Politikserien: Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft 2014 Heft 04 9783666800092, 9783525800096, 9783647800097

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Politikserien: Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft 2014 Heft 04
 9783666800092, 9783525800096, 9783647800097

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EDITORIAL ΞΞ Julia Kiegeland / Jöran Klatt / Katharina Rahlf

»Hi Hill, it’s Bill. I just wanted to make sure you don’t forget …, my birthday is coming up, right …« »Yes, I know, Bill.« »You know what you’re getting me yet?« Ein Telefonat zwischen Hillary und Bill Clinton, in dem der ehemalige amerikanische Präsident seine Gattin an seinen bevorstehenden Geburtstag erinnert und den Wunsch nach einem Babyelefanten für den Garten äußert. Nachzuschauen bei Youtube. Ein Possenspiel? Durchaus. Im Verlaufe des Gesprächs kommt Hillary dem Imitator auf die Schliche und bittet »Kevin«, die Geburtstagskarte für ihren Mann zu unterschreiben. Anrufer ist nicht Bill Clinton, sondern der Schauspieler Kevin Spacey. Bloß ein Scherz? Nicht nur. In der Eingangsszene beklagt sich der Präsident über die langweiligen Sommermonate in Washington und nimmt den Hörer auf mit der Absicht »having some fun with my predecessors«. Diese Stimme gehört Frank Underwood, Protagonist der Serie House of Cards, gespielt von Kevin Spacey – Spacey alias Underwood alias Clinton. Verwirrend? Sicher. Aber diese Verschmelzung zwischen Fiktion und Realität ist charakteristisch für ein derzeit populäres Unterhaltungsformat: »Politikserien«. Produktionen wie House of Cards, The West Wing und Borgen als sicherlich populärste Beispiele, aber auch The Thick of It, Political Animals oder Secret State – in den letzten Jahren hat die Anzahl aufwendig produzierter »Qualitätsserien« sichtbar zugenommen. In Zeiten vermeintlicher Politik(er)-verdrossenheit scheinen der Erfolg und die Faszination für Formate, die dezidiert um das Politische kreisen, erstaunlich, jedenfalls begründungswürdig. Schließlich geht es häufig explizit um jene kleinteiligen, routinehaften, kompromissdurchwirkten Prozesse, die im Realen gerne für die grassierende Politikverdrossenheit verantwortlich gemacht werden. In den Serien wird die klassische »Hinterzimmerpolitik« zwar auch als Hort von Intrigen präsentiert – aber obendrein als notwendiges Element des »Politikmachens«. Kristallisiert sich hier also ein neues »Genre« heraus? Auf welchen Vorstellungen von politischer Alltagskultur basieren »Politikserien«? Wer guckt sie – und warum? Schließlich: Welchen Effekt haben diese Serien auf die politische Wirklichkeit und umgekehrt? Um diese Fragen geht es in der vorliegenden INDES.

INDES, 2014-4, S. 1–1, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014, ISSN 2191-995X

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INHALT 1 Editorial ΞΞJulia Kiegeland / Jöran Klatt / Katharina Rahlf

POLITIKSERIEN >> INTERVIEW



5  »Eine interessante Affinität zwischen dem seriellen

Erzählen und dem Thema Politik« Von Soap Operas zum Quality TV

ΞΞInterview mit Frank Kelleter und Andreas Jahn-Sudmann

>> STUDIE 23 Machtkampf, Intrigen und Manipulation



Die negative Wahrnehmung von Politikgeschehen in aktuellen Politikserien ΞΞAnnekatrin Bock

>> KOMMENTAR 32 Schrott und Qualität



Kurze Reflektionen zum Phänomen der politischen Fernsehserie in den USA ΞΞJan Kotowski

>> ANALYSE 35 Wie im Film



Fernsehserien haben die Mechanismen westeuropäischer Politik verändert ΞΞPhilipp Loser

42 »I – I’m just making sure we don’t get hit again.« Serientext und Weltbezug in der TV-Serie Homeland ΞΞLars Koch

55 Mal Freund, mal Feind, mal Konkurrent Ein soziologischer Blick hinter die Kulissen des Politikbetriebs in House of Cards ΞΞIl-Tschung Lim

62 Borgen in der Wirklichkeit

Historische Vorbilder und aktuelle Rezeptionen einer populären Fernsehserie ΞΞClemens Wirries

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INDES, 2014–4, S. 2–3, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014, ISSN 2191–995X

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69 Großes, linkes Kino

The Wire als Portrait des Oben und Unten US-amerikanischer Politik ΞΞDavid Bebnowski

78 »It’s a Great Time to be a Woman in Politics!« Politikerinnen als Protagonistinnen von US-Fernsehserien ΞΞBettina Soller / Maria Sulimma



>> MEINUNG 89 »Eine Katze, die Mäuse fängt, ist eine gute Katze.« Warum House of Cards in China erfolgreich ist ΞΞFelix Flos



>> ANALYSE 100 Souveräne Beißer?

Die Gerinnung des Ausnahmezustands bei The Walking Dead ΞΞJulia Kiegeland / Christopher Schmitz

110 Die Schildbürger von Springfield

Die Simpsons, eine amerikanische Politikserie ΞΞJöran Klatt

PERSPEKTIVEN

>> ANALYSE 121 Im Schatten des Liberalismus

Die Pädophiliedebatte begann nicht mit den Grünen ΞΞFranz Walter

134  Die Rückkehr des Ersten Weltkriegs in das

deutsche Zeitgedächtnis

Vom Aufarbeitungsjahr 2013 zum Erinnerungsjahr 2014 (Teil 2) ΞΞMartin Sabrow



>> PORTRAIT 145 Alles nur Macht­verweigerer in der Weimarer SPD? Erwiderung auf eine Leseranfrage ΞΞFranz Walter

>> WIEDERGELESEN 153 Demokratie versus Diktatur

Karl Dietrich Brachers »Zeitgeschichtliche Kontroversen« ΞΞEckhard Jesse

Inhalt

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SCHWERPUNKT: POLITIKSERIEN

INTERVIEW

»EINE INTERESSANTE AFFINITÄT ZWISCHEN DEM SERIELLEN ERZÄHLEN UND DEM THEMA POLITIK« VON SOAP OPERAS ZUM QUALITY TV ΞΞ Interview mit Frank Kelleter und Andreas Jahn-Sudmann

Man spricht viel von den »neuen Qualitätsserien«. Was hat es damit auf sich? Was zeichnet diese Produktionen aus, inwiefern handelt es sich um eine »neue Qualität« – ist es stärker der Inhalt oder die Form? Trifft diese Titulierung überhaupt zu? Kelleter (K): Zunächst muss man sagen, dass die Titulierung existiert und das ist eine Realität für sich, die wiederum Folgen hat für die Art und Weise, wie Fernsehserien erzählen. Den Begriff des Qualitätsfernsehens gibt es ja schon länger. Man hat schon in den 1970er Jahren von einem bestimmten Marktsegment als Qualitätsfernsehen gesprochen, damals hauptsächlich festgemacht an der Themenwahl von Fernsehprogrammen (und nicht nur Serien). Was die neuen Serien angeht – die ja vor allem im Gefolge von HBO-Produktionen populär wurden und dann auch schnell für eine feuilletonistische und wissenschaftliche Besprechung infrage kamen –, so kann man insofern von einem neuen Phänomen sprechen, als wir es hier mit einer relativ neuen Produktions- und Rezeptionskultur zu tun haben. Pay-TV- oder Kabelfernsehsender können es sich leisten, auch für ein kleineres, ausgewähltes Publikum zu senden, im Modus des sogenannten narrowcasting. Man findet hier also einen anderen Erzählrhythmus, in der Regel 12–13 Folgen pro Staffel, und die Entwicklung von Stoffen ist weniger darauf angewiesen, die Interessen der Werbekunden eines Senders mitzuberücksichtigen. Auch was die Darstellung von Sexualität und Gewalt angeht, haben diese Serien mehr Freiheit. Das alles ist sicherlich als Rahmenbedingung mitzudenken, aber natürlich noch nicht ausreichend, um zu erklären, was hier passiert. Ganz schnell entwickelt das

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eine eigene Dynamik, die sich schließlich nicht nur im Kabelfernsehen, sondern auch in Networkserien niederschlägt, die ja auf diese Entwicklung zu reagieren haben. So gesehen kann man wirklich sagen, dass seit Ende der 1990er Jahre eine neue Qualität Einzug gehalten hat, sofern man »Qualität« als neutralen Begriff versteht. Ob das jetzt ästhetisch gut oder ungut ist, das ist eine andere Diskussion, die man endlos führen kann. Jahn-Sudmann (JS): Die Diskussion über das Qualitätsfernsehen schließt an Diskurse zur Qualität an, die seit langem geführt werden. Bereits die Frühphase des kommerziellen Fernsehens gilt als goldene Ära, weil man seinerzeit zur Primetime Dramen von Shakespeare und Ibsen live aufführte. In den 1970er Jahren kamen dann neue Qualitätsfernsehserien auf, All in the Family als vielgepriesene Sitcom oder, in den 1980er Jahren, Magnum, PI. Aber diese Welle der Nobilitierung, die wir seit den 1990er erleben, mit den Sopranos etwa und Oz, das hat sicherlich auch in quantitativer Hinsicht eine andere Dimension. Insofern gibt es hier signifikante Verschiebungen, die man jedoch nur angemessen verstehen kann, wenn man sie im Lichte der allgemeinen Transformationen des Fernsehens und der Medienökologie betrachtet. Das beinhaltet Aspekte wie die enorm vergrößerte Auswahl von TV-Kanälen, die wechselseitigen und hybriden Beziehungen zum Internet, Anbindungen an Social-Media-Plattformen und mobile Medien usw. Kann man das alles, um es greifbarer zu machen, auf einige Schlüsselbegriffe bringen? Z. B. – abseits des Inhalts – hinsichtlich der Kameraführung oder ­ästhetischer Produktionsvorgänge? JS: Aktuelle Fernsehserien werden immer zu (älteren) Medien in Beziehung gesetzt, um auf diese Weise ihren vermeintlich neuen kulturellen Wert zu betonen. Entsprechend zahlreich sind Vergleiche zwischen der heutigen TV-Serie und etwa dem Roman oder dem Kinofilm. Derartige Bezüge kommen natürlich nicht von ungefähr. Serien wie z. B. The West Wing werden in der Tat häufig auf Film und nicht auf Video, wie man es von Daily Soaps oder Sitcoms kennt, produziert. Das ist aber mit Blick auf die Fernsehgeschichte eine Standardpraxis. – Dennoch operieren sie mit eher filmisch anmutenden Produktionsmethoden wie dem Single-Camera-Verfahren, was gerade mit Blick auf die Beleuchtung mehr Gestaltungsspielraum lässt als Serien, die im Studio mit einem 3-Camera-Set Up produziert werden, bei dem das Licht-Setting grundsätzlich unverändert bleibt. Darüber hinaus werden Serien immer mehr zur Schaubühne neuester Film- und Fernsehtechnologien. House of Cards wurde z. B. mit einer Kamera gedreht, die auch bei Kinofilmen zum Einsatz kommt und eine Auflösung von 6K zulässt. Des Weiteren wurde

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Politikserien — Interview

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die Serie in einem speziellen Bildformat gedreht, das von vornherein für die Auswertung im Film und Fernsehen optimiert ist und z. B. Letterboxing-Verfahren [Umwandlung von Filmen im Breitwand-Format auf die Standardbreite von Videoformaten unter Beibehaltung des urspünglichen Bildverhältnisses] überflüssig macht. Insofern ist es durchaus nachvollziehbar, wenn immer wieder behauptet wird, dass Fernsehserien sich dem Kino anverwandeln. Dennoch arbeiten Serien wie The West Wing oder 24 weiterhin mit ästhetischen Mitteln, die eine klare Bindung an das Medium Fernsehen erkennen lassen. Man denke nur an The West Wing’s ausgeprägte Dialogorientierung. K: Den letzten Punkt möchte ich noch einmal unterstreichen. Sicherlich berechtigt vieles in der technologischen Umsetzung dazu, von cinematic television zu sprechen, aber es ist eben weiterhin television. Das gilt auch für die Temporalität des Erzählens. Dass auch die neuen Serien in relativ übersichtlichen Episoden, die mehr oder weniger die gleiche Länge haben, erzählen, ist etwas, was sie deutlich von Filmen unterscheidet. Auch in sehr ambitionierten Serien wie The Wire wird letztlich weniger episch erzählt als oft behauptet. Daran ändert auch nichts, dass die Serien selbst gerne einen anderen Eindruck erwecken möchten. Vieles wird weiterhin on the go zurechtgebogen – und das kann auch gar nicht anders sein, wenn man sich die Produktions- und Rezeptionsbedingungen anschaut, die sich eben von denen unterscheiden, die wir bei Kinofilmen oder Romanen finden. Man liest immer wieder, dass es diese sehr komplexen Handlungsstränge, lange Handlungsbögen gibt, dass alles miteinander vernetzt ist. Ist das tatsächlich e­ twas Neues, das für diese Qualitätsserien charakteristisch ist? Und: Stimmt das überhaupt? Oder wird da mehr behauptet, als die Serien einlösen? Auch von der sog. »Reliterarisierung des Fernsehens« ist ja oftmals die Rede. K: Das ist ähnlich wie mit dem Begriff des Qualitätsfernsehens. Richtig ist, dass wir es vermehrt mit Serien zu tun haben, die selbst den Anspruch erheben, eine neue Art epischen Erzählens ins Medium einzuführen. The Wire ist hierfür das Paradebeispiel. Tatsächlich aber erlauben die Strukturen des Fernsehens dies nur bedingt, und das gilt auch für Kabelproduktionen. Selbst einer Serie wie The Wire merkt man also an, dass da vieles rekursiv, auf sich selbst zurückblickend, fortschreitet. Das betrifft z. B. die Charakterzeichnung und die Charakterführung. Auch die Frage, welche Figur überlebt und welche nicht, hat sehr viel mit Zuschauerreaktionen auf die parallel zur laufenden Rezeption fortschreitende Erzählung zu tun was man so im Kino oder beim Roman nicht kennt, außer eben, wenn diese Formate serialisiert sind. Gleichzeitig ist aber natürlich auch wahr, dass lang laufende Serien wie Interview mit Frank Kelleter und Andreas Jahn-Sudmann

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The Wire oder Lost tatsächlich so etwas wie epische Effekte hervorrufen können. Man kann diese Empfindung bei weiten Teilen der Zuschauerschaft ja nicht einfach wegtheoretisieren. Aber der Begriff Reliterarisierung ist, glaube ich, kein Begriff, der hier wirklich weiterhilft. JS: Das Modell der komplexen Erzählweise und der Serialisierung ist die Soap-Opera, auf die sich die Serien beziehen. Das lässt sich gerade anhand von Twin Peaks nachvollziehen, einer Serie, die unter anderem als Vorläufer der heutigen Qualitätsfernsehserien gilt und die trotzdem noch stark von der Soap-Opera-Ästhetik beeinflusst ist. Sie ist heute das Referenzmodell in Bezug auf die langen Handlungsbögen, d. h. dass immer ein Handlungsbogen fortgesetzt, ein neuer begonnen und ein dritter in der Schwebe gehalten wird. K: Das ist die sogenannte Zopfdramaturgie, wie sie im deutschen Raum zum ersten Mal für die Lindenstraße beschrieben wurde. Da finden Sie also schon diese Art der komplexen Erzählweise; der Hinweis auf das Soap-Format ist hier sehr wichtig und vielleicht auch geeignet, das eine oder andere feuilletonis­ tische Lob der formalen Neuartigkeit des Gegenwartsfernsehens zu relativieren. Bevor wir zum Politischen in den Serien kommen: Offensichtlich hat ein Wandel stattgefunden, heutige (Qualitäts-)Serien unterscheiden sich von früheren Produktionen. Aber was sagt dies über das Publikum dieser Serien? Hat sich erst das Publikum oder zunächst die Serie gewandelt? JS: Natürlich ist das immer ein Wechselverhältnis. Deshalb kann man auch keinen Anfang festlegen. Die Beziehung ist zudem immer ein Werden, ein Prozess fortlaufender Transformationen. Natürlich geht es trotzdem darum: Was verändert sich im Laufe der Zeit? Welche Verschiebungen lassen sich feststellen? Und in diesem Zusammenhang ist es wichtig, dass man Aussagen über das Publikum immer im Rahmen ihrer Einbettung in eine größere und veränderte Medienökologie zu denken hat, die Rezipienten und Produzenten gleichermaßen betrifft. Worauf wir im Rahmen unserer Forschergruppe immer hingewiesen haben, ist die Entgrenzung, die man in Bezug auf klassische Rollen feststellen kann. Einerseits begreifen sich die Produzenten in ihrer Selbstwahrnehmung und Selbstdarstellung als Fans. Andererseits werden die Fans ihrerseits als kulturelle Produzenten sichtbar und tätig. Das sind natürlich keine neuen Phänomene, das kann man ebenso historisch weit zurückverfolgen. Aber natürlich sind die Medienkonstellationen, innerhalb derer sich die Aktivitäten vollziehen, in Zeiten von Social Media und anderen Medienformen deutlich transparenter geworden. Das wirkt auf die Selbstverständnisse der beteiligten Akteure zurück. Aus diesem Grunde machen wir die Akteur-Netzwerk-Theorie so stark: Das, was wir beschreiben

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und anschauen, sind Operationsketten, die diese Ideen von deterministischen Anfängen und Ursprüngen in Zweifel ziehen. Bei Serialität geht es mithin um Operationsketten und Prozesse, die sich nicht nur selbst in ihrer Dynamik permanent verändern, sondern in ihrem Fortschreiten auch auf die Bedingungen zurückwirken, denen sie unterstellt sind. K: Genau. Das ist ein Prozess der Selbstadaptation: Serielle Erzählformen, gleich welchen Mediums, reagieren konstant auf die Veränderungen, die sie in ihrer eigenen kulturellen Umwelt hervorrufen. Es handelt sich im wahrsten Sinn des Wortes um evolutionäre Erzählformate. Würden Sie dort einen Widerspruch erkennen? Einerseits heißt es doch, dass heute vieles schneller und in kleineren Portionen digital konsumiert wird. Und anderseits erzählen die Serien sehr langsam, geradezu ausufernd und nehmen sich den Luxus, eine Geschichte, statt in zwei in acht bis zehn Stunden zu erzählen. K: Dass Serien insgesamt nach sechs oder sieben Staffeln relativ viel Zeit verbraucht haben, ist sicherlich richtig. Das heißt aber meiner Ansicht nach nicht, dass sie langsam erzählen. Auf Ebene der Portionierung haben wir es vielmehr mit einem Erzählen zu tun, dass relativ schnell von Folge zu Folge fortschreitet: in der Regel, bei einer laufenden Staffel, beispielsweise wöchentlich. Auch sind die Episoden vergleichsweise kurz, mit 45–50 Minuten (für dramatische Formate) oder 20–30 Minuten (für Sitcoms): auch hier also ein gewisser Hang zur Schnelligkeit, als strukturelle Ausgangslage. Es gibt dann aber natürlich einzelne Serien, die im größeren Serienmarkt darauf setzen, dass sie innerhalb einer Episode auch mal langsam und gemächlich erzählen. Das ist sicherlich ein Distinktionsmerkmal von The Wire. Bei Mad Men finden wir etwas ähnliches, aber in ganz anderer Ausführung. Da wird zwar auch innerhalb einer Episode langsam erzählt, aber in Mad Men werden im Vergleich zu eher Soap-artigen Serien wie Lost keine allzu großen Erzählbogen gespannt. Insgesamt würde ich also doch sagen: Serien zeichnen sich allgemein weiterhin durch ein relativ schnell fortschreitendes Erzählen aus, im Sinne von: »nächste Woche kommt die nächste Episode. Und bringt schon wieder etwas Neues im bekannten Format.« Daneben wird interessant sein, zu beobachten, ob sich mit Netflix-Serien wie House of Cards vielleicht schon eine weitere Entwicklung ankündigt. Da kann man sicherlich fragen: Wird es Auswirkungen haben, dass man jetzt ganze Staffeln auf einmal auf den Markt wirft? Soweit ich Netflix- und Amazon-Serien kenne, würde ich aber behaupten: Die erzählen noch recht konventionell. Man könnte auch sagen, dass sie das narrative Potenzial der neuen Distributionsform noch nicht voll ausschöpfen. Interview mit Frank Kelleter und Andreas Jahn-Sudmann

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Ich dachte gerade an »Mad Men«, wo es so manche lange Szene mit wenig Handlung gibt, bei der man als Zuschauer einfach Geduld braucht … K: Ja, bei Mad Men haben wir es im Grunde mit mehr oder weniger abgeschlossenen Episoden zu tun, in denen bestimmte Dinge weitergeführt werden oder auch nicht; vieles versandet auch. Es ist dann aber auch okay, dass es versandet, denn das ist Teil der besonderen narrativen Ästhetik dieser Serie: dass sie ständig vermeintliche Bedeutsamkeiten einführt, die dann wieder vergessen werden können, wenn sie ihre Funktion erfüllt haben. Oder umgekehrt gesagt: dass die Serie, einigermaßen untypisch für ihr Medium, immer wieder Dinge zeigt, die komplett bedeutungslos und unmotiviert erscheinen – die im Kontext der seriellen Gesamtästhetik dann aber immer den Eindruck erwecken, dass hier irgendwas dahinterstecken mag. Und auf einiges kommt die Serie dann später wieder zurück, auf anderes nicht – man kann das nicht vorhersagen. Einmal z. B. öffnet sich die Tür des Aufzugs, aber es ist kein Fahrstuhl da, nur ein leerer Schacht. In der Episode, in der das geschieht, ist das nur ein minimaler Moment, der kurz danach wieder vergessen ist, weil er keine Folgen hat. Aber wer weiß, vielleicht weist das auch auf ein noch kommendes Finale hin, und Don Draper wird am Ende der Serie in den leeren Schacht der kaputten Aufzugsanlage stürzen. Im Rückblick würde das einigermaßen motiviert und episch aussehen und eigentlich schon durch den Vorspann vorbereitet – aber wenn es nicht geschieht, hat diese kurze Szene halt ihre Funktion innerhalb der damals aktuellen Episode erfüllt, bevor sie wieder vergessen wurde, nämlich die Funktion, Tiefe ausgerechnet durch eine Optik der Oberflächlichkeit und Beiläufigkeit zu suggerieren. – Und dann gibt es halt auch das Phänomen der Sopranos, einer Serie also, die so lange läuft und sich ihrer Zuschauer so sicher sein kann, dass klar ist: Da schaltet jetzt keiner um zu einem anderen Programm. Deshalb wird ja in Serien in der Regel so schnell erzählt: um die Bindungen der Zuschauer ständig zu erneuern und sicherzustellen, dass niemand umschaltet. Serien dagegen, die sich ihres Publikums einigermaßen sicher sein können, die können dann auch mal lange Szenen zeigen, in denen nichts passiert. Da wird dann eine gewisse Souveränität, eine für das Medium eigentlich seltene mediale Selbstzufriedenheit, genüsslich aufgeführt. Mad Men macht sich das sicherlich zunutze – obwohl auch diese Serie, auf Ebene der episodischen Segmentierung, zunächst einmal einem schnellen, nämlich in vergleichsweise kleinen Portionen wöchentlich sich erneuernden Erzählmodus verpflichtet ist. Erklärt sich die Popularität von Serien tatsächlich dadurch, dass man als Zuschauer in erster Linie am Verlauf der Handlung interessiert ist? Oder ist es

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nicht viel eher so, dass man von der Stimmung gepackt wird und fasziniert ist? Ich denke auch jetzt wieder z. B. an »Mad Men«. Solche Formate erinnern mich ein bisschen an ein Buch, wo man am Ende der letzten Seite denkt: Schade, jetzt ist es vorbei. Serien können dieses Gefühl, diesen Genuss am reinen Lesen bzw. Sehen, am Eintauchen in eine Stimmung, länger aufrechterhalten. Es geht gar nicht so sehr um Handlung, es geht nicht so um die Personen, sondern man hat »es« irgendwie lieb gewonnen …. K: Ich glaube, das ist ein Merkmal jeglicher Art von serialer Erzählung, dass man zu einem Text zurückkehrt und damit auch ein bestimmtes Lese- oder Schauerlebnis aktualisiert. Das Gefühl der Geborgenheit ist gut belegt in Leserund Zuschaueraussagen zur Frage, warum sie gerne Serien konsumieren. Zur Serialität gehört generell mit dazu, dass man gerne zurückkehren möchte zum Text, aber auch zu einem bestimmten, oft alltagskulturell ritualisierten Erzählerlebnis. Dabei haben wir es natürlich mit einem wahnsinnig großen Feld an Genres und Sendungen zu tun. Serien mit unabgeschlossenen Episoden z. B. (was im Amerikanischen »serialisierte« Serien heißt) stellen das Moment der narrativen Fortsetzung in den Vordergrund, wohingegen eine Serie wie Mad Men ganz stark von der Wiederholung und Weiterführung von Stimmung lebt. JS: Selbst Serien, bei denen die Wandlung von Personen im Vordergrund steht, operieren sehr stark mit diesen Wiederholungsformen, damit man eine Figur immer wiedererkennt. Es gibt so eine gewollte und gewünschte Form der Wiederkehr des Immergleichen, die sehr wichtig ist, auch dort, wo man um Innovationen bemüht ist. Zwar gab es schon immer »politische Serien«, die wiederholt das Thema Politik aufgegriffen haben. Nun gibt es in letzter Zeit mit »The West Wing« oder »House of Cards«, vielleicht sogar mit »Game of Thrones«, Serien, die das Politische sehr stark ins Zentrum des Handelns stellen. Ist das wirklich ein Trend? Woher kommt er? Und funktioniert diese Differenzierung von »Politikserien« überhaupt? JS: Ich glaube schon, dass an der Beobachtung mit dem Trend grundsätzlich etwas dran ist. Derzeit gibt es schon eine erstaunliche Vielzahl von TVSerien, die sich dezidiert mit Politik befassen. Dennoch sollte man hinsichtlich der Ausrufung von Trends skeptisch bleiben. In der Berichterstattung ist es ja so, wenn drei Serien ganz klar als Politikserien zu erkennen sind, dann haben wir es mit einem Trend zu tun. Das erweist sich in historischer Perspektive oft als ungenau. Ungeachtet dessen, denke ich, dass es eine interessante Affinität zwischen dem seriellen Erzählen und dem Thema Politik gibt. Dass das Politische also etwas ist, das sich für das serielle Erzählen sehr gut eignet – ein folgenreiches Handeln, ein System von Transparenz und Intransparenz, damit Interview mit Frank Kelleter und Andreas Jahn-Sudmann

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verbundene Handlungsprozesse und Operationen, die sich langsam entfalten. Das korrespondiert natürlich sehr gut mit einem bestimmten Mythos des Politischen, Politik als Prozessgeschehen, als Wechselbeziehung zwischen Personen, Führern und Massen, als Transaktionsverhältnis. Und die Serien buchstabieren das aus, bestätigen das Bild – oder korrigieren es. So könnte man zum Beispiel sagen, dass es bei The West Wing darum geht, ein bestimmtes kulturelles Wahrnehmungsstereotyp darüber, wie es im White House vor sich geht, zu korrigieren – das klassische Stereotyp in der Öffentlichkeit über politische Intrigen, den politischen Kampf, den Willen zur Macht. Deswegen ist diese idealistische Version vor einem bestimmten Liberalismus auch eine Korrekturmaßnahme und nicht nur dem Anspruch des Idealismus selbst geschuldet. Das heißt, es hat möglicherweise so etwas wie einen didaktischen Nutzen? K: Die Frage ist immer, wer lernt da was? Wem nutzt das? Ich glaube, was jetzt beschrieben wurde, ist weniger eine Frage der Didaktik als eine Frage der Korrektur bestimmter Auffassungen von Politik, die The West Wing betreibt. Die Serie tritt hier gewissermaßen selbst als interessierter medialer Akteur im politischen Geschehen zur Zeit der George W. Bush-Administration auf. Es ging mir mehr um die Prozesse des politischen Aushandelns und Entscheidungfindens. Schließlich ist ja doch interessant, dass in einer Serie wie »The West Wing« abseits der konkreten Policyinhalte genau diese Abläufe, die gemeinhin als öde beziehungsweise als wenig interessant gelten – etwa: wie wird ein Gesetz verabschiedet, wie wird die für ein Votum erforderliche Mehrheit erreicht? – als etwas Spannendes dargestellt werden. K: Man kann das als politische Bildung lesen, ich weiß aber nicht, ob das die beste Beschreibung dessen ist, was da passiert. Ich glaube, Politik ist in amerikanischen Serien zunächst einmal Teil eines größeren Themenrepertoires, das bestimmte dramatische Situationen und Figurenkonstellationen bereitstellt, mit denen man mehr als nur eine Staffel füllen kann. Viele Politikserien vor The West Wing funktionieren so; sie haben ein relativ instrumentelles Verhältnis zu ihrem politischen Gegenstand. Es gibt da einige Komödien, die im Grunde die klassische Sitcom-Ästhetik durchspielen anhand des Politischen. Da lernt man relativ wenig über Politik als spezifisches Geschäft. The West Wing muss man dann wahrscheinlich vor dem Hintergrund sehen, dass diese Serie zu einem Zeitpunkt auf die Bildschirme kommt, zu dem Politik im amerikanischen Fernsehen ansonsten vor allem in Infotainmentprogrammen stattfindet, z. B. bei Fox News, wo Politik als etwas sehr Spannendes, als eine Art spectator sport dargestellt wird, wo konträre Meinungen ungeachtet ihres

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Wahrheitsgehaltes oder irgendeiner demographischen Repräsentanz frontal aufeinandertreffen, so dass das eigentlich Interessante und Spannende die Polarisierung ist – die Frage: how will they fight it out? Nichtsdestotrotz würde ich sagen, wenn man sich The West Wing Folge für Folge anschaut, geht es der Serie nicht nur um eine Imagekorrektur politischer Prozesse, sondern letztlich auch darum, ihr eigenes Überleben sicherzustellen. Auch hier wird das Politische also gewissermaßen als ein bereits erfolgreich medialisiertes Narrativ genutzt, das bestimmte dramatische Situationen bereitstellt und das auch sehr gut tut und tun kann. JS: Aus der literatur- oder medienwissenschaftlichen Perspektive heraus betonen wir immer die Alterität des Medialen und der Serie. Das bedeutet, ihr Anderssein gegenüber der Wirklichkeit, weil sie eben eine Fernsehserie ist, weil sie ökonomischen Zwecken wie der Unterhaltung und so weiter dient. Wenn man davon einmal abstrahiert, dann ist das ein Argument, das sofort als Einwand vorgebracht werden kann gegenüber jeglichem Realismusanspruch von Serien. Wenn man das einmal ignoriert, dann besitzt die Serie doch immer einen Bezug zur Wirklichkeit, selbst dann, wenn sie vermeintlich von ihr weit entfernt scheint. Man kann die Serie nicht aus der Wirklichkeit herausrechnen. Und umgekehrt. K: Eben. Man kann die Serie nicht aus der Wirklichkeit herausrechnen. Es ist nicht so, dass unsere sogenannten Repräsentationsmedien irgendwo außerhalb einer Wirklichkeit existieren, die sie dann abbilden. Vielmehr sind sie selbst ein Teil dieser Wirklichkeit, die sie bloß abzubilden behaupten. Es sehen sich ja auch echte Politiker in den USA die Serien an. Die schauen auch Fox News, die treten auch bei CNN auf. Ob sie wollen oder nicht, sind sie dazu gezwungen, als Medienpersönlichkeiten zu agieren und zu existieren. Das ist ein sehr interessantes Stichwort: der Realismusanspruch. Jürgen Trittin z. B. hat in einem Artikel mal gesagt, dass »House of Cards« eine besonders gute Darstellung, weil eine besonders realistische Darstellung der Politik sei. Man hat den Eindruck, dass viele Leute diese Serie als Realismus empfinden, weil sie sehr düster ist, weil das Politische als ein sehr kämpferischer Ort dargestellt wird. Stimmt es wirklich, dass ein klein wenig das Böse oder das Ironische in diesen Serien gewonnen hat? JS: Das Absurde auf jeden Fall auch. Ich glaube, Wirklichkeit stellt sich auch für uns so dar, wie wir Tony Soprano erleben, mit all seinen krassen Problemen und deren Konsequenzen. Es ist gerade diese Dimension des Absurden in vielen Serien, über die wir einen Bezug zu unserem Leben herstellen können. Wir sind ja ganz oft in Situationen verstrickt, bei denen wir sagen, Interview mit Frank Kelleter und Andreas Jahn-Sudmann

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dass es völlig absurd sei, da hineingeraten zu sein. Wir haben also ähnliche Probleme wie Tony Soprano. Wir bringen zwar keine Leute um, aber auch wir müssen verschiedene Sphären, die konträr zueinander stehen, Arbeit und Freizeit etwa, irgendwie miteinander aushandeln und versöhnen. All das beobachten wir in Serien und das bietet immer auch Möglichkeiten, Bezüge zum eigenen Leben herzustellen. Das gilt genauso für Serien, die vermeintlich besonders weit entfernt sind von unserem Alltagsleben, z. B. Game of Thrones. Oder auch Zufälle … K: House of Cards ist vielleicht ein besonderer Fall. Francis Underwood hat einen Plan, den er unbeirrt verfolgt: das ist im Grunde eine klassische Intrigen- und Rachegeschichte. Man könnte das auch als Shakespeare-Drama erzählen, und tatsächlich steht es ja auch in einer solchen Tradition. Da bietet sich das Politische als Themenfeld natürlich ganz besonders an, weil die Vermutung, dass Amtsträger eigentlich andere Interessen verfolgen als die, die sie öffentlich zu vertreten behaupten, in der Bevölkerung weit verbreitet ist. Die Aussage, dass hinter verschlossenen Türen ein Spiel gespielt wird, an dem man selbst nicht beteiligt ist, darf in demokratischen Gesellschaften immer mit großer Zustimmung rechnen. Vielleicht deshalb beteiligen solche Gesellschaften ihre Mitglieder dann auch immer wieder am eigenen Unbeteiligtsein, indem Erzählungen und Fernsehserien genau das zeigen, von dem es heißt, dass es eigentlich keiner zu sehen bekommt. Und vielleicht findet Jürgen Trittin deshalb auch House of Cards so gut, weil zum Republikanismus einfach dazugehört, den Machthabern gegenüber misstrauisch zu sein. Und wenn ein echter Politiker dann zu erkennen gibt: Ja, genau so ist das – dann kann das in der Logik dieser medialen Schleife durchaus als Ausweis der eigenen Realitätstüchtigkeit gelten. Von solchen Feedback-Effekten zwischen einem dramatischen Machiavellismus und einer machiavellistischen Dramatisierung lebt House of Cards. Die Politiker werden hier mit einer Genüsslichkeit und einem Extremismus ins Zwielicht gerückt, dass das schon wieder charismatische Folgen hat. Kevin Spacey ist da durchaus eine faszinierende Figur, auf seine Art bewundernswert, vergleichbar mit J.R. Ewing aus Dallas. Ist »House of Cards« quasi der Gegenentwurf zu »The West Wing«? K: Sicherlich. Was daran interessant ist, ist auch, dass Underwood ein Demokrat ist. Man hätte es sich wahrscheinlich nicht leisten können, jetzt auch noch einen Republikaner darzustellen. Underwood als Republikaner wäre immer Gefahr gelaufen, als polemische Figur dazustehen, vielleicht auch als extremes Stereotyp. Als Demokrat hingegen scheint die Figur paradoxerweise

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keiner bestimmten Partei mehr anzugehören, sondern einfach den Typus des Politikers in einer Parteiendemokratie zu repräsentieren. Umgekehrt wäre Präsident Bartlet in The West Wing schwer vorstellbar als Republikaner. The West Wing ist dank Bartlet dezidiert pro-demokratisch; House of Cards aber ist wegen Underwood nicht anti-demokratisch, weil die Serie gar keine expliziten parteipolitischen Interessen verfolgt, sondern einen allgemeinen Topos von Politik auf die Spitze treibt. Dadurch wird der Kontrast zwischen House of Cards und The West Wing natürlich noch deutlicher. Ich glaube schon, das ist ein Gegenentwurf. Gar nicht nur im ideellen, ideologischen Sinne, sondern auch im seriellen, narrativen Sinne. Bedient die Serie aber nicht möglicherweise auch populistische Vorurteile über die Politik, gängige Stereotype? K: Mit dem »Bedienen« ist das so eine Sache. Es scheint mir konstitutiv für republikanische Systeme zu sein, dass man Amtsinhaber immer auch als potenzielle Machthaber verdächtigt, denen nicht – oder nur für eine bestimmte Zeit – über den Weg zu trauen ist. Deshalb muss ja auch ständig neu gewählt werden. Das mag dann für die einzelnen Personen ein Vorurteil sein, aber ich glaube, das ist systemimmanent. Neben bspw. Trittins Lob von »House of Cards« als einer besonders realistischen Serie gibt es natürlich noch die andere Einschätzung, nach der diese Darstellung überhaupt nicht realistisch sei, weil ein machthungriger Politiker ganz anders handeln würde als Francis Underwood, da es so »einfach« dann doch nicht funktionieren würde. Einem Politiker, der diese Strategie verfolgen würde, würde diese sofort zum Verhängnis werden, weil in der Politik gerade überrationale Egotypen sich selber am schnellsten entlarvten. JS: Bei House of Cards erscheint das schon sehr, drastisch, weil es da bis zum Mord geht. Da liegt der Gedanke schon nah, dass es deshalb unrealistisch sei. Aber wie Frank Kelleter schon gesagt hat, korrespondiert die Serie gerade mit ihren düsteren Bildern sehr gut mit der öffentlichen Vorstellung von Politik, derzufolge sie wesentlich Intrige ist, das Schachern um Posten, der faule Kompromiss. Es gibt dort zwar Idealisten, aber die haben keinen Bezug zur Realität. Das sind diese Vorurteilswelten, zu denen man sich verhalten muss, wenn man eine Serie macht. Dass man sagt, welches Bild des Politischen zirkuliert eigentlich und wie können wir dann dazu einen Stoff entwickeln. Es geht ja nicht darum, wie man Politik pädagogisch vermitteln kann. Das sind keine Pädagogen, das sind Schreiber, Regisseure und so weiter. Das muss man immer in Rechnung stellen und wenn man das bedenkt, Interview mit Frank Kelleter und Andreas Jahn-Sudmann

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sind solche Aussagen wie die von Jürgen Trittin schon interessant. Er nimmt eben eine sehr kokettierende Position ein, wenn er behauptet: So ist halt die Politik, aber ich bin wenigstens so aufrichtig, das zuzugeben. Mit demselben Gestus der Aufrichtigkeit spielt auch die dänische Serie Borgen, wenn sie uns zeigt, wie das Politische und das Mediale aufeinander wechselseitig angewiesen sind, selbst jedoch die Instanz darstellt, die eben diese Prozesse transparent macht. Derartige Strategien sind ja auch im Dokumentarfilm historisch omnipräsent. Umso mehr gilt es, diesen Gesten der Aufrichtigkeit zu misstrauen, die sich genau auf dieser Metaebene bewegen. Entsteht da so etwas wie neuer Typus des Helden? Eine Art Schlitzohr auf der Seite der Guten? K: Es gibt im Erzählrepertoire gerade amerikanischer Medien natürlich sehr viele Möglichkeiten, die Heldenposition zu besetzen. Das »Schlitzohr auf Seite der Guten« ist eigentlich nichts Neues. Man könnte sagen, das ist eine Definition, die in gewisser Weise schon auf Huckleberry Finn zutrifft. Es gibt dann sicherlich narrative Konjunkturen, aber auch politische Situationen, in denen gerade diese Figuren besonders gefragt oder besonders erfolgsträchtig ist. Ein komplett neuer Heldentypus ist das aber nicht. Zu den Intrigen oder der Frage von Transparenz und Intransparenz – dort zeigt sich etwas Interessantes. Bei »House of Cards« ist es die Intrige, die dem Nutzen von Francis Underwood dient. Aber auch in anderen Serien müssen häufig Entscheidungen hinter verschlossener Tür getroffen werden. Die klassische Hinterzimmerpolitik; die aber, und das ist das Bemerkenswerte, oftmals ästhetisch positiv inszeniert wird und »gute« Entscheidungen zu Tage bringt. K: Die Intrige ist eines der ältesten Motive des bürgerlichen Dramas – dort meist zur Darstellung aristokratischer Praktiken genutzt, also auch zur Selbstversicherung einer eigenen moralischen Position. Ich glaube, der Einbau von Intrigen in Serien hat ähnliche dramatische Gründe. Daneben eignen sich Intrigen einfach sehr gut dazu, seriell erzählt zu werden. Für eine Serie, die nicht auf abgeschlossene Episoden setzt, sondern ihre Zuschauer von Episode zu Episode mitziehen muss, ist eine Intrige Gold wert. Ich meinte nicht nur die klassische Intrige. Sondern auch die sozusagen »positive Intrige«, die Intransparenz, die als etwas Positives dargestellt und von den Zuschauern auch akzeptiert wird, zumindest nicht kritisiert. JS: Da muss man natürlich überlegen: Interessiert man sich für die Hinterzimmerpolitik bei The West Wing oder bei House of Cards, das sind ja zwei

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unterschiedliche Versionen davon. In dem einen Fall stellen wir im Hinterzimmer fest: Guck mal, das ist ja ganz anders, als ich es mir vorgestellt habe. In dem anderen denkt man: Das ist ja noch viel schlimmer, als ich mir das vorgestellt habe. Aber interessant ist natürlich zu sehen, inwieweit die Intrigen einen Wirklichkeitsbezug haben. Das weckt dann ein politisches Interesse vielleicht auch bei Leuten, die sich sonst nicht dafür interessieren, weil es tatsächlich Fragen der operationalen Ästhetik sind. Wie ist das mit dem Kongress? Wie funktioniert der? Plötzlich sind es Fragen, die zu Operationen des Erzählens werden und Leute interessieren können, die sich sonst nicht dafür interessieren würden. Auch ohne entsprechende Intention kann das dann pädagogische Effekte zeitigen. Quasi ein didaktischer Nebeneffekt solcher Momente in Serien. Und nicht nur in »The West Wing«, sondern auch in anderen Produktionen. Der Blick darauf ist für uns Politologen natürlich interessant. Sonst vernimmt man ja oft den Ruf nach transparenten politischen Entscheidungen. In diesen Serien sind aber die besseren Entscheidungen gar nicht diejenigen, die so – also transparent und offen – gefällt werden, sondern die, die in kleinen Runden nachts übermüdet und nach langwierigem Hin- und Herüberlegen abseits der Öffentlichkeit getroffen werden. JS: Die Intransparenz gehört ein Stück mit dazu und wird auch akzeptiert, weil ja klar ist, dass man nicht alles unkommentiert herausgeben kann. Dieses Ideal der Transparenz ist in der Politik überhaupt nicht erfüllbar, das muss man ganz klar sagen. Ein Stück weit, glaube ich, wird das gemeinhin auch akzeptiert. Aber die Serie spielt ja mit Sichtbarmachung, man muss die Zuschauerperspektive einnehmen. Wir werden zu Verbündeten von Underwood, er spricht zu uns wie Richard III. Einerseits sind wir die Kleinen, die ihm folgen. Andererseits sind wir an ihm dran und wissen besser Bescheid als die Figuren, die er betrügt. Die Transparenz ist trügerisch, sie gibt uns die Illusion des Einblicks in dunkle Machenschaften, was ja wesentlich dem Seduktiven und dem Spektakel dieser Transparenz geschuldet ist und nicht allein dem Realismus, den tatsächlichen Machtmechaniken. Diese Differenz droht natürlich im Hinblick auf diese Sichtbarmachung zu verschwinden. Das alles macht, glaube ich, die Faszination von Serien aus. Diese Serien sind alle sehr exekutivlastig, sie haben als Handlungssphäre die gerade aktiv regierende Politik, nicht etwa die Opposition oder die Parteien. K: Ich glaube, da gibt es erneut klare dramaturgische Anforderungen. Dezisionistische Situationen eignen sich vor allem für das serielle Drama. Interview mit Frank Kelleter und Andreas Jahn-Sudmann

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Bürokratie hingegen eignet sich eher für die Komödie, etwa bei Parks and Recreation. Auch die institutionellen Aspekte der Parteiendemokratie: das kann man sehr viel einfacher komödiantisch darstellen als dramatisch. Vielleicht hat das auch etwas mit der politischen Kultur eines Landes zu tun. Wir haben ja zumeist über US-amerikanische Produktionen gesprochen. Es gibt auch in Großbritannien eine längere Tradition von Politikserien. Noch haben wir z. B. gar nicht über das BBC-Original von »House of Cards« gesprochen. Das Original basiert ja auf einem Roman von einem Thatcherberater, vielleicht ist diese Konstellationen besonders relevant? Oder haben die britischen Produktionen evtl. etwas besonders Absurdes? Ich denke da an »Thick of It« und diese ganze Monty-­Python-Tradition der Satire. K: Das britische House of Cards war ja eine »miniseries«, wie es im Englischen heißt, also ein Mehrteiler und eigentlich kein seriell fortlaufendes Format. Da haben wir also eine abgeschlossene Werkerzählung, die dann nur segmentiert ausgestrahlt wird und ansonsten sehr stark von dramatischen Konventionen lebt, die bis auf die Shakespeare-Dramen zurückgehen und damit in Großbritannien natürlich auf eine lange Tradition zurückblicken. Tatsächlich kann man ja auch die Königsdramen als politische Dramen lesen, aber eben nicht im republikanischen Sinn. So oder so würde ich betonen – für House of Cards und Thick of It –, dass die Art und Weise, wie Politik hier jeweils fiktional dargestellt wird, im großen Maße davon abhängt, wie Politik in den umgebenden faktualen Programmen stattfindet. Und da sehen wir einen riesigen Unterschied zwischen den Vereinigten Staaten und der Bundesrepublik Deutschland. Wenn man sich unsere Nachrichtenprogramme anschaut, aber auch unsere dokumentarischen Politikformate im Fernsehen, und wenn man das dann mit dem vergleicht, was seit den 1980er Jahren in den USA läuft, dann ist das eine komplett andere Art von Mediatisierung von Politik. Fiktionale und faktuale Politikaufführungen müssen hier im Verbund gesehen werden. Die Serie »Kanzleramt« hat ja versucht, ganz ähnlich Politik darzustellen, wurde aber ganz früh wieder eingestellt. Warum? K: Mein Verdacht ist, dass es deshalb nicht funktioniert hat, weil versucht wurde, das so darzustellen, als ob das Kanzleramt eigentlich in W ­ ashington stünde. Warum gibt es sonst keine deutsche Produktion? JS: Diese Frage zu beantworten ist natürlich wahnsinnig schwierig. Man muss an so vieles denken, etwa an die Differenzen zwischen dem deutschen

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und dem amerikanischen Mediensystem. Man muss natürlich auch fragen, was Erfolg überhaupt heißt. Geht es um den ökonomischen Erfolg? Amerika bedient den globalen Markt, Deutschland nicht. Amerikanische Serien sind ohnehin Bestandteile des deutschen Fernsehprogrammes. Die haben ihre festen Slots, das ist eine ganz lange zurückreichende historische Tradition. Ich glaube auch, dass der deutschen Film- und Fernsehkultur mitunter der Mut fehlt, etwas Neues zu machen. Sie zeichnet sich, abgesehen von wenigen Akteuren wie Dominik Graf zum Beispiel, leider nicht dadurch aus, Experimente zu wagen,, sondern auf bereits fahrende Züge aufzuspringen, aktuell den des Qualitätsfernsehens. K: Die Produktionskulturen sind überhaupt nicht miteinander vergleichbar. Da haben wir einmal das öffentlich-rechtliche System – und auch die Privaten funktionieren anderes als die Kabelsender in den USA. Möglicherweise hat es auch damit zu tun, dass das Fernsehen als Medium bei den Kreativen in den USA sehr viel hoffähiger ist als in Deutschland. Das mag sich jetzt langsam ändern, aber man hat es hierzulande doch mit sehr unterschiedlichen medialen Wertungen und Praktiken zu tun. JS: Es ist nicht so, dass es in Deutschland nie Fernsehexperimente gegeben hätte, Das Millionenspiel zum Beispiel war so ein Versuch. Aber wenn es um die Bereitschaft geht, etwas zu wagen, das auch mit einem Risiko verbunden ist, zum Beispiel das Thema Rassismus aufzuarbeiten für ein Unterhaltungsformat – da waren damals die Briten und Amerikaner immer ein Stück weiter als die entsprechenden Kulturschaffenden in Deutschland. Bei »House of Cards« spielt die Angst, die alle Politiker begleitet, nämlich die Angst vor der Öffentlichkeit, eine große Rolle. Jan Krastev hat einmal gesagt, dass wir in einem Zeitalter des umgekehrten Panoptikums leben. K: Was interessant ist, schauen Sie sich mal die Briefe von George Wash­ ington an oder die Tagebücher von Thomas Jefferson. Das umgekehrte Pan­ optikum finden Sie schon bei der ersten republikanischen Generation. Jefferson schreibt, wie froh er ist, endlich dem Amt entkommen zu sein, weil im Grunde jedes Wort, das er als Amtsinhaber spricht, sofort von der Öffentlichkeit aufschnappt und dann von der Oppositionspresse instrumentalisiert oder umgedreht wird. Diese Erfahrung ist fast so alt wie die Vereinigten Staaten selbst; im Grunde beginnt das in den 1790er Jahren, und stellenweise sogar schon früher, bei Washington, der ebenfalls ein sehr ambivalentes Verhältnis zur medialen Öffentlichkeit seiner Zeit hatte, vom öffentlichkeitsscheuen John Adams ganz zu schweigen. Das hat damit zu tun, dass sich die amerikanische Republik seit den Federalist Papers als eine sieht, die nicht auf einem Interview mit Frank Kelleter und Andreas Jahn-Sudmann

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ideologischen Konsens basiert, sondern auf Verkehrsformen, die sicherstellen sollen, dass weit entfernte Staaten über gemeinsame kommunikative Prozeduren – statt gemeinsame Meinungen – miteinander verbunden sind. Was wir heute eine nationale Öffentlichkeit nennen, läuft also im Modell der »extend­ed republic« (wie James Madison es nannte) fast zwangsläufig, wenn auch nicht unbedingt gewollt auf ständige Polarisierungen hinaus – und die USA entwickeln deshalb sehr früh, eigentlich von Anfang an, einen mitlaufenden populären Diskurs, der immer auch die eigene Uneinigkeit – das Fehlen oder den Verlust von Einheit – beklagt. Das reicht von Jefferson und Adams in den 1790er Jahren bis in unsere Tage. Das Militärische scheint eine große Rolle zu spielen. Es gibt mindestens drei Szenen in unterschiedlichen Serien, in denen ein U-Boot mit US-amerikanischer Besatzung in feindliche Gewässer gefahren und untergegangen ist und mit ­diplomatischen Verwicklungen gerettet werden muss. Das ist dann die Sternstunde des Präsidenten. K: Ja, das ist das, was im politischen Vokabular der USA »leadership« heißt – ein zentraler Wert. Da sehen wir natürlich auch einen Unterschied zu deutschen Politikauffassungen und zur deutschen Politikserie. Die tut sich aus naheliegenden historischen Gründen unglaublich schwer, »leadership« einfach mal so dramaturgisch zu nutzen – es ist ja nicht mal möglich, den Begriff ins Deutsche zu übersetzen. Und das ist sicher kein Nachteil für unsere politische Kultur, hat aber halt Folgen für die Art und Weise, wie Politik in Fernsehserien erzählt wird. Es scheint, als ob diese Qualitätsserien bzw. deren Zuschauer gar nicht mehr generationell stark voneinander getrennt sind, sondern dass verschiedenste Generationen ein und dieselbe Fernsehserie mögen. »House of Cards«, »Game of Thrones« sind ja durchaus Serien, die von allen Generationen gesehen werden. Haben sich generell die Sehgewohnheiten verändert? Sind sich die Generationen ähnlicher geworden? JS: Der Tatort verband auch früher schon die Generationen, der hatte etwas Gemeinschaft stiftendes, da saß und sitzt nach wie vor die ganze Familie vor dem Fernseher. Oder denken sie an Wetten dass … in den 1980er Jahren. Das lief samstagabends um 20:15 Uhr, das war ein fester Termin. Eher ist es so, dass diese Fernsehereignisse, die eine vergemeinschaftende Wirkung hatten, mittlerweile verschwunden sind. Das Fernsehen hat sich fragmentarisiert. Wenn ich heute frage: »Hast du das schon gesehen?«, dann kommt mit ziemlicher Sicherheit als Antwort: »Nee, ich bin noch bei Episode so und so

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von Staffel so und so.« Es gibt also nicht mehr diese Synchronität, die aber die Voraussetzung für eine z. B. generationsübergreifende Kommunikation über die Serien wäre. Andererseits ist das Broadcast-Modell nach wie vor dominant, wir gucken keineswegs alle nur noch Serien im Internet. Das alte Fernsehen ist also nicht vollständig verschwunden, das muss man ganz klar sagen. Noch einmal zu den Zuschauern: Wer guckt die »Politikserien im engeren Sinne«? Leute, die sich sowieso schon für Politik interessieren? Ist ihre Popularität nur eine Art Feuilletonphänomen? JS: Das muss man natürlich empirisch untersuchen. Dennoch kann man wohl behaupten, dass die Serie nicht nur von Leuten geschaut wird, die sich für Politik interessieren. Nachdem man sich bei Netflix dazu entschieden hat, House of Cards zu produzieren, hat man sich sofort Gedanken gemacht, wie wahrscheinlich es ist, dass die Serie Erfolg haben wird. Das haben sie mit Hilfe von Big Data-Analysen ausgewertet und herausgefunden, dass ein breites, aber auch sehr heterogenes Publikum aus unterschiedlichen Gründen an der Serie interessiert sein dürfte. Zum Beispiel gibt es Fans, die House of Cards allein wegen David Fincher schauen. Andere gucken das einfach als ambitionierte und spannende Fernsehserie. K: Man müsste vielleicht noch einmal die Frage stellen, inwieweit ein Genre der Politikserie existiert. Mir scheint, dass House of Cards in der Art und Weise, wie hier über Politik gesprochen wird, relativ politikunspezifisch ist und man diese ganze Geschichte prinzipiell auch als ein Mafiadrama oder in einer Anwaltskanzlei erzählen könnte. Das ist bei The West Wing nicht so, hier wird viel stärker eine bestimmte Überzeugung zur Schau gestellt. Ob es so etwas wie ein Genre der Politikserie gibt, würde ich bezweifeln. All die Serien, die zwischen »The West Wing« und dem neuen »House of Cards« entstanden, z. B. »Commander in Chief«, »Political Animals« und »The State Within« usw. – würden Sie sagen, dass man hier vom »Genre der Politikserie« sprechen kann? Oder sind diese Produktionen einfach nur auf einen fahrenden Zug aufgesprungen? K: In gewisser Weise ist das sicher der Fall. Wenn sich ein Format einmal als erfolgreich herausstellt, dann wird es Differenzierungsversuche geben: In welche Nische kann man noch gehen? Wie kann man dieselbe Geschichte noch einmal anders erzählen? Welches überraschende Element kann man da hineinbringen? Diese Überlegungen können dazu führen, dass der »Commander in Chief« dann zum Beispiel eine Frau ist. Und einige dieser Serien funktionieren eine Weile und andere tun das nicht. Aber das ist relativ typisch Interview mit Frank Kelleter und Andreas Jahn-Sudmann

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für den Serienmarkt generell. Deshalb gibt es Themenkonjunkturen, auch Motiv- und Stilkonjunkturen. Der Begriff der Konjunktur oder des Zyklus ist hier wohl besser geeignet als der des Genres. Es gibt zweifellos eine Tendenz zur Selbstreflexivität von Medien; die Medien stellen sich heute deutlich schneller selber als etwas Gemachtes dar. Bei den Politikserien haben wir einerseits das hohe Lob des Realismus, andererseits die vierte Wand bei Francis Underwood. Gibt es eher einen Trend zum Realismus oder zur Fiktionalität? JS: Man muss diese Opposition hinterfragen. Indem das Fernsehen auf sich selbst verweist, wird es nicht weniger wirklich. Das ist wesentlich. Die Denkfigur, dass Zeichen nur noch auf andere Zeichen verweisen, war in den 1980er Jahren verbreitet im Hinblick auf das Politische und damit verbunden die Warnung, dass wir nur noch in einem Hyperrealismus existieren. Ich nenne die 1980er nicht ohne Grund, da es natürlich die Zeit von MTV ist, wo die Ausstellung der operationalen Ästhetik, die Exponierung dieser Televisualität, für alle ganz sichtbar gewesen ist und eine eigene ästhetische Dimension herausgebildet hat. Dass sich das Fernsehen nicht mehr darüber definiert, dass es irgendwie klar bestimmbare und identifizierbare Diskurspositionen gibt, sondern einen Exzess der Zeichen, einen Exzess des Ästhetischen, der gewissermaßen seinen eigenen Wirklichkeitseffekt generiert und auf diese Weise zum Gegenstand einer bestimmten spezifischen ästhetischen Erfahrung wird, die fernsehhistorisch durchaus neu ist. Man könnte hier auch vom »Neofernsehen« sprechen. Das Interview führten Jöran Klatt und Katharina Rahlf. Prof. Dr. Frank Kelleter ist Einstein-Professor für Nordamerikanische Kultur und Kulturgeschichte am John-F.-KennedyInstitut der Freien Universität Berlin. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die amerikanische Kolonialzeit und Aufklärung, Theorien der amerikanischen Moderne und die amerikanische Medien- und Populärkultur seit dem 19. Jahrhundert. Er ist Initiator und Sprecher der DFG-Forschergruppe »Ästhetik und Praxis populärer Serialität«. Zu seinen jüngsten Publikationen gehören die Bücher »Populäre Serialität: Narration – Evolution – Distinktion« (transcript, 2012) und »Serial Agencies: The Wire and Its Readers« (Zero Books, 2014).

Dr. Andreas Jahn-Sudmann lehrt und forscht als Medienwissenschaftler am John-F.-Kennedy-Institut der Freien ­Universität Berlin. Im Rahmen der DFG-Forschergruppe ­»Ästhetik und Praxis populärer Serialität« leitet er, gemeinsam mit Shane Denson (Duke University), das Teilprojekt »Digi­ tale Serialität«.

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STUDIE

MACHTKAMPF, INTRIGEN UND MANIPULATION DIE NEGATIVE WAHRNEHMUNG VON POLITIKGESCHEHEN IN AKTUELLEN POLITIKSERIEN ΞΞ Annekatrin Bock

Fernsehserien als Teil der Alltagskultur sind bereits seit geraumer Zeit Gegenstand diverser Untersuchungen.1 Spätestens seit der Einführung des US-amerikanischen Kabelfernsehsenders HBO mit seinen viel gerühmten und als Qualitätsprodukte2 etikettierten Prime-Time-Serien ist die ehemals als banales Unterhaltungsprodukt geltende Fernsehserie salonfähig geworden. Wer etwas auf sich hält, kennt sie, die neuen, ›angesagten‹, meist aus den USA 1  Vgl. u. a. Karin Knop, Comedy in Serie: Medienwissenschaftliche Perspektiven auf ein TV-Format, Bielefeld 2007; Knuth Hickethier, Dispositiv Fernsehen. Skizze eines Modells, in: montage/av, Jg. 4 (1995) H. 1, S. 63–83; Dorothy Hobson, Crossroads: The drama of a soap opera, London 1982. 2  Vgl. Andreas Jahn-Sudmann u. Alexander Starre, Die Experimente des »Quality TV«. Innovation und Metamedialität in neueren amerikanischen Serien, in: Susanne Eichner u. a. (Hg.), Transnationale Serienkultur, Wiesbaden 2013, S. 103–119. 3  Annekatrin Bock, Fernsehserienrezeption, Produktion, Vermarktung und Rezeption US-amerikanischer Prime Time Serien, Wiesbaden 2013, S. 41. 4  Todd Gitlin, Inside Prime Time, New York 2000, S. 21.

stammenden Serien, die mittlerweile als »Fernsehserien-ohne-Fernsehen«3 immer häufiger auch online rezipiert werden. Unabhängig vom Rezeptionskanal dienen Serien dabei nicht ausschließlich der Zerstreuung und Belustigung der Rezipient_innen. Mittlerweile als fester Bestandteil unserer Alltagskultur anerkannt, sind Serien somit Orte, an denen gesellschaftspolitische Themen verhandelt und Anstöße für Anschlussdiskussionen gegeben werden. Dennoch verlaufen die Mechanismen der Serienselektion meist unbewusst ab und lassen sich nur schwerlich empirisch greifbar machen. »If you figure it out, please let me know«4, lautet die Standardantwort amerikanischer Serienproduzenten auf die Frage, was denn nun eine Serie für das Publikum interessant gestalte. Die etwas ironische Replik der Serienmacher verweist dabei auf zentrale Fragen im Zusammenhang mit der Rezeptionsforschung zu Politikserien, denen sich dieser Beitrag ausführlicher zuwendet. Wer schaut die so genannten ›Politikserien‹ und aus welchen Gründen? Welches Bild des ›Politikmachens‹ wird von den Rezipient_innen in den Serien wahrgenommen? Welche Relevanz haben diese Medienprodukte nicht nur für die einzelnen Zuschauer_innen, sondern auch gesamtgesellschaftlich? Und gibt es darüber hinaus ein spezifisches ›Politikserienpublikum‹, das sich sowohl mittels soziodemografischer Merkmale als auch anhand gemeinsam geteilter Deutungspraktiken beschreiben lässt?

