Digitalisierung: Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft 2018 Heft 02 [1 ed.] 9783666800245, 9783525370728, 9783647370729, 9783525800249

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Digitalisierung: Indes. Zeitschrift für Politik und Gesellschaft 2018 Heft 02 [1 ed.]
 9783666800245, 9783525370728, 9783647370729, 9783525800249

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INDES Vandenhoeck & Ruprecht

Heft 2 | 2018 | ISSN 2191-995X

ZEIT SCHRIFT FÜR POLITIK UND GESELLSCHAFT

Digitalisierung Janina Loh  Transformation der Verantwortung  Andreas Antic´  Öffentlichkeit

im Wandel  Michael Kulmus  Darmstadt als Smart City  Oleksandra Iwaniuk  Der Euromaidan

Wie WerdeN soziokulturelle NormAlitäteN Produziert uNd reProduziert?

Jürgen Link Normalismus und Antagonismus in der Postmoderne Krise, New Normal, Populismus 2018. 439 Seiten, mit 27 Abb., Paperback € 50,00 D ISBN 978-3-525-37072-8 eBook € 39,99 D | ISBN 978-3-647-37072-9

Die Krisenserie zu Beginn des 21. Jahrhunderts, von der Finanz- und Eurokrise bis zur Flüchtlings- und Populismuskrise, hat die vorgängigen Normalitäten in vielen Dimensionen beeinträchtigt. Bedeutet das das »Ende der Normalität« (Gabor Steingart)? Darauf antwortet das in diesem Buch aktualisierte diskurstheoretische Konzept des Normalismus, indem es die Kategorien des Normalismus und des Antagonismus miteinander kombiniert und ein neues Antagonismus-Konzept entwickelt. Mit diesem Instrumentarium wird zunächst die Postmoderne als eine vorgeblich historische Epoche ohne Antagonismen gefasst. Anschließend werden die Krisenserien unter diesem Aspekt analysiert.

EDITORIAL ΞΞ Jöran Klatt / Matthias Micus

Die Digitalisierung stellt fraglos eine der tiefgreifenden Veränderungen der neueren Geschichte dar. Sie ist omnipräsent, umfasst sämtliche Lebensbereiche. Mit ihren Herausforderungen ist die Gesellschaft ebenso wie die Umwelt, die Politik nicht anders als Wirtschaft und Kultur konfrontiert. Vor allem Parteien scheinen sich bisher mit den Veränderungen schwer zu tun. Die Digitalisierung von Wahlkämpfen und Parteienkommunikation geht allenfalls zaghaft vonstatten. Im Zeitalter von Internet und der permanenten Beschleunigung sozialer, wirtschaftlicher und auch politischer Prozesse wirken die etablierten Transmissionsriemen zwischen dem Staat und seinen Bürgern auch deshalb oft statisch und unflexibel – zuweilen gar als anachronistische Institutionen. Gleichzeitig wird die Digitalisierung nicht zuletzt von der Politik selbst vorangetrieben. Verwaltung und Kommunen setzen auf den Ausbau elektronischer Angebote. Erst recht ist die Wirtschaft auf Digitalisierung programmiert – wobei die Verlagerung von Entscheidungen auf Algorithmen und Datenspeicher hier besonders sichtbar auch negative Auswirkungen auf die beteiligten Menschen hat und bisweilen mit ihren (Beschäftigungs-)Interessen frontal kollidiert. Kurzum: Was macht die Digitalisierung mit der Gesellschaft und den Menschen? Was bedeutet sie für die Arbeitswelt, welche neuen sozialen Verkehrs- und Umgangsformen hat sie bereits hervorgebracht – und welche wahrscheinlichen Effekte und Trends lassen sich aus bisherigen Verlaufspfaden für die Zukunft extrapolieren? Digitalisierung bedeutet dabei zweifellos mehr als die bloße Ausbreitung des Internets oder digitaler Technologien. Vielmehr verändern sich im Verbund mit ihr gewohnte Denkweisen, einst Selbstverständliches erodiert. Löst sich im Rahmen der Digitalisierung die klassische bürgerliche Vorstellung von Öffentlichkeit und gemeinsamem Leben auf? Prägen wachsende Gruppen der Gesellschaft empirisch belegbar ein internetgeprägtes Dasein aus, in der Gemeinschaften allein virtuell bestehen und Differenzen auszuhalten unnötig geworden erscheint? Welche Kompetenzen muss mitbringen, wer im digitalen Zeitalter mithalten können will? Wohin kann man sich

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möglicherweise zurückziehen? Schließlich: Welche Enklaven vermag die Gesellschaft vor dem »Sog des Digitalen« (Felix Stalder) zu bewahren und ist dies überhaupt erstrebenswert? Diesen und anderen Fragen möchten wir uns im vorliegenden Themenschwerpunkt von INDES widmen. Quer zu Politik und Gesellschaft mäandern die verschiedenen Beiträge dieses Hefts dabei immer wieder zwischen der Grenze des scheinbar Klassischen und Althergebrachten auf der einen sowie den Neuerungen, den Herausforderungen und Chancen, welche die Digitalisierung bedeutet, auf der anderen Seite. Wir wünschen viel Vergnügen bei der Lektüre.

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EDITORIAL

EDITORIAL

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INHALT

1 Editorial

ΞΞJöran Klatt / Matthias Micus

>> INTERVIEW

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»Digitalisierung bedarf des aufgeklärten Bürgers« ΞΞEin Gespräch mit Wolfgang M. Schmitt über Digitalisierung und die Grenzen des digitalen Diskurses

>> ANALYSE 19 Öffentlichkeit im ­digitalen Wandel

Zur Aktualität von John Deweys ­Öffentlichkeitstheorie ΞΞAndreas Antic

27 Erinnerungskultur ­digital

Die Ortlosigkeit virtueller Räume als Katharsis postmodernen Gedenkens ΞΞStefan Haas / Christian Wachter

33 Transformation der ­Verantwortung

Neue Anforderungen an Automatisierung, Digitalisierung und Industrie 4.0 ΞΞJanina Loh

40 Informationelle ­Selbstbestimmung Privatheit im digitalen Kapitalismus ΞΞSebastian Sevignani



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Zur Entstehung von gewaltbereitem ­Extremismus Ergebnisse einer Aufarbeitung einschlägiger Biografien ΞΞDominic Kudlacek / Nadine Jukschat / Leonie Rook



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Lehren und Lernen mit digitalen Medien Herausforderungen und Chancen ΞΞBardo Herzig / Alexander Martin

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68 Stilbruch als Stilmittel

Über die Veränderung demokratischer ­Diskurskultur ΞΞChristopher Schmitz

76 #GamerGate vs. Social Justice Warriors Ein Streit (nicht nur) um Spiele ΞΞJöran Klatt

>> INSPEKTION 84 Selbstoptimierung im Stadtformat

Wie Darmstadt als Smart City in die digitale Zukunft schreitet ΞΞMichael Kulmus

PERSPEKTIVEN >> ANALYSE 94 Der Euromaidan

Alltagspraktiken der parlamentarischen ­Eliten in der Ukraine ΞΞOleksandra Iwaniuk

102 Die restaurierte Republik

Historisierender Staatsbau als Spaciocide ΞΞOrhan Esen

114 Der Kampf um Platz Zwei

Das deutschen Parteiensystem im Wandel ΞΞLothar Probst

Inhalt

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SCHWERPUNKT: DIGITALISIERUNG

INTERVIEW

»DIGITALISIERUNG BEDARF DES AUFGEKLÄRTEN BÜRGERS« ΞΞ Ein Gespräch mit Wolfgang M. Schmitt über Digitalisierung und die Grenzen des digitalen Diskurses

Als Journalist, Publizist, Germanist und Theaterkritiker setzen Sie sich vor allem auf Ihrem YouTube-Kanal »Die Filmanalyse« ideologiekritisch mit dem Kino auseinander. Dabei nehmen Sie die, in der schnelllebigen digitalen Welt eher seltene Rolle des kritischen Intellektuellen ein. Funktioniert die Rolle des Intellektuellen im digitalen Zeitalter also doch? Das Internet bietet ja zunächst einmal die Möglichkeit, dass jeder sprechen kann, das heißt, dass auch jeder Intellektuelle sprechen kann. YouTube erschien für mich besonders reizvoll, da man dort zunächst keine intellektuellen Debatten erwartet. Dort sind vor allem Comedy-Videos, Let’s-PlayVideos oder Influencer-Formate sehr erfolgreich. Und dennoch ist es auch ein intellektuelles Fernseharchiv, neben den genannten Inhalten finden Sie auch den gesamten Sendungskorpus des Literarischen Quartetts, ebenso große Sendungen mit Roger Willemsen oder Joachim Kaiser. In gewisser Weise ist also das, was wir im Fernsehen kaum noch erleben, nämlich so etwas wie bildungsbürgerliches Programm, tatsächlich dort archiviert. Solche Inhalte kann man dort aber auch selbst erschaffen. Natürlich erreicht dies kein M ­ illionenpublikum. Aber auch in der Ära des linearen Fernsehens war ein solches Programm immer auch eines der Nische – in punkto Zuschauer­ gunst begünstigt allenfalls dadurch, dass die relativ geringe Auswahl zur Folge haben konnte, dass Marcel Reich-Ranicki Zuschauer anzog, weil auf dem anderen Programm vielleicht gerade Fritz J. Raddatz sprach und dort kein Comedy-Format gesendet wurde. Um eine hohe Klickzahl in der heutigen Zeit zu erreichen, müsste man also etwas komplett anderes machen und das womöglich nur für kurze Dauer. Wenn man aber einen langen Atem hat, dann kann man bei YouTube durchaus

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intelligente, vielleicht auch intellektuelle Formate machen und sich dabei zugleich dieses Mediums bewusst sein und fragen, inwieweit man es einfach nur affirmativ bedient. Ganz plakativ: Brauche ich hundert Schnitte, weil ich hundert Schnitte in einem fünfminütigen Video unterbringen kann? Oder reicht es auch, wenn ich einfach eine Kamera aufstelle, frontal filme und es gibt drei Schnitte und dann ist nach zwölf oder fünfzehn Minuten Schluss? Welche Mittel stehen zur Verfügung, um Aufmerksamkeit zu generieren, auch über einen längeren Zeitraum? Gibt es Formatregeln jenseits des Genannten, die helfen, in der digitalen Welt auch auf Dauer zu bestehen? Im Nachhinein könnte der Eindruck entstehen, als stünde ein großes Konzept hinter dem Format – aber das war in meinem Falle tatsächlich nicht so. Als Vorbild diente vielmehr jene Form des klassischen Bildungsbürgerfernsehens, bei dem einer sitzt, redet, erklärt und dabei Heinrich Böll, Jürgen Habermas oder die Frankfurter Schule einzuflechten vermag. Die Ästhetik dieses Modells, mit einem Bücherregal im Hintergrund und einer klassischen Bankerlampe, habe ich übernommen, weil sie mir persönlich entspricht und ich mich für dieses Format somit nicht verkleiden musste. Die journalistische Tugend, unterhaltsam zu sein, war dabei jedoch stets präsent. Wie ein guter Zeitungsartikel zugleich unterhaltsam und pointiert sein muss, dabei vor Polemik nicht zurückschrecken darf, weil das mehr interessiert, aneckt und für Kontroversen sorgt, als nur deskriptive Abhandlungen vorzutragen – so muss auch ein YouTube-Beitrag aufgebaut sein. Sicherlich gehört dazu, selbst, auch optisch, in Erscheinung zu treten, was gerade für Wissenschaftler nicht selbstverständlich scheint. Diese halten zwar auch Vorträge, aber in erster Linie sind sie doch durch klassische Publikationen im Gespräch. So verbinden sich mit diesen häufig Namen – wesentlich seltener aber ein Gesicht. Dies ändert sich – Bücher von populären Intellektuellen werden heute selbstverständlich mit deren Gesichtern vermarktet, sodass jeder weiß, wie Richard David Precht oder Peter Sloterdijk aussehen. Doch diese Tendenz ist natürlich bei YouTube, wo man sich bewusst der Kamera aussetzt, deutlich verstärkt. Aber auch hier lassen sich Grenzen innerhalb des Mediums ziehen. So habe ich für mich, entgegen des Kults um Authentizität, dem viele YouTuber folgen, früh entschieden, mich nicht zu stark als Privatperson zu inszenieren, sondern als Figur des Kritikers aufzutauchen, was, mit Andreas Reckwitz gesprochen, auch wieder so etwas wie eine Singularität darstellt. Hinzu kommt, dass mein Format in seiner spezifischen Nische einer Entwicklung folgt, die, wie es Chris Anderson in seinem Buch »The Long Tale« beschreibt, eine Entwicklung weg vom Massen- und hin zum Nischenmarkt

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Digitalisierung — Interview

ist. Gerade YouTube ist dafür ein Paradebeispiel. Natürlich gibt es dort auch Filme, die Millionen Klicks haben, aber die meisten Inhalte haben weitaus weniger Klicks. Das bedeutet nicht, dass es nicht wirksam ist. Ich glaube sogar, ein Video, das zehn- bis fünfzehntausend Klicks hat, kann wirksamer sein als irgendein Influencer. Der sorgt vielleicht dafür, dass hunderttausend Leute diesen einen Lippenstift kaufen, aber das verpufft bald wieder. Umgekehrt glaube ich nach acht Jahren, in denen ich nie einen Abonnentenverlust erlitten habe, dass ein qualitatives und dauerhaftes Format auch eine langfristige Wirksamkeit entfalten kann. Die eben beschriebene Ästhetik, der Verweis auf klassische Theoretiker, all das erinnert doch recht stark an analoge und zugleich hochkulturelle Formate. ­Indes behandeln ihre Analysen sowohl Quentin Tarantino als auch das klassische ­Holly­wood oder auch »Fack ju Göhte«. Würden Sie diese Hybridität eher auf der Seite der Hoch- oder der Popkultur einordnen? Eigentlich auf der Seite der Hochkultur. Ich denke, es reicht nicht, sich nur in diesem theoretischen Diskursgebäude, diesem Elfenbeinturm, aufzuhalten. Ich glaube, dass es gerade nottut, diese vielen populärkulturellen Phänomene, die wir haben, auch mit diesen Theorien, diesen Theoretikern zu lesen, denn dafür wurden und haben sie dies ursprünglich mal geschrieben. Es sind Auseinandersetzungen mit dem Ist-Zustand der Gesellschaft, warum sich Leute – etwa bei Adorno – Mickey-Mouse-Filme ansehen, oder warum sie dieses oder jenes gerne hören. Für mich ist es eine intellektuelle Pflicht, sich gerade mit solchen Phänomenen auseinanderzusetzen und zu zeigen, dass diese Phänomene auch eines intellektuellen Zugangs bedürfen. Das Analoge ist dabei für mich tatsächlich enorm wichtig, weil ich damit stets wieder demonstriere – ohne es immer klar auszusprechen –, dass es für eine ernste und redliche Auseinandersetzung nicht reicht, nur bei YouTube unterwegs zu sein oder sich losgelöst popkulturellen Filmen im Kino hinzugeben. Um das Ganze einordnen und verstehen zu können, muss man letztlich auf die Bücher, auf die Theorie, auf die schweren Brocken zurückgreifen und diese auch studieren. Für mich ist ganz klar, dass dies dem Verstehen hilft. Sehen Sie sich selbst als Profiteur oder eher als Kritiker der Digitalisierung und des Digitalen? Ich bin ganz klar beides. Ich bin natürlich Profiteur einer Plattform, die mir die weitgehend einmalige Möglichkeit bietet, frei von irgendwelchen Zwängen jede Woche eine Filmanalyse machen zu dürfen. Ebenso erfahre ich durch YouTube eine gewisse Popularität, die über die Plattform selbst hinausreicht, Gespräch mit Wolfgang M. Schmitt

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etwa wenn ich für Vorträge eingeladen werde oder Artikelanfragen erhalte. Gleichzeitig weiß ich, dass diese Freiheit natürlich auch ein Trugschluss ist, denn sie bedeutet zum einen noch lange nicht, dass ich tatsächlich wahrgenommen werde. Zum anderen muss man sich auch bewusst sein, dass diese Plattform von Google zur Verfügung gestellt wird – die Infrastruktur also von einem Konzern stammt, dessen Geschäftspraxis ein halbwegs links denkender Mensch kritisieren muss. Nur ist das natürlich ein generelles Problem: Wo lässt sich denn heute, ohne letztlich dem Großkapital in die Hände zu spielen, noch publizieren? Kleine Verlage werden immer weniger und anhand der Open-Access-Ideologie zeigt sich gerade ganz deutlich, dass auch hier die Big Player, etwa Springer Nature, die Plattformen stellen. Die Autoren werden enteignet, die Großverlage verdienen. Gerechtfertigt durch linksliberale Slogans, die von einer »Demokratisierung des Wissens« faseln. Heraushalten und beschließen, der digitalen Welt den Rücken zuzukehren, käme in Anbetracht der Omnipräsenz sozialer Medien wohl einer Kapitulation gleich. Zudem findet doch tatsächlich sehr viel Gutes in der digitalen Welt statt. Dies zu entdecken, selbst Redakteur zu werden und eigenverantwortlich auszuwählen, was wichtig ist, statt dies passiv Zeitungsredaktion und Algorithmen zu überlassen, scheint mir der bessere Weg. Es ist eine interessantes Phänomen, dass die Weigerung, sein eigener Redakteur zu werden, oftmals einhergeht mit einer fundamentalen Kritik an der Idiotie, die natürlich überall dort stattfindet. Für mich beispielsweise ist Twitter, was soziale Medien anbelangt, das beste Medium, weil sich dort tatsächlich sehr viele Hinweise auf gute Artikel finden lassen, auch weil dort viele Wissenschaftler und Journalisten vertreten sind. Natürlich können dadurch eben jene Filterblasen entstehen, gegen die so viele wohl nicht gänzlich zu Unrecht polemisieren. Zugleich ist – und da hat Jodie Dean sicherlich recht – eine solche Filterblase, so sie nicht unhinterfragt bleibt, zum einen eine Chance, den großen Informationsfluss sinnvoll zu kanalisieren. Und zum anderen ist das Phänomen ja keineswegs beschränkt auf die digitale Welt, auch in der analogen Welt kann ich Information und Weltanschauung selektiv konsumieren. Dieser sehr bewusste Umgang mit Information scheint in der digitalen Welt dennoch eine noch größere Herausforderung zu sein, mit der nicht wenige gar überfordert sind. Braucht es, um dem entgegenzuwirken, ein Lernangebot für die Digitalisierung innerhalb der Gesellschaft? Absolut. Die Digitalisierung kommt eigentlich zu einem Zeitpunkt, an dem der Bürger, aufgrund einer mangelhaften Bildungspolitik in den letzten Jahren und Jahrzehnten, ein sehr falsches Verständnis von dem entwickelt und

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Digitalisierung — Interview

inkorporiert hat, was ein Bürger, eine Demokratie zu sein hat. Jetzt kommt die Digitalisierung und die bedarf des aufgeklärten Bürgers, einem, wie Habermas das sagen würde, räsonierenden Publikum, und nicht einem lediglich konsumierenden. Diesen Umschwung beschrieb Habermas bereits für die 1960er Jahre, als die bundesrepublikanische Wirklichkeit, verglichen zu heute, gleichwohl noch wesentlich kritischer im Umgang mit Informationen war, überdies auch viel weniger Informationen zur Verfügung hatte. Heute führt das Effizienzdenken gerade im Bildungssektor dazu, dass immer weniger Menschen in die Lage versetzt werden, zu sich selbst in Distanz zu treten und sich kritisch zu hinterfragen. Dieser in gewisser Weise politisch gewollte Umschwung wird durch die vielen Polit-Talkshows, die im Prinzip das Parlament aushöhlen, verstärkt. Um wieder einen kritischen ebenso wie vernünftigen Umgang mit der Informationsflut zu ermöglichen, bräuchte es deshalb zunächst eine radikale Bildungsreform, eine, die den kritischen Geist stärker in den Mittelpunkt rückt, die das bürgerliche Subjekt wieder in die Lage versetzt, sich auseinanderzusetzen und wirklich in einen Diskurs zu treten. Wir brauchen aber auch Intellektuelle, die im Sinne eines kritischen Redakteurs, Informationen kanalisieren und ordnen, gerade für jene, deren überschaubares Zeitbudget mit einer unüberschaubaren Informationsflut kollidiert. Schließlich gehen viele Menschen Berufen nach, die mit der Medienwelt, mit der Welt der Geisteswissenschaften oder der Politik nichts zu tun haben, die abends nicht die Zeit haben, sich drei, vier Stunden mit verschiedenen Zeitungen auseinanderzusetzen, die nicht die einzelnen Positionen von Redakteuren oder Autorennetzwerken kennen und deshalb nicht jede Äußerung einordnen können. Deshalb geht es heute mehr denn je darum, als Intellektueller auch als Vertrauensfigur aufzutreten und ein Angebot zu schaffen. Das bedeutet aber auch, als Person in Erscheinung zu treten und Reibungspunkte zu bieten. Und das ist meine Hoffnung, dass dies vielleicht mehr Menschen machen und dass erkannt wird, was für ein kritisches wie demokratisches Potenzial in solchen Plattformen liegt. Das könnte dann auch so weit gehen, Plattformen, welche solche Sortier- und Einordnungsangebote machen, staatlich zu unterstützen, um tatsächlich so etwas wie ein öffentlich-rechtliches Internet zu ermöglichen. Die Auseinandersetzung mit digitalen Themen und die Auseinandersetzung in digitalen Medien braucht jedenfalls weit mehr als das rücksichtslose und unkritische Marschieren durch die sozialen Medien. Es ist erstaunlich, wie affirmativ manche Politiker etwa Instagram bedienen, wo sie sich genau in diese Ästhetik einpassen und krude Hashtags setzen. Gespräch mit Wolfgang M. Schmitt

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Dieser Gedanke an digitale Leitmedien: Ist das nicht eine allzu nostalgische Erinnerung an die Formate mit Günter Gaus, in denen Leute wie Hannah Arendt gesprochen haben? Es kann natürlich nicht ein digitales Leitmedium geben. Es gibt digitale Plattformen – nicht nur YouTube-Kanäle, sondern auch Blogs oder Podcasts –, die sehr stark frequentiert werden und unglaublich gute Programme machen, die sich kritisch mit digitalen, politischen oder wirtschaftlichen Themen auseinandersetzen. Ob man das auf irgendeine Weise interessanter bündeln kann und ob man dort tatsächlich so etwas wie ein solidarisches Netzwerk errichten kann, ist aufgrund des derzeitigen Konkurrenzdrucks natürlich fraglich. Ich glaube allerdings schon, dass sich einige Gruppen stärker zusammentun könnten. Ebenso denke ich, dass das Problem nicht durch die digitalen Medien allein gelöst werden kann, sondern es muss schon eine gesellschaftliche und auch wirtschaftliche Veränderung geben. Die soziale Lage eines jeden Einzelnen muss es ermöglichen, zum kritischen Bürger zu werden. Diese Verantwortung kann man nicht einzig den Produzenten, die im Internet tätig sind, zuschieben. Das ist, als würde man Lehrern sagen, sie sollten dafür sorgen, dass die Bildung aufrechterhalten wird, aber ansonsten torpediert man alles, was Bildung anbelangt. Solange Technik nicht politisch begriffen, sondern in Solutionismus – also jene Silicon-Valley-Denkweise, wonach es für jedes Pro­blem eine technische Lösung gibt, auch wenn das Wissen über die komplexen Folgen der Erfindung noch gar nicht bekannt ist – verharrt wird, kann es keine diskursfähigen digitalen, öffentlich-rechtlichen Leitmedien geben. Sie sprechen viel von Diskurs. Beim Blick auf derzeitige Formate des Austausches auf digitaler Ebene stellt sich doch aber die Frage, ob es sich dabei überhaupt um einen Diskurs handelt. Wie könnte denn dort ein wirklicher Diskurs stattfinden? Diskurs findet in der Tat noch viel stärker in der analogen Welt statt: zwischen Freunden, zwischen Gleichgesinnten oder auch politischen Gegnern. Er findet nicht in Kommentarspalten statt, denn auch, wenn man viele qualifizierte Kommentare hat, sind diese natürlich additiv. Ebenso gibt es aber auch Formen der Live-Übertragung. Bei der re:publica etwa wurden sehr viele Vorträge live gestreamt und es gab eine Leiste, über die live mitkommentiert werden konnte. Aber auch dort gab es keinen Diskurs. Statt zu diskutieren, wurde auch dort vieles eher parallel und nach dem Lustprinzip gepostet. Dass die Entwicklung dahingeht, auf Twitter vernünftige Diskussionen zu führen, das glaube ich nicht. Der Diskurs muss nach wie vor woanders stattfinden, etwa in Form von Texten oder Videos. Soziale Medien, wo das Medium die Message ist, geben das im Prinzip nicht her. Intellektueller Diskurs meint

