheit der BürgerInnen in der liberalen Gesellschaft.

15  Vgl. Wolfgang Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrages, Darmstadt 1994. 16 

Bobbio, S. 33.

Folgt man Immanuel Kant, ist nur derjenige im gesellschaftlichen Zustand frei, der unter jenen Gesetzen lebt, die er sich selbst gegeben hat. In moderner Terminologie kann von der Identität von Rechtsautoren und Rechtsadressaten

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Liberalismus — Analyse

17  Vgl. Stephen H ­ olmes, Passions and C ­ onstraints, Chicago 1995.

gesprochen werden. Damit wird die Frage virulent, wie der Liberalismus zur politischen Partizipation steht. Es ist wahr, dass viele klassische Liberale Angst vor der Tyrannei der Mehrheit hatten und deshalb der privaten Autonomie Vorrang vor der öffentlichen einräumten, dass sie also den Grund- und Menschenrechten (in ihrer schriftlich kodifizierten Form: der Verfassung) Vorrang vor der Volkssouveränität gaben. Das Argument, dass der klassische politische Liberalismus damit automatisch normativ für einen Minimalstaat mit geringen Partizipationsmöglichkeiten votiere, ist jedoch verfehlt. Die Vorstellung, dass die negative Freiheit (Freiheit vor staatlichen Eingriffen, d. h. liberale Abwehrrechte) unbedingte normative Priorität vor der positiven Freiheit (Freiheit im Staat, d. h. politische Partizipationsrechte) besitzen müsse, ist vielmehr die Konsequenz einer überaus erfolgreichen Intervention von Isaiah Berlin.18 Sein 1958 gehaltener Vortrag »Two Concepts of Liberty« ist rückblickend eine der einflussreichsten Publikationen des Cold War Liberalism.19 Berlins ideologischer Kampf galt dem Sozialismus und er befürchtete, dass die positiven Partizipationsrechte (Freiheit im Staat) sich über ihre Ausweitung (Freiheit durch den Staat, d. h. soziale Grundrechte) den Weg zum verhassten Sozialismus bahnen würden. Im Schatten von Berlin vertreten auch heute noch liberale Gesellschaftstheorien minimale Konzepte politischer Beteiligung; und dies, obschon wohlverstandene positive Freiheit nicht nur wie oben gezeigt den Kern individueller Freiheit im staatlichen Zustand ausmacht, sondern auch in direkter Verbindung zur Idee des Rechts und der damit verbundenen wechselseitigen Anerkennung der BürgerInnen als Gleiche zur Freiheit steht.20 DIE ILLUSION DES HOMO OECONOMICUS Damit kommen wir abschließend zu den sozioökonomischen und sozio­ moralischen Voraussetzungen der Gleichheit zur Freiheit. Der einflussreichste liberale Philosoph des 20. Jahrhunderts war John Rawls. In seiner »Theorie 18  Siehe Isaiah Berlin, Four Essays on Liberty, Oxford 1969. 19  Vgl. Jan-Werner Müller, Fear and Freedom: On Cold War Liberalism, in: European Journal of Political Theory, Jg. 7 (2008), H. 1, S. 45–64. 20  Im Sinne des obigen Zitates von Bobbio »­equality in the right to liberty«. 21  Siehe John Rawls, A Theory of Justice, Harvard 1971.

der Gerechtigkeit« entwickelt er 1971 die Grundlagen einer gerechten und fairen liberalen Gesellschaftsordnung.21 Besondere Aufmerksamkeit erfuhren seine Gerechtigkeitsprinzipien; wobei insbesondere das Differenzprinzip, wonach ökonomische Ungleichheiten nur dann gerechtfertigt sind, wenn die am schlechtesten Gestellten in der Gesellschaft davon am meisten profitieren, hervorzuheben ist. Das Innovative des Rawls’schen Ansatzes besteht darin, dass er auf Basis seiner liberalen vertragstheoretischen Konstruktion eine liberale Begründung für den Sozialstaat expliziert hat. Rawls stützt sich dabei maßgeblich auf das Konzept des Urzustandes in Verbindung mit dem – Unparteilichkeit bzw. Neutralität in der Prinzipienfindung gewährleistenden – Schleier des Nichtwissens. Gary S. Schaal  —  Liberale Gesellschaftsordnungen

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Seit einigen Jahren wird unter der Bezeichnung Property-Owning Democracy im Anschluss an Rawls ein intensiver Diskurs über die ökonomischen Voraussetzungen des fairen Wertes von Rechten geführt.22 Sehr knapp wird das Argument vertreten, dass dieser faire Wert insbesondere von politischen Rechten dann empirisch nicht gewährleistet ist, wenn Besitz und Einkommen in einer liberalen Gesellschaft sehr ungleich verteilt sind. Um den fairen Wert von Rechten zu sichern, reicht in diesem Fall ein Sozialstaat nicht mehr aus; vielmehr bedarf es gesellschaftlich weit gestreuten Besitzes von Eigentum an Produktionsmitteln. Was auf den ersten Blick wie eine sozialistische Forderung wirkt, ergibt sich jedoch direkt aus dem liberalen Framework der Rawls’schen Theorie der Gerechtigkeit. Doch welches Interesse sollten die BürgerInnen daran haben, dass ihre liberale Gesellschaft stabil und gerecht ist, denn: »In its classic guise, liberalism assumes that individuals are for the most part motivated by self-interests, and regards them as the best judges of what this interest requires.«23 Moralische Fragen nach dem fairen Wert von Rechten oder dem Wohlergehen der Gesellschaft als Ganzer liegen jenseits eines Akteurskonzepts, welches das Individuum als egoistisch und individuell nutzenmaximierend beschreibt. Da jedoch die Erreichbarkeit (und die Stabilität) liberaler Gesellschaftsordnungen maßgeblich vom Personenkonzept bestimmt wird, muss abschließend seine empirische und theoretische Angemessenheit betrachtet werden. Die Analyse, wonach ökonomische Rationalität in immer weitere Bereiche des sozialen Lebens eindringt, wird in der Literatur weithin geteilt.24 Die sich ausbreitende Nutzung ökonomischer Rationalität ist das manifeste Ergebnis der Hegemonie des Neoliberalismus in den letzten dreißig Jahren.

25

22  Vgl. Martin O’Neill u. Thad Williamson (Hg.), PropertyOwning Democracy: Rawls and Beyond, Chichester 2012. 23  John S. Dryzek u. a (Hg.), Oxford Handbook of Political Theory, Oxford 2008, S. 14.

Individuelle Identitätskonstruktion erfolgt diskursiv im Medium der Sprache. Sie vollzieht sich somit zunehmend im Kontext des sprachlichen Paradigmas des Neoliberalismus – die Rhetorik der Selbstoptimierung und verbale Forderungen nach Investitionen in das eigene Humankapital sind prototypisch für diese Form der Identitätskonstruktion.26 Das Resultat ist eine politische Kultur, die eine gerechte und stabile liberale Gesellschaftsordnung unterminiert. Doch bereits oben ist angedeutet worden, dass es sich hierbei um das verkürzte Akteurskonzept des ökonomischen Liberalismus handelt. Welche Alternativen im politischen Liberalismus existieren hierzu? Grundsätzlich hat der klassische politische Liberalismus ein sehr anspruchsvolles Personenkonzept vertreten, das nicht (allein) auf KostenNutzen-­Kalkülen basierte. So argumentiert Stephen Holmes: »Liberals are often accused of psychological reductionism. They purportedly believed that human beings are propelled by rational self-interest alone, as if benevolence,

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Liberalismus — Analyse

24  Vgl. Wendy Brown, Die schleichende Revolution. Wie der Neoliberalismus die Demokratie zerstört, Berlin 2015; Michael Sandel, Was man für Geld nicht kaufen kann: die moralischen Grenzen des Marktes, Berlin 2012. 25  Vgl. Claudia Ritzi u. Matthias Lemke, Is There No Alternative? The Discursive Formation of Neoliberal Power, in: Cybernetics & Human Knowing, Jg. 22 (2015), H. 4, S. 33–56. 26  Vgl. Byung-Chul Han, Psychopolitik. Neoliberalismus und die neuen M ­ achttechniken, Frankfurt a. M. 2014.

love of others, and devotion to the common good were wholly unreal motivations. This accusation is reckless.«27 Anknüpfungspunkte für eine moralischere Konzeption der Person lassen sich im klassischen Liberalismus in der schottischen Moralphilosophie – u. a. bei David Hume, Joseph Butler oder Anthony Shaftesbury – sowie bei John Stuart Mill finden. Nicht im Rekurs auf die politische Ideengeschichte, sondern unter Berufung auf die aktuelle psychologische Verhaltensforschung kann das (neo-) liberale best judge principle infrage gestellt werden. Die Behavioural Economics28 können überzeugend zeigen, dass Menschen systematisch nicht das tun, was in ihrem eigenen besten Interesse liegt. Menschen sind bei Weitem nicht so rational, wie das neoliberale Akteurskonzept unterstellt. 27  Stephen Holmes, The Liberal Idea, 2000, URL: http:// prospect.org/article/liberal-idea [eingesehen am 15.03.2016]. 28  Vgl. Daniel Kahnemann, Schnelles Denken, langsames Denken, München 2012.

WAS FOLGT? Liberale Gesellschaftsordnungen können gerecht und stabil sein. Und das normative und politische Erbe des klassischen politischen Liberalismus – u. a. der normative Individualismus, die Freiheit und die Rechtstaatlichkeit – verdienen, dass wir im vollen Bewusstsein ihres Wertes um sie kämpfen und sie gegen Angriffe von innen und außen verteidigen. Die liberale demokra-

29  Wie Freiheit u. a. von Philip Pettit (Freiheit als »non-domination«) vertreten wird; vgl. Philip Pettit, On the People’s Terms. A Republican Theory and Model of Democracy, Cambridge 2012.

tische Gesellschaft ist jedoch empirisch in keiner guten Verfassung. Denn sie erfuhr auf der Ebene der zentralen Prinzipien und Leitideen eine Transformation, die den politischen Liberalismus auf eine Karikatur in Form des ökonomischen Neoliberalismus reduzierte und die Freiheit des Marktes und das Recht auf Eigentum verabsolutierte. Dieser verkürzte ökonomische Liberalismus zerschneidet jene Bänder zwischen den BürgerInnen, die der klassische politische Liberalismus geknüpft hat. Und dieses Gewebe war – anders als Böckenförde unterstellt – dicht und normativ anspruchsvoll. Denn aus der Idee der Rechtsperson resultierte nicht nur der moralische Imperativ der Gleichheit zur Freiheit, sondern auch eine liberale Gesellschaft, in der umfassende politische Partizipationsrechte als Voraussetzung individueller Freiheit ihren Ort hatten. Eine in solchem Sinne liberale Gesellschaft fragt auch nach dem fairen Wert von Rechten und richtet deshalb den Blick auf jene ökonomischen Un-

Prof. Dr. Gary  S. Schaal, geb. 1971, hat den Lehrstuhl für Politikwissenschaft, insbes. ­Politische Theorie, an der HelmutSchmidt-Universität in Hamburg inne. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Zeitgenössische Politische Theorie, Empirische Demokratieforschung und Digitalität.

gleichheiten, die den fairen Wert politischer Rechte für alle BürgerInnen unterminieren. Damit rückt eine wohlverstandene liberale Gesellschafts­ordnung zwar in die Nähe neorepublikanischer Freiheitstheorien29, bleibt aber trotzdem ihren liberalen Wurzeln verpflichtet. Um zukunftsfähig zu bleiben, muss sich heute die liberale Gesellschaft ihre wohlverstandene Freiheit gegen ökonomistische Verkürzungen zurückerobern.

Gary S. Schaal  —  Liberale Gesellschaftsordnungen

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LIBERALISMUS IM ISLAM WAS BLEIBT VOM ARABISCHEN FRÜHLING? ΞΞ Thorsten Hasche Streng genommen kann nicht von einer genuin liberalen Tradition im Islam gesprochen werden. Besonders dann nicht, wenn man Liberalismus im Islam in dem Sinne verstehen wollte, wie politischer Liberalismus im Westen gemeinhin verstanden wird, also als eine politische Philosophie oder Programmatik, in der das Individuum und seine positiven wie negativen Freiheiten im Mittelpunkt stehen. Dennoch bestehen in der westlichen Forschung zur Region Nordafrikas und des Nahen Ostens (MENA-Region) seit nunmehr einigen Jahrzehnten zahlreiche und immens wirkmächtige Studien zum Einfluss des europäischen Denkens und der europäischen Großmächte auf die islamische Zivilisation. Folgt man diesen Schriften, so liegt der welthistorische Anbeginn der modernen Beziehungen zwischen Okzident und Orient in Napoleons Ägyptischer Expedition im Jahr 1798.1 Diese militärische Expedition des nachrevolutionären Frankreichs war vor allem zur Kontrolle Ägyptens im Kampf um die europäische Vorherrschaft mit der Seemacht England gedacht, wurde jedoch gleichermaßen von einem großen Tross an Gelehrten begleitet. Die zentralen Ziele dieser Gelehrten waren, einerseits die Ideen der Französischen Revolution nach Ägypten zu tragen – dafür wurden von den sogenannten Orientalisten Flugblätter in arabischer Sprache entworfen – und andererseits Wissen über Ägypten zu sammeln.2 Da das Osmanische Reich, dessen Provinz Ägypten damals war, aufgrund seiner frappierenden militärischen Unterlegenheit nur mit Englands Hilfe und erst nach einigen Jahren der Besatzung in der Lage war, die französischen Truppen zu vertreiben, setzte innerhalb des Reiches dieses Ereignis einen umfangreichen Modernisierungs- und Reformprozess in Gang. Erst infolge der intellektuellen und literarischen Verarbeitung dieses Prozesses entstand das moderne und reformorientierte Denken in der arabo-islamischen Welt.3 Auch wenn diese Ereignisse bereits mehr als zweihundert Jahre zurückliegen, sind sie weiterhin äußerst relevant, um über das Verhältnis von Liberalismus und Islam zu sprechen. Denn der Entstehung des modernen arabischen, aber auch persischen und türkischen politischen Denkens liegt kein genuin endogener Prozess zugrunde, wie bspw. der Entstehung des englischen Liberalismus im 17. Jahrhundert. Vielmehr kam es infolge der beginnenden europäischen Kolonialisierung und der ebenfalls stattfindenden Expansion des

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INDES, 2016–2, S. 84–90, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2191–995X

1  Vgl. Bassam Tibi, Vom Gottes­ reich zum Nationalstaat. Islam und panarabischer Nationalismus, Frankfurt a. M. 1991, S. 64–69. 2  Vgl. Ibrahim Abu-Lughod, Arab Rediscovery of Europe. A Study in Cultural Encounters, Princeton 1963, S. 11–27. 3  Exemplarisch ist hier zu nennen: Albert Hourani, Arabic Thought in the Liberal Age. 1798–1939, Cambridge 1983.

russischen Zarenreiches zu einer exogen induzierten »Krisenerfahrung«. Erstmalig spürte das einstige Weltreich, die islamische Zivilisation unter osmanischer Führung, seine ideelle sowie technologische Unterlegenheit gegenüber den europäischen Großmächten. Insofern basiert die nachfolgende Analyse des Verhältnisses von Liberalismus und Islam vor allem auf zwei methodologischen Grundannahmen: erstens, dass westliche Ideen des Liberalismus – eingebettet in die europäische Expansion – oftmals als gewaltsam oktroyiert wahrgenommen und auch größtenteils mit Gewalt durchgesetzt wurden; und zweitens, dass arabische Intellektuelle in der Regel auf die westlichen Ideen und Technologien reagieren mussten – weshalb ihre schriftstellerischen Verarbeitungsprozesse beständig als »nachholend« interpretiert worden sind. ISLAMISCHES REFORMDENKEN IM »LANGEN 19. JAHRHUNDERT« Derweil die Ideengeschichte des europäisch-westlichen Liberalismus mit dem Aufklärungsdenken und der Französischen Revolution ihren großen Höhepunkt erlebte, das Individuum sich aus einstmals vorgegebenen sozialen Bindungen herauslöste und sukzessive zur wichtigsten Legitimationsquelle politischer Macht erhoben wurde, sah sich das islamische Reformdenken im sogenannten langen 19. Jahrhundert mit dem rapiden Einbruch der europäischen Moderne konfrontiert. Folglich waren die Themen der großen Reformdenker Rifaa al-Tahtawi (1801–1873), Dschamal al-Din al-Afghani (1838– 1897) und Mohammed Abduh (1849–1905) bestimmt von der Dynamik des Zusammenpralls moderner Gesellschaftsformen, Politik, Waffentechnologie und Wirtschaftsarten mit der zuvor relativ stabilen, überwiegend ruralen und traditionellen Lebenswelt des Osmanischen Reiches.4 Für sie galt somit, den Gründen für die Unterlegenheit der muslimischen Welt nachzuspüren, in Anbetracht der steigenden Bedrohung durch den europäischen Kolonialismus über die eigene Identität nachzusinnen und Rezepte für ein Wiedererlangen islamischer Stärke zu entwickeln. Infolgedessen wurden zahlreiche Aspekte der europäischen Gesellschaften und Mächte bewundert (vor allem die effizienten politischen Institutionen und die fortschrittlichen Technologien); es schärfte sich aber auch das Bewusstsein für eine zivilisatorische Differenz zum Westen und damit eine eigene islamische Identität. So kam es gerade in den Schriften von al-­A fghani 4  Vgl. Rachid Benzine, Islam und Moderne. Die neuen Denker, Berlin 2012, S. 16–19 u. S. 42–47. 5  Vgl. Tibi, Vom Gottesreich zum Nationalstaat, S. 69–80.

zur Ausbildung panislamischer Ideen eines vereinten Widerstandes gegen die Europäer.5 Innerhalb dieses Reformprozesses blieb jedoch eine direkte Auseinandersetzung mit der weiterhin orthodoxen Auslegung der islamischen Religion auf der Strecke. Sinnbildlich hierfür steht der Fall des al-Azhar-Gelehrten Ali Abd al-Raziq (1888–1966), der sich strikt für eine Trennung von Politik Thorsten Hasche  —  Liberalismus im Islam

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und Religion einsetzte und wegen seiner Schrift »Der Islam und die Grundlagen der politischen Herrschaft« seine Anstellung an der al-Azhar verlor.6 So wurden durch die inhärenten Grenzen des Reformdenkens in den Schriften der angeführten Denker des 19. Jahrhunderts bereits die intellektuellen Weichen für die beiden großen Geistesströmungen der arabo-islamischen Welt im 20. Jahrhundert gestellt: den durch Sati al-Husri (1882–1968) grundgelegten arabischen Nationalismus7 sowie den islamischen Fundamentalismus, der mit der Gründung der Muslimbruderschaft in Ägypten 1928 seine wirkmächtigste Organisation gefunden hat. Während al-Husri die Überlegungen der deutschen Romantiker zu einem völkischen panarabischen Nationalismus synthetisierte, entwarf Hasan al-Banna das Projekt einer Re-Islamisierung Ägyptens und der islamischen Welt angesichts der hereinbrechenden Säkularisierung. DIE ZWISCHENPHASE: LIBERALISMUS IM ISLAM VOM ZWEITEN WELTKRIEG BIS ZUM SCHEITERN DES NASSERISMUS Die arabischen Republiken konsolidierten sich nach ihrer Unabhängigkeit von den europäischen Mächten England, Frankreich und Italien in den 1950er und 1960er Jahren unter der Ägide von gleichermaßen charismatischen wie revolutionären Militärführern. Das paradigmatische Beispiel des Putsches der »Freien Offiziere« in Ägypten 1952 machte Schule: Muammar ­a l-­Gaddafi (1969), Hafez al-Assad (1970) und Saddam Hussein (1979) putschten sich jeweils mit der Unterstützung des Militärs an die Macht. Die gesamte Region war politisch, militärisch und wirtschaftlich eng in die bipolare Konfrontation und Blockbildung zwischen den NATO-Ländern und den Staaten des Warschauer Paktes eingebunden. Zwar gelang gerade Ägypten immer wieder, die beiden Supermächte gegeneinander auszuspielen; aber die politischen Programmatiken der Staatsführungen und der führenden Intellektuellen orientierten sich stark an der Trias »Demokratie, Nationalismus, Sozialismus«.8 Leitideologie und verbindendes Amalgam der dennoch um regionalen Führungsanspruch konkurrierenden Staaten war der panarabische Nationalismus, der die Vereinigung aller arabischen Staaten zum Ziel hatte. Neben der ägyptischen Variante des Panarabismus, dem Nasserismus – also einem zunehmenden Personenkult um den ägyptischen Präsidenten Gamal Abd-al Nasser (1918–1970) –, formierte sich der säkulare arabische Nationalismus

6  Vgl. Leonard Binder, Islamic Liberalism. A Critique of Development Ideologies, Chicago 1988, S. 128–158. 7  Vgl. Tibi, Vom Gottesreich zum Nationalstaat, S. 80–110. 8  Vgl. Hamid Enayat, Modern Islamic Political Thought. The Response of the Shii und the S ­ unni Muslims to the Twentieth Century, London 1982, S. 111–159. 9  Vgl. Tibi, Vom Gottesreich zum Nationalstaat, S. 189–198.

vor allem in Syrien und dem Irak im Rahmen der Baath-Partei nach deren Gründung durch Michel Aflaq (1910–1989).9 So zeigte sich die intellektuelle Verarbeitung der politischen Entwicklungen der Nachkriegszeit durchaus divers.10 Das politische Vorbild blieben die europäischen Staaten und mal wurden kapitalistische, mal sozialistische

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Liberalismus — Analyse

10  Höchst informativ bleibt diesbezüglich das inzwischen zum zeithistorischen Dokument gewordene Buch von Bassam Tibi (Hg.), Die arabische Linke, Frankfurt a. M. 1969.