INDES, 2014–4, S. 23–31, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014, ISSN 2191–995X

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POLITIKSERIEN = POLITIK IN SERIEN Zunächst bedarf es allerdings einer Begriffsschärfung. Was genau soll hier unter Politikserien verstanden werden? Die Zahl der Publikationen, die sich mit den Begriffen Serie bzw. Serialität im Fernsehen befassen, ist groß.5 Die folgenden Überlegungen beziehen sich nun auf einen breiten Politikserienbegriff und konzentrieren sich vornehmlich auf US-amerikanische, ca. einstündige Serials.6 Dabei lassen sich Politikserien im engeren und weiteren Sinn unterscheiden. Politikserien im engeren Sinn meint solche Serien, die explizit im politischen Setting, also an ›Arbeitsplätzen von Politiker_innen‹, angesiedelt sind. Sie zeigen Politiker_innen als Protagonist_innen und beziehen einen gewichtigen Teil ihrer Handlung auf politische Aushandlungsprozesse, aber auch auf das politische Zeitgeschehen. Die hier angesprochenen Politikserien spielen somit in gegenwärtigen und insbesondere demokratisch organisierten politischen Systemen. Beispiele für solche Politikserien wären House of Cards ( USA seit 2013), Scandal ( USA seit 2012) oder The West Wing ( USA 1999–2006). Des Weiteren gibt es Politikserien im weiteren Sinn. Gemeint sind Serien, die als politisch motiviert einzuordnen sind und bei denen Politik als Steuerungsprozess von staatlichen und gesellschaftlichen Belangen latent handlungsrelevant ist. Bei diesen Serien sind nicht zwangsläufig Politiker_innen die Hauptfiguren, sondern auch andere gesellschaftliche Akteur_innen wie Journalist_innen, Anwält_innen oder Mitarbeiter_innen staatlicher Organisationen, deren Entscheidungen Einfluss auf das gesellschaftspolitische Geschehen nehmen (u. a. The Newsroom ( USA seit 2012), Damages ( USA 2007– 2012) oder 24 ( USA 2001–2010)). In diesem sehr weit gefassten Verständnis von Politikserien lassen sich schließlich auch Serien verorten, die in einem historischen Setting angesiedelt sind und Politik eher als Durchsetzung von Machtinteressen Regierender darstellen. Ein besonders präsentes Beispiel für diesen Politikserientyp ist die Serie Game of Thrones. EMPIRISCHE UNTERSUCHUNG ZUR WAHRNEHMUNG VON POLITISCHEN THEMEN IN FERNSEHSERIEN Nachdem das breite Spektrum der Serien, die gegenwärtig gesellschaftspolitische Themen aufgreifen, deutlich geworden sein dürfte, können nun die eingangs formulierten Fragen genauer betrachtet werden. Um Aussagen zur gegenwärtigen Politikserienrezeption treffen zu können, werden die Ergebnisse einer aktuellen Onlinebefragung von Politikserienzuschauer_innen in Bezug zu Ergebnissen einer Onlinebefragung von Serienzuschauer_innen gesetzt. Im Zeitverlauf lassen sich dadurch Tendenzen der Politikserienrezeption

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5  Vgl. u. a. Glen Creeber u. Matt Hills, TVIII. Into, or Towards, a New Television Age?, in: New Review of Film and Television Studies, Jg. 5 (2007) H. 1, S. 1–4; Uwe Boll, Die Gattung Serie und ihre Genres, Aachen 1994; Knut Hickethier, Die Fernsehserie und das Serielle des Fernsehens, Lüneburg 1991. 6  Bock, Fernsehserienrezeption, S. 32–42.

zeigen und diskutieren. Die erste Erhebung erfolgte im Rahmen einer Studie zu Rezeptionsmotiven von Serienzuschauer_innen. Im Zeitraum vom 14. Juli bis 31. August 2009 nahmen insgesamt 6548 Serienzuschauer_innen online an der Befragung teil. Die zweite Erhebung konzentrierte sich dezidiert auf Politikserienzuschauer_innen und deren Wahrnehmung politischer Themen in ausgewählten Fernsehserien. Auch diese Erhebung erfolgte online. Im Oktober 2014 wurden innerhalb einer Woche insgesamt 583 Personen befragt. SERIENZUSCHAUER_INNEN UND POLITIKSERIENZUSCHAUER_ INNEN – SOZIODEMOGRAFISCHE DATEN IM VERGLEICH Aus den Untersuchungsergebnissen der ersten Onlinebefragung können zunächst generelle soziodemografische Merkmale von Serienzuschauer_innen abgeleitet werden. Die hier betrachtete Gruppe von serienaffinen Rezipient_ innen teilt einen recht ähnlichen ›Steckbrief‹. Er_sie ist für gewöhnlich Single, lebt jedoch in einer Form von Gemeinschaft (u. a. Wohngemeinschaft oder mit den Eltern) und ist erwerbstätig. Es handelt sich annähernd gleichermaßen um Männer oder Frauen zwischen 19 und 35 Jahren, die formal tendenziell höher gebildet sind als der gesamtdeutsche Durchschnitt. Dementsprechend verfügt er_sie über ausreichende Englischkenntnisse, um Serien im Originalton mit oder ohne Untertitel schauen zu können. Da er_sie Serien häufiger als ältere Rezipient_innen im Internet schaut, ist diese Gruppe der Serienzuschauer_innen zudem recht onlineaffin.7 Diese onlineaffinen Serienzuschauer_innen sehen fast ausschließlich US-amerikanische Produktionen und dabei intensiv Prime-Time-Series und Serials (90,8 %; n = 18454) sowie Sitcoms (92,6 %; n = 3130). Die Gruppe der Politikserienzuschauer_innen aus der zweiten Erhebung unterscheidet sich in Bezug auf Alter, Geschlecht und formalen Bildungsstand deutlich von der ersten Gruppe. Die Politkserienzuschauer_innen sind im Vergleich zu den allgemeinen Serienzuschauer_innen tendenziell älter (im Schnitt zwischen 25 und 44 Jahren) und formal besser gebildet. So haben 46,5 % bzw. 40,5 % der 331 Politikserienzuschauer, die Angaben zu ihren soziodemografischen Daten machten, die (Fach-)Hochschulreife bzw. einen (Fach-)Hochschulabschluss erlangt. 7 

Vgl. Annekatrin Bock, »Wir, die Serienjunkies«. (Il)legaler ­Serienkonsum im Internet als Form digitaler Vergemeinschaftung. Vortrag auf der Medien­ soziologie-Tagung »Integration und Diversifikation« vom 09.–11.  Oktober 2014 in Düsseldorf.

Politikserien – darauf deuten die Ergebnisse der zweiten Befragung hin – werden zudem insbesondere von Männern gesehen. Hier zeigt die Ergebnisauswertung eine Schieflage von männlichen (69,3 %) im Vergleich zu weiblichen (24,1 %) Politikserienzuschauer_innen, die sich so in der ersten Erhebung nicht finden lässt, wo das Verhältnis von männlichen (50,4 %) und weiblichen (48,4 %) Rezipient_innen annähernd gleich verteilt war (vgl. Abb. 1). Annekatrin Bock  —  Machtkampf, Intrigen und Manipulation

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Abbildung 1: Vergleich Zuschauer_innen von Politikserien und Serien allgemein; n = 331

»… WEIL ES HIER NICHT NUR UM POLITICS, SONDERN AUCH UM POLICY GEHT« – POLITIK ALS THEMA IN SERIEN Das Thema »Politik« spielte in der ersten Befragung für die Rezipient_innen bei der Hinwendung zu Serien keine entscheidende Rolle und fand sich nicht unter den zwölf am häufigsten genannten Themen, die in Serien präferiert wurden. Politisches Geschehen und politische Akteur_innen wurden in der ersten Befragung eher randständig verhandelt und entsprechend wahrgenommen. Nur vier der 226 freien Antworten unter den insgesamt 10384 Nennungen zu präferierten Themen in Serien beziehen sich explizit auf das Thema Politik und den politischen Kontext in Serien. So heißt es beispielsweise: »[E]s darf auch etwas anspruchsvolles, mit politischer, gesellschaftlicher oder philosophischer Botschaft sein« oder »[Ich präferiere] Dramen mit deutlichen (sozial/gesellschafts-)politischen Bezügen, unabhängig von Ihrer Genrezugehörigkeit«, aber auch: »[Ich sehe gern] Serien, die auch, unabhängig vom jeweiligen Genre, als (gesellschafts-)politische/soziale Sittenbilder fungieren, z. B. The Wire, Mad Men, Deadwood«. Zum Zeitpunkt der ersten Befragung waren Serien wie House of Cards, Borgen (DK, seit 2012) oder Scandal noch nicht im Programm verfügbar. Die hier als Politikserien im engeren Sinn definierten Serien gewannen erst in den vergangenen zwei Jahren an Präsenz im Serienangebot. Abbildung 2 visualisiert die Ergebnisse der zweiten Erhebung zum Bekanntheitsgrad ausgewählter Politikserien. In der aktuellen Studie zur

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Politikserien — Studie

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Wahrnehmung von Politikserien kennen knapp zwei Drittel der Befragten House of Cards (72,4 %) und Game of Thrones (72,0 %). Bei 44,7 % bzw. 41,2 % sind die Serien 24 und The Newsroom bekannt. Gut zwei Drittel der Befragten sehen Scandal (38,3 %) und The West Wing (38,2 %) und rund jede_r Fünfte hat auch Borgen (20,8 %) rezipiert. Diese Ergebnisse zeigen, dass Serien, die wahrnehmbar gesellschaftspolitische Themen verhandeln, auch aktiv rezipiert werden.

Abbildung 2: Bekanntheit aktueller Politikserien im weiteren und engeren Sinne, n = 539

Die Politikserienzuschauer_innen der zweiten Erhebung wurden zudem gebeten einzuschätzen, bei welchen Inhalten in den Beispielserien sie Bezüge zu politischen Themen sehen. Daraus ergaben sich für jede der Serien Begriffswolken mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Aus der für alle Serien zusammengefassten Auswertung der Begriffswolken und den damit verknüpften Assoziationen der Serienzuschauer_innen zu Politikserien ergibt sich folgendes Bild: Neben der eher plakativen Zuschreibung von Begriffen – wie Politik, Politiker_innen, Politikgeschehen – werden auch sehr konkrete politische Themen und Begriffe in den Serien erkannt und benannt. Da es sich bei den rezipierten Serien (bis auf die dänische Serie Borgen) fast ausschließlich um US-amerikanische Politikserien handelt, werden auch überwiegend ›US-Politthemen‹ als relevant benannt: zum Beispiel der US-Wahlkampf oder Parteienfinanzierung, aber auch Organe der USRegierung (Kongress, Senat, Präsident etc.) sowie das Weiße Haus als ›Ort des Politikmachens‹.

Annekatrin Bock  —  Machtkampf, Intrigen und Manipulation

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NEGATIVES POLITIKBILD – DIE WAHRNEHMUNG VON POLITIKSERIEN Exemplarisch seien hier die Wortwolken der Serien Game of Thrones als Beispiel einer Politikserie im weiteren Sinn und von House of Cards als Beispiel einer Politikserie im engeren Sinn näher diskutiert. Abbildung 3 zeigt die Wortwolke von Game of Thrones. Die Begriffe »Intrigen«, »Macht« und »Krieg« dominieren. Zudem werden häufig die Begriffe »Machtkämpfe«, »Machtspiele« und »Ränkespiele« verwendet, um die politische Dimension von Game of Thrones zu beschreiben.

Abbildung 3: Game of Thrones – Begriffswolke

Wie die Serienzuschauer_innen das politische Taktieren wahrnehmen, ist dabei stark durch das historische Setting geprägt. Die Rezipient_innen reflektieren also durchaus, dass die dargestellten politischen Aushandlungsprozesse (Bündnis- und Allianzbildung, Thronfolgeregelungen, Monarchien etc.) in einem an das Mittelalter angelehnten Schauplatz verortet sind. Gleichzeitig stellen die Befragten aber auch Bezüge zu gegenwärtigem Politikgeschehen her: »[…] Charaktere wie Petyr Baelish, der sehr an einen Kapitalisten der heutigen Zeit erinnert, haben mit Politik zu tun – wenn auch nur indirekt mit der heutigen.« Ein anderer Rezipient gibt zu bedenken: »[In Game of Thrones] wird die ›politische‹ Dimension auf die Beziehungen und Machtkonstellationen zwischen den Figuren reduziert. Eine klare inhaltliche Beziehung zwischen dem Inhalt der Serie und aktuellem Politikgeschehen ist daher weniger erkennbar.« Ein Befragter verweist darüber hinaus auf die eher implizite Darstellung von Politik: »Aus der Perspektive einer mittelalterähnlichen Epoche werden Themen wie Macht, Krieg, Verrat dezenter

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beschrieben als bei anderen Serien. Trotzdem ist hier mehr Politik versteckt als in anderen ›Politserien‹.« Im Vergleich zu den politischen Bezugspunkten der Serie Game of ­Thrones wird folgend die Begriffswolke für die Serie House of Cards dargestellt (vgl. Abbildung 4). Die Wahrnehmung von House of Cards unterscheidet sich in drei zentralen Punkten von der Game-of-Thrones-Wahrnehmung. So gibt es eine Häufung derselben, von den House-of-Cards-Zuschauer_innen assoziierten Begriffe. Zudem wird die Hauptfigur, Frank Underwood, in seiner Rolle als Politiker sehr stark mit dem politischen Geschehen beziehungsweise mit der Politikhandlung der Serie in Bezug gesetzt. Zum Dritten zeigt sich in der Dominanz der Begriffe »Politikhandlung«, »Politiker_innen« und »Politik« die intersubjektive Bewertung der Serienzuschauer_innen von House of Cards als Politikserie im engeren Sinn.

Abbildung 4: House of Cards – Begriffswolke

Auch zu House of Cards äußern sich die Befragten durchaus reflektiert: »Die Serie dreht sich explizit um das politische System Amerikas und geht dabei systematisch ins Detail«, sagt ein Befragter und ein anderer ergänzt: »[Es geht um] pures Machtstreben, die Strukturen des amerikanischen politischen Systems werden angerissen, konkrete politische Themen laufen eher im Hintergrund«. Ein dritter Serienrezipient fasst für sich zusammen: »›House of Cards‹ ist sicherlich eine handwerklich und schauspielerisch brillante Serie[,] aber etwas anderes als eine plumpe Satire ist dies auch nicht.« Die bislang zusammengetragenen Assoziationen zum Politikbegriff als »Intrigenspinnen«, »Machtkampf«, »Lobbyismus« oder »politisches Taktieren« deuten bereits an, dass die Wahrnehmung von Politikausübung in den untersuchten Serien eher negativ gefärbt ist. Um diesen Aspekt zu konkretisieren, wurden die Befragten gebeten, generell einzuschätzen, wie sie die Darstellung poltischer Themen in ausgewählten Serien wahrnehmen. Die Zusammenfassung der Top-Box-Werte in Abbildung 5 zeigt, dass insbesondere in House of Cards, Game of Thrones und Scandal, aber auch Annekatrin Bock  —  Machtkampf, Intrigen und Manipulation

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Abbildung 5: Wahrnehmung politischer Themen in ausgewählten Serien, n = 331

in Newsroom oder 24, das Politikgeschehen eher negativ wahrgenommen wird. Politikthemen in Borgen und The West Wing werden tendenziell positiver bewertet. GESELLSCHAFTLICHER KONTEXT, POLITIKVERDROSSENHEIT – UND KEINE DEUTSCHE POLITIKSERIE IN SICHT Resümierend zeigt sich: Politik hat als gesamtgesellschaftlich relevantes Thema in Serien in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen. Politikserien oder politische Themen in Serien erreichen Publika, die sich – mit Blick auf die Umfrageergebnisse – tendenziell häufiger aus älteren, formal überdurchschnittlich gut gebildeten Männern zusammensetzen. Der Zuspruch der Rezipient_innen deutet sich beispielsweise auch in der Zunahme von Politikserien im engeren Sinn im Serienprogramm an. Dabei werden in den jeweiligen Politikserien zum Teil sehr unterschiedliche Aspekte des ›Politikmachens‹ dargestellt und dies mit einem Duktus, der von höchst zynisch, über emotional-pathetisch bis hin zu süffisant ironisch reicht. Hinzukommen die Politikserien im weiteren Sinn. Diese bieten den Rezipient_innen eine Vielzahl an Lesarten an, bei denen Politik als dominantes Thema oder aber en passant wahrgenommen werden kann.

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Wichtig im Zusammenhang der vorgestellten Studienergebnisse ist der aktuelle gesellschaftspolitische Kontext, in dem sich die Politikserienzuschauer_innen befinden und in dem gleichzeitig auch die Politikserien produziert werden. In einer Zeit, in der die Zuschauer_innen das Gefühl haben, wenig Einfluss auf die chaotischen Geschehnisse um sich herum zu haben (z. B. durch ›abstrakte‹ Bedrohungen wie Terrorismus, Finanzkrise, Existenzängste), treffen Politikserien wie House of Cards einen ›wunden Punkt‹ bei den Zuschauer_innen, der sich unter anderem in der eher negativen Einschätzung von Politik als Intrigen- und Machtspiel sowie der Bewertung von Politiker_innen als machthungrigen, ichbezogenen Taktierenden manifestiert. Das viel bemühte Stichwort der »Politikverdrossenheit« lässt sich dabei auch im Zusammenhang mit der Befragung zu Politikserien ablesen: Ein Rezipient sagt dazu: »Es könnte mehr [Politikserien] geben, aber nicht über die langweilige deutsche Politik. Weil die deutschen Politiker haben schon lange vergessen, dass sie für das Volk und nicht für ihre und die Interessen ihrer Partei da sein sollen.« Damit ist ein weiterer Aspekt angesprochen, der im Rahmen der Befragung deutlich zutage getreten ist: Die Befragten bemängeln oder vermissen gut gemachte deutsche Politikserien. Zum Teil trauen sie deutschen Serienproduzenten aber auch nicht zu, ähnliche Formate wie House of Cards oder Borgen auf die Beine zu stellen. Wenig reflektiert wurden in diesem Zusammenhang Unterschiede der politischen Systeme in den USA und in Deutschland. Die negative Bewertung des politischen Geschehens bezieht sich somit überwiegend auf die Darstellung von US-amerikanischer Politik, die durch US-amerikanische Serienproduzierende in Szene gesetzt wird. Abzuwarten bleibt, ob die etwaige Produktion deutscher Politikserien im engeren Sinn Einfluss auf die bisher eher negative Bewertung des Themas Politik in Serien nehmen wird.

Dr. Annekatrin Bock  ist Kommunikations- und Medienwissenschaftlerin und befasst sich mit dem Einfluss von Digitalisierungsprozessen auf die Produktion, Distribution und Rezeption von Medienangeboten. Arbeitsschwerpunkte: Forschung zu digitalen Bildungsmedien, (Fernseh)serienrezeption sowie Kompetenz- und Wissenserwerb durch Medienaneignung.

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KOMMENTAR

SCHROTT UND QUALITÄT KURZE REFLEKTIONEN ZUM PHÄNOMEN DER POLITISCHEN FERNSEHSERIE IN DEN USA ΞΞ Jan Kotowski

Im US-Fernsehen tummeln sich immer mehr TV-Serien, die entweder explizit oder zumindest in Teilen den amerikanischen Politbetrieb zum Thema haben. Neben Qualitätsproduktionen wie House of Cards (Netflix) und Veep ( HBO) haben die großen Networks momentan auch reichlich politisch angehauchten Schrott im Angebot: Scandal (ABC), Madam Secretary (CBS) und demnächst auch noch State of Affairs ( NBC). In ihnen verkörpern Kerry Washington, Téa Leonie und Katherine Heigl als Protagonistinnen eine politische Imageberaterin (und Geliebte des Präsidenten), eine Außenministerin und eine CIAAgentin als sicherheitspolitische Beraterin der Präsidentin. Letztere Sendungen, in deren Dunstkreis durchaus auch Serien wie der »Klassiker« 24 gehören, sind im strengen Sinne nicht wirklich politisch, sondern eher politische Thriller. Soll heißen, sie eignen sich lediglich einen politischen Hintergrund an, der letztendlich austauschbar ist. Sie könnten in gewisser Hinsicht auch Krankenhaus- oder Anwaltsserien sein. Allerdings gibt es durchaus auch gute Gründe für die anhaltende Attraktivität des Politgenres. Zuvorderst ist hier eine speziell amerikanische Politik-Ästhetik zu nennen. Eine junge Nation wie die USA – die sich klammheimlich monarchischen Glanz wünscht – muss ihre Republik zwangsläufig mit erfundenen Traditionen, mächtigen Säulen, viel dunklem Holz und cremefarbenem Dekor überladen. Für manch europäische Augen mag dies zwar furchtbar unmodern und altmodisch erscheinen, aber im Land der Strip-Malls und Vorstadthöllen versprüht diese politische Ästhetik trotzdem Werthaltigkeit, Glanz und Gravität. Und dies wiederum makes for great TV. Des Weiteren spiegelt sich in vielen politischen US-Serien auch ein gehöriges Maß politisch-militärischer Allmachtsfantasien. Sie sind daher so etwas wie der kleine Bruder des Superheldenkinos, das ja heutzutage auch

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INDES, 2014–4, S. 32–34, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014, ISSN 2191–995X

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Hollywood dominiert wie kein anderes Genre. Als Projektionsfläche realer geopolitischer Macht der USA innerhalb einer krisengeschüttelten Welt konstruieren sie Präsidenten, Außen- und Verteidigungsminister sowie Geheimdienstagenten als entschlossene Patrioten und mutige Entscheider mit oftmals weltrettenden Konsequenzen. Nun wären die USA aber nicht die USA , wenn hiermit schon alles zum Phänomen Politserie gesagt wäre. Zu groß sind die Unterschiede zwischen den verschiedenen Serien, nicht nur bezüglich ihrer Qualität, sondern auch hinsichtlich inhaltlicher Ausrichtung und ideologischer Orientierung. Von besonderer Bedeutung ist hier der Unterschied zwischen Drama und Komödie. Es ist durchaus erstaunlich, dass sich amerikanische Politik quasi problemlos sowohl als todernstes Drama als auch als humoristische Klamotte inszenieren lässt. Natürlich kommt der Komödie der teils peinliche heilige Ernst des Politikbetriebs sehr zu Gute, aber Serien wie Veep oder auch Alpha House, Amazons erste Eigenproduktion, offenbaren doch eine weitgehende Bereitschaft, sowohl seitens der Produzenten als auch des Publikums, den Politbetrieb der Lächerlichkeit preiszugeben. Der Humor und die Ernsthaftigkeit politischer Serien sind allerdings oftmals mit ideologischen Befindlichkeiten verknüpft. Der Bezahlsender HBO ist mit dem Großteil seines Programms einem eher wohlhabenden und liberalem Publikum verbunden und man könnte daher annehmen, dass auch die Polit-Comedy Veep diese Klientel bedienen dürfte. Die Parteizugehörigkeit der von Julia Louis Dreyfuss grandios gespielten Vizepräsidentin Selena Mayer bleibt allerdings im Unklaren. Die Show funktioniert aufgrund ihrer Karikatur des politischen Betriebs an sich – als Hort von durch die Bank charakterschwachen und unfähigen Karrieristen, die sich politischer Ideologien rein zweckmäßig bedienen. In dieser Hinsicht ist die Komödie Veep dann auch nicht mehr all zu weit von dem »mörderischen Realismus« und Machiavellismus eines klassischen (und ursprünglich britischen) Dramas wie House of Cards entfernt. Alpha House hingegen porträtiert die Wohngemeinschaft von vier Republikanischen Senatoren in Washington, D.C. und bedient sich bei der Entblößung amerikanischer Politik stärker an parteilichen, sprich liberalen, Vorbehalten gegenüber der vermeintlichen Verlogenheit der Grand Old Party. Allen diesen Sendungen wohnt jedoch eine Definition von Politik als schmutziges Geschäft inne und sie befinden sich daher nicht nur auf einer anderen Ebene als die eingangs angesprochenen politischen Thriller, die sich des Weißen Hauses lediglich als eindrucksvoller Kulisse bedienen, sondern auch als Aaron Sorkins Genre-prägende Serie The West Wing. Jan Kotowski  —  Schrott und Qualität

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Über sieben Staffeln und 154 Folgen hinweg entwickelte The West Wing zwischen 1999 und 2006 ein Panorama amerikanischer Politik, das relativ erfolgreich einen Drahtseilakt zwischen politischem Realismus und dramatischem Pathos meisterte. So wird zum Beispiel der politische Chic des Weißen Hauses immer wieder durch Bilder des hektischen, engen und unglamourösen Büroalltags der präsidentiellen Administration durchbrochen. Darüber hinaus verdiente sich die Serie auch Lob aufgrund ihrer relativ realistischen Darstellung politischer Entscheidungsfindungen innerhalb des Weißen Hauses und des amerikanischen Politbetriebs an sich. Andererseits ist die Serie aber auch als Kollektivphantasie des amerikanischen Liberalismus zu verstehen. Präsident Josiah Bartlet, gespielt von Martin Sheen, ist nicht perfekt, aber seine persönlichen Schwächen (Raucher! Und Erkrankung an multipler Sklerose) lassen den überzeugten Katholiken, Wirtschaftsprofessor und Nobelpreisträger ein kleines bisschen menschlicher erscheinen. Die Sendung (nicht jedoch ihre Handlung) entspringt dem realen Ende der Clinton-Präsidentschaft und einer der längsten Boomphasen der amerikanischen Wirtschaft und mündet schließlich im moralisch-politischen Chaos des Global War on Terror unter George W. Bush. Teilweise als The Left Wing verspottet, verkörperten Präsident und Serie aber auch die amerikanische Sehnsucht nach Gerechtigkeit, Integrität und Entschlossenheit in politischer Führungskultur. Hierin liegt dann auch wohl das Erfolgsgeheimnis der nach wie vor besten aller amerikanischer Politserien (von der letzten Staffel vielleicht einmal abgesehen): Während sich das liberale Amerika an einem fiktiven Präsidenten erfreuen durfte, der in fast jeder Hinsicht das exakte Gegenteil George W. Bushs darstellte, konnte sich das konservative Amerika wenigstens an Bartlets Religiosität, moralischer Prinzipientreue und außenpolitischer Härte und Entschlossenheit festhalten (und weiterhin einschalten). Zu guter Letzt: Falls wir Film und Fernsehen als Reflektionen politischer Realitäten begreifen wollen, ist die politische Ambiguität von The West Wing, trotz diverser Abstecher in den kitschigen Bereich, dem tumben Patriotismus und Eskapismus des modernen US-Politthrillers alle mal vorzuziehen. Ob eine solche Serie heute aber noch zeitgemäß wäre, ist leider eine andere Frage.

Jan Kotowski, PhD, lehrt an der University of New Hampshire. Er forscht über den Zusammenhang von Einwanderungsdiskursen und nationaler Identität in Deutschland und den USA.

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Politikserien — Kommentar

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ANALYSE

WIE IM FILM FERNSEHSERIEN HABEN DIE MECHANISMEN WESTEUROPÄISCHER POLITIK VERÄNDERT ΞΞ Philipp Loser

Ein Mann in seiner dunkelsten Stunde, allein, die Augen verkniffen, das Mi­ krofon schräg vor seinem Mund. Neben ihm ein einziger Gefährte, ein Söldner in teuren Nadelstreifen. Der Anwalt dreht seinen Kopf leicht nach rechts, flüstert dem Mann etwas zu. Aber dieser scheint nicht zuzuhören. »Ich schäme mich. Es tut mir leid. Es tut mir sehr leid. Ich schäme mich.« Keine Fragen, kein Ton. Still ist es, als der Mann sein Mikrofon endlich auf den Tisch vor sich legt, seinen Rucksack packt und den Journalisten den Rücken zudreht. Abgang eines Reumütigen, eines Büßers. NACKTE TATSACHEN UND HERZLICHER APPLAUS Es begann harmlos, mit einer Anfrage auf Facebook. Geri Müller, Nationalrat der Grünen mit Hang zu Verschwörungstheorien und Stadtpräsident der Gemeinde Baden im Aargau (18.000 Einwohner) mit einem Jahresgehalt von knapp 300.000 Franken fühlt sich geschmeichelt, als die junge Frau ihn im Internet anspricht, ihm Komplimente macht und einen Dialog beginnt, der rasch jene verdreht-intellektuelle Intimität annimmt, die Unbeteiligte nicht mehr verstehen. Zuerst schicken sich die beiden Nachrichten, später Bilder. Geri Müller fotografiert sich in seinem Büro und anderswo, nackt, macht anzügliche Bemerkungen über eine seiner Angestellten und über Diplomaten, die er auf seinen Reisen in den Nahen Osten trifft. Die Sache endet in einem der größeren Schweizer Politskandale der jüngeren Zeit (was die Rezeption der Öffentlichkeit und nicht den Inhalt des Skandals angeht). Die Frau bietet den bedeutenden Medien in der Schweiz Nachrichten, Tonaufnahmen und Bilder an. Zuerst sagen alle ab, dann publiziert die Sonntagszeitung Schweiz am Sonntag mit Sitz in Baden die Geschichte. Es beginnt ein beispielloses Kesseltreiben, das in der oben beschriebenen

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Szene in einer Brasserie in Zürich endet. Mit einem gebrochenen Geri Müller, der sich bei der ganzen Welt entschuldigt. Vier Jahre zuvor, im Bundeshaus in Bern. Ein Mann in seiner besten Stunde, der letzten als Bundesrat. Moritz Leuenberger, Zürcher Sozialdemokrat und eigentlich zu sensibel für die große Politik, sagt Adieu. »Wir treten auf. Wir spielen. Wir treten ab.« Seine Rücktrittsrede variiert ein Thema, das ihn, den begnadeten Rhetoriker, schon lange umtreibt und noch lange umtreiben wird. Der Politiker als Schauspieler. Wechselnde Erwartungshaltungen und Rollen, Projektionsfläche für die Öffentlichkeit und die Verwaltung. Der Politiker als Chiffre für etwas Größeres (im besten Fall), als Zeichen eines funktionierenden Systems, in dem die Rolle wichtiger ist als der Mensch, der sie ausfüllt. Es ist die wohl beste Rücktrittsrede eines Schweizer Regierungsmitglieds aller Zeiten. Bundesräte sind nicht gerade für ihre intellektuelle Brillanz bekannt: Im Gegenteil vermeiden sie normalerweise alles, was ihnen den Ruf eines abgehobenen Schöngeistes einbringen könnte, reden langsam und verlieren ihre Mundartbetonung auch im Hochdeutschen nicht. Leuenberger war anders. Er hatte den Ruf eines leicht elitären Intellektuellen – und damit hatte er zu kämpfen. Aber nach seiner Rede stehen die Abgeordneten im Nationalratssaal auf und applaudieren herzlich. AMERIKANISIERTE SCHWEIZ? Beide Szenen, die dunkelste Stunde von Geri Müller und die hellste von Moritz Leuenberger, waren Marksteine der Schweizer Politik – zumindest was deren Form angeht (inhaltlich geschahen in den vergangenen Jahren auch in der Schweiz durchaus bedeutendere Dinge). Was beide Momente verbindet: Sie wären in dieser Form vor zwanzig Jahren noch nicht möglich gewesen. Sie sind Ausdruck einer Durchdringung der politischen Kultur mit populärkulturellen Elementen. Auf einen Punkt gebracht: Sie sind Belege für die Amerikanisierung der Schweizer Politik (ein Phänomen, das auch in anderen westeuropäischen Kulturen anzutreffen ist). Der Fall von Geri Müller zeigt exemplarisch, wie sehr inzwischen die in Amerika weitverbreitete Entschuldigungskultur in der Schweiz angekommen ist. Als vor zwanzig Jahren eine ehemalige Prostituierte ein Enthüllungsbuch veröffentlichte und damit gleich mehrere prominente Politiker in eine moralische Zwickmühle brachte, wäre es nicht einem einzigen der – zu Recht! – angeschwärzten Politiker in den Sinn gekommen, sich für seine Besuche bei der Prostituierten zu entschuldigen. Stattdessen witzelte man die Geschichte weg und kam damit durch. Heute reicht das aber nicht mehr. »Offensichtlich sind Fragen nach dem Sexualleben von Politikern zum öffentlichen Thema

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Politikserien — Analyse

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geworden – so wie sie es in den USA schon lange sind«, sagt der Politikwissenschaftler Claude Longchamp. Beispiele aus den USA gibt es mehr als genügend: Als Bill Clinton die Affäre mit Monica Lewinsky nicht länger leugnen konnte, wandte er sich in einer reumütigen Ansprache an die Nation. Als Mark Sanford, Gouverneur von South Carolina, 2009 für eine Woche bei seiner Geliebten in Argentinien statt zum Wandern in den Appalachen war, stellte er sich nach seiner Rückkehr den Medien: »I’m so sorry.« Auch Arnold Schwarzenegger entschuldigte sich öffentlich für seine Affäre mit der Putzfrau. Und nicht zu vergessen der Kongressabgeordnete Anthony Weiner, der Bilder seines Penis so ziemlich jeder Frau in seinem Umfeld schickte und sich dafür in der Öffentlichkeit mehrmals entschuldigte (und es später trotzdem wieder tat). In Demokratien, wo Regierung und Opposition miteinander konkurrieren, ist das Handeln der Politiker von der Angst vor der Abwahl bestimmt. Entsprechend groß ist die Konzentration auf die Person des Politikers. Das habe zur Etablierung von Spin-Doctors und zur Konzentration auf die Wähl- und Wiederwählbarkeit der einzelnen Politiker geführt, sagt Daniel Eckmann, der vor zwanzig Jahren einen vom Prostituierten-Skandal betroffenen Bundesrat beriet. Auch in der Schweiz, mit ihrem Konkordanzsystem eigentlich vor der Skandalisierung einzelner Politiker gefeit, hätten sich in den vergangenen zwanzig Jahren Mechanismen eingeschlichen, welche die für unser System typische Langeweile vertrieben hätten. DAS VORBILD FIKTIVER POLITIKER Vieles hat sich also offenbar gewandelt – und das nicht zur zum Schlechten, wie das Beispiel von Moritz Leuenberger gezeigt hat. Personalisierung und Medialisierung haben auch in der Schweiz dazu geführt, dass sich Politiker stärker als früher mit ihrer Rolle auseinandersetzen – und sich entsprechend verhalten. Die entscheidende Frage ist nun aber folgende: Wie konnte das geschehen? Wie haben sich die neuen Mechanismen, die man bisher vor allem aus den Vereinigten Staaten kannte, in die Schweizer Politik eingeschlichen? Ja, in die Politik überhaupt? Natürlich finden sich einige Allgemeinplätze, die zu einer ersten Antwort taugen: der ständige Kulturtransfer aus den USA in Richtung Europa, die verbesserte mediale Abdeckung, die Globalisierung, das Internet! Der entscheidende Faktor ist aber ein anderer. Und er lässt sich benennen: Josiah »Jed« Bartlet, Katholik wie John F. Kennedy, Senator für die Demokraten aus New Hampshire und jener Präsident, den sich das liberale Amerika während der Regierungszeit von George W. Bush im Weißen Haus Philipp Loser  —  Wie im Film

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gewünscht hätte. Bartlet, eine Hauptfigur aus der Serie The West Wing von Aaron Sorkin, die von 1999 bis 2006 ausgestrahlt wurde, war freilich nicht der erste fiktionale Präsident der Vereinigten Staaten. Schon vor ihm haben mehrere Präsidenten (und auch ein paar Präsidentinnen) im US-Kino Terroristen verfolgt, eigenhändig Aliens abgeknallt, Verschwörungen gegen den eigenen Staat aufgedeckt (oder initiiert). Die Präsidentschaft des mächtigsten Staats der Welt ist ein zentrales Thema der westlichen Populärkultur, das Oval Office jene Bühne, auf der die Welt erklärt/vernichtet/geformt wird. Aber Bartlet (gespielt von Martin Sheen) war anders. Normaler als seine fiktiven

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Politikserien — Analyse

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Vorgänger und darum besser. Aaron Sorkin gelang es mit seinem Porträt des US-Präsidenten und dessen Stab im Weißen Haus, der Welt ein Gefühl für die amerikanische Politik zu vermitteln. Und wie mitreißend das war (auch ohne Aliens)! Dialoge auf brillantem Niveau, eine Tiefe in der Materie, die man eigentlich niemandem zumuten kann und die genau darum so außergewöhnlich ist. The West Wing hat die Art und Weise, wie im liberalen Europa die amerikanische Politik wahrgenommen wird, für immer verändert. Dabei war das Erzählmuster gar nicht so weit entfernt von jenen groben Heldenskizzen amerikanischer Präsidenten, die selber in den Kampfjet steigen, um die freie Welt vor außerirdischen Eindringlingen zu schützen. Bartlet ist per Definition einer der Guten; er ist ein Präsident, wie wir ihn uns alle wünschen: gerecht, warmherzig, gescheit. Aber er ist eben kein Superheld der körperlichen Stärke wie seine Vorgänger, sondern einer des Intellekts. Gemeinsam mit seinem Team zeigt Bartlet über sieben Staffeln hinweg, wie Politik auch funktionieren könnte: Geleitet von der Idee der Aufklärung, getragen von einem festen Glauben an die eigenen Werte, versucht dieses politische Personal tatsächlich, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Und wie in der realen Welt funktioniert das nicht immer (aber immer noch erstaunlich häufig). Liest man heute die Reden und Texte von Altbundesrat Moritz Leuenberger, kommt man gar nicht umhin, an The West Wing zu denken. Es ist die Inszenierung der Politik als Spiel mit verschiedenen Akteuren und ihren Rollen, die uns The West Wing exemplarisch vor Augen geführt hat und die auch Leuenberger umtreibt. In einem kürzlich veröffentlichten Aufsatz, in dem der Politiker das Thema seiner Abschiedsrede erneut aufgreift, schreibt Leuenberger: »Ob im Kasperlitheater oder in der Politik: Eine Rolle wird nicht nur geprägt von demjenigen, der sie innehat, sondern vor allem von den Erwartungen des Publikums. Es gibt Erwartungen an die Frauenrolle und an die Männerrolle, an die Medienschaffenden, an die Vertreter der Wirtschaft und an die Politikerinnen und Politiker.« Diese Erwartungen sind auf beiden Seiten von unseren Erfahrungen mit der Inszenierung von Politik geprägt. Hier ist der konkrete Einfluss der Populärkultur auf unser Bild von Philipp Loser  —  Wie im Film

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der Politik zu suchen. Politiker verhalten sich, wie sie es gesehen haben. Und wir interessierte Zuschauer vergleichen die realen Volksvertreter mit unserem (manchmal idealisierten) Bild von ihnen. Oder wie es der bekannte Schweizer Politologe Michael Hermann sagt: »Die Serien haben unser Bewusstsein für die Mechanismen der Macht geschärft. Es wird gezeigt, dass die Mechanismen auch etwas Spielerisches haben und manchmal mehr von Taktik als von Ideologie geprägt sind. Hier trifft die Fiktion die Realität.« Dieses Phänomen ist schon länger bekannt und betrifft nicht nur die Politik. Bestes Beispiel für eine Fiktion, die Einfluss auf die von ihr beschriebene Welt nimmt, ist das Genre des Mafia-Films. Die »Godfather«-Trilogie oder Klassiker wie »Scarface« prägen ganze Generationen von Mafiosi bis heute. Sprache, Kleider, Mimik, Gebaren – die echten Gangster machen jene Gangster nach, die sie in den Filmen gesehen haben. In einem Text in der Welt hat sich kürzlich Holger Kreitling dazu einige Gedanken gemacht. Der gemeine Gangster sei heute ein Mythos und damit Bestandteil der Populärkultur, zitiert er Hans Magnus Enzensberger (der sich wiederum auf Al Capone beruft): »Ich bin ein Geist, geboren aus den Köpfen von Millionen.« Die Bewusstseinsindustrie erzeuge synthetische Mythologie, wo im technikbestimmten- und kriegsgeprüften 20. Jahrhundert keine natürliche mehr wachse, heißt es in der Welt. Als Ausgeburt der kollektiven Phantasie sei der Gangster ein Phantom: »Doch dieses Phantom ist von mächtigerer Realität als jede bloße Tatsache.« HELL UND DUNKEL Die Macht dieser Realität am Beispiel der Politik lässt sich nicht nur im Hellen belegen, bei Jed Bartlet und seinen Mitarbeitern im Oval Office, sondern auch im Dunkeln. Ein paar Jahre nach The West Wing zeigt uns Filmemacher David Fincher mit House of Cards, dessen zweite Staffel kürzlich ausgestrahlt wurde, die dunkle Seite der amerikanischen Politik. Nichts ist hier mehr zu spüren von einer hehren Idee, von Werten gar. In der Erzählung, die sich um Senator Frank Underwood (gespielt von Kevin Spacey) dreht, geht es nur um die nackte Macht. Oder wie es die New York Times ausdrückt: »›West Wing‹ war der Traum, wie unsere Regierung sein könnte. ›House of Cards‹ ist der Albtraum, wie unsere Regierung tatsächlich geworden sein könnte.« Wie weit die beiden Serien voneinander entfernt sind, lässt sich dort zeigen, wo House of Cards auf The West Wing Bezug nimmt. »I pray to myself. For myself.« Frank Underwood, vom Präsidenten in der ersten Folge der Serie um den Job als Außenminister gebracht und seither auf einem Rachefeldzug, braucht keinen Gott, er braucht nicht einmal einen Teufel. Frank Underwood braucht nur Frank Underwood. Eine Menschmaschine, befeuert

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vom unersättlichen Hunger nach Macht. Die Szene, in der Underwood vor seinem entscheidenden Schachzug in der letzten Folge der ersten Staffel in der Kirche zu sich selbst betet, ist eine Reminiszenz an die beste Folge, die The West Wing zu bieten hat. Jene großartige Stunde Fernsehen am Ende der zweiten Staffel, in der sich Präsident Bartlet nicht entscheiden kann, ob er für eine zweite Amtszeit kandidieren soll. Auch Bartlet steht in einer Kathedrale, auch er führt ein Zwiegespräch. Nicht mit sich selbst wie Underwood, sondern mit Gott. In Latein erhebt der Präsident Anklage gegen jenen Gott, der ihm noch eine Folge zuvor seine Sekretärin genommen hat, ihm einen Tropensturm schickte und ihm auch sonst überall Hindernisse in den Weg stellt. Die beiden Szenen in der Kirche sind beispielhaft für den Ton der beiden Serien. Höchster Grad der Gottesauflehnung in The West Wing ist die lateinische (und nicht untertitelte) Anklage und eine halb gerauchte Zigarette in der Kathedrale. Underwood ist in House of Cards dagegen weniger zimperlich: Er zündet sich nach seiner Selbstpreisung eine Kerze an – und bläst alle anderen aus. Wo The West Wing hell ist, bleibt House of Cards dunkel. Bartlet ist unser Wunsch nach Intellekt, nach Größe im Geist. Underwood zeigt uns unsere Schwächen. Wenn es in der Schweiz normal geworden ist, dass Politiker nach einem (nicht mal sonderlich aufregenden) Fehltritt in ihrem Privatleben vor aller Öffentlichkeit Buße tun müssen, dann hat das mit unserem übersteigerten Moralanspruch zu tun – und dieser wird genährt durch Darstellungen wie jener des schillernden Jed Bartlet und des zynischen und machtversessenen Frank Underwood. Geri Müller, der bemitleidenswerte Stadtammann von Baden, ist nicht nur Opfer seiner fehlgeleiteten Leidenschaft, sondern mindestens so sehr Opfer der Populärkultur. Wir erwarten von unseren Politikern so rein im Geiste zu sein wie Jed Bartlet, weil wir genau wissen, dass sie so verkommen sein können wie Frank Underwood.

Philipp Loser, geb. 1980, studierte an der Universität Basel Geschichte und Philosophie und schloss mit dem Lizentiat ab. Zuvor absolvierte er den Diplomlehrgang am Medienausbildungszentrum MAZ in Luzern. Daneben arbeitete er bei der Volksstimme in Sissach (2000–2004); bei der Basler Zeitung im Stadtressort (2004–2009) sowie im Bundeshaus (2009–2011). Von 2011 bis 2014 war Loser Bundeshausredaktor der Basler TagesWoche, seit März 2014 arbeitet er im Inlandressort des Tages-Anzeiger in Zürich. Er lebt mit ­seiner Freundin und seinem dreijährigen Sohn in Basel.

Philipp Loser  —  Wie im Film

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»I – I’M JUST MAKING SURE WE DON’T GET HIT AGAIN.« SERIENTEXT UND WELTBEZUG IN DER TV-SERIE HOMELAND ΞΞ Lars Koch

Als Barack Obama Anfang Juni 2014 verkündete, dass es gelungen sei, die Freilassung von Sergeant Bowe Bergdahl im Austausch gegen fünf in Guantanamo inhaftierte Al-Qaida-Kämpfer zu erreichen, dachte er zunächst, einen großen politischen Erfolg gelandet zu haben. Kurze Zeit später musste er allerdings realisieren, dass dem nicht so war. Im Gegenteil, es entbrannte eine heftige innenpolitische Debatte über den sicherheitspolitischen Preis der Freilassung. Schlimmer noch: Zweifel an Bergdahls Charakter, an seiner Loyalität zur US-Army und an den Umständen seiner Gefangennahme im Jahr 2009 wurden laut. Die argumentative Folie, vor der diese Diskussion um den home­ coming hero von den konservativen Kräften vom Zaun gebrochen wurde, lieferte die US-amerikanische Serie Homeland, die derzeit in der 4. Staffel beim Kabelsender Showtime zu sehen ist. Kaum ein Debattenteilnehmer, der nicht auf die situative und – was für die Evidenz der Parallelführung von Realität und Serienhandlung nicht unwichtig war – physio­g no­m ische Ähnlichkeit zwischen Bergdahl und Nicholas Brody hingewiesen hätte. Von Brody (Damian Lewis) wussten die Serienzuschauer, dass er im Zuge der Gefangenschaft umgedreht wurde und, in die USA zurückgekehrt, einen Anschlag plante. Die Spitze ging in Richtung Präsident Obamas: Könnte Bergdahl möglicherweise eine ähnliche Gefahr darstellen?1 Jenseits der Frage, inwieweit die Verdachtsmomente gegen Bergdahl berechtigt sind oder nicht, interessiert mich der Fall vor allem als Beleg für die These, dass in der gegenwärtigen Mediengesellschaft populärkulturelle Narrative, verstanden als Kurzzeitgedächtnis der Gesellschaft, ganz wesentlich zur sinnhaften Auslegung und Reflexion von Gefahr und Gewalt beitragen.2 Gerade wenn man sich die jüngere US-amerikanische Filmgeschichte anschaut, fällt auf, wie sehr sich die Figur des aus der Gefangenschaft heimkehrenden Soldaten immer wieder dem Verdacht ausgesetzt sieht, möglicherweise konspirativ zum Feind übergelaufen zu sein oder aber zumindest die Strapazen der Gefangenschaft nicht ohne psychische Schäden überstanden zu haben. In diesem Sinne erscheint der Heimkehrer als die emblematische Figur einer

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INDES, 2014–4, S. 42–54, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014, ISSN 2191–995X

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1  Vgl. zusammenfassend Willi Winkler, Helden wie er, in: Süddeutsche Zeitung, 07. 06. 2014, online einsehbar unter http:// www.sueddeutsche.de/medien/ bowe-bergdahl-und-homeland-helden-wie-er-1.1989194 [eingesehen am 01. 11. 2014]. 2  Vgl. hierzu das Forschungsprogramm der vom Verfasser geleiteten ERC Starting Grant-Forschungsgruppe »The Principle of Disruption. A Figure Reflecting Complex Societies«, online einsehbar unter http:// www.principleofdisruption.eu [eingesehen am 01. 11. 2014].

politischen Heimsuchung jener Kriegsgräuel und moralischen Versehrungen, die als etwas Unabgegoltenes, Traumatisches in die Gegenwart der US-amerikanischen Heimatgesellschaft hineinreichen und so die US-amerikanische Selbstbeschreibung3 als offene, rechtsstaatliche und moralisch vorbildliche Nation nachhaltig stören. In der Figur des Kriegsheimkehrers verdichtet sich symbolisch die dunkle Seite des War on Terror, als Transgressionserscheinung unterläuft sie nicht nur die klare Trennung von gefahrvollem Kriegsgebiet und sicherem Hinterland, sie perforiert auch die Unterscheidung von Fiktion und politischem Diskurs. Indem sie als affektiv besetzte Projektionsfläche die Diegese sprengt und die Imagination der Zuschauerschaft besetzt, manifestiert sie dabei kollektive Angst- und Schuldszenarien. Wenn man sich die kinematographische Auseinandersetzung mit den verlustreichen und nicht befriedigend gelösten amerikanischen Kriegen nach 1945 anschaut, so fällt auf, dass alle Kriege, aus denen die USA nicht als Sieger hervorgegangen sind, filmische Ikonen soldatischer Devianz haben entstehen lassen. Für den Koreakrieg war es die Figur des Sergeant Raymond Shaw in John Frankenheimers »The Manchurian Candidate« (1962), der die Nachwirkungen der Kriegsgewalt in die heimischen Kinosessel trug, für den Vietnamkrieg personalisierte der Veteran John Rambo in Ted Kotcheffs »First Blood« (1982) die Unfähigkeit, nach dem Krieg nicht nur physisch sondern auch psychisch in die Friedensgesellschaft zurückzukehren. Für den zweiten Irak-Krieg ist es nunmehr Nicholas Brody aus Homeland, dessen vorwiegend aus Rache für einen Drohnenangriff auf eine Schule in Afghanistan motivierte Anschlagspläne die brutale Geopolitik der US-amerikanischen Administration spiegeln. Mit etwas Wagemut kann man vielleicht die These aufstellen, dass die audiovisuellen Geschichten über den heimkehrenden Prisoner of War an einem Verarbeitungsund Vermittlungsprozess teilhaben, den man als ein kollektives »Debriefing« beschreiben kann, als eine Technik also, die versucht, angesichts von undurchsichtigen, vielleicht sogar traumatischen Ereignissen in der Vergangenheit durch das Erzählen von Geschichten Kohärenz und normative Orientierung zu stiften. Dies ist sicher der eine wesentliche Aspekt der US-amerikanischen 3  Zur systemtheoretischen Konzeptualisierung des Begriffs »Selbstbeschreibung« vgl. Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1998, S. 1096 ff. 4  Vgl. Richard Hofstadter, The Paranoid Style of American Politics and Other Essays, New York 2008, S. 3–41.

Faszination für den aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrenden Veteranen. Ein anderer Grund, der auf das eigentliche Thema dieser Überlegungen – die Epistemologien der Feindschaft in der Serie Homeland – zielt, ist die narrative Verknüpfung des militärischen Scheiterns mit Dimensionen eines politischen Verdachts und einer kollektiven Paranoia, die – so zumindest die These Richard Hofstadters – das politische Imaginäre der USA umfassend beherrscht.4 Bei der anschließenden Analyse der Serie Homeland soll vor allem auf zwei Aspekte eingegangen werden: (1.) auf die Hauptfigur Carrie Mathison Lars Koch  —  »I – I’m just making sure we don’t get hit again.«

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(Claire Danse) als Allegorie einer Protoparanoia des Politischen und (2.) auf die Gesamtserie Homeland als Metareflexion einer nach 9/11 dominant werdenden Medialisierung von Gefahr, die der amerikanische Medientheoretiker Richard Grusin aufgrund ihres konstitutiven Zukunftsbezugs als »Premediation« bezeichnet hat. Vorab scheint es aber angebracht, in einigen wenigen theoretischen Vorbemerkungen zu skizzieren, wie dabei die TV-Serie als ein Gegenstand der Kulturdiagnostik populärer Medien konzeptualisiert werden soll. Popkulturelle narrative Formate wie TV-Serien, Kinofilme und literarische Texte werden als zentrale Aktanten einer multimodalen Medienkonfiguration begriffen, die einen wesentlichen Beitrag zu jenem kollektiven Aushandlungsprozess leistet, den man mit Nelson Goodman als »Worldmaking« bezeichnen kann.5 Ohne die Materialität und die wahrnehmungscodierende Potenz des Medienensembles zu unterschätzen, ist es wichtig, insbesondere die Narrativität der einzelnen Formate zu betonen. Eben weil davon auszugehen ist, dass das Erzählen als ein »Modus der Erzeugung, Gestaltgebung und Transmission sozialer Energien«6 eine komplexe symbolische Praxis realisiert, in der Gesellschaften über sich und ihre Gegebenheiten kommunizieren. Verstanden als kulturelle Skripte sind es – nicht ausschließlich, aber aufgrund ihrer Resonanzstärke besonders einflussreich – die popkulturellen narrativen Artefakte, die in der erzählerischen »Kopplung von Bedeutung und Affekt«7 das Anschaulichkeitsproblem komplexer Gesellschaften lösen, wobei klar sein muss, dass das einzelne popkulturelle Narrativ mit seinen Genre-Mustern, medialen Notwendigkeiten und ökonomischen Interessen kein neutrales Abbild von Welt erzeugt, sondern im Hinblick auf Inhalt und Form aktiv an gegenwartskulturellen Signifikationsdynamiken beteiligt ist. Indem die TVSerie wie der Roman oder der Kinofilm in Anlehnung an Bruno Latour als Mediatoren-Instanz gesellschaftlicher Selbstauslegung fokussiert wird8, ergibt sich für die Frage nach einer Kulturdiagnostik populärer Medien dementsprechend eine referentielle Analyse-Trias aus Serienartefakt, Weltbezug und Genre/Intertext. Diese geht insofern deutlich über gängige Varianten einer Widerspiegelungstheorie der populären Medien hinaus, als hier betont wird, dass das jeweilige popkulturelle Artefakt als Produzent von Wissen und Evidenz selbst sinngenerierend wirkt.

5  Nelson Goodman, Ways of Worldmaking, Indianapolis 1991. 6  Albrecht Koschorke, Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt a. M. 2012, S. 103. 7 

I. CARRIE MATHISON ALS ALLEGORIE AUF DIE PROTOPARANOIA DES POLITISCHEN Die Serie Homeland, die seit 2011 beim US-amerikanischen Sender Showtime läuft, schlägt ein neues Kapitel der popkulturellen Beschäftigung mit 9/11,

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Ebd., S. 109.

8  Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt a. M. 2007, S. 66–75

dem War on Terror und den Feldzügen in Afghanistan und dem Irak auf. Als kreative Adaption der israelischen Serie »Hatufim« (bislang 2 Staffeln, seit 2010), die von der Rückkehr mehrerer israelischer Kriegsgefangener aus libanesisch-syrischer Gefangenschaft erzählt, zeichnet Homeland die individualund kollektivpsychologische Signatur der »Post-Irak-Ära« nach und führt dabei vor Augen, wie eine von der phantasmatischen Bedrohungsfigur des Schläfers initiierte Entgrenzung des Verdachts zu einer Politik und Lebenspraxis der (Proto-)Paranoia führen kann.9 Zugleich ist Homeland ein Archiv all jener im Fernsehen versammelten popkulturellen Narrationen der Verunsicherung, die nach 9/11 den paranoid style of american media konfiguriert haben, wie etwa »Alias« (ABC, 2001–2006) oder »Sleeper Cell« (Showtime, 2005–2006). Ganz direkt ist Homeland aber vor allem eine Antwort auf die genreprägende Fox-Serie »24« (2001–2014), wobei bemerkenswert ist, dass mit Howard Gordon und Alex Gansa zwei der »24«-Macher auch an Homeland federführend mitwirken. Gegenüber den popkulturellen Terrornarrativen der letzten 10 Jahre markiert Homeland insofern einen neuen Einsatz, als hier die eigentliche Anti-Terror-Arbeit in den Hintergrund und stattdessen das emotionale Profil der Akteure in den Vordergrund tritt. Während die Serie um Jack Bauer in einer ersten Phase nach 9/11 vermittels der Darstellung verschiedener terroristischer Worst-Case-Szenarien predigte, dass im War on Terror der Zweck die Mittel heilige und die Praxis der Folter ein probates Mittel zur Ortung und Ordnung der Feinde darstelle10, ging es in einer zweiten Phase – man denke vor allem an die Serie »Battlestar Galactica« (SiFi, 2002–2008) – darum, den Antiterror-Krieg allegorisch in seinen moralischen und politischen Ambivalenzen zu beleuchten und den Ausnahmezustand auf einer allgemeineren Ebene als Ursache diverser Autoimmunreaktionen kenntlich zu machen. Homeland nun markiert eine dritte Phase, in welcher der Aspekt der Allegorisierung der Terrorangriffe zugunsten einer Evaluation der individuellen, emotionspolitisch vermittelten Subjektivitäts9  Vgl. hierzu auch Lars Koch, Das Schläfer-Phantasma. Mediale Signaturen eines paranoiden Denkstils vor und nach 9/11, in: Sascha Seiler u. Thorsten Schüller (Hg.), Von Zäsuren und Ereignissen, Bielefeld 2010, S. 69–88.

effekte zurücktritt, die ein Leben im permanenten Alarmzustand produziert. Im Mittelpunkt von Homeland steht wie erwähnt Nicholas Brody, ein US-Marine, der nach acht Jahren in irakischer Gefangenschaft befreit wird und nach Hause zurückkehrt. Neben seiner Familie, die mit dem lange Totgeglaubten zunächst nicht viel anzufangen weiß, und Politikern, die den Kriegsveteranen sogleich für den anstehenden Präsidentschaftswahlkampf

10 

Lars Koch, »It will even get worse.« Zur Ökologie der Angst in der Serie 24, in: Sascha Seiler (Hg.), Arc & Continuity – Die zeitgenössische TV Serie, Köln 2008, S. 98–116.

instrumentalisieren wollen, trifft Brody auf die CIA-Analystin Carrie Mathison, die einige Monate zuvor von einem Informanten erfahren hat, dass ein amerikanischer Soldat in der Gefangenschaft »umgedreht« worden sei und nun einen Anschlag in den USA plane. Um die Frage, ob Brody dieser Schläfer Lars Koch  —  »I – I’m just making sure we don’t get hit again.«

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ist, was er vorhat und wie er seine Ziele im Spannungsfeld von Familie, CIA und Terrornetzwerk verfolgen kann und wird, dreht sich der Plot der ersten drei Serienstaffeln.11 Die Rede von einer dritten Phase der Terror-Reflexion scheint insbesondere deshalb berechtigt, weil Homeland knapp 10 Jahre nach den Anschlägen auf das World Trade Center an den »Ground Zero« der Angst zurückkehrt und jene Traumatisierungen zur Sprache bringt, die seither die amerikanische Gesellschaft bestimmt haben. Die Serie leistet dies, indem sie Brody und Carrie als reziproke Figurationen eines Bruchs des intuitiven Weltvertrauens lesbar macht, als dem wörtlichen Sinne nach »eingeschlossene Ausgeschlossene«, deren gegenwartsbezogene Handlungen und zukunftsbezogene Erwartungen wesentlich von schockhaften Angsterfahrungen in der Vergangenheit bestimmt sind.12 Beide sind haunted by the past, ihre versehrten Seelen, die zugleich symbolische Verdichtungen der Wunden der politischen Kultur der USA nach 9/11 sind, werden in ihrer Psychodynamik erst dadurch sichtbar,

dass sie sich komplementär aufeinander zubewegen. Dass Brody und Carrie zeitweise ein Liebespaar werden, hat nicht nur mit melodramatischer Konventionalität zu tun, sondern ist zugleich intrinsisch begründet in der Dialogizität einer Angst, die die Unterscheidung von Privatheit und Politik nivelliert. Jenseits der Figurenpsychologie, die ihre Spannung aus einer permanenten Konterkarierung von Vertrauen und Verdacht gewinnt, fungiert Homeland aber auch im Hinblick auf eine Vermessung des politischen Feldes als ein hochaktuelles Krisenexperiment. Da der potenzielle Feind, das ist die Ausgangsidee der labyrinthischen Serienhandlung, möglicherweise in die eigenen Reihen zurückgekehrt ist, stellt sich das Problem einer exakten Epistemologie der Feindschaft mit neuer Brisanz. Binäre Unterscheidungen von Peripherie und Zentrum, wie sie seit George W. Bushs »You are either with us or against us«-Rede aus dem Herbst 2001 lange Zeit die Politik der USA organisierten, sind der Komplexität der Lage nach mehr als zehn Jahren Krieg nicht mehr angemessen. In der Figur Brody verdichtet sich diese politische Ambivalenz des War on Terror. Nach außen ein affektkontrollierter Held und Familienvater, ist Brody von den Jahren in der Gefangenschaft psychisch und emotional tief gezeichnet. Zunächst gefoltert, wird er dann von dem Top-Terroristen Abu Nazir (Navid Negahban) in einem raffinierten Recodierungsversuch in sein Haus aufgenommen. Spätestens als Issa (Rohan Chand), der achtjährige Sohn Nazirs und zeitweilige Englisch-Schüler Brodys, zusammen mit vielen anderen unschuldigen Schulkindern bei einem amerikanischen Drohnenangriff zu Tode kommt, kollabiert Brodys schon zuvor destabilisiertes Koordinatensystem von Freund- und Feindschaft. Sukzessive enthüllt die

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11  Derzeit (November 2014) läuft die vierte Staffel von Homeland. Die die ersten drei Staffeln bestimmende Beziehung zwischen Brody und Mathison spielt dabei keine Rolle mehr. Auch der Komplex »Epistemologie der Feindschaft – Protoparanoia« scheint dabei zugunsten anderer Aspekte des War on Terror in den Hintergrund zu treten. 12  Die Denkfigur des »eingeschlossenen Ausgeschlossenen« markiert bei Giorgio Agamben ein Verfahren, das konstitutiv für die im rechtlichen Ausnahmezustand vollzogenen Produktion von »nacktem Leben« ist. Vgl. Giorgio Agamben, Homo Sacer. Die Souveränität und das nackte Leben, Frankfurt a. M. 2002. Davon abweichend meint die Formulierung hier ein verkapseltes Relationalverhältnis zur Welt, das für traumatische und/oder paranoide Wahrnehmungsmuster konstitutiv ist: Die Welt erscheint als eine undurchdringliche Umwelt, zu der ein verstehender Kontakt kaum möglich ist.

erste Serienstaffel, dass er mit dem Plan in die USA zurückgekehrt ist, den US-amerikanischen Vizepräsidenten Walden (Jamey Sheridon) für den Befehl und die Vertuschung der Bombardierung zur Rechenschaft zu ziehen. Seine Legitimation bezieht er dabei, wie ein Bekennervideo deutlich macht, aus einem latent paranoiden Gerechtigkeitsverständnis, das dazu auffordert, die amerikanische Nation gegen äußere und – genau das ist der Einsatzpunkt der Paranoia – innere Feinde zu verteidigen.13 Das Staffelende zeigt, wie unübersichtlich die Lage geworden ist: Als Wahlkampfhelfer des Vizepräsidenten wird Brody zusammen mit diesem nach einem Attentat auf dessen Stabschefin in einen Sicherheitsraum verbracht. Er ist jetzt buchstäblich ein eingeschlossener Ausgeschlossener, ein »innerer Feind« im Sinne Elias Canettis14, der sich nur von einem Anruf seiner Tochter davon abhalten lässt, seine Sprengstoffweste zur Detonation zu bringen. Es scheint fast, als hätten die Serienmacher in der Figur Brody Carl Schmitts 13 

Vgl. Folge 1,12: »Marine One«

14  Vgl. das Kapitel »Verfolgungs­gefühle«, in: Elias Canetti, Masse und Macht, Frankfurt a. M. 2011, S. 11 ff.

Einsicht verkörpert, dass der Feind unsere eigene Frage als Gestalt ist.15 Oder aber, was näher liegt, sie haben sich von einem Gedanken Slavoj Zizˇeks inspirieren lassen, der in seinem bekannten Essay über die »Wüste des Realen« feststellte: Die »sichere Sphäre des amerikanischen Lebens wird als ständig von einem Außen bedroht erlebt, von terroristischen Angreifern, die sich rücksichtslos selbst opfern und feige sind. Wo immer wir solch einem rein

15  Carl Schmitt, Ex Captivitate Salus. Erfahrungen der Zeit 1945/47, Berlin 1947, S. 89.

bösen Äußern begegnen, sollten wir den Mut haben, die Hegelsche Lektion zu unterstreichen: In diesem reinen Äußern gilt es, die destillierte Version unseres eigenen Wesens zu erkennen.«16 Wenn es zutrifft, dass Brody als ein

16 

Slavoj Zizˇek: »Willkommen in der Wüste des Realen«, in: Christian Geulen u. Anne von der Heiden u. Burkhard Liebsch (Hg.), Vom Sinn der Feindschaft, Berlin 2002, S. 53–76, hier S. 59. 17  Koschorke, Wahrheit und Erfindung, S. 93.

alle Verortungsversuche unterlaufender Störenfried die moralische Bruchlinie markiert, die seit der Ära Bush durch die US-amerikanische Zivilgesellschaft verläuft, dann ist sein Ende nur konsequent: Bei dem Versuch, die durch ihn verursachte Verletzung des US-amerikanischen Gemeinschaftskörpers durch eine Geheimoperation im Iran zu heilen, wird Brody am Ende der dritten Staffel festgenommen und zum Tod durch Erhängen verurteilt. Seine Sterbeszene, die viele Monate vor den Terror-Videos des IS ein Höchstmaß an televisueller

18 

Brodys juristischem Status entsprechend, wird sein Tod auch nicht im Rahmen offizieller Gedenkprozeduren verzeichnet. Stattdessen bringt Carrie heimlich mit einem Filzstift einen irregulären Stern an der Erinnerungswand im CIA-Hauptquartier an, die alle Namen jener Agents verzeichnet, die im Dienst für die Nation gefallen sind. Auch in dieser Geste bestätigt sich Brody als »eingeschlossener Ausgeschlossener«.