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Digitalisierung — Interview

aber auch nicht Dauerkommunikation, wie sie gern bei Tagungen praktiziert wird – er kann auch ein Monolog in Form einer Monographie sein. Die Skepsis gegenüber sozialen Netzwerken beruht meist auf der Annahme, dass dort eine wirkliche Deliberation nicht stattfinden kann, sondern affektiv gehandelt wird. Aus der Beobachtung sozialer Netzwerke heraus, beispielsweise mit Blick auf »PEGIDA«, machen wir die Erfahrung, dass dem nicht so sein muss. Hat sich das nicht einfach nur verlagert? Die Rechten haben natürlich ihre Profilbildung ganz klar durch die Abgrenzung vom Establishment betrieben. Dies bedeutet auch, dass sie sich sehr stark an diesen abarbeiten müssen. Das wird, glaube ich, durch die sozialen Medien noch einmal verstärkt, weil es so dicht beieinander ist. Wenn ich zu einem Parteitag oder einer Partei­ veranstaltung gehe, dann höre ich nur eine Perspektive. Kaum jemand macht sich die Mühe, zu einer anderen Partei zu gehen. Diese Möglichkeit ist nun aber immer nur einen Klick entfernt und die unterschiedlichen Positionen könnten in der Timeline sichtbar werden. Wir sehen dann eine Gleichzeitigkeit und es kann der Eindruck entstehen, dass hier Positionen zumindest aufeinanderprallen. Aber eigentlich geht es kommunikativ immer wieder vollkommen aneinander vorbei. Anders gesagt, das Aufeinandertreffen von Meinungen, die Abgrenzung vom politischen Gegner begründen noch längst keinen Diskurs. Stichwort Abgrenzung: Müssten nicht auch der Digitalisierung selbst Grenzen gesetzt werden? Interessant ist, dass in dieser Debatte die ursprünglich aus dem 19. Jahrhundert kommende Frontier-These Frederick Jackson Turners wiederaufgetaucht ist, welche sich auf Grenzverschiebungen innerhalb Amerikas bezog. Blieb anfänglich nach jeder Landeroberung noch immer weiter zu erobernde Wildnis zurück, so beschrieb Turner für das ausgehende 19. Jahrhundert mit der Erschließung der letzten Wildnisareale das Ende dieses Frontier-Zeitalters. Den Preis dafür mussten allein die indigenen Ureinwohner bezahlen. Diese kommen in all den identitätspolitischen Debatten, auch bei den Postcolonial-­Geschichten, nur marginal vor, obwohl wir da einen Ethnozid erlebt haben. Die Frontier-These hat dann aber ein Revival erlebt. Haben manche Politologen eine Rückkehr der These im Rahmen der Truman-Doktrin konstatiert, setzten Wissenschaftler, die sich mit Agrarpolitik beschäftigten, die ­Frontier-These in Zusammenhang mit dem technischen Fortschritt. Und heute werden auch Themen wie Brainhacking oder die Besiedlung des Mars unter Einbeziehung einer erneuerten Frontier-These diskutiert. Gespräch mit Wolfgang M. Schmitt

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Digitalisierung — Interview

Gespräch mit Wolfgang M. Schmitt

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In diesem Moment sollten wir uns noch einmal der vielfältigen Indianerkulturen Nordamerikas erinnern. Es ist ganz klar, dass die Opfer von Grenzverschiebungen immer jene Menschen sind, die sich nicht nach den Vorstellungen der Eroberer optimieren lassen oder optimieren können. Die gefährlichste Religion in diesem Zusammenhang ist der Transhumanismus, weil dieser tatsächlich darauf abzielt, den Menschen zu optimieren oder, konsequent zu Ende gedacht, den Menschen, wie wir ihn kennen, abzuschaffen. Was daran so gefährlich ist, ist nicht nur, dass wir unsere anthropologische Philosophie überdenken müssen, sondern dass gerade durch die Möglichkeiten, Digitalisierung und Genforschung zusammenzudenken, ganz neue Kolonisierungen möglich werden. Wir bewegen uns zwar schon lang in einer Zwei-Klassen-Gesellschaft, in der der Fahrstuhl-Effekt immer weiter abnimmt, wie Oliver Nachtwey es in »Die Abstiegsgesellschaft« sehr genau gezeigt hat. Aber im Rahmen des Transhumanismus könnte eine noch stärker zementierte Ungleichheit etabliert werden, die total und deterministisch, weil biologistisch ist. Durch pränatale Optimierung in Form von Computerchips könnten wir eine Ungleichheit schaffen, die nicht mehr mit Leistung, mit Bildung oder sonst irgendetwas zu überwinden ist. Das wäre eine Zweiklassengesellschaft, die eigentlich nur noch die Optimierten kennt und jenseits dessen entweder Lohnsklaven oder Konsumsklaven zurücklässt. Das ist für mich eigentlich das ganz große Thema, auch wenn das alles sehr utopisch klingt. Wir werden also der Digitalisierung Grenzen setzen müssen, auch wir Linken müssen darüber nachdenken, ob es so etwas wie einen linken Konservatismus gibt, den es zu aktivieren gilt. Das alte Paradigma: fortschrittlich gleich links und konservativ gleich rechts, das funktioniert ja schon lange nicht mehr. Schließlich sind es gerade konservative Politiker, die die Technisierung, den Handel mit Daten usw. immer weiter liberalisieren. Wie könnte denn ein solcher Paradigmenwechsel konkret aussehen? Die entscheidende Frage ist, wie dieses Modell umzusetzen wäre. Es mangelt hier ja nicht unbedingt an Ideen. Vieles in der Debatte läuft letztlich auf eine zumindest Teil-Enteignung der großen Konzerne hinaus. Dazu bräuchte es aber einen gemeinsamen politischen Willen. Nicht allein auf der nationalstaatlichen Ebene, sondern mindestens auf der europäischen. Aber statt einer europäischen Alternative zu Facebook steckt die Debatte in Sonntagsreden fest. Schauen wir aber nach Russland, Iran oder China, sehen wir alternative social-­ media-Plattformen, zudem greift der Staat sehr restriktiv in Plattformen und

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Internet ein. Dabei lauert hier jenseits des Beschriebenen eine Gefahr für die Freiheit des Einzelnen. Die Gefahr besteht natürlich auch bei der EU. Und man wird fragen müssen: Wer sichert denn die Freiheit, die wir heute im Internet haben? Die ist natürlich nicht staatlich garantiert, zugleich haben wir offenkundig kaum ein Problem damit, dass Konzerne diese Form der Freiheit zur Verfügung stellen und absichern. Aber das Kapital interessiert sich nicht für irgendwelche politischen Werte oder für demokratische Zielvorstellungen wie jenen aufgeklärten Diskurs, den wir eingangs diskutiert haben. Facebook ist und bleibt es natürlich vollkommen egal, ob die vielen Klicks mit »PEGIDA«-Demonstrationen, mit schönen Kochvideos von YouTube oder sonst woher generiert werden. Das ermöglicht dann eine Freiheit, die auf einem kapitalistischen Wirtschaftsmodell basiert. Und das ist doch in gewisser Weise wirklich nur eine Scheinfreiheit. Nur ist diese radikale Eingeschränktheit eine, die sich weit weniger bemerkbar macht, die überdies und interessanterweise vielen Netzgurus lange Zeit und auch zum Teil heute noch viel weniger Sorge bereitet, als es die staatlichen Eingriffe tun. Natürlich sieht man diese andere große Gefahr gerade am Beispiel der NSA-Affäre. Aber so zu tun, als wäre das, was mir Google, Facebook und Co. zur Verfügung stellen, wirkliche Freiheit, das wäre vermessen und wohl auch naiv. Man wird deshalb mehr als bisher darüber nachdenken müssen, und damit schließt sich der Kreis zu den Ausgangsüberlegungen, wie sich solche Plattformen in irgendeiner Weise vergesellschaften ließen, ohne dass sie sogleich politisch gesteuert würden. Was wir beispielsweise als einen ersten möglichen Schritt dringender denn je bräuchten, wären viel mehr sich politisch verstehende Programmiererinnen und Programmierer. Deren Verantwortungsbewusstsein bezüglich der von Ihnen angesprochenen Modi ist aber mindestens umstritten. Schließlich gilt das Silicon Valley als das Zentrum des modernen digitalen Kapitalismus. Und das, obwohl es, aus der amerikanischen Gegenkultur gegründet, immer auch etwas Nonkonformistisches hatte. Wie steht es denn, zum Abschluss, um Potentiale, denken wir etwa an Anonymus, für heutige Gegenkultur, für einen Ausbruch aus dem diskutierten Dilemma? Ich denke schon, dass es solche Gegenbewegungen geben kann, die indes nicht gleichzusetzen sind mit dem Geist des Silicon Valley. Aber anhand des Silicon Valley lässt sich nochmals in konzentrierter Form nachvollziehen, welche generellen Mechanismen im Wechselspiel von Kapitalismus und Kapitalismuskritik in der westlichen Welt gewirkt haben und auch weiterhin sehr erfolgreich wirken. Gerade weil der Kapitalismus nicht an traditionellen Werten, an konservativen Werten interessiert ist, konnte er sich auch Gespräch mit Wolfgang M. Schmitt

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sämtliche Protestbewegungen kapitalistisch einverleiben. Wie Marx es bereits im kommunistischen Manifest beschrieben hat, lebt der Kapitalismus von disruptiven Kräften, aus denen er sich letztlich schöpferisch erneuert, um auf eine bessere, schnellere, effizientere Ebene zu gelangen. Wir beobachten zwar immer wieder politisches Engagement des ­Silicon Valley, etwa für Diversity und gegen Rassismus. Aber dieses E ­ ngagement resultiert weniger aus einer politischen Überzeugung denn aus einer kapitalistischen Logik. Es ist eben nicht nur linke Politik, sich gegen patriarchale Strukturen zu stellen oder gegen Rassismus zu kämpfen. Es ist schlichtweg die Einsicht, dass die Wirtschaft leiden würde, blieben alle Frauen wieder zuhause und kümmerten sich um die Kindererziehung. Oder denken wir an Gary S. Beckers Überlegungen zum Humankapital, der anhand empirischer Forschung belegt, warum es ökonomisch überhaupt nicht sinnvoll ist, Rassist zu sein. Antriebsfeder für das Silicon Valley ist nur auf den ersten Blick wertebasiertes Agieren. Nicht zuletzt ist auch das anti-staatliche Moment des Silicon Valley nicht zu verachten, wenngleich mit autoritären Staaten laufend paktiert wird. Momentan haben Valley-Vertreter Angst, dass ein neuer Protektionismus den Kapitalismus gefährden könnte: Man baut wieder Mauern, man nagelt wieder Kreuze an die Wand, um Identität zu stiften, und man spricht wieder von Heimat. Aber gerade Heimat ist für mich ein Begriff, der ins Spiel gebracht wird, weil die nationalstaatliche Souveränität längst dem globalem Kapitalismus preisgegeben wurde und der Staat nur noch in Erscheinung tritt, um das Gewaltmonopol aufrechtzuerhalten. Mit dem Heimatbegriff wird so getan, als existiere der vom Finanzmarkt- und Plattformkapitalismus weitgehend unberührte alte Staat. Aber das ist wirklich nur ein Trugbild. Echter Heimatschutz wäre indes etwas völlig anderes: Wenn etwa Horst Seehofer den Whistleblowern und Netzaktivisten Edward Snowden und Julian Assange in Deutschland Asyl mit dem Ziel gewähren würde, mit deren Hilfe eine Strategie zu entwickeln, wie Bürgerinnen und Bürger wieder Souveräne ihrer eigenen Daten würden. Das wäre wahrer Heimatschutz. Aber, da sind wir uns wohl alle einig, das wird nicht passieren. Das Interview führten Marika Przybilla-Voß und Jöran Klatt.

Wolfgang M. Schmitt ist L ­ iteraturwissenschaftler und promoviert an der ­Universität Trier über das Politische in Ernst Jüngers Spätwerk. Außerdem arbeitet er als freier Film- und Literaturkritiker u.a. für die Rhein-Zeitung und Neues Deutschland. Zudem betreibt er seit 2011 den ideologiekritischen Videoblog DIE FILMANALYSE (youtube.com/filmanalyse).

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Digitalisierung — Interview

ANALYSE

ÖFFENTLICHKEIT IM ­DIGITALEN WANDEL ZUR AKTUALITÄT VON JOHN DEWEYS ­Ö FFENTLICHKEITSTHEORIE ΞΞ Andreas Antic

Seit über 25 Jahren wird bereits darüber nachgedacht, wie die politische Öffentlichkeit durch das Internet verändert wird. Digitale Öffentlichkeiten lassen sich, so viel steht fest, nicht mehr auf eine nationalstaatliche Konzeption reduzieren. Vielmehr haben wir es mit einer Vielzahl von Öffentlichkeiten unterschiedlichster Formen und Größen zu tun, von digitalen Mini-Publics bis hin zu transnationalen Massenbewegungen. Die Vielfalt digitaler Öffentlichkeiten, die mit der gewachsenen Komplexität und Globalisierung der sozialen Interaktions- und Kommunikationsbeziehungen begründet werden kann, ist nur eines von mehreren Merkmalen, die digitale Öffentlichkeiten auszeichnen und etablierte Öffentlichkeitstheorien herausfordern. Darüber hinaus löst sich in digitalen Öffentlichkeiten unter anderem die Dichotomie von öffentlicher und privater Kommunikation auf.1 Aufgrund der rasanten medialen Veränderungen bedarf der ohnehin viel1 

Slavko Splichal, Publicness– Privateness: The Liquefaction of »The Great Dichotomy«, in: Javnost – The Public, Jg. 25 (2018), H. 1–2, S. 1–10.

2  Vgl. Cornelia Wallner und Marian Adolf, Wie die Öffentlichkeit fassen? Öffentlichkeit als normatives, als empirisches und als unvollständiges Konstrukt, in: Discussion Paper zu|schnitt #22, Zeppelin Universität 2011; Oliver Hahn, Ralf Hohlfeld und Thomas Knieper (Hg.), Digitale Öffentlichkeit(en), Konstanz 2015.

deutige und unscharfe Begriff der Öffentlichkeit einer kritischen Überprüfung und Erneuerung. Die theoretischen Konzeptionen politischer Öffentlichkeit, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter den Bedingungen der gedruckten und elektronischen Massenmedien entwickelt wurden, können nicht einfach übernommen und unverändert auf digitale Öffentlichkeiten übertragen werden.2 Zudem unterliegen die digitalen Medien einem fortlaufenden Veränderungsprozess. Niemand kann sagen, welche Technologien in zehn oder zwanzig Jahren unser alltägliches Handeln prägen werden. Was digitale Öffentlichkeiten sind oder wie sie konzeptionell g­ efasst werden können, hängt von der zugrunde gelegten Theorie und dem Erkenntnisinteresse ab. Doch wie kann der Begriff digitaler Öffentlichkeit überhaupt angemessen verstanden werden, wenn sich sein Gegenstand selbst in einem

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tiefgreifenden und offenen Veränderungsprozess befindet? Eine Theorie digitaler Öffentlichkeiten, die der Anforderung eines »moving target« als ihrem Gegenstand gerecht werden soll, müsste bereits in ihrem Begriff der Öffentlichkeit von der Annahme eines kontinuierlichen Wandels der Technik und der sozialen Interaktionen ausgehen. Eine Öffentlichkeitstheorie, die den technologischen und kulturellen Wandel zu ihrem Ausgangspunkt macht, ist die pragmatistische Konzeption des amerikanischen Philosophen John Dewey (1859–1952). Im Folgenden soll anhand von ausgewählten Aspekten erläutert werden, weshalb sein Ansatz, auch wenn er historisch gesehen nichts mit der Digitalisierung zu tun hat, für eine Theorie digitaler Öffentlichkeiten besonders geeignet erscheint. TECHNOLOGISCHE INNOVATIONEN ALS BESCHLEUNIGER DES SOZIALEN WANDELS Zunächst muss betont werden, dass Deweys gesamte Philosophie auf die demokratische Bewältigung von gesellschaftlichen Veränderungsprozessen ausgerichtet ist, die durch soziale, wissenschaftliche und technologische Innovationen in den Bereichen der Kommunikation, des Transportwesens und der materiellen Produktion hervorgerufen wurden. Dewey stellte fest, dass sich durch technologische Innovationen mit zunehmender Vielfalt und »Geschwindigkeit […] vor unseren Augen häusliches Leben, politische Institutionen, internationale Beziehungen und persönliche Kontakte [verändern]. Wir können die Veränderungen gar nicht erst kritisch beurteilen und abwägen; sie vollziehen sich zu schnell. Wir haben keine Zeit, uns einen Überblick zu verschaffen.«3 Die Beschleunigung des sozialen Wandels hat sich heute durch die Digitalisierung gegenüber Deweys Lebzeiten noch vervielfacht. Das ändert aber nichts an seiner Grundannahme, dass das menschliche Zusammenleben durch einen beschleunigten, komplexen und kontinuierlichen Wandel gekennzeichnet ist, dessen zukünftige Entwicklungen sich nicht voraussehen lassen. Dewey bezeichnete den sozialen Wandel infolge der Industrialisierung als das »technologische Zeitalter« oder »Maschinenzeitalter«. Es sei eine »neue Ära der menschlichen Beziehungen« entstanden, »die durch die Massenproduktion für entfernte Märkte, durch Telegraphen und Telephon, billigere Druckerzeugnisse, Eisenbahn und Dampfschifffahrt gekennzeichnet ist«4. Die neuen Technologien veränderten die menschlichen Beziehungen weitaus

3  John Dewey, Wissenschaft und Gesellschaft, in: ders., Philosophie und Zivilisation, Frankfurt a. M. 2003, S. 310–322, hier: S. 311.

mehr als die Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus: »Die wirklich neue Welt ist in den letzten hundert Jahren erschaffen worden. Dampf und Elektrizität haben die Bedingungen, unter denen Menschen sich miteinander

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Digitalisierung — Analyse

4  John Dewey, Die Öffentlichkeit und ihre Probleme, Bodenheim 1996, S. 123.

verbinden, mehr verändert als alle Kräfte, welche die menschlichen Beziehungen vor unserer Zeit beeinflußt haben.«5 Das Maschinenzeitalter, von dem Dewey in seinen Überlegungen explizit ausging, wird aus heutiger Perspektive als erstes Maschinenzeitalter oder als zweite industrielle Revolution bezeichnet. Es reicht etwa von 1880 bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts und ist wesentlich durch die Ablösung der manuellen Arbeit durch die Dampfmaschine und Elektrizität gekennzeichnet. Mit der Erfindung der Elektrizität wurden die Maschinen zu hochkomplexen Technologien weiterentwickelt, die schließlich zur Digitalisierung führten. Seit den 1940er Jahren wurde das erste Maschinenzeitalter somit in stetig wachsender Geschwindigkeit in ein zweites Maschinenzeitalter – das digitale Zeitalter – transformiert, das auch als dritte industrielle Revolution bezeichnet wird.6 Die Entstehung digitaler Technologien lässt sich dabei nicht als isoliertes Phänomen beschreiben, sondern ist die Folge einer Vielzahl von technologischen Entwicklungen. Wie viele Philosophinnen und Philosophen, die sich mit technologischen Innovationen beschäftigen, verwies auch Dewey bereits auf das Problem, dass die Verbreitung von technologischen Innovationen im Alltag weitaus schneller erfolgt als die Anpassung der sozialen, ökonomischen und rechtlichen Rahmenbedingungen. Letztere sind jedoch notwendig, um die Folgen des technologischen Wandels zu regulieren. Dadurch entsteht ein »Gegensatz zwischen äußerer und innerer Wirksamkeit« der technologischen Entwicklungen, den Dewey als den »große[n] Widerspruch in unserem Leben« ansah.7 5  Ebd.

Aufgrund der Differenz zwischen der Verbreitung neuer Technologien und ihrer angemessenen Regulierung wird die Ursache für auftretende negative

6  Vgl. Claudia Lemke und Walter Brenner, Einführung in die Wirtschaftsinformatik, Bd. 1: Verstehen des digitalen Zeitalters, Berlin 2015, S. 15 ff.; Oliver Stengel, Zeitalter und Revolutionen, in: Oliver Stengel, Alexander van Looy und Stephan Wallaschkowski (Hg.), Digitalzeitalter – Digital­gesellschaft. Das Ende des Industriezeitalters und der Beginn einer neuen Epoche, Wiesbaden 2017, S. 17–49. 7 

Dewey, Wissenschaft und Gesellschaft, S. 310.