Modernisierungsprojekte initiiert. Die inhärenten Probleme dieser teilweisen Modernisierung und Staatskonsolidierung der arabischen Länder waren jedoch die zunehmende Schließung der politischen Arenen und die Unterdrückung der Öffentlichkeit, sofern ihre Debatten und Inhalte nicht der Leitideologie des panarabischen Nationalismus entsprachen. Die Niederlage der arabischen Staaten gegen Israel im Sechstagekrieg 1967 förderte die Schwächen der politisch-militärischen Führungen und die substanzielle Leere hinter den Floskeln der panarabischen Einheit wie unter einem Brennglas vergrößert zutage. Doch von Selbstkritik11 der Regime, gar einer sachlichen Aufarbeitung der gesellschaftlichen Probleme war keine Spur. Stattdessen kam es zur Initiierung desjenigen autoritären Staatsmodells, das mit dem Ausbruch des Arabischen Frühlings Ende 2010 endgültig kollabierte: Politisches Stillschweigen wurde mit einer Alimentierung großer Bevölkerungsteile erkauft. Die Ausgaben für den Sozialstaat, die Bürokratie und die Sicherheitsapparate wuchsen – genauso wie die Patronage-Netzwerke der Staatseliten. Gerade die islamistische Opposition in den arabischen Staaten vermochte, sich das Scheitern des arabischen Nationalismus nach 1967 zunutze zu machen und sich als die moralische Alternative zu präsentieren.12 LIBERALISMUS IM ISLAM VOR UND NACH DEM SCHEITERN DES ARABISCHEN FRÜHLINGS In den 2000er Jahren herrschte in der sogenannten MENA-Region – gemeint ist damit der Raum Mittlerer Osten und Nordafrika – rückblickend eine na11  Vgl. dazu die Neuauflage des Klassikers von Sadik al-Azm, Self-Criticism After the Defeat, London 2011. 12  Den ideengeschichtlichen Übergang vom Ende des Nasserismus zum Erstarken des islamischen Fundamentalismus bildet ab: Fouad Ajami, The Arab Predicament. Arab Political Thought and Practice since 1967, Cambridge 1981. 13  Vgl. die Analysen von Michaelle L. Browers, Political Ideology in the Arab World. Accomodation and Transformation, Cambridge 2009 sowie die grund­legende Erörterung von Mohammed Abed alJabri, D ­ emocracy, Human Rights and Law in Islamic Thought, London 2009.

hezu gespenstische Ruhe. Zwar rückte die Region nach den Anschlägen des 11. Septembers 2001 schlagartig in den Hauptfokus der US-amerikanischen Geopolitik, die neben dem War on Terror auch die Demokratisierung des Greater Middle East anvisierte und mit der Invasion des Irak 2003 gleichwohl die Keimzellen der gegenwärtigen Instabilität mit sich führte. Jedoch galten die übrigen Staaten weiterhin als stabil und die europäische Außenpolitik a­ dressierte seit dem 1995 gestarteten Barcelona-Prozess stets die autokratischen Regime mit ihren Forderungen nach wirtschaftlicher Liberalisierung und demokratischer Öffnung. Die arabischen Staaten sollten somit den westlichen Wünschen nach Grenzkontrollen und der Bekämpfung des Dschihadismus einerseits, einer Verbesserung der politischen und wirtschaftlichen Lebensbedingungen ihrer Bevölkerungen andererseits nachkommen. Die arabische Zivilgesellschaft, getragen von den inzwischen weitverbreiteten »alten« und »neuen« Medien und dem regen Austausch über die Bildungsverflechtungen und Wirtschaftsbeziehungen mit der transatlantischen Welt, florierte durchaus und es kam zu einem intellektuellen Potpourri13, das den Thorsten Hasche  —  Liberalismus im Islam

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überkommenen Panarabismus deutlich hinter sich ließ und ein vielschichtiges Spektrum an liberalen Ideen umfasste. Doch die alte Garde der einst revolutionären arabischen Republiken war nicht zu Reformen und Machtteilung bereit. So lief das Fass der autoritären Repressalien Ende 2010 endgültig über und entfesselte eine trans­nationale Rebellion, die in wenigen Monaten den Raum vom Maghreb über den Mashrek bis hin zum Persischen Golf erfasste.14 Die Widersprüche des arabo-islamischen Denkens des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts sowie die Dilemmata der nahöstlichen Politik entfalteten sich im Verlauf des Arabischen Frühlings jedoch besonders deutlich in Ägypten und in der relativ spät von den Unruhen erfassten Türkei. In Ägypten vermochte die islamistische Muslimbruderschaft – anfänglich durchaus akzeptiert vom Militär – mithilfe einer schnellen Parteigründung und ihrer formidablen Organisationsstruktur, die ersten freien Wahlen des Landes für sich zu entscheiden. Zwei Jahre nach dem Sturz des Mubarak-Regimes stellte die Muslimbruderschaft mit Mohammed Mursi (*1951) den Präsidenten und

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Liberalismus — Analyse

14  Vgl. dazu die Studie von Juan Cole, The New Arabs. How the Millennial Generation is Changing the Middle East, New York 2014.

es bestand eine neue Verfassung mit deutlich islamistischem Einschlag. Die Türkei unter der Führung der AKP, die sich aus dem islamistischen Milieu des Milli Görüs (Nationaler Ausblick) entwickelte und insofern nicht einfach als islamisch-konservativ zu bezeichnen ist, galt Anfang 2013 als das große Vorbild für Reformprozesse in der MENA-Region. Vor allem die AKP selbst stand sinnbildlich für die Aussöhnung des Islam mit der modernen Gesellschaft, indem sie neoliberale Wirtschaftsreformen mit einem zutiefst religiösen Wählerstamm zu verbinden vermochte. Doch inzwischen ist die Bilanz des politischen Islam an der Regierungsmacht beider Staaten desaströs. In Ägypten bildete sich noch zu Beginn des Jahres 2013 eine große Protestbewegung gegen die Regierung der Muslimbruderschaft (die Tamarod-Bewegung) und das ägyptische Militär nutzte das innenpolitische Chaos, um Mohammed Mursi im Sommer 2013 gewaltsam abzusetzen. Seitdem kontrolliert es den Staat nahezu absolut.15 Die Türkei und ihr politisches Doppelgespann, Ministerpräsident Davutolgu (*1959) und Präsident Erdogan (*1954), spielen derzeit mit der Rolle der Türkei als Flüchtlingsbollwerk für Europa ihre wahrscheinlich letzte außenpolitische Trumpfkarte aus. Als politisches Reformvorbild für den Nahen Osten und Nordafrika können sie dagegen nicht mehr gelten. Der Friedensprozess mit den Kurden wurde beendet und durch umfangreiche Militäraktionen ersetzt, die junge Zivilgesellschaft wird nach der Niederschlagung der Gezi-ParkProteste Mitte 2013 weiterhin von der politischen Teilhabe ausgeschlossen und die Pressefreiheit gerät immer mehr zum Opfer staatlicher Repressionen. DER EINZIGE AUSWEG? LIBERALES ISLAMISCHES DENKEN IN DER EUROPÄISCHEN DIASPORA Die politischen wie auch intellektuellen Konsequenzen des gescheiterten Arabischen Frühlings sind letztlich zutiefst ambivalent. Trotz des Sturzes von vier jahrzehntelangen Machthabern – Husni Mubarak (*1928), Ben Ali (*1936), Muammar Gaddafi (1942–2011) und Ali Abdullah Sali (*1942) – befindet sich die Region südlich und östlich des Mittelmeeres wohl in ihrer stärksten Krise seit der blutigen Phase der Dekolonisation. Die fürchterlichen internationalisierten Bürgerkriege in Syrien und im Irak, die enormen staat­lichen 15 

Vgl. die Ergebnisse meiner eigenen Untersuchung zur Muslimbruderschaft und der AKP: Thorsten Hasche, Quo vadis, politischer Islam. AKP, al-Qaida und Muslimbruderschaft in systemtheoretischer Perspektive, Bielefeld 2015, S. 242–280 u. S. 304–314.

Repressionen in Ländern wie Ägypten und die sich weiter entfaltende Autokratie in der Türkei treiben einen beträchtlichen Flüchtlingsstrom nach Europa. Es ist paradox, dass am Ausgangspunkt dieser Krise ausgerechnet diejenigen Proteste und politischen Prozesse von 2010 bis 2013 standen, die aus einer breiten gesellschaftlichen Schicht heraus artikuliert und initiiert wurden und von ihrer Zusammensetzung am ehesten dem westlichen Modell Thorsten Hasche  —  Liberalismus im Islam

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eines Bürgertums entsprachen. Gerade in jenem welthistorisch besonderen Moment, in dem eine transnationale Protestbewegung von den autoritären politischen Regimen Freiheit, Mitbestimmung und Würde einforderte, waren die gesellschaftlichen Triebkräfte zu divers, um aus einer kurzzeitigen Öffnung der politischen Arenen heraus langfristig liberale Ordnungen erzeugen zu können. So herrscht in der arabischen Welt heutzutage wieder der Antagonismus zwischen autoritären Sicherheitsstaaten, die jegliche politische Mobilisierung blockieren, und dschihadistischen Gruppierungen, die weiterhin ihr ideologisches Heil in einer rückwärtsgewandten Utopie der früh­ islamischen Zeit suchen und mit Gewalt durchsetzen wollen. Da die Öffentlichkeit in der arabischen Welt somit auf absehbare Zeit kaum Raum für eine freie Auseinandersetzung mit den politischen Problemen der Gegenwart bieten wird und gleichzeitig die höchst umstrittene und zutiefst kontrovers debattierte Migration von Muslimen nach Europa anhält, bleibt es mehr als angebracht, abschließend über das islamische Reformpotenzial in der europäischen Islam-Diaspora zu reflektieren. Einen Anknüpfungspunkt bieten dabei die Überlegungen des Göttinger Islamologen Bassam Tibi zum Euro-Islam.16 Seine Erörterungen fragen nach den Bedingungen und den grundlegenden Werten, unter denen eine Integration von Muslimen gelingen könne. Pluralismus, säkulare Demokratie und Zivilgesellschaft sind seine Schlüsselbegriffe, die jedoch von einer neuartigen und freien Interpretation des Korans begleitet werden müssten.17 Die Verbindung von zentralen Komponenten der politischen Ideengeschichte Europas bzw. des Westens mit einer neuen Hermeneutik des Korans erscheint vielversprechend, da sie das Spannungsverhältnis zwischen

16  Vgl. das Plädoyer von Bassam Tibi, Euro-Islam. Die Lösung eines Zivilisationskonfliktes, Darmstadt 2009. 17  Vgl. ebd., S. 42 ff. 18  Mouhanad K ­ horchide, Islam ist Barmherzigkeit. Grundzüge einer modernen Religion, Freiburg 2013.

westlichem Ideenimport in den Orient und der islamischen Suche nach Authentizität zu mildern und gleichermaßen eine Rationalisierung der islamischen Theologie zu ermöglichen vermag. Ein spannender Proponent eines möglichen »Euro-Islam« ist der in Münster lehrende Professor für Islamische Religionspädagogik Mouhanad Khorchide mit seinem Buch »Islam ist Barmherzigkeit«18. Sein Ansatz einer humanistischen Koran-Hermeneutik ist deshalb so überzeugend, weil er die für ein liberales islamisches Denken so relevanten Themenbereiche wie etwa das Mensch-Gottes-Verhältnis, das Menschenbild im Islam sowie den schillernden und oftmals falsch verstandenen Begriff der Scharia in kritischer Reflexion untersucht. Die List der geschichtlichen Vernunft unserer medial und öffentlich so stürmischen Zeiten liegt daher vielleicht darin, dass mittelfristig die Keime für den Liberalismus im Islam des 21. Jahrhunderts nicht mehr exogen oktroyiert, sondern durch eine neue Generation von Muslimen in Europa endogen induziert werden.

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Liberalismus — Analyse

Dr. Thorsten Hasche  arbeitet als Lehrkraft für besondere Aufgaben am Institut für Politikwissenschaft der Georg-August-Universität Göttingen. Er lehrt und forscht im Bereich der Internationalen politischen Theorie und zur R ­ egion Nordafrika und zum Nahen Osten.

PORTRAIT

DER »LIBERALISMUS DER FURCHT« JUDITH N. SHKLARS LIBERALISMUSTHEORIE IM KONTEXT ΞΞ Andreas Hess

WIE MINIMALISTISCH IST SHKLARS »LIBERALISMUS DER FURCHT«? Auf den ersten Blick scheint Judith N. Shklars Verständnis von Liberalismus minimalistisch konzipiert zu sein. Die Indizien sind nicht leicht von der Hand zu weisen: Sowohl in ihrem Buch »Ordinary Vices« als auch in ihrem Essay »Liberalismus der Furcht« argumentiert sie, dass es jeder modernen Konzeption von Liberalismus, die einen Anspruch auf Realismus erhebe, darum gehen müsse, Grausamkeit als summum malum, d. h. als größtes Übel, zu verhindern. Die Erfahrungen von Gewalt und Grausamkeit im 20. Jahrhundert bilden offenkundig den historischen Hintergrund von Shklars Argumentation. Gilt es, Grausamkeit und Furcht zu vermeiden oder zu verhindern, dann ergibt sich daraus eine Hierarchie von Lastern oder Sünden. Shklars Buch »Über Ungerechtigkeit« kann man als Kritik an John Rawls’ »Theorie der Gerechtigkeit« verstehen.1 Es lässt sich aber auch als ein Gegenentwurf lesen; denn für Shklar ist Ungerechtigkeit nicht nur die reine Negation oder Abwesenheit von Gerechtigkeit. Sich allein auf das Recht und Vorstellungen von Gerechtigkeit zu stützen, um Ungerechtigkeit zu vermeiden oder ihr irgendwie beizukommen, sei Shklar zufolge vermessen und erschwere, das umfassendere Problem zu diskutieren, nämlich: 1  Vgl. John Rawls, A Theory of Justice, Cambridge MA 1971.

Welche weiteren Facetten und Dimensionen Ungerechtigkeit anzunehmen

2  Vgl. Jeffrie G. Murphy, Injustice and Misfortune, in: Law and Philosophy, Jg. 10 (1991), H. 4, S. 43–46.

Viele Interpreten nehmen Shklar nur im Kontext von Rawls wahr.2 Was

in der Lage ist. dabei jedoch ausgeblendet wird, ist die detailliertere Diskussion der Rolle, die Ungerechtigkeit in Shklars eigenem Werk spielt. »Über Ungerechtigkeit«

INDES, 2016–2, S. 91–102, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2191–995X

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ist, wenn man Shklars Werk im Kontext ihres eigenen Œuvres sieht, keineswegs nur eine Kritik an Rawls, sondern muss, zusammen mit ihrem letzten noch zu Lebzeiten veröffentlichten Buch »American Citizenship«, als der Versuch betrachtet werden, ihrem eigenen Liberalismusverständnis eine im besten Sinne »amerikanische« Wendung zu geben.3 Wer ihre Argumentation in »American Citizenship« verstehen will, muss Shklars eigenen politischen Denkprozess vor dem Hintergrund des Spannungsverhältnisses zwischen Republikanismus und Liberalismus, von dem die amerikanische politische Tradition geprägt wird, nachvollziehen – ein Spannungsverhältnis, das Shklars Liberalismusverständnis wesentlich erhellt. DIE MINIMALISTISCHE ARGUMENTATION IN »ORDINARY VICES« UND »LIBERALISMUS DER FURCHT« Shklars 1984 publizierte Studie »Ordinary Vices« ist in erster Linie der Versuch, die Komplexität von Untugenden und Lastern im Kontext moderner Gesellschaften zu verstehen – Themen also, die bis dahin eher der klassischen Republikanismusdiskussion zugeordnet worden sind.4 Shklar lässt sich dabei vor allem von Montaigne und Montesquieu inspirieren. Es ging, wie sie betont, Montaigne weniger darum, Tugenden positiv hervorzuheben, als Untugenden und insbesondere Grausamkeit und Angst zu vermeiden.5 Daraus ergibt sich Shklars Fragestellung, wie eine moderne politische Theorie aussehen könnte, die der Vermeidung von Grausamkeit Priorität einräumt. Shklar ist sich bewusst, dass eine einfache Beantwortung dieser Frage unmöglich allein innerhalb des Diskursuniversums des klassischen Republikanismus gelingen kann. Das Verständnis dessen, was Privatheit und Öffentlichkeit ausmache, habe sich in der modernen Gesellschaft verschoben;

3  Vgl. Benjamin R. ­Barber, American C ­ itizenship: The Quest for Inclusion (­review), in: Political Theory, Jg. 21 (1993), H. 1, S. 146–153. 4  Vgl. Judith N. Shklar, Ordinary Vices, Cambridge MA 1984.

es sei daher ein vergebliches Unterfangen, neue Probleme allein unter Bezugnahme auf klassische Antworten zu lösen. Shklar zufolge habe sich insbesondere mit Montesquieu ein Diskurswechsel eingestellt.6 Es gehe nicht mehr darum, vom einzelnen Staatsbürger Tugendhaftigkeit zu verlangen oder diese gar in Gesetzen oder Vorschriften positiv niederzulegen, sondern allenfalls darum, sich zivil zu verhalten, Verantwortung zu übernehmen und dem (unpersönlichen) Geist der Gesetze zu folgen. Anders als in ihren Rousseau- und Hegel-Studien versucht Shklar in »­Ordinary Vices«, einem modernen politisch-psychologischen Problem auf den Grund zu gehen: Welche Charakterbildung und welche persönlichen Eigenschaften sind notwendig, um eine liberale Demokratie zu festigen und fortzuentwickeln?7 Was die damit verbundene Unterscheidung von Tugenden

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Liberalismus — Portrait

5  Vgl. Dies., Positive Liberty, Negative Liberty in the United States (French original: Liberté Positive, Liberté Négative En Amérique), in: Les usages de la liberté: XXXIIe Rencontres Internationales de Genève, Neuchatel 1989, S. 121–148. 6  Vgl. Dies., Montesquieu and the New R ­ epublicanism, in: Gisela Bock u. a., ­Machiavelli and Republicanism, C ­ ambridge 1990, S. 244–261. 7 

Vgl. Shklar, Ordinary Vices.

und Untugenden und in diesem Kontext vor allem die Priorität der Vermeidung von Grausamkeit angeht: Dazu habe die moderne politische Philosophie und Theorie wenig Substanzielles beizutragen gewusst. Unter Berufung auf ­Montaigne und Montesquieu argumentiert Shklar nun, dass es weniger darum gehe, einen positiven Tugendkatalog zusammenzustellen, der sozusagen auf ein summum bonum abzielt, sondern vielmehr, wie eingangs erwähnt, darum, ein summum malum zu verhindern.8 Lässt man sich auf Shklars Überlegungen ein, ergibt sich notwendigerweise eine Hierarchie von Lastern, in der die Untugenden von Gewalt und Grausamkeit an der Spitze stehen. Vor allem in modernen Gesellschaften ergibt der Bezug auf das, was früher als klassische Tugenden bezeichnet worden ist, wenig Sinn. Shklar geht den Laster- und Sündenkatalog im Einzelnen durch, von Scheinheiligkeit und Heuchelei (hypocrisy), Überheblichkeit (snobbery) und Arroganz (arrogance) über Verrat und Betrug (betrayal) bis hin zur Menschenfeindlichkeit (misanthropy). Für sie sind all diese Laster viel zu facetten- und konnotationsreich, um sie eindeutig als gut oder schlecht zu klassifizieren.9 Vor allem im Hinblick auf die Spannungen zwischen dem, was privat erlaubt ist, und dem, was öffentlich wünschenswert oder zumindest tolerierbar erscheint, bleiben wichtige Fragen offen.10 So sei etwa Scheinheiligkeit weder im privaten noch im öffentlichen Rahmen willkommen; gleichwohl könne sie positive Funktionen haben, indem sie dem Individuum erlaube, Masken zu tragen und Rollen anzunehmen, und ihm so die Möglichkeit gebe, in der Gesellschaft auf spielerische Art zu bestehen oder seine private Identität zu schützen. Ähnliches gelte für Überheblichkeit und Arroganz, die weder einfach als kriminelle Akte noch als antidemokratische Haltung verurteilt werden könnten. Mit Verrat, Betrug und ganz allgemein dem Hintergehen verhalte es sich noch wesentlich komplizierter – vor allem, weil es sich hier um ernstere Un­ tugenden mit dementsprechend ernsteren Konsequenzen handele. Wie bei den zuvor genannten Lastern gebe es auch hier keinen einzelnen Maßstab, mit dem all diese Untugenden gemessen werden könnten: Was die einen als Verrat am Vaterland verurteilten, sei für andere legitimer Widerstand gegen Grausamkeit, Willkür und Gewalt. Um ein anderes Beispiel zu wählen: Betrug in einer Partnerschaft müsse nicht unbedingt bedeuten, dass der betrügenden Partei unter keinen anderen Umständen mehr Glauben 8  Vgl. ebd., S. 7. 9  10 

Vgl. ebd., S. 2 ff. Vgl. ebd., S. 2–6.

geschenkt oder Vertrauen entgegengebracht werden könnte. Auch die Untugend der Menschenfeindlichkeit, um auf Shklars letztdiskutiertes Laster zu kommen, könne vielfältige Formen annehmen: Sie sei alles andere als selten und insbesondere die Literatur kenne zahlreiche Beispiele, in denen Andreas Hess  —  Der »Liberalismus der Furcht«

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der Misanthrop gegen die Welt, wie sie sei, protestiere. Dies müsse aber nicht notwendigerweise eine schlechte Haltung sein. Shklar kommt zu dem Schluss, dass es angesichts der Erfahrungen des 20. Jahrhunderts weniger darum gehen könne, eine allumfassende liberale Gesellschaftsutopie zu entwerfen und an dem Entwurf eines zu vervollkommnenden Menschen zu arbeiten, sondern dass es vielmehr gelte, ein Rezept zu finden, das der Vermeidung von Grausamkeit, Furcht und Gewalt einen Vorrang einräume. Für Shklar ergibt sich daraus vor allem, dass man dieser Vermeidungsstrategie eine klare Priorität gegenüber der Diskussion der genannten sekundären Untugenden und Laster einräumen müsse.11 Für Shklar könnten moderne liberale Gesellschaften und ihre demokratisch legitimierten Regierungen zwar von den Bürgern verlangen, Gesetze zu respektieren. Aber liberale Demokratien wären eben nicht in der Lage, zu bestimmen oder gar aktiv vorzuschreiben, was gutes moralisches Verhalten sowohl im Privatleben als auch im öffentlichen Raum sei. Es mache daher wenig Sinn, eine für jeden gültige Tugendliste aufzustellen. Am Ende bleibe nur, nach beispielhaften Charakteren Ausschau zu halten, die im Laufe ihres Lebens angemessene Antworten auf die schwierigen Probleme, mit denen sie konfrontiert gewesen seien, gegeben hätten.12 Shklar ist sich darüber im Klaren, dass ihre Reflexionen zum Thema nicht in einer Theorie oder einem großen System resultieren, sondern allenfalls die Widersprüche und die ganz normalen Laster ins Bewusstsein rufen, die das moderne Leben prägen. Nach dem zuvor Gesagten kann kaum überraschen, dass Shklar die Aufgabe der politischen Theorie weniger darin sieht, diese widerspruchsfrei und argumentativ wasserdicht zu machen. Vielversprechender sei, die Aufmerksamkeit auf Rituale, den sozialen Austausch und Umgang sowie auf die Art und Weise zu lenken, wie sie sich in der öffentlichen Sphäre manifestieren.13 Politischer Theorie, so Shklar, solle es weniger um systematische und wasserdichte Konzeptionen gehen als um eine humanistische Psychologie, die den Zusammenhang zwischen Charakterbildung und dem politischen und gesellschaftlichen System erkenne.14 Dabei könne der alleinige Bezug auf klassische republikanische oder traditionell christliche 11 

Vgl. ebd., S. 8 ff. u. S. 32–44. 12 

Vgl. ebd., S. 233 ff.