Liminalität bedeutete, schließt innerdiegetisch den Bogen zur allerersten Szene der Serie, in welcher der Galgen gezeigt wird, an dem Carries Informant den Tod finden wird. Extra- bzw. transdiegetisch hingegen erscheint Brodys Tod in der Ferne, an der äußeren Grenze des US-amerikanischen Einflussbereichs, als »eine paradoxe Prozedur der inkludierenden Exklusion«17, die ihn schlussendlich als jenen heimlichen Helden zurückkehren lässt, der er nie gewesen ist.18 Im Kern erzählt Homeland damit auf unterschiedlichen Handlungsebenen von dem durch Taktiken der mimetischen Anverwandlung und der Unterwanderung erzeugten Vertrauensverlust. Immer wieder wird der Status von Lars Koch  —  »I – I’m just making sure we don’t get hit again.«

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Zufall und Zeichen verhandelt, denkt die Serie über Praktiken und Aporien von Prävention und Überwachung nach, etwa wenn Carrie am Anfang der ersten Staffel wie gebannt tagelang auf die Monitore der heimlich in Brodys Haus verbauten Kameras schaut, dabei viele intime Momente beobachtet, aber die entscheidenden Indizien gerade nicht entdeckt.19 Daran gekoppelt macht die Serie im Modus der Identifikation mit Carries Verdacht, der immer wieder Nahrung erhält, die Spirale der Paranoia für den Zuschauer performativ nachvollziehbar. Indem Homeland das Verunsicherungspotenzial des Schläfers in seinen unterschiedlichen emotionalen Registern ausleuchtet, setzt die Serie jene von Jacques Derrida beschriebenen politischen Autoimmunreaktionen der Terror-Abwehr in Szene,20 die 2013 anhand der Aufdeckung des Überwachungsprogramms »Prism« einmal mehr ans Tageslicht getreten sind. Prävention tendiert zur Entgrenzung, insbesondere dort, wo keine gültige Semiotik der Feindschaft mehr existiert und zwischen Sicherheit und Katastrophe nur die Plötzlichkeit der Tat zu liegen scheint. Während Brody somit als Figuration einer unheimlichen Wiederkehr der verdrängten Peripherie im Zentrum lesbar ist,21 fungiert Carrie sowohl als »emotionaler Fokus der Dramaturgie«22, als auch als Allegorie und Akteurin einer politischen Protoparanoia, wie sie nach 9/11 als Wahrnehmungskonfiguration des War on Terror re-aktualistiert wurde; als ein Subjekt, welches sich in einem permanenten Alarmzustand befindet und dessen dominantes Wesenskennzeichen ein forcierter Aktivismus unter Zeitdruck ist. Carrie dämmert auf hohem Erregungsniveau dahin, sie ist bestimmt von einem Deutungswahn, der pathologische Züge annimmt. Angetrieben von einem tiefsitzenden Gefühl des Versagens und der Schuld, ist ihr ganzes Handeln unter das Paradigma einer totalen Vorsorge gestellt: »I – I’m just making sure we don’t get hit again.«23 Carrie leidet an einer latenten Krankheit der Vernunft, die sie Strukturen und Zusammenhänge ahnen lässt, die außerhalb

19  Dies ist ein weiteres der vielen Beispiele dafür, dass die Serie Feindschaft in Form ambivalenter Reziprozität zu denken versucht. Während Carries »Monitoring« erscheint sie eindeutig als Eindringling und innerer Feind, Brody hingegen ist ahnungslos. 20  Vgl. Lars Koch, Angst im Post-9/11-Cinema. Zur filmischen Bearbeitung eines Erwartungsaffekts, in: Søren Fauth u. a. (Hg.), War – Literature, Media, Emotions, Göttingen 2012, S. 73–86. 21  Vgl. Frederic Jameson, The Geopolitical Aesthetic: Cinema and Space in the World System, Indiana 1992.

des konventionellen nachrichtendienstlichen Denkhorizonts liegen. Sie sieht mehr, weil sie unfähig ist, Kontingenz zu denken und stattdessen überall Übersignifikation produziert. Die Ambivalenz der Serie ist darin begründet, dass Carrie einerseits den Verschwörungszusammenhängen deutlich schneller und gründlicher auf die Spur kommt als ihre CIA- und FBI-Kollegen, andererseits aber über das Aufklärungsziel hinausschießt und zu einem unkalkulierbaren Risiko für sich und die Agency wird, eben weil sie auch dort im Modus des Ausnahmezustands agiert, wo dies weder von den Routinen der CIA noch gar von juristischen Regeln gedeckt wäre. Gerade die Gleichzeitigkeit der unübersehbaren Präsenz und rätselhaften Unfassbarkeit der Figur Brody, die Unmöglichkeit, sein Handeln eindeutig

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22  Vinzent Hediger, Einübung in paranoides Denken. »The Wire«, »Homeland« und die filmische Ästhetik des Überwachungsstaats, in: Deutscher Hochschulverband (Hg.), Glanzlichter der Wissenschaft 2013. Ein Almanach, Stuttgart 2013, S. 67–70, hier S. 68. 23  So Carries Rechtfertigung gegenüber Saul, ihrem Vorgesetzten und Mentor, als dieser sie in Folge Eins wegen ihrer illegalen Überwachung zur Rede stellt.

auf Conspiracy oder Contingency festzulegen, schürt in ihr eine Mischung aus Faszination und Bedrohungserwartung. Je öfter ihr Verdacht von ihm entkräftet wird, umso verzweifelter glaubt sie an seine terroristischen Absichten. Ihre Paranoia ist eine Extremform von Gewissheitsforderung, eine Maschine des unaufhörlichen Verlangens nach einem unumstößlichen Sinn. Die schlussendliche Erkenntnis, dass sie mit ihrem Verdacht trotz aller Anfeindungen seitens der CIA-Bürokratie richtig gelegen hat, kommt einer parareligiösen Parusie gleich. Diese Erlösungserfahrung ist es, die Paranoiker herbeisehnen, die aber in aller Regel trotz aller Anstrengungen immer weiter hinausgeschoben wird. Dass Carries Verdachtsdenken im Zuge der ersten Staffel immer radikalere Züge annimmt, bis sie schlussendlich in einem psychotischen Schub zusammenbricht, kann so als eine figurale Übersetzung der Steigerungsdynamik der Paranoia gelesen werden, deren Denkstruktur das Subjekt nur stabilisieren kann, indem es sich sozial immer weiter isoliert. Extradiegetisch als eine Pathologie des Politischen in Zeiten des War on Terror lesbar, wird Carries Krankheit innerdiegetisch auf eine bipolare Störung zurückgeführt, die sie von ihrem Vater geerbt hat. Einmal mehr zeigt sich aber auch in dieser Facette das hohe Maß an politischer Reflexivität, das Homeland ausmacht. Nicht nur aktualisiert die Serie in unterschiedli24  Damit stellt sich Homeland intertextuell deutlich in die Tradition von »The Manchurian Candidate«. 25 

Wie vielseitig das ParanoiaThema in Homeland perspektiviert wird, zeigt sich auch in vielen en passant in die Handlung eingestreuten Referenzen. So wird ist es kein Zufall, dass sich Carrie in der letzten Folge von Staffel Eins einer ElektroschockBehandlung unterzieht. Gerade diese Technik der Gehirnwäsche war es, mit der die CIA seit den 1950er Jahren in zahlreichen Menschenversuchen Erfahrungen gesammelt hatte, mit dem Ziel Gedanken kontrollieren zu können. Vgl. o.V., Unorthodox, unethisch, illegal, in: Der Spiegel, 11/1984, online einsehbar unter http://www.spiegel.de/ spiegel/print/d-13508748.html [eingesehen am 01. 11. 2014].

chen Konstellationen das Motiv der Hirnwäsche – bei Brodys Umcodierung zum Attentäter24, bei Carries Therapie25, aber auch in Anspielungen auf die Programmierungsmacht der Medien –, darüber hinaus eröffnet das Motiv des kranken Vaters eine genealogische Dimension, die die Protoparanoia der latenten Feindschaft in der politischen Kultur des 20. Jahrhunderts verortet und so deutlich macht, dass die Post-9/11-Paranoia kein ganz neues Phänomen ist, sondern eine lange Vorgeschichte hat, die mindestens bis zu den Paranoia-gestimmten 1970er Jahren zurückreicht.26 Jenseits des Paranoia-Themas markiert Carries Vater zugleich aber auch eine für die 2000er Jahre zu konstatierende Krise von Vaterschaft sui generis, die sich auf abstrakterer Ebene als Verweis auf die Erosion eines die Stabilität der symbolischen Ordnung garantierenden Herrensignifikanten decodieren lässt. Der Figurenkosmos von Homeland ist gespickt mit schwachen oder gebrochenen Vater-Figuren: Allen voran Brody, dessen Brandmarkung als Terrorist seine Tochter in einen Selbstmordversuch treibt. Aber auch Abu Nazir und Vizepräsident Walden repräsentieren Väter, die ihrer Rolle als Garanten von familiärer Stabilität und politischer Sicherheit nicht mehr gerecht werden. Nicht zufällig gehört das Motiv des schwachen Mannes, der seine Familie nicht

26  Peter Knight, Conspiracy Nation: The Politics of Paranoia in Postwar America, New York 2002.

zu schützen vermag, zum narrativen Repertoire des Post-9/11-Kinos. In Filmen wie Oliver Stones »World Trade Center« (2006) oder Neil Jordans »The Brave Lars Koch  —  »I – I’m just making sure we don’t get hit again.«

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One« (2007) wird das Versagen der US-amerikanischen Sicherheitsinstitutionen geschlechtspolitisch kodiert, etwa indem Stone die Angriffe auf New York als Vergewaltigung einer Stadt erzählt.27 In Homeland findet sich hierzu neben vielen kleinteiligen Beobachtungen und Anspielungen auf die Insuffizienz nahezu aller Männer- und Vaterfiguren vor allem die Szene des Angriffs auf die CIAZentrale am Ende der zweiten Staffel, die deutlich macht, dass die Stabilität der symbolischen Ordnung nur eine scheinbare ist, die jederzeit erneut zusammenbrechen kann. In eine trianguläre Montage, die zwischen einem Kriegsschiff und der dortigen Seebestattung für den von CIA-Einsatzkräften getöteten Abu Nazir, der Trauerfeier für den von Brody und Nazir zuvor ermordeten Vizepräsidenten Walden und einer Liebesszene zwischen Brody und Carrie hin und her wechselt, bricht die Explosion einer Autobombe, die nahezu die gesamte Führungsriege der amerikanischen Sicherheitsdienste auslöscht. Um einen solchen, schockartig-traumatischen Zusammenbruch aller Ordnungsstrukturen geht es auch auf der meta-reflexiven Ebene der Serie, die diese zu einer der klügsten fiktionalen Auseinandersetzungen mit dem War on Terror macht. II.  H OMELAND ALS METAREFLEXION DER PREMEDIATION NACH 9/11 Die in der Figur Carrie reflektierte protoparanoide Struktur des politischen Denkens nach 9/11 erfährt – das ist die These – auf einer Metaebene in der serienspezifischen Auseinandersetzung mit dem von Richard Grusin in die Diskussion eingeführten Beschreibungs- und Analysekonzept der »Premediation« eine dialogische Entsprechung. Premediaton, so Grusin, markiert eine andere massenmediale Bearbeitung von Zukunft als dies noch vor 9/11 der Fall gewesen ist. Ging es in der massenmedialen Auseinandersetzung mit Gewalt und Krieg im 20. Jahrhundert in erster Linie um die retrospektive Verarbeitung von zeitlich vorgängigen, realen Denormalisierungsereignissen, so hat sich um 2000 herum und forciert durch 9/11 eine Umstellung des medialen Zeitbezugs von Vergangenheit auf Zukunft vollzogen. Die Vorstellungen von Zukunft speisen sich seither wesentlich aus einem katastrophischen Imaginären, das das Kommende nur noch als Schreckensereignis denken kann.28 Der Antrieb der Premediation resultiert, so könnte man eine Einsicht Jacques Derridas aufgreifend fortführen, aus der Angst, dass es einen kommenden Anschlag gegeben haben wird. »Die Prognose ist düster: Als Produkt der Gewalt, die ihn zu unterdrücken sucht, schuf der Terrorismus ein Trauma, das nicht durch Trauer gelindert werden kann, weil das Herz des Traumas nicht das vergangene Ereignis ist, sondern die Angst vor einem zukünftigen Ereignis, dessen katastrophische Natur nur geraten werden kann.«29

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27  Vgl. Douglas Kellner, Cinema Wars: Hollywood Film and Politics in the BushCheney Era, Oxford 2010. 28  Vgl. Eva Horn, Zukunft als Katastrophe. Fiktion und Prävention, Frankfurt a. M. 2014. 29  Jaques Derrida: Autoimmunisierungen, wirkliche und symbolische Selbstmorde. Ein Gespräch mit Jacques Derrida, in: Jürgen Habermas u. Jacques Derrida, Philosophie in Zeiten des Terrors. Zwei Gespräche, geführt, eingeleitet und kommentiert von Giovanna Borradorie, Berlin 2004, S. 117–178, hier S. 123.

In gewisser Weise reagiert Premediation also, indem sie alle möglichen Zukunftsszenarien durchspielt, als serielle Form der Antizipation auf den traumatischen Schock, der von den Livebildern des 11. September in der US-amerikanischen Öffentlichkeit ausgelöst wurde. Premediation »works to prevent citizens of the global mediasphere from experiencing again the kind of systemic or traumatic shock produced by the events of 9/11 by producing an almost constant, low level of fear or anxiety about other terrorist attacks.«30 Ausgehend von Sigmund Freuds Konzeptualisierung von Angst als Absicherung gegen den traumatischen Schock31, sieht Grusin die amerikanische Öffentlichkeit seit 9/11 von einer spezifischen Politik der Angst bestimmt, die in einer bloßen Mobilisierungsfunktion für den War on Terror nicht aufgeht, wohl aber als eine wesentliche Triebfeder eines zügellosen Sicherheitsdenkens zur Beschneidung von Bürgerrechten beiträgt: »Thus the historical event of 9/11 continues to live and make itself felt in the present as an event that both overshadows other recent historical events and that continues to justify and make possible certain governmental and medial 30  Richard Grusin, Premediation. Affect and Mediality after 9/11, New York 2010, S. 2. 31  Freud, Jenseits des Lustprinzips, Gesamtausgabe, S. 222 f.

practices of securization.«32 Agenten und mediale Techniken der Produktion einer auf Dauer gestellten, niederschwelligen Angst waren neben dem spezifischen Emergency-Design der »Breaking News«33 etwa das farb-kodierte Terrorwarnsystem, das die amerikanischen Zuschauer nach 9/11 allabendlich in völlig unkonkreter Weise über gestiegene oder gefallene Terrorwahrscheinlichkeiten informierte,

32  Grusin, Premediation, S. 8. 33  Vgl. Yana Milev, Design Governance und Breaking News. Das Mediendesign der permanenten Katastrophe, in: Christiane Heibach (Hg.), Atmosphären. Dimensionen eines diffusen Phänomens, München 2012, S. 43–58.

oder der sogenannte »Preparedness Guide«, der von der amerikanischen FEMA in mehreren Auflagen veröffentlicht wurde und den amerikanischen

Bürgern spezifische Terrorabwehr- und Bespitzelungsregeln nahebrachte.34 Hinzukommt der gesamte Bereich der popkulturell-narrativen Auseinandersetzung mit 9/11 und dessen Folgen im Spielfilm und in der TV-Serie, die – und das macht das paradoxale Ansteckungsgeschehen medialer Angst aus – auch dort zur Fortführung von Angst beitragen, wo sie Bedrohung nicht

34  Die aktuelle Fassung ist online einsehbar unter http:// www.fema.gov/media-library/ assets/documents/7877 [eingesehen am 01. 11. 2014]. 35  Die Forschung zum Serienvorspann als einer Matrix der Gefühle steht noch am Anfang. Für den Filmvorspann und seine metareflexive Funktion vgl. Georg Stanitzek, Vorspann (titles/credits, générique), in: Ders. u. a. (Hg.), Das Buch zum Vorspann, Berlin 2006, S. 8–19.

alleine parasitär für den eigenen Spannungshaushalt nutzen, sondern auch reflektieren wollen. Ein exzellentes Beispiel für die paradoxale Verquickung der Produktion und Reflexion von Angst ist Homeland, deren Macher genau um die Mechanismen der Premediation und deren pathologische Effekte wissen, sie gleichzeitig aber auch überaus erfolgreich nutzen. Dies wird gerade am Vorspann der Serie deutlich, der in symbolisch verdichteter Form als ein Selbstkommentar der gesamten Produktion fungiert.35 Allgemein kann gesagt werden, dass es sich beim Vorspann der Serie Homeland um eine komplexe Bild- und Tonkomposition handelt, die in die Themen der Serie einführt, zugleich aber auch eine Außenposition zur Lars Koch  —  »I – I’m just making sure we don’t get hit again.«

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kommenden Ausfaltung der Handlung einnimmt, sich also strukturell zur eigentlichen Serie verhält wie der multifaktorielle Zusammenhang der Premediation zur bedrohlichen Zukunft. Dabei gehen Inhalt und Form eine komplexe Referenz- und Signifikationsbeziehung ein. Zunächst zur Form: Der Vorspann dauert knapp 1,5 Minuten und beinhaltet bei mehr als sechzig Schnitten eine stakkatohafte Bilderflut, die, indem sie permanent den Wahrnehmungsraum destabilisiert, fortwährend den Eindruck von Bedrohlichkeit und Verstörung vermittelt. Er erzeugt gewissermaßen eine Reizüberflutung als performativen Nachvollzug der im Zuge der Premediation durchgeführten Kopplung von Bilderflut, drängender Immersion und Wachsamkeitszumutung. Die Kombination unterschiedlicher Bildquellen und realpolitscher Bild- und Tonzitate rund um den Themenkreis »Terror« versinnbildlicht die Ermittlungswut und den Beziehungswahn der Hauptfigur Carrie. Man könnte in diesem Sinne davon sprechen, dass der Vorspann auf der Ebene der Montage im Sinne einer paranoiden Fokalisierung nachvollzieht, wovon er inhaltlich erzählt: von einer Verschaltung der medial aufgezeichneten und zugleich neu produzierten Terrorgefahr mit einer Rezeptionshaltung, die eine spezifische, katastrophische Somatizität und Subjektivität erzeugt. Inhaltlich lassen sich im Vorspann drei Subsequenzen unterscheiden.36 Die ersten etwa dreißig Sekunden erzählen von Carries Kindheit seit den 1980er Jahren und reichen bis 9/11. Es wird deutlich, dass schon vor dem 11. September Bedrohung, kommuniziert durch die damals tätigen Präsidenten Reagan, Bush senior und Clinton, ein zentraler Medieninhalt war, der Carrie als Kind dieser Zeit in unruhige Träume versetzt. Die wahrnehmungsdeterminierende Funktion der Premediation wird in einem (mehrfach wiederholten) Bild besonders deutlich, das Carrie von hinten vor einem Fernseher zeigt und so anschaulich macht, dass ihr primärer Zugang zur Welt durch die Dramaturgien und Inhalte des Fernsehens determiniert ist. Das Kind mit der Löwenmaske, das etwas später durch ein Labyrinth irrt, wird so lesbar als ein Selbst der Sorge und der Sicherheitssehnsucht. Die Löwenmaske deutet zudem darauf hin, dass es in der Serie fortgesetzt um Fragen der Maskierung und tarnenden Affektkontrolle sowie um die für den Prozess der ideologischen Anrufung konstitutive Dopplung von Er- und Verkennung des politischen Subjekts geht.37 Die zweiten knapp 15 Sekunden rufen dann 9/11 selbst als ein Ereignis auf, das eine Zeit davor von jener danach unterscheidet, ohne aber eine völlige Diskontinuität herbeizuführen. Im Gegenteil: Auch wenn die Premediation einen dominanten Zug auf die Bearbeitung von Zukunft aufweist, bleibt sie auch im Hinblick auf die Vergangenheit nicht ohne Effekte. Die

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36  Vgl. hierzu instruktiv auch Victoria Varga, Anderthalb Minuten Homeland: Eine VorspannAnalyse, online einsehbar unter http://www.serienjunkies.de/ news/anderthalb-minuten-homeland-vorspann-analyse-57291. html [eingesehen am 01. 11. 2014]. 37  Vgl. Benjamin Scharmacher, Wie Menschen Subjekte werden. Einführung in Althussers Theorie der Anrufung, Marburg 2004.

zurückliegenden Ereignisse werden in einem retroaktiv-performativen Verfahren zur Vorgeschichte der Angriffe von 2001, die über diese Zäsur hinaus in der Gegenwart präsent ist. Die traumatische Wucht der Angriffe markieren die Open Credits von Homeland, indem sie die kollabierenden »Twin Towers« aussparen und stattdessen in verwackelten Handkamera-Bildern vor allem fliehende Passanten, Rauch und Desorientierung zeigen. Wichtig ist, dass die Bildebene auf der Ebene des Tons eine Entsprechung erfährt. Die Tonspur, die ganz wesentlich zur Erzeugung einer ästhetischen Erfahrung des Ausnahmezustands beiträgt, arbeitet mit überbetonten Geräuschen und Soundeffekten, die eine atmosphärische Fremdheit erzeugen und so die dokumentarischen Augenzeugen- und Breaking-News-O-Töne rahmen. Der sich daran anschließende Ausschnitt aus der Obama-Rede zur Tötung Osama Bin Ladens macht deutlich, dass mit der Premediation ein Vorgang der Anrufung verbunden ist, wie er von Louis Althusser in seinem Text über »Ideologie und ideologische Staatsapparate«38 skizziert wurde. Nachdem zunächst Obamas Konterfei zu sehen ist, der gemeinsame Entschlossenheit konnotierend in die Kamera schaut, wechselt das Bild auf Carrie, die mit geschlossenen Augen als Adressatin der Ansprache markiert wird. Der letzte Teil des Vorspanns führt dann auf die eigentliche Serienhandlung hin. Er zeigt Carrie und Brody im Labyrinth des wechselseitigen Verdachts. Indem Carries Stimme aus dem Off zu vernehmen ist, die in gehetztem Tonfall Auskunft darüber gibt, dass die Angst, einen Terrorhinweis zu verpassen, ihr gesamtes Tun bestimmt, wird schon zu Beginn der Serie klar, worum es eigentlich geht: um das Portrait einer Wahrnehmungsund Denkweise, die in der Verhinderung eines Anschlags ihre ganze Daseinsberechtigung zu finden scheint, und die darum soziale Interaktion wie 38  Louis Althusser, Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie. Hamburg/1977. 39  Die Verschaltung einer von der Autorität bzw. dem großen Anderen medial übertragenen Rede mit einem den Auftrag annehmenden Subjekt findet sich vor Homeland schon in Chris Goraks Post-9/11-Thriller »Right at Your Door« aus dem Jahre 2006. Auch dort geht es um die wahrnehmungskonfigurierende Macht der Politik der Angst. 40  Hediger, Einübung in paranoides Denken, S. 69.

mediale Kommunikation nur als Epistemologie der Feindschaft vollziehen kann. Genau hier wird einmal mehr deutlich, dass Carries Mission – »II’m just making sure we don‘t get hit again.« – nicht nur eine Charakterzeichnung ist, sondern auch als ambivalente Selbstbeschreibung der Serie insgesamt fungiert.39 III. SCHLUSS Gegenstand dieses Beitrags war es, darzustellen, dass die Serie Homeland weit mehr ist als eine bloße »Einübung in diesen neuen paranoiden Stil des Denkens«40 ist, der nach 9/11 die US-amerikanische Öffentlichkeit prägt. Als kulturelles Skript trägt sie in einem komplexen kommunikativen Prozess zur Konfiguration politischer Subjektivität bei, allerdings nicht in Form einer monodirektionalen Weitergabe hegemonialer Ideologie, sondern vielmehr, Lars Koch  —  »I – I’m just making sure we don’t get hit again.«

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indem sie selbst als Aktant bzw. Mediator in einem komplexen Gefüge gesellschaftlicher Wissens- und Meinungsproduktion agiert und dabei ihre eigenen Wirkungspotenziale beobachtet und so ausstellt, dass die affektsteuernden Techniken und Effekte einer audiovisuelle Praxis des Ausnahmezustands sichtbar werden. Wichtig für die Beschäftigung mit politischen TV-Serien im Allgemeinen und mit Homeland im Besondern ist also die Berücksichtigung der inhaltlichen wie formalen Reflexivität bzw. Relationalität zur Welt, die das jeweilige Artefakt ausbildet. Indem der Serientext nicht alleine als Themenreservoir oder bloße Abbildung realer Verhältnisse aufgefasst wird, erscheint es möglich, die Leistung der Populärkultur als Produzentin und Reflexionsorgan medial zirkulierender Kompakteindrücke der Gegenwart genauer zu erfassen. Stand in diesem Beitrag das Verhältnis von Serientext und Weltbezug im Vordergrund, ist der dritte Angelpunkt des hier anfangs vorgestellten Analysemodells zur politischen Funktion populärer Medien, also der Aspekt der Intertextualität, etwas in den Hintergrund getreten. Wollte man das Bild abrunden, wäre also die Genre-Politik von Homeland noch deutlicher zu untersuchen gewesen. Dabei wäre es dann darum gegangen, die filmischen und literarischen Genealogien der Paranoia genauer herauszuarbeiten, die in Homeland impliziert sind und die Serie einordnen in eine Linie, die von »The Manchurian Candidate« der 1950er Jahre über den Paranoia-Thriller der 1970er Jahre bis zu aktuellen Verschwörungserzählungen reicht. Ein wesentlicher Referenztext, auf den sich Homeland vor allem in der zweiten Staffel in zahlreichen Zitaten bezieht, ist etwa Mark Pellingtons ParanoiaFilm »Arlington Road« aus dem Jahr 1999, der sich mit dem Bombenanschlag von Oklahoma City aus dem Jahr 1995 auseinandersetzt und so eine spezifisch inneramerikanische, rechte Tradition der Paranoia ins Spiel bringt. Und auch andere Bezüge, wie etwa der zu Ted Kazcynski, der als der sogenannte »Una-Bomber« zu einer Berühmtheit des Verdachtsdenkens geworden ist, wären dann von Interesse gewesen. Kazcynski, der seine zahlreichen Briefbomben-Anschläge auf Vertreter der Industrie in einer Hütte in den Wäldern von Montana plante, ist selbst schon ein wandelndes Zitat, insofern seine spartanische Behausung in einer direkten Linie zum Zivilisationsüberdruss eines Henry Thoreau steht, der in einer ebensolchen Cabin sein Aussteigerbuch »Walden« (1854) schrieb. In Homeland taucht eine solche Block-Hütte am See als geschützter Raum für die Affäre von Brody und Carrie wieder auf. Ob sie dabei vor allem als Liebesnest oder doch eher als Treibhaus der Paranoia zu werten ist, bleibt – wie so vieles in der Serie – letztlich ambivalent und unentscheidbar.

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Prof. Dr. Lars Koch ist seit Mai 2014 Prof. für Medienwissenschaft und Neuere deutsche ­Literatur an der TU Dresden (Open Topic Verfahren) und seit 2013 zudem Principal Investigator der ERC Starting Grant-Forschergruppe »The Principle of Disruption. A Figure Reflecting Complex Societies«. Er forscht zur Medialisierung von Gefahr, kulturellen Codierungen von Angst, Populärkultur als Medium und Aktant des sozialen Imaginären. Aktuelle Veröffentlichungen zum Thema: Lars Koch (Hg.), »Angst. Ein interdisziplinäres Handbuch«, Stuttgart 2013; Stefan Habscheid u. Lars Koch (Hg.), Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, Nr. 173 (2014): Katastrophen, ­Krisen, Störungen.

MAL FREUND, MAL FEIND, MAL KONKURRENT EIN SOZIOLOGISCHER BLICK HINTER DIE KULISSEN DES POLITIKBETRIEBS IN HOUSE OF CARDS ΞΞ Il-Tschung Lim

Die aktuelle Begeisterung für serielle Formate des Fernsehens hat vermutlich nur wenig mit dem Serienschema und praktisch gar nichts mit dem zu tun, was man die zeitgenössische Fernsehkultur nennen könnte. Ein Versuch, jenes Publikum des sogenannten Qualitätsfernsehens näher zu bestimmen, dürfte auf die Feststellung hinauslaufen, dass es sich hier um eine globale kulturelle und digitale Elite handelt, die sich im Angesicht von Quality TV nicht an ein biederes Fernsehprogramm erinnert fühlt, sondern an den Genuss von Filmen oder gar Kunst. Das mag einer der Gründe sein, warum das Serienfernsehen eine solche Faszination auch auf die Wissenschaft jenseits der klassischen medien- und kommunikationswissenschaftlichen Forschung zum Fernsehen ausübt. Denn die für die neueren Serienformate charakteristische narrative complexity und operational aestehtic – also jene komplexen, über zahllose Handlungsstränge verzweigten Erzählbögen – liefern einen bereitwillig anschlussfähigen Stoff, der nahezu ungeachtet seiner medialen Idiosynkrasien für hermeneutische Ausdeutungen zur Verfügung steht.1 Insbesondere eine kulturwissenschaftlich und kultursoziologisch orientierte Serienforschung profitiert davon, Serien wie Texte zu behandeln, die als eine populäre Semantik in den kulturellen Bestand an Zeichen, Symbolen, Bildern, Ideen, Vorstellungen, usw. einer Gesellschaft eingehen. Für das Format sogenannter Politikserien scheint das besonders augenfällig zu sein – und zwar aus Gründen, die zum einen mit moderner politischer Macht selbst zu tun haben und zum anderen mit den epistemischen Vorzügen fiktionaler Repräsentationen von politischer Macht. Beide Aspekte sind miteinander verschränkt. Folgt man einer in der politischen Kulturforschung geläufigen Beobachtung, dann setzt sich politische Macht konstitutiv aus sichtbaren und unsichtbaren Anteilen zusammen. Für repräsentative 1  Jason Mittel, Narrative Complexity in Contemporary American Television, in: The Velvet Light Trap, Nr. 58 (2006), S. 29–40.

Demokratien bedeutet das insbesondere, dass sich politische Macht in einen Bereich von Entscheidungsprozessen teilt, die transparent sein müssen, und in einen Bereich staatlicher Ordnungsstiftung durch ein Machtmonopol, das möglichst wenig sichtbar sein darf und nur im Ausnahmefall zur Anwendung

INDES, 2014–4, S. 55–61, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014, ISSN 2191–995X

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kommen soll.2 Die Darstellungsseite – derjenige Aspekt des Politischen also, der in der Forschung von der Herstellungsseite unterschieden wird –berührt dabei, wie Ulrich Sarcinelli betont hat, den »Kernbereich des politischen Systems und politischer Prozessanalyse«3, und ist daher keine nachgeordnete Ebene, die sich zu den politischen Operationen und Praktiken wie ein ornamentaler Aufputz verhält. Wenn es aber einen Bereich staatlicher Politik gibt – zumal in repräsentativen Demokratien, die ihrer Selbstbeschreibung nach auf Transparenz, Sichtbarkeit und Kontrolle der politischen Verfahren gründen –, der notwendig unsichtbar sein muss, dann stellt sich die Frage, wer eigentlich die »Arbeit an der,politischen Deutungskultur‘«4 hinsichtlich dieser Hinterbühnen des Politischen leistet. Denn Unsichtbarkeit ist ja keinesfalls gleichbedeutend mit Unbeobachtbarkeit, sie setzt erkenntnistheoretisch lediglich das Wissen um ihre spekulative Dimension voraus. Die allgemeine Antwort lautet, dass sich Fiktionen besonders dafür eignen, dem konstitutiven Verweisungszusammenhang von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit politischer Macht nachzuspüren. Denn aus der Perspektive der Fiktion stellt Intransparenz keine Irregularität des Politischen dar, sondern viel eher sein modernes Betriebsgeheimnis. »Fiktion«, so Eva Horns treffende Beschreibung weiter, »analysiert Geheimnisse, sie ist fähig, ihre Struktur zu durchleuchten, gerade weil sie deren Logik, ihre diffizile und rätselhafte Ökonomie von Hell und Dunkel, Präsentiertem und Verborgenem nicht aufbricht, sondern nachvollzieht«5. Und Politikserien, die man vor allem deswegen so nennen könnte, weil diese Serien bevorzugt von den Hinterbühnen der politischen Macht erzählen, scheinen gegenwärtig einen Großteil der ›politischen Deutungskultur‹ zu übernehmen. Im Folgenden sollen genau diese politische Hinterbühne, in die uns aktuelle Politikserien Einblicke verschaffen, näher beleuchtet und dabei die Bedingungen politischer Kommunikation aus dem Off der politischen Öffentlichkeit betrachtet werden. Wenn man die vielfach bemühte Formel von der Unterscheidung von Freund und Feind als Leitdifferenz des Politischen akzeptiert, dann liegt nahe, danach zu fragen, wie fiktionale Politikserien diese grundlegende Sozialform darstellen. Es mag dann außerdem naheliegen, diese Frage an besonders eskalative Genrebeiträge wie beispielsweise an die in dieser Hinsicht maßstabsetzende Fox-Serie 24 zu adressieren, die den Gegensatz von Freund und Feind in ein entfesseltes Terrornarrativ übersetzt. Dieser Versuchung möchte ich jedoch widerstehen. Ein Blick hinter die Kulissen des Politikbetriebs in House of Cards lohnt sich gerade aus der distanzierten Perspektive einer Soziologie, die sich für den Normalfall des Politischen, nicht aber seine Ausnahme(n) interessiert. Im

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2  Vgl. Herfried Münkler, Die Visibilität der Macht und die ­Strategien der Machtvisualisierung, in: Gerhard Göhler (Hg.), Macht der Öffentlichkeit – Öffentlichkeit der Macht, Baden-Baden 1995, S. 213–230. 3  Ulrich Sarcinelli, Politische Inszenierung im Kontext des aktuellen Politikvermittlungsgeschäfts, in: Sabine R. Arnold u. a. (Hg.), Politische Inszenierung im 20. Jahrhundert. Zur Sinnlichkeit der Macht, Wien 1998, S. 146–157, hier S. 147. 4  Ebd., S. 148. 5  Eva Horn, Der geheime Krieg. Verrat, Spionage und moderne Fiktion, Frankfurt a. M. 2007, S. 11.

Anschluss erfolgt ein kurzer Vergleich mit der Serie Homeland, der die Einschätzung stützen soll, der zufolge das Bild des »Politikmachens« hinter den Kulissen nuancierter und reicher an Schattierungen sozialer Konstellationen gerät, je mehr es sich dem politischen Tagesgeschäft zuwendet. Man darf sich insgesamt glücklich schätzen, soll das mit anderen und vielleicht auch etwas polemischen Worten heißen, dass inzwischen nicht mehr »Lindenstraße« oder »Forsthaus Falkenau«, sondern Serien wie eben House of Cards, »The West Wing« oder »Scandal« das Material der politischen Kulturforschung liefern. House of Cards liegt bislang in zwei Staffeln vor; in der vom US-amerikanischen Streaming-Portal Netflix seit Februar 2013 ausgestrahlten Web-Serie wird das Weiße Haus gut acht Jahre nach dem Ende von The West Wing einmal mehr zum Schauplatz einer aktuellen Politikserie. Im Zentrum der Handlung steht die steile politische Karriere des von Kevin Spacey gespielten Kongressabgeordneten Francis »Frank« Underwood, den wir zunächst als Majority Whip der Demokratischen Partei kennenlernen und auf seinem Weg ins »Oval Office« als Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika begleiten. Underwoods politischer Alltag besteht zunächst darin, die eigenen Abgeordneten auf Parteilinie zu halten und insbesondere vor wichtigen Abstimmungen die Parteidisziplin herzustellen. Die Serie handelt vordergründig vom Zynismus einer Macht, der buchstäblich über Leichen geht, wenn es das politische Machtstreben erfordert. In dieser Hinsicht ist es nur konsequent, wenn die Serie eine persönliche Kränkung Underwoods – der bereits versprochene Posten als US-Außenminister wird ihm vorenthalten – zum treibenden Motiv einer von ihm und seiner kongenialen Ehefrau Claire (Robin Wright) perfekt beherrschten Partitur der Macht und Ränke erklärt. Andererseits scheint dieses Motiv der Rache auch nur einer erzählerischen Konvention zu gehorchen, mit der die Ursachen und Gründe für das Verhalten des aalglatten Machtmenschen Underwood plausibel gemacht werden sollen. Man könnte dann über House of Cards urteilen, wie unlängst in der Süddeutschen Zeitung geschehen, dass kein realer Politiker und keine reale Politikerin »so zynisch und schlicht wie Francis Underwood« sei und die Serie insgesamt ihr Publikum »politikfeindlich und unaufgeklärt« zurücklasse.6 Auch die Morde, die auf dieser Ebene des politischen Personals stattfinden, wirken unrealistisch; und schließlich wäre mit gutem Recht einzuwenden, dass im Gegensatz etwa zu der BBC-Serie The Thick of it und ihrer weitaus realistischeren Darstellung des erschöpfenden alltäglichen Politikbetriebs die blitzblank polierte (»Apple«-)Oberfläche von House of Cards keine Einsichten 6  Marc Felix Serrao, Isse nur Fernsehen, Bello!, in: Süddeutsche Zeitung, 27. 09. 2014.

in die graue und zermürbende Bürokratie auf der Herstellungsseite der Politik gewährt. Im Gegenteil: Claire sieht immer makellos aus; egal, wie wenig Il-Tschung Lim  —  Mal Freund, mal Feind, mal Konkurrent

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Francis schläft, begeht er praktisch keine Fehler, seine Sätze sind rhetorische Waffen, jeder Schuss ein Treffer. Und dennoch bietet House of Cards mehr als nur den betörenden look politischer Macht. Warum und in welcher Hinsicht könnte House of Cards also aufschlussreich sein? Die Serie macht ja keinen Hehl aus einer Rhetorik, die der Transparenz politischer Prozesse verpflichtet zu sein scheint und demzufolge vermitteln möchte, wie es im Arkanbereich politischer Kommunikation zugeht. Man denke nur an den schönen Einfall, dass wir als Zuschauende nicht nur sehen, wenn in der Serie eine SMS geschrieben oder gelesen wird, sondern via filmischer Oberfläche auch gleich mitlesen können. Und natürlich ist der Bruch mit der sog. »vierten Wand«, bei dem sich Underwood direkt an das Publikum richtet, ein rhetorischer Fingerzeig für die filmische Behauptung einer politischen Reflexivität, die nicht nur sich selbst beobachten kann, sondern auch den Zuschauenden von der Übung in Machtpolitik profitieren lässt. Was wir dann zu sehen bekommen, ist weniger ein durch Rachsucht entfesseltes politisches Intrigenspiel eines mit allen Wassern gewaschenen Machtpolitikers, sondern vielmehr, so meine These, ein Musterbeispiel für eine Analytik jener abrupten Wechsel und Übergänge zwischen den sozialen Formen, die Georg Simmel zur Grundlage seiner Soziologie gemacht hat.7 House of Cards bietet das gesamte Simmel’sche Panorama sozialer Formen auf: den Streit, die Konkurrenz, die Über- und Unterordnung, den Tausch, die Geheimhaltung, die Kooperation. Simmels Formenlehre ist hilfreich, um zu verstehen, dass House of Cards nicht schlicht von einem personenbezogenen Machiavellismus handelt, sondern das fiktionale Porträt einer Innenansicht der Politik darstellt, in der sich unterschiedliche soziale Formen permanent überlagern und abwechseln. Wenn House of Cards demnach in erster Linie die Dynamik sozialer Wechselwirkungen am Beispiel der Politik veranschaulicht, dann heißt das eben auch zu verstehen, dass persönliche Eigenschaften und Motive wie Underwoods Zynismus, seine moralische Indifferenz und Kälte eine nachgeordnete Ebene beschreiben, die tatsächlich wenig über moderne Politik in indirekten Demokratien verrät. Ein Blick auf House of Cards durch Simmels Formenlehre zeigt allenfalls, dass bestimmte soziale Formen eine besondere Affinität zur Politik aufweisen können, die wiederum mit bestimmten subjektiven Affekten und Attributen besonders gut korrelieren. Die verschiedenen sozialen Formen können dabei gleichzeitig und nebeneinander existieren, ohne sich – wie man spontan vermuten könnte – gegenseitig auszuschließen. Es ist schwer vorstellbar, wie Underwood und der väterliche Freund und Berater von Präsident Walker, Raymond Tusk, aus einer unnachgiebigen Konkurrenzlogik tatsächlich geneigt sind, doch noch

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7  Georg Simmel, ­Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, Gesamtausgabe, Band 11, herausgegeben von Otthein Rammstedt, Frankfurt a. M. 1992.

miteinander zu kooperieren. Aber dass diese Möglichkeit überhaupt in Erwägung gezogen wird, verdeutlicht nicht nur das Spektrum an Alternativen sozialer Formen in der Politik, sondern auch, dass es strukturelle Bedingungen geben muss, die dieses Alternativenspektrum überhaupt gewährleisten. House of Cards gibt dafür eine plausible Erklärung. Es spricht viel dafür, dass in der Politik die soziale Form der Geheimhaltung ein entscheidender Modus ist, der immer dann im Spiel ist, wenn gleichzeitig andere soziale Formen aktiv sind:8 Dass Francis und Claire Underwood eine Tauschbeziehung zum wechselseitigen Nutzen eingehen, ist zugleich Bedingung der Möglichkeit als auch Ergebnis der intimen Geheimhaltungsform zwischen Underwood und der jungen Reporterin Zoe Barnes. Die Beziehung zwischen Underwood und Barnes ist überdies auch ein Paradebeispiel für die soziale Form des Tauschs. Beide treten mit reziproken Erwartungen in diese Tauschbeziehung ein: Während die ehrgeizige Barnes sich von Insider-Informationen eine gute Story verspricht, die ihre Karriere als Nachwuchs-Journalistin voranbringen soll, ist Underwood gewillt, diese zu liefern, weil er seinerseits in Barnes das Mittel zu einer gut lancierten medienwirksamen Story sieht, die dem politischen Gegner schaden soll. Vertrauensbildend wirkt in dieser mit Simmel als asynchroner Tausch (weil Gabe und Gegengabe zeitlich versetzt erfolgen) beschriebenen Beziehung, dass sich die anfängliche Unsicherheit über den gewährten sozialen Kredit für beide Karrieren schnell auszahlt.9 Überlagert wird diese Beziehungsform durch eine amouröse Liaison, bis schließlich das bis dato gut funktionierende Tauschverhältnis umkippt in einen tödlich ausgehenden Vertrauensbruch. Es gibt zahlreiche weitere Belege für die rasante Dynamik in den ständig wechselnden Konstellationen der sozialen Formen, die House of Cards aufbietet. Sie alle legen nahe, dass die einzige Konstante in den sozialen Formen der Politik in dem allzeit möglichen Wechsel in eine andere soziale Form besteht: von der Über- und Unterordnung zum Konflikt im Verhältnis von Underwood 8  Vgl. zur Funktionalität der Geheimhaltungsform für andere soziale Formen Adrian Itschert, Konkurrenz, Tausch, Kooperation, Über- und Unterordnung, Geheimhaltung und Streit im Radsport, in: Simmel Studies, Jg. 19. (2009) H.  1, S. 62–109, S. 88 f.    

9  Vgl. dazu den »Exkurs über Treue und Dankbarkeit«, in: Simmel 1992, S. 652–670. 10 

Ebd., S. 323.

zu dessen ehemaligem Stabschef Remy Danton; über die zahlreiche Praktiken und Konstellationen der Geheimhaltung sowie den jederzeit möglichen Wandel von ehemals Verbündeten in politische Feinde und Antagonisten; bis hin zu dem Verhältnis zwischen Underwood und dem Milliardär Tusk, das sich zur erbitterten Konkurrenz als indirekter Kampfform im Angesicht eines Dritten verselbständigt, nämlich um den Einfluss auf Präsident Walker. So wie Simmel zufolge ein Liebhaber nämlich nichts gewonnen hat, wenn er zwar seinen Nebenbuhler ausschaltet, aber »die Dame nun auch ihm ihre Neigung vorenthält«10, so zeigt House of Cards, dass die Konkurrenz stets eine triadische soziale Konstellation einer indirekten Form des Kampfes ist. Il-Tschung Lim  —  Mal Freund, mal Feind, mal Konkurrent

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Nicht zwei Konkurrenten kämpfen um etwas Drittes, um ein knappes Gut, einen Vorteil, einen Gewinn, sondern um die Gunst eines Dritten.11 In diesem Sinne hätte Underwood nichts davon gehabt, sich letztlich erfolgreich gegen seinen Konkurrenten Tusk durchzusetzen, wenn ihm dabei die Gunst seines Präsidenten Walker verwehrt geblieben wäre. House of Cards erzählt natürlich von einer bestimmten charakterlichen Disposition, die günstige Bedingungen schafft, um in der Politik zu reüssieren – das gewiss auch. Aber vor allem geht es in der Serie um eine zugegeben hier nur ansatzweise beschriebene Dynamik stets prekärer sozialer Formen, in der ständig aus Freunden Feinde und aus Feinden Freunde werden. Gerade dieser Umstand scheint nahezulegen, dass House of Cards von einer Politik handelt, in der man grundsätzlich niemandem trauen kann. Von einem immerzu präsenten Misstrauen gegenüber der Umwelt, ja sogar einer buchstäblich paranoiden Verfasstheit der Politik handelt aus dem Bereich zeitgenössischer Politikserien aktuell vor allem auch Homeland – eine US-amerikanische Adaption der israelischen Blockbuster-Serie Hatufim. Mit Homeland befinden wir uns nach den Anschlägen von 9/11 bereits in einer »dritten Phase der Terror-Reflexion«12 in der populären Serienkultur, die nach Lars Koch auf eine erste Phase des fiktionalen Durchspielens terroristischer Bedrohungsszenarien (24) sowie auf eine zweite Phase folgt, in der die moralischen und politischen Verwerfungen im Krieg gegen den Terror im Vordergrund stehen (Battlestar Galactica). Wenn es stimmt, dass es im populärkulturellen Terror-Idiom 3.0 um die Konditionen einer politischen Subjektivität im Kontext einer Kultur der Angst geht, dann stellt die seit 2011 auf dem Kabelsender Showtime aktuell in der vierten Staffel laufende Serie eine Art Gegenentwurf zu House of Cards dar. Denn in Homeland geht es nicht um soziale Formen und überindividuelle Konstellationen, die sich unentwegt ändern und deswegen permanent neue Strategien für neue Situationen erfordern. Gemessen an dieser Dynamik abrupter Abbrüche, Wechsel und Übergänge in den jeweiligen Eigenlogiken sozialer Formen ist Homeland in seinem Erzähltempo beinahe träge. Der narrative Grundkonflikt, nämlich die Frage, ob der nach achtjähriger Gefangenschaft im Irak befreite US-Marine Nicholas Brody (Damien Lewis) nunmehr ein Terrorist und Schläfer ist, erzeugt eine erstaunlich minimalistische, fast kammerspielartig anmutende Erzählsituation. Der psychisch von der Gefangenschaft versehrte Brody und sein Gegenpart, die manisch-depressive CIA-Agentin Carrie Mathison (Claire Danes) bilden zwar einen dynamischen Kern, um den sich die Freund-FeindCamouflage und eine generalisierte Hermeneutik des Verdachts organisieren, die mittlerweile zum festen Topos und Inventar in der fiktionalen Exploration

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11  Vgl. dazu Tobias Werron, Zur sozialen Konstruktion moderner Konkurrenzen. Das Publikum in der ›Soziologie der Konkurrenz‹, in: Hartmann Tyrell u. a. (Hg.), Georg Simmels große »Soziologie«. Eine kritische Sichtung nach hindert Jahren, Bielefeld 2011, S. 227–258. 12  Lars Koch, Terror 3.0. »Homeland« und die Entgrenzung des Verdachts, in: Pop. Kultur und Kritik, H. 3/2013, S. 17–21, hier S. 19.

geopolitischer Feindbilder gehören. Abgesehen davon verharren aber Saul Berenson, der ebenso verlässliche wie väterliche Freund und CIA-Kollege von Mathison, wie auch ihr beider Vorgesetzter David Estes unentwegt in der Rolle der ewigen Zweifler an der Diensttauglichkeit und Zurechnungsfähigkeit von Mathison. Vielleicht ist dieses Urteil unplausibel – bedenkt man, dass mit der politischen Ausnahmefiguration in Homeland ein Narrativ im Vordergrund steht, das doch in erster Linie und vermittelt über die psychischen Zerrüttungen, Störungen und Versehrtheiten einzelner Figuren das Bild einer kollektiven Traumakultur nach 9/11 zeichnen will. Vielleicht ist es auch einfach eine Frage der jeweils im Mittelpunkt stehenden Erzählsituation – hier politisches business as usual, dort Politik im dauerhaften Ausnahmezustand –, weshalb die narrative Beschränkung auf das operative Tagesgeschäft der Politik zumindest für den soziologischen Blick attraktiver erscheint. Und vielleicht ist es auch eine Frage, an die man möglicherweise differenzierungstheoretisch herangehen muss: Dann hätten wir es einmal mit der (immerhin schillernden) Darstellung des Funktionssystems der Politik und den in ihr (aber nicht ausschließlich) vorkommenden sozialen Formen des Streits, der Geheimhaltung, der Über- und Unterordnung, des Tauschs, der Kooperation, der Konkurrenz zu tun; und zum anderen mit der unübersichtlichen Lage einer geopolitischen Situation, die Mühe hat, ihr ureigenes »Sachgebiet«13 – die feinsäuberliche Unterscheidung von Freund und 13  Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien, Berlin 1963.

Feind – zu kontrollieren. Und dann wäre es schlicht eine Frage des Genres oder besser: der Binnendifferenzierungen eines Genres, in welche politische Hinterbühne eine Politikserie hineinleuchtet.

Dr. Il-Tschung Lim  ist seit April 2014 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie der Justus-Liebig-Universität Gießen. Aktuelle ­Forschungsschwerpunkte: Lyrische Soziologie und Film, Kultur- und Mediensoziologie, Populärkulturelle Katastrophensemantiken, Globalisierung und Weltgesellschaft.

Il-Tschung Lim  —  Mal Freund, mal Feind, mal Konkurrent

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BORGEN IN DER WIRKLICHKEIT HISTORISCHE VORBILDER UND AKTUELLE REZEPTIONEN EINER POPULÄREN FERNSEHSERIE ΞΞ Clemens Wirries

Die erste Staffel der Fernsehserie Borgen flimmerte im Herbst 2010 erstmals über die dänischen Fernsehbildschirme. In dem TV-Drama dreht sich alles um die politische Karriere und auch um das private Wohl und Weh von Birgitte Nyborg Christensen, einer noch jungen, aufstrebenden und idealistischen Spitzenpolitikerin der Partei der »Moderaten« mit junger Familie. Nach einer höchst erfolgreichen Wahl zum Folketing, dem nationalen Parlament Dänemarks, gelingt es Birgitte Nyborg, so geschickt zu verhandeln, dass sie selbst an die Spitze einer Regierung tritt, obwohl ihre Partei nicht einmal die stärkste Kraft im neuen Folketing geworden ist. Dänemark erhält auf diese Weise seine erste weibliche Premierministerin, ein Jahr bevor mit Helle Thorning Schmidt auch in der Realität zum ersten Mal eine Frau an die Spitze einer dänischen Regierung trat. Weitere Hauptfiguren der Serie sind Nyborgs Medienberater Kasper Juul und die Journalistin Katrine Fønsmark. Benannt ist die Serie, die im Deutschen den Untertitel »Gefährliche Seilschaften« trägt, nach der »Burg«, Schloss Christiansborg, dem Sitz des dänischen Parlaments, des Folketings sowie des Premierministers im Herzen der Hauptstadt Kopenhagen. Die Serie umfasst insgesamt drei Staffeln mit jeweils zehn einstündigen Folgen. Trotz gemischter Kritiken in der Tagespresse entwickelte sich Borgen in Dänemark zu einem Straßenfeger mit prächtigen Einschaltquoten. Bemerkenswert in Borgen ist die Darstellung des engen, ja geradezu symbiotischen Verhältnisses der Sphären von Politik und Medien. Der Informationsaustausch wie der Informationsbedarf sowohl in als auch zwischen diesen beiden Bereichen scheinen unermesslich zu sein.1 Die damit verbundene ständige Hektik – zumal in Zeiten von Internet und Social Media – und die Notwendigkeit, politische Entscheidungen für jegliche Situation immer schneller zu treffen und auch die Folgen abwägen zu können, stehen natürlicherweise im Mittelpunkt der Handlungen. Die beiden Sphären – oder Arenen, wie man sie ganz politikwissenschaftlich auch nennen kann – Medien und Politik sind auch in der Serie noch immer getrennt voneinander und

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INDES, 2014-4, S. 62–68, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014, ISSN 2191-995X

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1  Zum Verhältnis zwischen Politik und Medien in Dänemark vgl. Tim Knudsen, Fra folkestyre til markedsdemokrati, Kopenhagen 2007, S. 74–101.

gehören dennoch unauflöslich zusammen. Die Journalistin, der Spindoktor, die Politiker, sie alle müssen die jeweiligen Spielregeln dieser beiden Bereiche sehr genau kennen, um ihren Job gut machen zu können. Dass es trotz aller ritualisierten Klagen über die mangelnde Offenheit der Arenen möglich ist, sehr einschneidende Rollenwechsel vorzunehmen, nimmt in Borgen einen gewissen Raum ein. Konsens und Konfrontation sind die kennzeichnenden Elemente des dänischen Minderheitsparlamentarismus, in dem jede politische Partei sich laufend profilieren und dennoch immer auch kompromissbereit sein muss, um Einfluss zu gewinnen beziehungsweise diesen nicht aus der Hand zu geben. Das ständige »bis 90 zählen« nimmt mitunter Formen an, die Glaubwürdigkeitsprobleme innerhalb und außerhalb einer Partei und somit ganz erhebliche Konflikte verursachen können. Mehr als einmal wurde in Dänemark eine politische Partei ideologisch zerschlissen oder sogar anschließend organisatorisch regelrecht zerrissen. Diese Realität mitunter mühsamer Verhandlungen im Gesetzgebungsprozess, in welchem jede Partei gerne einen deutlichen eigenen »Fingerabdruck« setzen will, um derart tief greifenden Konflikten vorzubeugen, sind in der Serie ebenso Thema wie das schnelle Entscheiden im Zuge internationaler Krisen, denen auch ein kleines europäisches Land wie Dänemark ausgeliefert ist. Borgen ist somit tatsächlich ein Paradebeispiel für eine erfolgreiche Unterhaltungsserie, in der einem durchschnittlich gebildeten Fernsehpublikum hervorragend vermittelt werden kann, wie ein hochkomplexes politisches System funktioniert. Vorausgesetzt, das Publikum interessiert sich überhaupt dafür. Es ist anzunehmen, dass es eher die zahlreichen Intrigen sind, das intime Schlafzimmerinterieur, welches einen nicht unerheblichen Teil der Handlungen einnimmt. Also das ganz normale pralle Leben. Borgen reiht sich ein in eine höchst erfolgreiche Auswahl dänischer Fernsehdramen, von denen diverse Produktionsgesellschaften und der öffentlichrechtliche dänische Rundfunk DR seit einigen Jahren ganz erheblich finanziell profitieren. Die Serien werden mit den international angesehensten Preisen, mit Emmys und Grammys, überhäuft und laufen auch in den europäischen Nachbarländern – ganz wie im kleinen Produktionsland – zur Primetime im Fernsehprogramm. Schauspieler wie Mads Mikkelsen oder Pilou Asbæk 2  Siehe in Bezug auf TV-Produktionen anderer skandinavischer Länder Lea Gamula u. Lothar Mikos, Nordic Noir. Skandinavische Fernsehserien und ihr internationaler Erfolg, Konstanz 2014.

spielen in großen Hollywood-Produktionen mit. Ob nun Borgen oder davor »Das Verbrechen«, »Der Adler« oder künftig vielleicht Ole Bornedals Mehrteiler über den Deutsch-Dänischen Krieg von »1864«: DR-Produktionen sind ein Exportschlager und sie sind zweifellos eine Marke geworden, die dem ganzen Land von größtem Nutzen ist.2 Clemens Wirries  —  Borgen in der Wirklichkeit

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Gerade für die Wirkung eines so kleinen Landes bei den Nachbarn, deren Öffentlichkeiten in den vergangenen zehn Jahren häufig genug durch weniger schöne Medienschlagzeilen irritiert waren, mag eine Serie wie Borgen dazu beigetragen haben, das alte Image desjenigen Dänemark, welches eine verantwortungsvolle, friedliche und vor allem offene und liberale Außen- wie Innenpolitik führte, wiederzubeleben. Der Journalist und Literaturwissenschaftler Rune Lykkeberg spitzte das Bild noch etwas mehr zu, indem er die grundlegende Szenerie der Serie als diejenige »einer Oberschicht, die weder jemandem im Weg steht noch anderen Reichtümer nimmt«3, charakterisierte. Und nicht nur das große Ganze, das Gesamtbild macht die zahlreichen Szenarien von Borgen so spannend, sondern auch die kleineren oder größeren Zusammenhänge, welche aus der aktuellen oder historischen Tagespolitik bekannt sind und Wiedererkennungswert haben. Denn das ist das Erstaunliche an Borgen: Die Meinungen über die Serie sind in Dänemark viel kontroverser als man es vermuten würde. Eine Reihe, deren Folgen allabendlich zwischen eineinhalb und zwei Millionen Zuschauer hatten und damit Rekorde brachen, erhielt doch reichlich rüde Kritiken in der seriösen Tagespresse. Die Debatte in der Presse wurde für eine Fernsehserie breit geführt: »Politische Kommentatoren«, d. h. so genannte Spindoktoren, Politiker, Journalisten und Filmkritiker, also all diejenigen Berufsgruppen, die in Borgen wichtige Rollen spielen, kamen zu Wort und gaben meist deutliche Urteile ab, von »zwei Millionen Zuschauer können irren« bis »banal«, dem wohl am häufigsten gebrauchten und somit wohl selbst schon banal und hilflos wirkenden Begriff. Offenbar fühlte man sich im Produktionsland gewaltig auf die Füße getreten, kurzum, man fühlte sich wirklich angesprochen und sah einen unsichtbaren Fehdehandschuh, den man meinte, aufnehmen zu müssen. Im Ausland hingegen erklärten bedeutende Stimmen die Serie für großartig. Die künftige Erste Ministerin Schottlands, Nicola Sturgeon, erklärte ganz offen, dass es sich bei Borgen um ihre Lieblingsserie handele, und durfte sichtlich stolz die Hauptdarstellerin Sidse Babett Knudsen während ihres Besuches bei den Filmfestspielen in Edinburgh 2013 interviewen.4 Der amerikanische Bestsellerautor Stephen King erklärte gleichfalls, er halte Borgen für die »beste Serie, die er 2012 gesehen«5 habe. Und auch der damalige norwegische Premierminister und heutige NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg bekannte sich in einer Talkshow als großer Fan der Serie.6 Die genannten beiden Politiker sowie der Erfolgsschriftsteller sind dafür bekannt, dass sie nicht dem konservativen Lager angehören. Man kann davon ausgehen, dass sie die fiktive »Prada-Birgitte« – die amtierende Premierministerin Thorning-Schmidt besitzt aufgrund ihrer Vorliebe für

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3  Rune Lykkeberg, Det Danmark, vi eksporterer, in: Information, 18. 01. 2013 [eigene Übersetzung]. 4  Vgl. Andrew Whitaker, Nicola Sturgeon lobbied to meet star of Borgen, in: The Scotsman, 04. 05. 2013, online einsehbar unter http://www.scotsman. com/news/politics/top-stories/ nicola-sturgeon-lobbied-tomeet-star-of-borgen-1–2920298 [eingesehen am 04. 11. 2014]. 5  Vgl. Stephen King, The Best TV I Saw in 2012, in: Entertainment Weekly, 21. 12. 2012, online einsehbar unter http://www.ew.com/ew/­ article/0,,20622701_20665021,00. html [eingesehen am 04. 11. 2014, eigene Übersetzung]. 6  Vgl. Daniel Eriksen, »Det er en av favorittseriene mine«, in: nrk, 11. 05. 2012, online einsehbar unter http://www. nrk.no/kultur/stoltenbergelsker-_borgen_-1.8133348 [eingesehen am 04. 11. 2014].

die Taschenkollektionen einer italienischen Luxusmarke den Spottnamen »­Gucci-Helle« – für all das halten, wofür sie selbst gerne stehen möchten, nämlich für tugendhaft und geradlinig, für offen und vorurteilsfrei, ganz selbstverständlich progressiv auf allen Politikfeldern. Angehörige der aktuellen parlamentarischen Opposition hingegen, der rechtsliberalen »Venstre« sowie der nationalpopulistischen »Dänischen Volkspartei«, reagierten äußerst gereizt auf die Darstellung ihrer jeweiligen fiktiven Wiedergänger. Und diese sind klar erkennbar: Die Regierungspartei der Birgitte Nyborg Christensen, die »Moderaten«, erinnern an die linksliberale »Radikale Venstre«, die »Liberalen« des Lars Hesselboe an die rechtsliberale »Venstre«, die »Arbeiterpartei« mit Michael Laugesen (später Bjørn Marott und Hans Christian Thorsen) an der Spitze nennt sich in Wirklichkeit die »Sozialdemokraten«, die »Grünen« erinnern ein wenig an die »Sozialistische Volkspartei«, die »Solidarische Sammlung« findet ihr Gegenüber in der »Einheitsliste« und zu guter Letzt gibt es die »Freiheitspartei« von Sven Aage Saltum, der als einziger Darsteller selbst sehr deutlich an den ersten genuinen Populisten Dänemarks, den legendären Anwalt für Steuerrecht, Mogens Glistrup, erinnert und nicht zuletzt auch an dessen Partei, die »Fortschrittspartei«. Und die »Neuen Demokraten« der dritten Staffel erinnern ganz verblüffend an die Gründungsphase der Partei »Neue Allianz«, die heute als »Liberale Allianz« fortbesteht. Besonders die Figur des Sven Aage Saltum forderte tatsächlich diejenigen heraus, die damit sicherlich sehr bewusst durch die Autoren der Serie karikiert werden sollten. Søren Espersen, Abgeordneter der Dänischen Volkspartei im Folketing, nahm die Angelegenheit äußerst persönlich und schrieb in Politiken, der größten Tageszeitung des Landes: »[…] Das bin also ich – so ein unelitärer, ein bisschen zu dicker Jüte, der Schlager und Kneipenplattitüden mag. […]«7 Und erklärte allen Ernstes: »Warum dürfen wir nicht einmal in einer DR-Serie einen pädophilen SF’er erleben?«8. Espersen hatte bereits vor der Ausstrahlung der Serie vorhergesehen, dass man die Rechtsgerichteten als »machtgeile Neurotiker, als korrupt und gefühllos, frei von sozialer Verantwortung, als Klimawandelleugner und noch dazu rassistisch« darstellen würde. 7  Für dieses und beide folgenden Zitate vgl. Espersen in Politiken, 16. 10. 2010 [eingesehen am 07. 11. 2014, eigene Übersetzung]. 8  Die »Sozialistische Volkspartei« der 1980er Jahre ist inhaltlich vergleichbar mit den deutschen Grünen.