8  Dewey, Die Öffentlichkeit und ihre Probleme, S. 123.

Folgen schnell an der falschen Stelle gesucht und »die Schuld für all die Übel unseres Lebens dem Dampf, der Elektrizität und den Maschinen« zugeschoben.8 Derartige technikskeptische Einwände sind auch im Zusammenhang mit der Digitalisierung weit verbreitet. Wenn neue Technologien bereits den Alltag durchdringen und damit die Bedingungen der sozialen Interaktionen tiefgreifend verändern, folgt daraus nicht, dass ihre Bedeutung auch verstanden wird. Dem pragmatistischen Ansatz zufolge bemisst sich die Bedeutung einer Technologie – ebenso wie die Bedeutung eines Begriffs, einer Idee oder Theorie – an ihren praktischen Konsequenzen in der Erfahrung. Solange die tatsächlichen Konsequenzen einer neuen Technologie nicht erkannt sind, kann nicht die Rede davon sein, dass wir die Technologie so kontrollieren können, wie unsere Vorfahren gelernt haben, Feuer, Strom oder den Straßenverkehr unter Kontrolle zu bringen. Andreas Antic’ — Öffentlichkeit im ­d igitalen Wandel

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Die entstehenden problematischen Folgen werden jedoch nicht einfach kausal durch die neuen Technologien verursacht. Problematisch ist vielmehr die zeitlich versetzte Anpassung der rechtlichen und institutionellen Strukturen.9 Erforderlich ist aber keineswegs nur eine einseitige kulturelle Anpassung an vorgegebene Bedingungen der Technik. Die notwendige Anpassung, so eine zentrale Annahme in Deweys Ansatz, kann nur als reflexiver Prozess verstanden werden, in dem sich technologische Innovationen und ihre gesellschaftliche Regulierung gegenseitig bedingen. Die angemessene Kontrolle einer neuen Technologie setzt dabei voraus, dass neben dem kurzfristigen Nutzen auch nicht-intendierte und langfristige Folgen systematisch beobachtet, reflektiert und in die Weiterentwicklung der Technologie sowie in die Anpassung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen einbezogen werden. Auch wenn Dewey Optimist ist und seine Philosophie mit dem Progressivismus verbunden wird, kann ihm kein naiver Fortschrittsoptimismus unterstellt werden, da die Regulierung der problematischen Folgen des wissenschaftlich-technischen Fortschritts im Zentrum seiner Öffentlichkeits­ konzeption und seines gesamten philosophischen Ansatzes steht. Er geht explizit davon aus, »dass der frühere Optimismus, der überzeugt war, der Fortschritt der Naturwissenschaft bestehe in der Vertreibung von Aberglaube, Unwissenheit und Unterdrückung durch die Inthronisierung der Vernunft, ungerechtfertigt war«.10 Ungewissheit, Kontingenz und Offenheit sind deshalb zentrale Kategorien der pragmatistischen Philosophie. Da uns der Gesamtzusammenhang aller sozialen Interaktionen und ihrer Folgen weder empirisch noch kognitiv zugänglich ist, lassen sich die gesellschaftlichen Herausforderungen, mit denen wir konfrontiert sind, nicht aus einer übergeordneten Perspektive verstehen und in ein einheitliches System integrieren. Deshalb müssen wir unser Denken, wenn es praktisch wirksam werden soll, auf die Analyse konkreter Situationen ausrichten. Diese situative Logik stellt ein einzigartiges Merkmal der pragmatistischen Öffentlichkeitstheorie dar, das sie gegenüber anderen Ansätzen auszeichnet.11 Nur von konkreten Situationen ausgehend, können wir die komplexen Zusammenhänge sozialer Interaktionen verstehen, reflektieren und kontrollieren. Dabei stellt die wissenschaftliche Methode der systematischen und kooperativen Untersuchung für Dewey die einzig sinnvolle Vorgehensweise dar, um die komplexen problematischen Handlungszusammenhänge aufzuklären. Deweys philosophische Position, die auch als demokratischer Experimen-

9  Vgl. Dewey, Liberalismus und gesellschaftliches Handeln, in: ders., Liberalismus und gesellschaftliches Handeln. Gesammelte Aufsätze 1888 bis 1937, Tübingen 2010, S. 149–207, hier: S. 200. 10  Dewey, Wissenschaft und Gesellschaft, S. 311.

talismus bezeichnet wird, sperrt sich weder grundsätzlich gegen Veränderungen, noch akzeptiert sie undifferenziert alles Neue oder geht gar davon aus, dass sich durch technologische Innovationen alles zum Besseren wendet.

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Digitalisierung — Analyse

11  Vgl. John Dewey, Logik. Die Theorie der Forschung, Frankfurt a. M. 2002.

Betont wird vielmehr die Notwendigkeit eines reflexiven Umgangs mit den gesellschaftlichen Herausforderungen und Bedingungen des kontinuierlichen Wandels. Ein starres Beharren auf den etablierten Gewohnheiten und institutionellen Strukturen verhindert dagegen eine konstruktive Auseinandersetzung und differenzierte Bewertung der Veränderungen. Dadurch entstehen nur weitere, möglicherweise noch schwerwiegendere Konflikte, während die wünschenswerten Potentiale, die sich aus den technologischen Innovationen ergeben, nicht erkannt und angemessen gefördert werden. Nicht nur in Deweys technikphilosophischen Überlegungen finden sich zahlreiche Anknüpfungspunkte für die gegenwärtigen Herausforderungen der Digitalisierung. Von verblüffender Aktualität erscheinen auch die in seinem Buch »Die Öffentlichkeit und ihre Probleme« (1927) behandelten Themen. Sie reichen von der Rolle der Medien und der Kritik massenmedialer Propaganda über den Vertrauensverlust der Bürgerinnen und Bürger in das politische Establishment bis hin zur Verzerrung politischer Entscheidungsprozesse durch den Einfluss wirtschaftlicher Interessengruppen. Daran wird deutlich, dass auch die gesellschaftlichen Probleme am Beginn des 20. Jahrhunderts den gegenwärtigen Herausforderungen und Krisen der liberalen 12  Vgl. zur Situation in Deutschland Jens Hacke, Existenzkrise der Demokratie. Zur politischen Theorie des Liberalismus in der Zwischenkriegszeit, Berlin 2018.

Demokratie durchaus ähnlich sind.12 Diese strukturelle Ähnlichkeit der historischen Situationen, wenn auch unter anderen Bedingungen, liefert einen weiteren Hinweis darauf, dass Deweys Überlegungen auch für die Gegenwart von Bedeutung sein können. Andreas Antic’ — Öffentlichkeit im ­d igitalen Wandel

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MERKMALE EINER PROBLEMORIENTIERTEN KONZEPTION VON ÖFFENTLICHKEIT Deweys Öffentlichkeitstheorie ist keine rein normative Konzeption, die Öffentlichkeit allgemein als diskursiven Raum beschreibt. Vielmehr geht es um die Analyse der Bedingungen der demokratischen Regulierung konkreter problematischer Situationen. Öffentlichkeiten werden in Deweys Ansatz als ­kooperative Untersuchungsprozesse verstanden, die auf die Analyse und Klärung gesellschaftlicher Angelegenheiten ausgerichtet sind. Dewey beschrieb dazu die Grundlagen einer im weitesten Sinn sozialwissenschaftlichen Methodologie, in der Theorie und Empirie untrennbar miteinander verschränkt sind. Das Anliegen pragmatistischer Theoriebildung besteht nicht in der Klärung allgemeiner Begriffe, sondern in der Klärung konkreter, praktischer Situationen. Dewey versuchte demnach nicht, eine allgemeine und abschließende Definition für den Begriff der Öffentlichkeit aufzustellen, unter den sich sämtliche Phänomene subsumieren lassen. Er verwies stattdessen auf die Einzigartigkeit historisch situierter Handlungszusammenhänge, die in den öffentlichen Untersuchungsprozessen analysiert und geklärt werden sollen. Ziel eines solchen gemeinsamen Erkenntnisprozesses ist es, unter Einbeziehung der Betroffenen die jeweilige Angelegenheit zu analysieren, Handlungsalternativen zu entwickeln und zu evaluieren. Die dafür benötigten praktischen Urteile lassen sich nicht deduktiv aus allgemeinen Begriffen und Prinzipien ableiten, sondern erfordern ein reflexives Denken, das den spezifischen Situationskontext einbezieht. Die problematische Situation bildet dabei den sachlichen Bezugspunkt. Sie ist jedoch nicht einfach objektiv gegeben, sondern muss unter Einbeziehung der verschiedenen Perspektiven gemeinsam rekonstruiert und interpretiert werden. Eine Öffentlichkeit bezeichnet in Deweys Ansatz genau diesen dynamischen Prozess der Klärung einer problematischen Situation im Rahmen eines kooperativen, öffentlichen Untersuchungsprozesses. Dass dieser situative und prozessuale Ansatz nicht von einer abschließenden Definition ausgeht, die normativ festlegt, was eine Öffentlichkeit ist und was nicht, führt zwar zu einer gewissen Unschärfe des Öffentlichkeits­ begriffs. Andererseits kann Deweys heuristische Konzeption gerade durch die begriffliche Offenheit auf eine Vielzahl von Situationen angewendet werden, sei es auf regionaler, staatlicher oder transnationaler Ebene. Durch die Ausrichtung auf konkrete Handlungszusammenhänge entsteht somit ein pluralistisches Modell von politischen Öffentlichkeiten, in dem jedoch die Öffentlichkeit als abstraktes Ganzes niemals zum Untersuchungsgegenstand wird. Gegenstand der Untersuchungsprozesse können nur konkrete Situationen

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Digitalisierung — Analyse

sein. Die eingangs als Merkmal digitaler Öffentlichkeiten angeführte Segmentierung und Fragmentierung nationalstaatlicher Öffentlichkeit in eine Vielfalt von Öffentlichkeiten, die auch über den Nationalstaat hinausgehen, ist somit bei Dewey bereits konzeptionell angelegt. Dewey war klar, dass die Probleme der gesellschaftlichen Integration angesichts der zunehmenden Individualisierung und Pluralisierung der Lebensformen sowie der wirtschaftlichen Globalisierung nicht allein durch technische Innovationen gelöst werden können. Vielmehr ist eine Erneuerung des Denkens notwendig, um die erforderlichen und von Dewey beschriebenen kooperativen Problemlösungsprozesse umzusetzen.13 Das gilt auch für die technologisch verstärkten Filterblasen und Echokammern, die in erster Linie eine sozial-kognitive Ursache haben. Da wir auf sprachliche Kommunikation angewiesen sind und weder Irrtümer noch Missverständnisse oder gar das Denken in verallgemeinernden Kategorien vollständig überwinden können, besteht der einzige Weg gegen die Erstarrung des Denkens, wie Dewey betonte, in der Verbesserung der Methoden des gemeinschaftlichen Forschens, des reflexiven Denkens und der Kommunikation. Eine zentrale Annahme des pragmatistischen Ansatzes besagt dementsprechend, dass die Komplexität und Vielfalt der Realität von einem einzelnen Menschen kognitiv nicht erfasst werden kann. Das wird im digitalen Zeitalter anhand des Informationsüberflusses besonders deutlich. Unabhängig davon, wie viele Informationen und technische Möglichkeiten der Filterung und Auswertung von großen Datenmengen uns zur Verfügung stehen, wir sind im Denken und Sprechen auf vereinfachende Kategorien, Begriffe und Modelle angewiesen. Mit ihnen wird die Komplexität der Realität reduziert und handhabbar gemacht, aber zugleich werden dadurch Vorurteile und Denkmuster übernommen. Den »view from nowhere« als unverzerrten Zugang zu einer objektiven Wirklichkeit, die nicht durch kulturell bedingte Interpretationsmuster und selektive Wahrnehmung geprägt ist, gibt es nicht, auch nicht in der sozialwissenschaftlichen Forschung. Durch Deweys enge Verbindung zur einflussreichen Chicagoer Schule der Soziologie hat sich der pragmatistische Ansatz vor allem in der qualitativen Sozialforschung verbreitet, besonders in der Ethnomethodologie und den ­Science and Technology Studies. Zwar weist Deweys Öffentlichkeitskonzeption auch viele Gemeinsamkeiten mit der deliberativen Demokratietheorie auf, etwa hinsichtlich des zentralen Stellenwerts der Kommunikation. Sie unterscheidet sich aber durch die explizite Erfahrungs-, Handlungs- und Problem13  Vgl. John Dewey, Die Erneuerung der Philosophie, Hamburg 1989.

orientierung insbesondere von den kantianischen Ansätzen, wie von Habermas und an ihn anschließende Konzeptionen, die auf die Universalisierbarkeit Andreas Antic’ — Öffentlichkeit im ­d igitalen Wandel

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von Normen fokussiert sind und von einer stärkeren Trennung normativer Theorie und empirischer Forschung ausgehen. Dewey kritisierte dagegen nicht nur vehement die erkenntnistheoretische Trennung von normativer und deskriptiver Dimension, von Theorie und Praxis, sondern gilt auch als einer der frühesten Kritiker der in vielen Öffentlichkeitstheorien vorausgesetzten Dichotomie von privat und öffentlich. Das heißt nicht, dass diese Unterscheidung hinfällig wäre. Die Kritik besagt lediglich, dass sich eine Grenze zwischen privaten Interaktionen und öffent­l ichen Angelegenheiten nicht allgemeingültig definieren lässt. Welche konkreten Handlungszusammenhänge zu öffentlichen Angelegenheiten und somit zum potenziellen Gegenstand kooperativer Untersuchungsprozesse werden, lässt sich nur anhand der Folgen bestimmen. Dementsprechend geht es im pragmatistischen Ansatz im Kern darum, technologische Innovationen wie auch politische Entscheidungen anhand ihrer Folgen zu bewerten. Die dazu erforderlichen Untersuchungs- und Entscheidungsprozesse sollen möglichst transparent, inklusiv und demokratisch gestaltet werden. Dabei betonte bereits Dewey, dass nicht nur die Ergebnisse der Untersuchungen zugänglich gemacht werden sollen, im heutigen Sinn von Open Access für wissenschaftliche Publikationen, sondern dass der Forschungsprozess selbst transparent und partizipativ gestaltet werden soll, wie in Open Science betont wird.14 Eine Aktualisierung von Deweys Öffentlichkeitskonzeption als Grundlage einer Theorie digitaler Öffentlichkeiten stellt dennoch eine herausfordernde Forschungsaufgabe dar, da die systematische Aufarbeitung und Interpretation seines umfassenden philosophischen Ansatzes erst mit den einschlägigen zeitgenössischen Forschungsfeldern, die sich in Zwischenzeit entwickelt haben, in einen produktiven Austausch gebracht werden müssen. Dass ­Deweys Philosophie seit einigen Jahren in verschiedenen Disziplinen zunehmende Aufmerksamkeit erfährt, weist darauf hin, dass dieser Prozess der Auseinander-

14  Sönke Bartling und Sascha Friesike (Hg.), Opening Science. The Evolving Guide on How the Internet is Changing Research, Collaboration and Scholarly Publishing, Heidelberg 2014.

setzung bereits in Gang gekommen ist. Während sein Ansatz in Bezug auf die Theorie digitaler Öffentlichkeit erst noch diskutiert werden muss, erweist sich seine Philosophie in anderen Disziplinen bereits als relevant im Zeitalter der Digitalisierung, beispielsweise für die Konzeption einer digitalen Bildung.15

Andreas Antic, geb. 1984, hat 2017 an der ­Universität Potsdam über John Dewey und die Theorie digitaler Öffentlichkeiten promoviert. Er ist Berater für die Digitalisierung im öffent­ lichen Sektor.

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Digitalisierung — Analyse

15  Vgl. Leonard Waks, Education 2.0. The LearningWeb Revolution and the Transformation of the School, New York 2014.

ERINNERUNGSKULTUR ­DIGITAL DIE ORTLOSIGKEIT VIRTUELLER RÄUME ALS ­K ATHARSIS POSTMODERNEN GEDENKENS ΞΞ Stefan Haas / Christian Wachter

Im Frühling des Jahres 2018 lud das internationale Auschwitz-Komitee die Rapper Kollegah und Farid Bang, diesjährige Träger des Musikpreises Echo, zu einem Besuch der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau ein. Die Liedtexte der Musiker waren in einer breiten öffentlichen Debatte als antisemitisch und frauenverachtend eingestuft worden. Mehrere Preisträger hatten aus Protest gegen die Preisverleihung ihre Auszeichnungen zurückgegeben. Kurz darauf wurde der Echo, der von der deutschen Musikindustrie im Wesentlichen nach Verkaufszahlen vergeben worden war, abgeschafft. Der Ort, der konkrete physische Ort des ehemaligen Vernichtungslagers, an dem das Andenken an die Opfer des Naziterrorapparates aufrechterhalten wird, sollte eine kathartische Wirkung haben, sollte die Rapper vom falschen Weg, auf den sie sich mit ihren antisemitischen Texten begeben hatten, abbringen. Etwa zur selben Zeit starb der schwedische Musiker Tim Bergling alias DJ Avicii unerwartet im Alter von 28 Jahren. Im Internet, jenem großen Überall und Nirgendwo, bildeten sich Räume, in denen Fans ihrer Trauer Ausdruck verleihen konnten. Die Ortlosigkeit wirkte verbindend über Entfernungen und Grenzen hinweg. Die traditionelle Konkretheit eines Ortes, eines konkreten Wo, spielt scheinbar keine Rolle mehr, wenn virtuelle Gemeinschaften in kollektiver Trauer ein wenig Trost erleben können. Beide Geschichten weisen darauf hin, dass das Räumliche, das konkret Örtliche des Erinnerns, wo es sich mit Schuld und Trauer verbindet, dabei ist, sich zu verschieben. Auf der einen Seite steht die traditionelle Sichtweise, die am physischen Ort festhält, auf der anderen die postmoderne Digitalkultur, die sich neue Nicht-Orte und Praktiken sucht, Erinnerung kollek1  So der Titel eines Sammelbandes, der auf eine 2006 veranstaltete Tagung an der Justus-Liebig-Universität Gießen zurückgeht: Erik Meyer (Hg.), Erinnerungskultur 2.0. Kommemorative Kommunikation in digitalen Medien, Frankfurt a. M. 2009.

tiv zu gestalten. Eine neue Erinnerungskultur scheint sich herauszubilden. Zwischen all dem steht die Notwendigkeit einer der Objektivität und Verantwortung verpflichteten Geschichtsbetrachtung, die das Erinnern nicht dem Wildwuchs und mit der damit verbundenen freien Verfügbarkeit auch der politischen Manipulierbarkeit überlassen will. In der sich entwickelnden »Erinnerungskultur 2.0«1 braucht es neue Strategien, um gesellschaftlich

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und politisch verantwortungsvoll kollektives Erinnern zu gestalten und öffentlich zu machen. Im Zentrum steht dabei die Digitalisierung, denn nicht nur Erinnerungsdiskurse, sondern die verschiedensten gesellschaftlich relevanten Diskurse werden längst über und in digitalen Medien verhandelt. In einer »Erinnerungskultur 2.0« ist aber erst einmal zwischen Erinnern aus privater Initiative und institutionalisierter Erinnerungspolitik zu unterscheiden: Auf eigenen Websites oder Social-Media-Präsenzen teilen Privatpersonen ihre ganz individuellen Perspektiven, wenn sie wie im obigen Beispiel an verstorbene Prominente, Angehörige oder an historische Ereignisse erinnern, mit denen sie sich verbunden fühlen. Oder sie kommentieren Ereignisse aus Anlass von Jahrestagen, um sich an den breiten gesellschaftlichen Diskursen zu beteiligen. Markant ist dabei: Das World Wide Web bietet ihnen die Möglichkeit, das Erinnern zu perspektivieren und zu individualisieren, um sich in einer postmodernen Diskurslandschaft mit deren Vielfalt an Betrachtungsweisen selbst zu verorten.2 Gleichzeitig ist es den Nutzer*innen aber möglich, einen öffentlichen Raum zu betreten, in dem ein breites, oft internationales Publikum angesprochen und sogar direkt in das Erinnern einbezogen wird. Auch die institutionalisierte Erinnerungspolitik ist längst digitalisiert, so werden etwa in Blogs Beiträge veröffentlicht, die für jede und jeden sichtbar kommentiert werden können. Auf den eigenen Websites werden Daten­banken mit historischem Material und weiterführenden Informationen bereitgestellt. In den Sozialen Medien treten die Einrichtungen mit ihrer besonderen Expertise und Autorität in einen grundsätzlich von allen bespielten Diskurs ein. An Gedenktagen werden standardisierte Hashtags benutzt, wodurch der Diskursraum für die Netzöffentlichkeit noch erreichbarer wird. Doch selbst offline öffnet die Digitalisierung neue Räume, indem etwa Museumsausstellungen interaktive Informationsflächen oder 3D-Simulationen bereitstellen und damit die physischen Grenzen der Ausstellungsräume sprengen. Im Wesentlichen hat dies zwei Effekte: Erstens lassen sich traditionelle Formen des Erinnerns durch digitale virtuelle Räume erweitern beziehungsweise komplementär ergänzen, um reichhaltigere und aktuellere Informationen bereitzustellen. Zweitens lässt sich online eine lebendige Kommunikation zwischen allen potentiellen Akteur*innen schaffen, was dem Ideal eines Forums nahekommt. Eine derart umgesetzte Erinnerungskultur kann den demokratischen Charakter des Erinnerns steigern und bietet für die Zukunft vielversprechende Potentiale. Sie setzt aber auch ein hohes Maß an Verantwortung, stetigem kritischen Engagement und digitaltechnischer Expertise bei den Beteiligten voraus, weil Diskurse ansonsten in Zerfaserung, Zersplitterung

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Digitalisierung — Analyse

2  Vgl. dazu Jakob Krameritsch, Die fünf Typen des historischen Erzählens – im Zeitalter digitaler Medien, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Jg. 6 (2009), H. 3, S. 413–432.

und Polemisierung abzudriften drohen. Expert*innen der jeweiligen Erinnerungskontexte sind deswegen besonders gefordert – nicht, weil sie die dynamischen Diskurse dominieren sollen, sondern sie als eine Art Influencer stärker prägen und moderieren müssen. Die Zukunft gelungener digitalisierter Erinnerungskulturen hängt davon ab, dass sie ihre Kommunikationspraxis medienkompetent neu ausrichten, wobei die Zukunft längst begonnen hat. Denkmäler an ausgesuchten Orten oder Bücher stellen eher statische Formen des Erinnerns dar; sie kommunizieren eine mehr oder weniger eindeutige Botschaft an ein Publikum. Sie mögen kritisch zum Nachdenken anregen und so durchaus eine individuelle Sinnstiftung provozieren, doch die Möglichkeit, wechselseitig »zurück zu kommunizieren«, ist in der Regel nicht gegeben. Auch die Kommunikation innerhalb des Publikums wird kaum ermöglicht, sondern muss über andere Medien hergestellt werden – etwa in den Ressorts von Zeitungen oder in eigens anberaumten Veranstaltungen. Bei Gedenkveranstaltungen hingegen müssen diese kommunikativen Schranken nicht bestehen. Doch fehlt ihnen als punktuell stattfindende Ereignisse die Dauerhaftigkeit der Vermittlung, wie sie gerade Denkmäler oder Bücher auszeichnet. Gedenkveranstaltungen müssen wiederholt werden, was auch Chancen für Neuakzentuierungen oder Kommentierungen vor dem Hintergrund aktueller Ereignisse und Veränderungen bietet. Das Erinnern lässt sich so kritisch mit der Gegenwart koppeln und auf die Zukunft ausrichten. In der Zusammenschau scheinen Dauerhaftigkeit und Dynamik der Kommunikation des Erinnerns schwer zusammenzugehen, besonders wenn es um eine vernetzte Kommunikation in ganz verschiedene gesellschaftlichen Richtungen geht. Online-Angebote können solche Begrenzungen indes auffangen, vor allem, wenn sie nicht für sich allein stehen, sondern so gestaltet sind, dass sie die traditionellen Formen komplementär ergänzen. Dafür seien exemplarisch drei verschiedene Beispiele erwähnt: Im Foyer des Kulturwissenschaftlichen Zentrums der Georg-August-Universität Göttingen erinnert eine Gedenktafel an die im Nationalsozialismus verfolgten Angehörigen der Philosophischen Fakultät. Neben einer erinnerungspolitischen Stellungnahme der Fakultät sowie Bildern und Namen der Verfolgten sind darauf auch drei QR-Codes zu sehen. Mit ihren Mobilgeräten gelangen Betracher*innen so auf unterschiedliche Seiten der Website zur Geschichte der Universität im Nationalsozialismus.3 Dort sind weitere Informationen ebenso zu finden wie Hinweise zu Forschungsprojekten, -institutionen, Literatur oder 3  URL: http://www.ns-zeit. uni-goettingen.de [eingesehen am 20.04.2018].

zu Veranstaltungen. Auch zu Video-Mitschnitten von Vorträgen kann man gelangen. Per E-Mail ist zudem die Kontaktaufnahme mit der Redaktion des Stefan Haas / Christian Wachter  —  Erinnerungskultur ­d igital