Werte nicht genügen. Aber auch das Insistieren auf liberalen Rechten, wie es sich die Locke’sche Tradition vorstelle, reiche nicht aus, um der Komplexität moderner Bedingungen zu genügen. Vielmehr gelte zu erklären,

13  14  15 

Vgl. ebd., S. 231. Vgl. ebd., S. 233 ff. Vgl. ebd., S. 237.

warum der Rhetorik fundamentaler Rechte in modernen Gesellschaften überhaupt eine solch zentrale Bedeutung habe zukommen können. Die Antwort auf diese Frage kann für Shklar nur lauten: um Grausamkeit, G ­ ewalt und Furcht zu vermeiden.15 Andreas Hess  —  Der »Liberalismus der Furcht«

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BRINGING THE AMERICAN EXPERIENCE BACK IN – SHKLARS KRITIK AN ISAIAH BERLINS VORSTELLUNG VON NEGATIVER FREIHEIT Man kann Shklars politische Argumentation schwer nachzeichnen, ohne auf ihre Position in der intellektuellen transatlantischen Debatte einzugehen. Für eine lange Zeit nach ihrer Emigration aus Riga nach Kanada und später dann in die Vereinigten Staaten bleiben – das zeigen ihre ersten Bücher »After Utopia« (1957) »Men and Citizens« (1969) und »Freedom and Independence« (1976) – Europa und die europäische Ideengeschichte der Horizont und der zentrale Bezugspunkt für Shklar.16 Das ändert sich erst spät, im Laufe der späten 1970er Jahre, und zeigt sich zuerst in »Ordinary Vices«, vor allem in ihrer Phänomenologie der Untugenden, für die sich Shklar auf zahlreiche Beispiele aus der amerikanischen Lebenswelt bezieht. Auch in ihrem Buch »Montesquieu«, und dort vor allem im letzten Kapitel der Rezeptionsgeschichte dessen Werkes, bezieht sich Shklar insbesondere auf die Montesquieu-Rezeption der Gründergeneration der amerikanischen Republik.17 Das Faszinierende an Shklar ist, dass sie – anders als Hannah Arendt und andere Emigranten – alles daran setzt, eine echte Kennerin der intellektuellen amerikanischen Geschichte zu werden.18 Was bei diesem Unterfangen besonders bemerkenswert erscheint: Shklar erreicht diese Expertise, ohne dabei die europäische Ideengeschichte zu vernachlässigen. Dabei bemüht sich Shklar, die amerikanische Gründergeneration weder zu heroisieren noch ein Hohelied auf den amerikanischen Exzeptionalismus oder Liberalismus anzustimmen – Einseitigkeiten, die nicht selten bei amerikanischen Politikwissenschaftlern und kritiklosen Bewunderern und gelegentlich bei intellektuellen Immigranten anzutreffen sind. Aus Shklars Beschäftigung mit der amerikanischen intellektuellen Tradition und Ideengeschichte sind vor allem zwei Essays hervorgegangen, die als repräsentativ für ihre kritische Haltung und Herangehensweise gelten können: eine Grundsatzrede mit dem Titel »Redeeming American Political Theory«, die Shklar 1990 auf der Jahresversammlung der American Political Science Association (APSA) anlässlich ihrer Wahl zur Präsidentin dieser Organisation hielt;19 und ein längerer Essay, der anlässlich einer Tagung 1980 zuerst auf Französisch erschien, jedoch erst Jahre später in einem posthum veröffentlichten Sammelband einer größeren Leserschaft zugänglich gemacht worden ist: »Positive Liberty, Negative Liberty in the United States«20. Der APSA-Vortrag ist der Versuch einer Bilanz. In ihrer Rede geht es Shklar vor allem darum, gegen simplifizierende Annahmen wie den amerikanischen Exzeptionalismus und die damit oft einhergehende Vorstellung vom Siegeszug

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16  »Legalism«, eine Studie, in der es um die Verbindung von Recht und Rechtsprechung in politischen Kontexten geht, ist eine Ausnahme; vgl. dazu Judith N. Shklar, Legalism: An Essay on Law, Morals, and Politics, Cambridge MA 1964. Für eine umfassendere Darstellung der Entwicklung von Shklars politischer Theorie siehe Andreas Hess, The Political Theory of Judith N. Shklar. Exile from Exile, New York 2014. 17  Vgl. Judith N. Shklar, ­Montesquieu, Oxford 1987, S. 111–126. 18  Vgl. Hess, The Political Theory of Judith N. Shklar; Ders., Gesellschaftspolitisches Denken in den USA, Wiesbaden 2013; Ders., »The Social« and »The Political«. A comparison of the writings of Judith N. Shklar and Hannah Arendt on America, in: Atlantic Studies, Jg. 2 (2005), H. 2, S. 219–233. 19  Vgl. Judith N. Shklar, Redeeming American Political Theory, in: ­American Political Science Review, Jg. 85 (1991), H. 1, S. 3–15. 20  Siehe Dies., Positive Liberty.

des Liberalismus zu argumentieren und die Konturen einer alternativen und stärker am wirklichen Geschehen orientierten politischen Ideengeschichte zu skizzieren. Zugleich bemüht sich Shklar, die amerikanische politische Theorie nicht isoliert zu betrachten, sondern als etwas, das sich oft im Dialog mit Europa und dessen Ideengeschichte entwickelt habe – selbst wenn man zugestehe, dass die Bedingungen, unter denen die amerikanische Republik entstanden sei, besonderen historischen Konstellationen geschuldet seien. Shklar beabsichtigt, ein realistischeres Bild einer widerspruchsvollen Realität zu gewinnen. Nicht alles sei so glanzvoll gewesen, wie es manchem Betrachter im Rückblick erscheine.21 Die Gründung der Republik als Ausgangspunkt des einzigartigen historischen Siegeszugs des amerikanischen Liberalismus zu feiern, verkenne deren komplexe Geschichte: Zwar treffe zu, dass in Amerika das Wahlrecht zumindest der erwachsenen und weißen Wählerschaft früher als irgendwo anders garantiert gewesen sei und neben dem Föderalismus auch ein verfassungsmäßiger Rahmen bestanden habe. Aber genauso stimme auch, dass zur selben Zeit Sklavenhaltung und Sklavenhandel existierten und legal gewesen seien (selbst wenn man zugestehe, dass einige Staaten der USA weniger in diese Aktivitäten involviert gewesen seien als andere).22 Bis zum Ende des amerikanischen Bürgerkriegs und der Verabschiedung des 14. Zusatzartikels mache es daher wenig Sinn, die amerikanische Gesellschaft als liberal zu bezeichnen.23 Shklar betont, dass die amerikanische Politikwissenschaft in der Tat zur demokratischen Diskussion und Entwicklung beigetragen habe – selbst wenn sie sich dessen nicht immer bewusst gewesen sei.24 Ein wesentlicher Beitrag bestand in der Betonung empirischer Fakten, die von der Fokussierung auf führende charismatische Gestalten wegführte und langfristig auf die stärkere Inklusion des normalen Staatsbürgers in das demokratische Geschehen ab21  Vgl. Dies., Redeeming American Political Thought, hg. von Stanley Hoffmann u. a., Chicago 1998, S. 91–108, hier S. 90 ff. 22  Vgl. hier und im Folgenden ebd., S. 92 ff. 23 

Vgl. ebd., S. 92.

24 

Vgl. ebd., S. 93.

zielte. So ließen sich bereits in den Diskussionen der Gründergeneration und insbesondere im Umfeld der Verfasser der »Federalist Papers« politiktheoretische Ordnungsvorstellungen beobachten, in denen es nicht nur um negative Freiheiten ging, sondern um weiterreichende Vorstellungen von Demokratie.25 Und Kontroversen um positive normative Gehalte hätten, so Shklar, nicht nur unter den amerikanischen Gründervätern stattgefunden – auch von bekannten Intellektuellen wie Ralph Emerson und Nathaniel ­Hawthorne seien im Laufe des 19. Jahrhunderts Vorstellungen artikuliert worden, in denen es

25  26 

Vgl. ebd., S. 94 ff. Vgl. ebd., S. 101 ff.

nicht nur um die Bewahrung negativer Freiheiten gegangen sei.26 Demokratische Reformen erschöpften sich für diese öffentlichen Intellektuellen eben nicht in Wunschdenken und radikalen Gesten, sondern bestanden in einem neuen spirit of discovery und einem gewandelten Verständnis Andreas Hess  —  Der »Liberalismus der Furcht«

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von civic mindedness und duty.27 Solche Rhetorik wandte sich gegen klassische republikanische Vorstellungen von Tugenden, wie sie vor allem in den Südstaaten hochgehalten wurden: Großzügigkeit, Pflichterfüllung, Ehre und das Eintreten für das öffentliche Wohl.28 Gleichwohl sollte es nach dem Bürgerkrieg und der Periode der Reconstruction noch fast hundert Jahre dauern, bis die Bürgerrechte und ein positives Verständnis von Gerechtigkeit sich durchzusetzen begannen. Wie Shklar unter Berufung auf die intellektuelle Geschichte der amerikanischen Politikwissenschaft zeigt, war der Weg, der zu diesem neuen und modernen amerikanischen Verständnis von Gerechtigkeit führte, alles andere als geradlinig. Als Beispiele führt sie die wenig erfolgreiche Phase der Reconstruction nach dem Amerikanischen Bürgerkrieg einerseits, die Phase des Sozialdarwinismus bis hin zur Eugenics Movement andererseits an.29 Den wiederkehrenden Herausforderungen zu begegnen und Bürgerrechte sowie ein positives Verständnis von Rechten zu reklamieren und zu verteidigen, bedurfte vielfach des Protests der vom demokratischen Prozess Ausgeschlossenen und der Intervention der mit ihnen sympathisierenden Intellektuellen und anderer Fürsprecher.30 Shklar begründet ihre Position in einer kritischen Auseinandersetzung mit dem negativen Freiheitsverständnis Isaiah Berlins. In einem seiner bekanntesten und einflussreichsten Essays, »Two Concepts of Liberty«31, hatte Berlin argumentiert, dass zwischen einem positiven und einem negativen Verständnis von Rechten und Freiheiten unterschieden werden müsse. Negative Freiheit sei die Möglichkeit, unsere Vorstellungen zu verwirklichen, ohne sich dabei auf Macht, Druck oder Gewalt zu stützen. Im Gegensatz dazu handele es sich bei positiver Freiheit um den Sieg eines »höheren Selbst« über niedere Leidenschaften und Interessen.32 Shklar betont, dass die Berlin’sche Unterscheidung vielleicht im Kalten Krieg einen Sinn gehabt habe; besonders als es darum gegangen sei, die

27  Vgl. ebd., S. 102 f. 28  Vgl. ebd., S. 103.

Idee von negativer Freiheit in liberalen Demokratien vor einem totalitären Verständnis positiver Freiheiten zu bewahren.33 Aber selbst wenn man sich diesen Zeitkern vergegenwärtige, ergebe diese letztlich auf Locke zurückgehende Unterscheidung von einem liberalen und einem totalitärem Verständnis von Freiheit und Rechten wenig Sinn, sofern man sie auf die Geschichte der Vereinigten Staaten beziehe.

29  Vgl. ebd., S. 104 ff. 30  Vgl. ebd., S. 108. 31  Siehe Isaiah Berlin, The Proper Study of Mankind, hg. von Henry Hardy u. a., London 1997.

Für Shklar existieren Rechte und Freiheiten nicht außerhalb konkreter historischer Bedingungen und schon gar nicht unabhängig von spezifischen gesellschaftlichen und politischen Konstellationen. Sie hebt hervor, dass das amerikanische Verständnis von Rechten und Freiheiten nicht einer

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32  Vgl. Shklar, Positive Liberty, S. 111. 33  Vgl. ebd., S. 113.

Hegelianischen Phantasie, sondern dem realen Kampf zwischen Herren und Sklaven entsprungen sei.34 Die Bezugnahme auf Rechte war ein unabdingbarer Bestandteil dieses Kampfes. Zugleich aber war er nur der Anfang. Im Verlauf von mehr als zwei Jahrhunderten wurde dieser Kampf um das Recht, Rechte zu haben, zum Ausgangspunkt aller anderen persönlichen Rechte, wie die Geschichte des amerikanischen Konstitutionalismus klar bezeugt. Shklar ist sich der widersprüchlichen Form der frühen amerikanischen Republik, die Sklaverei als legal ansah, gleichzeitig aber auch vorgab, persönliche Freiheiten zu respektieren und zu schützen, bewusst. Sie erklärt diese schizophrene Haltung mit der Wirksamkeit einer politischen Moral, die sich auf den Konsens der Regierten berufen habe – einen Konsens, der allerdings historischen Bedingungen geschuldet gewesen sei, die sich hätten ändern und radikal infrage gestellt werden können. Dies nicht zuletzt deswegen, weil es in einer derart komplex zusammengesetzten Republik (compound republic) wie der amerikanischen miteinander konkurrierende souveräne Kräfte gebe – hier das Volk und seine repräsentativen Institutionen (rule of polity), dort die an die Verfassung gebundene Rechtsprechung (rule of law).35 In der Spannung und dem vielschichtigen Verhältnis zwischen diesen beiden Kräften wirkte zum einen der legale Rahmen der kolonialen und revolutionären Vergangenheit nach, zum anderen ein generelles Misstrauen gegenüber jeder Regierung und schließlich eine Unsicherheit im Selbstbewusstsein, wie sie für die junge Republik charakteristisch war.36 Shklar verweist noch auf einen weiteren Aspekt: In Amerika war der historische Prozess offen und diese Offenheit half, eine positive Rechtstradition zu etablieren.37 Berlins Auffassung von Freiheiten und Rechten dagegen ignorierte diese amerikanische Geschichte und den Kampf um die Abschaffung der Sklaverei. Positive Freiheit ist etwas, das keineswegs nur an »niedere Leidenschaften« appelliert, wie es Berlin provozierend formuliert hat. Positive Freiheit mündet insofern nicht zwangsläufig in Assoziationen mit einem umfassenden Gesellschaftsprogramm oder gar sozialistischen Utopien. Zuerst und vor allem garantiert sie die Gewährleistung der wichtigsten Rechte: das Recht zu wählen, sich friedlich zu versammeln, seine Meinung frei auszusprechen usw. 34  Vgl. ebd., S. 122. 35  Vgl. ebd., S. 113.

Das amerikanische Problem bestand in erster Linie in der Existenz einer Republik, die zwar politisch egalitäre Institutionen vorsah, zugleich aber eine zutiefst ungleich organisierte bürgerliche Gesellschaft besaß. Erst im Verlauf

36  Vgl. ebd., S. 125. 37  Vgl. ebd., S. 113. 38  Ebd., S. 125.

des 19. und 20. Jahrhunderts demokratisierte sich die amerikanische Republik – dies vor allem mithilfe schwer erkämpfter positiver Rechte. In den Worten Shklars: »the right to fight for one’s own rights and for other specific rights is the most important of all freedoms«38. Andreas Hess  —  Der »Liberalismus der Furcht«

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POSITIVE WENDUNGEN: FACES OF INJUSTICE UND AMERICAN CITIZENSHIP Shklar verteidigt eine positive Freiheit, die sich zugleich ihrer Beschränkungen bewusst ist. Amerika hing nie einem umfassenden Modell sozialer Gerechtigkeit und Gleichheit an und versuchte noch weniger, ein solches politisch umzusetzen. Dieser Umstand hindert Shklar aber nicht daran, sich mit dem Problem der Ungerechtigkeit eingehender zu beschäftigen. Wichtig ist hier zunächst die Einsicht, dass Shklar einen Paradigmenwechsel im Sinn hat. Es geht ihr weder – wie John Rawls (1971) oder Michael ­Walzer (1983) – um eine systematische und umfassende Begründung von Gerechtigkeit oder um deren verschiedene Dimensionen noch – wie ­Ronald Dworkin (1977) – um die Begründung von Rechten und Rechtsansprüchen. Im Vordergrund steht zunächst einmal die genauere Verortung der Ungerechtigkeit selbst, die Shklar eben nicht nur als die Kehrseite von Recht und Gerechtigkeit ansieht. Bereits in ihrem Buch »Ordinary Vices« schneidet Shklar das Thema der Ungerechtigkeit und ihrer Konsequenzen im Kontext von Untugenden und Lastern mehrmals an; zunächst freilich ohne dies weiter zu vertiefen. In ihrer phänomenologisch anmutenden Darstellung bezieht sich Shklar immer wieder auf die skeptische Tradition von Platon bis Montaigne.39 Für sie es ist kein Zufall, dass diese skeptische Tradition keine systematische Theoriebildung betrieben oder Systeme begründet, sondern in erster Linie theorieinspirierte Erzählungen produziert habe.40 Anders formuliert: Um Ungerechtigkeit zu erkennen, so Shklar, bedürfe es nicht nur einer anderen Perspektive, die man als Perspektive der Opfer bezeichnen könne, sondern auch eines anderen Präsentations- und Erzählstils. Zugleich gelte, Übertreibungen oder selbststilisierten Opfern gegenüber wachsam zu bleiben. Shklar betont, wie wichtig es sei, dem subjektiven Empfinden von Opfern Gehör zu schenken, ohne dabei reine Viktimologie zu betreiben. Dabei sei nicht immer und unter allen Umständen möglich, sämtlichen subjektiven Selbstwahrnehmungen von Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen oder sie empathisch zu begleiten.41 Hinzu komme, dass Opfererfahrungen unterschiedlich artikuliert würden und das psychologische Befinden der Opfer auf sehr verschiedene Weise öffentlich präsentiert werden könne. Die Frage des Opferseins kompliziere sich zudem durch gegebene soziale und politische Umstände. Nicht selten werde Opfern unterstellt, an ihrer Situation selbst schuld zu sein oder zumindest einen Eigenanteil daran zu haben. Politisch und gesellschaftlich könnten Opfer ebenfalls benutzt oder ausgenutzt werden. Passive Ungerechtigkeit sei ein Faktor, den man ebenfalls in

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39  Vgl. Judith N. Shklar, Über Ungerechtigkeit, Berlin 1992, S. 38 ff. 40  Vgl. ebd., S. 51 u. S. 55. 41  Vgl. ebd., S. 65 ff.

Rechnung stellen müsse. Schon Cicero habe passive Zuschauer und unterbliebene Hilfeleistung als ein Zurückfallen hinter den erwartbaren persönlichen Standard staatsbürgerlicher und ziviler Umgangsweise kritisiert. Oft würden Geschehnisse auch »naturalisiert« und als ein Unglück bezeichnet, dem mit direkter Hilfe nicht beizukommen sei, womit unterlassene Hilfe und Indifferenz entschuldigt würden.42 Shklar bleibt also skeptisch, was die modernen Errungenschaften von Recht und Gerechtigkeit angeht.43 Sie erinnert daran, dass auch moderne politische Demokratien nicht immer die selbstgesetzten Normen erfüllen würden. Das gelte für substanzielle Reformen ebenso wie für die Rechtsprechung. Keine noch so perfekte Demokratie werde je in der Lage sein, alles Ungerechtigkeitsempfinden aus der Welt zu schaffen. Wenn dem aber so ist, welche Alternativen bleiben dann? Rousseaus Vorschlag, die vollkommene Republik auf Tugenden oder einen Gesellschaftsvertrag zu gründen – wodurch die persönlichen Freiheiten doch erheblich eingeschränkt würden –, sei der Moderne und ihrem Verständnis von Individualismus und individueller Wahl nicht mehr angemessen.44 Shklars Alternativentwurf besteht in ihrem »Liberalismus der Furcht«, den sie in einem einige Monate vor ihrem Tod publizierten Buch ins Positive wendet. »American Citizenship« besteht nur aus zwei Kapiteln: »Voting« und »Earn­ ing«.45 Im ersten Teil geht es um das Wahlrecht. Shklar beschreibt darin den langen Kampf der schwarzen Bevölkerung und der Frauen um das zentrale Bürgerrecht, zu wählen und gewählt zu werden. So wichtig die Frage der Ein42  Vgl. ebd., S. 69 ff. 43  Vgl. ebd., S. 141 ff. 44  Vgl. ebd., S. 196 ff. 45  Siehe Judith N. Shklar, American Citizenship: The Quest for Inclusion, Cambridge MA 1991.

bindung und Einbeziehung (inclusion) für Staatsbürger auch sei: Shklar argumentiert, dass das Recht, zu wählen, ohne entsprechende soziale Stellung (standing) eine Abstraktion bleiben müsse.46 Gegenseitigen Respekt gebe es nur dort, wo man über die eigenen Angelegenheiten und die eigene Zukunft bestimmen könne; und das sei nur möglich, wenn man ökonomisch nicht vollkommen abhängig sei.47 Shklar weiß um den Wandel im Charakter der Arbeit, der vor allem von der Industrialisierung bedingt worden sei.48 Zugleich aber habe dieser Wandel die Notwendigkeit von gegenseitiger Anerkennung, Respekt und der Ver-

46  Vgl. ebd., S. 2 ff. 47  Vgl. ebd.

teidigung individueller Autonomie nicht überflüssig gemacht. Arbeit sei in diesem Sinne nicht vorrangig eine ökonomische Aktivität, sondern ein wichtiger Bestandteil dessen, was es bedeute, ein Staatsbürger zu sein.49 Shklar

48  Vgl. ebd., S. 93 ff. 49  Vgl. ebd., S. 99. 50  Vgl. ebd.

zufolge ist die Aufgabe von Staat und Gesellschaft, sowohl politische Freiheit als auch soziale Absicherung zu gewährleisten.50 Auf diese Weise bilden das Wahlrecht und ein garantiertes Einkommen die wesentlichen Bestandteile von Shklars Liberalismus der Furcht. Andreas Hess  —  Der »Liberalismus der Furcht«

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SHKLARS POLITISCHE THEORIE ALS SCHARNIER ZWISCHEN TRADITIONELLEM REPUBLIKANISMUS UND MODERNEM LIBERALISMUS Shklars Liberalismus der Furcht ist ein wichtiger Beitrag zum politischen Diskurs der Moderne, weil er zu den wenigen gehört, die den klassischen Republikanismus und die republikanische Tradition wirklich ernst nehmen. Shklars Liberalimusverständnis funktioniert als Scharnier zwischen einer Diskussion um Tugenden und Werte einerseits und den modernen Verhältnissen andererseits, die, ob man will oder nicht, von individuellen Entscheidungen abhängen. Shklar erkennt die Bedeutung des republikanischen Tugenddiskurses an, weiß aber zugleich, dass eine moderne Gesellschaft jeden Tugendterror zu vermeiden hat. Die Frage ist dann, welches Programm als moderne Alternative funktionieren kann. Nach den totalitären Erfahrungen des 20. Jahrhunderts geht es Shklar weniger um ein summum bonum als darum, ein summum malum – Grausamkeit und existenzielle Angst − zu verhindern. Bei Shklars Liberalismus der Furcht handelt es sich in erster Linie um ein transatlantisches Produkt, das in der Auseinandersetzung mit der europäischen Vergangenheit und der europäischen Ideengeschichte entstanden ist, aber auch aus der Einsicht, aus den Geburtsfehlern der amerikanischen Republik zu lernen und eine auf Inklusion und Integration abzielende Gesellschaft anzustreben. Eine solche Vorstellung von Gesellschaft kommt, wie Shklars Überlegungen und Anregungen zeigen, zwar nicht ohne Theorie und Ideengeschichte aus, bedarf aber nicht notwendigerweise systematischer Theoriebildung oder der Komplexität umfassender moderner Gesellschaftstheorien.51 Shklars Beitrag zur politischen Theorie besteht vor allem darin, unhistorische Gegenüberstellungen – wie etwa: klassischer Republikanismus contra moderner Liberalismus – zu vermeiden. Ihre politische Theorie zeichnet sich dadurch aus, dass sie den historischen Realitäten und Konstellationen Rechnung trägt, ohne historistisch und relativierend zu argumentieren.