Dies ist aber nur die eine Seite. Dass ganz bestimmte Archetypen und Figuren benutzt werden, wenn es darum geht, die Führer von politischen Parteien darzustellen, sollte für eine Unterhaltungsserie eigentlich nicht verwundern. Und dass dabei karikaturenhafte Übertreibungen auf den Plan treten, ebenfalls nicht. Aber nicht nur rechtsaußen bei Søren Espersen hatte man einen Nerv getroffen, sondern auch bei Kommentatoren, die sicherlich anderen politischen Familien näherstehen und die sich über die Tugendwächterin Clemens Wirries  —  Borgen in der Wirklichkeit

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Birgitte Nyborg lustig machten. Die andere Seite ist die Darstellung des großen Zusammenhangs und der ganz grundsätzlichen Dilemmata im dänischen Minderheitsparlamentarismus. In der dänischen Demokratiegeschichte hat es zahlreiche Beispiele dafür gegeben, wann eine politische Partei und ihre Hauptakteure den ständigen Balanceakt zwischen Konsens und Konfrontation im Gesetzgebungsprozess nicht mehr aushalten, wann irgendwann die Frage nach grundsätzlicher Sinnhaftigkeit so sehr in den Vordergrund rückt, dass es zu ernsthaften Brüchen mit nachhaltigen Folgen kommt. Die derzeit amtierende Regierung Thorning-Schmidt hat diese Erfahrung bereits gemacht, als ihr plötzlich ihr Koalitionspartner, die Sozialistische Volkspartei, abhanden kam. Aufgerieben im Flügelkampf zwischen rivalisierenden Personennetzwerken und ideologischen Positionierungen wird die Partei sicherlich noch lange nach einem künftigem Standort im Parteiensystem suchen, da sie zwischen den Sozialdemokraten und der linkssozialistischen Einheitsliste ohnehin bereits ideologisch eingeklemmt ist. Mehrere Minister der Partei hatten gegen den Willen eines großen Teils ihrer Parlamentsfraktion dem Verlauf staatlicher Anteile der Mineralölgesellschaft DONG an die amerikanische Investmentbank Goldman Sachs zugestimmt. Die im DONG-Streit unterlegenen Politiker, allesamt sehr junge Abgeordnete und Minister, traten daraufhin den weiterregierenden Sozialdemokraten bei. Viele Wähler der SF hingegen liefen irritiert zur linkssozialistischen Einheitsliste über. Brüche und darauffolgende Neugründungen, in denen ein euphorischer »Geist des Neuen« für eine ganze Weile Zauber versprüht, haben im zerklüfteten dänischen Parteiensystem des Öfteren stattgefunden. Bereits 1967 hatten die Delegierten des linken Flügels der Sozialistischen Volkspartei, der nicht länger mit der sozialdemokratischen Regierung zusammenarbeiten wollte, während eines Parteitags den Saal verlassen, um danach eine neue Partei zu gründen, die Linkssozialisten. Auch die Gründung der rechtspopulistischen Dänischen Volkspartei 1995 war letzten Endes das Resultat eines viele Jahre andauernden Grundsatzkonflikts in der Fortschrittspartei, wie oder ob man überhaupt mit einer Regierung im Rahmen des Gesetzgebungsprozesses verhandelt und dabei von seiner Position abweichen darf oder muss, um dem eigenen Programm nicht untreu zu werden. Die bekannteste aller Abspaltungen im dänischen Parteiensystem ist nun bald ein Jahrhundert alt, die Radikale Venstre, Vorlage für die Moderaten in Borgen. Die Radikalen waren 1905, als sie die Venstre verließen, bereits jahrzehntelang ein mächtiger Parteiflügel gewesen, der im Gegensatz zum konservativen Parteiflügel unter keinen Umständen enger mit den Konservativen zusammenarbeiten wollte.

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In der dritten Staffel von Borgen können ein solch radikaler Bruch und Beginn einer Neupartei minutiös miterlebt werden. Nirgends sonst in der Serie ist auch ein so radikaler Verstoß gegen den eigenen Disclaimer, der am Ende einer jeden Folge gezeigt wird, zu sehen.9 Denn die »Neuen Demokraten« sind eine Gründung des Jahres 2007, mit anderen neuformierten Parteiprojekten etwa der 1970er Jahre hält ein Vergleich kaum stand. In Birgitte Nyborgs Projekt, den »Neuen Demokraten«, gab es genau wie in der »Neuen Allianz« einige handverlesene Parteigründer, allen voran die beiden radikalen Abgeordneten Anders Samuelsen und Naser Khader so9 

Begebenheit und Personen in Borgen sind fiktiv – aber inspiriert von der Wirklichkeit. Die Serie bezieht sich weiterhin auf historische Personen und Ereignisse vor dem Jahr 1982.

wie die konservative Abgeordnete im Europaparlament, Gitte Seeberg. Das Problem der Partei, die zwischen den beiden politischen Lagern »Brücken bauen« wollte und sich als neue Zentrumspartei verstand, waren vor allem die Egoprojekte der drei Parteigründer, die offensichtlich etwas ganz anderes Clemens Wirries  —  Borgen in der Wirklichkeit

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wollten. Der Anders Samuelsen der »Neuen Demokraten« in Borgen ist Jon Berthelsen, ein überzeugter Wirtschaftsliberaler, der Birgitte Nyborgs neuen ökonomischen Berater Søren Ravn, einen Wirtschaftsprofessor mit linker Vergangenheit, wieder verdrängen will. Der wahre Anders Samuelsen war bereits als Mitglied seiner alten Partei als neoliberal bekannt und hatte sicherlich von Beginn an eine hidden agenda für eine weitaus schärfer konturierte Parteiideologie, als dies Naser Khader vorschwebte. Für den Zuschauer faszinierend ist die Euphorie der neuengagierten Parteimitglieder in einer von Birgitte Nyborg angemieteten Lagerhalle, wo die neue Partei mit Inhalten gefüllt werden soll. Auch die »Neue Allianz« bekam damals innerhalb weniger Wochen mehr als 17.000 Mitglieder zusammen, die alle ihre eigenen Träume und ganz persönlichen Erwartungen auf das politische Projekt projizierten. Mitgliedsbeiträge zahlten damals die wenigsten der Neumitglieder, das Geld war ständig knapp und nur von einem Geldgeber, der Saxo Bank und deren CEO Lars Seier Christensen, flossen regelmäßig höhere Beträge in die Kasse der Partei. Der große Finanzier mit Erwartungen heißt in Borgen übrigens Jørgen Steen Andersen und seine Bank ist die APS. Die »Neue Allianz« zerlegte sich seinerzeit fast so schnell, wie sie aufgetaucht war, wieder in ihre Bestandteile, um schließlich ein von Anders Samuelsen geleitetes neoliberales rebranding zu erleben, welches tatsächlich erfolgreich war. Die »Liberale Allianz«, wie die Partei heute heißt, konnte mit ihrem verbalen Radikalliberalismus zahlreiche niedrigsteuerfixierte Wähler der Konservativen abwerben und hält sich seitdem stabil in den Umfragen. Gerade die letzte Staffel von Borgen zeigt mit all ihren Übertreibungen und ihren Unwahrscheinlichkeiten, was in Zukunft noch auf die dänische Parteipolitik – und teilweise auch auf die anderer Länder – zukommen kann. In Zeiten, wo Parteipolitik nicht mehr an feste Ideologien gekoppelt ist, sondern mehr denn je an Personen, und wo die Reaktionszeiten immer schneller getaktet sind, vermittelt die fiktive Serie eine Vorstellung davon, welche Szenarien für europäische Demokratien realistisch sind.

Clemens Wirries, geb. 1977, ist Lehrbeauftragter des Instituts für Demokratieforschung. Er forscht zur Funktionsweise von Minderheitsregierungen in Dänemark und lebt und arbeitet in Hannover.

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GROSSES, LINKES KINO THE WIRE ALS PORTRAIT DES OBEN UND UNTEN US-AMERIKANISCHER POLITIK ΞΞ David Bebnowski

Man würde denken: New York. Los Angeles vielleicht oder Chicago. Der Schauplatz der US-amerikanischen Serie The Wire jedoch liegt in Baltimore, einer mittleren Großstadt an der Chesapeake Bay, die dem US-amerikanischen Festland an der Ostküste einen schmalen, zerrissenen Streifen Land vorlagert. Baltimore ist die größte Stadt Marylands, eines dieser neuenglischen Staaten, die so klein sind, dass ihre Namen auf Karten mit einer dünnen schwarzen Linie verbunden mitten im Atlantik stehen. Ganz so, als ob sie jeden Moment untergehen könnten. Tatsächlich trägt dieses Bild im Falle Baltimores. Die Stadt befindet sich, die Serie zeigt dies, in einer unaufhaltsam wirkenden Abwärtsspirale. Den Boden unter den Füßen im wirtschaftlichen Strukturwandel längst verloren, wird die mürbe Stadt von innen, vom überbordenden Verbrechen, stranguliert. Im real life offenbaren dies bereits oberflächliche Blicke auf US-amerikanische Kriminalitätsstatistiken: Hier rangiert »The Greatest City in America« nämlich mit deutlichem Abstand vor den drei genannten weltläufigen Metropolen auf einem unrühmlichen Spitzenplatz, in Gesellschaft solch illustrer Hotspots wie Detroit oder New Orleans. Dabei ist Baltimore weder so bankrott wie Detroit noch wurde es von einer so biblisch strengen Umweltkatastrophe heimgesucht wie das unglückliche New Orleans 2005 vom Hurrikan Katrina. Trotzdem ist Baltimore berüchtigt für die vielen Morde, die sich in seinen Stadtgrenzen ereignen. Jahr für Jahr liegt ihre Quote weit über dem Bundesdurchschnitt, 2013 waren es über 230. Ein Graffito im Vorspann der vierten Serienstaffel transportiert mit einem eigentümlichen Zynismus trostlose Resignation: Baltimore, Maryland, das ist Bodymore, Murdaland. Morden, professionelles Morden umso mehr, steht in den USA in enger Verbindung mit dem Drogenhandel. Die Drogenökonomie bildet das Herzstück der Fernsehserie. In fünf Staffeln entwerfen die Autoren von The Wire, inspiriert vom sozialforscherischen Ansatz der soziologischen Chicago School, dabei jedoch weit mehr als dichte Beschreibungen eines opaken und beängstigenden Milieus. Sie bilden die Realität nicht nur ab, sondern bauen sie nach: Etliche Figuren in der Serie, etwa der schwule Ghetto-Robin-Hood Omar

INDES, 2014–4, S. 69–77, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014, ISSN 2191–995X

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Little, haben reale Vorlagen in den Straßen Baltimores. Der dünne Film der Fiktion wird in The Wire so stets von einer bedrohlichen Realität durchrissen, auch dadurch, dass viele Rollen mit Gangmitgliedern und Polizisten Baltimores besetzt sind. Dies reicht vor allem in den letzten Staffeln der Serie bis ins psychisch Unerträgliche. Besonders dann, wenn die mitleidlos mordende Auftragskillerin Felicia »Snoop« Pearson eingeführt wird. Nicht einmal ihr Name wurde für die Serie verändert: »Snoop« spielt in gewisser Weise sich selbst – schon mit 14 Jahren wurde sie wegen Mordes verurteilt. Den smarten rivalisierenden Drogengangs aus West- und East-Baltimore steht die chronisch unterfinanzierte städtische Polizei gegenüber. Von Anfang an nimmt die Serie dabei aus dem sonst weithin unbeachteten Winkel der US-amerikanischen Strafverfolgung das Lebensgefühl im Post-Nine-Eleven-Zeitalter aufs Korn. Es ist eine besonders feine Anlage der Serie, gerade anhand der Mord- und Drogenermittlungseinheiten zu zeigen, wie sich die Schwerpunkte in der Verbrechensbekämpfung verschoben haben: »What, we don’t have enough love in our hearts for two wars?«, klagt der aufmüpfige Kommissar »Jimmy« McNulty und meint damit den von George W. Bush gestarteten war on terror, der den rund dreißig Jahre zuvor von Richard Nixon ausgerufenen war on drugs in der Prioritätenliste der Verbrechensbekämpfung abgelöst hat. Würden die Dealer Mohammed oder Ahmed heißen, alles wäre leichter, witzelt man auf den Gängen des Polizeipräsidiums. Die beiden Pole organisierte Drogenkriminalität und ihre aussichtlose Bekämpfung bilden das dramaturgische Gerüst der Serie. Dieses Gerüst selbst ist jedoch nur Stütze für die eigentliche Story, die die Serie als Gesamtwerk erzählen will: The Wire, das ist mehr als gute Crime-Unterhaltung, es ist ein Porträt des Verfalls einer US-amerikanischen Industriestadt im Zeitalter des Postfordismus. Sie zeigt das Ausbluten staatlicher Institutionen, das Sterben von Gewerkschaften, die Ohnmacht des Rumpfes staatlicher Einflussnahme und den Alltag in einer mitten in »Rationalisierungsmaßnahmen« steckenden, mehr und mehr auf Profit ausgerichteten städtischen Zeitung. Schon der Themenwahl halber ist es kein Wunder, dass The Wire eine Lieblingsserie anglophoner Linker ist. Das politische Gespür der Macher, das sich etwa in der ironischen Sozialkritik eines Auftragsmörders der Nation of Islam zeigt, der die Sprengung zweier berüchtigter Sozialwohnungssilos zur Eindämmung der Drogenkriminalität mit dem Posterslogan des Neoliberalismus – »Reform« – kommentiert, verheißt erzählerische Meisterschaft. Der Versuch, das Politische in The Wire zu erblicken, heißt, derartige Beispiele als Illustrationen des Ganzen zu verstehen. Politik in The Wire lässt sich dialektisch aus derartigen Szenen entfalten. Es geht darum, »von dem

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vorgestellten Konkreten auf immer dünnere Abstrakta« zu schließen, bis man, »bei den einfachsten Bestimmungen angelangt«, eine »reiche […] Totalität von vielen Bestimmungen und Beziehungen« erkennt. Allgemeines, meint dies, möchte aus dem Konkreten destilliert werden. Dabei geht es in The Wire um mehr als eine Serie, mehr als Drogen, mehr als Baltimore. The Wire erzählt uns keine bloße Story, sondern liefert Einblicke in unsere eigene Geschichte. CHAIN OF COMMAND – VON OBEN NACH UNTEN Dennoch könnte man es sich leicht machen. Schließlich gibt es in der Serie kaum einen Platz, an dem politics keine Rolle spielen würden. Rangkämpfe um Macht und Einfluss kann man an allen Schauplätzen der Serie, der Polizei, der Hafenarbeitergewerkschaft, unter den Kingpins der Unterwelt und selbstverständlich auch in der Kommunal- und Landespolitik beobachten. Es hilft also, die angesprochene dialektische Methode wörtlich auf die Serie übertragen. Oben angefangen personifiziert der politische Kickstart des jungen demokratischen Stadtratsmitglieds Tony Carcetti »die Politik«. Als Weißer in einer »schwarzen Stadt« muss er über manche politische Leiche gehen, um sich, beginnend mit dem Bürgermeisteramt in Baltimore, für Höheres zu empfehlen. Mit dieser erwartbaren Darstellung der intriganten offiziellen Seite der Politik, lässt sich die Betrachtung jedoch bestenfalls eröffnen. Die wirklichen Bestandteile, Auswirkungen und Problemstellen des US-amerikanischen politischen Systems werden erst deutlich, wenn man sich durch die Ebenen bewegt. Auffällig viel dreht sich in den porträtierten Wahlkämpfen bei The Wire um »Tickets«. Diese Tickets versammeln die Gruppe von Politikern, die ein Bürgermeister-, Senatoren-, oder Gouverneurskandidat im Falle seiner Wahl in die Schlüsselressorts einsetzen möchte. Sie sind so zentral, da die politische Administration im hochgradig personalisierten politischen System der USA bei Regierungswechseln annähernd vollständig ausgetauscht wird. Ein zweischneidiges Schwert: Wenn sich hiermit auch Chancen für einen Neuanfang ergeben, sind politische Karrieren so doch gleichzeitig selbst auf den unteren Stufen der Positionsleiter stark mit dem Erfolg der Spitzenpolitiker verknüpft. Das System bedingt also starke Abhängigkeiten in beide Richtungen. Von oben nach unten hängen durch die Nachwahlbesetzungen auch Posten des öffentlichen Dienstes sehr unmittelbar von Wohl und Wehe der Topkandidaten ab, die Leiter einer Behörde sind ihrem gewählten Dienstherren also umso mehr ergeben. Nun ist es allerdings so, dass das Funktionieren der Apparate das einzige Kapital der vom Goodwill der Politiker abhängigen Behördenleiter ist. Bei Defiziten und Funktionsmängeln rollen Köpfe. David Bebnowski  —  Großes, linkes Kino

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Es bedarf wenig Phantasie, um sich das Resultat solcher Abhängigkeitsverhältnisse auszumalen. In der Polizei West Baltimores, der Basis von The Wire, herrschen unerbittliche Hierarchien, deren Druck sich schließlich kontraproduktiv auf die Verbrechensaufklärung auswirkt. Alles hängt an einer klaren Befehlskette – der chain of command. In aller Kürze bedeutet jene chain of command eine Kommando- und Kommunikationsstruktur, die in beide Richtungen eine stete Kommunikation zwischen den beieinander liegenden Rangebenen ermöglichen und das Umgehen einer zwischengeschalteten Hierarchieebene verhindern soll. Sie gilt es um jeden Preis einzuhalten – konsequenterweise sind es die Verstöße des Mordermittlers Jimmy McNultys gegen sie, die die Serie überhaupt erst beginnen und immerfort weiterleben lassen. In der Realität bedeutet die chain of command wegen der persönlichen Abhängigkeiten freilich einen unerbittlichen Transmissionsriemen, der oben formulierte Ziele in Erwartungen umformuliert und nach unten überträgt. Angefangen beim Bürgermeister Clarence Royce, werden Ziele zur Verbrechensbekämpfung ausgegeben. Polizeipräsident Burrell, der auf Royces Ticket sitzt, überträgt diese Ziele – mitsamt dem Auftrag, sie umzusetzen – wiederum an die Leiter der Unterabteilungen, etwa den Leiter des Morddezernats. Dieser wiederum leitet sie schließlich auf diejenigen über, die tatsächlich mit dem Verbrechen in Kontakt kommen. Zunächst an den »Supervisory Detective Sergeant«, Jay Landsman, der die Geschicke der Mordermittlungen koordiniert. Die Vorgabe an ihn ist simpel: Die Mordrate muss um einen bestimmten Prozentsatz gesenkt werden, worauf Landsman die Morde zur Aufklärung an seine Mordermittler – unter ihnen die Hauptcharaktere Jimmy McNulty und Bunk Moreland – überträgt und damit wiederum eine personalisierte Verantwortung einbaut. Hier nun, an der Basis, kann man das Problem greifen: Die Drogengangs Baltimores tun der Polizei nicht den Gefallen, das Morden einzustellen – die, auch in Folge der Minimalbesteuerung der Wohlhabenden, knappen öffentlichen Mittel erlauben keine nachhaltige, gar präventive Verbrechensbekämpfung. Da die Vorgesetzten aber nicht nur nicht von fehlenden Ermittlungsresultaten enttäuscht werden wollen, sondern darüber hinaus auch persönlich nachverfolgen können, wer die geringste Aufklärungsrate aufweist, geht es für jeden einzelnen Ermittler nur darum, so wenig Morde wie möglich zu »fangen«. Dieser Logik entsprechend erledigen die Ermittler ihre Arbeit: Was nicht zweifellos wie ein Mord aussieht, soll auch keiner werden, man will schließlich keine schlafenden Geister wecken. Das Bestreben darum, sich Mordermittlungen gar nicht erst einzuhandeln, verführt die Ermittler sogar zu einer Art kreativer Buchführung: Wenn möglich, werden bekannte

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Tötungsdelikte – die Statistiken werden zu bestimmten Zeitpunkten ausgezählt – in den nächsten »Buchungszeitraum« übertragen. Auf diese Weise erzwingt die Logik des personalisierten amerikanischen politischen Systems, vermittelt über die chain of command, ein individuell von den Ermittlern verantwortetes unwürdiges Schauspiel, das auf jeder Ebene der Befehlskette bekannt und akzeptiert ist. Was The Wire so zeigt, ist ein System, das bis ins letzte Glied von individuell nutzenmaximierendem Verhalten betrieben wird. Das Porträt amerikanischer Politik bildet so ein notwendiges Resultat von durch freie Konkurrenzbeziehungen geprägten Verhältnissen – und damit letztlich eine klare Analogie kapitalistischer Gesellschaftsordnung – ab. DROGEN, WORKING CLASS, PROJECTS – PARALLELPOLITIK IN DER PARALLELGESELLSCHAFT Begibt man sich, einmal am Boden angekommen, auf die entgegengesetzte Warte und betrachtet die politischen Abhängigkeitsverhältnisse, wie sie sich von unten nach oben fortsetzen, wird deutlich, dass jene alteingesessenen Politiker Macht auf sich vereinen, die solche Bezirke repräsentieren, in denen als wahlentscheidend angesehene Einwohner- und Wählersegmente leben. Die Dramaturgie der Serie will es, dass die konkurrierenden städtischen Spitzenpolitiker im Verlauf der Staffeln vor allem um die Unterstützung bekannter Delegierter ringen, die einen guten Teil der unterprivilegierten schwarzen Bevölkerung in den innerstädtischen Gettos vertreten. Die Politik liefert auf diese Weise auch einen Schlüssel, um Einblicke in die verschlossenen Lebensbedingungen des US-amerikanischen Prekariats zu erhalten. Der korrupte Senator Clay Davis ist letztlich die entscheidende Person, über die der Brückenschlag in die parallelgesellschaftliche Struktur der drogenbetriebenen Unterwelt gelingt. Ohne Davis’ Einfluss in der schwarzen Community, seine Verbindungen zur bundesstaatlichen Ebene und in die Geschäftswelt sind Wahlen deutlich schwerer zu gewinnen. Der Senator ist skrupellos. Für seine Wiederwahl und persönliche Bereicherung nimmt er Gelder von den Drogenbaronen an und fungiert für diese als Mittelsmann in legale Geschäftswelten. Beherrscher der Drogenimperien wie der intellektuelle Businessman »Stringer« Bell, dessen Organisation schließlich neben Zwistigkeiten mit seinem Geschäftspartner auch am gewieften Davis scheitert, kaufen sich über ihn in Immobilienentwicklungsprojekte ein und legen so die Basis für den Einstieg in Wirtschaftswelt und Politik. Über diese Verbindungen von Gangstern und einzelnen Repräsentanten wird der Drogenhandel mit der großen, der offiziellen Politik verknüpft. David Bebnowski  —  Großes, linkes Kino

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The Wire legt in seinem Blick auf das gesellschaftliche Unten zunächst offen, wie Politik in einer Stadt wie Baltimore nicht (mehr) funktioniert. Hauptschauplätze der ersten Serienfolgen The Wire sind die heruntergekommenen »Projects«: städtische Sozialbausiedlungen, die sich für ihre Bewohner längst in eine Art sozialräumliches Gefängnis verwandelt haben. Man spürt, den hier aufwachsenden weit überwiegend afroamerikanischen Jugendlichen wird ein »Ausbruch« aus ihnen kaum gelingen. Nüchtern und mit gemessenem Respekt vor den Menschen in dieser misslichen Situation entsteht eine verstörend deprimierende Milieustudie, in der die allgemeine Ausweglosigkeit in einem Teufelskreis aus dysfunktionalen Familienverhältnissen, Drogenmissbrauch und alltäglicher Gewalt resultiert. Das Politische ist hier etwas, das vollständig äußerlich bleibt. Selbst wenn die Folgen politischer Entscheidungen spürbar sein sollten, ist Politik nichts, auf das die hier Gefangenen selbst irgendeinen Einfluss nehmen könnten. Dies ergibt sich bereits durch eine enorme Ferne zur öffentlichen Daseinsvorsorge, die kaum mehr bis hier reicht. Keine öffentliche Institution besitzt die Kraft, tatsächlich etwas an den Wurzeln des Übels zu verändern, auch nicht die nur mehr auf symbolisch hartes Durchgreifen getrimmte Polizei. Besonders deutlich zeigt sich dies jedoch in der Darstellung des Schulsystems. In Amerika teilprivatisiert, sorgt dieses dafür, dass sich die Ärmsten und Perspektivlosen in den public schools sammeln. Zusätzlich dramatisiert wird diese bedenkliche Ausgangslage dadurch, dass die Mittelausstattung dieser ohnehin notorisch klammen Bildungsstätten stark davon abhängt, wie sie in den landesweiten Lerntests abschneiden. Der zuvor bereits defizitäre Lehrbetrieb mit kaum zu bändigenden Schülern wird hierdurch zusätzlich auf das Einpauken standardisierter Testinhalte verengt. Ein meritokratisches Aufstiegsversprechen bleibt unter diesen Bedingungen kaum mehr als eine zynische Randnotiz. Wissend, dass der Aufstieg aus den Projects aus eigener Kraft kaum gelingen wird, sind die prekarisierten Jugendlichen perspektivlos Gestrandete. Erst recht, da die US-amerikanische Gesellschaft bekanntlich über keine funktionierende soziale Grundsicherung verfügt. Der Schritt in den einzig florierenden Wirtschaftszweig – die Drogenökonomie – liegt für die ohnehin an wenig zimperliche Viertelsitten Gewöhnten daher sehr nah. Kinder sind in diesen Vierteln nicht in erster Linie Schüler, sondern »Hoppers«: Kaum eingeschult, stehen sie Schmiere, um Drogengeschäfte ohne die Einmischung von Polizeistreifen laufen zu lassen, oder bearbeiten die Straßenecken, die »Corners«, auf Geheiß ihrer Chefs selbst. Institutionell ausgesperrt und wohlfahrtsstaatlich blockiert, ist es ihnen nur auf diese Weise

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möglich, für das eigene Dasein zu sorgen. Natürlich liegt hierin eine besonders fein komponierte Ironie: Tritt doch im Aufstieg vom »Cornerboy« zum Drogen-Millionär das Stereotyp des American Dream offen zu Tage. Wie in der Gründungszeit der USA wird er hier, so ließe sich sagen, allerdings gänzlich unbürgerlich gelebt: Geld, ein letztlich bürgerliches Lebensmodell mit Anwesen, Kindern und Familie, all das ja, nur stützt sich die Karriere hier eben auf Ellenbogen und 9 mm-Halbautomatik, läuft sie vorbei an formalen Zertifikaten und Aufstiegswegen, die aus der Sicht der Hoppers nur unnötige Umwege darstellen. Die Vernunft, nach der sich diese Gesellschaft ordnet, ist eine rohe ökonomische. Dies ist kein Geheimwissen, sondern wird gerade auf dem Streetlevel nüchtern anerkannt. In einem Schlüsselmoment der Serie verfolgt Detective McNulty den angesprochenen Drogendealer »Stringer« Bell in ein Community College und registriert, dass dieser dort Abendvorlesungen in Makroökonomie besucht. Inspiriert von den ökonomischen Lehrbuchweisheiten beginnt Bell schließlich damit, sein Imperium in einer Zeit umzubauen, in der er zwar über die wichtigsten Drogenumschlagplätze der Stadt, selbst jedoch nur über minderwertige Ware verfügt. Schließlich hebt er durch Verständigung mit den Drogenbossen aus anderen Stadteilen Baltimores ein auf Produkt- und Preisabsprachen basierendes (Drogen)Kartell aus dem Boden. In freier historischer Assoziation erinnert all dies, zusätzlich durch Bells Beteiligung an Immobilienprojekten gesteigert, bissig an den auf Kartellabsprachen gestützten Aufstieg des Ölbarons John D. Rockefeller, der später bekanntlich Namenspatron eines der bekanntesten Wolkenkratzer in der Skyline New Yorks wurde. Die selbstverständliche und an keinerlei ethische Grenzen gebundene Übertragbarkeit der ökonomischen Rationalität auf alle Lebensbereiche führt dazu, dass sich im vom allgegenwärtigen Drogenhandel dominierten Baltimore, in den düsteren Straßenzügen mit all ihren Broken Windows, eine alternative Wertehierarchie etabliert, in der es eben »ganz normal« ist, im Drogenbusiness zu arbeiten. Selbstverständlich bezeichnen selbst die »soldiers« – die auf Geheiß der Bosse Mordenden – ihr Tagewerk als »line of work«, eine amerikanische Entsprechung des deutschen Berufs. Dies indes sollte nicht zu sehr verwundern: Denn die Drogenindustrie Baltimores sorgt – anders als die chronisch klamme und blockierte offizielle Politik – dafür, dass ein komplettes und rentables Geschäftsfeld entsteht. Manager kontrollieren ein Wirtschaftsimperium, das Posten im Import- und Exportgeschäft und auf mittleren Verwaltungsebenen bereitstellt, bis schließlich auf der Straße Dienstleistungsjobs – gewissermaßen einfache Arbeiten, unskilled labour – im Verkauf der Ware entstehen. David Bebnowski  —  Großes, linkes Kino

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The Wire – ganz stadtsoziologisches Porträt – zeigt, wie all dies in einer globalisierten Ökonomie, in der Arbeitsangebote für die industrielle working class ausgelagert und in andere Staaten verschoben werden, aus den Projects in andere Bereiche der Stadt schwappt. Rührend und – man denke an das veränderte Stadtbild Hamburgs – auch in Deutschland ein aktuelles Thema, ist der hoffnungslose Kampf des Führers der Dockarbeitergewerkschaft, Frank Sobotka, gegen die Gentrifizierung der Hafenanlagen. Um seinen Kollegen eine Zukunft als »Longshoremen« garantieren zu können, muss die Umwandlung eines Kais mitsamt Getreidespeicher in einen Wohn- und Repräsentationskomplex gestoppt werden. Da Sobotkas Gewerkschaft selbst kaum mehr über die Mittel verfügt, Druck auf die organisierten politischen Interessen auszuüben, lässt auch er sich mit Drogen- und Menschenhändlern ein. Mit den Extraeinnahmen für den Import ihrer Waren bezahlt er Lobbyisten für seine Sache. Überzeugt davon, für die Sache zu kämpfen, merkt Sobotka nicht, dass er die jüngeren Dockarbeiter mit der Nase auf alternative Einnahmequellen stößt, immer stärker schlagen sein Sohn und sein Neffe selbst Profit aus Drogengeschäften. In einem eindrücklichen Dialog zwischen Sobotkas Neffen Nick und einem weißen Drogendealer manifestiert sich dabei die Verheerung der postindustriellen, ungebremsten Wettbewerbsgesellschaft. Nick hält dem im Stil eines Gangsta-Rappers sprechenden weißen Drogendealer Frog gegenüber lapidar fest: »you happen to be white« und konfrontiert ihn mit einer gemeinsamen Sozialisation in den von polnischen Einwanderern geprägten industriellen Hafenvierteln Baltimores. In dieser Szene wird das Zerreißen solidarischer Bande in den einstmals stolzen Quartieren der industriellen Arbeiterklasse gewissermaßen in Form einer Kolonisierung durch die Drogenökonomie ersetzt. Auf das Feld ethnischer Grenzlinien – black vs. white – übertragen, wird dies symbolisiert durch die Gegenüberstellung des Gangsta-Chic tragenden und in tiefstem Ebonics sprechenden Dealers Frog und des in Flanellhemd und Arbeiterschuhen auftretenden Blue-Collar-Workers Nick. Die Politik in der verwundeten Post-Industriestadt Baltimore missachtet traurigerweise jene Klasse, die die Stadt zu ihrer alten Größe geführt hat. IT’S ALL IN THE GAME »It’s all in the game« – so funktioniert das Spiel eben –, dieser Spruch begegnet den Zuschauern in The Wire in jeder Staffel. Mantrahaft vorgetragen wird er vor allem von den Drogendealern zur Erklärung, möglicherweise auch zur inneren Rechtfertigung von »drug-related murders«, wie es im USAmtsenglisch heißt. So ist es eben, soll das heißen, wer schlecht über einen

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Drogenboss redet, wessen Abrechnungen nicht stimmen, wer Gefahr läuft, zum Belastungszeugen zu werden, wird die Folgen, die er oder sie vorher kannte – es sind schließlich die Spielregeln – zu spüren bekommen. Kann man auf einen Begriff bringen, was es ist, das die Regeln des Spiels konstituiert? Man kann. The Wire erzählt auf allen Ebenen, von der großen Politik über die Ebenen der chain of command bis hin zu den Drogendealern und -süchtigen, die Story von Menschen, die sich einem Überlebenskampf ausgesetzt sehen. Eine »dog-eat-dog-world« würde man all dies wohl in den USA nennen. Und selbstverständlich ist der Kampf, der hier ausgefochten wird,

der um das physische, psychische und moralische Überleben von Menschen im Kapitalismus. Überall, in jeder Stufe der Serie, drückt sich die unerbittliche Logik (ökonomischer) Wettbewerbsbeziehungen als strukturierendes Prinzip aus, wird, auf den eigenen Vorteil bedacht, entlang der Maxime gehandelt: »Wenn jeder an sich selbst denkt, ist an alle gedacht«. The Wire erinnert dabei durch seinen schmerzhaften Hyperrealismus eindrücklich an das Grundprinzip der Vergesellschaftung im Laissez-Faire des Kapitalismus. Auf jegliche moralische Erhöhung verzichtend, wird dies gerade in der detailliert aufgefächerten Darstellung der Zusammenhänge in der Drogenökonomie deutlich. Das Garn, aus dem das Netz gesellschaftlicher Strukturen gesponnen wird – das zeigt sich bei all denen, die gegen den Abstieg oder für ein kleines Bisschen vom Aufstieg kämpfen – ist der Zwang zum Verkauf der eigenen Arbeitskraft. Sind die Kräfte des freien Marktes einmal von der Kette gelassen – das zeigt The Wire, das zeigt auch Baltimore insgesamt als stellvertretendes Beispiel einer maroden Industriestadt in den USA des 21. Jahrhunderts – entwickelt sich von hier aus hinter dem Rücken

liebenswertester Menschen ein Gemeinwesen, das diesen Namen nicht mehr verdient.

David Bebnowski, geb. 1984, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Nachdem Karrierestarts als Profifußballer, Sternekoch oder Musiker von Weltruf versandeten, studierte er Sozialwissenschaften an der Universität Göttingen und der UC San Diego. Heute promoviert er zum Thema »Die Neue Linke und die Theorie – Anziehungskraft und Niedergang politischer Ideen im Spiegel der Zeitschriften ›PROKLA‹ und ›Das Argument‹«.

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»IT’S A GREAT TIME TO BE A WOMAN IN POLITICS!« POLITIKERINNEN ALS PROTAGONISTINNEN VON US-FERNSEHSERIEN ΞΞ Bettina Soller / Maria Sulimma

In der Pilotfolge von Parks and Recreation ( NBC: 2009–2014) erklärt die Lokalpolitikerin Leslie Knope: »You know, government isn’t just a boys’ club anymore. Women are everywhere. It’s a great time to be a woman in politics: Hillary Clinton … Sarah Palin … Me … Nancy Pelosi …«. Im Verlauf der Serie wird die Protagonistin Leslie auf humoristische Weise als passionierte feministische Politikerin charakterisiert. Umgeben von gerahmten Fotografien von US-amerikanischen Spitzenpolitikerinnen, eifert sie ihren Heldinnen nach und wird nicht müde, auf die tatsächlichen Widersprüche und Hindernisse in den Karrieren von (realen wie fiktionalen) Politikerinnen hinzuweisen. In den letzten Jahren sind in den USA zunehmend Serien erfolgreich, die Berufspolitik als Gegenstand, politische Akteure als Charaktere oder politische Prozesse als Handlungen beinhalten. Serien wie House of Cards (Netflix: 2013-fortlaufend), Homeland (Showtime: 2011-fortlaufend), BOSS (Starz: 2011–2012), oder The West Wing ( NBC: 1996–2006) brechen mit der Annahme, dass Politik als Thema von Serien nicht funktionieren könne.1 Mit steigendem Interesse am Politischen in US-amerikanischen Fernsehserien (und wachsendem Erfolg dieser Serien) wurde auch seitens der feministischen Blogosphäre, des Journalismus und der Medienwissenschaft der Wunsch nach stärkerer Inklusion von Politikerinnen in Fernsehserien laut. Die neue Welle von Politikserien, die Frauen in den Mittelpunkt ihrer Erzählungen stellen, scheint eine Antwort auf dieses Verlangen zu sein. Charaktere wie Secretary of State Elizabeth Faulkner McCord aus Madam Secretary (CBS 2014), Secretary of State Elaine Barrish aus der Mini-Serie Political Animals ( USA Network: 2012), die Vizepräsidentin Selina Meyer aus Veep ( HBO: 2012-fortlaufend), die politische Problemlöserin Olivia Pope aus Scandal (ABC: 2012-fortlaufend), die Lokalpolitikerin Leslie Knope aus Parks and Recreation ( NBC: 2009–2014), Präsidentin Mackenzie Allen aus Commander in Chief (ABC: 2005–2006) oder die Anwältin und Politikerehefrau Alicia Florrick aus The Good Wife (CBS: 2009-fortlaufend) fungieren als narrative Zentren der jeweiligen Serien.

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INDES, 2014–4, S. 78–88, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014, ISSN 2191–995X

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1  Viele aktuelle US-Serien haben in ihrer Darstellungen des Politischen britische Vorläufer wie z. B.: Secret State (Channel 4: 2012), Party Animals (BBC: 2007), The Thick of It (BBC: 2005–2012), State of Play (BBC: 2003), House of Cards (BBC: 1990), A Very British Coup (Channel 4: 1988) und Yes Minister/Yes, Prime Minister (1980–1988, BBC). In Bezug auf unser Interesse an Darstellungen von Politikerinnen ist die Serie The Amazing Mrs ­Pritchard (BBC: 2006) zu erwähnen, in der eine politische Amateurin zur Premierministerin Großbritanniens gewählt wird (siehe Nikolaidis für eine ausführliche Analyse: Aristotelis Nikolaidis, The Unexpected Prime Minister: Politics, Class and Gender in Television Fiction, in: Parliamentary Affairs, Jg. 64 (2011) H. 2, S. 296–310). Eine weitere sehr erfolgreiche europäische Serie um eine Politikerin ist die dänische Serie Borgen (DR1: 2010–2013) um die Politikerin Birgitte Nyborg, die als erste dänische Ministerpräsidentin in Christiansborg regiert. Leider können wir an dieser Stelle nicht ausführlich auf die Serie eingehen, die von uns identifizierten Spannungsfelder in den US-amerikanischen Erzählungen über Politikerinnen sind aber auch für Borgen relevant.

Auffällig an dieser aktuellen Ansammlung von Politikerinnen in Fernsehserien als erfolgreichem kulturellen Phänomen ist dabei vor allem die narrative Komplexität der Charaktere. Während das zunehmende Interesse an Politik als Gegenstand fiktionaler Narrationen als neuere Entwicklung erscheint, besteht zwischen Politik und politischer Erzählung insgesamt eine schon längerfristige Beziehung: Ob dies als Staatsfiktion (Kreisky), politische Kommunikation (Hoeft), genereller als Narration beschrieben2 oder in der Berufspolitik und ihrer Vermittlung über die »vierte Gewalt« der Medien diskutiert wird, zeigt schlüssig die Bedeutsamkeit von der Erzählbarkeit des Politischen. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Frage nach der Relevanz von Politserien stellen. Welche Rolle können fiktive Geschichten in der Verhandlung des Politischen, also von der Vermittlung und Analyse von politischen Prozessen, Akteur_innen und Strukturen, spielen? Wenn jede Form des Politi2  Eva Kreisky u. a. (Hg.), Staatsfiktionen. Denkbilder moderner Staatlichkeit, Wien 2011. Christoph Hoeft, Das Ende der Geschichten, 03. 07. 2014, online einsehbar unter http://www. demokratie-goettingen.de/blog/ das-ende-der-geschichten Juli 3 [eingesehen am 24. 09. 2014]. 3  Die USA stellen keine Ausnahme dar, denn nur wenige Länder hatten bisher Politikerinnen im höchsten Amt der Exekutive. Im UN-Netzwerk »Council of Women World Leaders« ist die überschaubare Anzahl bisheriger und aktueller weiblicher Staatsoberhäupter organisiert: Internetauftritt online einsehbar unter http://www.unfoundation. org/features/cwwl.html [eingesehen am 24. 09. 2014]. 4  Rutgers Center for American Women and Politics, Facts on Women in Congress 2014, online einsehbar unter http://www.cawp. rutgers.edu/fast_facts/levels_of_ office/Congress-CurrentFacts.php [eingesehen am 24. 09. 2014].

schen als Eigenschaft auch die eigene Erzählbarkeit besitzt, welchen Raum nehmen dann explizit fiktive Erzählungen ein? Die USA hatten bisher keine Präsidentin oder Vizepräsidentin,3 und auch auf legislativer Ebene sind Frauen im Kongress nur mit einem Anteil von 17 Prozent4 vertreten. TV-Serien können hier ein Was-wäre-wenn-Szenario ausfüllen: Was wäre, wenn eine Frau US-Vizepräsidentin, Präsidentin, Secretary of State, oder die Hauptproblemlöserin aller politischen Skandale wäre? Die Darstellungen von Politikerinnen in TV-Serien eröffnen alternative Szenarien, begegnen bestehenden Geschlechterstereotypen und verhandeln diese neu. Wir wollen an dieser Stelle dennoch nicht von einem neuen Typus der Darstellung von Politikerinnen als Protagonistinnen sprechen, da die verschiedenen Charaktere sehr unterschiedlich ausgestaltet sind, wie unsere exemplarische Analyse von Veep und Scandal zeigt. In diesem Beitrag geht es ebenfalls nicht um die Frage, inwiefern diese Serien als Text insgesamt durch die Darstellungen von Politikerinnen entweder als sexistisch und diskriminierend oder aber als empowernd und fortschrittlich gewertet werden können. Wir begreifen Geschlecht in seriellen, populärkulturellen Produkten nicht als statisches Konzept, sondern als komplexen Verhandlungsprozess, der sowohl feministische als auch antifeministische Positionen einnehmen kann.5 Uns interessieren vor allem die Dimensionen und die Komplexität von seriellen Verhandlungen von Weiblichkeit in Machtpositionen in der Politik, welche wir insbesondere in den drei folgenden Spannungsfeldern verorten:

5  Siehe Rosalind Gill für eine Theoretisierung dieser Widersprüchlichkeit von aktuellen Medien in Bezug auf Geschlecht: Rosalind Gill, Gender and the Media, Cambridge 2006.

die Politikerin und ihr Privatleben, die Politikerin als Vorgesetzte sowie die Politikerin als explizit weibliche Akteurin in der Domäne Politik. Die erstmalig 2012 ausgestrahlte Drama-Serie Scandal befindet sich gerade in der vierten Staffel und basiert lose auf der Geschichte der Krisenmanagerin Bettina Soller / Maria Sulimma  —  »It’s a Great Time to be a Woman in Politics!«

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Judy Smith, die Beraterin für George W. Bush war und den Skandal um die Affäre von Bill Clinton und Monica Lewinsky gemanagt hat.6 Wie Smith, ist Olivia Pope, die Protagonistin der Serie, eine Afro-Amerikanerin. Damit ist die Primetime-Serie seit fast vierzig Jahren die einzige mit einer woman of color als Hauptfigur. Aber nicht nur im Bereich Drama, sondern auch unter den seriellen Komödien finden sich zunehmend Politikerinnen als Protagonistinnen. Im Mittelpunkt der von HBO seit 2012 produzierten und ausgestrahlten Serie Veep (3 Staffeln mit je 8–10 Folgen, vierte in Produktion) steht die Vizepräsidentin Selina Meyer und ihr Team aus Berater_innen und Angestellten. Die Serie wurde von Armando Iannucci geschaffen, der für seine britische Politserie The Thick of It ( BBC: 2005–2012) bekannt wurde. Protagonistinnen wie Selina Meyer und Olivia Pope haben nur wenig mit jenen weiblichen Stereotypen gemeinsam, wie sie besonders in den Serien des frühen US-Fernsehens portraitiert wurden. Seit den 1970er Jahren hat sich mit der zweiten Welle des Feminismus die Vielfalt von weiblichen Rollen, zumindest durch eklektische Beispiele, erweitert. Neben der traditionellen Mutterfigur gibt es nun die Frau am Arbeitsplatz (ikonisch in der Mary Tyler Moore Show (CBS), die 1970 prämierte) und die (Single-)Frau in

6  Der Sender ABC selbst verweist häufig auf Olivia Popes reales Vorbild. Smith ist auch Teil des Produktionsteams der Serie. Exemplarisch: ›Scandal‹ For Real: Judy Smith’s Real-Life ›Scandals‹, in: ABC News, online einsehbar unter http://abcnews. go.com/US/photos/scandalreal-judy-smiths-real-life-scandals-20833182/image-20833969 [eingesehen am 24. 09. 2014].

einer Gruppe von Freunden (populär geworden besonders durch die Serien Friends ( NBC) und Sex and the City ( HBO) in den 1990er Jahren).7 Mit wenigen Ausnahmen haben aber auch die Frauen in diesen Serien spätestens zum Serienfinale eine Familie oder zumindest einen Partner, idealerweise ohne auf eine Karriere und Freizeit zu verzichten. DIE POLITIKERIN ALS PRIVATPERSON? SEXUALITÄT, SCHWANGERSCHAFT UND FAMILIE

7  Vgl. Bonnie J. Dow, PrimeTime Feminism: Television, Media Culture and the Women’s Movement since 1970, Philadel­ phia 1996; Allison Klein, What Would Murphy Brown do? How the Women of Prime Time Changed Our Lives, Emeryville 2006; Kim Akass u. Janet McCabe (Hg.), Reading Sex and the City, Palgrave 2004.

Die kommunikationswissenschaftliche Geschlechterforschung wertet Thematisierungen des Privatlebens von Politikerinnen – wie ihre Familien oder Beziehungen – als journalistisches Mittel der Trivialisierung.8 Diesen Verweisen sind demnach Assoziationen von traditionellen Geschlechterrollen inhärent, die Politikerin wird also als Trägerin von Weiblichkeit und somit als politisch unqualifiziert markiert. Bei den Protagonistinnen der Politserien werden ebenfalls Handlungen um ihre Beziehungen, Sexualität, ihre Familien und Mutterrollen in den Mittelpunkt der Narrationen gestellt, jedoch als komplexe, oft widersprüchliche Aspekte des Politikerinnen-Daseins verhandelt. Darstellungen von Sexualität beinhalten immer die Frage, in welchem Beziehungsrahmen sie stattfindet. Olivia Pope und Selina Meyer sind nicht verheiratet und haben im Laufe der Serien Affären mit Männern, die Risiken für

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8  Vgl. bspw. Petra Pfannes, ›Powerfrau‹, ›Quotenfrau‹, ›Ausnahmefrau‹ …? Die Darstellung von Politikerinnen in der deutschen Tagespresse, Marburg 2004; Nancy Drinkmann u, Claudio Caballero, Eine Frau ist eine Frau ist eine Frau? Die Berichterstattung über die Kandidaten der Bundespräsidentenwahl 2004, in: Christina Holtz-Bacha u. Nina König-Reiling (Hg.), Warum nicht gleich? Wie die Medien mit Frauen in der Politik umgehen, Wiesbaden 2007, S. 167–203; Maria Sulimma, Die anderen Ministerpräsidenten, Berlin 2014.

ihre Karrieren darstellen.9 In Veep wird Selinas Sexualität ausschließlich humoristisch betrachtet. Von einer Affäre in der ersten Staffel erfahren wir aus der Perspektive ihrer Angestellten, die peinlich berührt von Sexgeräuschen vor ihrer Tür warten. Selina ist geschieden, hat aber in mehreren Episoden sexuellen Kontakt mit ihrem Exmann Andrew. In Gegenwart ihres Exmannes verliert Selina mit gravierenden Karrierekonsequenzen ihr Urteilsvermögen, was Wahlkampfleiter Dan in der dritten Staffel veranlasst, den Fitnesstrainer Ray als sexuelle Ablenkung anzustellen und Selina so vor »Rückfällen« mit Andrew zu schützen (3.6). Selinas Liebesbeziehungen zu Männern werden nicht als emotionale Verbindungen, sondern als ausschließlich sexueller Natur charakterisiert. Während sie somit für ihr Team immer neues Skandalpotenzial bieten und Problemlösungsstrategien erforderlich machen, zeigen sie Selina als rücksichtslos, hedonistisch und unfähig, mögliche Konsequenzen zu erkennen. Wiederholt verhält sie sich gerade vor ihren Mitarbeiter_innen unprofessionell und lässt beispielsweise ihren Assistenten für sie eine Beziehung beenden. Als Selina nach Rücktritt des Präsidenten im dritten Staffelfinale zur Präsidentin wird, erkennt sie als Vorteil ihres neuen Amtes beim Besuch einer Feuerwehrwache: »God, I would love to fuck a firefighter. Hey, I’m the president. I can fuck anybody I want now, right?« Ihre Beraterin Amy antwortet darauf knapp: »All the other ones have.« (3.10) Amys Antwort kontextualisiert Selinas Verhalten als geschlechtsunabhängige Reaktion auf die Macht ihres Amtes. Schwanebeck stellt in seinen Analysen von politischen Narrativen eine Gleichsetzung des (männlichen) Politikerkörpers mit dem politischen Körper der Regierung insgesamt fest; im Nachgeben ihrer Triebe stellen Politiker somit ein Risiko für die Einheit des Staates dar und gelten als eine Belastung bzw. »men unfit for office«10. In den von ihm analysierten Serien und Filmen sowie politischen Skandalen kann Schwanebeck allerdings keine äquivalente Gleichsetzung der Körper von Politikerinnen mit dem des Staates feststellen. Anders in Veep: Indem Selinas sexuelle Bedürfnisse so explizit gezeigt und 9  Alle dargestellten Politikerinnen aus den oben genannten Serien sind im Übrigen heterosexuell. Die lesbische Politikerin ist in Politserien ähnlich unsichtbar und unterrepräsentiert wie in der tatsächlichen Politik. 10  Wieland Schwanebeck, Lovers, Not Fighters – The Body Politic and Its Restrained Libido, in: Birgit Sauer u. Kathleen Starck (Hg.) Political Masculinities in Literature and Culture, Cambridge 2014 (im Erscheinen).

von ihrem Team als Schwäche ihrer Vorgesetzen verhandelt werden, wird hier jedoch auch der Politikerinnenkörper auf ganz ähnliche Weise dargestellt. Wegen des Mockumentary-Kamerastiles der Serie erfahren wir von Selinas Affären primär über die Wahrnehmung ihres Teams durch vertrauliche Gespräche mit ihren Berater_innen. Oft befindet sich ihr Team gekleidet in Anzügen in ihren privaten Räumen, während Selina Schlafanzug trägt und sich die Zähne putzt oder in Sportkleidung trainiert. In diesen Szenen wird die Trennung zwischen Privatleben und Beruf visuell aufgehoben, welche auf Narrationsebene in der Darstellung von Selinas Sexualität als unprofessionelles Risiko für ihre Karriere verhandelt wird. Bettina Soller / Maria Sulimma  —  »It’s a Great Time to be a Woman in Politics!«

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Auch in Scandal bricht die Sexualität der Protagonistin mit ihrer Professionalität. Die Prämisse der Serie ist, dass Olivia als Konfliktlöserin von Skandalen durch ihre Affäre mit dem Präsidenten Fitzgerald Grant selbst einen gigantischen Skandal provoziert. Die Beziehung zu Fitz schockiert gerade in Bezug auf Olivias sonstige Professionalität. Im Mittelpunkt der Serie stehen – anders als bei Selina – weniger ihre sexuellen Bedürfnisse als vielmehr ihre emotionale und sexuelle Abhängigkeit von Fitz. In einer Rückblende auf seinen Wahlkampf erklärt Olivia, wie sehr sie ihr berufliches und privates Leben nach ihm ausrichten würde »I would eat, breathe and live Fitzgerald Grant every minute of everyday. You would be lucky to have me.« (1.6). Im Laufe der Serie erklärt Olivia nach beruflichen und privaten Enttäuschungen zwar immer wieder, Fitz und seiner Regierung keine Gefallen mehr tun zu wollen, kann sich jedoch nicht endgültig von ihm lösen. Für Olivia entspricht die schmerzhafte aber leidenschaftliche Wechselbeziehung mit Fitz ihrem Ideal von Liebe. Im Unterschied zu Veep (und dies ist auch genre-bedingt) werden die Sexualität der Protagonistin und der damit verbundene Bruch mit ihrer professionellen Rolle in Scandal weniger als Trivialisierung der Protagonistin, sondern mehr als ein Machtspiel zwischen Olivia und Fitz dargestellt. In der Serie erstrecken sich Misstrauen, Intrigen und Machtspiele auf alle Ebenen des Lebens und dominieren private Räume und die Sexualitäten der Charaktere, wirken sich aber häufig auch nationalpolitisch aus. Sexualität ist in Scandal, anders als in Veep, nicht nur ein berufliches Risiko, sondern auch eine politische Ressource. In Folge 1.7 von Scandal überzeugt Olivia Fitz und seine Frau, obwohl deren Ehe nur zu politischen Zwecken aufrechterhalten wird, ein weiteres Kind zu bekommen, um Gerüchte über seine außerehelichen Affären zu ersticken. Familie erscheint vor diesem Hintergrund als lediglich ein weiteres PR-Vehikel. Die Instrumentalisierung des Körpers der First Lady im Rahmen einer Schwangerschaft zur Rettung der Karriere ihres Mannes und die Implikation von Schwangerschaft und Kindern als Indikatoren einer funktionierenden Ehe sind signifikant. In der Veep-Folge »Baseball« (1.6) vertraut Selina während einer Reihe von PR-Auftritten Amy ihre Befürchtung an, schwanger zu sein. Das Team ist nun mit dem Beschaffen von Schwangerschaftstests und den möglichen Konsequenzen für Selinas Karriere konfrontiert. Aus den Gesprächen wird schnell klar, dass eine Schwangerschaft für Selina auf das politische Aus, politischen (Selbst-)Mord oder eine möglichst schnelle Hochzeit mit ihrer Affäre hinausläuft. Mit diesem Schwangerschaftsszenario verdeutlich die Serie implizit die spezifische Herausforderung, der sich Politikerinnen ausgesetzt sehen. Dominante Bilder von politischen Akteuren werden in

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Frage gestellt, wenn die alleinerziehende, schwangere Politikerin als politisch inkompetent dargestellt wird. In der darauffolgenden Episode (1.7) erfahren die Zuschauer_innen, dass Selina in einem sehr frühen Stadium eine Fehlgeburt hatte. Sowohl sie als auch ihr Team gehen zynisch und emotionslos mit dieser Entwicklung um und sind erleichtert, dass die Gefahr für ihre Karriere abgewendet ist. In ihrer Rekapitulation der Folge11 bedauert Recapperin Meredith Blake die verpasste Chance, die Thematik Schwangerschaft und Politik ausführlicher auszuloten und empfindet die Fehlgeburt als unbefriedigenden narrativen Ausweg (»ultimate story-telling cop-out«). Das Thema Schwangerschaft kann hier produktiv benutzt werden, um die Prozesse um politischen Zugang zu verstehen. Durch eine Schwangerschaft wären für Selina der Zugang zu einer politischen Karriere und die Möglichkeiten stärkerer politischer Einflussnahme gerade auch in ihrer Zusammenarbeit mit dem Präsidenten in Frage gestellt. Olivia wiederum kann durch die Schwangerschaft der First Lady die Karriere des Präsidenten und damit seinen als indirekt auch ihren politischen Zugang sichern (sowie ihre Affäre geheimhalten und fortsetzen). Schwangerschaft ist in diesen Serien also nur im Rahmen einer Ehe denkbar und bedeutet für Frauen zumindest eine Unterbrechung ihrer Karriereambitionen. In Scandal spielt das Privatleben insgesamt eine der Politik und dem Beruf untergeordnete Rolle. Die Kinder des Präsidenten bspw. leben im Internat. Dennoch spielen Olivia und Fitz in ihren (Telefon-)Gesprächen immer wieder eine gemeinsame Fantasie durch, in der sie zusammen in eine Stadt 11  Gerade bei den gegenwärtigen cable/premium cable-Fernsehserien, zu denen die meisten in dieser INDES-Ausgabe diskutierten Serien gehören, haben die sogenannten Recaps (etwa Zusammenfassungen oder Rekapitulationen einzelner Folgen, oft mit Benotungen) eine zentrale Position zwischen Rezeptionsund Produktionsprozessen, da in ihnen Diskurse und Kontroversen angesprochen und durch die Kommentare von Nutzer_innen forciert werden. Inzwischen beschäftigen die meisten großen US-amerikanischen Magazine und Zeitungen professionelle Recapper. Meredith Blake, Veep: »Full Disclosure«, in: A.V. Club, 03. 06. 2012, online einsehbar unter http://www.avclub.com/ tvclub/veep-full-disclosure-75586 [eingesehen am 24. 09. 2014].