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Webauftritts möglich, um Fragen zu stellen, Anregungen oder Hinweise zu geben, die in die Website mitaufgenommen werden können. An der Goethe-Uni­versität in Frankfurt a. M. wurde die Public-History-­ App Stolperwege entwickelt.4 Anwender*innen haben mit ihr die Möglichkeit, die in Stadtbildern anzutreffenden Stolpersteine weitergehend zu erkunden. Die Gedenktafeln, die an Opfer des Nationalsozialismus erinnern, lassen sich auf einer Karte miteinander verknüpfen, um personalisierte Routen entlang mehrerer Stolpersteine zu generieren. Mehr noch, die auf den Steinen vermerkten Informationen und ihre symbolische Wirkung werden durch digital abrufbare Biografien derjenigen Personen ergänzt, derer gedacht wird. Soziale Netzwerke und historische Karten sind ebenfalls aufrufbar. Sie erweitern die Menge an Informationen und personalisieren die Auseinandersetzung mit dem Thema, ohne dabei beliebig zu werden. Verfügbar sind auch 3D-Rekonstruktionen historischer Gebäude mit ihren Innenräumen, womit nicht nur die Auseinandersetzung mit dem Gedenkkontext erweitert wird, sondern eben auch der besuchte physische Ort. Schließlich lassen sich die virtuellen Räume auf dem Display virtuell durchschreiten. Die Otto-von-Bismarck-Stiftung als eine der fünf Politikergedenkstiftungen des Bundes führt ein Kartierungs-Projekt mit dem Namen BISMARCKIE­ RUNG.5 Straßen, Plätze, Denkmäler und andere Orte, mit einem Bezug zum

»Eisernen Kanzler« werden auf einer interaktiven Karte markiert und mit weiteren Informationen und aktuellen wie historischen Bildern versehen. Das Vorhaben setzt dabei auf crowdsourcing, um neue Inhalte zu generieren und ein kollaboratives, dialogisches Verhältnis zwischen Wissenschaft und interessierter Öffentlichkeit zu fördern. Zudem wird die Karte in Blogbeiträgen und anderen Publikationsformen kontextualisiert.6 In allen Beispielen werden die Begrenzungen des physischen Ortes besonders auf zwei Weisen aufgehoben: Das Bismarckdenkmal bleibt an seinem (historischen) Platz, ebenso Gedenktafeln und Stolpersteine. Allerdings wird die Auseinandersetzung mit ihnen durch weitere Informationen, Videos, historisches Bildmaterial, virtuelle Gebäude, individuelle Kontextualisierung und wissenschaftliche Kommentierung entscheidend angereichert. Dieser Durchbruch in einen virtuellen Raum hinein wird mit einer interaktiven, multimedialen Umsetzung möglich, die mit materiellen Mitteln am physischen Ort nur begrenzt möglich ist. Der Gestaltungsspielraum des Erinnerns wird so erweitert. Das crowdsourcing lässt die Community überdies direkt am Forschungsprozess teilhaben, wodurch sich auch der sprichwörtliche Elfenbeinturm weiter öffnet. Wenn E-Mail-Rückmeldungen, Blogbeiträge, Kommentare oder eine Auseinandersetzung in Sozialen Medien es ermöglichen,

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Digitalisierung — Analyse

4  URL: http:// www.stolperwege.hucompute.org [eingesehen am 19.04.2018]. 5  URL: http://www.bismarckie­ rung.de [eingesehen am 19.04.2018]. 6  Zu BISMARCKIERUNG siehe Christian Wachter u. Ulf Morgenstern: Wie der Bismarck-­ Mythos in die Landschaft kam. Bismarck-Ehrungen im öffent­ lichen Raum. Entstehung, Kartie­ rung und Interpretations­ansätze, in: Dietmar von Reeken u. Malte Thießen (Hg.): Ehrregime. Akteure, Praktiken und Medien lokaler Ehrungen in der Moderne, Göttingen 2016, S. 89–112.

wechselseitig zu kommunizieren, dann werden dadurch auch die Räume der Erinnerungsdiskurse erweitert. Besonders in den Sozialen Medien gestaltet eine aktive Netzöffentlichkeit diskursive Verhandlungen und Inszenierungen bereits de facto mit. An welchem Ort der Erde sich ihre Mitglieder auch befinden, sie treten alle in virtuellen Räumen zusammen. Zu jeder Zeit können sie dort kommunizieren – mit den Initiator*innen vorausgegangener Beiträge, aber eben auch untereinander. So werden nicht nur räumliche, sondern auch zeitliche Beschränkungen des Erinnerns aufgehoben. Die Erweiterung in die webbasierten virtuellen Räume hinein wirkt daher integrierender als traditionelle Diskursformen. Ganz von allein geschieht das aber nicht, denn um das Erinnern konstruktiv (mit) zu gestalten, muss die Öffentlichkeit immer auch aufmerksam gemacht, aktiviert und sensibilisiert werden. Stefan Haas / Christian Wachter  —  Erinnerungskultur ­d igital

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Gerade hier sind Expert*innen gefragt, sich noch stärker zu engagieren. Als Hüter*innen von Fakten und Sachkenntnis, gleichzeitig selbst als Teile einer lebendigen demokratischen Erinnerungskultur sind sie gefragt, in den Datennetzen zu informieren, anzuregen, zu reagieren, zu moderieren. Nicht nur in zeitlich eingegrenzten Projekten, sondern fortlaufend und auf eigene Initiative hin ist ihre Einmischung vonnöten, um das Diskursfeld mitzubestimmen. Dass Diskurse des Erinnerns bereits vernetzt und dynamisch ablaufen, zeigt das kollektive Trauern im World Wide Web schließlich ebenso eindrucksvoll wie die politisch-gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Expert*innen können eine gewichtige Rolle spielen, damit hier die Diskurse nicht zu sehr polarisiert oder gar beliebig werden. Dafür ist im Zeitalter proklamierter »alternativer Fakten« auch der diskursive Kampf gegen Verknappung, Verflachung und Parallel(erinnerungs)kulturen gemeint. Fehltritte wie jener Rap über die Opfer von Auschwitz lassen sich dann direkt im ortlosen virtuellen Raum adressieren und verhandeln, im direkten Austausch mit der Öffentlichkeit sowie unter Einbeziehung historischen Materials. Hier besteht die Chance, eine Katharsis zu erreichen oder zumindest zu unterstützen, wie sie am historischen Ort der Nazigräuel erreicht werden sollte. Ziel dieser Katharsis sind nicht allein die beiden Rapper, sondern auch deren Fangemeinde und weitere Teile der (Netz)Öffentlichkeit, die mit dem Andenken an die Opfer von Auschwitz allzu unkritisch umgehen. Das Gedenken im Virtuellen hat aber noch einen darüberhinausgehenden Effekt für das Funktionieren von Erinnerungskollektiven: eine Form des Umgangs mit historischen auch leidvollen Erfahrungen zu finden, die das Gedenken nicht abschließt, sondern allererst als andauernde wechselseitige kommunikative Praxis ermöglicht. Damit würde der digitale virtuelle Raum nicht nur ein geteilter Platz für einen spezifischen Erinnerungskontext sein, sondern zu einem Raum der Selbstvergewisserung gesellschaftlicher Werte werden.

Stefan Haas, seit 2008 nach Stationen in Münster und Toronto Professor für Theorie und ­Methoden der Geschichtswissenschaft und Direktor des Zen­trums für Theorie und Methoden der Kultur­wissenschaften an der Universität Göttingen. Forschungsschwerpunkte liegen in der interdisziplinären Theoriebildung, der Digital Humanities sowie der Kulturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts.

Erfolgreiche Strategien, wie sich Expert*innen konstruktiv engagieren können, zeichnen sich freilich erst ab. Sie müssen in einer dynamischen digitalisierten Diskurskultur auch ständig weiter angepasst werden. Im politischen Kontext zeigt das anhaltende Ringen mit Fake News und um Deutungshoheiten deutlich, dass sich vielversprechende Ansätze erst ausbilden. Wichtig bleibt jedoch, solche Kämpfe nicht verloren zu geben, sondern das schon bestehende Feld zu besetzen und Diskurse kritisch mitzubestimmen. Mehr digitale Kompetenzen, der Wille, Strategien des Informierens und der diskursiven Verhandlung im World Wide Web auszuprägen, sowie ein aktives Engagement in virtuellen Räumen sind dazu nötig.

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Digitalisierung — Analyse

Christian Wachter ist Historiker und promoviert an der Graduiertenschule für Geisteswissenschaften Göttingen über die Möglichkeiten und Grenzen des Einsatzes von Hyptertextualität in der Geschichtswissenschaft.

TRANSFORMATION DER ­VERANTWORTUNG NEUE ANFORDERUNGEN AN AUTOMATISIERUNG, DIGITALISIERUNG UND INDUSTRIE 4.0 ΞΞ Janina Loh

Wir leben in einer Zeit der starken Konzepte. So werden beispielsweise fundamentale Umwälzungen im Wesen des Menschen vermutet, die einer Entwicklung autonomer, selbstlernender artifizieller Systeme zu verdanken seien. Man spricht von radikalen Paradigmenwechseln in den Organisationsformen unserer gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Systeme aufgrund der Herausforderungen von Automatisierung, Digitalisierung und Industrie 4.0. Andere prophezeien die Revolution unserer Zeit- und Raumwahrnehmung durch die modernen Informations- und Kommunikationstechnologien sowie durch die Entwicklung der Virtual Reality. Auch der Transformationsidee wird viel abverlangt; alles soll sich transformieren: unsere Lebensräume, Städte und Straßensysteme durch die Einführung autonomer Fahrassistenzsysteme, das Bildungssystem zum Zweck einer Anpassung an die neuen politischen und ökonomischen Bedingungen, der Mensch schließlich durch technologische Veränderungen und endlich durch den Einzug in die Virtualität dank Mind Uploading zu einem posthumanen Wesen. Drängend scheint hier besonders eine Frage: Transformiert sich damit auch seine, die menschliche Verantwortung? Allenthalben wird der Sorge Ausdruck verliehen, dass dank der oben geschilderten und weiterer Umstände unserer modernen technisierten Massengesellschaft der Verantwortung ultimative Grenzen gesetzt sind, sich gar gefährliche Lücken in unseren Möglichkeiten, Verantwortung zuzuschreiben, 1 

Vgl. Kurt Bayertz, Eine kurze Geschichte der Herkunft der Verantwortung, in: Ders. (Hg.), Verantwortung. Prinzip oder Pro­ blem? Darmstadt 1995, S. 3–71; Hans Lenk u. Matthias Maring, Verantwortung, in: Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie. Band 11, Basel 2007, S. 566–575; Richard McKeon, The Development and the Significance of the Concept of Responsibility, in: Revue Inter­ nationale De Philosophie, Jg. 39 (1957), H.1, S. 3–32.

auftun, die sich dann zu regelrechten Abgründen vertiefen, von denen unser konventionelles Verständnis von Verantwortung letztlich ohne Wiederkehr verschlungen werden muss. Dennoch scheint der Ruf nach Verantwortung zugleich mit ungebrochener Vehemenz zu erklingen. Im Folgenden werden einige Überlegungen dazu angestellt, wie mit der Tatsache, dass wir offenkundig mit der Verantwortung ringen, umgegangen werden kann. Traditionell betrachtet ist Verantwortung ein individualtheoretisches Phänomen, welches im ursprünglichen Verständnis des Wortes einer einzelnen Person bedurfte, der man Verantwortung zuschreiben konnte. Erst im 17. Jahrhundert tauchte das Wort »verantwortlich« im deutschsprachigen Raum auf.1

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Demnach trägt Jemand, ein Subjekt oder Träger*in, im klassischen Sinne Verantwortung für ein Objekt beziehungsweise einen Gegenstand, vor einer Instanz, gegenüber einer* Adressat*in auf der Grundlage spezifisch für diesen Kontext geltender normativer Kriterien. So ist bspw. ein*e Dieb*in, hier also das Subjekt/Träger*in für einen Diebstahl, dem Objekt/Gegenstand, vor Gericht, sprich der Instanz, gegenüber der bestohlenen Person, also einer* ­Adressat*in, auf der Grundlage des Strafgesetzbuches, den normativen Kriterien verantwortlich. Aus diesem Beispiel geht hervor, dass mit Verantwortung – jenes lässt sich etymologisch herleiten, ich nenne dies die Minimal­definition der Verantwortung – (1) die Fähigkeit des Rede-und-Antwort-Stehens in (2) einem normativen Sinne meint und (3) mit einer spezifischen psychomotivationalen Verfasstheit der verantwortlichen Person korreliert. Die* Verantwortliche fühlt sich (3.1) durch die Verantwortung angesprochen und betroffen. Sie* kann die Verantwortung wahrnehmen, da sie* (3.2) mit bestimmten kognitiven Vermögen ausgestattet ist und daher als Folge eines reflexiven Prozesses (3.3) eine Haltung einnimmt, die die prinzipielle Bedeutsamkeit der Verantwortung widerspiegelt. Insbesondere anhand der dritten Komponente der Minimaldefinition wird deutlich, dass mit Verantwortung mehr als ein bloßes Antwort-Geben gefordert wird, was in der Ernsthaftigkeit und Bewusstheit der* Verantwortlichen zum Ausdruck gelangt, etymologisch durch das Rede-Stehen erklärt werden kann und sich begrifflich in der Vorsilbe ver- niederschlägt. Hieraus folgt, dass der Person, der Verantwortung aufgebürdet werden soll, gewisse Kompetenzen zugeschrieben werden, die ihr die Verantwortungsübernahme ermöglichen, wie bspw. Kommunikations- und Handlungsfähigkeit bzw. Autonomie und Urteilskraft.2 Mit der Übertragung von Verantwortung auf Gruppen ging folglich die Frage einher, wie es sich nun mit der* Einzelnen und ihrer* individuellen Verantwortung innerhalb des Kollektivs verhält; ist sie genauso groß (quantitativ) und ist es immer noch dieselbe (qualitativ) Verantwortung wie außerhalb der Gruppe? Haben also alle Mitglieder eines Kollektivs immer noch die volle Verantwortung für den fraglichen Gegenstand, oder lediglich noch eine Teilverantwortung? Juristisch begegnete man den Herausforderungen kollektiver Verantwortungszuschreibung mit der Differenzierung zwischen natürlicher und juristischer Person. Letztlich wird aber auch hier die Verantwortung auf einzelne Beteiligte zurückgeführt, deren Rolle und Funktion innerhalb des Kollektivs und demzufolge ihre jeweilige Verantwortung unterschiedlich definiert sein mag.3 Innerhalb der Verantwortungsforschung wird zwischen der Sicht des »Reduktionismus oder ethischen Individualismus« und »des Kollektivismus oder

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2  Ausführlich dazu Janina Sombetzki (jetzt Loh), Verant­ wortung als Begriff, Fähigkeit, Aufgabe. Eine Drei-Ebenen-Analyse, Wiesbaden 2014; Janina Loh (geb. Sombetzki), Strukturen und Relata der Verantwortung, in: Ludger Heidbrink u. a. (Hg.), Handbuch Verantwortung, Wiesbaden 2017, S. 35–56. 3  Zu den Möglichkeiten einer überindividuellen Verantwortungszuschreibung siehe Peter A. French, Shared Intentions and Collective Responsibility, Boston 2006; Tracy Isaacs, Kollektive Verantwortung, in: Heidbrink u. a., S. 453–475; Larry May u. Stacey Hoffman (Hg.), Collective Responsibility. Five Decades of Debate in Theoretical and Applied Ethics, Savage 1991.

Korporativismus« differenziert.4 Ultimativ sieht der Reduktionismus in der Kollektivverantwortung eine Leerformel, da es im eigentlichen Sinne nur Individualverantwortung gibt. Tatsächlich, so ein*e radikale*r Reduktionist*in, ließe sich der Begriff der Kollektivverantwortung aus unserem Wortschatz streichen, da kein signifikanter Unterschied zwischen genuiner Individualund Mitgliederverantwortung bestehe. Sie* könnte beispielsweise die Position vertreten, dass »[j]edes Gruppenmitglied ›voll‹ verantwortlich« oder, dass »­[j]edes Gruppenmitglied ›partiell‹ verantwortlich« ist.5 Der Kollektivismus geht hingegen davon aus, dass Kollektivverantwortung einen autonomen Status gegenüber den individuellen Zuschreibungsmechanismen von Verantwortung erlangen kann. Ein*e radikale*r Kollektivist*in nimmt an, dass es Kollektivverantwortung ohne individuelle Verantwortlichkeit der Mitglieder des fraglichen Kollektivs gibt, insofern die »Gruppe als solche voll […] und ausschließlich verantwortlich, d. h., daß kein Gruppenmitglied verantwortlich 4  Beide Zitate stammen aus Lenk u. Maring, Verant­ wortung, S. 572. 5  Beide Zitate stammen aus Hans Lenk u. Matthias Maring, Wer soll Verantwortung tragen? Probleme der Verantwortungsverteilung in komplexen (soziotechnischen-sozioökonomischen) Systemen, in: Bayertz, S. 241–286, hier S. 250. Diese und die folgenden Zuschreibungsmodelle haben Lenk und Maring von Richard T. DeGeorge übernommen; Vgl. Ders., Business Ethics, New York 1986, S. 98 f. 6  Zur Klimaverantwortung vgl. Sombetzki, Verantwortung als Begriff, Fähigkeit, Aufgabe, Kap. 13; zur Verantwortung im globalen Finanzmarktsystem vgl. Mark Coeckelbergh, Money Machines. Electronic Financial Technologies, Distancing, and Responsibility in Global Finance, Farnham 2015; zur Verantwortung im Umgang mit autonomen Fahrassistenzsystemen vgl. Janina Loh u. Wulf Loh, Autonomy and responsibility in hybrid systems – the example of autonomous cars, in: Patrick Lin u. a. (Hg.), Robot Ethics 2.0. From Autonomous Cars to Artificial I­ntelligence, Oxford 2017, S. 35–50.

ist«. Ein hybrider Ansatz hingegen, der zwischen radikalem Reduktionismus auf der einen und radikalem Kollektivismus auf der anderen Seite vermittelt, umfasst bspw. die Positionen, dass die »Gruppe als solche […] und alle Mitglieder […] voll verantwortlich« sind sowie die, dass die »Gruppe als solche […] voll und alle Mitglieder […] partiell verantwortlich« sind. Vor dem Hintergrund dieser knappen Ausführungen kann festgehalten werden, dass wir bereits mit dem Schritt von einer eindeutigen Individualverantwortlichkeit hin zu einer überindividuellen Verantwortung mit gewaltigen Herausforderungen hinsichtlich der Menge (quantitativ) und Art (qualitativ) der fraglichen Verantwortung konfrontiert sind. Was passiert nun, wenn jemand zwar Mitglied einer Gruppe ist, aber zu den Umständen, für die besagte Gruppe verantwortlich gemacht wird, persönlich gar nichts beigetragen hat? Oder noch irritierender: Was ist mit solchen Kontexten, in denen es scheint, als wäre gar niemand verantwortlich für das Geschehen zu machen? Seit dem 20. Jahrhundert bewegen sich die Menschen verstärkt gerade in solchen intransparenten Bezügen, worauf Hans Jonas als einer der ersten in seinem Werk »Das Prinzip Verantwortung« mit Überlegungen zu einem neuen Kategorischen Imperativ reagiert hat. Wie verhält es sich bspw. mit der Klimaverantwortung, mit der Verantwortung im globalen Finanzmarktsystem, wo Algorithmen am Werk sind, die noch nicht einmal mehr von den Algorithmiker*innen, die diese programmiert haben, so wird es zumindest von diesen behauptet, verstanden werden oder mit der Verantwortung im Umgang mit autonomen Fahrassistenzsystemen?6 Für solche Fälle, in denen Verantwortung zwar zugeschrieben werden soll, aber die Subjektposition der fraglichen Verantwortlichkeit nicht besetzbar Janina Loh  —  Transformation der V ­ erantwortung

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erscheint, haben einige Verantwortungstheoretiker*innen in den vergangenen Jahren behelfsmäßige Begrifflichkeiten zu entwickeln versucht, die ohne eine Bestimmung dieses Relatums auskommen. Dieses Konstrukt wird dann beispielsweise Systemverantwortung genannt und soll die Verantwortung des Systems bei gleichzeitiger Verantwortungslosigkeit seiner einzelnen Mitglieder bedeuten.7 Damit stellen Positionen wie diese radikale Versionen des oben vorgestellten Kollektivismus dar. Ich bin überaus skeptisch, dass uns mit solchen Ansätzen geholfen ist. Schließlich suchen wir de facto immer nach einer* Trägerin*, ob nun Singular oder Plural, die in der Lage ist, die eingeforderte Verantwortung zu schultern. Traditionell funktioniert unser Verständnis von Verantwortung in dieser Weise. Aber wie sollten wir stattdessen in solchen Kontexten verfahren? Generell scheinen wir zwei mögliche Wege zu einer Reakkreditierung der Verantwortung beschreiten zu können: Zum einen ließe sich versuchen, das konventionelle, individualtheoretische Verständnis von Verantwortung zu erneuern, um auch weiterhin im gewohnten Sinne von Verantwortung sprechen zu können, ohne dabei in die Falle eines radikalen Kollektivismus zu treten oder irreführenden Vorstellungen von Systemverantwortlichkeit zu verfallen. Dafür möchte ich hier den Begriff des Verantwortungsnetzwerkes von Christian Neuhäuser übernehmen und spezifizieren.8 Zum anderen ließe sich auch einem Ruf nach einer Transformation des traditionellen Verantwortungskonzepts folgen, indem beispielsweise seine fünf Relata überdacht

7  Vgl. Günter Wilhelms, Systemverantwortung, in: Heidbrink u. a., S. 501–524.

respektive Bestandteile der oben formulierten Minimaldefinition geändert werden. Beispielhaft soll dafür auf die Ansätze von Hannah Arendt, Donna Haraway und Karen Barad verwiesen werden, wenn auch im Rahmen dieses Textes nicht ausführlicher auf dieselben einzugehen der Raum ist. Die meinen Überlegungen bezüglich einer Ausarbeitung von N ­ euhäusers Konzept der Verantwortungsnetzwerke zugrundeliegende These lautet, dass wir all denjenigen Parteien in einer gegebenen Situation Verantwortung zuschreiben, die an dem fraglichen Geschehen beteiligt sind, in dem Maße, in dem sie die nötigen Kompetenzen zur Verantwortungszuschreibung mitbringen. Um einmal bei dem Beispiel autonomer Fahrassistenzsysteme, das

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8  Vgl. Christian Neuhäuser, Roboter und moralische Verantwortung, in: Eric Hilgendorf (Hg.), Robotik im Kontext von Recht und Moral, Baden-Baden 2014, S. 269–286. Meine Idee der Verantwortungsnetzwerke wurde bereits an anderer Stelle ausgeführt, aktuell in Janina Loh (geb. Sombetzki), Verantwortung und Roboterethik – ein kleiner Überblick. Teil 2, in: Zeitschrift zum Innovations- und Technikrecht, Jg. 6 (2018), H. 1, S. 29–35.

oben bereits genannt wurde, zu bleiben: In das Verantwortungsnetzwerk »Verantwortung im Straßenverkehr« sind autonome Autos zunächst ebenso zu integrieren wie die* menschliche Fahrer*in, selbst dann, wenn sie* nicht aktiv am Fahrprozess beteiligt ist, die Besitzer*innen, die Vertreiber*innen, die Programmierer*innen, die Designer*innen, die Öffentlichkeit, Jurist*innen, Fahrlehrer*innen – letztlich also alle am Straßenverkehr Beteiligten. Verantwortungsnetzwerke haben ungewöhnliche Ausmaße und bündeln in sich unterschiedliche Verantwortungsobjekte. Von Verantwortungsnetzwerken kann man dann sprechen, wenn man eigentlich gar nicht mehr weiß – und um solche Kontexte geht es hier ja gerade –, ob hier in einem gehaltvollen Sinn Verantwortung definiert werden kann, gerade weil die Bestimmung eines Subjekts schwierig ist oder aber sich keine eindeutige Instanz ausmachen lässt oder aber die normativen Kriterien nicht benannt werden können. In einem Verantwortungsnetzwerk erfüllen die involvierten Parteien unterschiedliche Funktionen, besetzen manchmal gar mehrere Positionen zugleich, sind einmal die Subjekte, in einem anderen Fall die Instanzen und wieder in einem anderen Fall das Objekt und vielleicht zugleich Adressat*innen einer Verantwortlichkeit. Es wäre äußerst schwierig, ein oder mehrere konkrete Verantwortungssubjekte für die Verantwortung im Straßenverkehr auszumachen, da diese viel zu umfassend ist, als dass eine Person oder eine geringe Anzahl Einzelner dafür Rede und Antwort stehen könnte. Als Verantwortungsnetzwerk »Verantwortung im Straßenverkehr« werden hier jedoch mehrere Bereiche – bspw. moralische, juristische und politische Verantwortlichkeiten – umfasst. Der Straßenverkehr stellt nur das übergeordnete Verantwortungsobjekt dar, für das nicht eine oder mehrere Personen gehaltvoll die Verantwortung tragen, das sich jedoch in unterschiedliche weniger komplexe Gegenstände ausdifferenziert, für die dann die unterschiedlichen Parteien jeweils eine spezifische Verantwortung übernehmen. Verantwortung für den Straßenverkehr kann in einem Fall die Sicherheit der am Straßenverkehr beteiligten Menschen bedeuten, in einem anderen Verständnis die Verantwortung für das schnelle und effiziente Gelangen von A nach B und in noch einem anderen Janina Loh  —  Transformation der V ­ erantwortung