Dr. Andreas Hess  lehrt Soziologie am University College Dublin und ist Faculty Fellow am Center for Cultural Sociology (Yale). Jüngste Veröffentlichungen: »Gesellschaftspolitisches Denken in den USA« (Wiesbaden 2013), »The Political Sociology of Judith N. Shklar. Exile from Exile« (New York 2014) und »Judith N. Shklar: On Political Obligation. Lectures in Moral Reasoning« (Hg., gemeinsam mit Samantha Ashenden, Yale University Press, i. V.).

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51  Betrachtet man Shklars Beitrag zur Ideengeschichte in seinem Entstehungszusammenhang, wird offenbar, dass Shklars Hang zum theoretischen Minimalismus weniger eine rein politischtheoretische Argumentation und Entscheidung zugrunde liegt als vielmehr eine lebensgeschichtliche Erfahrung: das Exil. Hinzufügen muss man hier allerdings, dass es sich in Shklars Fall um ein besonderes Exil handelte, sozusagen um ein Exil vom Exil, das ihr erlaubte, eine Haltung einzunehmen und eine theoretische Position zu erarbeiten, die sich von anderen Erfahrungen der Emigration und des Exils mit jüdisch-deutschsprachigem Hintergrund erheblich unterschied. Hier ist nicht der Ort, um diese These ausführlich zu begründen oder umfassend darzustellen; für eine entsprechende Erläuterung siehe Hess, The Political Theory of Judith N. Shklar.

DIE GRÜNEN ALS LIBERALE PARTEI? EINE WARNUNG VOR ALLZU MÜHELOSEN HÄUTUNGEN ΞΞ Reinhard Loske

»Es liegt nicht viel Befriedigendes darin, wenn man sich die Welt so denkt, dass für die freie Tätigkeit der Natur nichts übrig bliebe, dass jeder Streifen Landes […] in Kultur genommen sei. […] Wenn die Erde jenen großen Bestandteil ihrer Lieblichkeit verlieren müsste, den sie jetzt Dingen verdankt, welche die unbegrenzte Vermehrung des Vermögens und der Bevölkerung ihr entziehen würde, […] so hoffte ich von ganzem Herzen im Interesse der Nachwelt, dass man schon viel früher, als die Notwendigkeit dazu treibt, mit einem stationären Zustande (der Wirtschaft) sich zufrieden geben wird.« Dieses Zitat stammt nicht von Novalis (1772–1801), dem bedeutenden ­Vertreter der deutschen Frühromantik und des Strebens nach Harmonie zwischen Mensch und Natur. Es stammt auch nicht von Henry David ­T horeau (1817 1862), dem Propheten des »Rückzugs in die Wälder« und »zivilen Ungehorsams« aus Concord, Massachusetts, der später zum Helden der Hippie-­Bewegung avancierte. Es stammt von John Stuart Mill (1806– 1873), dem vielleicht einflussreichsten liberalen Denker und Ökonomen des 19. Jahrhunderts, genauer: aus seinen 1852 erschienenen »Grundsätzen der ­Politischen Ökonomie«1. Seziert man dieses (freilich relativ verbindungslos neben Mills sonstigem Werk stehende) Zitat, so enthält es fast alle Ingredienzen der heutigen Ökologie- und Nachhaltigkeitsdiskussion: von der Wachstumskritik und dem Plädoyer für eine stationäre Ökonomie über die Wahrung der Naturschönheit und die Kritik der Ressourcenübernutzung bis zur Verantwortung für zukünftige Menschheitsgenerationen. Und unweigerlich fragt man sich, warum 1  Siehe John Stuart Mill, Grundsätze der politischen Ökonomie nebst einigen Anwendungen auf die Gesellschaftswissenschaft, Bd. 2, Hamburg 1852, S. 228.

bis in die Gegenwart hinein lediglich zaghaft versucht worden ist, liberales und nachhaltiges Denken zu integrieren. Dieser Frage soll im Folgenden am Beispiel des Umgangs der deutschen Grünen mit liberalen und libertären Ideen nachgegangen werden.

INDES, 2016–2, S. 103–111, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2191–995X

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ÖKOLIBERTÄRES DENKEN 2.0 Seit der verlorenen Bundestagswahl vom Herbst 2013 wird innerhalb der grünen Partei darüber diskutiert, inwieweit sich politischer Liberalismus und ökologisches Denken zu einer stimmigen Einheit verbinden lassen. Diese Debatte ist nicht ganz neu. Es gab sie schon einmal: In den 1980er Jahren hatten in der damals noch jungen Partei die sogenannten Ökolibertären versucht, freiheitliches Gedankengut als natürlichen Verbündeten im Kampf gegen Zentralismus, staatliche Bürokratie, Umweltzerstörung und die industrielle Zurichtung der gesamten Gesellschaft einzuführen. Dass sich ihre Rezepte – von der Subsidiarität über die Bioethik bis zum »Lob der kleinen Einheit« – in den Folgejahren zu echten Markenzeichen der grünen Realpolitik entwickelt hätten, kann man aber nicht wirklich sagen; auch wenn einzelne Vertreter dieser Richtung (wie Winfried Kretschmann) später in höchste Ämter aufstiegen. Letzten Endes waren die ökolibertären Akzente, die in der unterkomplexen Realo/Fundi-Dichotomie der Grünen unter »realpolitisch« verbucht wurden, nur noch in Spuren erkennbar. Daran änderte auch das Hinzustoßen profilierter Bürgerrechtler aus den neuen Bundesländern in den Wendejahren wenig. Realo zu sein, hieß bei Bündnis 90/Die Grünen Mitte der 1990er Jahre, regieren zu wollen und im politischen Spektrum irgendwo links der Mitte platziert zu sein – was (ganz im Sinne von Joschka Fischer und Jürgen Trittin) einer faktischen Festlegung auf die Sozialdemokratie als einzig denkbarem, ja natürlichem Koalitionspartner gleichkam. Das war machttaktisch, wie die rot-grünen Wahlerfolge von 1998 und 2002 gezeigt haben, zunächst durchaus klug, hatte aber seinen Preis: Als libertär oder liberal wurden die Grünen in der Folgezeit immer weniger wahrgenommen, bei der letzten Bundestagswahl von manchen sogar als das glatte Gegenteil: als staatsfixierte Steuererhöhungsund sauertöpfische Verbotspartei, die bis auf den Teller durchregieren will (»Veggie-Day«). Das war ungerecht und auch von interessierter Seite geschürt, vor allem von der Springer-Presse; aber es fiel auf fruchtbaren Boden. Und die Fixierung der Grünen auf »grüne Industriepolitik« und den »Green New Deal« machte die Sache auch nicht besser; das Ganze hatte (vielleicht ungewollt) eine links-sozialdemokratische Anmutung, die andere glaubwürdiger verkörpern konnten. Da half dann auch das Umschalten auf die ökologische »Kernkompetenz« auf der Zielgeraden des Wahlkampfes nichts mehr. Dass obendrein niemand glaubte, Peer Steinbrück habe auch nur die Spur einer Chance, rot-grüner Bundeskanzler zu werden, tat ein Übriges. Diese Erfahrungen, die das sicher geglaubte Rekordergebnis bei der Bundestagswahl 2013 in ein ernüchterndes verwandelten, bilden den Hintergrund für die Diskussion über die Verbindung von Ökologie, Freiheit und

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Liberalismus innerhalb der Grünen. Nach drei erfolglosen Rot-Grün-Wahlkämpfen (2005, 2009, 2013) und dem Ausscheiden der FDP aus dem Bundestag sind bei vielen Grünen zwei Einsichten gewachsen. Erstens: Drei linke Parteien braucht Deutschland nicht wirklich. Sich irgendwo zwischen SPD und Linken zu platzieren, mal näher an diesen, mal näher an jenen, er-

zeugt weder Authentizität noch Anziehungskraft. Und zweitens: Das politische Erbe des Liberalismus liegt hierzulande brach und harrt der Aneignung. Was läge da für die Grünen also näher, als selbst wieder etwas liberaler zu werden, vom Steuerungsoptimismus zu lassen und die Freiheit zu preisen? Wäre die ganze Operation, vorausgesetzt sie gelänge, nicht eine Art Garant dafür, dass man auf absehbare Zeit bei jeder zukünftigen Regierungsbildung ein Wörtchen mitzureden hätte, sei es Schwarz-Grün, die Ampel, Jamaika oder Rot-Rot-Grün? RISKANTES UMSATTELN Hier soll vor einem allzu glatten und umstandslosen »Umsatteln« gewarnt, zugleich aber gezeigt werden, dass in der Verbindung von Ökologie und ­Liberalismus durchaus Musik steckt, die zum Klingen gebracht werden kann. Nur wenn es zu einer ehrlichen und nicht bloß taktischen Befassung mit liberalen Leitbildern und Ideen kommt, könnten die Grünen einen Teil von diesen (keineswegs alle!) glaubwürdig für sich reklamieren. Würde sich hingegen der Eindruck einstellen, die »Partei der Inhalte« setze nun aus Gründen der politischen Opportunität auf Liberalismus, weil es mit dem grünen Linkskeynesianismus 2013 nicht so recht geklappt habe, wäre das eine schwere Beeinträchtigung der Glaubwürdigkeit mit möglicherweise existenzbedrohenden Folgen. Beginnen wir mit dem, was ganz offenkundig nicht geht, und ziehen dafür Boris Johnson, den konservativen, aber faktisch sehr liberalen ehemaligen Londoner Bürgermeister, Snob, Radler und Förderer von Car-Sharing und Elektromobilität heran. Johnson, ökologisch orientierter Stadtpolitik durchaus zugetan, plädierte unlängst in einem aufsehenerregenden Vortrag in Erinnerung an Margaret Thatcher dafür, Gier als gesellschaftlich nützliche Verhaltensweise zu betrachten und staatlicherseits davon abzusehen, sie allzu sehr einzuhegen. Schließlich brächte sie Wachstum und Dynamik, und ohne bei2  Siehe Boris Johnson, The Third Margaret Thatcher Lecture, URL: http://www.cps.org. uk/events/q/date/2013/11/27/ the-2013-margaret-­thatcherlecture-boris-johnson/ [eingesehen am 26.01.2016].

des gehe es nun einmal nicht. Letztlich bekämen sogar die Armen von dem so erzeugten Wohlstandskuchen etwas ab.2 Dass uns als Gemeinwesen nicht Tugenden wie die Nächstenliebe und die Hilfsbereitschaft voranbringen, sondern Laster wie die Gier und die Eitelkeit, gehörte spätestens seit der berühmten »Bienenfabel« von Bernard Reinhard Loske  —  Die Grünen als liberale Partei?

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Mandeville (1670–1733) zum Strom liberalen Denkens.3 Hierzulande lautete die Umdeutung von Egoismus in Gemeinwohlorientierung durch die »unsichtbare Hand« (Adam Smith)4 der Märkte etwas prosaischer: »Wenn jeder an sich selber denkt, ist an alle gedacht!« Man muss daran erinnern, dass es für diese Sichtweise, garniert mit den Warnungen vor »anstrengungs­losem Wohlstand« und »spätrömischer Dekadenz«, für Guido Westerwelle und seine FDP noch bei den Bundestagswahlen 2009 fast 15 Prozent der Wählerstimmen gegeben hat.5 ÖKO-SCHICKERIA UND SOZIALE KÄLTE Sicher wird es bei den Grünen kaum jemanden geben, der Boris Johnsons oder Guido Westerwelles Thesen zustimmt. Aber wer die städtischen Konflikte um Gentrifizierung etwa in Hamburg oder Berlin etwas genauer verfolgt, dem wird der Vorwurf bekannt vorkommen, die finanzkräftige und grünwählende »Öko-Schickeria« rolle, unter tatkräftiger Mithilfe der Politik, ein Stadtviertel nach dem anderen auf und mache bezahlbaren Wohnraum so zur Mangelware. Man muss dieses Argument nicht unbedingt teilen, um zu erkennen, dass ein herzloser Ökoliberalismus – dem Solaranlagen, Elektroautos und Biosupermärkte wichtig, der Erhalt gewachsener Nachbarschaften, erträgliche Mieten und öffentliche Infrastrukturen für alle jedoch unwichtig sind – nicht Sache der Grünen sein kann. Er wäre ihr Ende! Solch ein Liberalismus kann es also nicht sein. Welcher dann? Man kann es so sehen wie Claudia Roth, heute Vizepräsidentin des Bundestages. Sie verortet den Bürgerrechtsliberalismus gleich ganz bei den Grünen. Schließlich habe die FDP denselben ja bereits vor langer Zeit verraten und sich auf wirtschaftlichen Neoliberalismus verengt. Wenn man sich die Debatten über Minderheitenrechte, gleichgeschlechtliche Partnerschafen, Multikulturalismus oder Internetfreiheit vor Augen hält, lässt sich diesem Argument durchaus eine gewisse Plausibilität abgewinnen. Stets sind es die Grünen, die bei diesen sensiblen Fragen das liberale Fähnlein besonders enthusiastisch schwingen. Aber ist das nicht auch ein (so lautete ja der berechtigte Vorwurf an die FDP) »halbierter Liberalismus« – nur andersherum? Sind die Grünen auch die Partei der freien Berufe, des freien Schaffens, der freien Schulen, der freien Forschung, des freien Wirtschaftens, der Freiheit vor staatlicher Überregulierung? Da möge sich jeder ein eigenes Urteil bilden. Ein glattes »Ja« als Antwort auf diese Fragen wäre jedenfalls unzutreffend. Dafür ist etatistisches Denken bei vielen Grünen zu tief verankert, bis in die eigene wirtschaftliche Basis hinein. Der Kniff, Liberalismus auf Linksliberalismus zu reduzieren und diesen dann bei sich selbst anzusiedeln, bringt die Grünen jedenfalls nicht

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3  Siehe Bernard Mandeville, Die Bienenfabel oder Private Laster, öffentliche Vorteile, Frankfurt a. M. 1980 [Englische Erstausgabe 1714]. 4  Man muss die »invisible hand« von Adam Smith allerdings vor vulgärliberalen und linken Missdeutungen schützen, die insinuieren, er habe einem schrankenlosen Egoismus das Wort geredet. Smith argumentierte aus einer moralischen Warte und war Regulierungen, da wo sie ihm sinnvoll und notwendig erschienen, keineswegs abgeneigt; vgl. Reinhard Loske, Smithsche Brandmauern gegen den Klimawandel. Dankesrede anlässlich der Verleihung des Adam-Smith-Preises, in: Sven Rudolph u. Sebastian Schmidt (Hg.), Der Markt im Klimaschutz, Marburg 2009, S. 239–243. 5  Vgl. o. V., Hartz IV-Debatte: Westerwelle warnt vor Vollversorgerstaat, in: Spiegel Online, 11.02.2010, URL: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/hartziv-debatte-westerwelle-warnt-vorvollversorgerstaat-a-677163.html [eingesehen am 26.01.2016].

nennenswert weiter. Auch andere, etwa die Sozialdemokraten, können für sich mit gewissem Recht sagen, bei ihnen seien die Bürgerrechte ebenfalls gut aufgehoben. Die These von Claudia Roth, das liberale Erbe habe in seinem Kern bei den Grünen bereits eine neue Heimat gefunden, ist deshalb nicht wirklich tragfähig. Ganz gewiss jedenfalls sind Bürgerrechte kein grünes »Alleinstellungsmerkmal« – zum Glück, möchte man anfügen. Also noch einmal: Welche sinnvolle Verbindung von Ökologie und Liberalismus ist möglich? Und: Kann es sein, dass manche ökologischen Einsichten und Notwendigkeiten mit dem politischen Liberalismus gar nicht vereinbar sind? Muss nicht, wer für eine Regionalisierung des Wirtschaftens eintritt, globale Freihandelsregime wie TTIP per se kritisch sehen? Muss nicht, wer den Überkonsum der reichen Industriestaaten als eine der Hauptursachen der globalen Klimakrise ausgemacht hat, der gleißenden Warenwelt und ihrer stetigen Expansion schon im Grundsatz ablehnend gegenüberstehen? Muss sich nicht, wer die Verheißungen des »Menschendesigns« als Weg in die Inhumanität sieht, bei bioethischen und biomedizinischen Fragen wie der Präimplantationsdiagnostik, der embryonalen Stammzellforschung oder der Biopatentierung gegen »liberale« und für restriktive, ja wertkonservative Regelungen einsetzen? Kurzum: Muss, wer die planetaren Grenzen als Realität erkannt hat und um die Beschränktheit des Menschen weiß, »Freiheit in Verantwortung« nicht ganz anders und viel demütiger buchstabieren als der Liberale es tut, dem individuelle Selbsterfüllung das Höchste ist? Hier meine These: Würden die Grünen ihre Gründungsthemen wie Dezentralität, Wachstumskritik oder »menschliches Maß« zurücknehmen und sich auf Leitbilder wie »grüne Technologien«, »grünes Wachstum« oder »grüne Märkte« reduzieren, also gewissermaßen zu einer »grünen FDP« mutieren, würden sie bald austauschbar, vielleicht sogar überflüssig sein. Das heißt aber keineswegs, dass Teile wirklich liberalen Denkens nicht an sozial-ökologische Politikkonzepte anknüpfungsfähig sind. Es mag überraschen, aber gerade in der Umwelt-, der Sozial- und der Wirtschaftspolitik lassen sich besonders tragfähige Brücken zwischen beiden Ideenwelten bauen. ÖKOLIBERALES I: DIE PREISE MÜSSEN DIE ÖKOLOGISCHE WAHRHEIT SAGEN Beispiel Klima- und Energiepolitik: Hier zeigt sich ein zunehmend eklatantes Missverhältnis von ökonomischem Aufwand und ökologischem Ertrag. Obwohl allen klar ist, dass die größten und kostengünstigsten Potenziale zur CO2-Vermeidung in der Einsparung von Energie liegen, fließen Unmengen von Geld in den unkoordinierten Ausbau der erneuerbaren Energien, Reinhard Loske  —  Die Grünen als liberale Partei?