in Vermont ziehen, Kinder bekommen, Fitz Bürgermeister dieser Stadt wäre und Olivia als Hausfrau Marmelade kochen würde. Den Zuschauer_innen der Serie ist insbesondere in Bezug auf Olivia deutlich, wie unrealistisch diese romantische Verklärung ist: Als Bestandteil einer narrativen Welt, in der das Privatleben nachrangig ist, könnte Olivia niemals lediglich auf eine private Rolle beschränkt werden. So ist es letztendlich auch Olivia, die Fitz in einer dramatischen Ansage erklärt, dass sie den intriganten Verwicklungen des politischen Machtspiels nicht entkommen können: »There is no clean. Just like there is no Vermont […] Let’s stop pretending.« (3.13) Auch in Veep spielt das Privatleben eine der Politik untergeordnete Rolle. Selina ist geschieden, da aber ihre Tochter Catherine erwachsen ist und studiert, muss sie sich nicht mit Erziehungsproblemen beschäftigen. Doch als Selina einer Journalistin bei einem Interview in ihrem Haus ihr Familienleben demonstrieren will und dabei vergisst, dass ihre Tochter Vegetarierin ist und sie zwingt Fleisch zu essen, ist sogar der sonst so verständnisvolle Assistent Gary entsetzt. Catherine fasst all die Enttäuschungen und Hindernisse, die Bettina Soller / Maria Sulimma  —  »It’s a Great Time to be a Woman in Politics!«

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Selinas Karriere für sie bedeuten, in Folge 3.3 zusammen: »Your entire life has been leading up to this moment, and as a result of that, my entire life has been awful. […] I have had a hard, lonely, miserable life, and the only thing that is gonna make it worthwhile is if I become the daughter of the next President of the United States.« DIE POLITIKERIN ALS CHEFIN UND DAS TEAM ALS FAMILIENERSATZ Allmählich wird die Tochter Catherine als Teil von Selinas Wahlkampf­­ gefolge relevanter und tritt häufiger in der Serie auf. Sie bringt zunehmend eine links-intellektuelle und akademische Position ein, die humoristisch den Perspektiven der anderen Charaktere widerspricht. So schreibt sie in einem ihrer Universitätskurse einen israelkritischen Aufsatz, der einen politischen Eklat auslöst. Wenn sie versucht, in die politischen Gespräche ihrer Mutter und ihres Teams Aspekte von Moral oder Ethik einzubringen, wird sie ausgelacht oder als naiv abgetan. Solche Szenen lokalisieren das Politische von Veep als einen insidergesteuerten, machiavellistischen Bereich, in dem Ethik stets Realpolitik und Machtkämpfen untergeordnet wird. In der dritten Staffel von Veep möchte Selina einen erfolgreichen Wahlkampfmanager überzeugen, ihren Präsidentschaftswahlkampf zu leiten und ist dafür sogar bereit, ihren engsten Mitarbeiter_innen zu kündigen: »I’m gonna get rid of the team. The whole bunch. […] I’ll shoot Gary in the head. I’ll poison Amy. I’ll behead Dan« (3.5). Für Zuschauer_innen wird an dieser Stelle Selinas Egoismus besonders deutlich; vor allem, nachdem die ersten Folgen der Staffel zeigen, wie weit ihr Team trotz aller Rivalitäten bereit für sie zu gehen ist: Gary trägt trotz Schulterverletzung weiter ihre schweren Taschen und als einzige Mitarbeiterin muss Amy schon einmal für die Vizepräsidentin die Toilettenspülung betätigen. Im Mittelpunkt der Erzählung von Veep und Scandal steht häufig die Interaktion und Beziehung zwischen Selina Meyer bzw. Olivia Pope und ihren Teams aus Spin-Doktor_innen, Berater_innen, Sekretär_innen oder sonstigen Angestellten. Diese Protagonistinnen bilden einen starken Kontrast zu traditionellen Frauenbildern, fungieren etwa nicht als mütterliche Figuren. Beide Frauen sind Autoritäten in Machtpositionen, deren Teams sich in starker Abhängigkeit zu ihnen befinden. Im Falle von Selina wird die Gruppe um sie nicht als familienähnlich dargestellt. Trotz einiger vertrauter Momente konkurrieren die Mitarbeitenden ständig miteinander und sind von Selinas willkürlicher Personalpolitik betroffen. All ihre »Gladiators in Suits« sind auf die eine oder andere Art von Olivia gerettet worden. Dass die Gruppe um

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Olivia ihr immer wieder bedingungsloses Vertrauen entgegenbringt, äußert sich in der wiederholten Beteuerung, dass sie ihrer Chefin ›over a cliff‹ folgen würden, ohne die Gründe zu kennen. Im Laufe der Serie wird jedoch deutlich, dass auch Olivia, ebenso wie Selina, nicht ausschließlich von altruistischen Motiven angetrieben ist. Um die Leiche einer jungen Frau zu finden, bittet Olivia ihren Angestellten Huck trotz seiner traumatischen Vergangenheit als Agent einer geheimen Regierungsorganisation, den vermutlichen Entführer und Mörder zu foltern (1.5). Die Mitarbeiterin Abby wird von ihr so manipuliert, dass sie glaubt, ihr Liebhaber habe eine Frau geschlagen. Abby selbst wurde durch Olivia aus einer gewalttätigen Beziehung zu einem einflussreichen Politiker befreit und soll nun durch Olivias Manipulation dazu gebracht werden, ihren neuen Partner zu bestehlen, um für den Präsidenten belastende Informationen verschwinden zu lassen. In diesen exemplarischen Szenen wird sowohl Olivias Sensibilität für die Grenzen und Schwächen ihrer Angestellten deutlich als auch ihre Bereitschaft, diese rücksichtslos für ihre Arbeit zu überschreiten oder zu instrumentalisieren. VISUELLER DOUBLE BIND: POLITIKERINNEN UND KLEIDUNG Ein zur Beschreibung der Situation von Politikerinnen häufig verwendeter Begriff ist die psychologische Bezeichnung des Double Bind [Doppelbindungstheorie]: Dieser Begriff bezeichnet den Spagat zwischen weiblichen als auch 12  Das Phänomen des Double Bind wurde erstmals von der Kommunikationswissenschaftlerin und Wahlkampagnenforscherin Jamieson auf Politikerinnen angewandet (Kathleen Hall Jamieson, Beyond the Double Bind – Women and Leadership, New York 1995). 13  Viola Hofmann, Das Kostüm der Macht – Das Erscheinungsbild von Politikerinnen und Politikern zwischen Vereinheitlichung und Maskerade, in: Gabriele Mentges (Hg.), Uniformierungen in Bewegung – Vestimentäre Praktiken zwischen Vereinheitlichung, Kostümierung und Maskerade, Münster 2007, S. 159–170, hier S. 162. 14  Gitta Mühlen Achs, Wie Katz und Hund – Die Körpersprache der Geschlechter, München 1993, S. 14 ff.

männlichen Rollen in einem zwangsweise zweigeschlechtlich konstruierten Raum, in dem weder Weiblichkeit noch Männlichkeit eine zufriedenstellende Option für Politikerinnen bedeutet.12 Einer der offensichtlichsten und hartnäckigsten Geschlechterunterschiede in der Berichterstattung über und der fiktiven Darstellung von Berufspolitik ist das Erscheinungsbild von Politikschaffenden, unter das Kleidung, Frisur, Make-Up und andere Formen der Erscheinungsgestaltung fallen. Obwohl die meisten Politikerinnen auf Kostüme und Hosenanzüge, analog zum von Männern getragenen Anzug, zurückgreifen, setzen sie sich visuell ab und stören mit ihrem heterogenen Kleidungsstil die von Viola Hofmann als »Ästhetik der Reihe«13 beschriebene, überwiegende Erscheinungsnorm der Politik. Auch auf Politikerinnen lastet – wie es bei vielen medialen Darstellungen von Weiblichkeit der Fall ist – ein »Attraktivitätsdruck«14. Für Politikerinnen nimmt er allerdings paradoxe Formen an, da weibliche Attraktivität gemeinhin als unvereinbar mit Professionalität gilt. Die kontinuierliche humoristische Fixierung auf Hillary Clintons Frisur und Kleidungsstil ist hier ein gutes Beispiel. Salamishah Tillet bezeichnet die Unvereinbarkeit von Politik und weiblicher Attraktivität als double standard, der sich nur im kulturell Imaginären, Bettina Soller / Maria Sulimma  —  »It’s a Great Time to be a Woman in Politics!«

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beispielsweise in fiktiven Erzählungen, gemeinsam denken lässt. Für Politikerinnen sei Attraktivität, anders als für ihre männlichen Konterparts für ihre Karrieren ein eher hinderlicher Faktor: »to be successful in politics, women have to deliberately play down or inhibit those charismatic qualities – call it swagger, sexiness or a winning smile – upon which many of their ambitious male counterparts thrive.«15 Für Olivia Pope und Selina Meyer gilt dies allerdings nicht. Beide Protagonistinnen inszenieren eine professionelle, aber konventionell attraktive Weiblichkeit mit figurbetonten Anzügen, Kleidern oder Röcken, Make-Up, Schmuck und langen Haaren. Olivia Pope trägt Armani und Valentino16, Selina Meyer Alexander McQueen und Gucci17. Eine Vielzahl von Artikeln und Rezensionen fokussiert sich auf die Attraktivität und den Kleidungsstil von Veep-Protagonistin Selina Meyer und konstatieren, dass keine »echte« Politikerin (oder auch Politiker) sich in ähnlichem Ausmaß inszenieren könnte oder den Anschein erwecken dürfte, sich dermaßen um Kleidung zu kümmern, denn: »in politics, clothes can’t be seen as a priority. To be sartorially conscious is to imply you’re not thinking about other, more important things.«

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Kleidung wird in den Serien aber auch strategisch als

Ressource gedacht: So zieht Selina Meyer im vertrauten Kreis ihres Teams ihre hochhackigen Stöckelschuhe aus und bei wichtigen Besuchen möglichst schnell wieder an, was die zierliche Schauspielerin oft auf Augenhöhe mit männlichen Schauspielern hebt. Durch Olivia Popes figurbetonten weißen Anzüge und Kleider wird ihr Anspruch, trotz aller Manipulation auf der Seite von Moral und Gerechtigkeit zu stehen (»white hats«), visualisiert. POLITISCHE GESTALTUNGSMÖGLICHKEITEN UND WEIBLICHKEIT IN DER POLITIK In der zweiten Folge der dritten Staffel ist Selina gezwungen, in der für die US-Politik so zentralen Abtreibungskontroverse Position zu beziehen. Ihr gesamtes Team wägt in einer aufreibenden Nachtschicht mit Treffen verschiedener Vertreter von Abtreibungsbefürwortern und Abtreibungsgegnern sowie dem Auswerten von Bevölkerungsstatistiken ab, welche Position für sie politisch am profitabelsten wäre. Wenn Männer schwanger werden könnten, so bemerkt sie spöttisch, wären Abtreibungen direkt an Bankautomaten möglich (»If men got pregnant, you could get an abortion at an ATM. Let’s state the obvious«). Ihre eigene, persönliche Meinung jedoch als Basis für politische Gestaltung zu nutzen, steht für Selina und ihre Angestellten völlig außer Frage. Als ihr Öffentlichkeitsbeauftragter Mike ihr rät, in ihrer Stellungnahme ihre Position als Frau als Kompetenz in dieser Frage zu nennen, wischt sie dies energisch vom Tisch: »No! No! No! I can’t identify myself as a

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15  Salamishah Tillet, In ›Scandal‹ and ›Veep‹, Can Female Politicos Be Powerful – and Sexy, Too?, in: The Nation, 22. 05. 2012, online einsehbar unter http:// www.thenation.com/blog/168006/ scandal-and-veep-can-femalepoliticos-be-powerful-and-sexytoo [eingesehen am 24. 09. 2014]. 16  Ebd. 17  Anna Hart, Why Veep’s Selina Meyer dares to dress with more style than any real politician, in: The Guardian, 16. 07. 2014, online einsehbar unter http://www. theguardian.com/fashion/2014/ jul/16/veep-season-three-selinameyer-julia-louis-dreyfus-fashion [eingesehen am 24. 09. 2014]. Siehe auch die Interviews mit den Ausstattern der Serie: ­Bee-Shyuan Chang, Outfitting the Veep (Interview mit Ernesto Martin), in: New York Times, 25. 04. 2012, online einsehbar unter http://www. nytimes.com/2012/04/26/fashion/ what-should-a-female-vice-president-wear.html?pagewanted=all oder Lindzi Scharf, ›Veep‹: Selina Meyer gets a Presidential makeover for season 3 (Interview mit Kathleen Felix Hager), in: Entertainment Weekly, 06. 11. 2013, online einsehbar unter http:// popstyle.ew.com/2013/11/16/veepselina-meyer-gets-a-presidentialmakeover-for-season-3/ [beide eingesehen am 24. 09. 2014]. 18  Patricia Garcia, The Politics of Fashion: Can Julia Louis-Dreyfus’s Style on Veep Win an Election?, in: Vogue, 08. 04. 2014, online einsehbar unter http://www.vogue. com/872538/veep-julia-louisdreyfus-fashion-women-politics/ [eingesehen am 24. 09. 2014].

woman. People can’t know that. Men hate that. And women who hate women hate that. Which I believe is most women, don’t you agree with that, Amy?« In mehreren Szenen bedauert Selina allerdings auch, wie wenig langfristige politische Gestaltungsfähigkeit sie als Vizepräsidentin bzw. auch als Präsidentin hätte. Generell werden Skandalmanagement und das Bedienen der Journalismus- und Medienbedürfnisse als zentrale Aufgaben ihres Teams gezeigt und weniger das Setzen politischer Akzente. Letztendlich erscheint Politik in solchen Narrationen als politisches Spiel um Kontrolle und Imageverwaltung. Veep kritisiert Selina nicht für ihre Partizipation an diesem politischen Ränkespiel, vielmehr wird im Vergleich mit der Darstellung von anderen Politikern und Politikerinnen als Nebenfiguren deutlich, dass sie ethisch nicht schlechter oder besser als andere ist. Olivias politische Wirkmacht äußert sich zum einen in jenen Fällen, in denen sie persönlich besonders engagiert ist, so etwa in Fragen von Gender und Sexualität. Sie unterstützt in der Pilotfolge einen hochdekorierten, konservativ republikanischen Militärveteranen dabei, sich für ein Alibi als schwul zu outen (1.1). In einer anderen Folge bestärkt sie ehemalige, schwangere Geliebte des Präsidenten, dass es ihre Entscheidung ist, ob sie das Kind behalten möchte oder es abtreibt (1.3). Da ihre Klienten_innen meist aus dem Regierungsumfeld stammen, bekommen diese Fälle eine Tragkraft, die über 19  Laura Bennett, The Sneaky Feminism of ›Veep‹ Selina Meyer and the problem with female characters in political comedies, in New Republic, 29. 04. 2013, online einsehbar unter http://www.newrepublic.com/ article/113058/veep-season-2selina-meyers-feminism; Rachel Redfern, Women in Politics Week: Political Humor and Humanity in HBO’s ›VEEP‹, in: Bitch Flicks, 27. 11. 2012, online einsehbar unter http://www. btchflcks.com/2012/11/womenin-politics-week-political-humorand-humanity-in-hbos-veep. html#.VAZTqmPucU8; Alessandra Stanley, Where The Mean Girls Rule – Julia LouisDreyfus and Prime Time’s Other Women in Power, in: New York Times, 04. 05. 2014, online einsehbar unter http://www.nytimes. com/2014/05/04/arts/television/ julia-louis-dreyfus-and-prime-times-other-women-in-power.html May 2 [alle eingesehen am 24. 09. 2014].

die persönliche Ebene hinausreicht. Während Veep nie zu erkennen gibt, welcher Partei Selina angehört, wissen wir als Zuschauer_innen, dass Olivia alles tut, um einen republikanischen Präsidenten im Amt zu halten – der jedoch weitestgehend traditionell demokratische Ziele verfolgt. Hier, in der Sicherung seiner Position, äußert sich ihre politische Wirkmacht zum zweiten. Die innovativen Momente bestehen sowohl bei Veep als auch bei Scandal darin, dass die weiblichen Figuren ebenso machthungrig, manipulierend und unmoralisch sind wie die männlichen Figuren.19 Die Politikerinnen verhandeln auf komplexe Weise ihr Privatleben und ihre Rollen als Liebhaberinnen, Mütter oder Arbeitgeberinnen, die sich auf die Kompetenzen und Loyalität ihres Teams verlassen, ihm gegenüber aber auch Verantwortung haben und Grenzen überschreiten. Veeps Ausblick auf Washington ist dabei offensichtlich zynisch. Die Serie zeigt deutlich, dass Selinas Motivation grundsätzlich ihrem eigenen Vorteil dient. Sie behandelt ihre Mitarbeiter_innen grausam und gibt ihnen oft die Schuld für ihre eigenen Fehler. Die Mitglieder des Teams stehen ihr im Übrigen, was das skrupellose Wahren der eigenen Interessen angeht, in nichts nach. Den Kontrast dazu bildet Olivia, die immer wieder das Bild des ›white hats‹ evoziert, den sie sinnbildlich trägt und der symbolisch für ihre guten und reinen Intentionen steht. Durch die stete Selbstaffirmation Bettina Soller / Maria Sulimma  —  »It’s a Great Time to be a Woman in Politics!«

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ist sie auch in der Lage, Wahlbetrug, Manipulation und andere Hinterhältigkeiten so zu deuten, dass sie letztendlich der »guten Sache« dienen – was im Zweifelsfall eben bedeutet, den amtierenden Präsidenten im Amt zu halten. In vielen Handlungen der von uns untersuchten Serien wird die Relevanz der Medien für politische Akteur_innen und dieses Politikverständnis deutlich. Immer wieder gilt es Skandale zu verhindern, eigenes Engagement vorteilhaft medial zu präsentieren und das eigene Privatleben möglichst wenig kontrovers zu verwalten. Relevant ist an dieser Stelle auch, dass hier ein Medientext, die Fernsehserie, andere Medientexte, nämlich die Berichterstattung des politischen Journalismus, für die Fokussierung auf das Privatleben von Politikerinnen, das Hervorheben von Politikerinnen als »anders«, und somit die Komplizenhaftigkeit in der Aufrechterhaltung von Geschlechterstereotypen kritisiert. Wie eingangs bemerkt, gibt es durch die Öffnung von Figurenkonstellationen in diesen Serien einen Gewinn an vielschichtigen Frauenfiguren, so gerade in Veep das Ausfüllen eines Amtes, welches bisher noch keine Frau innegehabt hat (US-amerikanische Vizepräsidentschaft). Unsere Analysen haben aber auch in der Darstellung von Selina Meyer und Olivia Pope, insbesondere in Bezug auf Kleidung oder Sexualitäten, die Herstellung von bestimmten Bildern festgestellt. Veep und Scandal changieren somit zwischen einem Darstellen von den Problemen und Strukturen in der US-amerikanischen Domäne Politik und der eigenen Beteiligung an geschlechtsspezifischen Diskursen. Diese Ambivalenz in der Darstellung seriell verhandelter Politikerinnengeschlechtlichkeit ist insofern Teil der auf der Produktionsebene gestalteten Inhalte dieser Serien als auch ein Ergebnis unserer Untersuchung und Analyse dieser Inhalte. Bettina Soller, geb. 1981, promoviert am John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien der Freien Universität über Twilight und Harry Potter Crossover Fan Fiction. Im Moment arbeitet sie am Lehrstuhl für American Studies an der Leibniz Universität Hannover als Wissenschaftliche Mitarbeiterin und unterrichtet unter anderem das Seminar »­Fantastic Adolescence – Contemporary American Narrative and ­Participatory Culture.« Maria Sulimma, geb. 1985, ist Koordinatorin der DFG-­ Forschungsgruppe »Ästhetik und Praxis populärer Serialität« und Mitarbeiterin am John-F.-Kennedy-Institut für Nordamerikastudien der Freien Universität Berlin. Sie hat ein Buch zur Darstellung von Ministerpräsidentinnen in Tageszeitungen geschrieben (»Die anderen Ministerpräsidenten«, Berlin 2014), promoviert aber zum Thema »Serielle Geschlechterdiskurse im gegenwärtigen US-amerikanischen Kabelfernsehen«.

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MEINUNG

»EINE KATZE, DIE MÄUSE FÄNGT, IST EINE GUTE KATZE.« WARUM HOUSE OF CARDS IN CHINA ERFOLGREICH IST ΞΞ Felix Flos1

Im Februar dieses Jahres widmeten sich zahlreiche Publikationen der Erfolgsgeschichte der von dem Online-Streaming-Dienst Netflix ausgestrahlten Serie House of Cards in China, parallel zu der weltweiten Online-Veröffentlichung der zweiten Staffel. Die Sendung erzählt die Geschichte von Frank Underwood, eines fiktiven Mehrheitsführers im US-Kongress, der sich seinen Weg bis zur Spitze des Washingtoner Politikbetriebes bahnt. International wurde auf die Popularität der Serie in China mit einer ganzen Reihe von Emotionen und Interpretationen reagiert. Manche sahen darin die Leidenschaft der Chinesen zum Ausdruck kommen, mit der diese versuchen, möglichst viel über ihren großen ökonomischen Rivalen in Erfahrung zu bringen. Andere wiederum meinten die Neugier der Jugend auf Demokratie, wenn nicht gar ihre Akzeptanz und einen Indikator für den politischen Kurs zu erkennen, dem das Land in der Zukunft womöglich folgen werde. So oder so dürften die Berichte über die Beliebtheit der Sendung im Reich der Mitte doch etwas übertrieben gewesen sein. In einem Artikel aus dem Magazin Fortune vom vierten März dieses Jahres hieß es zwar, dass sich House of Cards auf Rang Zwei hinter »The Big Bang Theory« auf der Liste der beliebtesten TV-Sendungen befand. Die Serie ist dennoch weit davon entfernt, umfassende Popularität zu genießen. Im Gegenteil, ihre Fangemeinde konzentriert sich auf die gehobene Mittelklasse der chinesischen Gesellschaft, die Politiker, Angestellte und Geschäftsleute umfasst. Eine größere Überraschung als der – relative – Erfolg der Sendung stellt ohnehin die Tatsache dar, dass ihre Ausstrahlung in der ersten Instanz genehmigt wurde. Die staatliche Zensur oder »Harmonisierung« verhindert im All1 

Pseudonym

gemeinen jede TV-Serie oder Spielfilmproduktion, die chinesische Charaktere

INDES, 2014-4, S. 89–99, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014, ISSN 2191-995X

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negativ porträtiert. Ein jüngeres Beispiel dafür ist die Warner-Bros-Produktion »The Dark Knight« aus dem Jahr 2008, deren Vorführung aufgrund der Darstellung des aus Hongkong stammenden Gangsters Lau verboten wurde, obwohl es sich bei ihm nur um eine Nebenfigur handelt. Hollywood und TV-Produktionsfirmen wie Netflix scheinen hiervon Notiz genommen zu haben. Letztere konnte sich mit dem Online-Video-Portal »Todou.com« darauf einigen, dass dieses dem chinesischen Publikum die Serie gratis zur Verfügung stellt. In den ersten neun Monaten dieses Jahres waren sechs der Top-10-Filme in den chinesischen Kinos ausländische Produktionen. Filmemacher passen sich mittlerweile an die Wünsche der chinesischen Zuschauer auch dadurch an, dass zum Beispiel verschiedene Orte in China in die Plots miteinbezogen werden. Es gibt einige plausible Gründe dafür, warum House of Cards in China und insbesondere bei chinesischen Politikern beliebt ist. Zum einen zeigt sie, wie einige chinesische Offizielle öffentlich bemerkten, dass das amerikanische politische System ebenso korrupt ist wie sein chinesisches Pendant. In

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Politikserien — Meinung

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der zweiten Staffel wird ein chinesischer Milliardär, Xander Feng, als Antagonist der Verhältnisse in den Vereinigten Staaten proträtiert und obwohl China die Rolle des Bad Guy zukommt, fällt die Darstellung des Landes als fähiger und scharfsinniger Konkurrent der USA durchaus schmeichelhaft aus. Zudem zeigt die Sendung die Benutzung erschwinglicher, in der chinesischen Mittelklasse beliebter technologischer Neuerungen wie etwa Smartphones durch mächtige Vertreter der amerikanischen Oberschicht. Trotz der Kluft hinsichtlich des Pro-Kopf-Einkommens beider Länder eröffnet dieser Anblick bei chinesischen Zuschauern die Vorstellung, dass sie schon bald ein ebenso hohes Maß an materiellem Wohlstand erreichen werden wie die Amerikaner. House of Cards versetzt die Zuschauer zudem in die Lage, hinter die Fassaden der Macht zu blicken, was den Bürgern eines Landes mit einem so undurchsichtigen politischen System wie dem von China unheimlich spannend erscheinen dürfte. Und schließlich sorgt die Tatsache, dass es sich bei der Hauptfigur um einen Bösewicht handelt und das Stilmittel des »Beiseite-Sprechens« verwendet wird, dafür, beim Zuschauer den Eindruck einer Komplizenschaft und der Teilnahme an den Handlungen des Protagonisten, der das System für seine eigenen Zwecke missbraucht, zu erzeugen. Angesichts der Komplexität der politischen Strukturen in China ist dies ein Gefühl, das allenfalls eine Handvoll Politiker kennen. Im Folgenden werde ich zwei weniger beachtete Aspekte beleuchten – die Ähnlichkeiten zwischen den beiden Supermächten einerseits, zwischen den Figuren Frank Underwood und Deng Xiaoping andererseits –, um das Mysterium aufzulösen, welches sich um Frage der Beliebtheit der Sendung bei einer ganz bestimmten Sektion der chinesischen Bevölkerung rankt. GAR NICHT SO UNÄHNLICH: CHINA UND DIE USA Eine wichtige Überlegung, die wir zunächst einmal anstellen müssen, betrifft die Frage, warum der Erfolg der Sendung auf den ersten Blick überhaupt so merkwürdig anmutet. Er tut dies wahrscheinlich deshalb, weil die Vereinigten Staaten und China nach landläufiger Ansicht gegensätzliche Pole des politischen und ökonomischen Spektrums repräsentieren: Erstere sind der Inbegriff von freier Marktwirtschaft und Demokratie, China dagegen ist das stärkste überlebende Beispiel einer zentral verwalteten kommunistischen Gesellschaft in der heutigen Welt. Diese Charakterisierungen halten einem prüfenden Blick jedoch nicht stand. Der »Index of Economic Freedom«, jüngst von der Heritage Foundation und dem Wall Street Journal veröffentlicht, platziert die Vereinigten Staaten Felix Flos  —  »Eine Katze, die Mäuse fängt, ist eine gute Katze.«

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auf Platz 17, hinter anderen entwickelten Industrienationen wie Neuseeland, der Schweiz und dem Nachbarn Kanada und weit hinter Chinas Enklave Hongkong, die auf Platz Eins landet. Zudem können die Rahmenbedingungen in den Vereinigten Staaten keineswegs als uneingeschränkt günstig für Neugründungen von kleinen und mittelständischen Unternehmen bezeichnet werden, die sich einem ziemlichen Durcheinander von Regulierungen und Genehmigungsauflagen ausgesetzt sehen. Der Unternehmenssteuersatz liegt bei 35 Prozent, er ist damit einer der höchsten weltweit und wird unter den Hauptgründen für die Abwanderung amerikanischer Unternehmen ins Ausland angeführt. Auf der anderen Seite kann die Volksrepublik China (VR) als ein kommunistisches Land schon seit einiger Zeit im Wesentlichen nurmehr im Sinne eines politischen Ethos verstanden werden. Die Reformen der »Öffnung« in den späten 1970er Jahren, von Chinas de facto »höchstem Vorsitzenden«, Deng Xiaoping, initiiert, der sein Land von 1978 bis 1992 regierte, führten zur Einrichtung einer Reihe von speziellen Wirtschaftszonen, in denen mit marktwirtschaftlichen Politikinhalten experimentiert wurde, um Erfordernisse, Resultate und Folgen einer nationalen Implementierung zu prüfen. Der Begriff des »Sozialismus chinesischer Prägung« bezeichnet den Versuch, die Strukturen eines kommunistischen Regierungssystems mit einem streng kontrollierten Markt zu versöhnen. Im letzten Jahrzehnt haben die Chinesen, dank großangelegter staatlicher Interventionen zur Bekämpfung der Armut und zur Aufteilung des neu geschaffenen Wohlstandes, eine Konsumkultur entwickelt, die der amerikanischen sehr ähnlich ist – ausländische Produkte wie das iPhone haben sich zu regelrechten Verkaufsschlagern entwickelt. Die Vereinigten Staaten haben sich sogar noch weiter von den Wurzeln ihrer Gründerväter entfernt. Gemessen an den heutigen Standards würde man Staatsmänner wie Thomas Jefferson, John Adams und Benjamin Franklin als Konservative bezeichnen. Strebten sie doch danach, die Macht des Staates auf der Bundesebene zu begrenzen, befürworteten das Recht der Bürger auf Waffenbesitz und beharrten auf der Forderung, dass Staatsausgaben an bestimmte Ziele gebunden bleiben sollten. Mittlerweile ist der heilige Status der US-Verfassung insofern ohne Zweifel unterminiert worden. Dieser Prozess hat im frühen zwanzigsten Jahrhundert unter der Führung solch progressiver Präsidenten wie Theodore Roosevelt und Woodrow Wilson eingesetzt. Ersterer sagte einmal: »Die Verfassung wurde für das Volk entworfen, nicht das Volk für die Verfassung.« In der Folge wurde die Idee der »lebendigen Verfassung« populär. Diese Idee hat zahlreiche Regierungen dazu inspiriert,

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von der Verfassung einstmals gezogene Grenzen zu überschreiten und viel Geld für Ziele auszugeben, die von der Verfassung in ihrer – wiederum – ursprünglichen Form nicht gedeckt worden wären. Im 20. Jahrhundert haben Initiativen wie Franklin D. Roosevelts New Deal der 1930er Jahre, Lyndon B. Johnsons Great Society der 1960er Jahre, die Einführung von Lohn- und Preiskontrollen sowie die Aufkündigung des Bretton-Woods-Systems durch die Nixon-Regierung dazu geführt, dass staatliche Interventionen mittlerweile zu einem gewöhnlichen Bestandteil der politischen Kultur der USA geworden sind. Seit der Amtszeit von Nixon ist die amerikanische Linke beziehungsweise der liberale Progressivismus die bestimmende Kraft in der politischen Kultur des Landes. Um die überall wahrgenommenen Diskriminierungen von Teilen der Gesellschaft, wie den Afro-Amerikanern und den Frauen, zu beseitigen, hat die US-Regierung politische Maßnahmen ergriffen, die immer mehr Aspekte des Privatlebens der Bevölkerung beeinflussen. Während die Absichten hinter solchen Schritten nobel sein mögen, so sind doch gleichwohl manche der Ansicht, dass sie zu einer Ausdehnung staatlicher Macht in Bereiche geführt haben, zu deren Vereinnahmung sie kein Recht hat. Beispiele für eine solche Politik sind die Affirmative Action in den arbeitsrechtlichen Beziehungen und in der Bildung sowie, in jüngerer Zeit, »Obamacare« im Gesundheitssystem. Das einzige Hindernis für den Triumphzug des liberal-progressiven Paradigmas war jene kurze und nunmehr fast vergessene Phase, in der die von Milton Friedmans monetaristischer Theorie inspirierte Politik des freien Marktes in den 1970er und 1980er Jahren populär war. Hiervon waren auch Ronald Reagans Versuche beeinflusst, den Haushalt zu konsolidieren und den öffentlichen Sektor zu verkleinern – Vorhaben, an denen seine Regierung im Großen und Ganzen gescheitert ist. In jüngerer Zeit hat der von den USA im Inneren wie auch international installierte Überwachungsapparat

den Vorwurf provoziert, dass das Land einen ähnlichen Totalitarismus pflege wie er sonst Russland und China zugeschrieben werde. Und die amerikanische Außenpolitik wird von Denkern wie Noam Chomsky als imperialistisch beschrieben. China hat zweifelsohne ebenfalls Probleme mit äußeren Mächten, gleichwohl rühren diese eher von einem stillen Misstrauen als von offenen Konflikten her. Die zwei Opium-Kriege und die ausbeuterischen, einseitigen Beziehungen zwischen China und dem Vereinten Königreich sowie mit Russland und Frankreich im 19. Jahrhundert lasten immer noch schwer auf der nationalen Psyche dieses Landes, das eine stolze Kultur pflegt. Seine gegenwärtigen Felix Flos  —  »Eine Katze, die Mäuse fängt, ist eine gute Katze.«

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Versuche, eine heimische Konsumkultur zu schaffen und die zögerliche Haltung hinsichtlich der Liberalisierung seiner Währung mag ein Unbehagen gegenüber dem Vertrauen in äußere Mächte widerspiegeln. Klar ist, dass die Vereinigten Staaten, politisch und ökonomisch gesprochen, einen ideologischen Nukleus ausgebildet haben, dessen DNA einige Ähnlichkeiten mit der von China aufweist, was vermutlich schon vor den jüngsten Entwicklungen der Fall gewesen ist. Während China den Kapitalismus und Konsumismus aufgreift, der für die entwickelte Welt typisch ist, scheinen sich die USA immer mehr zu einem zentral verwalteten sozialistischen Land zu verwandeln. Das bedeutet, dass sich die Chinesen mit den sozialistischen Reformen, die von dem Demokraten Frank Underwood forciert werden, selbst identifizieren und im Setting der Sendung Dinge wahrnehmen können, nach denen sie selbst streben. Das betrifft insbesondere Chinas Ziel, die Vereinigten Staaten als das Land mit dem höchsten Bruttoinlandsprodukt abzulösen – ein Ziel, dem es stetig näher rückt. Für die chinesischen Zuschauer, die sich wünschen, dass ihr Land den von den USA geebneten demokratischen Weg einschlägt, dürfte die Serie jedoch eine Ernüchterung bedeuten, da sie die Erkenntnis nahelegt, dass alle politischen Systeme mit Korruption und den Folgen brutaler Machtgier zu kämpfen haben. House of Cards ist unparteiisch, beleuchtet aber auch die sachfernen Vorgänge des Politikprozesses und seine komplexen Konsequenzen für die Menschen. Die Serie malt ein ziemlich brutales Bild von Politik und unterstützt damit die These, dass Macht korrumpiert und eigentlich nur Soziopathen die geeigneten Mittel für das Überleben in der politischen Welt mitbringen. Wenngleich also Makel und Skrupellosigkeit von Politikern dargestellt werden, zielt die Serie nicht im eigentlichen auf die inhaltlichen Dimen­sionen von Politik ab. Trotz der Leidenschaft der chinesischen Mittelklasse für die politische Nachahmung des großen Rivalen bleiben jedoch einige wichtige Unterschiede zwischen den Kulturen der Vereinigten Staaten und Chinas nach wie vor bestehen, weshalb Chinesen einige Aspekte von House of Cards anders wahrnehmen und verstehen. Beide Länder sind in einem gewissen Sinne idealistisch, aber jedes auf eine ganz unterschiedliche Weise. Während die USA auf individualistischen Prinzipien gegründet wurden, hat die chinesische Ideologie stets Werte wie die konfuzianische Harmonie, Einheit und kollektive Sicherheit hervorgehoben. Das mag auch erklären, warum ein kollektivistisches System wie der Kommunismus solch eine mächtige Kraft in diesem Land werden konnte. Im Augenblick fokussiert die politische Linie der Regierung im Übrigen auch wieder auf die Regeneration der

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großen chinesischen Nation, indem sie Werte wie nationale Solidarität und Wachstum beschwört. All das bedeutet, dass die Chinesen ihrer Führung implizit durchaus trauen und nicht bereit sind, den Status quo zu hinterfragen. Der ihnen inhärente Pragmatismus akzeptiert das Missmanagement und die Schwächen der Regierenden, wenn nur messbare Erfolge dabei herauskommen. Wenn man sich die nebulösen Worte und Handlungen chinesischer Regierungsvertreter seit der Gründung des Staates und den Graben zwischen den Hoffnungen und der Realität in der tragischen Geschichte des Landes vergegenwärtigt, dann wird die vordergründig schizoide Haltung der Chinesen – eine Mischung aus Leichtgläubigkeit und hartnäckigem Stoizismus, der bei der Planung künftiger Handlungen die wahrscheinlichen Konsequenzen stärker als die Intentionen gewichtet – besser nachvollziehbar. Viele Chinesen sind davon überzeugt, dass ihre Repräsentanten zumindest teilweise aus eigenen egoistischen Interessen in die Politik gegangenen seien. Hier dreht sich das politische Spiel in erster Linie um die Absicherung von Macht. Das amerikanische Pendant ähnelt dagegen mehr oder weniger einem Beliebtheitswettbewerb. Wobei andererseits einiges dafürspricht, dass Frank Underwood eine politische Agenda verfolgt, etwa wenn er die Verabschiedung eines bildungspolitischen Gesetzesentwurfs vorantreibt, der dann später jedoch zu einer spärlichen Kompromisslösung zusammengedampft wird. Doch dies ändert nichts an der Ehrbarkeit von Franks Anliegen oder der Wahrnehmung des Erreichten als etwas Positivem. Tatsächlich äußerten sich einige chinesische Zuschauer, die man zu ihrer Meinung über die Serie befragte, überrascht darüber, dass der Charakter des Frank Underwood von den Machern der Serie als Bösewicht konzipiert wurde. Aus ihrer Sicht kommt es allein darauf an, dass das Eigeninteresse mit der Wahl von Mitteln einhergeht, deren Anwendung zu irgendeinem vorzeigbaren Guten führt. DES EINEN BÖSEWICHT IST DES ANDEREN HELD Frank Underwood und Deng Xiaoping stellen beide komplexe und facettenreiche Figuren dar. Eine nähere Betrachtung enthüllt gravierende Ähnlichkeiten zwischen den beiden Männern und trägt zur Erklärung bei, warum die Chinesen die Figur des Frank Underwood so sehr in ihr Herz geschlossen haben. Beide stammen aus bescheidenen Verhältnissen – Frank aus einer Familie von Pfirsich-Farmern in Gaffney, South Carolina und Deng aus einer Kleinstadt in der Provinz Sichuan. Beide haben sich eine Vorliebe für ihre Heimatbräuche bewahrt. Während Frank Zwiebelringe und Ribs liebt, schwor Felix Flos  —  »Eine Katze, die Mäuse fängt, ist eine gute Katze.«

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Deng, neben französischem Kaffee, Wein und Croissants, auf seine heimische sichuanische Küche. Beide Männer stellen überaus patriotische und konservative Figuren dar, die sich linker Ideologien bedienen, wenn sie ihre Ziele befördern. Hinsichtlich der hochumstrittenen Marktlösung zur Rettung der niedergehenden Wirtschaft zitierte Deng einst das sichuanische Sprichwort: »Es ist ganz gleich, ob die Katze schwarz oder weiß ist; eine Katze, die Mäuse fängt, ist eine gute Katze.« Als der junge Deng im Rahmen eines Arbeitsaustauschprogramms nach Frankreich ging, fragte ihn sein Vater, was er in Frankreich zu lernen hoffe. Der Sohn antwortete, er wolle »Wissen und Wahrheit des Westens erlernen, um China zu retten«. Historiker wie Mobo Gao meinen, Deng sei weniger ein idealistischer Kommunist als vielmehr ein engagierter Nationalist gewesen, der den Kommunismus als das Mittel betrachtete, welches geeignet sei, Chinas Position schnellstmöglich zu verbessern. Diese politische Ambivalenz war prägend für Dengs gesamte Karriere. Auch Frank ist, oberflächlich betrachtet, nur ein machtgieriger Politiker, dessen politische Schritte stets nur der Täuschung dienen. Doch Szenen aus der zweiten Staffel, in denen er seinen Vorfahren Augustus Elijah Underwood im Rahmen der Nachstellung einer Bürgerkriegsschlacht »trifft« und seinen Absolventenring aus dem Militärcollege als Ausdruck der Verbundenheit mit seinen Vorvätern vergräbt, dürften seinen wahren Glauben enthüllen. Frank hat – ebenso wie Deng – eine Militärkarriere hinter sich, hat seinen Abschluss am »Sentential« gemacht – einem fiktiven Analogon zur »Citadel«, einer realen Militäruniversität in South Carolina. Diese Verbindung mit dem Militär und sein Bewusstsein für die Last der militärischen und nationalen Geschichte sind, ebenso wie seine Südstaaten-Herkunft, Charakteristika, die man eher mit Vertretern der republikanischen Grand Old Party als mit Demokraten assoziiert. Ihrem militärischen Hintergrund entsprechend sind beide Figuren strenge Autoritaristen, die unterlegene Gegner nicht gerade weich behandeln. In der ersten Staffel tadelt Franks Ehefrau Claire, die viel von einer Lady Macbeth hat, ihn dafür, dass er sich bei ihr entschuldigt – sie hält dies für ein Zeichen der Schwäche: »Mein Ehemann entschuldigt sich nicht – nicht einmal bei mir.« In der zweiten Staffel sagt er seinem alkoholsüchtigen Bürochef Doug Stamper, er solle sich zusammenreißen: »Ich habe noch nie jemandem eine dritte Chance gegeben, bis heute.« Keine Geringere als die Eiserne Lady selbst, Margaret Thatcher, entdeckte seinerzeit das Ausmaß von Dengs feurigem Temperament, als dessen Autorität daheim zunehmend infrage gestellt wurde. In den Verhandlungen über die Frage, ob Hongkong Teil von China werden solle, traf sie sich mit Deng, der dabei Tabak kaute und regelmäßig

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laut in einen Spucknapf spuckte, was er gezielt dazu einsetzte, seine Gegner in Verhandlungen aus der Ruhe zu bringen und so einen psychologischen Vorteil zu gewinnen. Da sie wusste, dass die Rückgabe unvermeidbar war, spielte sie volles Risiko, um Westminster mit gutem Gewissen mitteilen zu können, dass alles getan wurde, um die Kolonie zu retten. Von Thatchers trotziger Haltung verärgert, schrie Deng einige Kommentare in Mandarin hinaus – einer davon besagte, man müsse der Premierministerin wohl ihren Eigensinn aus dem Kopf »bomben«. Zweifellos wurden beziehungsweise werden beide Figuren auf dem Weg nach oben auch gleichermaßen von Weggefährten und ehemaligen Mentoren im Stich gelassen. In House of Cards bildet die Weigerung von Präsident Walker und seiner Regierung, Frank zum Innenminister zu ernennen, den Aufhänger der gesamten Serie. Ebenso wurde Deng, aufgrund von Maos Argwohn hinsichtlich der wahren politischen Absichten seines Protegés, nach einem Blitzaufstieg zur rechten Hand des Großen Vorsitzenden plötzlich aufs Land zurückversetzt, wo er während der Kulturrevolution als Mechaniker in einer Traktorenfabrik arbeiten musste. In beiden Fällen wurde durch den initialen politischen Niedergang der Samen für den späteren Sieg gestreut, durch den jene, welche die Stärke der beiden Figuren unterschätzt hatten, schließlich bitter bezahlen mussten, direkt oder indirekt. Während der Kulturrevolution wartete Deng, bis Mao gestorben und Hua Guofeng als dessen Nachfolger an die Macht gekommen war. Dieser rehabilitierte Deng politisch und schloss die Viererbande – eine politisch mächtige Clique, der auch Maos Frau Jiang Qing angehörte, die für die Verfolgung Dengs und anderer hochrangiger Politiker während der Kulturrevolution verantwortlich gewesen war – aus der Partei aus. Nun, da die Viererbande aus dem Weg geräumt war, gelang es Deng, Hua auszumanövrieren und bis 1980 aus allen Ämtern zu entfernen, um auf diese Weise schließlich den Status von Chinas »größtem Vorsitzenden« zu erlangen, obwohl er keines der offiziellen Staatsämter bekleidete. Eine solch gerissene und versierte politische Operation, die ein hohes Maß an Geduld, Planung und Kriegslist erfordert, weist starke Ähnlichkeiten zu Frank Underwoods Handlungen in der ersten Staffel auf, wo er sich die Gefolgschaft eines instabilen Abgeordneten aus Pennsylvania, Peter Russo, sichert, ihn zu einer Kandidatur für die Gouverneurswahl überredet, über Medienkontakte seinen Untergang einfädelt und den aufgebrachten Vizepräsidenten, der ebenfalls aus Pennsylvania stammt, zu einer weiteren Kandidatur für sein ehemaliges Amt animiert, indem er mit dessen Eitelkeit und Unzufriedenheit spielt – um sich auf diese Weise selbst die Vizepräsidentschaft zu sichern. Felix Flos  —  »Eine Katze, die Mäuse fängt, ist eine gute Katze.«

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Wie Frank, der abwechselnd unterwürfig, schmeichlerisch, aufrichtig, intrigant und offen bösartig ist, war auch Deng ein Chamäleon, ein entscheidender Vorteil in einem Land mit einer so stürmischen jüngeren Geschichte und verräterischen politischen Atmosphäre wie China. Während seiner ganzen politischen Karriere war sein Pragmatismus den sozialistischen Hardlinern ein Dorn im Auge, in den 1980er Jahren wuchsen in der Partei zudem die Bedenken, die durch marktwirtschaftliche Prozesse ermöglichte Wohlstandsvermehrung könnte langfristig die Machtstellung der KP gefährden. Jedenfalls war Deng gezwungen, mehrere Hüte zu tragen. Er stieg während des chinesischen Bürgerkrieges und der japanischen Invasion innerhalb der Partei auf, überlebte eine Säuberungsaktion, um sich bald darauf, zuerst innerhalb von Maos Machtzirkel, wenig später aufgrund seiner Propagierung einer pragmatischen Politik während des vorangegangenen »Großen Sprungs nach vorn« im Zuge der Kulturrevolution erneut in einer Paria-Position wiederzufinden. Noch als er das Steuerruder übernommen und die interne Oppo­ sition zum Schweigen gebracht hatte und ein Bild absoluter Macht von ihm gezeichnet wurde, war er die Zielscheibe öffentlicher Herabwürdigung und Verärgerung. Er unterstützte populäre Dissidenten wie Hu Yaobang, dessen Tod den Aufstand von 1989 auslöste, der am Tian’anmen-Platz niedergeschlagen wurde – eine Maßnahme, von der viele denken, dass Deng sie initiiert habe, um zu verhindern, dass die rivalisierenden Fraktionen innerhalb der Partei das Land in einen Bürgerkrieg stürzen. Zweifellos hat diese Affäre seine Macht innerhalb der Partei geschwächt und zur Folge gehabt, dass die dritte Generation der Parteiführung einem doktrinären Sozialismus folgte. Er selbst setzte sich zur Ruhe und reiste durch den Süden des Landes, um dort die freie Marktwirtschaft zu propagieren und sich einmal mehr in der Rolle eines Renegaten zu gefallen. Bei dieser Inszenierung wurde er von einem Journalisten unterstützt, der unter dem Pseudonym »Huangfu Ping« viele Leitartikel für die in Shanghai ansässige Zeitung Liberation Daily verfasste und darin die von Deng vorangetriebenen Marktreformen propagierte. Hier haben wir eine weitere Parallele zu Frank Underwoods Ausnutzung der Journalistin Zoe Barnes, die er mit Informationen versorgt, welche seine Rivalen zerstören und ihn selbst in einem guten Licht dastehen lassen. Dank der öffentlichen Unterstützung, um die Deng auf seiner Reise erfolgreich geworben hatte, konnten die Reformen des Jahres 1993 verabschiedet werden – die Zukunft Chinas war damit gesichert. Die Tatsache, dass Chinas gebildete obere Mittelschicht, die im Schatten dieser Reformen aufgewachsen ist, die Mehrheit der House-of-Cards-Zuschauer ausmacht, ist sehr wichtig. Während die alte Garde langsam ausstirbt,

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sind dies die Menschen, die Chinas zukünftigen Kurs bestimmen werden – also über die Frage, ob China vom Pfad seiner bisherigen Geschichte abweichen oder diesem weiter folgen wird. Währenddessen sind die USA mit der längsten Konsolidierungsphase konfrontiert, die je auf eine Finanzkrise gefolgt ist, weshalb sich ihre Politiker einigen schwierigen Fragen hinsichtlich der Nachhaltigkeit des von ihnen installierten neuen Kurses – und dessen Vereinbarkeit mit dem Gründererbe ihrer Nation – stellen müssen. Kurzum: Welche Lehren man auch immer aus dem Erfolg von House of Cards in China und den USA ziehen mag – mit Sicherheit werden die nächsten beiden Jahrzehnte spannende Episoden ihrer Geschichte enthalten, die es wert sind, dass man ihrem Plot aufmerksam folgt.

Felix Flos  —  »Eine Katze, die Mäuse fängt, ist eine gute Katze.«

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ANALYSE

SOUVERÄNE BEISSER? DIE GERINNUNG DES AUSNAHMEZUSTANDS BEI THE WALKING DEAD Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral! Bertolt Brecht

ΞΞ Julia Kiegeland / Christopher Schmitz

Sie sind da – überall. Unzweifelhaft angekommen im urbanen Jetzt vertrauter Umgebungen. In all ihrer visuellen Pracht wanken die Massen Untoter durch Straßenschluchten, Vorgärten und Schlafzimmer. Nicht mehr das verlassene Haus im Wald1 oder eine abgelegene Insel2 stellen den Handlungsrahmen des filmischen Geschehens dar, sondern die moderne Zivilisation selbst. The Walking Dead ( TWD) illustriert dabei eine Zombie-Apokalypse, die ganz im Heute, in der Welt, wie wir sie kennen, angekommen ist. Die Bedeutung des Genres hat sich gewandelt, »denn es geht nicht mehr um allegorisierte Kämpfe zwischen Bevölkerungsteilen, Minderheiten und Klassen, sondern um den Kampf des Prinzips der Sicherheit und der Kontrolle gegen alle, gegen jede Störung, egal, von wem.« »Gute Zombiefilme«, so der Kultur-

1  »Night of the Living Dead«, Regie: George A. Romero, USA 1968.

wissenschaftler Diedrich Diederichsen weiter – und dasselbe gilt für Serien –, »zeigen eindrucksvoll, was eine Logik der Feindschaft und des Ausnahmezustands aus den Leuten macht.«3 All diese Topoi sind eingebunden in ein diffuses Bedrohungsszenario globalen Ursprungs und Ausmaßes. Das kulturelle Hintergrundmotiv, vor dem sich alle neueren Apokalypse-Szenarien abspielen, sind nach einhelliger Meinung die Terroranschläge vom 11. September: »[P]opular culture has been colored by the fear of possible terrorist

2  »White Zombie«, Regie: Victor Halperin, USA 1932. 3  Diedrich Diedrichsen, Blut, Schlamm und Barbecue, in: Zeit Online, online einsehbar unter http://www.zeit.de/2007/35/ Irak-Allegorien/komplettansicht [eingesehen am 25. 09. 2014].

attacks and the grim realization that people are not that safe and secure as they might once have thought.«4 So nutzt auch TWD die Angst vor den Fremden und dem, was weder einschätzbar noch nachvollziehbar scheint; Sicherheit wird zum omnipräsenten Primat. Im Laufe der Serie tritt dabei der eigentliche Kampf gegen die so

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INDES, 2014-4, S. 100–109, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014, ISSN 2191-995X

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4  Kyle Bishop, Dead Man Still Walking: Explaining the Zombie Renaissance, in: Journal of Popular Film and Television, Jg. 37 (2009), H. 1, S. 16–25, hier S. 17.

genannten Beißer (der Begriff »Zombie« wird von den Charakteren lediglich marginal verwendet) sukzessive hinter das Gefecht der Menschen miteinander – gegeneinander – untereinander zurück. TWD konstruiert ein Charakterdrama, dessen apokalyptischer Kontext eine Gesellschaft am Rande ihrer Existenz zeichnet. Die Serie basiert auf der Geschichte einer Graphic NovelReihe5, die seit 2004 erscheint und ab 2010 durch den US-amerikanischen Kabelsender AMC produziert wird. In ihr verfolgt das Publikum eine zusammengewürfelte Gruppe Überlebender, die in der Metropolregion Atlanta angesichts einer verfallenden Gesellschaft ihren Kampf um das Überleben aufgenommen hat. Hierbei durchläuft die Gruppe mehrere Bewusstseinsphasen, in denen sich ihre politischen, moralischen und ethischen Werte wandeln. Dieses Szenario ermöglicht einen Blick in die Anatomie des Politischen allgemein und insbesondere des politischen Verhaltens im Schatten allgemeinen staatlichen Verfalls: Der demokratisch sozialisierte Mensch wird mit der grundlegenden Frage konfrontiert, was seine elementaren gesellschaftlichen Normen im Angesicht der Apokalypse noch gelten. INFIZIERTE ABJEKTE/INFECTED ABJECTS … Rick als Hauptcharakter überlebt das von den Untoten überrannte Krankenhaus. Verwirrt und verängstigt stößt er in einem angrenzenden Park auf einen stark verwesten und nur noch bis zur Hüfte existenten Beißer. Dieser bemüht sich redlich, trotz seines irreparablen körperlichen Zustands, Rick zu fassen zu bekommen. Rick beobachtet die Kreatur teils mitleidig, teils verständnislos. Er lässt sie liegen und fährt auf einem Fahrrad weiter in die Stadt hinein … Während zombiehafte Wesen anderswo übermenschlich erscheinende Schnelligkeit (»28 Days Later«) oder eine gefährliche soziale Intelligenz (»I Am Legend«) vermuten lassen, sind TWD-Beißer aufgrund ihres rapiden physischen und geistigen Verfalls im Einzelnen gut regulierbar. Ihre körperliche Verfassung variiert je nach Todesursache und -umstand, wovon auch die ihnen zur Verfügung stehende Anzahl von Armen und Beinen abhängt. Die Beißer verwesen langsam, »leben« jedoch selbst in Einzelteilen weiter. Der separierte Kopf eines Untoten ist daher durchaus in der Lage, menschliche Opfer zu fordern. Der Schrecken der hier zu charakterisierenden Untoten ist daher nicht an ihre übermenschlichen Eigenschaften, sondern an ihr instinktives Verhalten gebunden. Sie folgen Geräuschen, dem menschlichen Geruch und visuellen Reizen. Dies führt dazu, dass verstreute Untote sich relativ rasch 5  Robert Kirkman u. Tony Moore, Days Gone By. The ­Walking Dead Bd. 1, Berkeley 2004.

in Horden zusammenfinden und gemeinsam einem Sinnesreiz folgen. Dabei sind sie selten in der Lage, Hindernisse (bspw. Leitern) aufgrund von intelligentem Verhalten zu überwinden. Primär nutzen sie ihre Körperkraft im Julia Kiegeland / Christopher Schmitz  —  Souveräne Beißer?

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Ensemble, um Zäune, Türen oder Fenster einzudrücken. Nur in der Gruppe, nur als Masse und im Kollektiv besitzen die Beißer in ihrer unaufhaltsamen Gier nach Fleisch ihre bedrohliche Durchschlagskraft.6 Im Verlauf der ersten drei Staffeln wird der Gruppe der Überlebenden immer deutlicher bewusst, dass Beißer bereits an allen potenziellen Zufluchtsorten auf sie warten und eine gefahrlose Koexistenz nicht gestaltbar ist. Die serielle Darstellung einer hochgradig ansteckenden Masse, die keine Individuen mehr kennt, erzeugt dabei eine permanente Bedrohung der Überlebenden – allein durch die Ausweglosigkeit der Situation. Denn nicht nur ein vielleicht vermeidbarer Biss, sondern bereits etwas Blut oder Speichel reichen aus, um die eigene »Unmenschlichkeit im menschlichen Körper«7 zu wecken; das Zombiehafte wohnt bereits in jedem noch Überlebenden – unumkehrbar und ohne Aussicht auf Heilung. Die Erkenntnis „We’re all infected“8 steht dabei für eine Raffinesse im TWD-Universum: Wer stirbt, wandelt sich ohnehin zum Untoten, zum Beißer – eben zu einem der Anderen. Was bleibt, ist Erlösung. Nur die Zerstörung des zentralen Nervensystems vermag einen Beißer endgültig zu stoppen. Das Subjekt trifft im TWD-Universum insofern auf die eigenen, gesellschaftlich definierten Grenzen, denn die Untoten sind biologisch gesehen Teil des menschlichen Selbst und jedem nun lebenden Menschen wohnt ein Beißer inne. Die Literaturtheoretikerin Julia Kristeva bezeichnet solch verstörende Grenzüberschreiter wie die Beißer als Abjekte. Diese sind zwar Teil des Subjekts – werden von diesem aber vehement abgelehnt, um die eigene menschliche Identität aufrechtzuerhalten.9 Somit stellt die von den Charakteren so gefürchtete Verwandlung nicht eine Eventualität dar, sondern eine zwangsweise zu erduldende und unwiderrufliche Transformation des bisher gesellschaftlich konformen menschlichen Seins. Das Subjekt verfällt, verliert seine Grenzen und seinen Körper. Flucht scheint zwar immer wieder möglich – ein Entkommen jedoch nicht. Die gewaltsame Auflösung des Körpers und seine brutale Verteidigung sind dabei die wesentlichen Parameter für ein attraktives Schreckensmodell, das hohe Zuschauerzahlen und Einschaltquoten verspricht. Moderne Zombiefilme sind seit den 2000er-Jahren daher zumeist als Apokalypse aufgebaut, als Weltuntergang mit Monstern vor der eigenen Tür. Diese Zombies sind jedoch keineswegs die einzigen, noch nicht einmal die fatalsten Monster, die die Grenze zum Menschlichen markieren. Viel bedrohlicher sind Mitmen-

6  Vgl. Nadia M. Micheilis, Zombie Apokalypse Utopia, Leipzig 2013, S. 30. 7 

Ebd., S. 14.

8  The Walking Dead, S02E13 (»Beside the Dying Fire«).

schen und ihr unkalkulierbares Verhalten. Der Zombie an sich schafft keinen Verrat, kennt keine Missgunst und wird so im Verlauf der Serie zwar zum Weichensteller der Apokalypse, jedoch nicht zu ihrem Motor.

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Politikserien — Analyse

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9  Vgl. Kristeva, Julia, Powers of Horror. An Essay on Abjection, New York 1982.

RUINS AND RESURRECTION: (ÜBER)LEBEN IN DER POSTAPOKALYPSE Alles, was das Leben der Menschen vor der Katastrophe geprägt hat – der tägliche Stau auf dem Weg zur Arbeit, die Börsennachrichten, das Mittagessen in der Kantine oder der Coffe2Go am Bahnhof – ist schlicht bedeutungslos geworden. Die Gesellschaft, so wie die Protagonisten und auch das Publikum sie kannten, ist Vergangenheit; kollabiert unter der Last einer Katastrophe apokalyptischen Ausmaßes. Gesellschaftliche Grundregeln stehen mit einem Mal wieder grundsätzlich zur Debatte. Das tägliche Handeln der Überlenden orientiert und ordnet sich neu. Alles richtet sich nunmehr nach der Notwendigkeit aus, das direkte Überleben zu sichern. Individuelle wie auch kollektive Begehren werden plötzlich wieder unmittelbar und simpel: Wasser, Nahrung, Unterkunft. An der Erfüllung dieser basalen Bedürfnisse richtet sich das tägliche Leben, der tägliche Überlebenskampf aus – und erst hiervon ausgehend eröffnet sich der Raum, der den Protagonisten zur Verfügung steht, um soziopolitische Vorstellungen zu entfalten und umzusetzen. Indem sich den Überlebenden eine Gesellschaft im Fragment präsentiert – mehr noch: die Überlebenden sind die Fragmente der Gesellschaft –, spiegelt jede ihrer Handlungen eine (gesamt)gesellschaftliche Dimension wider. Nachzuvollziehen, inwieweit sich ihr Kampf nicht nur um das nackte Überleben, sondern auch um die Gestaltung des zivilen Lebens dreht,10 gibt Aufschluss über die Idee einer demokratisch sozialisierten Gesellschaft im Ausnahmezustand. Im Laufe der ersten drei Staffeln wird deutlich, wie hart die Überlebenden innerhalb ihrer kleinen Gruppe auch um prä-apokalyptische Werte und die gewohnte politische Kultur kämpfen wollen. Die Grundpfeiler der Demokratie werden dabei fortwährend verrückt, um dieselbe zu beschützen. Denn um die Demokratie zu retten, ist kein Weg zu weit, kein Opfer zu groß, kein Mittel unangemessen – nicht einmal das (vorübergehende?) Op10  Vgl. Giorgio Agamben, Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a. M. 2002, S. 84 ff.

fer der Demokratie selbst.11 Beim Ausnahmezustand handelt es sich um ein »Niemandsland zwischen […] zwischen Rechtsordnung und Leben«.12 Er soll ein Dilemma lösen, mit dem sich rechtsstaatliche Demokratien konfrontiert sehen können: die Be-

11  Vgl. Clinton L. Rossiter, Constitutional Dictatorship. Crisis Government in the Modern Democracies, Princeton 1948, S. 314. 12  Vgl.Giorgio Agamben, Ausnahmezustand. (Homo sacer II.1), Frankfurt a. M. 2004, S. 8. 13 

Vgl. ebd., S. 9.

wältigung einer Bedrohung, die die Demokratie in ihrem Wesen in Frage stellt und die nur durch Mittel abgewendet werden kann, deren Anwendung demokratischen und rechtsstaatlichen Grundsätzen mitunter fundamental widerspricht. Im Ausnahmezustand löst sich das Sprichwort ein, demzufolge Feuer bisweilen nur mit Feuer zu bekämpfen sei. So »erweist sich der Ausnahmezustand in der Politik der Gegenwart immer mehr als das herrschende Paradigma des Regierens«.13 Der Ausnahmezustand droht sich also Julia Kiegeland / Christopher Schmitz  —  Souveräne Beißer?