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Fall die Verantwortung dafür, dass die moralischen Herausforderungen, die mit einer Beteiligung am Straßenverkehr einhergehen, denjenigen, die sich am Straßenverkehr beteiligen, mit hinreichender Ausführlichkeit zuvor deutlich gemacht wurden. Über die beschriebenen und zahlreiche weitere Teilverantwortungsgegenstände wird bereits nachvollziehbar, dass wir jeweils ganz unterschiedliche Subjekte in unterschiedlichem Ausmaß dafür zur Verantwortungsübernahme ansprechen würden, dass es jeweils unterschiedliche Instanzen, Adressat*innen und Normen sind, die zur Konkretisierung der jeweiligen Verantwortlichkeit zu definiert werden verlangen. Gegenwärtig wird ein autonomes Fahrassistenzsystem, das nur in einem sehr schwachen Sinne – wenn überhaupt – als Verantwortungsakteur identifizierbar ist, da es ihm an den fraglichen Kompetenzen wie Kommunikation- und Handlungsfähigkeit sowie Autonomie und Urteilskraft mangelt, die Subjektposition einer Verantwortlichkeit innerhalb des Verantwortungsnetzwerkes »Verantwortung im Straßenverkehr« nicht besetzen können. Denn es gibt immer potenziell qualifiziertere Verantwortungsträger*innen. Allerdings ist denkbar, es als Verantwortungsobjekt und als Adressat in eine oder mehrere der Verantwortlichkeiten dieses Verantwortungsnetzwerkes einzubinden. In dieser Weise kann Verantwortung auch in intransparenten Kontexten, in denen es etwa dank der involvierten Algorithmen und Roboter zunächst so aussehen mag, als wäre eine eindeutige Identifikation der verantwortlichen Subjekte schwierig, immer noch definiert werden. Vielleicht müssen wir also gar nicht unser tradiertes Verständnis von Verantwortung transformieren, sondern lediglich die Interpretationsebene wechseln, nämlich dann, wenn der Bezugsrahmen – wie in dem besprochenen Beispiel einer »Verantwortung im Straßenverkehr« – zu weit erscheint, auf die Ebene darunter wechseln, die es uns erlaubt, unterschiedliche Verantwortlichkeiten mit je eigenen Verantwortungssubjekten, -objekten, -instanzen, -adressat*innen sowie normativen Kriterien auszumachen. Andererseits werden wir auf diese Weise vielleicht den neuen Anforderungen des Zeitalters der Automatisierung, Digitalisierung, Industrie 4.0 und global vernetzter Technologien nicht gerecht.9 Vielleicht ist es an der Zeit, das unserem konventionellen Verständnis von Verantwortung zugrundeliegende humanistische Bild des autarken, souveränen und mit verschiedenen starken Kompetenzen wie Autonomie, Handlungsfähigkeit und Urteilskraft ausgerüsteten Individuums ernsthaft in Zweifel zu ziehen. Denn spätestens jetzt werden seine Unzulänglichkeiten offenkundig, die uns ja gerade dahin geführt haben, zu überdenken, ob in einer Zeit der autonomen Algorithmen noch wie zuvor Verantwortung zugeschrieben werden kann. Bereits Hannah Arendt

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9  Die folgenden Überlegungen wurden in einem gemeinsamen Paper von Janina Loh und Mark Coeckelbergh vorbereitet: Dies.,Transformation of Responsibility in the Age of Automation, in: Birgit Beck u. Michael Köhler (Hg.), Technology, Anthropology, and Dimensions of Responsibility, Stuttgart 2019 (im Druck).

hatte an die fundamentale Gebundenheit des Menschen an ein imaginiertes Gegenüber erinnert. Menschen sind – so Arendt – bereits in ihrem Denken niemals gänzlich allein, jede*r von uns führt ein inneres Zwie­gespräch mit 10  Vgl. Hannah Arendt, Vom Leben des Geistes. Das Denken. Das Wollen. München 1998; Dies., Über den Zusammenhang von Denken und Moral, in: Ursula Ludz (Hg.), Hannah Arendt. Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, München 1971, S. 128–155; Dies, Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 1960.

sich selbst. Nach außen drückt sich diese Tatsache darin aus, dass Menschen nur gemeinsam handeln können. So wie das Denken nach innen benötigt auch das Handeln nach außen immer ein Gegenüber.10 Von Arendts Ansatz ist es nur noch ein kleiner Schritt zu ernsthaft prozessualen und relationalen Definitionen von Autonomie, personaler Identität, Handlungsfähigkeit und Verantwortung, wie wir sie bei kritisch-posthumanistischen Denkerinnen wie bspw. Donna Haraway und Karen Barad finden.11 Hier ist Verantwortung keine Fähigkeit, Kompetenz oder Eigenschaft mehr, die einem einzelnen menschlichen Wesen zugeschrieben oder abgesprochen

11  Karen Barad, Verschränkungen. Berlin 2015; Dies., Meeting the Universe Halfway. Quantum Physics and the Entanglement of Matter and Meaning, Durham 2007; Donna Haraway, Monströse Versprechen. Eine Erneuerungspolitik für un/an/geeignete Andere, in: Dies., Monströse Versprechen. Die Gender- und Technologie-Essays, Hamburg 1992, S. 11–80; Dies., Situiertes Wissen. Die Wissenschaftsfrage im Feminismus und das Privileg einer partialen Perspektive, in: Dies., Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, hg. Und eingel. v. Carmen Hammer u. Immanuel Stieß, Frankfurt a. M. 1995, S. 73–97.

werden kann, sondern Verantwortung entwickelt sich erst im Zusammenspiel mehrerer menschlicher und nicht-menschlicher Alteritäten. Ob wir mit einem solchen Denken allen Herausforderungen, vor die wir uns aktuell in Situationen, in denen der traditionelle Verantwortungsbegriff an seine Grenzen zu stoßen scheint, begegnen können, muss an dieser Stelle offen bleiben. Unbenommen schlagen Barad und Haraway eine ernsthafte Transformation der Verantwortung (und anderer klassisch humanistischer Attribute des menschlichen Daseins) vor. Jetzt liegt es an uns zu entscheiden, ob wir mit dem einleitend nachgezeichneten Hype um starke Konzepte ernst machen und die Verantwortung radikal transformieren, oder lieber doch auf gemäßigtere Modulationen des traditionellen Verständnisses von Verantwortung bauen wollen, wie ich es am Beispiel der Verantwortungsnetzwerke exemplifiziert habe.

Dr. Janina Loh  (geb. Sombetzki, 1984) ist Universitätsassistentin (Post-Doc) im ­Bereich Technik- und Medienphilosophie an der Universität Wien. Sie hat an der Humboldt-Universität zu Berlin studiert und von 2009 bis 2013 im Rahmen des von der DFG finanzierten Graduiertenkollegs Verfassung jenseits des Staates: Von der europäischen zur Globalen Rechtsgemeinschaft? promoviert, betreut durch Prof. Volker Gerhardt und Prof. Rahel Jaeggi. Ihre Dissertation Verantwortung als Begriff, Fähigkeit, Aufgabe. Eine Drei-Ebenen-Analyse erschien 2014 bei Springer VS. Janina Loh arbeitet nun, nach einem dreijährigen Post-Doc-Aufenthalt an der Christian-­ Albrechts-Universität zu Kiel (2013–2016), seit April 2016 in Wien. Gerade erschien von ihr die erste deutschsprachige Einführung in den Trans- und Posthumanismus (­Junius 2018). Sie schreibt an einer Einführung in die Roboterethik (Suhrkamp 2019). Ihr Habilitationsprojekt verfasst sie zu den Kritisch-Posthumanistischen Elementen in Hannah Arendts Denken und Werk (Arbeitstitel). Zu ihren engeren Forschungsinteressen zählen neben der Verantwortung, dem Trans- und Posthumanismus und der Roboterethik auch Hannah Arendt, feministische Technikphilosophie sowie Ethik in den Wissenschaften.

Janina Loh  —  Transformation der V ­ erantwortung

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INFORMATIONELLE ­SELBSTBESTIMMUNG PRIVATHEIT IM DIGITALEN KAPITALISMUS ΞΞ Sebastian Sevignani

Im digitalen Kapitalismus ist es um den Schutz privater Daten strukturell schlecht bestellt. Die Informatisierung und der umfassende Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien erlaubt nicht nur, dass alle vertikalen Stufen einer Waren- oder Wertschöpfungskette effektiv modelliert und verbunden werden können, sie erlaubt es zudem auch, alle Bereiche des ökonomischen Prozesses, also Produktion, Distribution, und Konsumption, in neuer Qualität horizontal miteinander zu verbinden. Neben der Diskussion um die Automatisierung, Digitalisierung und Vernetzung der Produktion ist vor allem die digitale Informationsökonomie im engeren Sinne, sprich die Ausdifferenzierung der Informationsverarbeitung zu einem eigenständigen Wirtschaftszweig, in dem Informationen als Waren gehandelt werden, hier von Interesse. Im Konkurrenzkampf mit anderen Unternehmen wird versucht, die Chancen auf maximalen Profit durch Marketing, welches sich mit Hilfe neuer Informations- und Kommunikationstechnologien differenzierter, genauer, flexibler und umfassender durchführen lässt, zu erhöhen.1 Dieses daten-getriebene Marketing ist ein entscheidendes Kennzeichen der informationellen Phase in der Entwicklung des Kapitalismus. Überwachung als Mittel des Marketings basiert auf Macht-Asymme­ trien und kann als diskriminierende Kontrolltechnologie angesehen werden, welche Menschen auf Basis ihres für ein gesetztes Ziel geschätzten Wertes – beispielsweise ihres Beitrages zur Profitabilität eines Unternehmens – identifiziert, sortiert und vergleichend auswertet.2 Kamen Überwachungstechnologien in der Ökonomie des 19. Jahrhunderts vornehmlich innerhalb der Produktion und zur Kontrolle der Zulieferer zum Einsatz, verschob sich bis heute der Fokus in Richtung Marketing und somit auf den Verkauf und die Beziehung zu KonsumentInnen.

1  Vgl. Philipp Staab, Falsche Versprechen: Wachstum im digitalen Kapitalismus, Hamburg 2016.

Um Absatzrisiken zu minimieren, möchten Unternehmen wissen, was sich in einer spezifischen Zielgruppe verkaufen lässt. Traditionelle Formen des Werbens richteten sich bisher zumeist an breite Gruppen möglicher ­KäuferInnen. Zielgerichtetes oder smartes Werben soll hingegen präzise definierte Gruppen oder sogar einzelne Individuen ansprechen. Die erst am

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2  Vgl. Oscar H. Gandy, The Panoptic Sort: A Political Economy of Personal Information. Critical Studies in Communication and in the Cultural Industries, Boulder 1993.

Anfang stehende verzahnte Überwachung von online- und offline-Verhalten, die durch Smartphones oder andere Wearables möglich ist, erscheint aus einer Marketingperspektive hoch interessant. Über die Werbefinanzierung ist auch die gesellschaftliche Kultur- und ­Medienproduktion in den skizzierten Zusammenhang eingebunden. Der Großteil der klassischen und auch Online-Medienproduktion ist heute werbe­ finanziert und Soziale Medien, wie Facebook, YouTube, oder Twitter, sind weltweit die populärsten Online-Angebote. Auf ihren Plattformen teilen und kreieren die NutzerInnen und potentielle KosumentInnen in Interaktionen eine Vielzahl von Informationen, die ein zielgerichtetes Werben ermöglichen. Eine Überwachung jener NutzerInnen dient natürlich dazu, Soziale Medien weiter zu entwickeln und zu vergrößern. Beispielsweise bekommen NutzerInnen Sozialer Medien eine Nachricht, wenn befreundete NutzerInnen auf einen Post reagieren. Diese Veröffentlichung von Nutzeraktivitäten ist dem Funktionieren Sozialer Medien inhärent und der Grund für (erweiterte) Netzwerkbildung. Im selben Moment wird aber auch eine Datenware produziert mit dem Ziel, diese auf dem Werbemarkt möglichst gewinnbringend zu verkaufen. Der Überwachungsprozess beinhaltet dabei die doppelte Transformation von Informationen über die NutzerInnen in formalisierte Daten und dann in verkaufbare werberelevante Information, wie beispielsweise Reputationsprofile von NutzerInnen oder NutzerInnengruppen). Eine Verbindung zu deren Entstehungskontext, sprich einem Individuum, kann dabei nicht völlig verloren gehen, da es genau dieser Bezug zu Zielgruppen ist, der die Werbekunden interessiert. Die soziale, Interaktionen ermöglichende Funktion der Überwachung wird dabei zum Mittel für diesen Zweck und darin liegt ein Großteil der Problematik des Datenschutzes, der Sicherung der Privatsphäre und der informationellen Selbstbestimmung unter gegenwärtigen Bedingungen. Deutlich wird dies an den öffentlichen Reaktionen auf periodische Anpassungen der Datenschutzbestimmungen großer Internetdienste oder wenn, wie vor einiger Zeit, ein populärer Kommunikationsdienst, in diesem Fall Whats­ App, vom weltweit populärsten Sozialen Medium, Facebook, übernommen wird. Der Ruf nach dem Schutz der Privatsphäre wird dann lauter. Er wird Teil aktueller politischer Debatten, wenn etwa die Europäische Union ihre Datenschutzrichtlinie neu bestimmt und sich dabei auch (wirtschafts-)politisch etwa zu den USA und China positionieren muss. Diese Debatte zeigt sich auch in widerständigen zivilgesellschaftlichen Diskursen, wie z. B. an der Initiative »Europe vs. Facebook« bzw. »FBclaim.com« um den Wiener Sebastian Sevignani  —  Informationelle ­S elbstbestimmung

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Jura-­Studenten Max Schrems, die auf juristischem Weg eine Eingrenzung ökonomisch motivierter Überwachung erreichen möchte. PRIVATHEIT ALS VERMEINTLICHER GEGENSATZ ZUR ÜBERWACHUNG Lassen sich polit-ökonomische Treiber für eine strukturelle Krise der Privatheit jenseits interpersoneller Privatsphäreverletzungen und einer Perspektive, die gesellschaftliche Probleme durch die Digitalisierung selbst zu erklären versucht, klar benennen, so muss auch die Frage, was in dieser Situation für die informationelle Selbstbestimmung der BürgerInnen getan werden kann, neu gestellt und beantwortet werden. Meine These ist zunächst, dass die dominanten Politiken zum Schutz der Privatheit eher Teil als Lösung des

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Problems sind. Mein Ausgangspunkt ist die Frage, welches von einer Vielzahl möglicher Verständnisse von Privatheit in gegenwärtigen Gesellschaften das besonders naheliegende ist und im Alltag der Menschen wirksam wird. Das heute noch dominante Verständnis von Privatheit entstand und gewann historisch positive Bedeutung in Bezug auf die Institution des Privateigentums in der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft. Eine Reihe von Kritikern bezeichnet es daher als zu eigentumsbezogen und individualistisch. Privatheit wird in dieser Logik dem Gesellschaftlichen und dem Öffentlichen entgegengesetzt. Im Anschluss an solche Kritiken möchte ich das do3  Vgl. Crawford B. Macpherson, Die politische Theorie des Besitzindividualismus, Frankfurt a. M. 1971.

minante Verständnis von Privatheit mit dem kanadischen politischen Theoretiker Crawford B. Macpherson als besitzindividualistisch charakterisieren3. Der Besitzindividualismus zeichnet ein Bild vom Menschen, der als Eigentümer seiner selbst und seiner Fähigkeiten für dieses Eigentum der Gesellschaft rein gar nichts schuldet und daher perfekt vorbereitet ist als Marktteilnehmer in Tauschprozesse verwickelt zu sein. Die Pointe des Konzepts des Besitzindividualismus ist, dass hier eine enge Verzahnung von Denken und Handeln im gesellschaftlichen Durchschnitt angenommen wird. Das bedeutet, dass die kapitalistische Vergesellschaftung durch den Warentausch die Form vorgibt, indem sich das Handeln der Menschen bewegt. Um Dissonanzen zu vermeiden, korrespondieren Handeln und Denken zumindest im gesellschaftlichen Durchschnitt. Neuere politische und theoretische Entwicklungen reagieren zwar auf die besitzindividualistische Verengung des Begriffs der Privatheit. Stimmt es aber, dass ein besitzindividualistisches Konzept der Privatheit seine Plausibilität vor allem durch die dem Kapitalismus eigentümliche (Tausch-)Logik und vor dem Hintergrund des Eigentums am Selbst gewinnt, dann ist auch von einer Hartnäckigkeit des Besitzindividualismus gegenüber theoretischen und politischen Alternativen auszugehen. Zumindest die theoretische Analyse des Besitzindividualismus ändert alleine noch nichts daran, dass dieser in Marktgesellschaften alltäglich praktiziert wird. Was bedeutet aber die besitzindividualistische Prägung des Verständnisses von Privatheit konkret und wie macht sie sich im aktuellen theoretischen Diskurs bemerkbar? Besitzindividualismus zeigt sich vor allem dort, wo Privatheit als zu tauschendes Eigentum betrachtet und die Idee eines Marktes für Privatheit verteidigt wird. Dann würde jedes Individuum Informationen über sich selbst und sein Datenabbild besitzen, und diese wären für andere gegebenenfalls ökonomisch interessant. Dies wäre egalitär, weil tatsächlich jeder unabhängig vom sozio-ökonomischen Status dieses Besitzrecht ausüben könnte. Eine abgeschwächte Variante dieses Verständnisses liegt vor, wenn Sebastian Sevignani  —  Informationelle ­S elbstbestimmung

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private Daten zwar als Eigentum betrachtet werden, diese aber entweder aus ökonomischen oder politischen Gründen nicht getauscht werden sollten. Positionen in dieser Gruppe changieren zwischen der Notwendigkeit eines regulierten Marktes und der Vorstellung von Privatheit als einem Gut mit öffentlichen Eigenschaften, welche notwendig zu Marktversagen führen müssten. Besitzindividualismus zeigt sich aber selbst dort, wo Privatheit als Aspekt des Selbsteigentums verstanden wird und dieses Verständnis durchaus vereinbar mit der Ansicht ist, dass Privatheit zu den höchsten Normen gezählt oder als Menschenrecht angesehen werden sollte. Privatheit in diesem Sinn beinhaltet, dass ein Individuum aus sich heraus unbedingt in der Lage sein muss, eine Grenzziehung zwischen Privatem und Öffentlichem vorzunehmen und diese Fähigkeit wäre unveräußerlich. Warum kann eine solche Position aber innerhalb des Besitzindividualismus angesiedelt werden – schließlich verbietet sich ja der Tausch von Privatheit kategorial? Hierbei ist es notwendig, sich klar zu machen, dass in bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaften die Veräußerbarkeit von Dingen, zum Beispiel der eigenen Arbeitskraft, etwas Unveräußerliches voraussetzt. Der Warentausch setzt eine abstrakte Gleichheit der Tauschenden als Tauschende voraus. Dabei kann das Recht und die Freiheit etwas zu verkaufen nicht entäußert werden. Dies ist eine zivilisatorische Errungenschaft des Kapitalismus gegenüber früheren Gesellschaften. ArbeiterInnen erlangten im Prozess der Spaltung zwischen öffentlichem Staatsbürger und privatem Wirtschaftssubjekt politisch-rechtliche Freiheiten, die z. B. ihre Versklavung ausschließt.4 Dennoch wird im Kapitalismus Arbeitskraft gegen Lohn verkauft. Es wird so getan, als ob es einen unveräußerlichen Kern einer Person gäbe und etwas davon Abspaltbares, das veräußert werden könne. Dennoch erscheinen ArbeiterInnen als ganze Personen mit all ihren Fähigkeiten bei der Arbeit und die gestellten Arbeitsaufgaben erfordern dies auch. Unveräußerlichbarkeit ist deshalb nicht das Andere des Kapitalismus, sondern gehört selbst zu seinen Ermöglichungsbedingungen.5 Bürgerlich-kapitalistische Gesellschaften kennen das Recht auf Privatheit. Dennoch werden im digitalen Kapitalismus private Daten veräußert. Der Privat­sphärevertrag, wie er etwa mit der Zustimmung zu den Nutzungsbedingungen von Sozialen Medien eingegangen wird, beruht auf der politischen Fiktion, dass es etwas von einem unveräußerlichen Kern abzuspaltendes gäbe. Zum Beispiel heißt es in den Nutzungsrichtlinien von Facebook: »Dir gehören alle Inhalte und Informationen, die du auf Facebook postest

4  Karl Marx, Zu Judenfrage, in: Marx-Engels-Werke, Bd. 1, Berlin 1976, S. 347–77.

[…]. Außerdem gilt Folgendes: Für Inhalte, die durch geistige Eigentumsrechte geschützt sind, wie Fotos und Videos (IP-Inhalte), erteilst du uns ausdrücklich nachfolgende Genehmigung, vorbehaltlich deiner Privatsphäre- und

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Digitalisierung — Analyse

5  Carole Pateman u. Charles W. Mills, Contract and domination, Cambridge 2007.

App-Einstellungen: Du gewährst uns eine nicht-exklusive, übertragbare, unterlizenzierbare, gebührenfreie, weltweite Lizenz zur Nutzung jedweder IP-­Inhalte, die du auf bzw. im Zusammenhang mit Facebook postest (›IP-­Lizenz‹).«6 Hier lassen sich deutlich Elemente des besitzindividualistischen Privatheitsverständnis erkennen: Es ist immer der Einzelne, dem gewisse Daten gehören, und der daher auch das Recht hat, volle Kontrolle über sie auszuüben. Es wird so getan, als könnten die NutzerInnen Teile ihres Selbst in Form privater Daten abspalten, ohne ihre Privatsphäre grundsätzlich zu verlieren. Dennoch ist es das ganze Individuum, welches diese Daten durch Interaktionen mit anderen in Sozialen Medien produziert und das ganze Individuum wird auch von der zielgerichteten Werbung angesprochen. Unter Bedingungen einer überwiegend privatwirtschaftlich organisierten Informationsökonomie bietet sich praktisch – dies bedeutet unter Umständen auch in Widerspruch zu einer alternativen Kultur der Rechtsprechung – ein besitzindividualistisches Verständnis von informationeller Privatheit als individuelle Kontrolle über den Zugang zu persönlichen Daten an. Dieses ermöglicht es zwar an der Informationsökonomie teilzunehmen und beispielsweise Soziale Medien zu nutzen, hat aber ihrer Kommodifizierung wenig entgegenzusetzen. Damit werden die Menschen freiwillig oder unfreiwillig Teil eines ungleichen sozialen Verhältnisses mit den EigentümerInnen von Kommunikations- und Vermittlungsplattformen, Dateninfrastrukturen und informationellen Produktionsmitteln. Und dieses Verhältnis kann sich mithilfe der informationellen und kommunikativen Aktivitäten der NutzerInnen vermittelt über den Privatsphärevertrag stetig reproduzieren. Die Giganten der Internetökonomie zapfen die datengenerierenden informationellen und kommunikativen Aktivitäten der NutzerInnen an und verwerten diese. Diese werden (re-)investiert, um eine Situation aufrecht zu erhalten, in denen sich die informationellen und kommunikativen Mittel zur individuellen Entwicklung auch weiterhin weitgehend im Privatbesitz befinden. Dies kann vielfältig Gestalt annehmen, wie etwa durch weitere Monopolbildung in der Internetökonomie, der Ausübung kommunikativer Macht, die beispielhaft im Setzten von technische Standards und in der Fähigkeit (digitale) Netzwerke zu knüpfen besteht, aber auch durch Einflussnahmen auf Politik und Gesellschaft mittels Public Relations. Es wäre nicht falsch, in Analogie zu Marx’ doppelt freien LohnarbeiterInnen von den doppelt freien InternetnutzerInnen zu sprechen. Diese sind zwar nicht gezwungen etwa Facebook zu nutzen, weil 6  Facebook Nutzungsbedingungen, Stand: 30.01.2015, URL: https://www.facebook.com/terms [eingesehen am 26.04.2018].