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die sich überdies zunehmend als Problem der Landschaftsverschandelung erweisen. Auch wenn unzweifelhaft ist, dass Wind- und Sonnenenergie in der Energieversorgung der Zukunft tragende Pfeiler sein werden, so ist doch grob fahrlässig, die viel preiswerteren Alternativen der verbesserten Energieeffizienz und der Energieeinsparung links liegen zu lassen. Die beste Kilowattstunde Strom ist diejenige, die nicht erzeugt werden muss, weil sie erst gar nicht gebraucht wird. Eine Politik, die ökologische und freiheitliche Ziele verbindet, würde hier ansetzen. Sie würde einerseits klare Klimaschutzziele über einen langen Zeitraum verlässlich festlegen, damit alle Akteure wissen, woran sie sind. Zum anderen würde sie die Subventionierung der fossilen Energieträger beenden und die der erneuerbaren Energieträger schneller und deutlicher zurückfahren, sie würde der ökologischen Steuerreform eine zweite Chance geben und den Emissionshandel wieder zu einem scharfen Schwert der Klimapolitik machen, kurzum: Sie würde alles dafür tun, dass die Preise die ökologische Wahrheit sagen und so Anreize zu intelligenterer Energienutzung gegeben werden. Die dadurch eingesparten oder zusätzlich eingenommenen Mittel könnten gleichermaßen der Energieeinsparung, der Bekämpfung von »Energiearmut« und der Absenkung der Steuer- und Abgabenlast an anderer Stelle dienen. Den Haushalten und Unternehmen wäre freigestellt, wie sie zum Klimaschutz beitragen wollen: durch verbrauchsärmere Geräte, Maschinen und Fahrzeuge, weniger energieintensive Lebensstile, besser gedämmte Häuser oder eben Solaranlagen und Windräder. Ökologische Zielerreichung und Freiheit bei der Wahl der Mittel gingen Hand in Hand. Projekt Nummer eins einer ökologisch-liberalen Klimaschutzpolitik wäre also die volle Konzentration auf Energieeinsparung durch ökologisch wahre Preise, die nachhaltige Lebensstile, Technologien und Organisationsformen auf breiter Front befördern würden, ohne allzu sehr in die Autonomie von Einzelnen, Haushalten und Unternehmen einzugreifen. Eine solche Energie- und Klimaschutzstrategie würde der Diversität der Gesellschaft gerecht und ihre Kreativität herausfordern, statt alles auf eine (staatlich definierte) Technologie zu setzen und diese hoch zu subventionieren. ÖKOLIBERALES II: GARANTIERTES GRUNDEINKOMMEN FÜR ALLE Beispiel Sozialpolitik: Jedem wahren Liberalen ist eine Sozialbürokratie, die bedürftige Menschen zu Objekten macht, sie durchleuchtet, kujoniert und oft sinnlos antanzen lässt, ein Gräuel. Das sehen auch viele Grüne so, die dem bürokratischen Sozialstaat mit seinen oft entwürdigenden Aktivierungs­ prozeduren in herzlicher Abneigung verbunden sind. Beide haben in der Regel

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ein positiveres Menschenbild, als es in der »Hartz IV-Ideologie« festgeschrieben ist, die freundlich von Fördern und Fordern spricht, aber »Druckaufbau« zur Aufnahme jedweder Erwerbstätigkeit meint. Das Menschenbild, das viele liberal oder grün Gesonnene verbindet, ist das von Hannah Arendt beschriebene vom »tätigen Menschen«, der aus der Suche nach Selbsterfüllung, sozialer Verbindlichkeit und Anerkennung heraus handelt.6 Mag sein, dass dieses positive Bild einen idealistischen Überschuss enthält; aber es ist mindestens so realistisch wie die sozial-paternalistische Annahme, Menschen müssten durch bürokratische »Fachkräfte« zu ihrem Glück gezwungen werden. Ein gutes Instrument zur »Humanisierung« der sozialen Grundsicherung ist das bedingungslose oder garantierte Grundeinkommen, das jedem Bürger einen Anteil an der von der Gemeinschaft erwirtschafteten Wertschöpfung garantiert, und zwar ohne, dass er oder sie sich bürokratischen Antragsprozeduren unterwerfen muss. So steigt die Freiheit, sich ein balanciertes »Tätigkeitsmenü« aus Erwerbsarbeit, Eigenarbeit, Familienarbeit, Nachbarschaftshilfe, gesellschaftlichem Engagement und kulturellem Schaffen zusammenzustellen. Und so sinkt zugleich der Zwang, sich mit Haut und Haaren der auf permanentes Wachstum und permanente Produktivitäts­steigerung ausgerichteten Erwerbswelt auszuliefern. Sicher: Beim bedingungslosen Grundeinkommen gibt es noch offene Fragen, etwa nach seiner Höhe oder dazu, ob es Gegenleistungen wie »Bürgerarbeit« geben sollte; aber als ökologisch-liberales Projekt würde sich die Arbeit an einem solchen neuen Sozialstaatsmodell auf jeden Fall anbieten. Wer eine gute gesellschafts- und wirtschaftspolitische Begründung für das Konzept des bedingungslosen Grundeinkommens sucht, der wird bei dem großen Liberalen Ralf Dahrendorf fündig. Dieser sah früh das Ende der reinen Erwerbsgesellschaft und den Beginn der Tätigkeitsgesellschaft voraus, in der alle Formen menschlichen Schaffens gewürdigt werden: »Das Recht auf Arbeit ist ein Missbrauch der Sprache, da es nicht erzwingbar ist; das Recht, 6  Siehe Hannah Arendt, Vita activa oder vom tätigen Leben, Stuttgart 1960. 7  Ralf Dahrendorf, Ein garantiertes Mindesteinkommen als konstitutionelles Anrecht, in: ­Thomas Schmid (Hg.), Thesen zum garantierten Mindesteinkommen, Berlin 1986; nachzulesen unter URL: http:// www.archiv-grundeinkommen.de/bvfa/dahrendorf.htm [eingesehen am 26.01.2016].

nicht zu arbeiten, ist hingegen ein liberales Prinzip.«7 ÖKOLIBERALES III: EINE NEUE BALANCE VON WETTBEWERB UND KOOPERATION Beispiel Wirtschaftspolitik: Auf den ersten Blick liegen zwischen liberaler und ökologischer Wirtschaftspolitik schier unüberbrückbare Gräben. Während erstere auf Wachstum, Rendite und freie Märkte setzt, betont letztere Nachhaltigkeit, Sparsamkeit und die Einbettung der Märkte in sozial-­ökologische Ziele. Dieser paradigmatische Unterschied ist real und kann auch nicht einfach wegdiskutiert werden. Die scheinbar harmonische Aufhebung der These Reinhard Loske  —  Die Grünen als liberale Partei?

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»Wachstum!« und der Antithese »Nachhaltigkeit!« in der Synthese »Nachhaltiges Wachstum!«, die innerhalb der Grünen mittlerweile nicht wenige Anhänger findet,8 ist denn auch allzu wohlfeil. Sie verkennt, dass ökologische Effizienzgewinne in einer permanent wachsenden Wirtschaft immer wieder durch Mengeneffekte aufgezehrt werden, wodurch der Ressourcenverbrauch unverändert hoch bleibt oder gar ansteigt.9 Zwar ist nicht ausgeschlossen, dass die Entkopplung von Sozialprodukt und Energie- wie Ressourcenverbrauch in Zukunft durch technische Innovationen besser gelingt. Und für einzelne Industrien und Regionen mag durchaus vielversprechend sein, sich auf absehbare Zeit am Leitbild eines »nachhaltigen Wachstums« auszurichten. Aber gesamtpolitisch und perspektivisch ist das vor dem Hintergrund der ökologischen Herausforderungen ein ganz und gar unzureichender Ansatz, der überdies wenig sozio-­kulturelle Strahlkraft entfalten kann. Heißt das nun, dass für liberale Ideen in einer ökologisch orientierten Wirtschaftspolitik gar kein Platz ist? Keineswegs! Bestimmte Handlungsfelder liegen auf der Hand: Die bessere Förderung von mittelständischen Unternehmen und Existenzgründern gehört ebenso dazu wie ein schärferes Vorgehen gegen monopolistische Marktstrukturen und zu hohe Kapitalkonzentration, die Wiederindienstnahme des Bankensektors für die Realwirtschaft ebenso wie ein neues Unternehmensrecht, das Familienunternehmen, Stiftungsunternehmen oder Genossenschaften gegenüber den großen Kapitalgesellschaften nicht länger benachteiligt. Diese Reihe unter der Überschrift »Marktwirtschaft statt Machtwirtschaft«10 ließe sich leicht fortsetzen, bis hin zur dringend notwendigen Vereinfachung des Steuerrechts, das in seiner heutigen Form ge-

8  Siehe Ralf Fücks, I­ntelligent wachsen. Die grüne ­Revolution, München 2013.

rade freiberuflich Tätige und Kreative drangsaliert. Am interessantesten für ein ökologisch-libertäres Projekt in Sachen Wirtschaftspolitik wäre jedoch etwas anderes: Die allerorten sprießenden ­kooperativen Aktivitäten, die heute in ganz Europa unter Überschriften wie »Share Economy«, »Repair Economy«, »Do it yourself & Do it together«,

9  Vgl. Tilman Santarius, Der Rebound Effekt. Ökonomische, psychische und soziale Herausforderungen für die Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Energieverbrauch, Marburg 2015.

»­Collaborative Consumption«, »Commoning«, »Social Banking« oder »Transition Towns« stattfinden, haben das Zeug dazu, unsere Gesellschaft nachhaltig zu verändern – auch wenn sie noch in den Kinderschuhen stecken und keineswegs frei von inneren Widersprüchen sind. Fast immer geht es dabei um sozial-ökologisch motivierte Menschen, die sich aus freien Stücken zu freien Gemeinschaften zusammenschließen, um etwas zu erreichen, eine neue soziale Praxis einzuüben und auf eine neue Art zu wirtschaften.11 Das Libertäre an diesen Projekten ist, dass sie »von unten« wachsen, von autonomen Menschen vorangetrieben werden und sich jenseits der klassischen Staat/

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10  Gerhard Schick, Machtwirtschaft – nein danke!, Frankfurt a. M. 2014. 11  Vgl. Reinhard Loske, Neue Formen kooperativen Wirtschaftens als Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung. Überlegungen zur Wiedereinbettung der Ökonomie in Gesellschaft und Natur, in: Leviathan, Jg. 42 (2014), H. 3, S. 463–485.

Markt-Dichotomie entwickeln. Und das Ökologische an ihnen ist, dass sich durch kooperatives Handeln der Ressourcenverbrauch senken, der Wachstumszwang abbauen und die Resilienz (gegenüber externen Schocks wie Klima-, Energie- oder Finanzkrisen) erhöhen lässt. In einem solchen Ansatz liegen für die Nachhaltigkeit weltweit wahrscheinlich größere Potenziale als im Propagieren ewigwährenden grünen Wachstums. Mir scheint, es wäre eine gänzlich neue Herangehensweise an die Verbindung von Freiheit und Ökologie, Liberalismus und Nachhaltigkeit, wenn sich die Grünen daranmachten, für diese sozialen Innovationen politisch förderliche Rahmenbedingungen zu entwickeln, um ihnen Schritt für Schritt aus der Nische in die Mitte der Gesellschaft zu helfen.12 Ob die Entwicklung einer ökologischen Finanzreform, eines neuen, auf menschliche Autonomie abzielenden Sozialstaatskonzepts und einer gemeinwohlorientierten, sozial-ökologischen Marktwirtschaft die Grünen zu einer liberalen Partei machen würde, hängt vom Verständnis dessen ab, was Frei12  Vgl. Ders., Sharing Economy: Gutes Teilen, schlechtes Teilen?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Jg. 60 (2015), H. 11, S. 89–98. 13  Vgl. Ders., Politik der Zukunftsfähigkeit. Konturen einer Nachhaltigkeitswende, Frankfurt a. M. 2016, S. 201–209. 14  Elmar Altvater, Das Ende des Kapitalismus, wie wir ihn kennen. Eine radikale Kapitalismuskritik, Münster 2005.

heit in Verantwortung vor der Gesellschaft und vor den planetaren Grenzen heute ausmacht. Freiheit kann ja auch Selbstbindung aus Einsicht und freiem Willen bedeuten.13 Das wusste schon Odysseus. Es ist wohl so, dass manche meiner Freunde auf der politischen Linken eher der Meinung sind, dass, solange der kapitalistische Akkumulationszwang nicht überwunden werde, das Reden über eine nachhaltige Wirtschaft und Gesellschaft und über wirkliche Freiheit Wunschdenken sei. Ich will ihnen gar nicht grundsätzlich widersprechen, aber dennoch darauf beharren, dass die Realisierung dessen, was hier nur angerissen werden konnte, das Ende des »Kapitalismus, wie wir ihn kennen«14, bedeuten würde. Ob die Grünen sich das trauen?

Prof. Dr. Reinhard Loske  ist seit 2013 Professor für Nachhaltigkeit und Transformationsdynamik an der ­Universität Witten/Herdecke. Zuvor war er für Bündnis 90/Die Grünen bremischer Umwelt- und Europasenator (2007–2011), Bundestagsabgeordneter (1998–2007) und Mitglied des Parteirats (2000–2010). Er schreibt regelmäßig für die Frankfurter Allgemeine Zeitung und die ZEIT.

Reinhard Loske  —  Die Grünen als liberale Partei?

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PERSPEKTIVEN

ANALYSE

AUF DEM UMWEG ZUR KNECHTSCHAFT? DAS SPANNUNGSVERHÄLTNIS VON NUDGING UND DEMOKRATIE ΞΞ Tom Mannewitz

»Hervorragende psychologische, soziologische, anthropologische, verhaltensökonomische bzw. verhaltenswissenschaftliche Kenntnisse«1 waren gefordert, als das Bundeskanzleramt 2014 drei Referentenstellen für den Planungsstab ausschrieb. Die erfolgreichen Kandidaten sollten später in »kreativen Prozessen neue politische Lösungsansätze […] auf Grundlage vertiefter Situationsanalysen, qualifizierter Interviews […] sowie verhaltenswissenschaftlicher Evidenz« entwickeln. Was zunächst kryptisch und einigermaßen exotisch klang, klärte sich rasch: Mit der Drei-Mann-Task-Force »wirksam regieren« eiferte die Bundesregierung der mittlerweile knapp achtzigköpfigen nudge unit – einst ein Projekt der britischen Regierung, nunmehr eine unabhängige Institution – und der Social and Behavioral Sciences Initiative der USRegierung nach. Auf Basis verhaltensökonomischer Erkenntnisse sollen die Wissenschaftler Lösungen für jene Herausforderungen erarbeiten, die ohne gesellschaftliche Verhaltensänderungen nicht zu meistern sind. Ziel ist, die Instrumente, die hierfür bislang zur Verfügung gestanden haben (Gebote, Ver1  Jan Dams u. a., Merkel will die Deutschen durch Nudg­ ing erziehen, in: Welt online, 15.03.2015, URL: http://www.welt. de/wirtschaft/article138326984/ Merkel-will-die-Deutschendurch-Nudging-erziehen.html [eingesehen am 17.02.2016]. 2  Vgl. hier und im Folgenden Richard R. Thaler u. Cass R. Sunstein, Nudge. Wie man kluge Entscheidungen anstößt, Berlin 2015, S. 240–250.

bote, Vorschriften, ökonomische Anreize oder Überzeugung), durch N ­ udges (dt.: Anstupser/Schubser) zu ergänzen: kleine Tricks, die Bürger in Entscheidungssituationen in diese oder jene Richtung »schubsen«. Eines der zahllosen Beispiele, die Cass Sunstein und Richard Thaler, Namensgeber des »libertären Paternalismus« und findige Vermarkter des Nudg­ ing, dafür anführen, ist die Organspende:2 In Deutschland, wo nach langer Zeit der Zustimmungslösung heute die Pflichtentscheidung gilt, muss jeder, der nach seinem Ableben Organe spenden will, tätig werden und seinen Willen zur postmortalen Spende bekunden. In Österreich, das die Widerspruchslösung praktiziert, gilt jeder als Spender, der sich nicht dagegen ausspricht.

INDES, 2016–2, S. 113–122, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2191–995X

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Das Ergebnis: In Deutschland kamen 2015 auf eine Million Einwohner 10,9, in Österreich hingegen 24,6 postmortale Organspender. Die Ursache sehen Thaler und Sunstein in den unterschiedlichen Standardoptionen, die wegen der geistigen Trägheit der meisten Menschen zu unterschiedlichen Spendenquoten führten und deshalb als Nudge gelten: kleine Änderung – große Wirkung. Solche eindrucksvollen Zahlen erklären, warum politische Entscheidungsträger rasch auf Sunstein und Thaler aufmerksam geworden sind: Steuerpolitik (Ausfüllen der Steuererklärung), Umweltpolitik (klimaverträgliche Konsumentscheidungen), Sozialpolitik (Auswahl der privaten Rentenversicherung) – kein Policy-Feld, auf dem der Staat die Bürger nicht zu dieser oder jener »richtigen« Entscheidung »nudgen« könnte. Auch durch die Flure der Universitäten hallt nun immer häufiger der von Sunstein und Thaler geprägte Terminus technicus. Wohl kaum ein populärwissenschaftliches Buch dürfte in den vergangenen Jahrzehnten in derart vielen wissenschaftlichen Disziplinen für Furore gesorgt haben wie »Nudge«: Juristen, (Verhaltens-)Ökonomen, Psychologen, Mediziner, Soziologen, Philosophen, schließlich auch Politikwissenschaftler fragen nach Nutzen und Schaden des libertären Paternalismus. Disziplinübergreifend verlaufen die Fronten – grosso modo – wie folgt: Befürworter wittern eine Chance, die Menschen zu einem besseren Leben anzuleiten, ohne deren Freiheiten zu beschneiden. Kritiker zweifeln an der Effektivität und unken, Nudging sei nichts anderes als eine moderne, verbrämte Form der Gängelei. Weithin unbeachtet blieb bislang jedoch die Frage, ob und welche Formen von staatlichem Nudging mit demokratisch-konstitutionellen Grundsätzen vereinbar sind.3 Umgekehrt gefragt: Mit welcher Vorstellung von Demokratie gehen die Pläne libertärer Paternalisten zusammen, wo klaffen normative Lücken? Vorliegender Beitrag will hierzu einen Impuls liefern. Nach einer kurzen Skizzierung von Sunsteins und Thalers Konzept will ich auf einige neuralgische Punkte von Nudging hinweisen und die Bedingungen diskutieren, unter denen diese legitim und illegitim erscheinen. NUDGING UND LIBERTÄRER PATERNALISMUS – EINE SKIZZE Sunstein und Thaler bedienen sich bei ihrer Argumentation u. a. der Erkenntnisse populärer Verhaltensökonomen, darunter etwa Daniel Kahneman.4 Demnach denken wir nicht wie ideale, rationale homines oeconomici (»Econs«), sondern wie Menschen und das heißt in erster Linie: fehler- und lückenhaft, häufig nur mit halber Kraft (»Humans«). Aus unseren Entscheidungen spricht häufig nicht das reflektierende, bewusste, rationale (der »Mr. Spock in uns«), sondern das assoziative, unbewusste und intuitive Ich (der »Homer Simpson in

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Perspektiven — Analyse

3  Vgl. aber Alexandra Kemmerer u. a. (Hg), Choice Architecture in Democracies. Exploring the Legitimacy of Nudging, Oxford 2016 (i. E.). 4  Siehe das am häufigsten gelesene, populärwissenschaftliche Werk: Daniel Kahneman, Schnelles Denken, langsames Denken, München 2014.

uns«). Nach ihrer Definition »ist jeder Faktor, der das Verhalten von Humans signifikant verändert, während er von Econs ­ignoriert würde, ein Nudge«5. Indem sie sich unsere alltäglichen, von ökonomischen Entscheidungs­modellen unberücksichtigten Urteilsheuristiken, unsere Selbstüberschätzung, unsere Verlustaversion, unsere Abneigung gegenüber Veränderungen, unsere Bequemlichkeit, unsere Beeinflussbarkeit durch Framing, Priming und Mitmenschen zunutze machen – all das also, was uns von Robotern unterscheidet –, sind Nudges in der Lage, Gebote wie Verbote teilweise zu ersetzen und Verwaltungsstrukturen zu verschlanken. Das paternalistische Element liegt auf der Hand: Das bewusste Design von Entscheidungssituationen soll jenes Handeln begünstigen, das Menschen wählten, wären sie nicht impulsive, emotionale, soziale und vergessliche Wesen. Ebenso zeichne kluge Entscheidungsarchitekturen die Einkalkulierung von Fehlern aus: Nachdem etwa viele Kunden beim Geldabheben ihre EC-Karte im Automaten steckgelassenen hatten (»Post-Completion-­ Error«), ging man dazu über, Geld erst dann auszuzahlen, wenn die Karte wieder entnommen worden war. Sunstein und Thaler empfehlen Nudges immer dann, wenn Entscheidungen und Konsequenzen zeitlich auseinanderfallen (privater Rentenplan, Diät), wenn wir Entscheidungen zwischen komplexen und vielen Lösungen treffen müssen (Welcher Hauskredit bei welcher Bank? Welches Auto? Welcher Karriereweg?) und wenn wir mit etwas konfrontiert sind, das wir noch nie getan haben oder darin ungeübt sind (Autofahren lernen, Steuererklärung ausfüllen). Hier neigen wir zu Entscheidungen, die unseren Interessen widersprechen. Das libertäre Moment bestehe in der Wahrung der Entscheidungsalternativen, sprich: der Freiheit des Einzelnen. Niemandem werde eine Alternative aufgenötigt und laut Definition sollen sich durch Nudges Kosten und Nutzen der Entscheidungsoptionen nicht verschieben. Andernfalls wären Econs dafür nicht weniger empfänglich. LICHT- UND SCHATTENSEITEN DER »STUPSER« Die Kritik am Nudging und am libertären Paternalismus ist Legion: Die vorgeschlagenen Instrumente entsprächen nicht den libertären Grundsätzen, viele der diskutierten Nudges veränderten die Anreizstruktur und widerprächen damit der Nudge-Definition, sehr wohl seien Menschen zu rationalen Entscheidungen fähig, durch subtile Umerziehungsmaßnahmen würden Nudges die Bürger bevormunden. Dagegen richten sich jedoch Sunstein und T ­ haler: Ihnen gehe es darum, »die Entscheidungen der Menschen so zu lenken, 5  Sunstein u. Thaler, S. 19.

dass sie hinterher besser dastehen – und zwar gemessen an ihren eigenen Tom Mannewitz  —  Auf dem Umweg zur Knechtschaft?