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zu verstetigen. Die Notmaßnahme, die den Ausnahmezustand ursprünglich beschreibt, weicht dem Dauerzustand. Dies wird auch in TWD illustriert. In der ersten Staffel sind hierfür zwei Szenen bezeichnend. Die erste spielt in einem Krankenhaus, wo einer der Überlebenden, Shane, versucht, den im Koma liegenden Rick zu retten. Im Umfeld beginnen Soldaten des Militärs, scheinbar wahllos Patienten, Personal (und Beißer) zu töten. Die Apokalypse muss im vollen Gange sein. Motiv des Militärs: die Infektion weiterer Menschen zu verhindern, da das Krankenhaus unhaltbar geworden ist. Ähnlich bietet sich eine weitere Szene aus Shanes Perspektive dar: Zusammen mit Ricks Frau Lori und deren Sohn Carl steht dieser in einem Stau vor der Großstadt Atlanta. Sie sind auf dem Weg in die Stadt, um dort Schutz in einem Notfalllager zu suchen, als Militärhubschrauber über

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sie hinwegfliegen. Die drei werden fassungslos Zeugen, wie die Hubschrauber die Straßen der Stadt mit Napalm bombardieren. Der Feuersturm, der Atlanta verschlingt, markiert – ebenso wie die präventive Tötung im Krankenhaus – das Ende demokratischer Rechtstaatlichkeit und die Inkraftsetzung des Ausnahmezustands. In dem Bemühen, der ausufernden Bedrohung durch die Untoten Herr zu werden, wird diese Bevölkerung in als unhaltbar und verloren angesehenen Gebieten selbst entbehrlich und letztlich mit den Beißern gleichgesetzt. Obschon lebendig, gelten sie bereits als Untote – als the walking dead.14 Gewaltanwendung wird hier zum Paradoxon: Indem sie die Infizierten außerhalb zivilisatorischer Normen setzt, wird die Gewalt gebilligt. Dadurch droht sie jedoch, alles Leben ohne Ausnahme außerhalb dieser Normen zu setzen.15 Die Tötung von Zivilisten wird mit Verweis auf den Zweck – die Rettung der Gesellschaft – legitimiert, obschon diese Handlungsweise jedes rechtsstaatlichen Charakters entbehrt und demokratische Werte fundamental in Frage stellt. Für die Überlebenden indes markiert dies zugleich eine Zäsur. Obwohl sich die Staatsgewalt auf ihrem Höhepunkt befindet, offenbart sie damit auch zugleich ihre Ohnmacht. Das Hobbes’sche Versprechen wird brüchig: Der Leviathan ist nicht mehr fähig, den Schutz der Bevölkerung zu garantieren. Nicht länger dem staatlichen Gewaltmonopol unterworfen, sind die Überlebenden nun auf sich selbst zurückgeworfen. Sie sind nunmehr im doppelten Sinne befreit: sowohl von staatlicher Herrschaft als auch von staatlich garantierter Sicherheit. Nahezu Gleiches gilt für die Auseinandersetzung mit Werten wie Humanität und Zivilität – beides erodiert in zunehmendem Maße dadurch, dass die Gruppe jenseits des Staates gezwungen ist, sich in dreifacher Hinsicht zu verhalten: gegenüber den alten Werten, gegenüber sich selbst und gegenüber anderen Überlebenden. Gerade in der Zeit unmittelbar nach der Apokalypse lässt sich beobachten, wie die Überlebenden Halt und Orientierung in gewohnten Strukturen suchen und dennoch erfahren müssen, dass sich unter den nunmehr geänderten Rahmenbedingungen stetig das Primat der schieren Daseinssicherung durchsetzt. Als in der ersten Staffel ein Mitglied 14  Vgl. Dawn Keetley:, Introduction, in: Dies. (Hg.), »We’re All Infected«. Essays on AMC’s The Walking Dead and the Fate of the Human, Jefferson 2014, S. 3–25, hier S. 7. 15  Vgl. Steven Pokornowski, Burying the Living with the Dead. Security, Survival and the Sanction of Violence, in: Keetley, »We’re All Infected«, S. 41–55, hier S. 41.

der Gruppe, Merle, nach einem rassistisch motivierten Streit auf dem Dach eines Hochhauses an ein Rohr gekettet zurückgelassen wird, diskutiert die übrige Gruppe nach der Rückkehr ins Basislager über Merles Schicksal. Merle scheint auf diesem Dach relativ sicher vor den Horden Untoter zu sein, ihm droht eher ein Tod durch Durst und Hunger. Angesichts dessen werden Zweifel am Sinn einer Rettungsmission laut. Nicht ohne Widerspruch bricht Rick, der Merle selbst angekettet hat, schließlich mit drei weiteren freiwilligen Überlebenden auf, um Merle zu retten. Die Diskussion porträtiert einen Julia Kiegeland / Christopher Schmitz  —  Souveräne Beißer?

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Konflikt zwischen der überlebenslogischen Perspektive, nach der es unsinnig wäre, das Leben von drei Menschen zu riskieren, um ein einzelnes zu retten. Dagegen stellt sich die Logik der Menschenwürde, welche nicht die Frage nach der Verhältnismäßigkeit stellt und sich einer Priorisierung und Aufrechnung verweigert. Stattdessen wird jedes einzelne Leben der Schutzpflicht der Gesellschaft unterstellt. Die Mission scheitert, Weil Merle nicht an die Rückkehr der anderen glaubt, nimmt er sein Schicksal selbst in die Hand, indem er sich die andere abtrennt. Er hat das Dach bereits verlassen, als die Rettungstruppe schließlich dort eintrifft. Weil das Basislager in Abwesenheit der Retter von einer Horde Untoter überrannt wird und mehrere Überlebende diesem Angriff zum Opfer fallen, wird durch dieses Scheitern die Vergeblichkeit der prä-apokalyptischen Denkweise betont. Die überlebenslogischen Einwände triumphieren im Nachhinein über die Würde und den Wert des einzelnen Individuums. Dieser Lerneffekt begleitet die Überlebenden im weiteren Verlauf der Handlung. In der zweiten Staffel hat die Gruppe mittelfristig Zuflucht auf einer Farm gefunden, die relative Sicherheit vor den marodierenden Horden verspricht. Bei einer Bergungstour in den nächstgelegenen Ort geschieht ein Tabubruch, als Rick zwei fremde Überlebende in vorauseilender Selbstverteidigung – also präventiv – tötet, um den eigenen Stützpunkt geheimzuhalten und die Sicherheit der eigenen Gruppe, die inzwischen zu einer Art Familienverbund geworden ist, zu gewährleisten. Einen weiteren, verletzten Fremden rettet die Gruppe schließlich vor den Untoten und nimmt ihn mit zurück zur Farm, um seine Wunden zu versorgen. Ihre Hilfsbereitschaft stellt die Gruppe jedoch vor ein Dilemma: Weil sie auch in diesem Falle um die Sicherheit der Farm fürchten, können sie den Geretteten, Randall, nicht einfach laufen und zu seiner eigenen Gruppe zurückkehren lassen. Ein Versuch, ihn weitab der Farm freizulassen, misslingt. Schließlich findet sich die ganze Gruppe in einer Art Beratungssitzung von Geschworenen wieder, in der sie über das Schicksal Randalls entscheiden. Bis auf einen einzigen Charakter, einen älteren Humanisten namens Dale, ist niemand bereit, für das Leben Randalls einzutreten – so übermächtig ist die Furcht vor anderen Menschen und ihrem unkalkulierbaren Verhalten. In einem emotionalen Plädoyer weist Dale darauf hin, dass sie ihre Identität zu verlieren und alle Werte zu verraten drohen: Indem die Gruppe der Überlebenden Randall aus Sicherheitserwägungen exekutieren möchte, vereint sie die Funktionen von Richter, Henker und Geschworenen in Personalunion. Aus purem Sicherheitsinteresse opfert die Gruppe die Rechtstaatlichkeit der Willkürjustiz und verrät damit im Grunde jene Werte, die zu bewahren ihnen bis dato so viel abverlangt hat.

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Hier herrscht dieselbe Logik wie bei der Bombardierung Atlantas durch das Militär. Der Konflikt der Gruppe mit sich selbst wird damit auch zum Konflikt mit der Allgemeinheit. Unmittelbar nach seinem Einspruch für Randall fällt Dale einem einzelnen umherstreifenden Beißer zum Opfer und stirbt – und mit ihm das Bewusstsein und die Wertschätzung für den grundlegenden Humanismus. In der dritten Staffel, die Farm wurde zwischenzeitlich überrannt, vollzieht sich die Wende zum schieren Kampf ums Dasein schließlich endgültig. Der Kreis zwischen dem Krankenhaus und Atlanta hat sich geschlossen: Ironischerweise ist es ein Gefängnis, also eine weitere mit dem Staat und der Staatlichkeit assoziierte Einrichtung, die hier die Szenerie für den Wandel bereitstellt. Erschöpft und ausgelaugt von der nicht enden wollenden Flucht, von der schier endlosen Suche nach einer neuen, sicheren Unterkunft, bricht das feine Gebilde aus gegenseitigem Respekt, Anhörung und Meinungsaustausch – aus Diskurs und Demokratie –, das die Gruppe um Rick herum aufgebaut hatte, unter dem Druck der unmittelbaren Not zusammen: »If you’re staying, this isn’t a democracy anymore«16, spricht Rick schließlich aus und unterwirft damit die Gruppe seinem Handeln, seinen Entscheidungen. Denn eine sichere Unterkunft ist dringend nötig: Lori, Ricks Ehefrau, ist hochschwanger. Hier spitzt sich schließlich zu, was über weite Teile der zweiten Staffel bereits angerissen wurde: die Frage nach der Zukunftsfähigkeit der Welt an sich. So sollte der gemeinsame Sohn Carl nach Loris Willen von der Brutalität und Rohheit dieser neuen Welt abgeschirmt werden. Dieselben Zweifel beschäftigen sie hinsichtlich ihres ungeborenen Kindes. Dies drückt sich in einem abgebrochenen Abtreibungsversuch ebenso aus wie in ihrem Verhalten gegenüber ihrem Sohn. Als bei Lori schließlich die Wehen einsetzen, befindet sie sich aufgrund einer Notsituation alleine mit Carl in einem Kellerraum des noch nicht restlos von Beißern gesäuberten Gefängnisses. Abgeschnitten von den anderen obliegt es Carl, seine Mutter durch die Wehen zu begleiten. Die Geburt verläuft nicht ohne Komplikationen. Schließlich sieht sich Carl mit der Entscheidung konfrontiert, mittels eines provisorischen Kaiserschnitts das Leben des Babys zu retten und damit seine Mutter zum Tode zu verurteilen – oder umgekehrt. Auf das Drängen seiner Mutter hin entscheidet sich Carl für die Rettung des Babys. Indem ausgerechnet Carl das Schicksal seiner Mutter besiegelt, um seine Schwester Judith zu retten, vollzieht sich jenseits der darin artikulierten Hoffnung auf die Reste des Guten, die das neugeborene Kind in seinem Leben noch erfahren könnte, zu16  The Walking Dead, »Beside the Dying Fire«.

gleich auch eine pessimistische Wende. Lori – neben Dale die Stimme, die am energischsten für die Wahrung prä-apokalyptischer Gesellschaftsnormen Julia Kiegeland / Christopher Schmitz  —  Souveräne Beißer?

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eingetreten war – verliert ihr Leben durch die Hand ihres Sohnes, den sie vor eben diesen Auswirkungen beschützen wollte. Hier opfert nicht bloß ein Sohn das Leben seiner Mutter, um seine Schwester zu retten. An dieser Stelle triumphiert auch das Angesicht einer düsteren Zukunft über die Reminiszenz an eine bessere Vergangenheit. WIE GEWONNEN SO GERONNEN: DER STÄNDIGE AUSNAHMEZUSTAND Ein Kreis hat sich geschlossen. Zuerst verhalten sich die Überlebenden gegenüber sich selbst, dann gegenüber Fremden. Und schließlich fällt das Verhalten gegenüber Fremden auf die selbst zurück. Sie ringen um Gesellschaft und Moral. Und dann kommen doch wieder Beißer. All dies geschieht ihm Schatten einer zerbrochenen Staatsgewalt. Der Ausnahmezustand hat sich verfestigt. Was als Notwehr im Namen der Demokratie beginnt, ist nun verkrustete und geronnene Realität, die nichts mehr mit Demokratie oder ihren Grundlagen zu tun hat. Das Dasein der Überlebenden entfernt sich immer weiter von einer Hoffnung auf Besserung und richtet sich in einem Zustand ein, der der Beschreibung als Ausnahme spottet. Nicht einmal mehr die Geburt eines Babys symbolisiert Hoffnung, sondern geht einher mit Tod und Verlust. Das Kind kann in dieser Welt nicht hoffnungsvoll oder unschuldig aufwachsen. Das Gefängnis, die Sicherheit hinter Gitterstäben17, präsentiert sich der Gruppe von Überlebenden schließlich als Elysium. Gefangen, um frei zu sein – so lautet das paradoxe Motto ihres Handelns und Daseins. Zugleich ist dies ein Zeichen für verlorene politische Gestaltungsmöglichkeiten. Jede Handlung, die darauf abzielte, Zustände jenseits des Ausnahmezustands aufrechtzuerhalten oder zu erneuern, ist gescheitert. Mehr noch: Jede dieser Handlungen garantierte eine Konfrontation mit den Beißern. Alle politischen Handlungsversuche wurden von diesen bestraft und somit als vergebliche Mühen erkennbar, bis die Überlebenden im vorauseilenden Gehorsam – wie im Falle Carls – die Lektion schließlich verinnerlicht haben. Es gilt mehr und mehr, das Bestehende zu verwalten. Weiterzumachen. Durchzukommen. Dies hat schließlich Konsequenzen für das transportierte Politikverständnis: »Das Paradigma des zur Regel erhobenen Ausnahmezustands wird dergestalt überdehnt, dass es kein anderes Außen mehr geben kann als das einer messianischen Restzeit.«18 Dadurch, dass »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet«19, wackelt in der Apokalypse auch der Souveränitätsbegriff – und damit steht auch zur Disposition, wer überhaupt souverän ist, also in irgendeiner Weise politische Gestaltungsmacht besitzt. Bleibt die Frage, »wer der Souverän ist. Er entscheidet sowohl darüber, ob der extreme

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17  »Safety Behind Bars« ist der Titel des dritten Graphic NovelBandes, der das Gefängnis als Handlungsort einführt. 18  Oliver Marchart, Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben, Berlin 2010, S. 232. 19  Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin 2004, S. 13.

20 

Ebd., S. 14.

21  Vgl. Chris Boehm, Apocalyptic Utopia. The Zombie and the (r)Evolution of Subjectivity, in: Keetley, »We’re All Infected«, S. 126–141; Micheilis, Zombie Apokalypse Utopia.

Notfall vorliegt, als auch darüber, was geschehen soll, um ihn zu beseitigen. Er steht außerhalb der normal geltenden Rechtsordnung und gehört doch zu ihr, denn er ist zuständig für die Entscheidung, ob die Verfassung in toto suspendiert werden kann.«20 Aber letztlich ist der Ausnahmezustand in seinen Anfängen – dem Moment der Entscheidung – bereits eine notwendige Reaktion statt eine geplante Aktion. Souverän ist demnach nicht jener, der passiv reagieren muss, obwohl er über den formalen Beginn des Ausnahmezustands entschieden hat, sondern souverän sind gerade jene, die diese Entscheidung erzwingen. Die Beißer beginnen im Moment ihres Auftretens, die Verfassung der Gesellschaft im Ganzen zurückzuweisen. Sie sind, so gesehen, die souveränen Beißer – obwohl sie dies gerade nicht sein können. Denn: Untote Horden haben weder Verstand noch Agenda – sie sind also entscheidungsunfähig. Vielmehr infizieren sie den Souverän, der daraufhin selbst zum Untoten wird. Mit ihm fault das Politische. Die Überlebenden sind im Angesicht des geronnenen Ausnahmezustands der Entscheidungsunfähigkeit des Souveräns ausgeliefert. Somit ist das Politische nunmehr untot. Die Überlebenden können weder eine eigene Agenda entwickeln noch einen neuen Souverän berufen. Sie können lediglich fliehen, nicht jedoch entkommen. Auf die Welt jenseits des Serienuniversums angewendet, bedeutet dies vor allem eine konservative Mahnung in einer Welt nach dem 11. September, nicht in der Wachsamkeit nachzulassen: Vordergründig lassen sich damit die Sicherheits- und Überwachungsparadigmen in den westlichen Demokratien nach den Terroranschlägen von New York und Washington rechtfertigen. Die gegenwärtigen Einschränkungen sind daher gerade zum Schutze der Demokratie erforderlich. Schließlich könnte es weit schlimmer kommen.

Julia Kiegeland, geb. 1986, studiert im Master Politikwissenschaft und arbeitet am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Sie befasst sich vorrangig mit den Schwerpunkten Politische Theorie und Ideengeschichte sowie der Politischen Kommunikation.

Das momentane Schwinden des Politischen wird so mit dem drohenden Tod jedweder Politik gerechtfertigt. Aus dem Krieg gegen den Terror und seinen Folgen gibt es keinen Ausweg, kein Entkommen. Lediglich die Möglichkeit, das Hier und Jetzt als Restzeit zu erdulden. Das ist die grundlegende, wenn auch unausgesprochene Botschaft dieses post-apokalyptischen Szenarios, das sich bisweilen auch als Utopie präsentiert.21 Dies offenbart letztlich aber auch ein restauratives Politikverständnis: Demokratie ist ein Luxus, keine Selbstverständlichkeit. Dies ist eine Botschaft, die sich in der steten Aneinanderreihung von Ausnahmezustand und zum Scheitern verurteilten Versuchen, ihn auszusetzen und die Demokratie zu

Christopher Schmitz, geb. 1988, arbeitet am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen politische Theorie sowie Netzpolitik und Netzkultur.

bewahren, immer wiederholt, erneuert und schließlich verfestigt. Das Überleben der eigenen Gruppe ist das erste Ziel. Alles andere wird sekundär. Schließlich könnte der Tod überall lauern – in Straßenschluchten, Vorgärten und Schlafzimmern. Julia Kiegeland / Christopher Schmitz  —  Souveräne Beißer?

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DIE SCHILDBÜRGER VON SPRINGFIELD DIE SIMPSONS, EINE AMERIKANISCHE POLITIKSERIE ΞΞ Jöran Klatt

Eigentlich will sie nur weg. Ihr größter Traum ist es, eines der großen Colleges zu besuchen. Dort zu studieren, Gleichgesinnte kennenzulernen und endlich die Freunde zu finden, die sie bislang nicht hat. Sie, die achtjährige Lisa, lebt in der Kleinstadt Springfield, irgendwo im amerikanischen Überall und Nirgendwo. Springfield ist der Schauplatz der Serie, die sich um Lisa und ihre Familie dreht: die Simpsons. Eine unverortbare Comic-Stadt wie Carl Barks Entenhausen, mal nahe an den Bergen gelegen, mal direkt am Meer, dabei angrenzend an die vier Staaten Ohio, Nevada, Maine und Kentucky. Doch genau aus dieser Unverortbarkeit entspringt auch eine Omnipräsenz: Springfield ist ein wenig das Überall der USA , eine Art Querschnitt des Amerikanischen, ein Diorama aus stereotypen Menschen und Lebensräumen, mit denen man das Land verbindet. Immer wieder begegnen wir in dieser Stadt amerikanischen Alltagsmythen, den sogenannten americana. Dieser Begriff meint »alles, was ›typisch amerikanisch‹ ist«1: Fastfoodketten, Baseballfelder, Malls, vorörtliche Wohnhaussiedlungen für die Mittelschicht, Footballstadien, ein Atomkraftwerk usw. Doch die Zeichnung des Amerikanischen in der äußerst erfolgreichen Serie, die 1987 von Matt Groening erdacht und seit 1989 bis heute gesendet wird, außerdem zu den erfolgreichsten Satire- und Comic-Marken der Welt gehört, scheint kein besonders gutes Licht auf das Land der unbegrenzten Möglichkeiten zu werfen. Springfield ist der denkbar ungeeignetste Ort zum Aufwachsen für die hochbegabte Philanthropin Lisa. So empfindet sie dies zumindest. In der 22. Folge der 10. Staffel, »They saved Lisa’s Brain«, beklagt sie in einem offenen Brief den Zustand ihrer Heimat und wendet sich direkt an die Bewohner ihrer Stadt: »We are a town of low-brows, no-brows and ignorami. We have eight malls, but no symphony. 32 bars, but no alternative theatre. 16 stores that begin with ›Le Sex‹.« Und in der Tat lernt man die Bewohner von Springfield in der Serie zumeist als Hedonisten, dazu überwiegend als sehr einfach gestrickte Schildbürger kennen. Der Anspruch an das Gebildete ist in den Simpsons (symbolisiert durch Lisa) fremd im eigenen Land. In der Begegnung mit dem Profanen, der Alltagsdummheit erzeugt die

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INDES, 2014-4, S. 110–119, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014, ISSN 2191-995X

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1  Jörg C. Kachel, Topographia Americana. There’s no Place like Home!, in: Michael Gruteser (Hg.), Subversion zur Prime-Time. Die Simpsons und die Mythen der Gesellschaft, Marburg 2002, S. 167–183, hier S. 169.

Serie eine Selbstreflexivität aus der ihre intelligentesten und humorvollsten Momente hervorgehen. Dabei wird der ewige Kampf zwischen Hoch- und Popkultur, wobei es vielleicht das englische high vs. low culture besser trifft, den die Serie in der Realität durch ihre schichten- und altersübergreifende Akzeptanz inzwischen für sich überwunden hat, in ihr selbst immer wieder thematisiert.2 Popkultur wie die Simpsons ist eben nicht automatisch low culture. Die Simpsons durchzieht ein permament dialektisches Moment: Nicht immer, sind die Vertreter der Hochkultur, wie Lisa, Philantropen, zuweilen sind sie gar von mordlüsternen Rachephantasien gegenüber der Kulturindustrie getrieben und wünschen sich, wie der vom Schauspieler zum (Möchtegern-)Gewaltverbrecher mutierte »Sideshow Bob« gewaltsam »to elevate culture in Springfield.«3 Der talentierte Schauspieler Bob versucht in der Serie immer wieder die Hauptfigur Bart zu ermorden, einerseits aus persönlichen Motiven – immerhin überführte Bart ihn bei der Intrige gegen den eigentlichen Star der Sendung, dessen Sidekick Bob einst war – andererseits im Sinne eines Stellvertreterkrieges zwischen eben high und low culture – steht Bart doch stellvertretend für eine ganze Generation die sich aus Sicht Bobs gegen seine Vorstellungen von guter Kunst gewendet habe. Und auch wenn die Vertreter der Aufklärung und des Verstandes noble Ziele verfolgen, spätestens in der Sphäre der Politik angekommen setzten die Macher der Simpsons ihnen natürliche Grenzen: Infolge des offenen Briefes entdeckt Lisa, dass sie mit ihrer Sehnsucht nach Gleichgesinnten, Intellektuellen, politisch Interessierten, gebildeten und feinsinnigen Menschen wohl doch nicht ganz alleine ist, und wird von der örtlichen Gruppe des Hochbegabten-Vereines Mensa aufgenommen. Bald darauf flüchtet, durch einen vermeintlich aufgedeckten Skandal, der Bürgermeister aus der Stadt und Lisa und ihre neuen Weggefährten erfahren durch einen Blick in den Stadtbrief, dass im Falle seines Ausscheidens ein Rat gebildeter Bürger die Stadt übernehmen soll. So versuchen sie sich an der Konstruktion eines durch Philosophenherrscher erschaffenen Utopia … und scheitern erwartungsgemäß. Sie scheitern nicht nur an der Unbildung der Untertanen, sondern vor allem auch an den Widersprüchen untereinander. 2  David Arnold, ›Use a Pen, Sideshow Bob‹. The Simpsons and the Threat of High Culture, in: John Alberti (Hg.), Leaving Springfield. The Simpsons and the possibility of oppositional culture, Detroit 2004, S. 1–28. 3  Ebd., S. 2.

Springfield ist ein Anti-Idyll und ein Anti-Utopia. Der Modus der Simpsons ist die Überspitzung realer Zustände: Satire. In »They saved Lisa’s Brain« endet der Versuch Lisas und ihrer Kumpanen, ihre Kleinstadt zu verbessern, in einer Schlägerei unter den Bewohnern, woraufhin der prominente Gaststar Stephen Hawking bemerkt, es gäbe »verschiedene Vorstellungen einer perfekten Welt«.Und die Springfielder entscheiden sich fausterprobt gegen die Herrschaft der Intellektuellen. Und um – für die Serie typisch – der Absurdität Jöran Klatt  —  Die Schildbürger von Springfield

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noch eine weitere Ebene hinzuzufügen wirkt es wie die Gegenrevolution Robbespierres wenn die Figur Lenny Leonard seinen Hieb gegen einen Mitbürger kommentiert mit »Das ist mir zu clever! Du bist einer von denen!« Am Ende kehrt die Folge naturgemäß zum Ausgangspunkt der Serie zurück. Lisa muss sich also weiter mit den Bewohnern ihrer Stadt arrangieren. Als Intellektuelle und Fortschrittsgläubige ist man in Springfield eben Außenseiterin. Daher wird sie Springfield später auch verlassen. Ihre Heimat wird das gleiche Schicksal ereilen wie einst Laleburg, die historische Vorgängerin des fiktionalen Schilda, deren Bürger sich bewusst ihres Intellektes, für den sie zuvor bekannt gewesen waren, entledigten. So wollten sie verhindern, dass ihre Klügsten und begabtesten Köpfe abgeworben werden und abwandern. Genau dies wurde ihnen allerdings zum Verhängnis und die Dummheit ein fester Bestandteil ihrer gesellschaftlichen Verfasstheit.4 DIE SCHILDBÜRGER UND DIE POLITIK Insbesondere das Politische scheint in Springfield im Argen zu liegen. Der Bürgermeister der Stadt ist der Demokrat Joseph O’Malley Fitzpatrick O’Donnel Quimby. Quimby ist, obwohl kein wirklich schlechter Mensch, alles andere als der Idealpolitiker. Er ist korrupt und inkompetent, verheiratet und nichtsdestotrotz ein Womanizer. Insbesondere sein schwieriges Verhältnis zu Frauen (um die es ihm häufiger als um Politik zu gehen scheint) sowie sein irischer Name und sein Aussehen markieren ihn als eine Hommage an John F. Kennedy. Auch andere Demokraten kommen in den Simpsons kaum besser weg. Bill Clinton bezeichnet sich in der Serie selbst als »ein ziemlich dämlicher Präsident« und versucht auf niveaulose Art, die Familienmutter der Simpsons, Marge, zu verführen. Jimmy Carter wird in der Serie als schwächlich dargestellt, von den Bewohnern Springfields als »schlimmstes Ungeheuer, das unser Land je gesehen hat«, beschimpft. Sind die Simpsons also eine Serie, die auf Seiten der Republikaner steht? Immerhin spricht hierfür auch die Tatsache, dass die Serie von dem republikanernahen Sender Fox ausgestrahlt wird. Doch die Darstellung der Republikaner ist nicht weniger kritisch: Ihre Allianz zu den Medien, vor allem zu dem Haussender der Serie, wird als unheilig dargestellt, die Republikaner als Meister des Täuschens und Diffamierens, der Halb- und gar Unwahrheiten. So wird während eines Wahlkampfes zum Gouverneursamt innerhalb des Simpsons-Universums auf dem Sender Fox eine Debatte zwischen den Kandidaten stets mit rechtspopulistischen Botschaften in einem Newsticker unterfüttert, wie »90 % aller Demokraten sind schwul« oder »Laut Bibel: Jesus war für die Senkung der Kapitalertragssteuer«. Neben dem Großkapitalisten

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4  Vgl. Markus Metz u. Georg Seeßlen, Blöd-Maschinen. Die Fabrikation der Stupidität, Frankfurt a. M. 2010, insbesondere S. 121–163.

und Atomkraftwerksbesitzer Charles Montgomery Burns besteht die republikanische Partei Springfield aus Mitgliedern wie dem stereotypen reichen Texaner, der in mehreren Folgen seine Verachtung für die Natur und seine Schießwütigkeit unter Beweis stellt, einem an den rechtskonservativen Rush Limbaugh angelehnten Radiomoderator namens Birch Barlow, dem sexsüchtigen Kinderentertainer Krusty der Clown sowie Graf Dracula. Es scheint, als hätten die Macher der Serie, ein Autorenkollektiv um den Erfinder Groening, der inzwischen weitgehend aus dem Produktionsprozess ausgestiegen ist, kein gutes Bild von der amerikanischen Politik. Nichtsdestotrotz, die Simpsons sind eine »dezidiert politische Serie.«5 Viele Folgen drehen sich direkt um die Sphäre des Politischen, thematisieren Wahlkämpfe, Verschwörungen, Schicksale von PolitikerInnen, den Versuch einzelner, etwas zu ändern, und nicht selten das Scheitern daran. Bei der Darstellung beider großer Parteien ist die Serie dabei durchaus fair. »The politics is sometimes party politics, but we never know whether the series is for and against either the Republicans or the Democrats. Because of its critical nature, 5  N. Devrim Tuncel u. Andreas Rauscher, Die Mythen des Springfield-Alltags. Simpsons als Politsatire, in: Michael Gruteser (Hg.), S. 154–166, hier S. 155.

it is certainly challenging the conservatism of the Republicans, but equally challenging of liberalism of the Democrats.«6 Ein nicht minder großer Teil thematisiert gesellschaftspolitische Fragestellungen, Diskurse um Rassismus, Migration, Homophobie, Religion, Sekten, Armut, Gesundheit usw. »Through the skillful use of satire, The Simpsons de-

6  Paul Armstrong, Democracy, citizenship and apathy: what can lifelong learning do, S. 4, online einsehbar unter: http://www. adulterc.org/proceedings/2005/ proceedings/armstrong.pdf [eingesehen am 05. 11. 2014]. 7  J. Michael Blitzer, Political Culture and Public Opinion. The American Dream on Springfield’s Evergreen Terrace, in: Joseph J. Foy (Hg.), Homer Simpson goes to Washington. American politics through popular culture, Lexington, Ky 2008, S. 41–60, hier S. 42. 8  Diedrich Diederichsen, Die Simpsons der Gesellschaft, in: Michael Gruteser (Hg.), S. 18–24, hier S. 18. 9  10 

Ebd.

Ebd., S. 23.

monstrates insights into the underlying political culture and public opinion of the United States’ governing system (and more broadly, society at large).«7 Ob die Serie Parteipolitisches, Gouvernementales oder Gesellschaftliches behandelt, stets nimmt sie dabei einen Modus des Dazwischen ein, der kritischen Fairness. Offensichtlich hegen die Autoren dabei zwar eher Sympathien für liberales Gedankengut, nichtsdestotrotz werden übersteigerte Erwartungen an Fortschritt und Aufklärung stets durch Ironie ins Lächerliche gezogen. Die Serie, die Diedrich Diederichsen als »das kompletteste postmoderne Kunstwerk«8 beschreibt, ist dementsprechend auch eine »postmoderne Aufklärung«. Sie führe auf »kein Ziel, kein Original, keinen Grundtatbestand, keine Basis und auf keine letzte Instanz zu.«9 Symbolisiert wird dies von den Hauptcharakteren Homer, Lisa, Marge und Bart, die im Zentrum des Geschehens stehen. »Von ihrer Geschichte her sind die Eltern Simpson 68er, Homers Mutter stand bekanntlich dem Weather Underground nahe. Und nur der freundliche Frömmler Flanders ist doch recht weit von dem Stamm seiner Beatnik-Eltern gefallen.«10 Diese 68er-Tradition wird von Homer und Marge durch den Gegensatz zwischen Triebbefriedigung und Genuss auf der einen und Ethik und Sittsamkeit auf Jöran Klatt  —  Die Schildbürger von Springfield

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der anderen Seite verkörpert. Als personifizierte Extrempole tendieren die beiden »entsprechend zum infantilen Hedonismus (bei Homer) und zum Moralismus (bei Marge) […] Die Kinder Bart und Lisa entwickeln das nur weiter und unterscheiden sich von ihren Eltern nur darin, dass sie in den entsprechenden Disziplinen besser und zeitgemäßer sind.«11 EVERYTHING GOES Obwohl die Serie also immer wieder, Folge für Folge, zu einem gewissen Status quo zurückkehrt und gravierende Veränderungen in der sozialen Topographie (etwa der Tod eines Bewohners oder die Scheidung einer Ehe) nur in sehr seltenen Fällen über eine Folge hinaus aufrechterhalten werden, ist sie keineswegs zeitlos. Die Themen sind angebunden an die Realität außerhalb der Diegese – sei es die Frage nach der Gleichstellung der Homo-Ehe, die Restriktion des Schusswaffenverkaufs oder eben eine parteipolitische Wahl. Die Realität dringt in Springfield ein und aus Springfield blickt eine Familie auf die Realität – und wir, das Publikum, wiederum beobachten sie dabei; »[…] to watch and laugh at such humor, we are not only watching The Simpsons: we are watching with The Simpsons […].«12 Die Simpsons konsumieren sowohl das kulturelle Angebot des Fernsehens und Kinos, aber auch gesellschaftspolitische Themen, die um sie herum geschehen, und spiegeln alles zurück. Genauso wie die Themen im Kontext der Realität stehen, ist die Serie auch eng verbunden mit der Generation (nach 25 Jahren Laufzeit: den Generationen) ihrer Zuschauer. Dies fiel auch den Kulturwissenschaftlern Maxwell Fink und Deborah Foot auf, die die Serie entschieden in der akademischen Lehre einsetzten und dies vor allem mit dem generationellen Zusammenhang zwischen der Serie und deren Zuschauern begründeten: »Because many of the Gen Xers and Gen Yers that we know share a postmodern tendency to eschew social labels and preconceived notions about people, this critical use of stereotypes on The Simpsons makes it a useful example of critical media literacy at work within the media mainstream that both the show itself and the theoretical framework attempt to critique.«13 Diederichsen bemerkt hierzu: »Die Simpsons liefern auch eine neue Vorlage für den langsam nervenden Cultural-Studies-Streit. Nicht weil man mit diesen die Uni aufpeppen könnte, sind sie an derselben überfällig, sondern weil alle Menschen unausgesetzt Cultural Studies betreiben, gehören sie dabei beobachtet, wenn es sowas wie Humanwissenschaften weiter geben soll.«14 Oder anders ausgedrückt: »Was die Simpsons für die (unpopuläre) Wissenschaft interessant macht, ist, dass sie als Objekt der Kritik selbst kritisch sind, also selbst (populäre) Wissenschaft betreiben.«15

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11 

Ebd.

12  Jonathan Gray, Watching with the Simpsons. Television, parody, and ­intertextuality, New York 2006, S. 2. 13  Maxwell A. Fink u. Deborah C. Foote, Using The Simpsons to Teach Humanities with Gen X and Gen Y Students, in: New Directions for Adult and Continuing Education, H. 2007, S. 45–54, hier S. 49. 14 

Diederichsen, S. 20.

15  Michael Gruteser u. a., Die gelben Seiten von Springfield: Eine Einführung, in: ­Michael Gruteser (Hg.), S. 7–17, hier S. 12.

Familienvater Homer ist dabei das Gegenstück zu der aufgeklärten, linksliberalen Lisa. In der 5. Episode der 9. Staffel, »The Cartridge Family«, unterstützt er die US-amerikanische Waffenlobby, die ihn jedoch wiederum verstößt, da ihnen sein Umgang mit Waffen nicht vernünftig genug erscheint. In anderen Folgen engagiert er sich für seinen Chef, den Republikaner Montgomery Burns, und gerät mit dem ehemaligen Präsidenten George Bush in einen Konflikt, weil – Zitat Marge – Homer und dieser »sich so ähnlich« seien. Dabei ist Homer eigentlich nicht wirklich an politischen Geschehnissen interessiert, sondern verbringt seine Freizeit lieber mit Müßiggang, Fernsehen und Alkohol. Doch immer wieder wird seine heile Welt, selbst eine americana, gestört. Homer symbolisiert dabei das Klischee des amerikanischen Mittelklassebürgers, der das Politische in sich meist dann entdeckt, wenn er sich durch die da oben in Washington gegängelt fühlt. Dabei ist Homer jedoch kein wirklicher Rechter. Im Liberalismus seiner Erfinder zeigt sich auch der amerikanische Glaube an die Passiven, Unbeteiligten, die in einer europäischen Partizipationsdemokratie gering geschätzt werden, aber ein Teil des amerikanischen Freiheitsgedankens sind. Homer ist immer dann am glücklichsten (und auch am sympathischsten) wenn er sich nicht engagiert. Wie Ralf Dahrendorf, so empfindet auch er – allerdings ohne darüber nachzudenken – das Ideal einer »total aktivierten Öffentlichkeit« als unangenehm und lehnt es ab.16 Homers zeitweilige Unterstützung für die amerikanische Rechte ist stets gekoppelt an seinen Hedonismus (den die Simpsons-Autoren eher als eine republikanische Eigenschaft ansehen) und sein kurzweiliges eindimensionales Denken. »Eine scheinbar unpolitische Haltung wie die Homer Simpsons verdeckt dabei nicht die gesellschaftlichen Zusammenhänge, unter denen sie sich manifestiert. Im Gegenteil: Homer dekonstruiert durch seinen penetranten Hang zur Überaffirmation die wesentlichen Grundlagen einer reaktionären Weltanschauung.«17 Homer gerät oft in Konflikt mit seiner Tochter Lisa, deren Weltbild rationalistisch und fortschrittlich ist, bspw. in der Frage nach Lisas neuentdecktem Vegetarismus (wovon sie zu Beginn noch ihre Mitmenschen offensiv zu überzeugen versucht). Dabei zeigt sich bei Lisa derselbe Hang zur Überaf16  Ralf Dahrendorf, Liberale Demokratie, in: Peter Massing (Hg.), Demokratietheorien. Von der Antike bis zur Gegenwart; Texte und Interpretationen, Schwalbach/Ts 2002, S. 223–227, hier S. 225. 17  Tuncel u. Rauscher, S. 158. 18 

Ebd., S. 159.

firmation wie bei ihrem Vater – nur eben unter umgekehrten Vorzeichen. »Die engagierte aufklärerische Haltung Lisas stößt ebenso immer wieder an ihre Grenzen wie der Crash-Test-Dummy-Hedonismus Homers. […] Das Ende der großen Erzählungen bedeutet für die Simpsons nicht automatisch ›anything goes‹. Die von Groening und dem Autorenkollektiv praktizierte Ideologie­ kritik verlagert sich auf eine reflexiv gebrochene Ebene.«18 Meistens endet eine Simpsons-Folge, deren Kern ein normativer bis ideologischer Konflikt ist, nicht in der Auflösung desselben in eine entschiedene Jöran Klatt  —  Die Schildbürger von Springfield

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Richtung, sondern eher in der Versöhnung der beteiligten Protagonisten. Lisas Auseinandersetzung mit dem tiefgläubigen Nachbarn Ned Flanders, dem es zeitweilig gelingt, die Evolutionslehre in der Grundschule Springfield durch den Kreationismus zu ersetzten, endet zwar mit einem Sieg Lisas vor Gericht (die Serie positioniert sich in diesem Konflikt deutlich gegen die Anti-Säkularen), doch entscheidender ist vielmehr der abschließende Dialog zwischen Flanders und der Simpsons-Tochter. Lisa könnte ihren Erfolg nicht feiern, ohne ihrem Kontrahenten tiefen Respekt für seinen Glauben zuzusichern. Flanders lässt sich daraufhin sogar zu der Aussage verleiten, er wünsche, die Evolution würde mehr Menschen wie Lisa hervorbringen. Harmonie zwischen Opponenten. Ähnlich endet der Konflikt mit ihrem eigenen Vater im Hinblick auf den Vegetarismus-Streit. Lisa lässt sich von dem indischen Supermarktverkäufer Apu Nahasapeemapetilon sowie dessen Freunden Paul und Linda McCartney von einer toleranteren Sicht der Dinge überzeugen. Apus religiös motivierte Ernährungsüberzeugung, der Veganismus, bringt Lisa unerwartet zu der Einsicht, auch irgendwie einer Masse, einem Mainstream anzugehören, und damit um die – gewohnte – Perspektive, der vermeintlich unterdrückten Minderheit anzugehören (eine Rolle, die ihr, wie wir oft erfahren, auch ein wenig gefällt). Lisas neuentdeckter Vegetarismus, der Glaube Ned Flanders sowie zahlreiche andere individuelle Vorlieben der Charaktere sind Elemente, die ein häufig widerkehrendes Motiv in der Serie ergeben: Individuelle Weltanschauungen berühren den Kern des öffentlichen gemeinsamen Lebens und beide Ebenen geraten miteinander in Konflikt. So sind es in den beiden beschriebenen Folgen einzelne Akteure, die versuchen, anderen verpflichtende Vorgaben zu machen, die sich aus dem eigenen, als richtig oder besser empfundenen Weltbild ergeben (Flanders biblisches Weltbild, Lisas moralisch begründeter Vegetarismus). Was die Simpsons als Serie auszeichnet ist dabei, trotz einer immer wiederkehrenden Sympathie für bestimmte Positionen (bspw. der Präferenz für die Evolutionslehre an Stelle des Kreationismus), die grundsätzliche Erkenntnis, dass es in einer pluralistischen, sozial heterogenen Gesellschaft der Empathie auf beiden Seiten bedarf. Die Serie steht insofern für eine sehr amerikanische Idee von Demokratie, in welcher der »[…] battle over individualism versus the collective is often seen as the center of political battles in American politics, and can certainly been seen within the lives of the family on Springfields Evergreen Terrace.«19 Mal steht Lisa, als tugendhafter Charakter, auf der Seite des Individualismus, mal auf der Seite des Kollektivs. Hierdurch brechen die Charaktere immer wieder die Eindeutigkeit der Botschaften und dem Zuschauer bleibt es nicht erspart, auch die Gegenseite zu

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betrachten und sich selbst zu positionieren. Ein Simpsons-Happy-End ist in moralischer Hinsicht oft auch ein offenes Ende. Die Versöhnung zwischen Homer und Lisa und die tiefe Zuneigung beider zueinander, trotz der immensen Unterschiede, deuten allerdings auf den verbliebenen utopischen Gehalt der Serie hin: den amerikanischen Alltagsmythos der Familie. Es sind familiäre und freundschaftliche Bindungen, die den Ausgangspunkt für Versöhnung bilden. Doch ist nicht ebendies, die Besinnung auf die amerikanische Familie, die permanente Forderung der amerikanischen Rechten? Den Simpsons gelingt es, sich einer Position in dieser Frage zu entziehen. Das Familienbild in den Simpsons funktioniert nämlich nicht im Sinne des Konservatismus. Ein inzwischen viel zitierter Streit mit dem Ex-Präsidenten George Bush veranschaulicht dies. Dieser forderte 1992 in einer Rede in Washington: »We are going to keep on trying to strengthen the American family, to make American families a lot more like the Waltons and a lot less like the Simpsons.« Die Waltons waren eine US-Fernsehserie, die bis 1981 lief. Im Zentrum dieser Serie stand die namensgebende Baptistenfamilie, die als Idealtypus einer amerikanischen Bilderbuchfamilie angesehen werden kann. Eine Antwort der Simpsons auf diese Kritik folgte prompt. In einer Szene, die der 1. Folge der 3.Staffel hinzugefügt wurde, sitzt die Familie – wie so oft – vor dem Fernseher und sieht sich Bushs Rede an. Bart Simpson empört sich über dessen Worte mit der Antwort: »Hey, we’re just like the Waltons. We’re praying for an end to the Depression, too.« Bereits zwei Jahre zuvor war es zu einem Schlagabtausch zwischen beiden Familien gekommen. Auf die Kritik Barbara Bushs, die Simp­ sons seien »the dumbest thing [she] had ever seen«, schrieben ihr die Autoren der Serie im Namen der Familienmutter Marge einen Brief, in welchem diese ihr schilderte, wie sehr sie versuche, ihre Kinder dazu zu erziehen »always to give somebody the benefit of the doubt and not talk badly about them, even if they’re rich.«20 Die damalige First Lady entschuldigte sich daraufhin in einem Antwortbrief umgehend bei Marge Simpson. Doch es blieb nicht dabei. In der 13. Episode der 7. Staffel, »Two Bad Neighbors«, tritt George Bush, nebst Frau Barbara, höchstpersönlich auf. Das ehemalige Präsidentenpaar zieht in das leer stehende Nachbarhaus der Familie Simpson ein und zwischen Homer und George entwickelt sich eine 20  Nachzulesen unter http://www.lettersofnote. com/2011/09/with-great-­ respect-marge-simpson.html [eingesehen am 05. 11. 2014].

Art Hahnenkampf. Mit Nachbar Flanders und dessen zwanghaft glücklicher Idealfamilie, die den Waltons wohl am ehesten entspricht, versteht sich Bush äußerst gut. (Dass, wie wir in der Serie oftmals erfahren, das Familienglück der Flanders nach außen mit dem hohen Preis innerer Unzufriedenheit aller Jöran Klatt  —  Die Schildbürger von Springfield

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Familienmitglieder erkauft wird, spielt dabei keine Rolle.) Doch mit den Simp­sons, insbesondere Homer und Bart, wird er nicht warm. Dabei möchten die Bushs, die sich für das Leben in Springfield entschieden haben, weil sie eine Stadt mit möglichst geringer Wahlbeteiligung für ihr Altersglück als vielversprechend empfanden, im Grunde das, was Homer hat: ein ziemlich selbstbezogenes, im Idealfall möglichst apolitisches Dasein. Doch der Kontakt mit den Simpsons verwehrt ihnen dieses amerikanische Vorstadtleben. Insbesondere der Umgang mit dem ältesten Spross der Simpson-Familie, Bart, selbst alles andere als interessiert, ist für Bush eine Herausforderung: Der ungeduldige, ich-bezogene Junge zeigt George Bush, was ein Generationenkonflikt bedeutet, unterbricht ihn permanent und nennt ihn beim Vornamen, während er sich von ihm dessen Fotoalbum (einer der letzten Versuche, das idyllisches Zusammensein zu forcieren) zeigen lässt. Bart: Who’s that, George? George: That’s me with Charlton Heston. He was – Bart: Who’s that, George? George: Er – see, you wouldn’t know him. That’s Bob Mosbacher. He was secretary of – Bart: That’s a dumb name. Who’s that, George? George: Maybe he thinks »Bart« is a dumb – Bart: How many times were you president, George? George: Just once. Bart: Did your Secret Service goons ever whack anyone, George? George: You know, in my day, little boys didn’t call their elders by their first name. Bart: Yeah? Well, welcome to the 20th century, George. George: I’ll kick you right out of the 20th century, you little – Bart interessiert sich nicht für die großen Namen und das Leben von George. Für ihn ist er nur ein alter Mann, der noch nicht im zwanzigsten Jahrhundert angekommen zu sein scheint. Das Familienbild Bushs, in dessen patriarchalem Zentrum er selber steht, wird dekonstruiert durch eine amerikanische Familie. Diese Familie funktioniert – aber nicht so, wie manche sie gerne hätten. Die Simpsons blicken aus der Perspektive der amerikanischen Vorstadt auf die Medienlandschaft, Gesellschaft und Politik. Ihre Sympathien gelten einem Glauben an das Gute, doch werden sie nur vorsichtig und unter Vorbehalt verliehen. So konnte die Serie eine große Zuschauerzahl erreichen. Die Simpsons haben dazu beigetragen, dass Popkultur heute kulturkritische

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Kultur sein kann. Ihre Selbstreflexivität ist eine Empfehlung, das eigene Weltbild nicht zu verabsolutieren. Dabei verfallen die Simpsons jedoch nicht dem harmonistischen Ideal, jeder Konflikt müsse in einem goldenen Mittelweg enden, sondern sie hegen weiter Sympathien für Idealisten. Gerade im humoristisch dargestellten Scheitern der Extremwege fordern sie den homo politicus zum Weitermachen auf. George und Barbara Bush hat Bart auf diese Weise im 21. Jahrhundert willkommen geheißen. Und nun haben wir das 21. Jahrhundert und seit 25 Jahren die Simpsons.

Jöran Klatt, geb. 1986 in Wolfenbüttel, arbeitet am Göttinger Institut für Demokratieforschung. Zu seinen Schwerpunkten gehören Kulturtheorie, Semiotik und Wissensgeschichte.

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PERSPEKTIVEN

IM SCHATTEN DES LIBERALISMUS DIE PÄDOPHILIEDEBATTE BEGANN NICHT MIT DEN GRÜNEN ΞΞ Franz Walter

Das Jahr 2013, als die Debatte über die Pädophilie jäh ausbrach und über Monate anhielt, markierte gewiss eine Zäsur in der Geschichte der Grünen.1 Konsterniert stieß das Publikum auf eine eher fremdartige Sprachlosigkeit grüner Akteure aus der bewährt erörterungsfreudigen Diskursgeneration, was einen plötzlichen Verlust des zuvor so übergewichtigen Selbstbewusstseins – gerade im moralischen Anspruchspathos, Partei der kritischen Aufklärung zu sein – offenbarte. Die Grünen diskutierten kaum mit, als das Pädophilen-Thema die Öffentlichkeit erregte. Die früheren Rhetoren der Gesellschaftskritik hüllten sich überwiegend in Schweigen. Der Versuch, zu erklären, zu erläutern, auch zu historisieren, was wieso in den frühen 1980er Jahren an pädophilen Forderungen in programmtische Manifeste eindrang, wurde gar nicht erst unternommen. Stattdessen legte sich bei den Grünen im Jahr der Bundestagswahlen stumme Furcht über die verdrängten Seiten der eigenen Geschichte. Dergleichen Quietismus in Bezug auf die Geschichte der letzten vier Dekaden in (West-)Deutschland war neu und ungewohnt. Denn bis dahin hatte die Partei die Jahrzehnte seit 1968 gerne als eine Ära vermehrter Liberalität, kosmopolitischer Weltoffenheit, ökologischer Sensibilität und gelassener Toleranz gegenüber Minderheiten beschrieben, um die damit positiv konnotierten Züge dem eigenen Konto bzw. dem von befreundeten oder vorangegangen sozialen Bewegungen gutzuschreiben. Die Grünen 1  Hierzu und insgesamt Franz Walter, Stephan Klecha, Alexander Hensel (Hg.), Die Grünen und die Pädosexualität Eine bundesdeutsche Geschichte, Göttingen 2015. 2  So zitiert bei Nina Apin, Man wollte offen für alle sein, in: die tageszeitung, 18. 05. 2013.; Siehe auch ein ähnliches Zitat bei Matthias Kamann, Schatten auf dem grünen Zeitgeist, in: Die Welt, 15. 05. 2013.

hatten sich selbst stets als entscheidender Agens der Modernisierung in Szene gesetzt, sich zu kämpferischen Avantgardisten der Befreiung gegen ein durchaus ruppig reagierendes altes Herrschaftskartell stilisiert. Eine prominente Grünen-Politikerin der ersten Stunde, Marieluise Beck, etwa bezeichnete es »als historisches Verdienst der Grünen, den Blick für sexuelle Freiheit geöffnet zu haben«.2 Was immer man den Grünen an Tüchtigkeiten attestieren mag – die Rolle der Vordenker und Initiatoren der sexuellen Revolution können sie sicher nicht für sich reklamieren; es wäre auch nicht besonders ratsam. Die oft

INDES, 2014-4, S. 121–133, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014, ISSN 2191-995X

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gefeierte sexuelle Revolution vollzog sich ein bis zwei Dekaden vor Gründung der grünen Partei. Die Grünen absorbierten, was an sozialen Bewegtheiten und Ideen bereits aufgekommen war. Die Neugründung der Partei bildete gewissermaßen das Finale einer vorangegangen autonomen gesellschaftlichen Entwicklung. LINKSLIBERTÄRE ANFÄNGE Die Anfänge all dessen lagen in den 1960er Jahren – eben auch, um zum Thema dieses Stücks zu kommen, die Diskussion über den sexuellen Missbrauch von Kindern. 1964 berichtete die Zeit über eine Tagung der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung zum Thema »Das sexuelle gefährdete und geschädigte Kind«. Die Bilanz nach zweieinhalb Tagen lautete zwar: »Über die seelischen Folgen bei Kindern, die sexuell mißbraucht wurden, ist noch sehr wenig bekannt.« Doch was an Kenntnissen vorlag, schien darauf eindeutig hinzuweisen, so die Professorin Muller-Luckmann aus Braunschweig, die über »Glaubwürdigkeit kindlicher und jugendlicher Zeugenaussagen bei Sexualdelikten« habilitiert hatte, »daß alles, was der eigentlichen Tat folgt – Vernehmung, Gerichtsverhandlungen, unüberlegte oder übertriebene Fürsorgemaßnahmen –, das Kind oft stärker belastet als die Tat selbst.« Ihre Kollegin, die Psychiaterin Thea Schönfelder aus Hamburg, ging davon aus, dass fast ein Drittel der Mädchen nicht einfach hilflose Opfer waren, sondern »sich eineindeutig aktiv verhalten« hätten. Zwölfjährige Lolitas, so der Berichterstatter der Zeit, pflegen die Liebhaber ihrer Mütter zu charmieren und sich alten Männer sexuell provokativ zu nähern. Die Ansicht, dass es sich bei Pädophilie um einen besonders infamen Missbrauch handele, der ein hohes Strafmaß erfordere, wertete der Wissenschaftsautor Erwin Lausch in der Zeit als einen »Hauch Mittelalter«.3 Fünf Jahre später konnte man in der Zeit erneut Ähnliches lesen. Die Autorin, Elena Schäfer, war überzeugt davon, daß allein die vorherrschend normative Sexualmoral erst das Triebverbrechen verursache. Sie wandte sich entschieden dagegen, »normabweichendes Verhalten« zu kriminalisieren, denn: »Die soziale Schädlichkeit, die allein Kriterium für die Strafwürdigkeit devianten Sexualverhaltens sein dürfte, ist [bei] Pädophilie – wo die Gerichtsverhandlung weitaus größeren Schaden verursacht als jede nicht-aggressive Annäherung an das Kind – noch nie nachgewiesen worden.«4 In dieselbe Richtung, nur noch erheblich selbstbewusster und offensiver,

3  Erwin Lausch, Krankhaft oder nur verworfen, in: Die Zeit, 12. 06. 1964.

ging seinerzeit ebenfalls der Feuilleton-Chef der linksliberalen Zeit, Rudolf Walter Leonhardt, damals eine prägende Deutungsinstanz im bundesdeutschen Bildungsbürgertum. 1969 erschien sein Buch »Wer wirft den ersten

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4  Elena Schäfer, Es genügt nicht, nur zu kastrieren, in: Die Zeit, 03. 10. 1969

Stein. Minoritäten in einer züchtigen Gesellschaft« 5 und Vorabartikel daraus eben in der Zeit. Mit zumindest aus der Retrospektive irritierend intellektuellem Hochmut mokiert sich Leonhardt über die Ängste und Hysterie der »Spießer«. Als Kenner der Weltliteratur bemüht er Edgar Allan Poe, Georg Christoph Lichtenberg, Novalis, natürlich auch »Lolita« von Vladimir Nabokov, um die Furcht von Pädophilie als Paranoia nahezu der Lächerlichkeit auszusetzen.6 Und er lieferte ein pathetisches Plädoyer für den kreativitätsfördernden Verkehr großer männlicher Geister mit liebreizenden weiblichen Wesen im Kindesalter. »Es ist auch nicht so entscheidend, wie Moralprediger denken wollen und manche Juristen denken müssen, ob die geschlechtliche Vereinigung wirklich vollzogen wurde oder nicht. Wichtig ist, dass jahrhundertelang ein zwölf- bis fünfzehnjähriges Mädchen als Gegenstand einer erotischen Leidenschaft vorgestellt und nachempfunden werden konnte. Die bezaubernden Geschöpfe in Mythos und Literatur, die viel bewunderten und hochverehrten Exempla großer Liebe, sie waren manchmal jünger als zwölf und selten älter als fünfzehn.« Dass Kinder psychische Verletzungen aus sexuellen Beziehungen mit Erwachsenen davon tragen könnten, mochte der spätere stellvertretende Chefredakteur der Zeit partout nicht glauben. Dergleichen Besorgnisse hielt er für »verquere, verquollene Vorstellungen«. Als Legitimationsreferenz für solche Reflektionen war 1969 natürlich Theodor Adorno unabdingbar, der daher auch mit dieser Passage wiedergegeben wird: »Das stärkste Tabu von allen … ist im Augenblick jenes, dessen Stichwort ›minderjährig‹ lautet und das schon sich austobte, als Freud die infantile Sexualität entdeckte. Das universale und begründete Schuldgefühl der 5  Rudolf Walter Leonhardt, Wer wirft den ersten Stein. Minoritäten in einer züchtigen Gesellschaft, München 1969. 6  Siehe auch Rudolf Walter Leonhardt, Auch Novalis war ein Sexualdelinquent, in: Die Zeit, 12. 09. 1969. Ähnlich, wenngleich weit zurückhaltender argumentierte 1995 in der Zeit auch der Sexualforscher Wolfgang Berner, Die Seele des Peter Pan, in: Die Zeit, 02. 06. 1995. 7  Zit. bei Rudolf Leonhardt, Kurzes Kichern, Kein Erröten, in: Die Zeit, 25. 04. 1969.

Erwachsenenwelt kann, als seines Gegenbilds und Refugiums, dessen nicht entraten, was sie die Unschuld der Kinder nennen, und diese zu verteidigen, ist ihnen jedes Mittel recht. Allbekannt, daß Tabus umso stärker werden, je mehr der ihnen Hörige selber begehrt, worauf die Strafe gesetzt ist.«7 44 Jahre später versuchte der damalige stellvertretender Chefredakteur der Zeit, Theo Sommer, die Motivationsstruktur von Leonhard zu erklären: Vieles habe dieser, ein »Porsche-Fahrer« und »Whiskykenner«, der die Anschnallpflicht als Freiheitsbeschränkung ablehnte, einfach »aus Daffke« geschrieben.8 1969 und ebenfalls in der Zeit begann der Kulturredakteur und Leiter des Feuilletons der Bayerischen Staatszeitung, Hans Krieger, mittels mehreren Essays eine Art Renaissance von Wilhelm Reich im gehobenen bundesdeutschen Bürgertum einzuleiten. »Der Mann, der an unsere tiefsten Ängsten rührte«, so lautete der Titel eines großen Stücks, das am 10. Oktober 1969 in

8  Theo Sommer, Irrungen und Wirrungen der Zeit, in: Die Zeit, 03. 10. 2013.

der Hamburger Wochenzeitung erschien. Mit Reich versuchte Krieger den Lesern klarzumachen, dass die tiefen Defizite an wirklicher Demokratie, die Franz Walter  —  Im Schatten des Liberalismus

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Neigung zu Mystizismen, ja die »Anfälligkeit für faschistische Ideologie« sich aus einer Quelle speisen: »aus gestauter, unbefriedigender Sexualenergie«.9 Und der zentrale Ort, in dem dieser Stau determiniert werde, sei, so Krieger mit Reich: »die autoritäre Familie«, in der »die Unterdrückung der Geschlechtlichkeit des Kleinkindes« die Grundlagen aller persönlicher und gesellschaftlicher Deformationen lege.10 Das reichistische Versprechen besaß unzweifelhaft eine katalytische Wirkung und »identitätsstiftende Kraft«11 für die Erfolge des Achtundsechzigertums. »Der Einfluss des kommunistischen Freudianers Reich auf die westdeutsche Bewegung der Neuen Linken war ohnegleichen.«12 Für junge Leute aus dem alten Bürgertum konnte zu dem Zeitpunkt kaum etwas attraktiver sein als die Verheißung der gesellschaftssprengenden Kraft eines munter praktizierten Beischlafs mit möglichst zahlreichen Orgasmen. Durch die Rezeption von Wilhelm Reich konnte, wer mochte, sich als Pionier einer befreiten Gesellschaft und zugleich als standfester Antifaschist begreifen, wenn man nur alle herkömmlichen Moralvorstellungen beiseitelegte und dem sexuellen Trieb freien Lauf ließ. So propagierte es Wilhelm Reich, der in der nicht-limitierten Sexualität der Kinder gar den entscheidenden Ausgangspunkt für eine herrschaftsfreie Gesellschaft und den Gegenpol zu autoritären Regimen sah. Bereits in den 1920er Jahren hatte sich eine Garde linksliberaler Publizisten und Aktivisten ebenso erstaunlich affirmativ hinter Idee und Praxis des »pädagogischen Eros« gestellt, die in den reformerischen Landerziehungs-

9  Die Bedeutung des Nationalsozialismus als Legitimationsquelle für die »sexuelle Revolution« sehr dicht begründet bei Dagmar Herzog, die Politisierung der Lust. Sexualität in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, München 2005. 10  Hans Krieger, Der Mann, der an unsere tiefsten Ängste rührte, in: Die Zeit, 10. 10. 1969. Gut vierzig Jahr später die nun sehr viel kritischere Sicht in der gleichen Zeitung von Stefan Müller, Im Bann des Orgon, in: Die Zeit, 03. 01. 2013.

heimen verbreitete waren.13 Als der charismatisch wirkende Leiter der Freien Schulgemeinde im thüringischen Wickersdorf, Gustav Wyneken, 1921 wegen sexuellen Missbrauchs von Schülern zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde, gab es einen empörten Aufschrei in der radikaldemokratischen und

11  Sven Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft, Links­alternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Berlin 2014, S. 657.

linkssozialistischen Szenerie der Weimarer Republik. Wyneken reklamierte für sich und seine Handlungen, vom edlen, selbstlosen und gestaltenden Eros beflügelt, nicht von einem egoistischen und rohen Sexualtrieb geleitet worden zu sein.14 Seine Anhänger im libertären Bürgertum, die sich zu »Wyneken-Kampfausschüssen« und »Kampfgruppen« zusammentaten, glaubten ihm unbesehen, hielten den verehrten Erziehungsrevolutionär für ein Opfer der perfiden Kriminalisierung durch die Schulreaktion und einen autoritären Staat. Eine Fülle von Presseberichten aus diesem Milieu dokumentiert, wie schon damals die Vorwürfe des Missbrauchs – schließlich an einem als progressiv geltenden Ort der Erziehung »neuer Menschen« – nicht ernst genommen, der sexuelle Verkehr des bewunderten Lehrer mit seinen Schülern reflexhaft bagatellisiert oder gar zu einer neuen Kultur der Zärtlichkeit und Offenheit stilisiert wurde.15 Mit dem zeittypischen Schwulst kommentierte

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12 

Dagmar Herzog, S. 195.