sie aber nicht über Kommunikations- und Aufmerksamkeitsmittel verfügen, müssen sie sich dann doch mit einem der großen kommerziellen Internetdienste arrangieren. Den Zusammenhang von Privatheit und kapitalistischem Sebastian Sevignani  —  Informationelle ­S elbstbestimmung

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Eigentum zu akzeptieren bedeutet dann aber auch, dass ein nachhaltiges Eintreten für Privatheit und gegen Überwachung sich nicht einfach auf den dominanten Diskurs über Privatheit berufen kann. Vielmehr ist eine Lösung der Krise der Privatheit im digitalen Kapitalismus ungleich voraussetzungsreicher. VON DER PRIVATHEIT ZUR INFORMATIONELLEN SELBSTBESTIMMUNG Während der Begriff der Privatheit, der tief im liberalen Diskurs verwurzelt ist, fast notwendig auf den Gegensatz zwischen Individuum und Gesellschaft beziehungsweise Staat und auf den Schutz des ersteren vor letzterem orientiert ist, ermöglicht der Begriff der informationellen Selbstbestimmung möglicherweise eine anders gelagerte Perspektive. Diese könnte in der Lage sein, das beschriebene Problem der Privatheit im Zusammenhang mit Überwachung und Besitzindividualismus zu umgehen. Das Individuum dürfte mit seinem Privat(heits)-Eigentum nicht alleine gelassen werden, sondern es müsste wirklich an den kollektiven Bedingungen partizipieren, die Rückzüge und informationelle Selbstbestimmung erlauben. Ausgangspunkt für eine solche Umorientierung des Privatheitsdiskurses ist die Einsicht, dass der Mensch sich nur in Gesellschaft vereinzeln kann.7 Erst in einer Situation, wo der unmittelbare Zusammenhang zwischen der Schaffung der Lebensbedingungen und ihrer individuellen Nutzung durch das Entstehen von arbeitsteiligen Gesellschaften aufgehoben wird und die Individuen zu einem gewissen Grad von anderen miterhalten werden, haben Reproduktionsnotwendigkeiten keinen unmittelbar determinierenden Charakter mehr. Sie stellen sich für die Individuen als Handlungsmöglichkeiten dar. Die dann mögliche grundsätzliche Möglichkeitsbeziehung zur Welt, also etwas tun oder lassen zu können, begründet ihre Entscheidungsfreiheit.8 Erst in dieser Situation wird Privatheit für die Menschen wichtig und der Liberalismus – auch in seiner besitzindividualistischen Ausprägung – betont dann gewissermaßen die erreichte Errungenschaft der Möglichkeit des Rückzugs. Er verliert aber gleichzeitig die gesellschaftlichen Möglichkeitsbedingungen für

7  Vgl. Karl Marx, Einleitung [Zur Kritik der Politischen Ökonomie], in: Marx-Engels-Werke, Bd. 13, Berlin 1961, S. 615–41, hier: S. 616. 8  vgl. Klaus Holzkamp, Die Entwicklung der Kritischen Psychologie zur Subjektwissenschaft, in: Günter Rexilius (Hg.), Psychologie als Gesellschaftswissenschaft: Geschichte, Theorie und Praxis kritischer Psychologie, Wiesbaden 1988, S. 298–317.

ihn aus den Augen. Aus dieser anthropologisch-sozialtheoretisch fundierten Perspektive kann Privatheit niemals etwas anderes sein, als eine gesellschaftliche Lizenz9 oder eine intersubjektive Aushandlung.10 Selbstbestimmung meint dann die Möglichkeit im Zusammenschluss mit anderen Verfügung über je meine, individuell relevanten Lebensbedingungen zu erlangen. Sie ist so als Vermittlungskategorie zwischen Individuum und Gesellschaft gefasst. Der informationelle Aspekt der Selbstbestimmung zielt auf die Möglichkeit im Zusammenschluss mit Anderen Verfügung über je meine, individuell relevanten Informationen und Daten zu erlangen. Dies könnte man auch

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Digitalisierung — Analyse

9  Vgl. Amitai Etzioni, The limits of privacy, New York 1999. 10  Vgl. Irwin Altman, Privacy: A Conceptual Analysis, in: Environment and Behavior, Jg. 8 (1976), H. 1, S. 7–29; sowie Carlos Becker u. Sandra Seubert, Privatheit, kommunikative Freiheit und Demokratie, in: Datenschutz und Datensicherheit – DuD, Jg. 40 (2016), H. 2, S. 73–78.

verallgemeinerte oder soziale Privatheit nennen. Sie schließt sowohl die Befriedigung eines informationellen Bedürfnisses danach ein, sich klar werden zu können, welche Ausschnitte der sozialen Welt für mich relevant sind, als auch wie und auf welcher Basis ich den für mein eigenes Leben immer notwendigen Zusammenschluss mit anderen eingehen kann. Informationelle Selbstbestimmung meint aber auch, wie der klassische Privatheitsdiskurs betont, die Möglichkeit, sich von diesen Informationsprozessen teil- und zeitweise zurückzuziehen. Ein besitzindividualistischer Rückzug, der nicht durch den Zusammenschluss mit anderen abgesichert ist, ist kein nachhaltiger Rückzug. Den oben analysierten vorherrschenden Diskurs könnte man als einen der restriktiven Privatheit bezeichnen: Ich kann mir nicht sicher sein, ob er mir tatsächlich von den anderen in Machtpositionen befindlichen – wie etwa denjenigen mit der Verfügungsgewalt über die Kommunikationsmittel wie Google und Facebook – auch dauerhaft gewährt oder willkürlich ent­ zogen wird, beispielswiese durch Veränderungen der Datenschutzrichtlinien. Im bereits angesprochenen Beispielfall kommerzieller Sozialer Medien liegt restriktive Privatheit und keine informationelle Selbstbestimmung vor. Solche Dienste profitieren von den informationellen Bedürfnissen der NutzerInnen, indem sie Angebote zur Reflexion der eigenen Position und gesellschaftlichen Lage, sowie für den Zusammenschluss mit Anderen machen. Jedoch erfüllen sie diese im Modus restriktiver Privatheit nur einseitig. Die NutzerInnen werden unter gegebenen Bedingungen der kommerzialisierten Kommunikationsmittel derzeit nur handlungsfähig, wenn sie sich ein restrik11  Verena Kreilinger u. Sebastian Sevignani, Online Privacy Paradox and Social Networks, in: Reda Alhajj u. Jon Rokne (Hg.), Encyclopedia of Social Network Analysis and Mining, New York 2014, S. 1193–1200. 12  Vgl. Evgeny Morozov, ­Socialize the Data Centres!, in: New Left Review, H. 91, Jan/Feb 2015, S. 45–66.

tives, besitzindividualistisches Privatheitsverständnis zu eigen machen. Dies hat unter anderem die vielfach untersuchte Privatheitsparadoxie zur Folge: Ein weit verbreitetes und wertgeschätztes Bedürfnis nach informationeller Selbstbestimmung gerät mit dem tatsächlichen Handeln der TeilnehmerInnen in der Informationsökonomie in Widerspruch.11 Angesichts der dargelegten Zusammenhänge – und zur Überwindung dieses Widerspruchs – wäre es angezeigt die bislang von den Parteien weitgehend ausgeklammerte Forderung nach einer alternativen Organisationsform der Informationsökonomie und der digitalen Medien stärker zu diskutieren.12 Dr. phil. Sebastian Sevignani studierte Kommunikationswissenschaft, Theologie und Philosophie an der Universität Salzburg. Seit 2014 ist wis­senschaftlicher Mitarbeiter an Institut für Soziologie der Friedrich-­Schiller-Universität Jena. Dort arbeitet er an einem Habilitationsprojekt zu einer (Re-)Aktualisierung einer kritischen Theorie menschlicher Bedürfnisse. Weitere Forschungsschwerpunkte sind Analysen des digitalen Kapitalismus, historische-materialistische (Kommunikations-)Theorie und kritische politische Ökonomie (der Medien und der K ­ ommunikation). A ­ ktuelle ­Publikationen: Privacy and Capitalism in the Age of ­Social ­Media (2016); ­Medien im Kapitalismus (zus. mit Sevda C. Arslan, in ­Vorbereitung)

Sebastian Sevignani  —  Informationelle ­S elbstbestimmung

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ZUR ENTSTEHUNG VON GEWALTBEREITEM ­EXTREMISMUS ERGEBNISSE EINER AUFARBEITUNG EINSCHLÄGIGER BIOGRAFIEN ΞΞ Dominic Kudlacek / Nadine Jukschat / Leonie Rook

Seit einigen Jahren erfährt das Thema Radikalisierung eine erhebliche Konjunktur in der sozialwissenschaftlichen Forschung. In neuester Zeit stehen dabei die Bedeutung extremistischer Propaganda im Internet sowie die Bedeutung sozialer Medien im Zentrum des Interesses. Gegenwärtig fördert die Europäische Kommission im Rahmen des Forschungsprogramms H ­ ORIZON 2020 drei Verbundprojekte1 mit entsprechendem inhaltlichen Fokus. Die Gesamtfördersumme dieser gegenwärtig laufenden Projekte beläuft sich auf mehr als neun Millionen Euro. Auch auf nationaler Ebene werden zurzeit diverse Projekte gefördert, in deren Rahmen die Gefahrenpotentiale untersucht werden, die mit dem Internet und sozialen Medien als Verbreitungsinstrumenten extremistischer Ideologien verbunden sein können. Im Rahmen des nationalen Sicherheitsforschungs­ programms der Bundesregierung »Forschung für die zivile Sicherheit« werden aktuell 18 Institutionen für entsprechende Forschung gefördert. Zudem sind derzeit seitens des Bundesministeriums für Bildung und Forschung ganze Forschungscluster zum Thema ausgeschrieben. Ausschlaggebend für die Bereitstellung dieser erheblichen Fördersummen waren und sind sicherlich Sorgen und Ängste, die infolge von terroristisch motivierten Anschlägen entstanden sind, begangen von Täterinnen und Tätern, die im Vorfeld der Tat Kontakt zu ideologischer Propaganda hatten, welche über das Internet verbreitet wurde. In Deutschland sind in diesem Kontext vor allem die terroristisch motivierten Anschläge von Arid Uka und von Safia S. hervorzuheben. Arid Uka eröffnete am 2. März 2011 mit einer Pistole das Feuer auf US-­ amerikanische Streitkräfte in einem Bus am Frankfurter Flughafen. Durch seine Tat wurden zwei US-Soldaten getötet und zwei weitere verletzt.2 Auslöser für die Tat soll ein Propagandavideo gewesen sein, auf dem zu sehen ist, wie eine Muslimin durch US-Soldaten vergewaltigt und ermordet wird. Das

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1  Bei den Projekten handelt es sich um »Mapping, identifying and developing skills and oppor­ tunities in operating environments to co-create innovative, ethical and effective actions to tackle radicalization leading to violent extremism« (MINDb4ACT), »Partnership against violent radicalization in the cities« (PRACTICIES) sowie um »Policy recommendation and improved communication tools for law enforcement and security agencies preventing violent radicalisation« (Pericles) 2  National Consortium for the Study of Terrorism and Responses to Terrorism (START), Global Terrorism Database [Datenbank], 2016, URL: https:// www.start.umd.edu/gtd [eingesehen am 04.07.2018].

­Video basiert auf einer Filmsequenz, die einem Kinofilm entnommen ist, der ein Kriegsverbrechen zum Thema hat, das durch US-Soldaten in al-Mahmudiyya im Irak begangen wurde. Im Nachgang der Tat von Arid Uka zeigte sich, dass er im Internet wiederholt Sympathien für den Dschihad gezeigt und sich verächtlich über Andersgläubige geäußert hatte.3 Zudem fanden die Ermittler diverse Dateien mit dschihadistischen Inhalten auf Arid Ukas Computern, etwa Vortrags3  Attentat am Frankfurter Flughafen: Das religiöse Umfeld des Pistolenschützen Arid Uka, in: Hintergrund. Das Nachrichten­ magazin, 03.03.2011, URL: https:// www.hintergrund.de/globales/terrorismus/attentat-am-frankfurterflughafen-das-religioese-­umfelddes-pistolenschuetzen-arid-uka/ [eingesehen am 05.07.2018]. 4  Wolf Schmidt, Flughafen-­ Attentäter Arid Uka verurteilt. Höchststrafe für US-­SoldatenMord, in: taz.de, 10.02.2012, URL: http://www.taz.de/!5100917/ [eingesehen am 16.05.2018]. 5  Schmidt. 6  Tobias Morchner u. Thorsten Fuchs, Safia S. zu sechs Jahren Haft verurteilt, in: Hannoversche Allgemeine Zeitung, 26.01.2017, URL: http://www.haz.de/Nachrichten/Der-Norden/Uebersicht/ Urteil-gegen-die-IS-Sympathisantin-Safia-aus-Hannover [eingesehen am 04.07.2018].; START. 7  IS-Attacke auf Polizisten. Urteil gegen Safia S. ist rechtskräftig, in: Handelsblatt, 19.04.2018, URL: http://www. handelsblatt.com/politik/deutschland/messerattacke-is-attacke-aufpolizisten-­urteil-gegen-safia-s-­ ist-rechtskraeftig/21194950.html [eingesehen am 03.05.2018]. 8  Bundesgerichtshof bestätigt Urteil gegen IS-Terroristin Safia S., in: Hannoversche A ­ llgemeine Zeitung, 22.04.2018, URL: http://www.haz.de/Hannover/ Aus-der-Stadt/Uebersicht/ Bundesgerichtshof-in-Karlsruhebestaetigt-­Urteil-gegen-Safia-S [eingesehen am 05.07.2018].

skripte des radikalen Predigers Anwar al-Awlaki und eine deutsche Übersetzung des Buchs »Die Verteidigung der muslimischen Länder« vom sogenannten »Mentor« Osama Bin Ladens, Abdallah Azzam.4 Im Rückblick auf die Tat wurde zudem häufig berichtet, dass Uka kurz vor dem terroristisch motivierten Anschlag kaum noch Kontakte zu Freunden in der realen Welt besessen und stattdessen viel Zeit mit dem Studium des Dschihad im Internet verbracht hatte.5 Safia S. griff 2016, mit einem Messer bewaffnet, einen Polizisten im Hauptbahnhof in Hannover an. Die damals 15-Jährige ist die erste IS-Sympathisantin in Deutschland, die aufgrund ihrer Tat verurteilt wurde.6 Ihre Radikalisierung begann schon in sehr jungen Jahren. Bereits als Grundschülerin war Safia S. gemeinsam mit einem bekannten Salafistenprediger in YouTube-­ Videos zu sehen. Vor ihrer Tat stand sie über einen Messenger-Dienst mit Personen in Kontakt, die der Terrororganisation IS nahestanden.7 Sie hatte zudem ein Bekennervideo aufgenommen, das für die Verbreitung im Internet vorgesehen war.8 MEDIEN, PROPAGANDA UND DIE VULNERABILITÄT DES INDIVIDUUMS Beide Fälle verbindet, dass dem Internet retrospektiv eine zentrale Bedeutung für die Entstehung der Tat zugeschrieben wurde. Arid Uka wurde und wird noch immer häufig als Prototyp eines lone-wolf terrorists dargestellt, der sich im Stillen, ohne Verbindung zu anderen Menschen, lediglich durch die Rezeption extremistischer Propaganda im Internet radikalisiert haben soll. Im Zusammenhang mit der Tat von Safia S. ist dies ähnlich. Zudem wurde bei letzterer im Nachgang der Tat auf die Gefahrenpotentiale von ­Social-Media-Diensten hingewiesen, über die – so die Zuschreibung – binnen kürzester Zeit radikale Mentoren vermittelt werden können, die dann »normale« Schulmädchen zu Vollstreckerinnen eines menschenverachtenden Regimes machen könnten. Derartige Bilder und Zuschreibungen haben den Umgang mit dem Thema Radikalisierung im digitalen Zeitalter nachhaltig geprägt. Im Fokus steht oft

Dominic Kudlacek / Nadine Jukschat / Leonie Rook  —  Zur Entstehung von gewaltbereitem E­ xtremismus

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die Propaganda selbst oder das Verbreitungsmedium, nicht aber die Vulnerabilität des Individuums. Dementsprechend werden Risiken dort identifiziert, wo die Propaganda zu finden ist. Die Risikosteuerung bezieht sich infolgedessen auf das Medium und nicht auf das Individuum. Dieser Ansatz ist in zahlreichen Präventionsbemühungen sichtbar, die auf automatisierter counter speech basieren, das heißt auf von Computern oder Software veranlassten Gegenreden bzw. Gegenposts. Wenig bekannt ist hingegen, dass Arid Uka schon in der Schulzeit unter psychischen Erkrankungen litt. Er wurde als Kind sexuell missbraucht.9 Zwar wurde ihm nach der Tat eine uneingeschränkte Schuldfähigkeit attestiert,10 was jedoch nicht bedeutet, dass Uka gesund gewesen ist. Vor Gericht bestritt er, unter dem Einfluss anderer Personen gestanden zu haben. Diese Darstellung ist zweifelhaft, da bis heute nicht geklärt ist, wie Arid Uka an die Tatwaffe gelangte.11 Insofern ist keineswegs sicher, dass in seinem Fall die Radikalisierung alleine durch die Rezeption extremistischer Propaganda ausgelöst wurde. AUFARBEITUNG VON BIOGRAPHIEN Diese und weitere Beobachtungen haben uns dazu veranlasst, der Frage nachzugehen, ob extremistischer Propaganda im Internet tatsächlich die Bedeutung zukommt, die ihr unterstellt wird. In diesem Kontext haben wir die Biographien der Täterinnen und Täter von terroristisch motivierten Anschlägen aufgearbeitet und geprüft, welchen Stellenwert das Internet hatte und ob Anzeichen einer psychischen Erkrankung auf Seiten der Täterinnen und Täter schon im Vorfeld der Tat vorlagen.12 Dabei sind wir wie folgt vorgegangen: Im ersten Schritt wurden mit Daten der Global Terrorism Database 703 terroristisch motivierte Anschläge identi-

9  Ebd. 10  Gutachter: Flughafen-­ Attentäter voll schuldfähig, in: Frankfurter Neue Presse, 19.12.2011, URL: http://www. fnp.de/rhein-main/Gutachter-­ Flughafen-Attentaeter-voll-­ schuld­faehig;art801,443665 [eingesehen am 13.06.2018].

fiziert, die in Deutschland stattgefunden haben. Berücksichtigt wurden alle terroristisch motivierten Anschläge, die sich zwischen 2001 und 2016 ereigneten und bei denen es mindestens einen Verletzten oder ein Todesopfer gab. Die identifizierten Anschläge wurden von insgesamt 15 Personen verübt. Neben Arid Uka und Safia S. waren noch Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe einschlägig. Da die strafrechtliche Aufarbeitung der Taten der drei letztgenannten noch nicht abgeschlossen ist, wurden sie im vorliegenden Kontext (vorerst) nicht berücksichtigt. Dagegen sind die Daten der übrigen zehn Personen, die im Folgenden näher beschrieben werden, in die Betrachtung eingegangen. Am Morgen des 17. September 2015 löste der als Gefährder bekannte Rafik Mohammed Yousef seine elektronische Fußfessel und bedrohte mit

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Digitalisierung — Analyse

11  Lebenslang für Flughafen-­ Attentäter, in: OP-Online, 10.02.2012, URL: https://www. op-online.de/region/frankfurt/ lebenslang-flughafen-attentaeter-arid-uka-1596354.html [eingesehen am 08.07.2018]. 12  Die Daten wurde im Rahmen des Projektes »Policy recommendation and improved communication tools for law enforcement and security agencies preventing violent radicalisation« (Pericles) erhoben, das seitens der Europäischen Kommission gefördert wurde (grant agreement 740773).

einem Messer bewaffnet mehrere Passanten. Yousef war 2008 wegen der Mitgliedschaft in einer ausländischen ter13  Andreas Gandzior u. a., Polizeieinsatz. Um 8.52 Uhr löste Rafik Y. seine Fußfessel, in: Berliner Morgenpost, 18.09.2015, URL: https://www.morgenpost. de/berlin/article205744349/ Um-8-52-Uhr-loeste-Rafik-Yseine-Fussfessel.html [eingesehen am 04.07.2018].; START. 14  Gerhard Piper, Berlin: Dschihadist durch Polizei erschossen, in: Heise Medien, 17.09.2015, URL: https://www.heise.de/tp/ features/Berlin-Dschihadistdurch-Polizei-­erschossen-3375511. html [eingesehen am 08.07.2018]. 15  Erschossener Islamist. Hinweise auf psychische Störung des Täters, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.09.2015, URL: http://www.faz.net/aktuell/ politik/inland/islamist-rafik-yaus-berlin-wies-psychischestoerung-auf-13810309-p2.html [eingesehen am 13.06.2018]. 16  Messerangriff auf Kölner OB-Kandidatin. 14 Jahre Haft für Reker-Attentäter, in: Spiegel Online, 01.07.2016, URL: http:// www.spiegel.de/panorama/justiz/ attentat-auf-henriette-reker-angeklagter-frank-s-zu-14-jahren-haftverurteilt-a-1100893.html [eingesehen am 04.07.2018].; START.

roristischen Vereinigung und wegen der Beteiligung an einem Mordversuch zu acht Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden. Als er im Rahmen seines Amoklaufs im September 2015 eine Polizistin lebensbedrohlich verletz­te, wurde er von ihrem Kollegen erschossen.13 Yousef hatte unter der Herrschaft von Saddam Hussein in einem irakischen Gefängnis eingesessen.14 Sein Anwalt in Deutschland sprach von einer »psychologischen Grauzone«, in der sich Rafik Mohammed Yousef bewegt haben soll. Ein psychiatrisches Gutachten kam jedoch zu dem Schluss, dass keine »erhebliche« Störung vorlag.15 Nur einen Monat später, am 17. Oktober 2015, griff Frank S. die heutige Kölner Oberbürgermeisterin Henriette Reker an. Vor ihrer Kandidatur war sie als Sozialdezernentin für die Unterbringung von Flüchtlingen in Köln zuständig gewesen. Bei seinem Angriff verletzte er neben Henriette Reker noch vier weitere Menschen.16 Vor seiner Tat war Frank S.