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Maßstäben«6. Das hieße, Nudges so zu konstruieren, dass sie den »Homer ­Simpson in uns« zu Entscheidungen führen würden, die auch der »Mr. Spock in uns« guthieße. Das setzt allerdings nicht nur wohlwollende, kluge und uneigennützige Philosophenkönige an den administrativen Hebeln voraus,7 wie Gerd Gigerenzer unlängst ironisch bemerkt hat, sondern auch eine Antwort auf folgende Fragen: Was, wenn »Mr. Spock« keine Präferenz hat, diese sich wandelt oder sich von außen nicht identifizieren lässt? Ein Urteil darüber, ob Nudges demokratiekompatibel sind (und unter welchen Bedingungen), ist nicht leicht zu fällen, weil sie alle höchst unterschiedlich »funktionieren«, d. h. verschiedene menschliche »Makel« adressieren. Allen gemein ist ihr verhaltensändernder Charakter, ohne Handlungsoptionen hinzuzufügen oder auszuschließen und ohne die Anreizstruktur zu modifizieren.8 Die Demokratieverträglichkeit entscheidet sich demnach an der angestrebten Verhaltensweise einerseits, an dem zugehörigen Steuerungsinstrument andererseits. Der offensichtlichste Konflikt liegt – erstens – dann vor, wenn das Verhalten, das staatlich initiierte Nudges bewirken sollen, der Demokratie als Regierungsform zuwiderläuft, wenn also Menschen zu Verhaltensweisen »geschubst« werden, die mit den Grund- und politischen Teilhaberechten anderer (oder ihren eigenen) nicht vereinbar sind, den Rechtsstaat umgehen, den Effekt von Wahlen und Gewaltenteilung untergraben, die Verfassungsgerichtsbarkeit oder generell Staatlichkeit schwächen. Der suggestive Stimmzettel für die Abstimmung, mit der Hitler den Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich am 10. April 1938 nachträglich zu legitimieren suchte, ließe sich so interpretieren. Hypothetische Nudges mit eher sinisteren Absichten wären etwa eine Wahlrechtsreform, nach der jede nicht abgegebene Stimme als Votum für die Regierung gilt; oder: die Registrierung jedes Bürgers mit Vollendung des 18. Lebensjahres als Mitglied derjenigen Partei, die laut Studien seine Interessen am besten vertritt (Austritt oder Wechsel möglich); oder: die automatische Zusendung einer regierungsfreundlichen Zeitung an alle Haushalte (Abo-Kündigung möglich). Der neuralgische Punkt solcherlei Nudges ist der fluide Charakter, der ihnen häufig zu eigen ist. Sie schaffen Freiheitsrechte und demokratische Institutionen zwar nicht ab, unterwandern aber deren Wirkung. Bei staatlich verordneten Nudges – etwa die Verpflichtung von Supermärkten, ihre Speisen in einer bestimmten Weise anzuordnen – ist nicht der Nudge, sondern der Zwang selbst grundrechtsrelevant. Zweitens sind Nudges vermutlich dann mit Demokratie kaum vereinbar, wenn diese auf grundrechtlicher Ebene mehr zu gewähren hat als die bloße

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Perspektiven — Analyse

6  Ebd., S. 15. 7  Vgl. Gerd Gigerenzer, On the Supposed Evidence for ­Libertarian Paternalism, in: Review of Philosophy and Psychology, Jg. 6 (2015), H. 3, S. 361–383, hier S. 376 f. 8  Vgl. Sunstein u. Thaler, S. 15. Eine Reihe von Nudges, welche die beiden Autoren anführen, widersprechen allerdings ihrer Definition von Nudges, weil sie eben doch die Anreizstruktur verändern. Dazu zählen etwa ein erweiterter Führerschein für jene, die ohne Helm Motorrad fahren wollen, oder das »Jeden-Tag-einDollar«-Programm, das jungen Mädchen für jeden Tag, an dem sie nicht schwanger werden, einen Dollar schenkt, um damit Teenager-Schwangerschaften zu verhindern.

Freiheit vor staatlichen Eingriffen. Wer John Lockes naturrechtlicher Freiheitsbegründung (Freiheit, Leben, Eigentum), mithin einem liberalen Verständnis folgt, dem tut sich kein Widerspruch zwischen Demokratie und Nudges auf, da diese per definitionem kein Verhalten erzwingen. Das Argument, Nudges stellten eine Einmischung in private Angelegenheiten, mithin einen Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht dar,9 steht auf tönernen Füßen, da dies für prinzipiell jede staatlich angeordnete Entscheidungsstruktur gilt. Kantianer, mit einem starken Gespür für die Autonomie des Individuums und einem breiteren Freiheitsverständnis, dürften Sunsteins und Thalers Vorschläge demgegenüber massiv verstören.10 Weithin Einigkeit herrscht darin, dass Nudges dann hinnehmbar und sogar wünschenswert sind, falls diese auf authentische und kompetente Entscheidungen hinwirken – indem sie an den Verstand, nicht den Instinkt, appellieren oder kognitive Barrieren abbauen. Sie stärken damit die individuelle Autonomie. Diesem Kriterium dürften u. a. solche Nudges entsprechen, die Menschen überhaupt erst zu Entscheidungen auffordern – wie etwa das deutsche Transplantationsgesetz, das seit einiger Zeit die Krankenkassen verpflichtet, alle zwei Jahre ihre Patienten zur postmortalen Organspende zu befragen. Widerspruchsfristen, sogenannte cooling-down-periods, sind ein weiteres Beispiel dafür, wie Nudges Autonomie stärken – etwa bei Verkäufen am Telefon oder an der Haustür, die, sobald der Hörer aufgelegt, die Tür geschlossen ist, häufig Reue auslösen: »Schon wieder überrumpeln lassen!« Allein die Verlängerung der Entscheidungs9  Siehe Kai P. Purnhagen u. Lucia A. Reisch, »Nudging Germany«? Herausforderungen für eine Verhaltensbasierte Regu­lierung in ­Deutschland, ­Wageningen Working Papers in Law and Governance, H. 9/2015,  S. 24.

phase stellt hier ein Nudge dar. Von größerem Gewicht ist der Einwand gegen Nudges aufgrund ihres manipulativen Charakters: »To manipulate people is to treat them as both tools and fools«11, heißt es. Dies disqualifiziere Nudges zwar nicht a priori, setze allerdings einen hohen Nutzen (Schadenabwendung von Dritten) und die Zustimmung der »Objekte« voraus – ergo: demokratische Abstimmungen

10  Vgl. Chris Mills, Why Nudges Matter: A Reply to Goodwin, in: Politics, Jg. 33 (2012), H. 1, S. 28–36, hier S. 31. 11  T. Martin Wilkinson, Nudging and Manipulation, in: Political Studies, Jg. 61 (2013), H. 2, S. 341–355, hier S. 344–347.

mit einstimmigen Ergebnissen. Diese Forderung kommt einem Verbot gleich. Allerdings ist strittig, ob tatsächlich jedes Nudging einen manipulativen Akt darstellt. Dafür brauchte es (1) eine verhaltenssteuernde Intention, (2) Verborgenheit, (3) die Umgehung vernunftmäßiger Abwägung.12 Abgesehen von der ersten – notwendigen – Bedingung sind die weiteren Elemente hinreichend. Absichtsvolle Beeinflussung wird mithin dann manipulativ, wenn sie im Dunkeln vor sich

12  Vgl. ebd., S. 349; Till Grüne-­ Yanoff, Old wine in new casks: libertarian paternalism still violates liberal principles, in: Social Choice and Welfare, Jg. 38 (2012), H. 4, S. 635–645, hier S. 636.

geht und/oder die Ratio des Einzelnen ausschaltet: (1) Verhaltenssteuernde Intention: Wo keine Absicht, da keine Manipulation. Ob ein staatlicher Nudge allerdings politischer Steuerungsabsicht entspringt, lässt sich kaum nachweisen, da Entscheidungsarchitekturen allgegenwärtig Tom Mannewitz  —  Auf dem Umweg zur Knechtschaft?

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sind und – egal, wie sie zustande kommen – stets zu einem bestimmten Verhalten »anschubsen«: »It is pointless to object to choice architecture or nudging as such. […] We can object to particular nudges, and particular goals of choice architects, and particular forms of choice architecture but not to nudging and choice architecture in general.«13 Klarheit verschaffen können allein die Regierenden, indem sie zugeben, das Verhalten der Menschen in eine Richtung lenken zu wollen. Sie könnten sich eine Debatte über Gängelei und Anmaßung aber ebenso gut ersparen und hinter den verschlossenen Türen der Ministerialverwaltung an Entscheidungsarchitekturen feilen, die das Verhalten der Menschen subtil beeinflussen, und niemand bekäme Wind von ihrer Intention. Im Nachgang ließe sich das Steuerungsmotiv dann unter Verweis auf die Unvermeidbarkeit von Entscheidungsarchitekturen verschleiern. Findige Politiker könnten etwa die eID-Funktion zur Standardoption bei einer Beantragung oder Verlängerung des Personalausweises machen, um die Verbreitung dieser Zusatzfunktion zu fördern. Die Bürger müssten ihren Widerspruch durch ein Kreuz in einem Kästchen kenntlich machen. Durch eine derartige Entscheidungsstruktur, die den Status-quo-Bias ausnutzt, wiese der Online-Ausweis vermutlich nach einiger Zeit eine beträchtliche Abdeckung auf. Die politische Intention ließe sich nachträglich kaum beweisen. Die eID-Option musste schließlich irgendwie bekanntgemacht werden, wäre eine wahrscheinliche Antwort. (2) Verborgenheit: Nudges sind dann manipulativ, wenn sie hinter dem Rücken der »Opfer« wirken. Sobald sie an das Licht der Öffentlichkeit gelangen, verflüchtigt sich ihr manipulativer Charakter – und zwar umso mehr, je bekannter das angestrebte Verhalten und das Nudging-Instrument sind. Nach öffentlicher Deliberation ist der Bürger zwar noch »tool«, aber nicht mehr »fool«. Wegen der faktischen Nichtnachweisbarkeit manipulativer Absichten liefe dies auf eine breite öffentliche Debatte aller von staatlicher Seite dem Bürger angebotenen Entscheidungsarchitekturen hinaus. Eine Alternative zu einer dadurch begünstigten Verdachtskultur wäre eine unabhängige Kontrollinstanz – ein Nudging-Sachverständigenrat –, die regelmäßig darüber berichtet, zu welchem Verhalten die in den jüngeren Gesetzen enthaltenen Entscheidungsarchitekturen die Bürger allem Anschein nach »schubsen«. Ein solches Gremium schüfe nicht nur eine gewisse Transparenz gegenüber intentionalem Nudging, sondern würde vermutlich in der Legislative auch das Bewusstsein für unbewusste »Anstupser« steigern. Die Schattenseite: Das Bewusstsein für ein Nudge mindert häufig dessen Effektivität. (3) Die Umgehung vernunftmäßiger Abwägung: Selbst dann, wenn das Steuerungsmotiv, das angestrebte Verhalten und die Wirkungsweise von

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Perspektiven — Analyse

13  Cass R. Sunstein, The Ethics of Nudging. The Harvard John M. Olin Discussion Paper ­Series No. 806, Cambridge 2015, S. 5.

­Nudges offen zutage liegen, sind diese manipulativ, wenn sie das eigenständige, rationale Denken umgehen oder sabotieren. Das trifft etwa auf Lügen zu sowie auf Versuche, Menschen zu Entscheidungen wider besseres Wissen zu verleiten oder ausschließlich das assoziative, unbewusste und intuitive Ich anzusprechen. Dazu zählen auch Emotionen wie Angst, solange sie nicht lediglich als »Türöffner« zu einem eigenständigen Denkprozess dienen: »­ ­[A]t least some degree of manipulation is involved whenever a choice architect is targeting emotions or seeking a formulation that will be effective because of interaction with people’s intuitive or automatic thinking.«14 Erhöhen solche Nudges hingegen unsere Sensibilität für bestimmte Argumente, die wir sonst vernachlässigten, sind sie akzeptabel. Bei aller berechtigten Kritik am Nudging: Sie trägt der Philosophie auch den Ruf einer rein akademischen Übung ein, denn sie argumentiert im politischen Vakuum. Nudges sind jedoch in eine politische und soziale Umwelt eingebettet. Und die Frage, was zuvor dort gewesen ist, wo nun ein Nudge ist oder hin soll, trägt wesentlich zu einer demokratietheoretischen Evaluation bei: Die Argumente gegen Nudging büßen dann an Strahlkraft ein, wenn ­Nudges nicht als zusätzliches Steuerungsinstrument vorgesehen sind, sondern ­Policy-Tools ersetzen sollen, die der individuellen Autonomie viel stärker zu Leibe rücken – etwa ökonomische Anreize, Direktiven, Gebote und Verbote. Entscheidend ist demnach, ob Nudges eine bestehende Entscheidungsarchitektur reformieren oder eine neue Entscheidungsarchitektur bedeuten. Aus meiner Sicht verfängt keines der autonomiebasierten Gegenargumente, wenn Menschen dort die Möglichkeit erhalten, sich zu entscheiden, wo sie wegen Sanktionen (positiv wie negativ) zuvor zu einem bestimmten Verhalten gleichsam gezwungen gewesen sind. Ob die neue Entscheidungsfreiheit überhaupt wünschenswert ist, steht auf einem anderen Blatt. Angenommen, die niederländische Regierung entschließt sich dazu, die Beutel, in denen Marihuana verkauft wird, mit Warnhinweisen zu versehen – etwa: »Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie von Marihuana abhängig werden, liegt bei zehn Prozent.« Ein solcher Text, der eine relevante Information in einem bestimmten Frame15 vermittelt und die Verlustaversion der Leute aktiviert, soll den gesellschaftlichen Konsum im Zaum halten, wie die Regierung 14 

Ebd., S. 24 f.

zuvor erklärt hat. Angenommen auch, die deutsche Bundesregierung würde sich zeitgleich auf einen ähnlichen Nudge einigen, so wäre dieser hier – selbst

15  Dieselbe Information vermittelte folgender Satz: »Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie von Marihuana nicht abhängig werden, liegt bei etwa neunzig Prozent.«

bei transparenter Kommunikation – anders zu beurteilen als dort. Hier wie da werden die Menschen zu einem bestimmten Verhalten »angeschubst«. Während der Nudge aber in Deutschland, da er ein Verbot ablöste, ein Mehr an Freiheit und Autonomie bedeutete, wäre er in den Niederlanden Tom Mannewitz  —  Auf dem Umweg zur Knechtschaft?

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zumindest für die Freiheitsrechte folgenlos. Die Autonomie würde er womöglich sogar stärken, denn er triggert zwar zunächst bestimmte Gefühle, genauer: Ängste, sensibilisiert damit aber lediglich für bestimmte Argumente: »It is not manipulative to encourage a person to better appreciate reasons relevant to her behavior.«16 Würden die Nudges gleichsam »hinterrücks« eingeführt, gingen sie in den Niederlanden mit einem Verlust an individueller Autonomie einher, in Deutschland immer noch mit einem Gewinn. Der dritte Widerspruch zwischen Demokratie und Nudging hat mit einem konkreten Instrument des libertären Paternalismus zu tun: »Social ­Nudging«17. Durch die bloße Information, wie sich die Mehrheit der Menschen in der S ­ ituation verhält, in der sich ein Individuum befindet, soll dessen Entscheidung eine bestimmte Richtung erhalten. Sunstein und Thaler präsentieren in ihrem Buch eine ganze Reihe praktischer Anregungen, darunter folgende: »Wenn Sie die Wahlbeteiligung verbessern möchten, dann beschweren Sie sich bitte nicht über die hohen Zahlen der Nichtwähler.«18 Vielmehr sei auf diejenige soziale Norm hinzuweisen, die Menschen befolgen sollen – hier: wählen gehen. Eine solche, klug lancierte Information nimmt den Menschen zwar nicht ihre Freiheit, atmet aber jenen Geist, vor dem Alexis de Tocqueville, mehr noch John Stuart Mill warnten, als sie von der »Tyrannei der Mehrheit« sprachen, die einen »drohenden Kreis um das Denken«19 ziehe und so zu konformistischem Verhalten anrege. Nicht so sehr justiziable Sanktionen als vielmehr Stigmatisierung und Ausgrenzung sind die Strafen, mit denen sie aufwartet. Diejenigen sozialen Nudges, die Sunstein und Thaler zitieren – etwa einen Hinweis auf das vorbildliche Verhalten vorheriger Gäste in Hotelzimmern oder die Information zur Erhöhung der Wahlbeteiligung –, drohen zwar nicht offen mit sozialer Ächtung, schlagen aber dennoch Kapital aus der menschlichen

16  Jason Hanna, Libertarian Paternalism, Manipulation, and the Shaping of Preferences, in: Social Theory and Practice, Jg. 41 (2015), H. 4, S. 618–643, hier S. 628.

Isolationsfurcht. Umso schwerer wiegt ihr Einsatz als politisches Instrument. Zudem: Viel Vorstellungskraft braucht es nicht, um sich soziale Nudges auszumalen, bei denen Stigmatisierung mehr als nur eine hypothetische Konsequenz »abweichenden« Verhaltens ist. Vermutlich würden Tocqueville und Mill Nudging als solches nicht rundheraus ablehnen, aber seinen Einsatz an hohe Hürden knüpfen. Zumal, der britische Philosoph hätte wohl in der Chance, »Schaden für andere zu verhüten« , das einzig legitime Motiv für Nudging gesehen. Social Nudging in20

17  Vgl. Robert Neumann, Libertärer Paternalismus, Tübingen 2013, S. 52–55; Sunstein u. Thaler, S. 79–105. 18 

Sunstein u. Thaler, S. 98.

19  Alexis de ­Tocqueville, Über die Demokratie in ­Amerika, Stuttgart 1985, S. 151.

des hätte er wohl tiefsten Argwohn entgegengebracht, denn: »Derjenige aber, der etwas nur darum tut, weil es Sitte ist, trifft keine Wahl. Er gewinnt keine Übung darin, das Beste zu erkennen oder zu begehren.«21 Dies spricht dafür, dass Mill womöglich solchen Plänen zugestimmt hätte, die den Bürger zu

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Perspektiven — Analyse

20  John Stuart Mill, Über die Freiheit, Hamburg 2011, S. 16. 21  Ebd., S. 83

einer reflektierten Entscheidung bringen wollen. Soziale Nudges zählen, da sie sich an die sozialen Instinkte richten und den Einzelnen in subtiler Weise der »Tyrannei der Mehrheit« unterwerfen, nicht dazu. Mills wie Tocquevilles Aversion speist sich aus ihrem Respekt vor der individuellen Autonomie, aus ihrer Liebe zur gesellschaftlichen Vielfalt und aus ihrem unerschütterlichen Glauben an die menschliche Einsichtsfähigkeit sowie die Überlegenheit des Arguments vor Konformismus. Allerdings ist der Einfluss sozialer Nudges auf das menschliche Verhalten nicht ausnahmslos normativer Art. Wo Menschen schwierigen Entscheidungen gegenüberstehen, wenig über die Konsequenzen der Alternativen wissen und sich noch keine Meinung gebildet haben, üben soziale Nudges meist einen informationellen, keinen normativen Einfluss aus.22 Der »Publikums­joker« bei »Wer wird Millionär« ist hierfür ein Beispiel. Bleiben soziale N ­ udges auf Entscheidungssituationen beschränkt, die der des Kandidaten in der populären Gameshow ähneln – was übrigens der Forderung Sunsteins und ­T halers entspräche –,23 bestünde mithin nur eine geringe Gefahr für den Einzug einer »sozialen Tyrannei« durch die Hintertür – anders als beim Einsatz in einfachen, übersichtlichen Entscheidungssituationen, bei denen die Furcht vor Ausgrenzung überdies die heuristische Kosten-Nutzen-Rechnung verschieben dürfte. Insofern ist nicht einmal geklärt, ob soziale Nudges überhaupt dem Nudging-Kriterium gerecht werden. NUDGING UND DEMOKRATIE: KONFLIKTTRÄCHTIG, ABER NICHT UNVEREINBAR Die Nudging-Debatte hat gerade erst begonnen. Sie hat eine Reihe von Fragen aufgeworfen und wird die Sozialwissenschaften wohl noch eine Weile beschäftigen – nicht zuletzt wegen der Verheißungen, denen die Politik kaum wird völlig widerstehen können: zu vielfältig die Anwendungsmöglichkeiten, zu groß die Evidenz, zu günstig der Einsatz von Nudges. Doch selbst wenn Sunstein und Thaler in vielen politischen Entscheidungsgremien offene Türen einlaufen mögen, mehrt sich auch die Skepsis gegenüber ihren Vorschlägen. Der Vorwurf der Bevormundung ist nahezu allgegenwärtig. Dabei hat der Widerstreit der Nudging-Gegner und -Befürworter das Spannungsverhältnis zur Demokratie bislang nur am Rande berührt. Des22  Vgl. Richard J. Crisp u. Rhiannon N. Turner, Essential Social Psychology, Thousand Oaks 2010, S. 163–167. 23 

Siehe Sunstein u. Thaler, S. 108–112.

wegen wurden hier schlaglichtartig neuralgische Punkte konturiert. Nudg­ ing mag die rechtlich verbrieften Freiheitsrechte, wie sie im Grundgesetz definiert sind, unberührt lassen, doch das heißt nicht, es verhelfe jenen Werten zur Geltung, für die Demokratie steht. Nudging führt nicht nur dann aufs Glatteis, wenn sich die angestrebte Verhaltensänderung gegen den Tom Mannewitz  —  Auf dem Umweg zur Knechtschaft?

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demokratischen Verfassungsstaat wendet oder den Zweck seiner Institutionen aushöhlt, sondern auch dann, wenn es den Einzelnen sozialem Konformitätsdruck aussetzt, wenn Motiv und Instrument eines »Anstupsers« im Dunkeln bleiben und wenn der Mensch als zu rationalem Denken und Einsicht fähiges Wesen keinen Respekt erfährt, d. h. wenn Nudging kognitive Abwägungsprozesse bewusst umgeht oder stört. In jenen Fällen verletzt es die persönliche Autonomie der Bürger. Das ist die eine Seite der Medaille. Die andere: So manche Nudges – etwa Aufforderungen zur Entscheidung oder Widerspruchsfristen – umgehen nicht die eigenständige Reflexion, sondern schaffen erst einen Zugang zu ihr. Dergestalt wahren und stärken sie die individuelle Autonomie. Wo diese beschnitten wird, erscheinen Nudges wiederum legitim, wenn und falls sie helfen, Schaden von Dritten abzuwenden. Wie hoch dieser potenzielle Schaden sein muss, um Nudging zu rechtfertigen, muss immer wieder aufs Neue erörtert werden: Dürfen Menschen zu einer gesünderen Ernährung »geschubst« werden, weil so Kosten im Gesundheitssektor gespart werden? Ist die Einführung der Widerspruchslösung legitim, weil es dadurch mehr Organspender gibt? Last but not least: Der Blick dafür, ob Freiheit wie Autonomie durch einen Nudge eine Auf- oder Abwertung erfahren, darf nicht verloren gehen. Wo er Verbote und Anweisungen ersetzt, geht der Einzelne – wenn das Transparenzgebot eingehalten wird – als Profiteur hervor. Dass die Debatte um die Demokratiekompatibilität von Nudges gerade erst in Gang kommt, zeigt sich auch daran, dass essenzielle Fragen noch ihrer Antworten harren: Wie ist bspw. ein Nudge, der die Freiheitsrechte beschneidet und zugleich die Autonomie stärkt – etwa cooling-down periods für die Abgabe von Alkohol oder Drogen –, demokratietheoretisch und -praktisch zu bewerten? Wegen der wachsenden gesellschaftlichen Komplexität und der damit verbundenen Ausdehnung potenzieller Nudging-Gebiete dürften Antworten auf derlei Fragen nicht lange auf sich warten lassen. Deren Qualität hängt davon ab, ob der Brückenschlag zwischen politischer Philosophie und Verhaltenswissenschaften gelingt. Jun.-Prof. Dr. habil. Tom Mannewitz, geb. 1987, ist ­Politikwissenschaftler an der Technischen Universität Chemnitz. Seine Arbeitsgebiete sind die politische Systemforschung (Demokratie, Extremismus, Populismus), die politische Soziologie (politische Kultur, Einstellungen und Werte) und die Methodologie (Konzeptualisierung, Indexbildung, konfigurationelle Verfahren). Zuletzt erschien von ihm »Politische Kultur und demokratischer Verfassungsstaat. Ein subnationaler Vergleich zwei Jahrzehnte nach der deutschen Wiedervereinigung« (Baden-Baden 2015).