13  Vgl. Jürgen Oelkers, ­»Pädagogischer Eros« in deutschen Landerziehungsheimen, In: Werner Thole u. a. (Hg.), Sexualisierte Gewalt, Macht und Pädagogik, Opladen 1012, S. 27–44. 14  Gustav Wyneken, Eros, Lauenburg an der Elbe 1921. 15  Siehe die Pressesammlung dazu in: Nachlaß Gustav Wyneken, Mappe 1180, Archiv der deutschen Jugendbewegung Witzenhausen.

etwa die linksliberal-demokratische Berliner Volkszeitung: »Ein Pädagoge mit einem glühenden Herzen, das nur der Jugend schlägt, wendet das höchste, das äußerste Mittel der Erziehung an: die Liebe, jene Liebe, die ganz und ungeteilt ist und nicht mehr zu unterscheiden in Sinnen- und Seelenliebe. Dieser Eros des Erziehers entzündet sich an zwei jungen Geschöpfen, die, am wenigsten würdig, der Liebe am stärksten bedürfen […]. Er [Wyneken] zog sie an sich, geistig, seelisch und auch körperlich, mit der körperlichen Erziehung nichts anderes ausdrückend als den heißen Wunsch der geistigen und seelischen Verschmelzung und Eroberung.« Einen Mann wie Wyneken, schloß der Kommentar, dürfe man nicht bestrafen, nur »weil sein argloses und unbedingtes Temperament den Schritt über die Grenze des pädagogischen Normaltyps getan hat.«16 Unter diesem Schutz des hier gänzlich unkritischen »kritisch-fortschrittlichen Bürgertums« konnte sich der sexuelle übergriff in den Reformschulen, von Wickersdorf bis zum Odenwald, über nahezu ein Jahrhundert, ohne Aufmerksamkeit zu erregen oder gar Einsprüche zu provozieren, fest- und fortsetzen. DIE ROLLE VON HELMUT KENTLER In den 1970er Jahren erlebte das Paradigma des Pädagogischen Eros17 eine neuerliche Renaissance. Es war das Jahrzehnt, in dem Helmut Kentler, Abteilungsleiter im Pädagogischen Zentrum Berlin, später dann Professor in Hannover, mit seinem Ansatz einer »nicht-repressiven« Sexualerziehung ein Star der Jugendpädagogik und Sexualwissenschaft wurde. Seine Bücher, in denen er die Pädophilie mit denkbar großer Sympathie vorstellte, wurden Beststeller. Kentler veröffentlichte bei Rowohlt. Er kommentierte in Zeitungen, war gefeierter Redner in evangelischen Akademien. Und auch der Deutsche Bundestag lud ihn zu einer Anhörung über den im Sommer 1970 von Justizminister Gerhard Jahn vorgelegten Entwurf für ein Viertes StrafrechtÄnderungsgesetz im November des gleichen Jahres als Sachverständiger ein. Kentler schockierte lustvoll die Abgeordneten, vor allem, aber nicht nur der CDU/CSU. Sich seiner vollkommen gewiss zog er gegen die strafgesetzlichen 16  H.N, Wyneken, Eros und das Gericht, in: Berliner Volkszeitung, 14. 10. 1922. 17  Generell hierzu Detlef Gaus u. Reinhard Uhle, Pädagogischer Eros, in: Wolfgang Kein u. Ulrich Schwerdt (Hg.), Handbuch der Reformpädagogik in Deutschland (1890–1933), Bd. 1, Frankfurt a. M. 2013, S. 559–575.

Regelungen im Sexuellen zu Felde. Er sah nicht den geringsten Grund für die Besorgnis, dass Sex zwischen Erwachsenen und Kindern für Letztere seelische Lasten bewirken könnte. Sein Generalrezept hierfür und allgemein: Man musste mit der Aufklärung und Sexualerziehung einfach früh anfangen und sollte schon in Kindergruppen zu erotisch-libidinösen Beziehungen ermuntern, dann brauchten psychische Traumata nicht mehr befürchtet zu werden. Auch auf die vom Ausschuss vorgegebene Frage, in welchem Umfang es notwendig sei, die sexuelle Ausnutzung von Jugendlichen in einem Franz Walter  —  Im Schatten des Liberalismus

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Erziehungs- und Betreuungsverhältnis strafrechtlich zu unterbinden, hatte Kentler eine unmissverständliche Antwort. Für ihn existierte eine solche Notwendigkeit überhaupt nicht. Denn ihm dünkte es als »absolut unmöglich«, dass in Krankenhäusern, Gefängnissen, Heimen sexuelle Delikte passieren könnten, ohne publik zu werden. Mehr noch: Was sei überhaupt gegen sexuelle Beziehungen zwischen Betreuern und Betreuten zu sagen? Denn schließlich: »Erotische Elemente in Erziehungsprozessen sind sicher höchst wertvoll.« Insgesamt vermutete er, »daß sexuelle Beziehungen im Berufsbereich oder in Bereichen der Erziehung heute weniger durch Ausnutzung von Abhängigkeitsverhältnissen als durch freiwilligen Entschluß der Jugendlichen zustande kommen.« Überdies diene es der Ich-Stärkung, wenn man Kinder und Jugendliche »der Erfahrung recht gefährlicher Momente« aussetze, statt sie mit Schonräumen zu entmündigen. Dem Gesetzgeber könne er nur empfehlen, die Finger aus all diesen sexuellen Beziehungen und Vorgängen herauszuhalten. Er plädierte für »völlige Straffreiheit«.18 Ebenfalls 1970 geißelte er in einem Beitrag für die Zeit die »streng moralischen, repressiven Auffassungen im Bereich der Sexualität«. Mit dem Verzicht auf eine vitale Sexualität sollen die Bürger, so Kentler, für die hierarchisierte Gesellschaftsordnung konditioniert und in Fremdbestimmung eingewöhnt werden. Allein freizügige Sexualität ermögliche politische Freiheit; die sexuelle Begrenzung hingegen nähere die Diktatur: »Es sollte uns zu denken geben, dass Adolf Eichmann – nach allem, was wir über ihn wissen – in seiner Jugend ganz den Anforderungen entsprach, die unsere Sittengesetze und unser Jugendschutz an die Leistungsfähigkeit junger Menschen zur Askese stellen. Er war ein in sexueller Hinsicht ›sauberer deutscher Junge‹«. Um das zu ändern, musste man schon beim Kind anfangen. Schließlich: »Warum behandeln wir denn das kleine Kind so, als sei es ein asexuelles Wesen, warum leugnen und unterbinden wir die frühkindliche Onanie, warum tun wir nichts, um dem kleinen Kind zum Verständnis seiner sexuellen Empfindungen zu verhelfen? […] Warum darf es seinen Vater immer nur ohne Sexualität wie ein griechisches Standbild kennenlernen, beispielsweise erst dann, wenn seine morgendliche Erektion abgeklungen ist?«19 Indes: Einem Leser der Zeit leuchtete das alles nicht recht ein. In einem Brief an die Zeit kommentierte er die Auslassungen von Kentler kritisch, »[…] dass aus einem repressiv erzogenen nicht unbedingt ein Eichmanntyp werden muss. Offenbar kann auch bei gänzlich veralteter Erziehungsmethode ein Friedrich Schiller oder ein

18  Der Deutsche Bundestag. 6. Wahlperiode, Stenographischer Dienst: 28., 29. und 30. Sitzung des Sonderausschusses für Strafrechtsreform, Bonn 23., 24. und 25. November 1970, S. 1029 ff.

Albert Schweizer entstehen. […] Leider stimmt auch die Umkehrung nicht: keineswegs alle muntere Playboys sind als politisch mündige Menschen in Erscheinung getreten, und auch mancher mittelalter Potentat, der sexuelle

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19  Helmut Kentler, Von Lust ist nicht die Rede, in: Die Zeit, 07. 02. 1969.

Befriedigung nicht verachtete, war trotzdem noch erstaunlich aggressiv.«20 35 Jahre danach urteilte auch ein Star unter den Theoretiker der radikalen Linken, Slavoj Zizek, mittlerweile ganz ähnlich: »In Bezug auf die Geschlechterverhältnisse ist die hegemoniale Einstellung nicht etwa die patriarchali20  Leserbrief von Helmut Gente, Herzberg, in: Die Zeit, 28. 02. 1969.

sche Unterdrückung, sondern die freie Promiskuität.«21 Doch konnte Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre kaum etwas den Reiz des Neuen, der Freiheiten begehrenswerter vermitteln als die se-

21  Slavoj Zizek, Die Zukunft des Politischen, in: ­Gerhard Gramm u. a. (Hg.), die ­Gesellschaft im 21. Jahrhundert. Perspektiven auf Arbeit, Leben, Politik, Frankfurt a. M. 2004, S. 51–70, hier S. 53. 22  Alain Finkielkraut u. Pascal Bruckner, Die neue Liebensordnung, Reinbek bei Hamburg 1989, S. 16.

xuelle Revolution, die somit zum Ferment des libertären Liberalismus wurde. Aber auch hier folgten Enttäuschungen. Die Gesellschaft nach der sexuellen Revolution war in Medien und Werbung sicher sexualisierter, aber im Alltagsleben der Bürger gleichwohl nicht wirklich erotischer als zuvor. Der Zwang zur Lust, die Nötigung zum orgiastischen Höhepunkt schien die von der traditionellen Sexualmoral befreiten Menschen erheblich unter Druck gesetzt und gewissermaßen freudloser gemacht zu haben. In der französischen Literatur haben sich männliche Intellektuelle damit nach einiger Zeit selbstironisch auseinandergesetzt: »Und von der männlichen Lust lässt sich

23  Früh hatte das schon Reimut Reiche antizipiert, Reimut Reiche, Kritik der gegenwärtigen Sexualwissenschaft, in: Gunter Schmidt u. a. (Hg.), Tendenzen der Sexualforschung, Stuttgart 1970, S. 1–9, hier S. 5. 24  Hans Magnus Enzensberger im Gespräch mit Lothar Gorris, in: Der Spiegel, 06. 10. 2014. 25  Werner Sombart, Der Bourgeois. Zur Geistesgeschichte des modernen Wirtschaftsmenschen, München 1913, S. 233. 26  Ulrich Bröckling, Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer Subjektivierungsform, Frankfurt a. M. 2007, S. 283. 27  Werner Plumpe, Funktionen der Unternehmerschaft – Fiktionen, Fakten, Realitäten, in: Ludger Heidbrink u. Peter Seele (Hg.), Unternehmertum. Vom Nutzen und Nachteil einer riskanten Lebensform, Frankfurt a. M. 2010, S. 43–60, hier S. 57 f. 28 

Vgl. Joachim Fischer, Wie sich das Bürgertum in Form hält, Springe 2012, S. 44.

allenfalls behaupten, dass sie kurz und kläglich ist. Die Ejakulation hält nicht, was sie verspricht: Der Mann hat das Gefühl, er hebt ab, er explodiert – und dann zerschellt er. Er sinkt in sich zusammen, ihm geht die Luft aus.«22 Die Machtverhältnisse im Kapitalismus hingegen hatten sich im Laufe der Sexualemanzipation nicht verändert, geschweige zu Lasten des Kapitalbesitzes umgekehrt. Der provokative Gestus von 1968, die Fortschrittsrhetorik der Rebellen, die libertären Sirenengesänge auf ein ungebändigtes, von Regeln gelöstes Leben waren dafür in Managementideologien und Marketingstrategien hineingeflossen.23 »Das spricht«, so heute Hans Ulrich Enzensberger, für die enorme Lernfähigkeit moderner Systeme, die die Rebellion absorbieren können, die Aufsässigkeit.“24 Denn die Bourgeoisie, das wusste zu Beginn des 20. Jahrhundert schon der Soziologe Werner Sombart, »wünscht keine Beschränkung durch das Recht oder die Sitte«25. Der neue, kulturell mit libertärer Verve deregulierte Kapitalismus florierte erst recht besser, sicher ansehnlicher, attraktiver, farbiger und daher adaptionsfähiger selbst für frühere Kritiker. »Selbst der Einspruch, die Verweigerung, die Regelverletzung lassen sich in Programme gießen, die Wettbewerbsvorteile versprechen«26, denn der Kapitalismus produziert nicht nur Dissidenz, er baut sie sogleich »wiederum produktiv in seine eigene Fortentwickelung«27 ein. Und so sind die Bohème, die Kulturrevolutionäre, die Nichtkonformisten – anders als sie selbst von sich denken – keineswegs giftige Stachel im Fleisch einer bürgerlichen Gesellschaft. Sie liefern vielmehr die Medizin für deren stagnierende Momente.28 Und sie pflegen alsbald in ein neues Bürgertum aufzusteigen. Franz Walter  —  Im Schatten des Liberalismus

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DIE WIRRUNGEN DES BÜRGERLICHEN LIBERALISMUS Dabei waren die Grünen in den späten 1960er und 1970er Jahren, mangels Existenz, nicht der der erste politischer Adressat solcher libertärer Bürgerlichkeit, sondern im gegebenen Dreiparteiensystem vielmehr noch die FDP, die daher auch noch 1980 von der Partei des Kanzlerkandidaten der Union, Franz Josef Strauß, mit der Überschrift etikettiert wurde: »Für Kommunisten, Homosexuelle und Gewaltverbrecher – das wahre Gesicht der FDP«29. Ein Jahr später bot die Bundestagsfraktion der FDP bei einer Anhörung Helmut Kentler (und anderen Professoren) eine politische Bühne zur Lancierung seiner sexualpolitischen Maximen.30 Zu einer Party anlässlich des FDP-Bundesparteitags im Herbst 1982 in Berlin wurden zu Bier und Bouletten »Lesben und Liberale, Schwestern und Schwätzer, Prominente und Päderasten« eingeladen.31 Noch deutlicher gaben sich indes die Jungdemokraten, auch dort mit einer Mischung aus radikalliberalen Bestrebungen und libertären Sexualvorstellungen. Die »Judos« blieben trotz einiger Spannungen mit der Mutterpartei bis 1982 der offizieller Parteinachwuchs der FDP. Seit den frühen 1970er Jahren hatten sich die Jungdemokraten programmatisch darauf festgelegt, dass »Liberalismus und Sozialismus« »in entscheidenden Positionen ihrer Zielsetzung übereinstimmten.« Den bestehenden Parlamentarismus bewerteten sie als Medium der Verschleierung der wirklichen, durchaus undemokratischen Machtverhältnisse. Der Umschlag in eine »offene Diktatur des Kapitals in der Form des Faschismus« sei jederzeit zu befürchten.32

29  Zit. nach Christian Schäfer, »Widernatürliche Unzucht«. Reformdiskussion und Gesetzgebung seit 1945, Berlin 2006, S. 242.

Die »Judos« – denen später prominente »Grüne« wie Claudia Roth, Jürgen Reents und (als stellvertretender Bundesvorsitzender und Bundeschatzmeister) Roland Appel angehörten – blieben bis 1982 der offizieller Nachwuchsverband der FDP. Und sie waren große Bewunderer von Helmut Kentler. Anfang der 1980er Jahre kam dieser ausführlich in ihrer weit verbreiteten Broschüre, die den Titel »Solidarität und Erotik« trug, zu Wort. Kentler gab dort zum Besten, was bis dahin als eher vertraulich galt, nämlich dass er, unterstützt von einer sozialdemokratischen Senatorin in Berlin, »jahrelang mit ausgesprochenen Unterschichtjugendlichen gearbeitet« habe. »Wir haben sie teilweise unterbringen können, bei teilweise sehr einfach gelagerten Männern, zum Beispiel Hausmeistern, die pädophil eingestellt waren. Sie haben dort ein zu Hause gefunden, sie haben Liebe gefunden.«33 Einige Jahre später beschrieb er in einem Gutachten für das Land Berlin ein weiteres Mal, wie er im Gefängnis Tegel drei wegen sexueller Kontakte zu minderjährigen Jungs

30  Florian Gathmann u. a., Das Tabu durchbrochen!, in: Der Spiegel, 02. 09. 2013, S.  36–37. 31  Ebd. 32  Siehe Manifest für eine liberale Politik (Leverkusener ­Manifest) Deutsche Jungdemo­kraten, Bonn 6. Auflage 1980, S. 22. 33  Interview Gerald Jörns mit Helmut Kentler, in: Solidarität + Erotik, hg. von Deutsche Jungdemokraten unter Verantwortung von Dagmar Abramowski und Rüdiger Pieper, Bonn o. J., S. 12–16, hier S. 16

straffällig gewordene Hausmeister aufgestöbert hatte, die er gleichsam zu Herbergsvätern für »jugendliche Herumtreiber« machte.34 Der Auftrag für das Gutachten durch die Senatsbehörde erfolgte am 29. März 1988. Berlin

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34  Helmut Kentler, Leihväter. Kinder brauchen Väter, Reinbek bei Hamburg, 1989, S. 54.

wurde inzwischen schwarz-gelb regiert. Die zuständige Jugendsenatorin gehörte der FDP an, war auch Generalsekretärin der Bundespartei. Auf ihrer Bundesdelegiertenkonferenz im März 1980 hatten die Jungdemokraten die Resolution verabschiedet: »Keine Bestrafung der freiwilligen und einvernehmlichen Sexualität. Die Paragraphen 173 (Inzest), 174 (Sexu­ alität mit Schutzbefohlenen), 175 (besonderes ›Schutzalter‹ für männliche Homosexuelle), 176 (Sexualität mit Kindern) sind zu streichen.«35 Zwei Jahre später, auf ihrer Bundesdelegiertenkonferenz in Duisburg vom 5. bis 7. März 1982 – der letzten in ihrer Geschichte als an der FDP orientierter Verband – beschlossen die Delegierten noch »Thesen zum Sexualstrafrecht«: »Da sich die Jungdemokraten für die Emanzipation unterdrückter gesellschaftlicher Gruppen einsetzen – im Sexualbereich sind dies vor allem Frauen, Homosexuelle und Kinder – fordern sie die Abschaffung des Sexualstrafrechts. Dies ist eine notwendige, wenn auch nicht hinreichend Bedingung für eine Humanisierung des menschlichen Sexualverhaltens.« Hingegen wurde eine weitergehende These zur Sexualität zwischen Erwachsenen und Kindern nach strittiger Debatte zur weiteren Diskussion in den Verband zurückgegeben. In dieser hieß es. »Sexuelle Kontakte zwischen Kindern und Erwachsenen, sofern sie von den Kindern freiwillig eingegangen bzw. angestrebt werden, sollten jedoch nicht mehr bestraft werden, da in solchen Fällen ausschließlich die Durchsetzung der entsprechenden Strafbestimmungen und nicht die Sexualität selbst den Kindern schadet.« Zur Begründung dafür wurde angegeben: »Wegen des Fehlens einer nachweisbaren Schädigung der betroffenen Kinder glauben Jungdemokraten, die Straffreiheit solcher Kontakte fordern und verantworten zu können. Die Jungdemokraten sehen durchaus die Probleme, die sich aus solchen Kontakten für die kindliche Sozialent35  So dokumentiert in: Gay Journal, H. 8/1980. 36  Dokument im Besitz der Verfasser; Das Ergebnisprotokoll der Bundesdelegiertenkonferenz der Deutschen Jungdemokraten 1982 in Duisburg, in Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit. Archiv des Liberalismus, Bestand DJD-Bundesvorstand; Signatur: 22425.

wicklung ergeben können, halten aber die völlige Unterdrückung der kindlichen Sexualität, wie es heute geschieht, für bedeutend schädlicher für die kindliche Selbstentfaltung.«36 Zahlreiche Jungdemokraten und Linksliberale in der FDP gehörten der Humanistischen Union (HU) an, die sich 1961 als bürgerrechtliche und kirchenkritische Organisation überwiegend radikaldemokratischer Akademiker gegründet hatte, mit einiger Resonanz in bundesdeutschen Universitätsstädten.37 Was in linkslibertären Kreisen thematisch fortan im Schwange war, fand in aller Regel auch seinen Weg in die Ortsverbände oder Sektionen der

37  Vgl. Jürgen Hofmann, Die Humanistische Union. Eine Untersuchung über Struktur und Funktion einer neuen kulturpolitischen Vereinigung, München 1967, S. 5 ff.

Humanistischen Union. Natürlich spielte hier auch Helmut Kentler als Autor, Referent, später Kuratoriumsmitglied eine wichtige Rolle. Erste große Debatten um Pädophilie bzw. eine Revision bzw. Streichung der Strafrechtspargraphen 174 und 176 fanden zwischen 1973 und 1975 statt. In der Zeitschrift der Franz Walter  —  Im Schatten des Liberalismus

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HU, Vorgänge, kam der seinerzeit einflussreiche Medientheoretiker und Kritiker von Märchen der Gebrüder Grimm38, der Münchner HU-Aktivist Otto Felicitas Gmelin, ausführlich zu Wort. Seine Ausführungen waren durchaus repräsentativ für die Ausgabe und den Zeitgeist in einigen Ortsgruppen, besonders aber im 1972 gegründeten HU-Arbeitskreis »Erziehung zur Erziehung«. Gmelin schilderte, wie er im Sommer 1972 eine größere Reise mit einem 10-jährigen Jungen aus der Familie machte. Er stellte ihn bei Besuchen seinen Freundinnen und Freunden vor. »Sie waren begeistert über seinen Witz, seinen Charme, sein Aussehen und wußten das auch zu artikulieren. Als ich erwiderte, sie sollten es ihm selbst sagen und vor allem auch zeigen, ergo den Knaben von seinen Fixierungen an die Eltern etwas ablösen, taktile Beziehungen aufnehmen, ihn küssen, ja warum nicht – ihn ein wenig – wozu auch immer – verführen, erlebte ich merkwürdige Hemmnisse. Die erste potentielle Freundin überwand sich schließlich auf dem Weg zum Grunewald-FKK , nahm den Knaben bei der Hand und spielte mit ihm. […] Eine Schauspielerin bat ich um einen Abschiedskuß für ihn. Sie näherte sich dem Gesicht des Jungen und schmiegte, den Kopf plötzlich abwendend, lediglich die Wange an die seine, unfähig, einen 10-jährigen im zärtlichen Vorfeld harmlosen Küssens als potentiellen Sexualpartner zu akzeptieren.« Für dergleichen Prüderien hatte Gmelin nur das verächtliche Urteil übrig: »Es ist ein Abgrund.«39 Der HU-Arbeitskreis »Erziehung zur Erziehung«, dem Gmelin angehörte, gab deshalb 1973 folgerichtig die Erklärung ab: »Uns erscheinen die §§ 174 und 176 (und wohl auch die anderen Unzuchtsgesetze) als überflüssig, ja schädlich.« Denn so würden »Sexualität und Verbrechen geradezu gleichgesetzt.«40 Auf einer Tagung der Humanistischen Union über

38  Viel und heftig diskutiert wurde in den frühen 1970er Jahren das Buch von Otto F. Gmelin, Böses kommt aus Kinderbüchern, München 1972.

»Kinderfeindlichkeit in der Bundesrepublik – Situation einer wehrlosen Minderheit«, die am 3. und 4. November 1973 in Köln stattfand, fordert der dort eingerichtete Arbeitskreis zur »Lustfeindlichkeit pädagogischer Institutionen« abschließend: »Die §§ 174 I 1 StGB und 176 Ziff 3 StGB (unzüchtige Handlungen mit Abhängigen) sind ersatzlos zu streichen.« »Zärtlichkeit auf freiwilliger Basis« seien »zu fördern, nicht zu bestrafen. Erpressungsmöglichkeiten und Verketzerungen der sogenannten Täter entfällt.«41 DIE GRÜNEN UND DIE LIBERTÄRE ERBMASSE Dergleichen also war schon weitgehend anderswo präjudiziert, gar bereits Historie, als die Grünen sich konstituierten und zu einem parlamentarischen, schließlich gouvernementalen Faktor wurden. Nochmals: Die Grünen nahmen parteipolitisch auf, was sich 15 Jahre zuvor an unterschiedlichen Stellen zu den heterogensten Themen als soziale Bewegungen formiert hatte, welche

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39  Otto Felicitas Gmelin, Zärtlichkeit, Inzest und die »Denaturierte Naturalisierung« der Familienbeziehung. Ein Beitrag zur vorschulischen Sexualerziehung, in: Vorgänge, 5/1973, S. 59–76, hier S. 69. 40  Arbeitskreise »Erziehung zur Erziehung« der »Humanistischen Union«, Thema: Zärtlichkeit, Zärtlichkeit, Zärtlichkeit, in: Vorgänge, H. 5/1973, S. 80–90, hier: S. 85. 41  Arbeitskreis: Die Lustfeindlichkeit pädagogischer Institutionen, in: Vorgänge, H. 1/1974, S. 132.

nun – im Übergang von den 1970er zu den 1980er Jahren – in vielerlei Hinsicht die Grenzen des separaten Engagements erfahren hatten, daher über die parteipolitische Neu-Bündelung zusätzliche Durchschlagskraft gewannen. Dabei schöpfte die neue Partei aus dem Lebensgefühl und dem Wertewandel der vorangegangenen anderthalb Jahrzehnt. Was immer sich im libertären Teil des nachgewachsenen bundesdeutschen Bürgertums seit Mitte der 1960er Jahre an Vorstellungen, Projekten, Komitees verbreitet hatte, es floss überwiegend in die Partei der Grünen ein, ob nun exaltierte Aufgeregtheiten, monomanische Sektierereien oder ernsthafte wie ernst zu nehmende Initiativen und Zusammenschlüsse. Die Partei gewährte allen möglichen Minderheiten ihrer kulturellen Grund-Couleur nicht nur aus taktischen Gründen ihre Nische und ihren Sonderstatus, sondern sah in einem solchen eigenen Raum den neuen Ort elementarer repressionsfreier Basisbeteiligung. Eben das bot Minoritäten in dieser Sattelzeit der grünen Partei die probate Gelegenheit, mittels des kategorischen Imperativs der absoluten Toleranz, sich auf Foren und Konferenzen der Partei überproportional viel Gehör und Geltung zu verschaffen. Mit der Zeit gingen einigen Grünen die oft herrischen, zuweilen wirr auftretenden Redner verstiegener Konventikel zwar auf die Nerven, aber sie trauten sich nicht, disziplinierend einzuschreiten, schon gar nicht die Ordnungskräfte des seinerzeit noch zutiefst misstrauisch betrachteten Repressionsstaates um Hilfe zu ersuchen. Ein Teil der Grünen hatte also jene Positionen aufgesogen, die von einer Fundamentalliberalisierung kündeten, weshalb in den frühen 1980er Jahren der Kampf gegen »Repression, Kriminalisierung, Ausgrenzung« gleichermaßen als Kernelement der eigenen Parteibildung firmierte. Die Grüne Partei war damals so etwas wie eine Amalgam aus, erstens, eher wertkonservativen, an Nachhaltigkeit, gar Askese orientierten Ökologen mit, zweitens, Vertretern libertärer, radikaldemokratischer, auch stark hedonistisch-individualistischer Positionen und schließlich, drittens, ernüchterten Ex-Kadern aus dem bunten Spektrum maoistischer-kommunistischer Sekten der 1970er Jahre. Das pädophile Element war gewiss kein Konstitutionsfaktor und Wesenszug einer ökologischen Ideologie, auch nicht Bestandteil einer marxistischen Linken. Es stand vielmehr zwischenzeitlich in erster Linie unter dem Schutzschild radialer Demokraten aus der linksliberalen Tradition der 1960er Reformkräfte im bundesrepublikanischen Bürgertum, das Minderheiten aller Art in ihrer Façon lassen, jedenfalls vor »Kriminalisierung« schützen wollte. Die Schattenseiten einer Deregulierung des Sexualstrafrechts blieben zunächst ausgeblendet. Bei den Grünen wie zuvor bei den Bürgerrechtsliberalen sah man anfangs über die strukturellen Macht- und Durchsetzungsdifferenzen Franz Walter  —  Im Schatten des Liberalismus

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zwischen Erwachsenen und Kindern hinweg. Man setzte sich nicht damit auseinander, wie subtil der Wille von Kindern jenseits der Anwendung von Gewalt gebrochen werden kann und welche belastenden Auswirkungen das auf die weitere Biografie haben musste. Allein das legt den Grünen gegenwärtig die Pflicht auf, nicht nur die unzweifelhaften Erfolge der Emanzipationsgeschichten seit 1968 zu feiern und umstandslos mit den eigenen Biografien zu identifizieren, sondern sich überdies den Irrwegen einer Deregulierung auch vernünftiger Normen ohne Ausflüchte zu stellen. Allerdings gilt eben dies nicht nur für die Grünen. Je stärker dort die Parteibildung voranschritt, die sozialen Bewegtheiten erschlafften und die Akteure des Alternativen an Alter und wohl auch an Reife zulegten, desto mehr schwanden Langmut und Nachsicht mit skurrilen Politforderungen. Die zunächst noch als unantastbar deklarierten Essentials der projektierten Anti-Parteien-Partei – Öffentlichkeit aller Beratungen, Rotation der Mandatsträger, imperatives Mandat, strikte Basisdemokratie – büßten bald an Bedeutung und Verbindlichkeit ein, um dann vollends aus der Arena grüner Willensbildung verwiesen zu werden. In diesem Zeitabschnitt und innerhalb dieses Transformationsprozesses verarbeiteten die Grünen auch den pädophilen Entrismus. Die Ideologen der Pädophilie hatten bei den Grünen in der ersten Hälfte der 1980er Jahre Freiräume vorgefunden und eine kurze Zeit lang nicht ungeschickt nutzen können. Das war, nochmals, Folge und Konsequenz der ideologisch unterfütterten Minoritätssympathie im grün-alternativen Milieu. Doch stießen die Befürworter pädophiler Sexualität von Beginn an stets auch auf vehemente Einsprüche und Gegenreden.42 In dem Maße, in dem die Parteiöffentlichkeit, sicher nicht zuletzt durch die medialen Negativreaktionen, auf pädophile Parteitagsanträge das Thema stärker wahr- und ernst nahm, in dem Maße geriet die pädophile Apologie weit ins Hintertreffen und rutschte von da ab in der deutschen Gesellschaft insgesamt – auch in den Teilen des zunächst noch kokett tolerierenden Libertärbürgertums – in die politische Bedeutungslosigkeit. Natürlich: Die sexuelle Liberalisierung seit den 1960er Jahren steht in der Wahrnehmung der übergroßen Mehrheit der Bundessdeutschen heute unzweifelhaft und mit einigen guten Gründen auf der Haben-Seite der bundesrepublikanischen Geschichte. Das Renommee der 68er-Generation wie der linkslibertären Kultur und die bemerkenswerten Erfolge der Grünen bei Wahlen seit 1979 konnten aus diesem Wohlwollen gegenüber der Deregulierung zuvor eng gefasster Normen und autoritärer Kontrollbefugnisse schöpfen. Denn man schrieb ihnen, den Protest- und Alternativkohorten der Bundesrepublik, den gesellschaftlichen Freiheitsschub positiv zu. Doch hat die

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42  Hierzu sehr dicht belegt Stephan Klecha, Niemand soll ausgegrenzt werden – Die Kontroverse um die Pädosexualität bei den frühen Grünen, in: Walter u. a., S. 160–227.

Transzendierung konventioneller Reglements ebenfalls Lasten bereitet, Verlierer zurückgelassen, ja: Schäden und Geschädigte produziert. Im Grunde weist die Diskussion um die Pädophilie auf die immer wiederkehrenden Aporien von Modernisierungs- und Emanzipationswellen hin. Sie erweitern Räume, sie vervielfältigen die Optionen, sie eröffnen neue Chancen. Das ist die eine Seite, die mit Recht vielfach goutiert wird. Zur anderen Seite jedoch gehören unvermeidlich Destruktionen und Verluste. Man wird das eine nicht ohne das andere bekommen. Nach Zeiten radikaler Deregulierung pflegen längere Momente zu folgen, in denen über neue Grenzziehungen nachgedacht wird. 2013 war so ein Moment. Er dürfte noch nicht zu Ende sein. Aber auch dann geht die Geschichte, schreitet der dialektische Prozess von traditionskritischer Entbindung und einhegender Rückbindung weiter. Diese Entwicklung vollzieht sich nicht hinter dem Rücken politischer und gesellschaftlicher Akteure. Sie tragen vielmehr Verantwortung für Richtung und Ziel solcher Prozesse, nicht nur für das Licht, sondern auch für die Schatten, die – dadurch – geworfen werden. Parteien – aber keineswegs nur sie – neigen dazu, sich historischer Verantwortlichkeiten solcher Art in aller Stille zu entledigen. Aber irgendwann werden sie dann doch von dem eingeholt, was sie tief vergraben meinten und aus den Erinnerungen hatten tilgen wollen. Neue Generationen werden aufmerksam und fragen zuweilen bohrend nach. Man wird sie nicht gewinnen, wenn Antworten ausbleiben, weil Sprachlosigkeit sich festgesetzt hat.

Prof. Dr. Franz Walter, geb. 1956, ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Göttingen.

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DIE RÜCKKEHR DES ERSTEN WELTKRIEGS IN DAS DEUTSCHE ZEITGEDÄCHTNIS VOM AUFARBEITUNGSJAHR 2013 ZUM ERINNERUNGSJAHR 2014 (TEIL 2)1 ΞΞ Martin Sabrow

Es ist selten, dass ein historisches Jubiläum so mit Gegenwartsbezügen aufgeladen wird wie der Erste Weltkrieg. Allzu handgreiflich wirken die Analogien zwischen der Julikrise 1914 und Krimkrise 2014 und ebenso die Gemeinsamkeiten zwischen den damaligen Schlafwandlern und den heutigen Traumtänzern, die beide Male nicht die Zivilisation einem Weltkrieg opfern wollten und doch, damals wie heute in der Logik ihrer nationalen Handlungswelten gefangen, geradewegs in ihn hineinstolperten. Tag um Tag fundiert die politische Publizistik im Ukrainekonflikt ihre jeweilige Position bevorzugt »vor dem Hintergrund, dass gerade immer wieder daran erinnert wird, wie der Erste Weltkrieg vor einhundert Jahren begann: indem der Westen dort gewissermaßen hineinrutschte«.2 Fast täglich halten Fachhistoriker mit guten Argumenten öffentlich dagegen und versichern: »Die historischen Vergleiche, die die Ereignisse in Kiew und auf der Krim erklären sollen, sind töricht – und gefährlich«.3 Doch noch in der Absage an die Idee der historischen Wiederholung zeigt sich der Einfluss der Kriegserinnerung auf die Haltung der europäischen Öffentlichkeit und Diplomatie. Namentlich die deutsche Position der Zurückhaltung und Eskalationsvermeidung orientiert sich überdeutlich an der Negativfolie der deutschen Krisendiplomatie vor einhundert Jahren. Zugleich scheint der Erste Weltkrieg ein unfassbarer Erinnerungsort. Die verheerenden, die europäische Gesellschaft in ihren Grundfesten erschütternden Auswirkungen des Ersten Weltkriegs stehen uns auch heutzutage noch und gerade in diesem Jubiläumsjahr so sehr vor Augen, dass wir den Krieg mit monumentalen Begriffen wie Zivilisationsbruch oder als Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnen.4 Nichts schlägt uns rückblickend dabei so sehr in den Bann, wie die groteske Kluft zwischen den unerhörten materiellen und mentalen Verwüstungen, die das »Menschenschlachthaus« angerichtet und zum Auftakt des säkularen »europäischen Bürgerkriegs von

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INDES, 2014-4, S. 134–144, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014, ISSN 2191-995X

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1  Teil 1 (»Aufarbeitung als Paradigma«) findet sich in INDES, H. 1/2014. 2  Stephan-Andreas Casdorff, Keine Zeit für Zurückhaltung. Die westliche Diplomatie muss im Ukrainekonflikt mutige Schritte wagen, in: Der Tagesspiegel, 28. 04. 2014. 3  Gregor Schöllgen, Dies ist keine Julikrise und auch kein Kalter Krieg, in: Süddeutsche Zeitung, 26. 03. 2014. 4  Die interpretativen Chancen und Grenzen der »sich geradezu übertreffende(n) Beschreibungen«, die »im Wesentlichen auch nur andeuten (sollen), dass die Kriege des zurückliegenden Jahrhunderts unbegreiflich groß waren«, erörtert Michael Geyer, Urkatastrophe, Europäischer Bürgerkrieg, Menschenschlachthaus – Wie Historiker dem Epochenbruch des Ersten Weltkrieges Sinn geben, in: Rainer Rother (Hg.), Der Weltkrieg 1914–1918. Ereignis und Erinnerung, Berlin 2004, S. 24–33, hier S. 25.

1914 bis 1989 hatte werden lassen, und seinem banalen und kontingenten Anlass eines fehlenden Rückwärtsganges in dem in Sarajewo just vor Gavrilo Princips gespanntem Revolver haltenden Automobil des österreichischungarischen Thronfolgers am 28. Juni 1914«. Gerade darum steckt in der Beschäftigung mit der Erinnerung an den Großen Krieg mehr als eine bloße Reverenz vor der immer höher schwappenden Modewelle des kommunikativen und kulturellen Erinnerns in unserer Zeit: Die retrospektive »Sinngebung des Sinnlosen«, der politisch gedenkende wie der privat aufwühlende Umgang mit diesem nichtigen Anlass und weltgeschichtliche Folgen so absurd verbindenden Ereignis stellte eine der stärksten Prägekräfte politischen Handelns im weiteren 20. Jahrhunderts dar; und diese Prägekraft reichte in Deutschland vom »Kampf gegen Versailles« über die »nationale Wiederauferstehung« bis zur »Löschung der Schande von Compiègne« (Hitler 1940) bis zur »Idee Europa« nach 1945, um nur einige der erinnerungspolitischen Losungen zu zitieren. Die erinnernde Verarbeitung des Geschehens entfaltete ihre Handlungsmacht schon im Krieg selbst. Bereits hieran wird deutlich, dass das unschuldige Wort der Erinnerung von tödlicher Kraft sein konnte und bis heute sein kann. Das Wort »Erinnerung« ist in unserer Zeit kein beschreibender Fachterminus, sondern normative Pathosformel, die grundsätzlich dem Sprechen über die Vergangenheit mehr Kredit gibt als dem Schweigen. Erinnern verbindet sich in unserem Denken mit Genugtuung und Wiedergutmachung, mit Heilung und Versöhnung. Darin steckt eine geschichtspolitisch problematische, aber vor allem wissenschaftlich nicht einholbare Setzung – Erinnerung gilt in der Gegenwart als kulturell anerkanntes Paradigma. Es gerät dabei in Vergessenheit, dass die Geltungskraft dieses Paradigmas historisch ebenso wandelbar ist wie der Gehalt des Erinnerten unterschiedlich. Im Durchgang durch ein Jahrhundert Kriegserinnerung bewegen wir uns überwiegend in Zeiten, in denen das subjektive, persönliche, gar schmerzerfüllte Erinnern nicht für eine Leistung, sondern für eine peinliche und verdammenswerte Untugend galt. Als der sozialdemokratische Landrat des Ruhr-Ennepe-Kreises, Hansmann, 1931 in einer Versammlung daran erinnerte, dass die Soldaten nur unter Druck der Vorgesetzten und starkem Alkohol in Sturmangriffe gegangen seien, wurde er dafür wegen »Beleidigung von Frontsoldaten« gerichtlich verurteilt5; als wiederum 1926 im sogenannten »Dolchstoßprozess« der angeklagte Journalist der SPD zur 5  Bernd Ulrich u. Benjamin Ziemann (Hg.), Frontalltag im Ersten Weltkrieg. Ein historisches Lesebuch, Essen 2008, S. 12.

Unterstützung seiner Kritik an der Dolchstoßlegende vor Gericht einzelne Zuschriften vorlesen wollte, damit im Prozess auch »die Frontsoldaten (…) zu Gehör« kämen, wurde ihm das vom vorsitzenden Richter aufgrund von

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Tumulten im Zuschauerraum untersagt.6 Den Krieg aus privater Perspektive des Grauens und Todes zu sehen, bedeutete im nationalen Geschichtsdiskurs der Zeit die Verleugnung eines »ungeheuren Daseinskampfes«, der es im Gegenteil zur Pflicht mache, »den inneren Schweinehund, der jeden Menschen bedroht, zu überwinden«.7 Umgekehrt zeitigte der Große Krieg auch Folgen, die bis heute keinen Platz in der Erinnerung gefunden haben – das Datum der letzten indirekten Reparationszahlungen am 3. Oktober 2010 ist auf politischer Ebene hier zu nennen oder das Verbot der Markenbezeichnung »Champagner« für deutsche Sekte auf wirtschaftlicher oder die dem Weltkrieg geschuldete Etablierung männlicher Modeaccessoires wie des kapuzenlosen Kampfmantels, der allerdings erst seit den Zeiten Humphrey Bogarts Karriere machte und daher bevorzugt mit seinem englischen Namen als Trenchcoat bezeichnet wird. Noch weniger wird den Milliarden von Männern auf der Welt, die eine Uhr am linken Handgelenk tragen, klar sein, dass sie sich in direkter Tradition des Weltkriegs befinden, der die vordem gegenüber der männlich konnotierten Taschenuhr als weibliches Verlegenheitsaccessoire angesehene Armbanduhr mit Sekundenzeiger zu einem hervorragenden Instrument im Infanterieangriff und bei der Abschätzung von Aufschlagzeitpunkten machte. DIE ERINNERUNG AN DEN ERSTEN WELTKRIEG IN DER ZWISCHENKRIEGSZEIT Nicht erst nach seinem Ende setzte die Erinnerung an den Großen Krieg ein, sondern bereits in ihm. Der Stellungskrieg im Westen und nach dem Rückzug der russischen Truppen aus Ostpreußen auch der Bewegungskrieg im Osten spielten sich außerhalb der Reichsgrenzen ab, und das Kriegsgeschehen erreichte die Heimat allein über die mediale Vermittlung vor allem erst der Wochenschauen mit ihren stereotypen Bildern von Truppenbewegungen und Frontabschnitten und später auch erster Dokumentarfilme, die freilich schon aus technischen Gründen weitgehend wirklichkeitsferne Eindrücke transportierten. Unterschiedlich und kontrovers gestaltete sich die erinnernde Auseinandersetzung mit dem Weltkrieg erst recht nach seinem Ende. In Frankreich und England dominierte die Erinnerung an den erlittenen Verlust, der Schmerz über das Ausmaß an Zerstörung, das Selbstverständnis als Opfer der von Deutschland und Österreich ausgegangenen Aggression. So entstand in England und Frankreich eine bis in die Jetztzeit aufrechterhaltene Erinnerungsgemeinschaft, die den »Onze Novembre« bzw. den

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6  Ebd., S. 95 f. 7  Anonym (vermutlich G. Traub), Im Kampf um die Deutung des Krieges, 1931, zit. n. Bernd Ulrich, Die umkämpfte Erinnerung. Überlegungen zur Wahrnehmung des Ersten Weltkrieges in der Weimarer Republik, in: Jörg Duppler u. Gerhard P. Groß (Hg.), Kriegsende 1918. Ereignis, Wirkung, Nachwirkung, München 1999, S. 367–375, hier S. 367.

»Remembrance Day« alljährlich ohne Triumphalismus und Militarismus als Tag gemeinsamer Trauer im Zeichen der Korn- und der Mohnblume begeht und mit den »fêtes des poilus« als »Wiederherstellung des sozialen Miteinanders« begreift. Ganz anders und ihrerseits uneinheitlich entwickelte sich die Auseinandersetzung mit dem Krieg in Ost- und Ostmitteleuropa. Dass im europäischen Gedächtnis insgesamt das Bild des Krieges von der Westfront und nicht von der Ostfront bestimmt wurde, hat zum einen mit der Kriegsentscheidung im Herbst 1918 im Westen zu tun, zum anderen aber damit, dass in Osteuropa die Erinnerung an den Krieg überlagert wurde durch die Kriegsfolgeereignisse der Russischen Revolution, der Bürgerkriege und der Nationalstaatsbildungen. Die sich neubildenden Staaten wie Polen und die nationalen Autonomiebewegungen der Tschechen, Slowaken, Kroaten, Letten oder Litauer und Esten verstanden den Krieg durchaus nicht als Katastrophe, sondern als Beginn einer Epoche, die das imperiale durch das nationale Staatenprinzip abgelöst und damit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker Bahn gebrochen habe. In ihnen wurde die Gewinnung oder Bewahrung nationaler Unabhängigkeit zum Bezugspunkt des eigenen Gedenkens. Im revolutionären Russland und in der späteren Sowjetunion fand das blutige Kräftemessen der imperialistischen Weltkriegsmächte gar keinen Platz im gesellschaftlichen Gedächtnis. Der russische Kriegsbeitrag gehörte nicht in die Traditionslinie der Sowjetunion und wurde gänzlich überlagert erst vom Kult um die revolutionären Helden mit Lenin an der Spitze und dann vom Gedenken an den Großen Vaterländischen Krieg gegen Hitlerdeutschland. Die deutsche Nachkriegsgesellschaft wiederum stand vor der Aufgabe, die völlige Nutzlosigkeit der eigenen Anstrengungen, der alle Maßstäbe sprengenden Opferung von Gütern und Leben zu verarbeiten, also in unserer Sprache die »Sinngebung des Sinnlosen« zu betreiben. Diese Verarbeitung vollzog sich im Rahmen einer dreifachen Verlusterfahrung, die das Leben in der Nachkriegsgesellschaft bestimmte: des millionenfachen Verlustes an Menschen im Krieg selbst, des Verlustes an bürgerlichen Besitzverhältnissen und sozialer Sekurität in der Inflation der Nachkriegsjahre sowie des Verlustes an Einkommen und Erwerbsmöglichkeiten in der Massenarbeitslosigkeit der Wirtschaftskrise seit 1929. Unter diesen Vorzeichen bildete sich im Nachkrieg in Deutschland keine parteiübergreifende Gedenk- und Trauergemeinschaft aus, sondern eine zerklüftete Erinnerungslandschaft, die von der völligen Verdrängung der Kriegs- und Leiderfahrung bis zur aggressiven geschichtspolitischen Mobilisierung, von der pazifistischen Verfemung bis zur bellizistischen Mythisierung des Kriegserlebnisses Martin Sabrow  —  Die Rückkehr des Ersten Weltkriegs in das deutsche Zeitgedächtnis

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reichte. Dabei dominierte in den ersten Nachkriegsjahren ein eigentümliches Desinteresse an authentischen Schilderungen. Die Konjunktur der Kriegserinnerungen setzte erst zum zehnten Jahrestag 1924 ein, der eine Zäsur im Umgang mit dem Weltkrieg markiert und zu dem Reichspräsident und Reichskanzler aufriefen, endlich ein gemeinsames Ehrenmal der Kriegstoten zu schaffen. Dazu kam es nicht. Nach der feierlichen Grundsteinlegung für ein nationales Ehrenmal am Ort der Schlacht von Tannenberg in Ostpreußen am 31. August 1924 konkurrierten jahrelang weitere nationale Gedenkplanungen etwa im Westen für eine Toteninsel bei Lorch im Rhein und in der Mitte Deutschlands für einen Heiligen Hain bei Bad Berka in Thüringen. Hitler blieb es vorbehalten, die 1927 von Hindenburg eingeweihte Denkmals­ anlage von Tannenberg 1935 zum Reichsehrenmal zu erheben, nachdem in der Spätphase der Weimarer Republik die preußische Regierung im Alleingang die Neue Wache in Berlin zum Ehrenmal für die Gefallenen des Weltkriegs erklärt hatte. Stattdessen wurden Einzelereignisse zu Feierorten, aber nicht Verdun und die Schlacht an der Somme, sondern Heldenorte einer historischen Stolzkultur, so die Schlacht bei Tannenberg, die seit 1919 als jährlicher Gedenkort gegen Weimar und Versailles installiert wurde; sich zu einem Siegerort mit Hindenburg an der Spitze wandelte und seit 1927 Reichsehrenmal wurde. Die umkämpfte Erinnerung illustriert in prägnanter Weise der Skandal, den Emil Julius Gumbels Vorschlag machte, ein in Heidelberg geplantes Kriegerdenkmal mit einer Kohlrübe statt einer Siegesgöttin zu krönen, und mehr noch die Rezeption von Erich Maria Remarques 1928 zuerst in Fortsetzungen in der Vossischen Zeitung veröffentlichter Kriegsroman »Im Westen nichts Neues«, der mit seinen zentralen Botschaften von der Sinnlosigkeit des Krieges, dem Elend des Kriegsalltags und der Unvermeidlichkeit der Niederlage ein Bestseller wurde (über 900.000 Verkaufsexemplare im ersten Jahr und Übersetzungen in alle Weltsprachen) und zugleich erbitterte Gegenwehr hervorrief. Wie sich die Waage in der deutschen Öffentlichkeit neigte, zeigte das Aufführungsschicksal der Verfilmung von »Im Westen nichts Neues«, dessen zeitweilige Absetzung die erstarkte Nazi­ bewegung schon im Dezember 1930 erzwingen konnte, bis dann 1933 die Bücher des ins Exil gegangenen Remarque verbrannt wurden, der 1938 auch die deutsche Staatsangehörigkeit verlor – und nach 1945 trotz allen Bemühens nicht zurückerhielt. Schauen wir auf die einzelnen Ingredienzien dieser Form der Vergangenheitsbesinnung, so lassen sich deren grundlegende Differenzen zu unserem heutigen Verständnis von Erinnerungskultur leicht herausheben. Erinnerung

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hieß im nationalen Denken der Weimarer Zeit gezielte Mythenbildung. Als bekannte Beispiele dieser Mythenbildung lässt sich etwa neben der Dolchstoßlegende der »Langemarck-Mythos« anführen. Seine passende Ergänzung fand der mannhafte Trotz gegen das Siegerdiktat in dem Glauben, dass der Krieg nicht an der Front, sondern in der Heimat verloren worden sei. Die Legende vom Dolchstoß, den die durch die Wühlarbeit der Umsturzparteien entfachte Kriegsmüdigkeit und Aufständigkeit der kämpfenden Truppe versetzt habe, ist älter als Hindenburgs so berühmte wie verhängnisvolle Aussage vor dem Reichstagsausschuss im November 1919, in der der vernommene Heerführer sich auf das angebliche Zeugnis eines englischen Generals berief, dass die deutsche Armee »von hinten erdolcht worden« sei.8 Schon am 26. Oktober 1918 fanden sich in der Presse Klagen über die »zusammengebrochene Heimatfront«, und selbst Friedrich Ebert feierte am 10. Dezember 1918 die heimkehrenden Truppen als »im Felde unbesiegt«. Doch erst im Verlaufe des Jahres 1919 und mit der Enttäuschung über den versagten »Wilson-Frieden« entfaltete diese Behauptung ihre ganze zerstörerische Kraft, als sie auf ein durch die Welle von rechts dramatisch verändertes Meinungsklima traf. Die Dolchstoßlegende wurde zum Mythos, der ein geschlossenes Deutungsmodell für die unverarbeitete Niederlage bereithielt und die Verantwortung für den deutschen Sturz in die Ohnmacht den »Novemberverbrechern« und »Umsturzparteien« der Linken und der Mitte auflud. Der Begriff der Erinnerung mobilisierte in der Weimarer Gesellschaft parteiübergreifend die heroische Erfahrung statt der schmerzhaften Erinnerung, und sie schuf dafür einen Begriff, der gezielt auf mythische Verklärung statt auf persönlichen Schmerz setzte: das Kriegserlebnis. Wie heute fragten sich allerdings auch damals schon die Nachlebenden, ob aus dem Geschehen eine unverrückbare Lehre zu ziehen sei. Der bedeutende Bildungstheoretiker Erich Weniger stellte mit Recht fest, dass es offenbar keine 8  Hindenburgs Aussage vor dem Untersuchungsausschuss des Reichstages, 18. 11. 1919, nachzulesen in: Vossische Zeitung, 18.11.1919, Abend-Ausgabe.

echte Erinnerung gäbe, sondern nur sehr gegensätzliche Lehren mit den »Erfahrungen des Weltkriegs«.9 Wohl aber manifestierte sich eine lehrhafte Erinnerung an den Krieg auf anderem, praktischem Feld, nämlich in militärischer Hinsicht. Entsprechend dem von Wolfgang Schivelbusch und

Erich Weniger, Das Bild des Krieges, 1929, zit. n. Ulrich u. Ziemann, S. 163.

Reinhart Koselleck formulierten Gedanken, dass geschichtliche Niederlagen

10  Reinhart Koselleck, Erfahrungswandel und Methodenwechsel. Eine historisch-anthro­ pologische Skizze, in: ders., Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a. M. 2000, S. 27–77.

mächte.10 So verharrte die französische Militärdoktrin auf einem historischen

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die zukünftige Innovationskraft mehr stärken als Siege, modernisierte die deutsche Seite ihre militärstrategischen Konzepte rascher als die EntenteAnalogiedenken, das den Zukunftskrieg als Wiederholung der nationalen Mobilisierung von 1914 konzipierte und daher rüstungstechnisch auf ein lineares Defensivkonzept setzte, das auf die Maginot-Linie als Bollwerk der

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Landesverteidigung ausgerichtet war. In der deutschen Militärstrategie hingegen war das lineare Raumverständnis bereits unter Ludendorff 1918 durch eine Vorschrift für den Angriff im Stellungskrieg abgelöst worden, das den Vormarsch in linearen Ketten durch den flexiblen und tief gestaffelten Ansturm ablöste. Sie beruhte auf einer revolutionären Änderung der Raumvorstellung, die den bisher linear gedachten Raum der militärischen Operation nunmehr netzförmig verstand und über Verkehrsknotenpunkte, Flughäfen, Nachschubdepots und rückwärtige Befehlsstellungen statt in breiter Fläche zu erobern plante. Während die französische Siegermacht auf die im Krieg bewährte Linienverteidigung setzte, stellte die deutsche Militärdoktrin auf raumgreifende Offensivoperationen von motorisierten Angriffsverbänden ab, für die neben der Entwicklung von aufeinander bezogenen Waffensystemen wie Panzer und Sturzkampfbomber vor allem die Erhöhung der operativen Kommunikationsgeschwindigkeit durch innovative Panzerausrüstung mit UKW-Sprechfunk ausschlaggebend wurde.11

Die NS-Bewegung selbst fand im kriegsbezogenen Erinnerungskult ihr vielleicht stärkstes Legitimationsmittel. Hitler selbst, der ungewöhnlich hoch dekorierte Weltkriegsgefreite, stellte sich von der Kleidung in die schlichte Uniform des einfachen Soldaten bis zur propagandistischen Gegenüberstellung von Marschall und Gefreitem etwa am sogenannten »Tag von Potsdam« als Exponent einer Bewegung, die die »Ehre des Frontsoldaten« wiederherstellen wollte. Der Nationalsozialismus wertete die Kriegsbeschädigten symbolisch in gleichem Maße öffentlich auf, wie ihnen insgeheim bisherige materielle Vergünstigungen wie Freifahrten in der Reichsbahn entzogen wurden. Am 21. März 1933 dekorierten effektvoll in ihren Rollstühlen aufgereihte Kriegsinvaliden den Einzug von Hindenburg und Hitler in die Potsdamer Garnisonkirche; bei sportlichen Wettkämpfen und besonders zu den Olympischen Spielen 1936 in Berlin wurden ihnen Ehrenplätze in den Sportstadien zugewiesen. Mit der politischen Gleichschaltung verband sich auch eine Vereinheitlichung der Kriegserinnerung, die dezidiert die bisherige Fragmentierung der »Systemzeit« und ihres Parteiengezänks in eine gemeinsame kulturelle Erinnerung überführte und dies als Überwindung schlechter Individualität feierte. Charakteristisch für die nationalsozialistische Kriegserinnerung war das Paradigma der Kontinuität, das die eigene Herrschaft als Wiederherstellung, Wiedererrichtung und Wiederkehr des alten Zustandes begriff und den Krieg gar nicht in die Vergangenheit entließ, sondern sich als dessen Fortsetzung verstand. Die Epoche von 1914 bis 1939 wurde in diesem Denken zu einer kriegerischen Einheit.

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11  Stefan Kaufmann, Raumrevolution – Die militärischen Raumauffassungen zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg, in: Rother, S. 42–49.

DIE ERINNERUNG AN DEN ERSTEN WELTKRIEG IN DER NACHKRIEGSZEIT In der Nachkriegszeit galt »Versailles« als das zentrale Argument für die alliierte Schuld am Aufstieg Hitlers und am Zweiten Weltkrieg. So stand zum 50. Jahrestag 1964 nicht das konkrete Kriegserleben im Zentrum, sondern allein die diplomatische Entwicklung hin zum Kriegsausbruch, die zu diesem Jubiläum ganz im Bann der von dem Hamburger Historiker Fritz Fischer ausgelösten und in der etablierten Historikerzunft, aber auch in der staatlichen Gedenkpolitik heftig bekämpften Kontroverse um die deutsche Kriegsschuld. Unabhängig von ihrer Beantwortung wurde in der Gedenkpraxis das heroisierende Narrativ vermieden, aber auch noch nicht durch ein viktimistisches ersetzt. Übrig blieb eine erinnerungskulturelle Leerstelle. Der erinnernde Umgang musste abstrakt bleiben, weil er in der konkreten Erinnerung zu der Unterscheidung von Freund und Feind, Täter und Opfer hätte führen können – der Zeitzeuge als Leidzeuge hätte damals noch nicht eine europäische Gesamtfigur abgegeben, sondern eine nationalistische Fortsetzung der kriegerischen Unversöhnlichkeit. Der Weltkrieg blieb daher ein abstrakter Lernort und Gegenmodell, als gleichsam falscher Erinnerungsort ohne Zeitzeugenschaft, um die europäische Versöhnungsbotschaft nicht zu gefährden. Die Erinnerungskultur dieser Jahre rühmte daher im Sinne der Nachkriegszeit und ihrer Kahlschlagpoesie den Idealismus der Versöhnungsaktivisten, den sie »schamhaft unter einem äußeren Panzer von illusionsloser Kritik und strenger Nüchternheit (verbergen)«. Die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs prägten Menschen, die nicht ihre Erinnerung auslebten, sondern an Gesittung gewonnen hatten: Denn »weit über die Hälfte kehrt nach zweieinhalb Wochen tief beeindruckt, dauerhaft überzeugt von der Sinnlosigkeit des Krieges und durch die Begegnung mit ihm staatsbürgerlich geformt in die Heimat zurück. Das ist, so scheint uns, eine Bilanz, die sich sehen lassen kann. Es sind nicht nur die bösen Disteln der Erinnerung, die im verbrannten Boden von Verdun Wurzeln schlagen.«12 In der Fachwelt und besonders auf dem Berliner Historikertag ebenfalls 1964 hatte sich in dieser Zeit längst die These Fischers von der erheblichen Mitverantwortung der deutschen Politik am Ersten Weltkrieg etabliert, die Fischer selbst später zur Alleinschuldthese zuspitzte und die im Laufe der 12  Heinz Barth, Fünf Jahrzehnte danach. Die Disteln des Douaumont. Junge Menschen pflegen Kriegsgräber, in: Die Welt, 01. 08. 1964.

siebziger und achtziger Jahre zur historischen Meistererzählung aufstieg. Doch der Erste Weltkrieg blieb auch weiterhin ein abstraktes Datum, das gerade in der Schuldfrage ein national verengtes Geschichtsdenken favorisierte.