17  Florian Flade, Frank S. – »Optisch eher der Typ Psychobilly«, in: WELT, 20.10.2015, URL: https://www.welt.de/ politik/deutschland/article147798264/Frank-S-Optischeher-der-Typ-Psychobilly.html [eingesehen am 09.05.2018]. 18  Wiebke Ramm, Gutachter über Reker-Attentäter. Er wusste, was er tat, in: Spiegel Online, 15.06.2016, URL: http://www. spiegel.de/panorama/justiz/ reker-attentaeter-laut-gutachter-­ voll-schuldfaehig-a-1097771.html [eingesehen am 11.06.2018].

häufiger in Internetforen durch extre­ mistische Kommentare aufgefallen.17 Ein vom Gericht beantragtes psychiatrisches Gutachten attestierte Frank S. eine paranoid-narzisstische Persönlichkeitsstörung.18 Aus einem ausländerfeindlichen Motiv zündete Christian B. am 7. Dezember 2015 eine Flüchtlingsunterkunft in Altenburg an. Dabei verletzte er mindestens zehn Flüchtlinge und verursachte einen

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Schaden von mehr als 18.000 Euro.19 Anzeichen für eine psychische Erkrankung liegen (zumindest über öffentlich zugängliche Quellen) bisher nicht vor. Die Jugendlichen Yusuf T. und Mohammed B. haben am 16. April 2016 einen Bombenanschlag auf einen Sikh-Tempel in Essen verübt. Durch die Detonation wurden mindestens drei Personen verletzt.20 Mit anderen Jugendlichen tauschten sie in einer WhatsApp-Gruppe mit dem Namen »Anhänger des Islamischen Kalifats« Überlegungen zu dem Bombenanschlag aus, die mit der Zeit immer konkreter wurden. Auch außerhalb der Whats­ App-Gruppe fielen die beiden Jugendlichen durch Gewalttaten auf.21 Mohammed B. nannte sich bei Facebook bereits

19 

START.

20  START. 21  Reiner Burger, Anschlag auf Sikh-Tempel. Jetzt stehen die Dschihadisten vor Gericht, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.12.2016, URL: http:// www.faz.net/aktuell/politik/ kampf-gegen-den-terror/prozessbeginn-um-terror-anschlag-aufsikh-tempel-in-essen-14562221. html [eingesehen am 03.05.2018].; Stefan Wette, Anschlag auf Sikh-Tempel. Dschihad mit Bomben und Tränen, in: Berliner Morgenpost, 22.07.2016, URL: https://www.morgenpost.de/ vermischtes/article207927411/ Anschlag-auf-Sikh-Tempel-Dschihad-mit-Bomben-und-Traenen. html [eingesehen am 10.06.2018].

im August 2015 »Kuffr Killer« – Mörder der Ungläubigen.22 Yusuf T. betrieb lange Zeit eine eigene Facebook-Seite, auf der er religiöse Erläuterungen veröffentlicht hat. Ihr folgten einige tausend Menschen.23 Von Yusuf T. ist bekannt, dass er unter einer Aufmerksamkeitsdefizitstörung leidet.24 Knapp einen Monat später, am 10. Mai 2016, tötete der psychisch kranke Paul H. einen Menschen und verletzte drei weitere Personen am Bahnhof in Grafing.25

23  Kersten Knipp, Salafistische Verführung bis zum Anschlag, in: Deutsche Welle, 07.12.2016, URL: https://www.dw.com/de/ salafistische-verf%C3 %BChrungbis-zum-anschlag/a-36684515 [eingesehen am 05.07.2018].

Während der Tat machte er Äußerun-

24  Burger.

gen, die auf eine politisch motivierte Tat

25  START.

mit islamistischem Hintergrund schließen lassen.26 Ein psychiatrisches Gutachten attestierte ihm eine bipolare affektive Störung, die bei ihm eine Art Verfolgungswahn auslöste. Aufgrund dessen wurde er als vollumfänglich

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22  Gerd Niewerth, Der Weg der Tempelbomber vom Kinderzimmer in den Dschihad, in: WAZ, 11.06.2016, URL: https://www.waz. de/staedte/essen/der-weg-dertempelbomber-vom-kinderzimmer-in-den-dschihad-id11906386. html [eingesehen am 05.07.2018].

26  Das vermutet die Polizei hinter der Messerattacke von Grafing, in: Stern, 10.05.2016, URL: https://www.stern.de/panorama/ stern-crime/messerattacke-in-grafing--das-steckt-wirklich-hinterden-allahu-akbar-rufen-6843080. html [eingesehen am 08.07.2018].

schuldun­fähig eingestuft und in eine 27  Korbinian Eisenberger, ­Psychiater: Messerstecher von Grafing ist schuldunfähig, in: Süddeutsche Zeitung, 16.08.2017, URL: http://www.sueddeutsche. de/muenchen/prozess-psychiatermesserstecher-von-grafingist-schuldun­faehig-1.3629893 [eingesehen am 07.06.2018].

verletzte er fünf Personen.28 Über einen

28  START.

Messenger-Dienst erhielt er vor seiner

geschlossene Psychiatrie eingewiesen.27 Mit einer Axt und einem Messer bewaffnet griff Riaz Khan Ahmadzai am 18. Juli 2016 Passagiere eines Zuges nahe Würzburg an. Bei seiner Tat

Tat Instruktionen eines mutmaßlichen 29  Michael Czygan, IS-Anweisungen an Würzburg-Attentäter: »Mach es mit der Axt!«, in: Augsburger Allgemeine, 16.09.2016, URL: https://www.augsburger-allgemeine.de/bayern/IS-Anweisungen-an-Wuerzburg-AttentaeterMach-es-mit-der-Axt-id39088002. html [eingesehen am 02.05.2018]. 30  Helmar Büchel u. a., Ein neues Deutschland, in: WELT, 04.09.2016, URL: https://www.welt.de/print/wams/ article157946272/Ein-neuesDeutschland.html [eingesehen am 02.05.2018]. 31  START. 32  Frank Jansen, Deutschland sucht nach den Motiven, in: Tagesspiegel Online, 28.07.2016, URL: https://www.tagesspiegel.de/ politik/wuerzburg-muenchenreutlingen-ansbach-deutschlandsucht-nach-den-motiven/13942412. html [eingesehen am 02.05.2018].

IS-Hintermanns.29 Riaz Khan Ahmadzai, der als Flüchtling bei einer Pflegefamilie bei Würzburg lebte, hatte vor seiner Tat ein Bekennervideo aufgenommen, das die Terrormiliz IS am Tag nach dem Attentat im Internet verbreitete.30 Am 22. Juli 2016 tötete David Ali Sonboly bei seinem Amoklauf in München neun Personen und sich selbst. Zudem verletzte er 27 weitere Menschen.31 Über Facebook hatte er vor seiner Tat versucht, junge Menschen zu der McDonald’s-­ Filiale des Einkaufszentrums zu locken.32 Im Jahr 2015 war David Ali Sonboly zwei Monate in einem Klinikum psychiatrisch behandelt worden. Ihm wurden eine posttraumatische Belastungsstörung, depressive Episoden und eine soziale Phobie attestiert. Bis wenige

33  Amokläufer Ali David S. Das steht in seiner Krankenakte, in: TZ, 22.08.2016, URL: https:// www.tz.de/muenchen/stadt/ muenchen-amoklaeufer-ali-david-s-steht-seiner-krankenakte-6680363.html [eingesehen am 06.07.2018].; Blutbad in München. Täter Ali David S. war letztes Jahr zwei Monate in der Psychiatrie, in: BZ, 24.07.2016, URL: https:// www.bz-berlin.de/deutschland/ taeter-ali-david-s-war-letztes-jahrzwei-monate-in-der-psychiatrie [eingesehen am 06.07.2018]. 34  START.

Wochen vor seiner Tat wurde er zudem psychologisch behandelt.33 Mohammad Daleel verübte am 24. Juli 2016 einen Bombenanschlag in der Nähe eines Musikfestivals in Ansbach. Dabei verletzte er mindestens 15 Personen und tötete sich selbst.34 Ähnlich wie Riaz Khan Ahmadzai, stand auch Daleel unmittelbar vor seiner Tat mit Hintermännern des IS in Kontakt. Von diesen erhielt er Anweisungen für

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seine Tat.35 Mohammad Daleel war bis Anfang 2016 aufgrund einer posttraumatischen Belastungsstörung und damit einhergehenden Depressionen in Therapie. Aufgrund seiner Vergangenheit soll er schwer traumatisiert gewesen sein.36 Am 19. Dezember 2016 tötete Anis Amri zunächst einen LKW-Fahrer, um kurze Zeit später in eine Menschenmenge auf dem Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz in Berlin zu fahren. Dadurch wurden zwölf Menschen getötet und 48 Menschen verletzt. Nach seiner Tat floh Anis Amri, bevor er einige Tage später in Italien von einem Polizisten erschossen wurde.37 Ermittlungen ergaben, dass er bereits im Jahr 2015 über das Chat-Programm Telegram mit mutmaßlichen IS-Mitgliedern in Libyen in Kontakt gestanden hatte. In diesem Chat soll er sich für einen Selbstmordanschlag angeboten haben.38 Zudem hatte er kurz vor seiner Tat eine Sprachnachricht an einen IS-Hintermann im Ausland versendet, in welcher er diesen aufforderte, für ihn zu beten.39 Belastbare Informationen über psychische Störungen bei Anis Amri liegen bisher nicht vor. In der Gesamtbetrachtung zeigt sich, dass die Personen, die zwischen 2001 und 2016 einen terroristisch motivierten Anschlag in Deutschland begangen haben, deutlich häufiger von psychischen Störungen betroffen sind als die bisherige Forschung vermuten lässt. Es zeigen sich Depressionen, paranoid-­ narzisstische Persönlichkeitsstörungen, bipolare affektive Störungen, posttraumatische Belastungsstörungen oder

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35  Jörg Diehl u. ­Christoph Sydow, Attentäter von ­Ansbach. Die zwei Legenden des Mohammad Daleel, in: Spiegel Online, 27.07.2016, URL: http://www. spiegel.de/politik/deutschland/ ansbach-anschlag-die-zwei-­ legenden-des-mohammeddaleel-a-1104984.html [eingesehen am 02.05.2018]. 36  Johannes Edelhoff u. a., Terrorist von Ansbach: IS-Kämpfer oder Psychowrack?, in: Nord-deutscher Rundfunk, 27.07.2016, URL: https://daserste.ndr.de/panorama/ archiv/2016/Terrorist-von-Ansbach-IS-Kaempfer-oder-Psychowrack,selbstmordanschlag100.html [eingesehen am 24.05.2018]. 37  START. 38  Maria Fiedler u. Frank Jansen, Anschlag vom Breitscheidplatz. Die offenen Fragen im Fall Anis Amri, in: Der Tagesspiegel, 19.12.2017, URL: https://www. tagesspiegel.de/politik/anschlagvom-breitscheidplatz-die-offenenfragen-im-fall-anis-amri/20740028. html [eingesehen am 02.05.2018]. 39  Sabine am Orde u. Konrad Litschko, Amri-Untersuchungsausschuss startet. Viele Rätsel um Anis Amri, in: TAZ, 01.03.2018, URL: http://www.taz.de/!5485596/ [eingesehen am 02.05.2018].

andere psychologische Krankheitsbilder bei mehr als der Hälfte der hier einschlägigen Täter. Der ursprünglich von Sageman entwickelte Befund, terroristische Attentäter seien »im Hinblick auf psychische Erkrankungen überraschenderweise«40 wenig auffallend, ist daher fraglich. In jedem Fall erscheint die unreflektierte Wiederholung der Aussage Sagemans von 2004 nicht angemessen. Richtig ist hingegen, dass das Internet, genauer gesagt, die Kommunikationskanäle, die das Internet bietet, bei den beschriebenen Fällen in Erscheinung getreten sind. Inwieweit diese Kommunikationskanäle und die dort vorhandene extremistische Propaganda die Entstehung eines gewaltbereiten Extremismus begünstigen können, bleibt durch die Aufarbeitung der einschlägigen Fälle jedoch ungeklärt. BEFUNDE EINES BIOGRAFISCH-NARRATIVEN INTERVIEWS In Anlehnung an den Ansatz von Howard Becker41 gehen wir davon aus, dass für das Verständnis von Radikalisierungsdynamiken nicht nur die Analyse der Biografien von Personen nötig und hilfreich ist, die über Attentate einschlägig in Erscheinung getreten sind, die also bis zum Äußersten gegangen sind, sondern dass gerade auch eine Analyse biografischer Prozesse und Kontexte aufschlussreich sein kann, durch die Personen in Berührung mit extremistischen Positionen und Gruppierungen kommen, ohne dass es zu einer biografischen Schließung in Richtung einer Radikalisierung kommt. Um der Frage nach biografischen Prozessen und Kontexten der Annäherung an bzw. der Abwendung von religiös bzw. politisch-weltanschaulich ­extremistischen Positionen und Szenen nachzugehen, können wir auf Material einer Studie zurückgreifen, das im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung geförderten Verbundprojektes »Radikalisierung im digitalen Zeitalter« (RadigZ) erhoben wurde. Bislang wurden dabei elf biografisch-narrative Interviews und eine Gruppendiskussion mit streng gläubigen, praktizierenden Musliminnen und Muslimen geführt. Das Sample besteht bislang aus zehn Frauen und zwei Männern im Alter zwischen 40  Marc Sageman, Understanding Terror Networks, Philadelphia 2004.; Stefan Goertz, Was formt »den« islamistischen Terroristen? Eine Untersuchung im europäischen home­grownSpektrum, in: Kriminalistik, Jg. 71 (2017), H.4, S. 219–225. 41  Howard S. Becker, Outsiders. Studies in Sociology of Deviance, New York 1963.

16 und 33 Jahren, von denen sechs zum Islam konvertiert sind. Sie wurden alle nach dem Prinzip minimaler und maximaler Kontrastierung über Social-­ Media-Dienste rekrutiert. Den Ausgangspunkt und Aufhänger dieser Interviews bildete die Frage, welche alltagsweltlichen Erfahrungen junge Musliminnen und Muslime in Deutschland – auch angesichts eines ausgeprägten medialen Diskurses um die Rolle und Stellung des Islam in Deutschland – machen und welche Bedeutung das Internet für ihre Religiosität spielt. Die Einzelgespräche wurden

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bewusst offen als klassische biografisch-narrative Interviews42 angelegt und entsprechend mit einem auf die Erzählung der gesamten Lebensgeschichte abstellenden Eingangsstimulus eröffnet. Ein Framing auf bestimmte thematische Aspekte sollte auf diese Weise vermieden und den Befragten möglichst viel Raum für ihre eigenen Relevanzsetzungen gegeben werden. In den erhobenen Interviews zeigten sich bei sechs Befragten in den biografischen Erzählungen unterschiedliche Berührungspunkte mit salafistischen Positionen und Szenen. Die folgenden Auswertungen sind als ein Einblick in den work in progress zu verstehen und stellen exemplarisch an dem Fall Line43 ein erstes sich abzeichnendes Muster vor. BIOGRAFISCHE SKIZZE – LINE Line wird Ende der 1990er Jahre als erste von drei Schwestern in einer norddeutschen Großstadt als Kind türkischer Einwanderer geboren. Sie wächst in einem Dorf in der nahen Umgebung auf. Beide Eltern sind praktizierende Muslime. Der Vater engagiert sich in der Gemeinde vor Ort, die Mutter intensiviert ihre religiöse Praxis im Erwachsenenalter, beginnt etwa Kopftuch zu tragen und gibt ihren Beruf als Friseurin schließlich aus religiösen Gründen auf. Line wird regulär eingeschult und wechselt mit der fünften Klasse auf das Gymnasium. Dort ist sie eine von wenigen Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund und wird aufgrund ihrer Herkunft und ihres Glaubens gemobbt. Mit 14 Jahren äußert Line den Wunsch, Kopftuch zu tragen, wovon ihr die Mutter allerdings aus Angst vor weiteren Diskriminierungen massiv abrät. Aus kulturellen bzw. religiösen Gründen verzichtet Line auf Alkoholkonsum, Partys und Partnerschaften. Sie fastet am Ramadan und verzichtet auf Schweinefleisch. An ihrer Schule hat Line nur wenige Freundinnen, mit welchen sie kaum gemeinsame private Interessen teilt. Stattdessen freundet sie sich mit anderen muslimischen Mädchen von einer benachbarten Schule an. Dadurch ist ihr Leben vermehrt durch außerschulische Aktivitäten und Freundschaften geprägt. In der Oberstufe beginnt Line fünfmal täglich zu beten. Am Tag ihres Abi-Balls trägt Line zum ersten Mal ein Kopftuch in der Öffentlichkeit. Im Sommer zwischen dem Abitur und dem Beginn ihres Studiums beschäftigt sich Line vermehrt mit dem Islam. Antworten auf ihre Fragen sucht sie dabei vor allem im Internet, wo sie mit salafistischen Gruppierungen in Berührung kommt und dabei auch verschiedenen Whatsapp-Gruppen beitritt, deren Mitglieder mit dem IS sympathisieren. Line wendet sich nach etwa zwei bis drei Monaten wieder von diesen Gruppierungen ab.

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42  Fritz Schütze, Biografieforschung und narratives Interview, in: Neue Praxis. Zeitschrift für Sozialarbeit, Sozialpädagogik und Sozialpolitik, Jg. 13 (1983), H. 3, S. 283–293.; Ivonne Küsters, Narrative Interviews. Grundlagen und Anwendungen, Wiesbaden 2009. 43  Alle personenbezogene Daten wurden aus Datenschutzgründen maskiert.

Nach dem Abitur will Line zunächst Innenarchitektur studieren. Als sie von dem Studiengang Islamische Theologie erfährt, bewirbt sie sich spontan und erhält in einer nahegelegenen Großstadt einen Studienplatz. Einige Wochen später beginnt sie Khimar zu tragen. Line wird am Studienort schnell Teil der muslimischen Community. Im Studium lernt sie auch ihren jetzigen Ehemann Sören, einen Konvertiten, kennen. Line beginnt sich – gemeinsam mit ihrem Mann – vor Ort aber auch über Social-Media-Dienste für muslimische Interessen und gegen problematische Islamauslegungen zu engagieren. Zum Interviewzeitpunkt ist Line 21 Jahre alt und steht kurz vor dem Abschluss ihres Bachelor-Studiums. Der Islam, so zeigt sich in dieser knappen Zusammenschau der biografischen Daten bereits sehr deutlich, nimmt in Lines Leben eine sehr bedeutende Stellung ein. Ihre eigene religiöse Praxis scheint zunächst sehr eng mit der in der Familie gelebten Religiosität verknüpft. Die Mutter erscheint als religiöses Vorbild bzw. als signifikanter Ratgeber. Gegen Ende der Schulzeit deutet sich eine gewisse Emanzipation von der familiär gelebten Religiosität an. Das symbolische öffentliche Bekenntnis zum Islam über das Anlegen des Kopftuches zum herausgehobenen Anlass des Abi-Balls und die Auseinandersetzung mit dem Islam außerhalb der Familie können so gelesen werden. Im Kontext dieses Versuchs der eigenständigen, emanzipatorischen Aneignung des Islams kommt Line mit salafistischen Angeboten in Berührung. Die nachstehende Sequenz ist der Eingangserzählung des biografischen Interviews mit Line entnommen und thematisiert diese biografische Phase und gibt dabei zugleich Aufschluss darüber, warum es in Lines Fall bei einer kurzen salafistischen Episode geblieben ist: »[…] ich hab, als ich in dieser Zeit eh zwischen Abi und Studium, wo ich angefangen hab religiös zu werden, das machen sehr viele Jugendliche, einfach im Internet gegoogelt, (I: Hmhm) das ist ja voll Standard. Und ehm dann hat man auch so Whatsapp-Gruppen mit so neu Konvertiten und so weiter und so fort und das Problem beim Internet ist einfach, dass man sehr schnell radikal werden kann, weil im Internet sehr viele Sekten eh präsent sind. Ehm nicht nur Salafismus, sondern auch ganz viele andere Sekten. Also wirklich das Internet ist voll damit. (I: Hmhm) Und ein 08/15-Muslim kann das nicht unterscheiden, weil alle hören sich richtig an, alle haben gute Argumente und du denkst dir so, okay wer hat jetzt Recht und jeder entscheidet sich immer für irgendjemanden, (I: Hmhm) es gibt, ich kenne ganz viele, die dann … durch das Internet da reingekommen sind oder da rein und so weiter. Im Internet gibt es einfach die … von A bis Z alles (I: Hmhm) und man weiß halt nicht, okay welches ist jetzt das Dominic Kudlacek / Nadine Jukschat / Leonie Rook  —  Zur Entstehung von gewaltbereitem E­ xtremismus

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klassische normale und da gibt’s halt ganz viele Sekten und viele können das gar nicht unterscheiden, die denken so, ja das ist doch richtig, das hört sich doch logisch an. Und ehm ich bin dann auch so leicht in diese Salafismus-Schiene reingerutscht ehm aber dadurch dass ich halt eine Grundlage von meinen Eltern hatte und auch ehm, das finde ich halt auch da da finde ich das dann auch ganz gut, dass die Moschee-Verbände diesen diese Koranunterrichte und so weiter für Jüngere, für kleine Kinder und so, anbieten, weil ich hatte dadurch sozusagen eine Grundlage, eine normale Grundlage, (I: Hmhm) die ich schon so mit acht und so gelernt habe, (I: Hmhm) […]« Angesichts ihrer religiösen familialen Sozialisation und der bis dato bereits gelebten religiösen Praxis ist zunächst bemerkenswert, dass Line die Zeit zwischen Abitur (und damit dem Moment, ab dem sie Kopftuch trägt) und Studium als den Beginn ihrer Religiosität markiert. Sie disqualifiziert hierdurch ihre bisherige religiöse Praxis als in gewisser Weise unvollständig, beschreibt aber gleichzeitig auch die neue eigene Religiosität als etwas Prozesshaftes und als ein bis in die Gegenwart möglicherweise unabgeschlossenes Unterfangen. Liest man Lines religiöse Suchbewegung als Suche nach einer eigenständigen Islamaneignung, so ist es nicht überraschend, dass Line sich mit ihren religiösen Fragen in dieser Phase gerade nicht an ihre Eltern wendet. Warum aber auch andere religiöse Autoritäten (etwa die örtliche Moschee) nicht in den Blick kommen, wird nicht expliziert. Indirekt gibt Line hierauf eine Antwort, indem sie das Internet als ein für ihre Generation typisches Informations­ medium thematisiert. Hier deutet sich bereits an, dass Lines Auseinandersetzung mit dem Islam in dieser Lebensphase vor allem auf Wissensfragen abzielt und nicht etwa auf eine religiöse Gemeinschaft oder Spiritualität – beim Googeln geht es in der Regel vor allem um Informationen. Auffällig ist, dass Line im weiteren Fortgang der Sequenz von der persönlichen Erzählung zu einer generalisierenden Darstellung der Gefahren des Internets übergeht und sich damit in die Rolle der Expertin begibt, aus der sie erst am Ende der Sequenz wieder zurück in die persönliche Erzählung wechselt. Line liefert eine Art Radikalisierungstheorie: Sie diagnostiziert eine Omnipräsenz problematischer Islamangebote im Internet, die gerade für nach Orientierung suchende religiöse Laien eine große Gefahr darstellen. Der Einzelne erscheint in dieser Deutung tendenziell ohnmächtig, jedenfalls nicht unbedingt in der Verantwortung, denn die Frage, welche Islamangebote im Internet vertrauenswürdig sind, verlangt bereits eine Art Expertenwissen, über welches Novizen (Konvertiten etwa) genauso wenig verfügen wie traditionelle »08/15«-Muslime.