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Perspektiven — Analyse

DIE SOZIALDEMOKRATIE IN DER VERTRAUENSKRISE GELD, MORAL UND ANDERE KLEINIGKEITEN ΞΞ Karin Priester

Lange Zeit konnten Linke vom Image moralisch untadeliger Idealisten zehren. Bis in die Adenauer-Ära wären selbst ihre erbittertsten Gegner nicht auf die Idee gekommen, sie als »Genossen der Bosse« zu bezeichnen. Als es zwischen 1880 und 1935 auch in Deutschland zahlreiche Korruptionsskandale gab, war es die parlamentarische Linke – vor allem der Abgeordnete ­Eduard Lasker –, die diese aufs Schärfste anprangerte. Aber wann begann dieses Image eigentlich zu bröckeln? In südeuropäischen Ländern war das gar nicht möglich, weil es dort nie vorhanden gewesen war. Auch sozialdemokratische Parteien sind dort fest in klientelistische Strukturen eingebunden. Etwa Mitte des letzten Jahrhunderts wurde der ältere, personengebundene Klientelismus von einem Massenklientelismus abgelöst, in dessen Zentrum nun die Parteien standen. In den mittelosteuropäischen Ländern kommt hinzu, dass sozialdemokratische Parteien häufig die Nachfolgeorganisationen der kommunistischen Parteien mit ihren Seilschaften und ihrem Nepotismus waren. I. Relativ neu sind dagegen Fälle individueller Bereicherung von Politikern auch im sozialdemokratischen Lager.1 Das begann etwa in den 1990er Jahren mit der Entsorgung der letzten Reste ideologischer Verbindlichkeit, der Hinwendung zur »neuen Mitte«, dem Aufstieg von Spindoktoren und diversen Beratern, die sich der politischen Führung andienten wie weiland die Höflinge dem Monarchen. Setzen wir als Beginn den symptomatischen Fall des italienischen Sozialistenführers Bettino Craxi. Als Anfang der 1990er Jahre 1 

Es geht, wohlgemerkt, nicht um dubiose Parteienfinanzierung, die etwa in Großbritannien unter New Labour ab den 1990er Jahren um sich griff. Als spektakulär gilt der Fall des Formel-1-Chefs Bernie Eccle­ stone, der 1997 Premierminister Tony Blair mit einer Spende von einer Million Pfund dazu bewegte, die Labour-Position zur Tabakwerbung zu revidieren.

das gesamte italienische Parteiensystem über mafiöse Verstrickungen, Geldwäsche und illegale Parteienfinanzierung zu Fall kam, gehörte Craxi zu den starken Männern der italienischen Politik. Sein Programm: Entideologisierung der sozialdemokratischen Partei und Ausrichtung auf die »neue Mitte«, um die jahrzehntelange Vorherrschaft der Christdemokraten zu brechen. Juristischen Untersuchungen zu illegalen Finanztransaktionen entzog er sich dann durch Flucht ins Ausland. Von den »Schergen« des Rechtsstaats verfolgt, fristete der Genosse sein Leben im tunesischen »Exil«, wo er im Jahr 2000 starb.

INDES, 2016–2, S. 123–130, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2191–995X

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Die italienische Autorin und Seelenfreundin Craxis, Marina Ripa di Meana, jahrelang ein Stern am Himmel der römischen dolce vita, schildert ihre regelmäßig am Hof von »König Bettino« verbrachten Sommerurlaube.2 Dank ihrer Society-Kontakte heiratete sie in höchste Adelskreise ein: zunächst einen Herzog, dann einen politisch aktiven Grafen, der als Kommunist begonnen hatte. Als das nicht mehr en vogue war, wechselte er zu den Sozialdemokraten und als Craxis Stern sank, zu den Grünen. ­Marina Ripa hat ein goldenes Herz und bekennt in einem autobiografischen Rückblick, sich für einen ihrer zahlreichen Liebhaber – einen kokainabhängigen Maler – auch prostituiert zu haben. Aber man ist vorurteilsfrei in diesen Kreisen. Auch »König Bettino« jonglierte simultan oder sukzessiv zwischen seinen Geliebten aus der Film- und Fernsehbranche. Eine von ihnen machte Karriere beim Staatsfernsehen RAI; einer anderen richtete er einen eigenen Fernsehkanal ein. II. Ripas Bericht liest sich wie eine Realsatire. Im tunesischen Hammamet bewohnt der Sozialistenführer a. D. eine Villa mit rund zehn Schlafzimmern, alle im maurischen Stil gehalten, flankiert von Gästehäusern für die zahlreichen Besucher. Mehr als ein Dutzend Diener, Köche und weitere dienstbare Geister unter Aufsicht des Majordomus Mohammed walten ihres Amtes. Personal ist billig in Tunesien. Beim gemeinsamen Frühstück thront Craxi an der Spitze der Tafel und schwelgt in Erinnerungen an seine große Zeit. Gegen elf Uhr folgen dann die Gäste seinem Range Rover in einer »kleinen Karawane« an den Strand, diskret begleitet von Bodyguards. Man badet nach Geschlechtern getrennt. Die Männer nehmen ein »politisches« Bad, die Frauen widmen sich dem neuesten Gesellschaftsklatsch und Craxis Frau Anna den Affären ihres Mannes. »Sie litt sehr darunter.« Beim Mittagessen haben »die Diener […] Anweisung, ihn [Craxi] stets als ersten zu bedienen«. Danach ziehen sich die Damen zur Schönheitspflege zurück: Die Konkurrenz schläft nicht, ist jung, langbeinig und ehrgeizig. Die Gäste: Baulöwen aus dem Piemont, der Designer und Modemacher Nicola Trussardi nebst Gattin, der Sänger Michele Placido, amerikanische Blondinen, aufstrebende Künstler, die sich Protektion für eine Ausstellung auf der Biennale erhoffen, Unternehmer mit grandiosen Plänen zur Entwicklung des tunesischen Tourismus, Fernsehgrößen, Filmgewaltige und Geschäftsleute. Am Swimmingpool werden Geschäfte angebahnt. Craxis engster Partner kredenzt in silbernen Kelchen Champagner der Marke Cristal, die Flasche ab 140 Euro. Der Jahrgang 2005 – nicht einmal der beste – wird heute ab

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2  Vgl. Marina Ripa di Meana, Che noia re Bettino, in: Corriere della sera, 27.06.1994. 2013 erklärte sie in einem Fernsehinterview, sie und ihr Mann lebten nur noch von der spärlichen Rente von 12.000 Euro netto pro Monat. »Auch für uns hat sich das Leben mit der Krise geändert.«, URL: https://intoccabili.wordpress. com/2013/10/18/ripa-di-meanavivo-con-12mila-euro-al-mese [eingesehen am 12.05.2016].

560 Euro pro Flasche gehandelt. Nur unverbesserliche Neidhammel rechnen nach, dass dies dem halben Monatslohn eines italienischen Malochers entspricht. Der Tag klingt aus mit Filmvorführungen; Craxi wählt eigenhändig die Filme aus, mit Vorliebe amerikanische oder historische über den italienischen Freiheitshelden Garibaldi. Wer finanzierte das Anwesen, die Dienerschaft, das linke Glamour-­Leben? Mit den Diäten eines Abgeordneten und ab 1983 mit dem Gehalt eines Ministerpräsidenten konnte Craxi keine großen Sprünge machen. Der Big Spender, der ihm das »Exil« versüßt hat, heißt Berlusconi – der Mann, der seinen Aufstieg als Bauunternehmer, Medienmogul und schließlich als rechter Politiker ausgerechnet einem Sozialisten verdankt und sich auch nach dessen Abgang erkenntlich gezeigt hat. Ein Kurier namens Lavitola brachte die Geldröllchen in bar.3 Auch der damalige tunesische Präsident Ben Alì, jener Kleptokrat, 3  Vgl. Marco Lillo, Lavitola portava i soldi di Berlusconi a Craxi, latitante ad Hammamet, in: Il Fatto Quotidiano, 17.04.2012. Über den Geschäftemacher und Journalisten Lavitola könnte man einen ganzen Polit-­Thriller schreiben. Hier nur kurz: von 2003 bis 2011 Direktor der Parteizeitung L’Avanti – seltsam, denn der ehrwürdige Avanti hatte schon 1993 sein Erscheinen eingestellt; 1996 folgte eine Neugründung mit dem Zusatz des Artikels vor dem Namen, aber noch im selben Jahr kam es zur ersten und 2011 zur endgültigen Schließung, nachdem Staatsgelder in Höhe von zwanzig Millionen Euro abkassiert worden waren. Noch seltsamer: Ab 2008 nannte das Blatt sich »sozialistische Tageszeitung«, aber bereits 2004 hatte sein Direktor Lavitola auf der Liste von Berlusconis Forza Italia für die EU-Wahlen kandidiert. Er hatte beste Geschäftskontakte nach Mittel- und Südamerika und sorgte als enger Freund Berlusconis für dessen sexuelles Wohlbefinden, bis er im November 2012 wegen versuchter Erpressung des Medienmoguls zu zwei Jahren und acht Monaten Haft verurteilt wurde. Er hatte Videos von den »Bunga-­Bunga«Partys gemacht und auch in anderen Fällen sein Insiderwissen für Erpressungen genutzt.

den die tunesische Arabellion hinweggefegt hat, stand Craxi als Freund zur Seite. Dieses fabulöse Leben im »Exil« liegt rund zwanzig Jahre zurück. Aber noch heute pilgern Craxis Verehrer an das Grab des Verstorbenen, der von sich gesagt hat, er habe Italien gerettet. Die aufgebrachte Menge nannte ihn bei seinem unrühmlichen Abgang einen Dieb, die Berlusconi-Presse einen »Märtyrer der Freiheit«. Schon kurz nach seinem Tod wurden in verschiedenen italienischen Städten Straßen nach ihm benannt. Der ehemalige Kommunistenführer Massimo D’Alema forderte sogar ein Staatsbegräbnis für Craxi, was dessen Familie jedoch ablehnte. III. Der Italiener mit dem großen Ego hat Nachahmer gefunden. Einer davon ist der frühere portugiesische Regierungschef José Sócrates, auch er ein Sozialist. Als Sohn eines Architekten ist Sócrates kaum arm zu nennen und kann ein, wenn auch unter seltsamen Umständen erworbenes, Diplom als Ingenieur vorweisen. Aber auch er liebt das süße Leben, teure Autos und Edelrestaurants, was ihm schließlich zum Verhängnis geworden ist. Sein Familienname klang ihm zu banal. Bekannt wurde er daher unter seinem zweiten Vornamen Sócrates, der ein philosophisches Flair beisteuerte. Sócrates war von 2005 bis 2011 portugiesischer Ministerpräsident und hatte sich mit der Sanierung des Staatshaushalts und Sparmaßnahmen unbeliebt gemacht. Schon während seiner Amtszeit war er wegen Vorteilsnahme durch Bestechung im Gespräch – auch wenn man ihm nie etwas nachweisen konnte, weil wundersamer Weise Dateien von PCs verschwanden. Nach seiner Wahlniederlage war ihm Politik in der Opposition zu mühsam. Er zog nach Paris und fiel dort den Ermittlern, für die er kein Karin Priester  —  Die Sozialdemokratie in der Vertrauenskrise

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unbeschriebenes Blatt war, durch seinen luxuriösen Lebensstil auf. Eine Wohnung in der französischen Metropole für drei Millionen Euro ist natürlich nichts im Vergleich zum Hofstaat Craxis, aber nur die Spitze des Eisbergs. Seit 2013 ist Sócrates für 12.000 Euro monatlich Berater eines multinationalen pharmazeutischen Konzerns. Das Geld stamme aber, so die französische Zeitung Libération, aus Sócrates eigenem Offshore-Unternehmen, das auf den Namen eines Jugendfreundes registriert sei. Hinzu

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kämen Liegenschaften in Portugal und Geldbeträge in Millionenhöhe, diskret auf dem Konto eines Freundes geparkt. Nach der spektakulären Verhaftung des Ex-Premiers auf dem Lissaboner Flughafen wegen Verdachts auf Geldwäsche, Transfer von Geld unbekannter Herkunft, Korruption und Steuerhinterziehung titelte Libération: »Sócrates, der Sturz eines Oppor­ tunisten ohne Ideologie«4. IV. Als in den 1990er Jahren der Neoliberalismus eine Welle von Privatisierungen und Deregulierungen auslöste und »Sozialismus« zu einer leeren Worthülse verkam, waren auch in Frankreich opportunistische Geschäftemacher im Aufwind. Aus der Ära Sarkozy war man einiges gewohnt, aber auch unter seinem linken Nachfolger François Hollande kam es zu mehreren Affären. Im April 2013 trat dessen Haushaltsminister Jérôme Cahuzac zurück, nachdem er monatelang abgestritten hatte, ein illegales Konto mit 600.000 Euro in Singapur zu besitzen. Geldwäsche und Steuerhinterziehung lautete der Verdacht der Behörden. Doch dabei blieb es nicht. Hollande, der den Fall Cahuzac eine »Beleidigung der Republik« nannte, wurde von weiteren Fällen aus den eigenen Reihen heimgesucht: 2014 musste ein enger Berater des Präsidenten wegen Verdachts auf Unterschlagung und Urkundenfälschung den Hut nehmen; ein anderer verschaffte seinem Familienunternehmen lukrative Parteiaufträge zur Organisation von Events. Im Dezember 2014 zählte man bereits fünf Mitarbeiter des Präsidenten, die wegen Ärgers mit der Justiz oder dem Fiskus abgelöst worden waren, darunter der Staatssekretär Thomas Thévenoud, der zu seiner Entlastung das inzwischen geflügelte Wort geprägt hat, er leide unter »administrativer Phobie«, zu Deutsch: Papierkram mit den Behörden sei ihm nun mal zuwider. Und dann war da noch Aquilino Morelle, auch er ein »politischer Berater«, der schon vor Jahren Privatinteressen und politisches Amt aufs Einträglichste miteinander verquickt hatte. Morelle, der Sohn eines aus Spanien 4  François Musseau, Sócrates, la chute d’un »opportuniste sans idéologie«, in: Libération, 26.11.2014. 5  Zit. nach Anna Cabana, Morelle: »J’ai été liquidé par la Tcheka hollandienne«, in: Le Point, 10.09.2014; Jim Jarassé, Aquilino Morelle se dit victime d’une »épuration ethnique«, in: Le Figaro, 11.09.2014.

stammenden Arbeiters, zückte die »ethnische« Karte und griff tief in die Empörungstastatur: Er sei das Opfer einer »ethnischen Säuberung« innerhalb der sozialistischen Regierung, »wie in Ruanda mit den Tutsis und den Hutus«. Menschen mit Migrationshintergrund würden zur Liquidation freigegeben. »Ich bin von Hollandes Tscheka liquidiert worden. Mit mir hat man begonnen.«5 Nun sinnen die unsanft abservierten Hofschranzen auf Rache an der »Hollande-Mafia«. Mit einem Enthüllungsbuch über den »Hollande-Clan« will Morelle aus seinem Migrationshintergrund Kapital schlagen. Karin Priester  —  Die Sozialdemokratie in der Vertrauenskrise

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V. In Ungarn amtierte zwischen 2004 und 2009 der Millionär Ferenc G ­ yurcsány als sozialdemokratischer Premierminister. Nach Art russischer Oligarchen hatte er in den 1990er Jahren im Zuge der Privatisierung öffentliches Eigentum zum Schleuderpreis erworben. Das Muster war in vielen ehemals kommunistischen Ländern ähnlich: Vor 1989 war Gyurcsány Sekretär des kommunistischen Jugendverbandes in der Provinzstadt Pécs. Auch in anderen Ländern waren die kommunistischen Jugendverbände ein Sprungbrett für Wirtschaftskarrieren nach der Wende. Hier bildeten sich Seilschaften heraus, die über Informationen und das nötige Know-how verfügten, um auf ehemalige Staatsbetriebe zugreifen zu können. Der Ungar wurde Direktor der Investmentgesellschaft Eurocorp und gründete schließlich seine eigene Investmentfirma, die Altus AG. Nach seinem Wechsel in die Politik amtierte er als deren Aufsichtsratsvorsitzender. Als Gerüchte über Korruption im Falle eines Grundstückstausches aufkamen, entzog das ungarische Parlament dem umtriebigen »roten Kapitalisten« die Immunität. Im Herbst 2014 geriet Rumäniens Premierminister Victor Ponta in den Strudel der Korruption. Auch er war Sozialdemokrat, was ihn nicht hinderte, im Präsidentschaftswahlkampf 2014 seinen Gegner, den deutschstämmigen Klaus Johannis, als »unrumänisch« zu verunglimpfen. Dessen Vorfahren waren zwar schon vor Jahrhunderten ins rumänische Siebenbürgen eingewandert, traten anschließend aber nicht zum orthodoxen Glauben über, sondern blieben Protestanten – ein Stigma in einem Land, das sich nach der Wende wieder verstärkt auf die orthodoxe Kirche stützt. Unmittelbar vor der Wahl wurde Rumänien von zahlreichen Korruptionsskandalen erschüttert, bei denen auch Pontas Name fiel. »Ob bei der Affäre um die von IT-Firmen wie Microsoft und Fujitsu-Siemens offenbar jahrelang gezahlten Bestechungs­ gelder an ranghohe Würdenträger oder bei dem Skandal um die mutmaß­l iche Steuerhinterziehung des russischen Lukoil-Konzerns: Der machtbewusste Jung-Premier ist ins Gerede gekommen.«6 Bei dem gebeutelten Griechenland wagt man nur kleinlaut zu fragen: Was ist eigentlich aus der Lagarde-Liste geworden – aus jener CD mit den Namen von rund 2.000 griechischen Steuersündern, welche die damalige französische Finanzministerin Christine Lagarde 2010 ihrem griechischen Kollegen übergeben hat? Sie wanderte von Hand zu Hand, zuletzt zu ­Finanzminister Venizelos von der linken Pasok, der sie in seinem Schreib-

6  Thomas Roser, ­ Rumäniens Premier Ponta im Strudel der Korruption, in: Die Presse, 10.10.2014.

tisch ­einfach »vergessen« hat. Italien ist immer gut für einschlägige Schlagzeilen. 2014 stand »Roms gierige Oberwelt«7 im Visier der Presse. Es ging um die Verstrickung des

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7  Jörg Bremer, Roms gierige Oberwelt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.12.2014.

linken Stadtrats in die römische Stadtmafia. Im Unterschied zur Unterwelt der traditionellen, süditalienischen Mafia operiert die römische Mafia in der politischen Oberwelt: Kriminelle, korrupte Beamte, Unternehmer und Politiker, auch sozialdemokratische, spielen sich beim Zugriff auf öffentliche Gelder in die Hand. Angeführt von einem ehemaligen Rechtsterroristen, der sich »König von Rom« nannte, hatte sie den linken Stadtrat mit großflächiger Bestechung infiltriert. Das Geschäftsmodell dieser moderneren Mafia lautet: öffentlich-private Partnerschaft zu beiderseitigem Nutzen.8 Am Drogenhandel lässt sich nämlich längst nicht so viel verdienen wie an Immigrantenunterkünften und Kooperativen für vorgeblich soziale Zwecke. Nicht nur der Präsident des Stadtrats kassierte monatlich 5.000 Euro für die Vergabe von Aufträgen und die Beschleunigung von Verfahren, sondern auch der Präsident einer Kommission für Transparenz. Wozu braucht ein linker Stadtrat eine solche Kommission, wenn nicht als Feigenblatt für höchst intransparentes Gebaren? Diese Deutung drängt sich angesichts des römischen Beispiels auf. VI. Die französische Öffentlichkeit reagierte auf den Fall Cahuzac mit Schock, Erschütterung, Empörung und Wut. So viel Aufregung um lumpige 8  Diese PPPs (Private Public Partnerships) sollen den »schlanken« Staat vor allem von sozialen Aufgaben entlasten. Schon seit Jahren sind sie ein Einfallstor für Korruption. 9  Einen Überblick über Blairs verschachteltes Firmennetz geben David Leigh und Ian Griffiths, The Mystery of Tony Blair’s finances, in: The Guardian, 01.12.2009. 10  Siehe Simon Jenkins, Tony Blair sees his millions as modest – only in the world of the super rich, in: The Guardian, 22.07.2014. 11  Vgl. das linke Online-­ Magazin Left Futures vom Januar 2013, URL: http:/www.leftfutures. org/2013/01/tony-blair-worthup-to-60 m-with-complex-webof-companies-to-hide-justhow-much-money-he-makes/ [eingesehen am 12.05.2016].