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VON DER ALLEINSCHULDANKLAGE ZUM GEMEINSCHULDBEKENNTNIS Der Erste Weltkrieg war noch in der Berliner Republik der 2000er Jahre ein vergessener Erinnerungsort, und nichts spiegelt dies bis heute so sehr wie die Neue Wache in Berlin, die Ende der zwanziger Jahre als Reichsehrenmal für den Ersten Weltkrieg entstand, dann von der DDR als Denkmal der Opfer imperialistischer Kriege umgestaltet wurde und heute als Sammelgedenkstätte für die »Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft« im allgemeinen Gedächtnis besonders an die Leiden unter der NS-Herrschaft erinnert. Ebenso war die Ausstrahlung der Holocaust-Serie 1979 ein bis heute erinnertes einschneidendes Medienereignis, während die aufwendige Koproduktion des deutschen und französischen Fernsehens »La Grande Guerre/1914–1918/Der Erste Weltkrieg« vollkommen aus der gesellschaftlichen Erinnerung verschwunden ist. Innerhalb kürzester Zeit scheint sich diese Situation in geradezu unheimlicher Geschwindigkeit und Radikalität verkehrt zu haben. Schauen wir in die Publizistik unserer Tage ebenso wie auf den fachlichen Output des diesjährigen Weltkriegsjubiläums, so muss man feststellen, dass der Große Krieg plötzlich und triumphal von einem vergessenen zu einem höchst lebendigen Erinnerungsort verwandelt worden ist. Der Weg vom Vergessen zum Erinnern hat mit atemberaubender Selbstverständlichkeit dieselbe Kriegsschuldthese einkassiert, um die in Fach und Öffentlichkeit jahrzehntelang die erbittertsten Grabenkämpfe ausgetragen worden. Zum hundertesten Jahrestag lautet das vorherrschende Narrativ etwa so: Der Erste Weltkrieg war ein weltgeschichtliches Unglück, das niemand wollte, aber auch nicht energisch zu verhindern fähig war. Alle wurden Opfer eines Krieges, dessen Dimensionen niemand ahnte und dem alle wenngleich in unterschiedlicher Weise zum Opfer fielen. Gerade darum darf er nicht vergessen werden, weil er eine historische Lernchance bietet, die beispielhaft in der EU wahrgenommen, in anderen Ländern wie Türkei oder Russland aber sträflich ausgeschlagen wurde. Wie konnte es dazu kommen, und wie lässt sich dieser doppelte Wechsel vom Vergessen zum Erinnern und von der Alleinschuld zur Gemeinschuld erklären? Gerade die entmachteten Meistererzähler des Kriegsschuldlagers bedienen sich gerne einer traditionellen Denkfigur, die Christopher Clarks Gegenkonzept der europäischen Schlafwandler13 als ersehnte Selbstentlastung der zu neuem Selbstbewusstsein erwachten Deutschen erklärt und zugleich diskreditiert: »Im mächtigeren Deutschland vergeht die Vergangenheit nun noch rascher. (…) Während für deutsche Verbrechen nur noch mit

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13  Christopher Clark, The Sleepwalkers. How Europe went to War in 1914, London 2012; dt. Ausgabe: Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog, München 2013.

kleiner Münze gezahlt wird, wächst das moralische Gewicht der ›Schuldensünden‹ – der andern.«14 Doch nicht um nationale Täterentlastung geht es in der neuen zeithistorischen Meistererzählung, sondern um europäische Ausweitung des Opfernarrativs. Begünstigt von einer signifikanten Internationalisierung der Erzählperspektive, wie sie etwa Clark mit seiner Fokussierung auf die innerserbische Situation vorführt, erleben wir, wie auch der Erste Weltkrieg in eine opferorientierte Geschichtserzählung inkorporiert wird, die sich bislang auf die Aufarbeitung der beiden großen Diktatursysteme des 20. Jahrhunderts konzentriert hat und nun auch den Großen Krieg als deren initiierender Urkatastrophe einbezieht. Erinnernde Annäherung und zugleich lernwillige Distanzierung machen die Zangenbewegung der Aufarbeitungsepoche aus, in der wir leben und die im Rahmen einer fortschreitenden Medialisierung und jubilarischen Eventisierung im Geschichtsboom der Gegenwart nun auch den Ersten Weltkrieg erfasst hat. Der Große Krieg spiegelt in den verschiedenen Stadien seines Erinnerns einen allmählichen Wandel von der Heroisierung zur Viktimisierung wider, der sich längst auch in den Erinnerungskulturen der einstigen deutschen Kriegsgegner zu vollziehen begonnen hat. Zugleich wird im aktuellen »Wandel der Vergangenheit« ein neues Geschichtsnarrativ sichtbar, das besonders in Deutschland propagiert wird und im Begriff des »europäischen Geschichtsjahrs 2014« seinen medial und jubilarisch mundgerechten Ausdruck gefunden hat. Es operiert nicht mehr mit der Identifizierung von einzelnen Tätern, politischen Lagern und sozialen Gruppen, es argumentiert nicht mehr mit Ideen, Interessen und Mentalitäten, sondern erklärt den Krieg zu einem Irrsinn, den niemand gewollt habe und dem am Ende um den Preis ihres eigenen Untergangs alle zum Opfer fielen – vom monarchischen Staatslenker bis zum einfachen Soldaten. Auf dieser Basis verknüpft das neue Erinnerungsnarrativ die »Urkatastrophe« des Ersten Weltkriegs mit dem 75. Jahrestag des Zweiten Kriegsausbruchs und der Friedlichen Revolution in Deutschland und Ostmitteleuropa vor 25 Jahren und gewinnt mit einem Mal aus der bisherigen Erinnerungsleere eine sinnstiftende Deutung in postnationaler und europäischer Perspektive. Sie enthält das Angebot, die Leitnormen der historischen Schamkultur wie Zäsurerfahrung, Opferorientierung und Diktaturaufarbeitung in Beziehung zu setzen zu einer historischen Erfolgsgeschichte, die das Jahrhundert der Extreme als am Ende erfolgreich genutzte Lernchance erzählt und einen Bogen vom Kriegsausbruch 1914 über das Höllentor von 14 

Andrea Dernbach, Erinnern, ohne zu entschädigen, in: Der Tagesspiegel, 10. 04. 2014.

1939 bis zur Wiedergewinnung der europäischen Freiheit 1989 und der EUOsterweiterung 2004 schlägt.

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Ob diese Interpretation Bestand haben wird und als Basis eines künftigen »europäischen Gedächtnisses« taugt oder im Gegenteil als ideologische Instrumentalisierung des Kriegs abgelehnt werden wird, muss vorerst offen bleiben. Die Skepsis, die das Auswärtige Amt im August 2013 für seinen Vorschlag erntete, den Ersten Weltkrieg als transnationale Opfergemeinschaft zu erinnern und in das Ziel der europäischen Integration einzubetten, mag dagegen sprechen. In jedem Fall aber belegt sie einmal mehr, wie unglaublich wandelbar die Vergangenheit des Ersten Weltkriegs geblieben ist und wie durchschlagend bis heute die Geltungsmacht ihrer unterschiedlichen Erzählmuster ist, die sich hinter dem scheinbar harmlosen Begriff der »Erinnerung« verbergen.

Prof. Dr. Martin Sabrow, geboren 1954 in Kiel, ist Professor für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin und Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung. Seine Forschungsschwerpunkte sind die politische Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts, Diktaturforschung, Historiographie- und Erinnerungsgeschichte. Aktuelle Veröffentlichungen: »Die Zeit der Zeitgeschichte«, Göttingen 2012, »1989 und die Rolle der Gewalt« (Hg.), Göttingen 2012 und jüngst »Zeitgeschichte schreiben. Von der Verständigung über die Vergangenheit in der Gegenwart«, Göttingen 2014.

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ALLES NUR MACHT­ VERWEIGERER IN DER WEIMARER SPD? ERWIDERUNG AUF EINE LESERANFRAGE ΞΞ Franz Walter

In der letzten Ausgabe der INDES hat sich der Verfasser mit den politischen Biografien von Philipp Scheidemann und Otto Wels, die im Herbst 1939 im Exil verstarben, befasst.1 Die Botschaft des Stücks lautete knapp gefasst: Beide repräsentierten eine sozialdemokratische Generation, welcher der entschlossene Wille, die Härte und die konzeptionelle Fähigkeit zur politischen Macht abgingen. Indes: Diese Wertung hielten einige Leser für überzogen. »Was ist«, so wurde gefragt, »mit Hermann Müller, zweifacher Reichskanzler und Reichsaußenminister, was vor allem mit Otto Braun, der Preußen mit eiserner Hand über eine lange Strecke regiert hat?« Nun, schauen wir auch kurz – und insofern zugebenermaßen sicher verkürzt – auf diese beiden, auf Hermann Müller und Otto Braun. Hermann Müller hatte von den Sozialdemokraten seiner Generation in der Führungsriege der Partei die Funktionsbedingungen und -zwänge einer parlamentarischen Demokratie in der Tat wohl am stärksten begriffen. Auch deshalb drückte er, dessen Ehrgeiz gleichwohl bemerkenswert begrenzt war, sich auch nicht, als die Sozialdemokraten 1919 einen Außenminister, 1920 1  Franz Walter, Tod im Herbst 1939, in: INDES, H. 3/2014, S. 110–124. 2  Zur Biografie von Müller hier und insgesamt: Andrea Hoffend, »Mut zur Verantwortung« – Hermann Müller, Mannheim 2001; Martin Vogt, Hermann Müller, in: Wilhelm von Sternburg (Hg.), Die deutschen Kanzler. Von Bismarck bis Kohl, Berlin 1998, S. 191–206.

und 1928 einen Reichskanzler suchen und stellen mussten.2 Von Herkunft und anfänglicher Ausbildung unterschied sich Müller (geb. 1876) von den Handwerkersozialisten Otto Wels (geb. 1873), Friedrich Ebert (geb. 1871), Otto Braun (geb. 1872) und anderen dadurch, dass er als Sohn eines – allerdings nur mäßig erfolgreichen – Schaumweinfabrikanten auf die Welt kam und zunächst das Gymnasium besuchen durfte. Doch nach dem frühen Tod des Vaters musste er die höhere Schule sofort verlassen und mit einer Lehre als Handlungsgehilfe, wie kaufmännische Angestellte seinerzeit hießen, bei

INDES, 2014-4, S. 145–152, © Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen, 2014, ISSN 2191-995X

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Villeroy & Boch beginnen. Im weiteren Aufstieg in der Sozialdemokratie aber differierte sein Karriereweg nicht vom Rest der Parteigranden des frühen 20. Jahrhunderts. Allerdings halfen ihm seine Fremdsprachenkenntnisse, da sie ihn für die Kontakte mit anderen Parteien der Sozialistischen Internationale prädestinierten. Ansonsten aber wirkte Müller, der sich in Görlitz als Kommunalpolitiker und Redakteur profiliert hatte, eher ängstlich und gehemmt, stets auch ein wenig unglücklich in den Leitungsgremien seiner Partei. 1905, auf dem Parteitag in Jena, ging seine Wahl in den Parteivorstand schief. Auch die Kandidaturen zum Reichstag 1903 und 1907 scheiterten. Immerhin verlief die Wahl zum hauptamtlichen Sekretär beim Parteivorstand 1906 erfolgreich. Und in dem Maße, wie Scheidemann und Ebert seit 1914 von außerparteilichen Aufgaben absorbiert wurden, wuchsen ihm gemeinsam mit Wels die geschäftsführenden Obliegenheiten innerhalb der sozialdemokratischen Zentrale zu. Als Müller 1916 durch eine Nachwahl endlich auch ein Mandat für den Reichstag erringen konnte, begründete sich eine Arbeitsteilung an der Parteispitze, die bis Anfang der 1930er Jahre anhielt. Otto Wels, der derbe Organisator des Apparats, kümmerte sich um die Schlagkraft der Parteiorganisation; Hermann Müller, der Mann mit den höflich-umgänglichen Manieren des Diplomaten, pflegte die Kontakte nach außen, konzentrierte sich insbesondere auf die Parlamentsfraktion, an deren Spitze er 1919 sowie in den Jahren zwischen 1920 und 1928 stand. Im Unterschied zu Otto Wels nahm Müller auch Pflichten und Verantwortung im Kabinett auf sich. Tatsächlich bedeutete das für ihn mehr Last und Bürde als Erfüllung und Befriedigung triebhaften Machtstrebens. Harry Graf Kessler, der scharfsinnige linksrepublikanische Beobachter mit einem allerdings übertriebenen ästhetischen Maßstab bei der Beurteilung politischer Persönlichkeiten, charakterisierte ihn in einer Tagebuchnotiz 1919 als »Nulpe«3. An anderer Stelle in seinen Aufzeichnungen im selben Jahr beschrieb Kessler ihn herablassend als einen »etwas naiven, anständigen und frischen jungen Mann, etwa von der Sorte, die ein solides, mittleres Handlungshaus anständig leiten würde. Er ist auch furchtbar verlegen und unsicher im persönlichen Verkehr. Unsere Außenpolitik wird unter ihm keine großen Taten vollbringen.«4 Müller war da gerade, am 21. Juni 1919, zum Außenminister der deutschen Republik gewählt worden, der erste Sozialdemokrat überhaupt in diesem Amt, ohne diplomatische Vorbildung und – auch das war eine gesellschaftliche Premiere – ohne aristokratische Herkunft. Nicht nur Graf Kessler rümpfte die Nase. Der Heidelberger Mediävist Karl Hampe, politisch im Lager der Liberalen angesiedelt, nahm in seinem Tagebucheintrag vom 22. Juni 1919 Anstoß an der »Vulgarität« des Namens. »Wie soll«,

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3  Harry Graf Kessler, Tagebücher 1918 bis 1937, Frankfurt a. M. 1996, S. 206. 4  Ebd., S. 194.

fragte der Universitätsprofessor, »ein Hermann Müller unsere Außenpolitik leiten? Was wird da wieder neu verbockt werden?«5 Müllers Amtszeiten, als Außenminister und Reichskanzler, trugen unzweifelhaft tragische Züge. Selbst eine stärkere Natur als er hätte in diesen historischen Augenblicken kaum reüssieren können. Müller musste den Vertrag von Versailles unterschreiben, war schon deshalb für die nationalistische Rechte fortan unwiderruflich mit dem Stigma des Landesverrats behaftet. Nach dem Kapp-Lüttwitz-Putsch im März 1920 musste für die drei Monate bis zu den Reichstagswahlen im Juni des gleichen Jahres noch ein Übergangskanzler gefunden werden, der über politische Gestaltungsräume also nicht verfügte. Hermann Müller wies die Zumutung gleichwohl nicht zurück. Seine zweite Kanzlerschaft, acht Jahre später beginnend, stand bald bereits im Zeichen der Haushaltskatastrophe und weltwirtschaftlicher Depression, sodass es für die allerdings »ohne klar definierte Ziele« angetretenen Sozialdemokraten unmöglich war, »auch nur irgendeine wichtige Reform durchzuführen«6. Immerhin: »Dass aus diesem auf tönernen Füßen stehenden Kabinett schließlich das am längsten amtierende der Weimarer Republik werden sollte, war nicht zuletzt der auf Ausgleich und Kompromiss bedachten Führung durch Hermann Müller zu verdanken. Sein ernsthaftes Bestreben, dieser Regierung länger vorzustehen, hatte er bereits dadurch signalisiert, dass er seine Privatwohnung in Tempelhof aufgegeben und mit seiner Familie in die Reichskanzlei gezogen war.«7 Dennoch: Das alles zehrte an Kräften und Gesundheit. Als sein Außenminister, der rechtsliberale Gustav Stresemann, Anfang Oktober 1929 starb und Müller die Trauerrede hielt, stellte Graf Kessler fest, dass der Reichskanzler selbst wie »ein Todeskandidat« aussähe, »mager und gelb«.8 So war es in der Tat. Müller schleppte sich das ganze Jahr 1929 über von Krankheit zu Krankheit. Am schwersten machte ihm ein Gallenleiden zu schaffen. Die Operation verlief 5  Karl Hampe, Kriegstagebuch 1914–1919, hg. v. Folker Reichert u. Eike Wolgast, München 2007, S. 881. 6  William Smaldone, Rudolf Hilferding. Tragödie eines deutschen Sozialdemokraten, Bonn 2000, S. 193. 7  Bernd Braun, Die Reichskanzler der Weimarer Republik. Von Scheidemann bis Schleicher, Stuttgart 2013, S. 103. 8  Kessler, S. 631.

unglücklich; über Monate weilte der Regierungschef der prekären Republik nicht in Berlin, sondern im Krankenhaus und auf Kuren. Müller gehörte wie Stresemann und Ebert zu denen, die unter dem brutalen Druck der politischen Antagonismen und Hassattacken gesundheitlich zerbrachen, dadurch bereits in der Zeit der Republik und noch vergleichsweise jung – Ebert und Müller mit 54, Stresemann mit 51 Jahren – starben. Die Erinnerung an Ebert und Stresemann ist durchaus präsent und wird institutionell bewusst wachgehalten. Auch Wels und Scheidemann sind keineswegs völlig vergessen. Aber wer weiß schon etwas über Hermann Müller zu sagen? In einer gewissen Weise scheint er machtpolitisch und historisch die Leichtgewichtigkeit, die chronische Unterlegenheit, ja: die Harmlosigkeit der Sozialdemokratie zu verkörpern. Die Sitzungen des Parteivorstandes leitete Franz Walter  —  Alles nur Macht­v erweigerer in der Weimarer SPD?

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Wels, nicht Müller. Er soll ein Mann, so berichteten Zeitzeugen der Weimarer SPD, von eher weicher Natur gewesen sein, ohne rednerischen Schwung, dem »das Gespür für die Imponderabilien der Politik abging.«9 Wer nahm Hermann Müller schon sonderlich ernst, fürchtete ihn als ersten Mann einer – in ihrer täglichen Selbstsymbolisierung – machtvollen, proletarischen und systemverändernden Massenbewegung? Es spotteten die Feinde über seine geringe Energie. Es höhnten die Freunde über seine »Konzilianz«. So lautete jedenfalls der Vorwurf, mit dem ihn der sozialdemokratische Ministerpräsident von Preußen, Otto Braun, herablassend bedachte. Konziliante Wesen taugten nach Auffassung des »roten Zaren« von Preußen nicht für das harte Geschäft der Macht.10 Den Reichskanzler Müller und dessen Finanzminister Hilferding hielt Braun für ein Unglück, der eine schwach, der andere durch und durch ein unpraktischer Theoretiker, beide gänzlich ungeeignet, unter schwierigen außenpolitischen und ökonomischen Bedingungen eine notwendigerweise fragile Koalition klug und entschlossen zu führen. Für das Verhalten der sozialdemokratischen Reichsminister, die im August 1928 im Kabinett dem Bau des Panzerkreuzers zustimmten, drei Monate später aber im Parlament als Abgeordnete aufgrund des Fraktionszwangs dagegen votierten, brachte Braun nur Verachtung auf.11 Fassungslos hörte er vom wurschtigen Auftritt Müllers vor der Fraktion – »Wenn ihr wollt, gut, dann treten wir aus der Regierung aus« –, wütend schimpfte er über die stille Demission des Kanzlers im März 1930, als ein Kompromiss zwischen den Sozialdemokraten und dem Rest des Kabinetts in der Frage der Arbeitslosenversicherung nicht zustande kam. Braun hätte eine parlamentarische Feldschlacht seines Parteifreundes bevorzugt, um Verantwortlichkeiten für die Regierungskrise und den Bruch des Kabinetts in aller Öffentlichkeit deutlich zu machen. Doch das entsprach nicht dem Temperament Müllers, der zu diesem Zeitpunkt wohl auch einfach nicht mehr über die nötige physische Kraft für eine solche Bataille verfügte. Otto Braun, den man inner- und außerhalb der SPD bis in den Juli 1932 für die stärkste Führungspersönlichkeit der Sozialdemokraten hielt, hatte wohl selbst 1928 die Kanzlerschaft im Auge, um das politisch labile Reich mit dem vergleichsweise stabilen Preußen zu verknüpfen und auf diese Weise zu festigen. Aber Braun besaß, so dessen früherer persönlicher Referent und Bewunderer Herbert Weichmann, »nicht genügend persönlichen Ehrgeiz«12, insbesondere aber keinen Rückhalt in der Reichstagsfraktion, wo eine Menge Antipathie, gewiss auch Neid gegenüber dem besserwissend auftretenden »Preußen« in der eigenen Partei herrschte. Vor allem: Otto Wels stellte sich quer. Braun war ihm inzwischen viel zu wenig Parteimensch, viel zu sehr Repräsentant staatlicher Macht.

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9  Siehe Hans J. L. Adolph, Otto Wels und die Politik der deutschen Sozialdemokratie 1894–1939, Berlin 1971, S. 107 (Fn 6). 10  Hagen Schulz, Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung, Frankfurt a. M. 1977, S. 404. 11  Hierzu und im ­Folgenden ebd., S. 539 ff. 12  Herbert Weichmann, Als Preußen ohne Schwertstreich fiel. Erinnerungen eines Sozialdemokraten, in: Die Zeit, 25. 08. 1972.

Dabei lag in der preußischen Regierungsführung natürlich eine Chance. Schließlich lebten in Preußen knapp drei Fünftel aller Deutschen, insgesamt waren es vierzig Millionen, was der Einwohnerzahl Frankreichs entsprach. Und Preußen war ein Mythos, Staat des militärischen Mirakels Friedrich II., Hegemonialmacht im Prozess der kleindeutschen Nationsbildung, Boden Bismarcks und Wilhelms I. wie II. Und ausgerechnet in diesem bis 1918 durch und durch adelig-feudal geprägten Preußen herrschten nun die Sozialdemokraten in einer nachgerade historischen Allianz mit dem politischen Katholizismus; dazu kam noch die kleine demokratische Partei. Ein neue Erzählung entstand 13  Siehe etwa Siegfried Heimann, Der Preußische Landtag 1899–1947. Eine politische Geschichte, Berlin 2011, S. 143. 14  Erich Kuttner, Otto Braun, Hamburg 2013 (Nachdruck der Originalausgabe von 1932), S. 92. 15  Arnold Brecht, Mit der Kraft des Geistes. Lebenserinnerungen 1927–1967, Stuttgart 1967, S. 19. 16  Gerhard Schulz, Deutschland am Vorabend der Großen Krise. Zwischen Demokratie und Diktatur: Verfassungspolitik und Reichsreform in der Weimarer Republik, Berlin 1987, S. 214. 17  Albert Grzesinski, Im Kampf um die deutsche Republik, hg. v. Eberhard Kolb, München 2001, S. 19. 18  Sebastian Haffner, Preußen ohne Legende, Hamburg 1979, S. 482. 19  Wilhelm Heinz Schröder, »Genosse Herr Minister«: Sozialdemokraten in den Reichs- und Länderregierungen der Weimarer Republik 1918/19–1933, in: Historical Social Research, Jg. 26 (2001) H. 4, S. 4–87, hier S. 14.

auf diese Weise: Preußen als das »demokratische Bollwerk«, eine »Zitadelle der Demokratie« in Deutschland in der ansonsten chronisch krisengeschüttelten Weimarer Republik, insofern Hort der Stabilität, Bastion einer energischen Republikanisierung des dort traditionell mächtigen Verwaltungsapparats.13 Und zu einer Legende bauten die preußischen Sozialdemokraten während der 1920er Jahre ihren Ministerpräsidenten auf: Otto Braun, von Zeitgenossen als »roter Zar« tituliert, auch als »eiserner Otto«, jedenfalls weithin als ungewöhnlich tatkräftiger, entschlussfreudiger, zielstrebig operierender Politiker bekannt, hinter dessen »klarer Erkenntnis ein starkes Temperament, eine Kampfnatur, ein eiserner Wille«14, eine »kernige und kantige Persönlichkeit«15 stand, welche zudem »über ein ausgeprägtes Empfindungsvermögen für die Möglichkeiten und Handhabungen, aber auch die Grenzen der Macht verfügte.«16 Albert Grzesinski, der als preußischer Innenminister der Jahre zwischen 1926 und 1930 zäher als jeder andere die Demokratisierung der staatlichen Sicherheitsorgane voranzutreiben versucht hatte, zollte in seinen Erinnerungen dem Ministerpräsidenten höchste Anerkennung: »Otto Braun war ein Staatsmann allerersten Ranges; er ist in Deutschland nach 1918 von niemandem erreicht worden.«17 Allein der Königsberger Otto Braun, ein gelernter Steindrucker, stand von allen Sozialdemokraten dieser Jahre im Ruf, die Macht nicht zu scheuen, sondern sich ihrer selbstbewusst zu bedienen. Er war, so auch Sebastian Haffner in seinem ungemein gedankenreichen Opus »Preußen ohne Legende«, »ohne jeden Zweifel das stärkste politische Talent und die stärkste politische Persönlichkeit der deutschen Sozialdemokratie in der Zeit der Weimarer Republik.«18 Unter Braun wurden, so ebenfalls der Kölner Neuzeit-Historiker Wilhelm Heinz Schröder, »mit einer klar definierten und konsequent durchgehaltenen Koalitionspolitik stabile Regie-

20  Manfred Görtemaker, Zwischen Demokratie und Diktatur. Otto Braun in der Weimarer Republik, in: Ders. (Hg.), Otto Braun. Ein preußischer Demokrat, Berlin 2014, S. 11–33, hier S. 23.

rungsverhältnisse erreicht«19, innerhalb derer, so noch jüngst wiederum der Potsdamer Historiker Manfred Görtemaker, »die ›Erfolgsgeschichte‹ einer ›Reorganisation der preußischen Polizei‹ zu einer schlagkräftigen Truppe ›überwiegend republikanischer Gesinnung‹20 geschrieben werden konnte«. Franz Walter  —  Alles nur Macht­v erweigerer in der Weimarer SPD?

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Indes, war Braun – den der Arzt und bis 1920 anarchistisch gesinnte Sozialdemokrat Fritz Brupbacher spöttisch als »Symbol des Plüschsofa-Sozialisten«21 etikettierte – wirklich uneingeschränkt der Tat-Mensch, welcher den Kommandohöhen zustrebte, statt sich vor ihnen zu ängstigen? Die Bilanzierung der Ergebnisse der Republikanisierungsbestrebungen im preußischen Staatsapparat fällt heute nüchterner aus als früher. Betrachte man die Justiz in Preußen, so Christopher Clark, dann seien »die Erfolge der neuen Machthaber wenig beeindruckend« gewesen. Und auch die »Haltung in den meisten Polizeieinheiten war konservativ«, urteilt der in Cambridge lehrende australische Historiker und Preußen-Experte des Weiteren, »nicht jedoch dezidiert republikanisch.«22 Ein solches Fazit hatte früher schon der Tübinger Historiker Gerhard Schulz gezogen: »Man wird jedoch nicht sagen können, daß in irgendeiner strukturellen Hinsicht Preußen demokratischer regiert oder eingerichtet wurde als irgendein anderes deutsches Land, in dem andere Parteien oder Koalitionen herrschten.«23 Golo Mann hatte in seiner »Deutschen Geschichte des 19. Und 20. Jahrhunderts« bereits von einer »Scheinmacht und Ohnmacht« geschrieben, die sich Braun »in Preußen aufgebaut zu haben« meinte.24 1920 zumindest hatte sich Braun auch auf der Reichs- und Zentralebene nicht viel anders verhalten als sein Gegenspieler, der Parteifunktionär Otto Wels. Erst hatten die Spitzengenossen in der Reichstagsfraktion, nachdem sie sich des denkbar unpopulären Reichswehrministers Gustav Noske entledigt hatten, Wels als Nachfolger in den Blick genommen. Der lehnte ab. Dann sondierten sie bei Otto Braun. Aber auch dieser verweigerte sich. Das

21  Fritz Brupbacher, 60 Jahre Ketzer, Selbstbiographie, Zürich 1935, S. 349. 22  Christopher Clark, Preußen. Aufstieg und Niedergang. 1600–1947, München 2006, S. 718 u. S. 720.

Militärische war ihm, war den Sozialdemokraten fremd und unbehaglich. Also überließen sie die bewaffnete Macht ihren Gegnern. Ein gutes Jahrzehnt später, als eben diese Gegner in Gestalt des westfälischen Adeligen Franz von Papen – hoch vermögend und infolgedessen über jede demokratische Gebühr einflussreich geworden durch die Heirat mit der Tochter des Inhabers der Keramikfabrik Villeroy & Boch, in der Hermann Müller als schlichter Handlungsgehilfe begonnen hatte – kühl und ohne großen Aufwand gegen das demokratische preußische Bollwerk putschten,25 wollte und konnte Braun nicht mehr. Braun, 1,90 m groß, mit buschigen Augenbrauen und kräftigen Schultern ausgestattet, mit einer grimmigen Stimme versehen, dabei oft bärbeißig im Auftritt, wirkte stets robuster, als er in Wirklichkeit war.26 Seit einer Haft in den Jahren des Kaiserreichs plagte ihn ein Rheuma- und Arthritisleiden; überdies machten ihm Blutdruckprobleme unentwegt zu schaffen, zudem quälte er sich noch mit einer Herzmuskelschwäche. Im Übrigen neigte er, auch wenn seine sozialdemokratischen Anhänger dies nie mitbekamen, zu Depressionen. Und schon seit den späten

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Schulz, S. 320.

24  Golo Mann, Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1958, S. 741. 25  Allgemein hierzu Rudolf Morsey, Zur Geschichte des »Preussenschlags« am 20. Juli 1932, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Jg. 9 (1961) H. 4, S. 430 ff.; Ludwig Dierske, War eine Abwehr des »Preußenschlages« vom 20. Juli 1932 möglich?, in: Zeitschrift für Politik, Jg. 17 (1970) H. 3, S. 197 ff. 26  Vgl. auch Ludwig Biewer, Der Preußenschlag vom 20. Juli 1932. in: Blätter für deutsche Landesgeschichte, (Jg. 119) 1983, S. 159 ff.

1920er Jahren, insbesondere dann nach dem tiefen Absturz bei den AprilWahlen 1932, hatten sich die schwarzen Schatten schwer auf seine Seele gelegt.27 Braun, stets ein eher zur Zurückgezogenheit neigender Politiker, sah sein gesamtes politisches Lebenswerk zerstört, fühlte sich rundum gescheitert, »war längst ein müder, von dem Schauspiel, das Deutschland bot, enttäuschter und angeekelter Mann.«28 Zumindest der damalige Chefredakteur des Parteiorgans Vorwärts, Friedrich Stampfer, erinnert sich, dass Braun damals in seiner Resignation eine parlamentarischen Regierung mit den Nationalsozialisten empfahl, damit diese sich dort abnutzen könnten.29 Anfang Juni 1932 gab Otto Braun sich selbst Urlaub, zog sich in seine Zehlendorfer Wohnung zurück, legte sich ins Bett, schluckte Unmengen an Tabletten, beruhigte sich mit Alkohol, hielt physisch und psychisch durch nur wegen der Aussicht, vielleicht demnächst mit seiner Frau in einem Häuschen in Ascona leben zu können. Als die Putschisten zuschlugen, verharrte Braun, schon Monate vorher von seinem ansonsten chronischen Widersacher, dem Präsidenten des Preußischen Staatsrats Konrad Adenauer, eindringlich auf die Möglichkeit einer solchen Aktion aufmerksam gemacht30, apathisch in seinem Zehlendorfer Domizil. Er sei, gab er kund, immer Demokrat gewesen, 27  Vgl. u. a. Jürgen Bay, Der Preußenkonflikt 1932/33. Ein Kapitel aus der Verfassungsgeschichte der Weimarer Republik, Nürnberg 1965 (Dissertation), S. 42 ff. 28 

Mann, Deutsche Geschichte, S. 786.

29  Hierzu Jürgen Bay, Der andere »20. Juli«, in: Die Zeit, 21. 07. 1972. 30  Siehe Joachim Petzold, Franz von Papen. Ein deutsches Verhängnis, München 1995, S. 94. 31  Zit. bei Clark, S. 734. 32  Vgl. Thomas Alexander, Carl Severing. Sozialdemokrat aus Westfalen mit preußischen Tugenden, Bielefeld 1992, S. 205. 33  Golo Mann, Zeiten und Figuren. Schriften aus vier Jahrzehnten, Frankfurt a. M. 1979, S. 37.

»werde jetzt nicht zum Bandenführer«31. Von da an spätestens war das Selbstbewusstsein der Sozialdemokraten in Deutschland insgesamt weitgehend gebrochen. Stets hatte man von der imposanten gesellschaftlichen Macht der Arbeiterbewegung gesprochen, von den disziplinierten Verbänden des Reichsbanners geschwärmt und, in Reminiszenz an die Tage der Arbeitsniederlegung während des Kapp-Putschs 1920, die verlässliche Streikfähigkeit der Freien Gewerkschaften gepriesen. Jetzt aber, als es ernst wurde, folgte den zuvor über Jahre unverdrossen in den Umlauf gebrachten vollmundigen Parolen nichts. Für die sozialdemokratische Vorsicht gegenüber bürgerkriegsnährenden Handlungen gab es gute Gründe, aber gerade weil es so war, wirkte die vorangegangen Hochstapelei und Simulation von Potenz, die real nicht existierte, nun so unheilvoll, so demoralisierend auf die eigenen Anhänger und zugleich zusätzlich ermutigend und weiter brutalisierend im Lager des Gegners.32 1940 urteilte Golo Mann erkennbar traurig und für die Zukunft tief besorgt: »In Zeiten, da es um das Ganze geht, muß man der Wahrheit nicht ausweichen und muß das Ganze wagen und wollen. Hier, an der Grenze, wo Regierung und Verwaltung aufhören und schöpferische Staatsmannschaft beginnt, ist auch Braun gescheitert«33. Sieben Jahre später formulierte der frühere linksliberale Staatssekretär im preußischen Innenministerium, Wilhelm Abegg, der im Unterschied zu seinen Vorgesetzten im Juli 1932 eine Gegenwehr zum Franz Walter  —  Alles nur Macht­v erweigerer in der Weimarer SPD?

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Putsch des Reichskanzlers zu initiieren versucht hatte, in einem Brief den auf Braun gemünzten Vorwurf: »Vom Staatsmann wird zielbewußtes, energisches Handeln gefordert, nicht Lavieren und Gehenlassen«34. Und noch einmal, an anderer Stelle, Golo Mann: »In Wirklichkeit ist er gescheitert, ein blasses Nachspiel eines Nachspiels. Wohl konnte die preußische Landesregierung sich einiger sehr braver Leistungen rühmen: auf dem Gebiet von Erziehung und Unterricht zumal, in der Humanisierung der Strafjustiz und anderem mehr. Aber es waren eben wieder einmal bloße Verwaltungsleistungen in einem Zeitalter, das so hochpolitisch war, so von Politik bewegt und aufgeregt, daß man von einer eigentlichen politischen Krankheit reden muß. Gerade in diesen politisch verrückten zwanziger und frühen dreißiger Jahren zogen die preußischen Sozialdemokraten sich auf die Verwaltung Preußens zurück, als hätten sie, die doch von Haus aus Politiker und nicht Beamte gewesen waren, sich vom Genius loci, dem Geist der alten königlichen Beamtenregierung überwältigen lassen.«35 Um nun die Schelte gegen die Sozialdemokraten nicht unangemessen zu übertreiben: Ganz tatenlos waren sie nicht. Wo sie 1932 noch über exekutive Möglichkeiten verfügten, wie in Baden, Hessen oder Hamburg, gingen sie energisch mit Polizeiaktionen und Berufsverboten gegen die Nationalsozialisten vor.36 Und immer sandten sie ihre »Eiserne Front« zu antifaschistischen Demonstrationen auf die Straße; immer wieder brachten sie Flugschriften unter das Volk, die über »das Wesen« – wie es sozialdemokratisch hieß – des Nationalsozialismus aufzuklären versuchten. Das war gewiss nicht wenig; aber es war doch auch schon alles. Es reichte jedenfalls nicht, um die massive Rechtsentwicklung in der Republik aufzuhalten, um die Nationalsozialisten noch zu stoppen. Gerade die jungen Mitglieder der Sozialdemokratie hat das ungeheuer verunsichert. Es war wieder einmal diese Differenz zwischen immenser Organisationskraft der Sozialdemokratie und ihrer trostlosen Machtlosigkeit, die so deprimierte und lähmte. Die SPD nach der Ministerpräsidentenschaft Brauns war ohne den geringsten Einfluss auf die Politik in den Berliner Machtzentren. Sie war 1932 gleichsam im Rückwärtsgang dort angekommen, wo sie schon 1913 gestanden hatte. Doch sollte bekanntlich alles noch viel schlimmer werden.

Prof. Dr. Franz Walter, geb. 1956, ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Göttingen.

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34  Zit. bei Petzold, S. 95. 35  Golo Mann, Das Ende Preussens, in: Hans-Joachim Netzer (Hg.), Preussen. Porträt einer politischen Kultur, München 1968, S. 135–166, hier S. 160 f. 36  Siehe Helga Grebing, Sozialdemokratische Arbeiterbewegung und Nationalsozialismus 1924–1933, in: Dies. u. Klaus Kinner (Hg.), Arbeiterbewegung und Faschismus, Essen 1990, S. 237–246, hier S. 244.

WIEDERGELESEN

DEMOKRATIE VERSUS DIKTATUR KARL DIETRICH BRACHERS »ZEITGESCHICHTLICHE KONTROVERSEN« ΞΞ Eckhard Jesse

Lange waren Karl Dietrich Bracher (geboren am 13. März 1922), Hans Buchheim (geboren am 11. Januar 1922) und Iring Fetscher (geboren am 4. März 1922) die drei ältesten noch lebenden Politikwissenschaftler Deutschlands.1 1  Zwei der drei Wissenschaftler wurden jüngst ausführlich gewürdigt: Eckhard Jesse, Karl Dietrich Bracher (geboren 1922) sowie Richard Saage, Iring Fetscher (geboren 1922), jeweils in: Eckhard Jesse u. Sebastian Liebold (Hg.), Deutsche Politikwissenschaftler – Werk und Wirkung. Von Abendroth bis Zellentin, Baden-Baden 2014, S. 143157, S. 231–345. 2  Vgl. Iring Fetscher, Neugier und Furcht. Versuch, mein Leben zu verstehen, Hamburg 1995. 3  Vgl. Herfried Münkler, Nachruf auf Iring Fetscher, in: Rundbrief der Deutschen Vereinigung für Politischen Wissenschaft, Nr. 151/2014, S. 14–16. 4  Zusammenfassend Frank Decker, Theodor Eschenburg (1904–1999), in: Jesse u. Liebold, S. 203–215. 5  Vgl. mit Blick auf den Mainzer Politikwissenschaftler: Hans Buchheim, Totalitäre Herrschaft, München 1962.

Iring Fetscher, der, anders als Bracher und Buchheim, Memoiren hinterlassen hat2, wie diese aber jahrzehntelang an einem Ort unterrichtet hat (in Frankfurt am Main von 1963 bis 1987) starb am 19. Juli 2014.3 Im Gegensatz zu Theodor Eschenburg (geboren 1904, gestorben 1999), dem letzten legendären Vertreter der Gründungsgeneration der deutschen Politikwissenschaft, der wegen seines (tatsächlichen bzw. vermeintlichen) Verhaltens im Dritten Reich seit wenigen Jahren im Mittelpunkt einer heftigen, auch öffentlichkeitswirksamen Kontroverse steht4, gehör(t)en sie schon zur zweiten Generation der deutschen Politikwissenschaft, die erst nach 1945 studiert hatte, allerdings noch nicht »ihr« Fach. Hans Buchheim, von 1966 bis 1990 Mainz wirkend, und Karl Dietrich Bracher, der von 1959 bis 1987 in Bonn gelehrt und u. a. einen Ruf nach Harvard abgelehnt hatte, haben zwischen den Fächern Politikwissenschaft und Geschichtswissenschaft keinen strukturellen Gegensatz erblickt, wie bereits das Thema ihrer Promotion erhellt (die jeweils die Alte Geschichte betraf). Und: Der einzige sowohl in der Bracher- als auch in der Buchheim-Festschrift vertretene Autor ist mit Rudolf Morsey ein Historiker. Zudem verstehen sich beide nicht zuletzt als Totalitarismus- und Demokratieforscher5, wie das für viele Repräsentanten der ersten Generation ebenfalls galt (u. a. Ernst Fraenkel, Carl J. Friedrich, Eugen Kogon, Richard Löwenthal). Von den drei genannten politikwissenschaftlichen Koryphäen, die alle in ihnen zugeeigneten Festschriften gewürdigt worden sind, dürfte Karl Dietrich Bracher nicht nur der bekannteste, sondern wohl auch der produktivste

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(gewesen) sein. Seine »Zeitgeschichtlichen Kontroversen«, erschienen 1984 in fünfter veränderter und erweiterter Auflage (15. bis 19.000 Tausend)6, wirkten, ohne groß Furore zu machen, subkutan: sei es deshalb, weil ein führender deutscher Politikwissenschaftler und Zeithistoriker zentrale Streitpunkte der Politik und Zeitgeschichte behandelte, sei es deshalb, weil Bracher eine gewisse Kurskorrektur von früheren Positionen vornahm. Wer diese Schrift drei Dezennien später wieder liest, nach dem Ende des »realen Sozialismus« und dem Aufstieg des »religiösen Fundamentalismus«, erkennt schnell, wie wenig veraltet die Texte für die Demokratieforschung sind. Karl Dietrich Bracher, 1943 in Tunis in amerikanische Kriegsgefangenschaft geraten7, schloss 1948 in Tübingen sein Studium der Geschichte, der Philosophie und der klassischen Philologie nach nur fünf Semestern mit einer Dissertation bei Joseph Voigt ab – über »Verfall und Fortschritt im Denken der frühen römischen Kaiserzeit«.8 Die Habilitationsschrift des 32-Jährigen über die »Auflösung der Weimarer Republik« rief ein großes, anfänglich nicht nur positives Echo hervor.9 Manchen Historiker irritierte die politikwissenschaftliche Analyse zum Ende der ersten deutschen Demokratie – von der »Machtstruktur« über den »Machtverlust« und das »Machtvakuum« bis zur »Machtergreifung« der Nationalsozialisten. Bevor Bracher nach Bonn ging, arbeitete er eng mit Ernst Fraenkel zusammen, einem Nestor der deutschen Politikwissenschaft. So gaben beide das erste Lexikon zur Politik heraus.10 Die Zahl der Mammutwerke Brachers, stets Monographien, setzte sich in Bonn fort: 1960 kam, verfasst mit Wolfgang Sauer und Gerhard Schulz, »Die nationalsozialistische Machtergreifung« auf den Büchermarkt11, 1969 »Die deutsche Diktatur«12, 1976 als sechster Band der Propyläen Geschichte Europas »Die Krise Europas«13, 1982 »Zeit der Ideologien«.14 Bracher, Mitbegründer der Politischen Vierteljahresschrift im Jahre 1960, von 1965 bis 1967 Vorsitzender der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft, von 1980 bis 1988 Vorsitzender im Wissenschaftlichen Beirat des Instituts für Zeitgeschichte, wurde mit Ehrungen überhäuft. Allerdings ist es in den letzten Jahren still um ihn geworden, nicht nur deshalb, weil er wegen seines hohen Alters seit längerem kaum noch etwas publiziert. Die Tendenz seiner Studien in den letzten drei Jahrzehnten passt(e) nicht mehr so recht zum »Zeitgeist«, der den Gegensatz von Demokratie und Diktatur nicht in den Vordergrund rückte. Die »Zeitgeschichtlichen Kontroversen« erhellen diesen Sachverhalt. Der Sammelband ist nicht aus einem Guss gearbeitet. Das belegt bereits seine Entstehungsgeschichte durch den Nachdruck wichtiger Beiträge, erstmals zumeist an entlegener Stelle publiziert. Die erste bis vierte Auflage (1976–1980) enthielt unter dem Titel »Deutsche Konsequenzen« zwei Aufsätze, die in die

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6  Vgl. Karl Dietrich Bracher, Zeitgeschichtliche Kontroversen. Um Faschismus, Totalitarismus, Demokratie, 5. veränderte und erweitere Aufl., München 1984. 7  Vgl. für Einzelheiten Ulrike Quadbeck, Karl Dietrich Bracher und die Anfänge der Bonner Politikwissenschaft, Bonn 2008. 8  Vgl. Karl Dietrich Bracher, Verfall und Fortschritt im Denken der frühen römischen Kaiserzeit. Studien zum Zeitgefühl und Geschichtsbewusstsein des Jahrhunderts nach Augustus, Wien 1987. 9  Vgl. ders., Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie, Düsseldorf 1984 [1955]. Die Zeit hat dieses Werk zu den 100 wichtigsten Sachbüchern gezählt. Vgl. Fritz J. Raddatz (Hg.), ZEIT-Bibliothek der 100 Bücher, Frankfurt a. M. 1984, S. 332–334 (besprochen durch Theodor Eschenburg). 10  Vgl. Bracher u. Fraenkel (Hg.), Staat und Politik. Das Fischer-Lexikon, Frankfurt a. M. 1957 (Neubearbeitung 1964). 11  Vgl. Karl Dietrich Bracher u. a., Die nationalsozialistische Machtergreifung. Studien zur Errichtung des totalitären Herrschaftssystems in Deutschlands 1933/34, Köln 1960 (3. Aufl. 1974). 12  Vgl. Karl Dietrich Bracher, Die deutsche Diktatur. Entstehung, Struktur, Folgen des Nationalsozialismus, Köln 1969 (7. Aufl. 1974). 13  Vgl. ders., Die Krise Europas. 1917–1975, Frankfurt a. M. 1976 (aktualisierte Auflage 1993). 14  Vgl. ders., Zeit der Ideologien. Eine Geschichte politischen Denkens im 20. Jahrhundert, Stuttgart 1982 (2. Aufl. 1984).

fünfte keine Aufnahme mehr gefunden haben: eine Abhandlung über die Kanzlerdemokratie15 und eine über »Demokratie und Verfassung«16. Beide Abhandlungen fügten sich bestens in die Gesamtkonzeption des Bandes ein. »Die Kanzlerdemokratie« führt die Ausprägung der zweiten deutschen Demokratie nicht nur auf Person Konrad Adenauers zurück, sondern auch auf den verfassungspolitischen Wandel gegenüber der Weimarer Zeit. Die dualistische Konstruktion zwischen Kanzler und Präsident wurde beseitigt (Schwächung der Kompetenzen des Präsidenten), die Instabilität der parlamentarischen Basis aufgehoben (kein Selbstauflösungsrecht des Parlaments), die labile Zwischenstellung der Regierung zwischen Parlament und Präsident beendet (durch das konstruktive Misstrauensvotum). Bracher bewertet die Kanzlerdemokratie Deutschlands insgesamt positiv. Das stabile Element sei nicht auf Kosten des freiheitlichen gegangen. »Die Demokratie der Bundesrepublik, die anders als die erste deutsche Demokratie ihre Bewährungsprobe bestehen konnte und dies zum nicht geringen Teil der Ausformung einer stabilen Kanzlerregierung verdankt, ist zu ihrem Fortbestand auf den Willen zur weiteren Stärkung ihrer erprobten Institutionen und zur entschlossenen Abwehr aller Feinde der freiheitlichen Demokratie angewiesen.«17 Ähnlich fällt der Tenor in dem Beitrag »Zum Streit um Demokratie und Verfassung in der Bundesrepublik« aus. Der Bonner Politikwissenschaftler 15  Sie erschien erstmals in einem der wichtigsten Bände zum politischen System der Bundesrepublik Deutschland: Die Kanzlerdemokratie, in: Richard Löwenthal u. HansPeter Schwarz (Hg.), Die zweite Republik. 25 Jahre Bundesrepublik Deutschland – eine Bilanz, Stuttgart 1974, S. 179–202.

wendet sich mit Wilhelm Hennis18 gegen das rigorose Ausspielen von Verfas-

16  Der Aufsatz wurde später nachgedruckt: Bewährung und Anfechtung. Zum Streit um Demokratie und Verfassung in der Bundesrepublik, in: Manfred Funke (Hg.), Extremismus im demokratischen Rechtsstaat. Ausgewählte Texte und Materialien zur aktuellen Diskussion, Düsseldorf 1978, S. 422–435.

Schlachtruf ›Berufsverbot‹ agitatorisch hochgetriebenen Kontroversen um den

17  Karl Dietrich Bracher, Die Kanzlerdemokratie, S. 201. 18  Vgl. Wilhelm Hennis, Verfassung und Verfassungswirklichkeit. Ein deutsches Problem, Tübingen 1968.

sungstheorie und Verfassungswirklichkeit, weil dies auf eine Unterhöhlung der demokratischen Realität hinauslaufen könne, von rechts und links bekanntermaßen praktiziert. Der Autor sieht die Konzeption der abwehrbereiten Demokratie nicht als Ausfluss autoritären Staatsdenkens an, sondern als eine sinnvolle Reaktion auf die Erfahrungen der leidvollen Vergangenheit. Seine Kritik am »Marsch durch die Institutionen« ist unzweideutig: »Die unter dem sogenannten Radikalenerlass haben das Thema in unzähligen politischen Reden und Aufsätzen variiert und zu einem Vehikel der Systemveränderer gemacht. Dabei wird z. B. die Nichteinstellung von Verfassungsfeinden unhistorisch mit der Unterdrückungspraxis im Absolutismus und Obrigkeitsstaat gleichgesetzt. Das gilt zumal für Kommunisten, die zur Überwindung einer freiheitlichen Demokratie deren Vorzüge und Rechte in Anspruch nehmen, während sie selbst für eine extrem intolerante Ideologie eintreten und ihre Gesinnungsgenossen anderwärts die undemokratische Minderheits- und Einparteienherrschaft legitimieren, indem sie gut leninistisch zwischen quantitativen und qualitativen, numerischen und politischen Mehrheiten unterscheiden. Wo sie aber an der Macht sind, billigen sie Andersdenkenden weder Eckhard Jesse  —  Demokratie versus Diktatur

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die Rolle einer demokratischen Opposition noch auch die ›Freiheit des Andersdenkenden‹ zu, auf die sie sich berufen. Die Bundesrepublik bleibt mit ihrem Demokratieverständnis wegen der historischen Erfahrung (Weimar) und der geographisch-politischen Lage ( DDR) dieser Problematik besonders ausgesetzt, mit der es jede Demokratie zu tun hat.«19 Die ersten vier Aufsätze aus den Jahren 1973 bis 1976 fanden in die fünfte Auflage erneut Aufnahme: eine kritische Analyse zum Faschismusbegriff; eine Verteidigung des Totalitarismusansatzes; eine Untersuchung zur Rolle von Tradition und Revolution im Nationalsozialismus; eine Einschätzung der Person Hitlers. Bracher verdeutlicht seine Bedenken gegenüber einem generellen Faschismusbegriff, ob nun marxistischer oder »bürgerlicher« Observanz. Dabei sieht er die Gefahr der Verdrängung des Totalitarismusansatzes. Das kann so sein, muss es jdoch nicht. Schließlich wird der Kommunismusbegriff ja auch nicht aus dem Verkehr gezogen. Aber in der Tat ist der antisemitische Nationalsozialismus schwerlich unter den Faschismusbegriff zu subsumieren. Was den Nationalsozialismus betrifft, so zeigt der Bonner Wissenschaftler dessen Ambivalenz: das Element des Traditionellen ebenso wie das oft unterschlagene des Revolutionären. Eine der triftigen Kernthesen Brachers lautet, die Geschichte des Nationalsozialismus sei die Geschichte seiner Unterschätzung. Er misst der Person Hitlers, einem Produkt der deutschen (und österreichischen) Entwicklung, für den fatalen Verlauf der Geschichte großes Gewicht bei, ohne sie zu dämonisieren. Vor allem der Aufsatz über den »Totalitarismusbegriff«, schnell mehrfach nachgedruckt, erwies sich als umstritten und ist zugleich von tragender Relevanz bis heute. Bracher geht es um eine systematisch vergleichende Betrachtungsweise. Zwar sei die Qualität der Totalitarismuskonzeptionen in den 1950er und 1960er Jahren durch den Kalten Krieg beeinträchtigt worden, aber gleichwohl unterschieden sich totalitäre Regime der Moderne – seien es linke, seien es rechte – von früheren Formen der Autokratie. Moderne Technologien böten Diktaturen ungeahnte Möglichkeiten der Mobilisierung und der Gleichschaltung der Massen (diesen freilich auch solche der Renitenz). Die pseudodemokratische Legitimierung sei konstitutiv für totalitäre Systeme, die Idee der Volkssouveränität folglich eine Voraussetzung für sie. Bracher meidet den Pessimismus von Jean-Jacques Revel20 wie den Optimismus von Martin Kriele21, liegt insgesamt jedoch wohl näher bei Revel, auf den er sich öfter beruft. Der Bonner Wissenschaftler benennt ein Syndrom von vier Merkmalen, durch die ein totalitäres System gekennzeichnet sei: offizielle Ideologie mit Ausschließlichkeitscharakter; zentralisierte und hierarchisch organisierte Massenbewegung; Kontrolle aller Massenkommunikationsmittel zwecks

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19  Karl Dietrich Bracher, Bewährung und Anfechtung, S. 435, Anm. 8. 20  Vgl. Jean-Jacques Revel, Die totalitäre Versuchung, Frankfurt a. M. 1976; ders., So enden die Demokratien, München 1984 21  Vgl. Martin Kriele, Die demokratische ­Weltrevolution, München 1987.

Indoktrination; Kontrolle der Ökonomie und der sozialen Beziehungen. Bracher hebt den Doppelcharakter totalitärer Politik hervor: einerseits die etatistisch-absolutistische Seite, andererseits die dynamisch-revolutionäre. Obwohl er die Aktualität des Totalitarismusbegriffs herausstreicht, sind seine Beispiele vorwiegend dem italienischen Faschismus, dem Nationalsozialismus und – weniger – dem Kommunismus stalinistisch-leninistischer Prägung entnommen. In späteren Sammelbänden fällt die Verteidigung des Totalitarismuskonzepts deutlicher aus, ebenso die Kritik an seiner Tabuisierung und ferner die an der Appeasementpolitik gegenüber Diktaturen, so in der »totalitären Erfahrung«.22 Hier wird die radikale Systemopposition am demokratischen Verfassungsstaat gegeißelt, ebenso manche Zivilisationskritik. Die Sammelwerke nach dem Zerfall des »realen Sozialismus« lassen Brachers Genugtuung spüren, ohne dass er deswegen Triumphalismus an den Tag gelegt hätte.23 Neu aufgenommen wurden in die »Zeitgeschichtlichen Kontroversen« von 1984 vier Aufsätze aus den Jahren 1980 bis 1983, in deren Zentrum die Nationalsozialismus-Deutung steht, so in der Studie über den – keineswegs zwangsläufigen – 30. Januar 1933, so bei seiner Kritik an der »totalitären Versuchung« von intellektuellen Sympathisanten des Nationalsozialismus, so bei der Auseinandersetzung mit »totalitärer Europapolitik«, so bei der fatalen Rolle von »Ideologie im 20. Jahrhundert«. Der Subtext lautet: Was für rechtsaußen gilt, trifft auf linksaußen ebenso zu. Eine gewisse Diskrepanz ist unübersehbar (und kritikwürdig): Bracher bezieht sich, was die Vergangenheit angeht, fast ausschließlich auf die rechte Variante des Extremismus bzw. Totalitarismus; hingegen gilt seine Sorge mit Blick auf die Gegenwart und die Zukunft vor allem dem linken Extremismus bzw. Totalitarismus. Was überzeugt, ist Brachers historische Tiefenschärfe. Oft heißt es bei einer modischen Kritik, sie sei weniger neu als ihre Apologeten zu glauben machen suchen, etwa bei der Berufung auf einen generellen Faschismusbegriff oder bei der Negierung eines Totalitarismusbegriffs. Die Gretchenfrage lautet: Hat sich das politische Koordinatensystem gewandelt oder Karl Dietrich Bracher? Die angemessene Antwort dürfte lauten: beides! Bracher gehört zu jener Gruppe bekannter linksliberaler Wissenschaftler, die 22  Vgl. Karl Dietrich Bracher, Die totalitäre ­Erfahrung, München 1987. 23  Vgl. ders., Wendezeiten der Geschichte. Historisch-politische Essays 1987–1992, München 1992 (2. Aufl. 1995); Geschichte als Erfahrung. Betrachtungen zum 20. Jahrhundert, Stuttgart 2001.

Anfang der siebziger Jahre gegen die intellektuelle Ideologisierung von links Position bezogen haben. Dazu zählen u. a. der Rechtswissenschaftler Martin Kriele, der Soziologe Erwin K. Scheuch, der Historiker Michael Stürmer und der Politikwissenschaftler Kurt Sontheimer. Aber anders als etwa bei Arnulf Baring geschah das weniger plakativ und öffentlichkeitswirksam. Bracher suchte nicht die große Publizität. Wie das Sammelwerk »Zeitgeschichtliche Kontroversen« deutlich macht, ließ er gleichwohl keinen Zweifel an seinen neuen Einsichten. Eckhard Jesse  —  Demokratie versus Diktatur

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Das zeigen viele Beiträge in Brachers Sammelbänden »Deutschland zwischen Demokratie und Diktatur« und »Das deutsche Dilemma« – dies gilt für die früher als eher autoritär eingeschätzte Funktion der Kanzlerdemokratie ebenso wie für die als illiberal geltende »Notstandsverfassung«.24 Auch wenn Bracher sich nach wie vor gegen autoritäre Tendenzen von rechts wendet, spiegeln seine Aufsätze vor allem die Ablehnung utopischer Positionen von links wider. »Entscheidend für die Entwicklung der politischen Kultur der Bonner Republik […] war, dass es vor der Revolte zwischen dem liberalismuskritischen Habermas und dem ›liberal-kritischen‹ Bracher eine politische Schnittmenge gab, die nach ›1968‹ zusehends kleiner wurde und während der siebziger Jahre fast vollständig zu verschwinden drohte.«25 Davon zeugen die »Zeitgeschichtlichen Kontroversen« Brachers. Habermas kommt in ihnen nicht (mehr) positiv vor. Allerdings ging der Bonner Politologe nie derart weit wie etwa der Kölner Soziologe Scheuch, dessen Positionen später nicht frei von bissiger Polemik waren. So hielt er sich aus dem für ihn als unfruchtbar empfundenen »Historikerstreit« heraus, von Jürgen Habermas wie Ernst Nolte gleichweit entfernt. Der Verfasser macht keinen Hehl aus seiner Meinung, dass ihn in den 1970er und 1980er Jahren die Position Brachers mit seiner klaren Herausstellung des zentralen Gegensatzes von Demokratie und Diktatur geprägt hat, nicht dagegen die seinerzeit ubiquitäre Unterscheidung von Kapitalismus und Sozialismus. Bracher stand zwar gegen den Zeitgeist, aber seine Konzeption war eine der Wurzeln für meine Hinwendung zur Extremismusforschung. Die Urteilskraft des Bonner Gelehrten, die auf der intellektuellen Durchdringung der komplexen Materie beruhte, hat mich geprägt.26 Und wohl nicht nur mich: Schließlich hat er 132 Personen zur Dissertation geführt (darunter die späteren Professoren Ulrich von Alemann, Michael Th. Greven, Werner Müller, Hans Karl Rupp, Theo Schiller, Hans Vorländer), und 12 zur Habilitation (darunter Erhard Forndran, Hans-Adolf Jacobsen, Paul Kevenhörster, Ludger Kühnhardt, Karlheinz Niclauß). Wie die Namen zeigen, war ihm, dem überzeugten Pluralisten, nicht daran gelegen, nur Personen auf seiner »Linie« zu fördern. Auch diese Liberalität hat mich beeindruckt.

Prof. Dr. Eckhard Jesse, geb. 1948, lehrte vom 1 April 1993 bis zum 30. September 2014 Politikwissenschaft an der Technischen universität Chemnitz. Zuletzt erschien: Eckhard Jesse u. Sebastian Liebold (Hg.), Deutsche Politikwissenschaftler – Werk und Wirkung. Von Abendroth bis Zellentin, Baden-Baden 2014.

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24  Vgl. ders., Deutschland zwischen Demokratie und Diktatur. Beiträge zur neueren Politik und Geschichte, München 1964; ders., Das deutsche Dilemma. Leidenswege der politischen Emanzipation, München 1971. 25  So Riccardo Bavaj, Deutscher Staat und westliche Demokratie. Karl Dietrich Bracher und Erwin K. Scheuch zur Zeit der Studentenrevolte von 1967/68, in: Geschichte im Westen, Jg. 23 (2008), S. 149–171, hier S. 157. 26  Allerdings gilt das nicht in jeder Hinsicht. So war Bracher trotz aller Evidenzen nicht zur Akzeptanz der Alleintäterschaft des Holländers Marinus van der Lubbe beim Reichstagsbrand am 27. Februar 1933 bereit, wie dies erstmal von dem »Amateurhistoriker« Fritz Tobias in einer SpiegelSerie 1959/60 und dann in einem Buch nachgewiesen wurde.

INDES ZEITSCHRIFT FÜR POLITIK UND GESELLSCHAFT Herausgegeben von Prof. Dr. Franz Walter, Institut für Demokratieforschung der Georg-AugustUniversität Göttingen. Redaktion: David Bebnowski, Felix Butzlaff, Dr. Lars Geiges, Roland Hiemann, Julia Kiegeland, Danny Michelsen, Dr. Robert Lorenz, Michael Lühmann, Dr. Torben Lütjen, Marika Przybilla. Konzeption dieser Ausgabe: Julia Kiegeland, Jöran Klatt. Redaktionsleitung: Katharina Rahlf (verantw. i. S. des niedersächs. Pressegesetzes), Dr. Matthias Micus. Redaktionsanschrift: Redaktion INDES c/o Göttinger Institut für Demokratieforschung Weender Landstraße 14, 37073 Göttingen, [email protected] Online-Auftritt: www.indes-online.de Anfragen und Manuskriptangebote schicken Sie bitte an diese Adresse, möglichst per E-Mail. – Die Rücksendung oder Besprechung unverlangt eingesandter Bücher kann nicht gewährleistet werden.

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