600.000 Euro? Aber der Franzose hatte es falsch angestellt. Wie man es richtig macht, zeigt Tony Blair, der Spiritus Rector der »neuen« Sozial­ demokratie: Neben einer lukrativen Vortragstätigkeit für Industrieclubs berät er dubiose Machthaber in Kolumbien, Kasachstan, Kuweit, China oder der Mongolei, wie sie durch good governance zu lupenreinen Demokraten werden können, was sie ohne seine üppig dotierten Nachhilfestunden ja nicht wissen können. Blairs Mischung aus Philanthropie, Politikberatung und Geschäftssinn ist unschlagbar. Freilich besaß er genug politischen Instinkt, mit der wundersamen Geldvermehrung erst nach dem Ende seiner Politikerkarriere zu beginnen, baute dann aber ein höchst ­u ndurchsichtiges Geschäftsimperium auf.9 »Wie reich ist Tony Blair?«, fragte The Guardian.10 Realistische Schätzungen gehen von 35 bis sechzig Millionen Pfund aus;11 Blair protestiert: höchstens zwanzig Millionen. Überdies habe er zwei Drittel seiner kostbaren Zeit unbezahlter Arbeit gewidmet, um im Nahen Osten Frieden zu stiften, nachdem er im Irak einen Krieg mit angezettelt hat, den er bis heute verteidigt. Blair ist immer ein begnadeter Schauspieler gewesen. »Sozialismus« muss wohl ein kurzfristig populäres Theaterstück gewesen sein, mit dem er als jugendlicher Held debütierte. Karin Priester  —  Die Sozialdemokratie in der Vertrauenskrise

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VII. Im Frühjahr 2013 wurde bekannt, dass Sigmar Gabriel die Mitgliedschaft der SPD in der Sozialistischen Internationale (SI) auf Eis lege und sich für eine neue Organisation, die Progressive Alliance, stark mache. Auch die SI hat ein massives Korruptionsproblem. In Polen war es schon 2004 zu einer Abspaltung vom sozialdemokratischen Bund der demokratischen Linken (SLD), bis heute einem Vollmitglied der SI, gekommen. Der Grund: Vetternwirtschaft, Korruption, Nepotismus, Affären.12 Zehn Jahre hatte die SI also Zeit, diesen Vorwürfen nachzugehen. Aus gutem Grund widersprach aber ihr Vorsitzender, der langjährige griechische Ministerpräsident Georgios Papandreou, seinem deutschen Kollegen und warf ihm Spaltung vor. Griechenland, dicht gefolgt von Italien, hat nach Angaben von Transparency International die höchste Korruptionsrate in der EU. Auch Papandreou hat sie nicht gesenkt, im Gegenteil. Der Vertrauensverlust in die politische Klasse hat nicht erst mit Cahuzac begonnen. Das Verhalten einzelner, aber führender Politiker ist Teil eines Syndroms, das dem Populismus mit seiner Anti-Politik weiter Vorschub leisten dürfte: Alle handeln über die Köpfe des Volkes hinweg; alle haben Dreck am Stecken; die gesamte »Kaste« soll verschwinden. Bei Linkspopulisten steht die Bewährungsprobe noch aus, aber bei Rechtspopulisten hat man schon Erfahrungswerte: Solange sie in der Opposition sind, versprechen sie als Saubermänner, den Augiasstall auszumisten. Sind sie aber an der Macht – wie Jörg Haider in Kärnten – schießt auch bei ihnen die Freunderlwirtschaft ins Kraut. Unser Problem sind nicht despotische Kleptokraten, wohl aber die Kollateralschäden des Neoliberalismus im Westen und linker Nachfolgeorganisationen kommunistischer Parteien in Osteuropa, die Opportunisten und Karrieristen den Weg geebnet haben. Seit einem Vierteljahrhundert hören wir die inzwischen abgegriffene Platte von der Gier der Manager, die daher rühre, dass sie tagtäglich den übermächtigen »Verlockungen zum Kohle­ machen«13 ausgesetzt seien. Den Leuten kann geholfen werden. Befreien wir sie von der Übermacht der Verlockungen durch Machtbegrenzung. Gier hat es immer gegeben, aber nicht immer die Strukturen, die ihr förderlich sind. Außerdem: Kohlemachen ist ungesund, auch wenn das bisher nur Bergarbeiter wissen.

Prof. Dr. Karin Priester  war bis 2007 Professorin für Politische Soziologie am Institut für Soziologie der Universität Münster. In den letzten Jahren ist sie mit zahlreichen Veröffentlichungen, darunter zwei ­Büchern zum Thema »Populismus«, hervorgetreten.

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Perspektiven — Analyse

12  Vgl. Anna Materska-­ Sosnowska, Die Krise der Sozialdemokratie in Polen. Ein Neuanfang für die Linke?, hg. von der Friedrich-EbertStiftung, Berlin 2010. 13  Stefan Baron, Bereichert euch!, in: Der Spiegel, 20.03.1989.

INTERVIEW

QUALITÄT VOR QUANTITÄT EIN GESPRÄCH ÜBER DIE CRUX DER WISSENSCHAFT ΞΞ Caspar Hirschi

Das Internet wird zunehmend bedeutender für die Wissenschaft. Besonders junge Wissenschaftler haben hier die Möglichkeit, Texte zu publizieren, zu diskutieren und sich mit anderen zu vernetzen. Zugleich hat sich in den letzten Jahren die Internet-Euphorie merklich abgekühlt, und seit einiger Zeit werden vermehrt die mit den sozialen Medien verbundenen Risiken und Probleme diskutiert. Welche Gefahren (und Chancen) sehen Sie, gerade mit Blick auf den akademischen Nachwuchs? Gefahren entstehen aus den unterschiedlichen Geschwindigkeiten, mit denen sich Kommunikationstechnologien und Statushierarchien im Wissenschaftsbetrieb ändern. Erstere wandeln sich derzeit rasant, letztere, wenn überhaupt, sehr träge. In vielen Fachgebieten sind mit dem Internet in kurzer Zeit neue Forschungs- und Publikationspraktiken entstanden. Gleichzeitig haben sich die herkömmlichen Publikationsforen – Zeitschriften und Bücher – halten können; auch dann, wenn sich ihre Herausgeber und Verleger der Digitalisierung lange verweigert haben. In den Natur- und Biowissenschaften sind heute weitgehend die gleichen Zeitschriften federführend wie vor dreißig Jahren und in den Geistes- und Sozialwissenschaften die gleichen Buchverlage. Ein Grund für die erstaunliche Beständigkeit liegt sicher darin, dass viele digitale Publikationsformen analoge Formate nicht ersetzt, sondern ergänzt haben: Blogs und Bücher schließen sich nicht gegenseitig aus. Ein weiterer Grund dürfte sein, dass digitales Publizieren noch immer stark mit Idealen von Gleichheit und Offenheit verbunden ist, und Autoren ungleich leichter in neue digitale Foren hineinkommen als in die sogenannten A-Journals, d. h. die renommierten Fachzeitschriften. Junge Forscher können ihre Ergebnisse in den digitalen Foren rascher veröffentlichen und besser zugänglich machen; aber sie können sich weniger gut auszeichnen. Damit sind wir

INDES, 2016–2, S. 131–135, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2016, ISSN 2191–995X

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bei den Statushierarchien: Wenn ein Publikationsorgan in der Fachgemeinschaft einmal hohes Ansehen erworben hat, dann ist es fast ein Selbstläufer. Mehr Autoren wollen in ihm veröffentlichen, die Eintrittshürde wird höher, das Peer-Review strenger, das Prestige einer Publikation größer. Dieser strukturkonservierende Effekt ist besonders in jenen Disziplinen ausgeprägt, die bei den Publikationen auf quantitative Leistungsindikatoren setzen. Dank ihm können Elsevier, Springer, Wiley und andere Verlage mit dem Aufkauf etablierter Zeitschriftentitel exorbitante Gewinnmargen erwirtschaften. Für diese Titel reicht heute die Digitalisierungsstrategie, Artikel als PDFs hinter eine Bezahlschranke zu stellen. Gerade für junge Forscher ist es angesichts des hohen Konkurrenzdrucks eine rationale Strategie, ihre Publikationen in überteuerten A-Journals zu platzieren – auch wenn sie ein Jahr oder länger warten müssen, bis der Artikel erscheint. Um an diesem System etwas zu ändern, müsste man die Macht der Zeitschriftenkonzerne brechen und die Qualitätskontrolle digitaler Alternativforen erhöhen, sodass sich die symbolischen Hierarchien schneller verschieben. Wissenschaftler, die sich mit ihren Publikationen an das breitere Publikum richten, bezahlen die so entstehende »Popularität« oftmals mit Ansehenseinbußen innerhalb der wissenschaftlichen Community. Woher rührt dieses Phänomen? Und kann man dieser »Popularisierungsfalle« entwischen, ohne den Anspruch aufzugeben, die eigenen Forschungsergebnisse in die Öffentlichkeit zu tragen? Zuerst ist wichtig zu betonen, dass im Wissenschaftsbetrieb digitales Publizieren nur selten identisch ist mit populärem Publizieren. Diskussionen über Open Access zum Beispiel betreffen die Kommunikation innerhalb einer Fachgemeinschaft viel stärker als die Kommunikation zwischen Spezialisten und Laien. Wer sich ans breite Publikum wenden möchte, wählt auch heute besser Presse und Fernsehen, weil sich im Internet bisher nur wenig neue Plattformen mit großer Ausstrahlungskraft und öffentlicher Autorität etabliert haben. Der Popularisierungsvorwurf, den man sich dabei von Kollegen einhandeln kann, ist im Übrigen so alt wie die Wissenschaft selbst und lässt sich stets damit begründen, dass eine vereinfachende Darstellung für die breite Masse eine verfälschende Darstellung sei. In der Regel stehen hinter diesem Vorwurf – der übrigens in Deutschland ungleich häufiger erhoben wird als im angelsächsischen Raum – keine vertieften epistemischen Erwägungen, sondern verschleierte Machtansprüche. Es ist ja klar, dass alle wissenschaftlichen Publikationen, auch jene, die sich nur an die innersten Spezialistenkreise richten, Forschungsprozesse vereinfachen und damit, wenn man so will, auch verfälschen. Man kann also schwerlich darüber streiten, ob

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Perspektiven — Interview

Vereinfachung erlaubt ist oder nicht, sondern nur, wie weit sie gehen darf. Es ist alles eine Frage des Grades; und diese Frage muss wohl in jedem Fach anders beantwortet werden – je nach Methoden, Sprache, Spezialisierungsgrad, gesellschaftlicher Relevanz und dergleichen. Unbestreitbar ist: Kein Fach kommt ohne Popularisierung aus und die besten Popularisierer sind nicht selten jene Forscher, die sich auch als Spezialisten um ihr Fach verdient gemacht haben. Einstein bspw. war ein genialer Popularisierer. In meinem Fach, der Geschichtswissenschaft, besteht die Krönung für einen Wissenschaftler gerade darin, mit einem Buch zugleich die Fachkollegen und das breite Publikum zu inspirieren. Es wird immer mehr publiziert; zugespitzt gesagt gibt es eine wahre Publikationsflut allein schon aufgrund einer schier unüberschaubaren Menge vermehrt ungelesener und nicht diskutierter Beiträge. Diese Entwicklung wird durchaus beklagt, nicht zuletzt von den Etablierten ihrer Fächer. Der Diskurs, so heißt es, leide, für eine gründliche Reflexion fehle die Zeit, die Qualität der Texte lasse nach. Braucht die Wissenschaft Entschleunigung? Man müsste bei Bewerbungsverfahren mehr auf die Qualität als auf die Quantität der Publikationen schauen – was zwar mehr Aufwand bedeuten, aber auch bessere Stellenbesetzungen ermöglichen würde. Die durchschnittliche Projektlaufzeit müsste verlängert werden, damit Forschende mehr Zeit haben, bis sie ihre Ergebnisse publizieren müssen. Speziell in den Geisteswissenschaften könnten akademische Buchverlage zudem stärker selektieren, bevor sie publizieren. Dann hätten wir nicht diese Flut an schlechten Dissertationen und Sammelbänden, die niemanden interessieren. Um die Publikationskultur in diesem Sinne zu verändern, müsste man aber das Regime der Druckkostenzuschüsse reduzieren und umstrukturieren, damit Verlage einen größeren Anreiz haben, hochwertige Bücher zu machen. Für Geisteswissenschaftler sehen die Karrierechancen in allen Bereichen im Vergleich zu anderen Disziplinen eher schlecht aus. Wie kann man die jungen Wissenschaftler dennoch motivieren? Welche Möglichkeiten haben sie, um nicht leer auszugehen? Oder sollte ihnen gar von einer geisteswissenschaftlichen Karriere abgeraten werden? Innerhalb des Wissenschaftsbetriebs sehen die Karrierechancen für die meisten jungen Forschenden schlechter aus als früher, da die Postdoc-­Stellen proportional schneller wachsen als die Professuren. In der Biochemie zum Beispiel ist das Problem international sogar noch stärker ausgeprägt als in den Geisteswissenschaften. Allerdings fällt promovierten Biochemikern, die Caspar Hirschi  —  Qualität vor Quantität

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es nicht auf eine Professur schaffen, der Übertritt in die Wirtschaft leichter. Bei Geisteswissenschaftlern ist dieser Übertritt das eigentliche Problem, und in Deutschland wird es noch dadurch verschärft, dass der Arbeitsmarkt sehr undurchlässig ist und der universitäre Wettbewerb um unbefristete Stellen wegen der ungebrochenen Bedeutung, die der Habilitation beigemessen wird, und der Dominanz der Projektforschung erst in hohem Alter beginnt. Dadurch verpassen in Deutschland viel zu viele Geisteswissenschaftler den richtigen Zeitpunkt für den Abgang von der Universität und landen zwischen vierzig und fünfzig in prekären Verhältnissen. Sie kritisieren die Undurchlässigkeit des deutschen Arbeitsmarktes und die Schwierigkeit, als Geisteswissenschaftler aus der Universität in die Wirtschaft zu wechseln. Wie müsste denn die Zusammenarbeit zwischen Universität und Wirtschaft gestaltet sein? So, dass beide Systeme ihre jeweiligen Stärken ausspielen und sich dort komplementär ergänzen können, wo fruchtbare Berührungspunkte bestehen. »Unternehmerischen« Universitäten stehe ich genauso skeptisch gegenüber wie Firmen, die sich als Paradies der freien Forschung darstellen. Beides sind marketinggetriebene Spiegelfechtereien, die im besten Fall Verwirrung stiften und im schlechtesten Fall den funktionalen Sinn einer Institution aushebeln. Wenn sich Forscher und Manager aber über ihre jeweiligen Rollen und Aufgaben im Klaren sind, kann der Austausch zwischen ihnen höchst anregend sein. An meinem eigenen Arbeitsort, der Universität St. Gallen, habe ich schon einige Horizonterweiterungen dieser Art erlebt; und sie wären mir verwehrt geblieben, wenn ich mich nur unter wissenschaftlichen Kollegen bewegt hätte. Sehen Sie die Gefahr, dass die Diagnose, unser Universitätssystem bringe zu viele junge Wissenschaftler hervor, eine Antwort nahelegt, die – gewollt oder unbeabsichtigt – zu einem quasi-ständischen Doktorandensystem führt? Also einem, das nicht unbedingt die Besten und die Geeignetsten zur Promotion gelangen lässt, sondern diejenigen, die zum Beispiel am besten vernetzt sind? Ein System mit weniger, aber besser ausgewählten und intensiver betreuten Doktorierenden würde ich sehr begrüßen. Es könnte zur Umstellung von quantitativen auf qualitative Bewertungskriterien im Wissenschaftsbetrieb beitragen. Man müsste durch offene und faire Aufnahmeverfahren in Doktoratsprogramme sicherstellen, dass die talentiertesten Studierenden Stipendien oder Stellen erhalten; und diese hätten dann, wenn sie nach der Promotion im Wissenschaftsbetrieb bleiben wollen, auch bessere Chancen auf eine erfolgreiche akademische Karriere.

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Perspektiven — Interview

Ab wann hört eigentlich der Nachwuchs auf, Nachwuchs zu sein? Der Begriff ist analytisch unbrauchbar und ideologisch verdächtig. In ihm kommt der alte Paternalismus zum Ausdruck, der in der Lehrer-Schüler-­ 1  Anmerkung der Redaktion: Die Befunde und Empfehlungen des deutschen Wissenschaftsrates 2014 sind unter folgendem Link einsehbar, URL: http://www. wissenschaftsrat.de/download/ archiv/4009–14.pdf [eingesehen am 18.04.2016].

Beziehung an deutschsprachigen Ordinarienuniversitäten verankert war und zum Teil noch immer ist. Heute bezeichnet man als »Nachwuchs« alle Personen, die auf sogenannten Qualifikationsstellen sitzen – auch wenn sie über fünfzig Jahre alt sind und für eine Professur gar nicht mehr infrage kommen. Die Rede vom Nachwuchs gehört wie das Ritual der Habilitation seit Langem in die Mottenkiste der deutschen Universitätsgeschichte. Gibt es in Ihren Augen so etwas wie eine ideale Organisationsstruktur für die Wissenschaft? Ein festes Rahmenkonzept, das sich über die Grenzen von Ausbildungskulturen, Universitäten und Fakultäten hinweg universal anwenden lässt? Wenn Forschung tatsächlich international sein soll, wie in der Hochschulpolitik bei jeder Gelegenheit betont wird, dann wäre es konsequent, die wissenschaftlichen Karrierestufen und Stellenbezeichnungen grenz-

Caspar Hirschi, geb. 1975 in ­Zürich, ist Professor für Allgemeine Geschichte an der Universität St. Gallen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Geschichte und Theorie des Nationalismus, die Rollen des Experten, Kritikers und Intellektuellen seit der Aufklärung, die Organisation wissenschaftlicher Institutionen sowie die Geschichte des Gelehrtenbuches. Im Frühjahr 2012 stellte er im Auftrag der Wissenschaftskommission des Schweizer Ständerats eine Arbeitsgruppe zusammen, mit der er Maßnahmen zur Behebung der »Nachwuchskrise« an Schweizer Universitäten erarbeitete; und im Herbst 2012 wurde er vom Deutschen Wissenschaftsrat in eine Expertengruppe zur Neuorganisation der universitären Karrierewege in Deutschland gewählt. Seit 2014 ist er Mitglied im Evaluationsausschuss des deutschen Wissenschaftsrats.

überschreitend zu harmonisieren. Damit sind wir aber noch nicht weit gekommen. Es besteht im Wissenschaftssystem auch ein breiter Konsens darüber, dass das Karrieresystem an amerikanischen Forschungsuniversitäten mit Tenure-Track-Assistenzprofessuren, assoziierten und vollen Professuren einen besseren Wettbewerb, eine frühere Selektion und damit eine höhere Planbarkeit der akademischen Karriere ermöglicht als etwa die aktuellen Strukturen an den meisten deutschen Universitäten. Die Befunde und Empfehlungen des deutschen Wissenschaftsrates von 2014, an denen ich mitgearbeitet habe, sind diesbezüglich eindeutig.1 Das System funktioniert in den Vereinigten Staaten in allen Fächern gut, ist also relativ unabhängig von konkreten Forschungsstrukturen. Die Crux bei einer allfälligen Übernahme in Europa liegt aber in der Umsetzung: Denn es nützt nichts, eine neue Struktur einzuführen, wenn sich die Kultur nicht entsprechend ändert. Wenn ich mir die aktuelle Unübersichtlichkeit der universitären Karrierewege allein auf dem europäischen Kontinent ansehe, dann gewinne ich den Eindruck, dass die Wissenschaft derzeit noch viel regionaler ist, als sie sich selber gerne sieht.

Caspar Hirschi  —  Qualität vor Quantität

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INDES ZEITSCHRIFT FÜR POLITIK UND GESELLSCHAFT Herausgegeben von Prof. Dr. Franz Walter, Institut für Demokratieforschung der Georg-AugustUniversität Göttingen.

BEBILDERUNG

Redaktion: Dr. Felix Butzlaff, Dr. Lars Geiges, Julia Kiegeland, Jöran Klatt, Leona Koch, Danny ­Michelsen, Dr. Robert Lorenz, Dr. Torben Lütjen. Konzeption dieser Ausgabe: Leona Koch, Marika Przybilla Redaktionsleitung: Dr. Matthias Micus (verantw. i. S. des niedersächs. Pressegesetzes), Michael Lühmann, Marika Przybilla. Redaktionsanschrift: Redaktion INDES c/o Göttinger Institut für Demokratieforschung Weender Landstraße 14, 37073 Göttingen, [email protected] Online-Auftritt: www.indes-online.de Anfragen und Manuskriptangebote schicken Sie bitte an diese Adresse, möglichst per E-Mail. – Die Rücksendung oder Besprechung unverlangt eingesandter Bücher kann nicht gewährleistet werden. INDES erscheint viermal jährlich. Bestellung durch jede Buchhandlung oder beim Verlag. Jahresbezugspreis € 71,– D / € 73,– A / SFr 88,90; ermäßigter Preis für Studierende/Auszubildende (gegen Bescheinigung, befristet auf drei Jahre) € 41,80 D / € 43,– A / SFr 52,90; Einzelheftpreis € 20,– D / € 20,60 A / SFr 27,50. Inst.-Preis € 133,– D / € 136,80 A / SFr 163,–. Jeweils zzgl. Versandkosten. Preisänderungen vorbehalten. Die Bezugsdauer verlängert sich jeweils um ein Jahr, wenn nicht eine Abbestellung bis zum 1.10. erfolgt. Verlag: Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, D-37073 Göttingen. Anzeigenverkauf: Anja Kütemeyer E-Mail: [email protected] (für Bestellungen und Abonnementverwaltung) oder [email protected] Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. ISBN 978-3-525-80016-4 ISSN 2191-995X © 2016 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Gestaltung, Satz und Lithografie: SchwabScantechnik, Göttingen Druck: KESSLER Druck + Medien GmbH & Co. KG, Michael-Schäffer-Str. 1, D-86399 Bobingen Printed in Germany 1 Beilage: Westfälisches Dampfboot

Die in dieser Ausgabe gezeigten Graffiti verbildlichen Hoffnungen, Sehnsüchte, Träume auf festen Mauern aus Stein. Die Gedanken der Künstler werden mittels gesprühter Farbe zu Statements. Vom ­Vorwurf des Vandalismus bis zur Akzeptanz als Kunstwerk – Graffiti sind umstritten. Zugleich sind sie so langlebig wie wandlungsfähig, sie können übersprüht, ergänzt, erweitert werden, aus dem öffentlichen Sichtfeld verdrängen lassen sie sich nicht. Gleiches mag auch für die in dieser INDES thematisierte Idee des Liberalismus gelten. Als politisches Ideal mag er utopisch erscheinen. Ähnlich den Graffiti reichert er jedoch die Wahrnehmung an. Diesen Überlegungen folgend öffnen die für diese Ausgabe gewählten Motive Horizonte, inszenieren den Himmel, gestalten die Umgebung. Die Freiheit und selbstbestimmte Ausdrucksweise der Graffiti decken sich dabei trefflich mit den Grundwerten des Liberalismus. Julia Kiegeland

Fotoverweise: Titelbild: knallgrün/photocase.de S. 6: zach/photocase.de S. 11: Mamushka/photocase.de S. 28/29: view7/photocase.de S. 50: bambusbjörn/photocase.de S. 63:.marqs/photocase.de S. 70/71: Rina H./photocase.de S. 88: maryimwunderland/photocase.de S. 94: cydonna/photocase.de S. 112: DWerner/photocase.de S. 126: HerrSpecht/photocase.de

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