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In ihrer eigenen Geschichte sieht Line diese Theorie auf doppelte Weise bestätigt. Zum einen, weil sie selbst genau über diese Onlineangebote »so leicht in diese Salafismus-Schiene reingerutscht« ist; zum anderen aber auch dadurch, dass sie durch ihre familiäre religiöse Sozialisation und eine religiöse Grundausbildung über den Koranunterricht in der örtlichen Moschee dennoch immunisiert war gegenüber den salafistischen Angeboten. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang, dass Line die problematischen Islamangebote als durchaus »logisch« und plausibel charakterisiert. Wenn Line ein paar Zeilen später noch etwas detaillierter ihre Irritationen angesichts der Sympathie­bekundungen für den IS in ihren WhatsApp-Gruppen beschreibt, wird deutlich, dass es nicht unbedingt ihr im engeren Sinne religiöses Wissen war, das sie davon abgehalten hat, tiefer in die salafistische Szene einzutauchen: »[…] Und dann ehm kamen halt die ganzen Argumente in den Whatsapp-Gruppen, warum das richtig ist und warum die toll sind, (I: Ja) warum man denen folgen soll und so weiter. Und dann auch so richtig schreckliche Videos teilweise … und ich dachte mir so, irgendwas stimmt da nicht, das kann nicht sein, weil die argumentieren so, dass du dir denkst, okay, das hört sich logisch an, aber ich hab mir gedacht, irgendwas kann nicht stimmen, weil … wenn das wirklich der Islam wäre, und meine Eltern sind so religiös, warum machen die das dann nicht, (I: Ja) dann wären die doch die ersten, die dahin gehen würden, irgendwas ist da faul, warum war das nicht vorher so, warum sind nicht alle Muslime so, das das verstehe ich nicht. […]« Line stellt hier dem einer scheinbar rationalen und logischen Argumentation folgenden, gewaltbefürwortenden Sekten-Islam einen eher gefühlsbasierten, weniger greifbaren, intuitiven Islam gegenüber (»irgendwas kann nicht stimmen«, »irgendwas ist da faul«). Es wird deutlich, dass Line durch ihre tieferliegende religiöse Sozialisation über die Familie den Islam auf eine Weise kennengelernt hat, der mit den Islamauslegungen der IS-Sympathisanten nicht in Übereinstimmung zu bringen ist und dass dieses familiär ansozialisierte Islamverständnis – auch durch Lines enge, vertrauensvolle Beziehung zu ihren Eltern – stärker wiegt und die Familie ihre Orientierungsfunktion behält. Mit dem Studium der Islamischen Theologie kanalisiert Line ihre religiösen Emanzipationsbewegungen schließlich auf eine Weise, die die elterliche Laienreligiosität übertrifft, deren Islamverständnis in der Grundhaltung aber tendenziell fortführt.

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FAZIT UND AUSBLICK Das am Fall von Line herausgearbeitete »Verführungspotenzial« von nach Orientierung suchenden religiösen Laien durch omnipräsente salafistische Angebote im Internet ist auch ein Thema in den anderen Fällen des Samples. Im Ergebnis zeigt sich, dass die Entstehung gewaltbereiten Extremismus durch die Vulnerabilität des Individuums und nicht durch die bloße Verbreitung extremistischer Propaganda begründet wird. Die Personen, die zwischen 2001 und 2016 einen terroristisch motivierten Anschlag in Deutschland begangen haben, waren deutlich häufiger von psychischen Störungen wie Depressionen, paranoid-narzisstische Persönlichkeitsstörungen, bipolaren affektiven Störungen und posttraumatische Belastungsstörungen betroffen, als es die bisherige Forschung zu diesem Thema dies hätte vermuten lassen. Freilich: Auch wenn sich das Vorliegen psychischer Erkrankungen für die Entstehung von gewaltbereitem Extremismus als entscheidender Belastungsfaktor darstellt, kann im Umkehrschluss nicht gefolgert werden, dass psychische Erkrankungen per se Radikalisierungsprozesse begründen würden. Zudem ist evident, dass junge Menschen, die sich auf Sinnsuche befinden, schnell im Internet mit extremistischen und gewaltbefürwortenden Ideologien in Kontakt kommen können. Für die Frage, unter welchen biografischen Konstellationen und Bedingungen diese Kontakte in Verbindung mit weiteren Vulnerabilitätsfaktoren Radikalisierungsprozesse begünstigen bzw. was gegen eine solche Entwicklung immunisieren kann, erscheinen weitere kontrastierende Analysen von Biografien vielversprechend, bei denen biografischen Berührungspunkte mit extremistischen Positionen und Gruppierungen vorhanden waren, ohne dass es zu einer biografischen Schließung in Richtung einer Radikalisierung gekommen ist.

Dr. Dominic Kudlacek ist Sozialwissenschaftler und Kriminologe. Seit Ende 2016 ist er stellvertretender Direktor des Kriminologischen ­Forschungsinstitutes Niedersachsen. Gegenwärtig forscht er zu Hass­ kriminalität, Radikalisierung und gesellschaftlicher Polarisierung.

Dr. Nadine Jukschat ist Kultursoziologin und wissenschaftliche Mit­ arbeiterin am Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen.

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Digitalisierung — Analyse

LEHREN UND LERNEN MIT DIGITALEN MEDIEN HERAUSFORDERUNGEN UND CHANCEN ΞΞ Bardo Herzig / Alexander Martin

Die individuelle und die gemeinschaftliche (Weiter-)Entwicklung von Menschen ist neben Reifungs- vor allem mit Lernprozessen verbunden. Diese lassen sich verstehen als eine Form der aktiven Auseinandersetzung mit der Umwelt, durch die wir auf der Basis unserer bisherigen Erlebnisse und Einsichten neue Erfahrungen sammeln und dabei kognitive Strukturen aufbauen und ausdifferenzieren, d. h. Wissen erwerben, Werthaltungen ausbilden, Kompetenzen entwickeln. Solche Lernprozesse sind mit der Aktivierung, Befriedigung oder Frustration von Bedürfnissen und mit Emotionen verbunden. Die Art und Weise, wie wir mit unserer Umwelt interagieren, ist immer an eine bestimme Form gebunden – wir kommunizieren mit Menschen, lesen ein Buch, beobachten Abläufe in der Natur, sehen uns einen Film über ein unbekanntes Land an usw. Weil diese Erfahrungsformen in gewisser Weise einen vermittelnden Charakter haben, werden sie mitunter schon selbst als Medien bezeichnet. Aus verschiedenen Gründen hat es sich als zweckmäßig erwiesen, den wissenschaftlichen Medienbegriff jedoch nicht auf alle Erfahrungsformen zu beziehen, sondern ihn auf die technisch vermittelten einzugrenzen. In einem solchen Verständnis sind Medien dann Mittler, die in kommunikativen Zusammenhängen Zeichen mit technischer Unterstützung aufnehmen oder erzeugen, übertragen, speichern, wiedergeben und verarbeiten. Dies bedeutet, dass wir über Medien mit Sachverhalten, Ideen oder Gegenständen in Beziehung treten, die jeweils in Zeichen (z. B. Buchstaben bzw. Wörter oder Bilder) codiert sind. Mit Bezug auf ihre Formgebung können die medienbezogenen Erfahrungen dann als abbildhafte und symbolische Erfahrungen beschrieben werden. Über diese – nicht realen – Erfahrungen erwerben wir einen beträchtlichen Teil unseres Weltwissens. Damit kommt den Medien ein besonderer Stellenwert zu, denn sie nehmen direkt oder indirekt Einfluss darauf, welche Vorstellungen wir entwickeln, ob diese realitätsangemessen sind und mit gemeinsam geteilten Wertvorstellungen übereinstimmen. Nicht zuletzt beeinflussen sie auch unsere Emotionen und Bedürfnisse sowie unser Handeln.

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Mit dem Hinweis auf die technische Bedingtheit von Medien ist angedeutet, dass die Medienangebote sich mit der technologischen Entwicklung verändern – und damit auch unser Erfahrungsraum und die Möglichkeiten des Lernens sowie die damit verbundenen Anforderungen. MERKMALE DIGITALER MEDIEN UND EINER DIGITAL VERNETZTEN WELT Gegenwärtig werden medienbezogene Lernprozesse insbesondere durch die Relevanz und die Nutzung von digitalen Medien geprägt. Zwar gelten das skizzierte Medienverständnis ebenso wie die sämtliche gesellschaftliche Teilbereiche umfassende Bedeutsamkeit von Medien und medienbasierten Prozessen im Grundsatz auch für herkömmliche analoge Medien, dennoch weisen digitale Medien spezifische Merkmale und Funktionalitäten auf, erweitern sie doch bisherige Möglichkeiten und Muster der Mediennutzung bedeutend. Digitalisierung im engeren technischen Sinne bezeichnet die Überführung von analogen Erscheinungsformen (z. B. Gesang) in digitale Daten (z. B. elek­ tronische Audiodatei des aufgenommenen Gesangs), also elektronisch gespeicherte Zeichen, die in programmierbaren Computern technisch verarbeitet werden können. Wenn auch die grundlegenden technischen Möglichkeiten der Digitalisierung schon länger bestehen, so sind die kommerzielle Verbreitung und flächendeckende Verfügbarkeit und Nutzbarkeit des Internets die Treiber des gesellschaftlichen Umwälzungsprozesses, der aktuell oftmals mit dem Begriff der Digitalisierung bezeichnet wird. Mit mobilen Endgeräten – insbesondere Smartphones, die über umfangreiche Computerfunktionalitäten und eine Internetanbindung verfügen – sind wir heute zu jeder Zeit und an nahezu jedem Ort der Welt miteinander vernetzt und haben Zugriff auf eine enorme Menge von Medienangeboten. Benutzerfreundliche Interfaces erlauben uns einen relativ niederschwelligen Zugang zu medialen Erscheinungsformen der Digitalisierung. Die dahinterliegende komplexe Architektur ist für den Nutzer oftmals unsichtbar. Die Mediennutzung wird dabei weniger von der Hardware als vielmehr von der Software, den Programmen und Anwendungen (z. B. Apps auf dem Smartphone), bestimmt. Charakteristisch für digitale Geräte ist zudem, dass sie unterschiedliche Funktionen vieler anderer Medien vereinen (Medienkonvergenz) und vormals getrennte Medienformate kombinieren, wie etwa im Fall der internetbasierten Lektüre der Tageszeitung oder durch das Anschauen von Filmen und Fernsehsendungen auf einem Tablet oder Smartphone. Medienbezogene Entwicklungen sind freilich kein neues Phänomen. Auch die Tatsache, dass sie von kontroversen Diskussionen und Ambivalenzen

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Digitalisierung — Analyse

begleitet werden, ist nicht außergewöhnlich, dergleichen lässt sich vielmehr für nahezu jedes massenmediale Phänomen konstatieren. Die zeitliche und soziale Präsenz digitaler Medien in allen Bereichen des privaten und öffent­l ichen Lebens hat hingegen durchaus ein neues Ausmaß. Mediale Sekundärerfahrungen finden nicht nur dann statt, wenn reale Erfahrungen nicht möglich sind (z. B. ein virtueller Rundgang durch eine Raumstation), sondern zumeist auch im Vorfeld, parallel oder im Nachgang zu einer realen Gegebenheit. Digitale Medien beeinflussen somit die Wahrnehmung der Umwelt stärker als jedes andere Medium. Anders als bei vielen analogen Medien machen es die Werkzeugfunktionen digitaler Medien möglich, sich nicht nur als Rezipient, sondern auch als Datenproduzent zu betätigen. Dies macht es leicht, gewollt oder ungewollt falsche Informationen (fake news) zu verbreiten. Zudem lassen sich Informationen zunehmend personalisieren und auf persönliche Präferenzen zuschneiden (filter bubbles). Schließlich kann die Ansammlung großer Datenmengen genutzt werden, um das Verhalten der Internetnutzer zu steuern (big nudging). Mit der Nutzung vernetzter digitaler Medien werden Datenspuren erzeugt. Dies erfolgt zum Teil sehr bewusst, etwa wenn Kommentare verfasst oder Bilder und Videos ins Netz gestellt werden. Ein großer Teil der Daten entsteht aber auch weniger offensichtlich bei vielen Anwendungen, beispielsweise bei der Verwendung von Suchmaschinen und anderen Mensch-Maschine-­ Schnittstellen, die Menschen und Computer gewissermaßen zusammenwachsen lassen. Mit Hilfe dieser von Menschen erzeugten Datenmengen ließen sich in den letzten Jahren enorme Fortschritte im Bereich der künstlichen Intelligenz und Automatisierung erzielen. Im Vergleich zu früheren Arbeiten und Forschungen zur künstlichen Intelligenz können Computer heute auf enorm gestiegene Rechen- und Speicherkapazitäten und freiwillig abgegebene Nutzerdaten zurückgreifen. Es ist anzunehmen, dass intelligente Computersysteme den Menschen zukünftig vermehrt dort ersetzen oder erheblich unterstützen werden, wo es um Prozesse geht, die berechenbar sind. Auch wenn sich das zukünftige Ausmaß dieses digitalen Transformationsprozesses erst abzuzeichnen beginnt, ist bereits heute mit Sicherheit zu konstatieren, dass sich das öffentliche und private Leben, Denken und Handeln nachdrücklich verändern wird. LERNEN MIT UND ÜBER MEDIEN Für das Lernen haben diese Entwicklungen in der Medienlandschaft Konsequenzen in zwei Richtungen: Zum einen geht es um neue Erkenntnismöglichkeiten, neue Lernangebote und neue Lernformen (Lernen mit Medien). Bardo Herzig / Alexander Martin  —  Lehren und Lernen mit digitalen Medien

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Zum anderen werden die medialen Entwicklungen selbst Gegenstand von Lernprozessen (Lernen über Medien). In Bezug auf das Lernen mit Medien schaffen digitale Medien neue Erfahrungsmöglichkeiten, die sich in der Gestaltung entsprechender Lehr- und Lernsituationen niederschlagen. Orts-, zeit- und raumunabhängiges Lernen: Mit Hilfe digitaler Medien ist der rasche Zugriff auf Arbeitsmaterialien unabhängig vom Ort ihrer physikalischen Speicherung und unabhängig von der lokalen Repräsentanz der Lernenden möglich. Darüber hinaus wird der Zugriff zunehmend nicht mehr durch die Zugehörigkeit zu bestimmten Institutionen oder Organisationen oder durch zeitliche Restriktionen reguliert (open educational ressources). Schulische Anwendungen sind neben dem Internet insbesondere spezielle Lernplattformen (learning management systems). Multicodale und multimodale Lernangebote: Multimediale Angebote sind in verschiedenen Zeichensystemen codiert und sprechen unterschiedliche Sinnesmodalitäten an; die unterrichtlichen Angebote umfassen vielfältige mediale Darstellungsformen, z. B. Texte, Grafiken, Bilder, Tondokumente, Videofilme, Programme, Animationen, Simulationen. Adaptive Lernangebote: Digitale Medien sind in gewissen Graden anpassungsfähig an die Lernvoraussetzungen der Nutzenden. Dies geschieht zum einen durch die Möglichkeit, bedürfnis- und kenntnisorientiert eigene Lernwege festzulegen und Lernmaterialien auszuwählen, zum anderen durch systemgenerierte Hilfestellungen oder Materialien. In adaptiven Systemen kann dies dadurch erfolgen, dass in der jeweiligen Anwendung auf der Basis eines kurzen Tests Hilfestellungen gegeben werden, die im System als Reaktionen auf typische Fehler oder Lernschwierigkeiten hinterlegt sind. Durch die Auswertung großer Datenmengen über das Lernverhalten (learning analytics) können sogenannte intelligente tutorielle Systeme so gestaltet werden, dass sie individuelle Lernstände erfassen und adaptive Angebote konfigurieren. Symbolische Manipulation von Lernobjekten: Digitale Angebote ermöglichen die Bearbeitung und kreative Umgestaltung vorhandener Materialien als Manipulation symbolischer Objekte (z. B. Bild- und Tonbearbeitung, Präsentationsprogramme usw.) sowie die Exploration von symbolischen Interaktionsräumen und die Manipulation von darin befindlichen Objekten (z. B. im simulierten Umgang mit gefährlichen Stoffen in einem virtuellen Labor). Die verschiedenen Interaktions- und Steuerungsarten erlauben auch Erweiterungen, z. B. durch das Annotieren von Materialien oder durch das Einfügen zusätzlicher Materialien. Feedback zum Lernen: Manipulationen von symbolischen Strukturen, z. B. die Eingabe von Texten, das Ausfüllen von Formularen oder Ähnliches, führen zu

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Rückmeldungen des Systems, die den Lernenden Entscheidungshilfen für weitere Lernaktivitäten geben. Diese Möglichkeiten spielen unter anderem in adaptiven oder tutoriellen Systemen eine Rolle (s. o.), aber auch in einfachen Lernprogrammen, in denen auf bestimmte Aktionen eine unmittelbare Rückmeldung erfolgt (z. B. in einem einfachen Übungsprogramm oder in einem komplexen Planspiel beziehungsweise in einer Simulationsumgebung). Darüber hinaus kann in softwareunterstützen Prüfungen (e-assessment) oder computerbasierten Kompetenztests eine unmittelbare Rückmeldung zum Lernstand erfolgen. Kommunikation und Kooperation: Digitale Anwendungen bieten die Möglichkeit, z. B. über bestimmte Internet-Dienste, mit anderen in Verbindung zu treten, zu kommunizieren (z. B. E-Mail, Chat, Newsgroup, Blog, Wiki, ­Videokonferenz) oder kollaborativ an bestimmten Aufgaben zu arbeiten (z. B. über Lernplattformen). Hier bieten sich insbesondere Möglichkeiten, Lernorte miteinander zu verbinden, etwa durch die Verlagerung vorbereitender Lernaktivtäten in den außerschulischen Bereich (flipped classroom). Lernen mit angereicherten und immersiven Lernumgebungen: Mit Hilfe digitaler Medien lassen sich analoge Medien wie Schulbücher durch digitale Informationen und Lernangebote (z. B. kurze Videosequenzen, Animationen oder Texte als Originalquellen) anreichern, die über eine App auf einem Tablet oder Smartphone aufgerufen werden können (augmented reality). In immersive Lernumgebungen können Lernende durch die Nutzung von speziellen (Video-/Daten-)Brillen eintauchen (virtual reality). Beispiele solcher Anwendungen sind Laborexperimente oder digitale Lernspiele. Über Sensoren in digitalen Medien, die auf Mimik, Gestik oder Bewegung reagieren, lassen sich auch Lernprozesse realisieren, in denen kognitive Prozesse durch körperliche Bewegung angeregt und unterstützt werden (embodiment). Die mit den skizzierten Aspekten digitaler oder digital angereicherter Lehrund Lernsituationen verbundenen Möglichkeiten stellen gleichzeitig eine Herausforderung dar, wenn die an eine kompetente Nutzung solcher Möglichkeiten gestellten individuellen Anforderungen nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden können und damit zu Benachteiligungen in der Weltaneignung führen können. Insbesondere die Fülle von Angeboten und damit verbundener Informationen kann zur Überforderung des Einzelnen führen. Auf Seiten der Lehrenden setzt dies voraus, die Lernausgangslage der Lernenden auch hinsichtlich ihrer Vorerfahrungen und Fertigkeiten im Umgang mit digitalen Medien zu berücksichtigen und lernrelevante, lernförderliche und lernhemmende Eigenschaften von (digitalen) Medien zu identifizieren. Neben der funktionalen Verwendung von digitalen Medien als Lernangebot oder Lernhilfe wird ein elementares Verständnis der grundlegenden Bardo Herzig / Alexander Martin  —  Lehren und Lernen mit digitalen Medien

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Strukturen und Prozesse digitaler Medien zunehmend zur grundlegenden Bedingung aufgeklärter gesellschaftlicher Teilhabe und damit von Bildung. In der alltäglichen Nutzung treten wir über sogenannte Interfaces, z. B. die Bedienoberfläche einer App auf dem Smartphone, mit digitalen Medien in Verbindung. Neben den in dieser Nutzungssituation offensichtlichen Funktionen – etwa der Anzeige von Informationen als Ergebnis einer Anfrage an eine Suchmaschine – laufen im digitalen Medium als komplex vernetztem Informatiksystem weitere Prozesse ab, die dem Nutzenden häufig nicht bewusst sind und die, wenn überhaupt, nur indirekt zugänglich sind. Hierunter fällt beispielsweise die Auswertung von solchen Daten, die im Rahmen von Suchanfragen produziert werden und dann zu personalisierter Werbung oder zu spezifischen Angeboten von Informationen bei zukünftigen Suchanfragen oder im Kontext sozialer Netzwerke führen. Manipulierende Einflüsse auf die Meinungsbildung oder auf das Konsumverhalten sowie Rückwirkungen auf individuelle Versicherungstarife oder die Einstufung der Kreditwürdigkeit sind nur einige mögliche Folgen. Grundsätzlich stehen wir vor der Herausforderung, uns in einer Welt zu orientieren, deren technologische Entwicklungszyklen zum einen enorm kurz und zum anderen aus heutiger Sicht auch unbestimmt und nur schwer prognostizierbar sind. Dies betrifft insbesondere auch Fragen danach, welche Prozesse berechenbar und damit grundsätzlich von Maschinen ausführbar sind und wie nahe diese dem menschlichen Denken und Handeln kommen. Dies bedeutet, dass (schulische) Lernprozesse auch die Medienentwicklung selbst in den Blick nehmen müssen. Das Lernen über Medien, d. h. die bildende Auseinandersetzung mit Medien, erfolgt dabei möglichst umfassend und nimmt den Stellenwert und Einfluss aktueller Medienentwicklungen unter Berücksichtigung verschiedener Bereiche in den Blick. Hierzu zählen etwa die Medienlandschaft und ihre Angebotsstruktur, die Gestaltungsmöglichkeiten von Medien, die Erzeugung medialer Botschaften, die Medieneinflüsse auf Individuum und Gesellschaft sowie die Bedingungen der Medienproduktion und -verbreitung. ZIELVORSTELLUNGEN VON BILDUNG IN EINER DIGITAL VERNETZTEN WELT Das Ziel einer umfassenden Medienbildung – verstanden als zusammenfassender Begriff für alle bildungsrelevanten Prozesse mit Medienbezug, die auf die Vermittlung und den Erwerb von Medienkompetenz gerichtet sind – ist die Befähigung zur Mediennutzung und zum Medienhandeln im Einklang mit den Prinzipien einer freiheitlich demokratischen Grund- und Werte­ordnung.

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Dazu gehört auch ein ausgewogenes Verhältnis von individueller Autonomie und sozialer Interdependenz. Die Ausbildung einer gesellschaftlichen Handlungsfähigkeit in diesem Sinne gilt als allgemein anerkannte Zielvorstellung und ist vor dem Hintergrund der Ubiquität digitaler Medien mit spezifischen Anforderungen verbunden. Souveräne Teilhabe und Anschlussfähigkeit in einer digital vernetzten Welt werden insbesondere denen gelingen, welche die Strukturen und Prinzipien aktueller Medienphänomene und ihren gesellschaftlichen Stellenwert verstehen, den Einfluss von Medien auf das eigene Lernen (Fertigkeiten, Denken, Verhalten und Empfinden) einordnen und Medien gezielt für Lernprozesse nutzen können. Mehr als jedes andere Medienangebot nehmen digitale Medien aufgrund ihrer Eigenschaften und Omnipräsenz Einfluss auf Lernerfahrungen, verschränken formelle und informelle Lern- und Lebensorte und verquicken das Lernen mit und über Medien. Insbesondere mit Blick auf die auch in Zukunft anzunehmende hohe Dichte immer neuer Medienentwicklungen handelt es sich bei der Medienbildung um eine lebenslange Lern- und Entwicklungsaufgabe, zu der alle Sozialisationsinstanzen einen Beitrag leisten können und müssen. Neben konkreten Fertigkeiten und der Erprobung ­exemplarischer Einsatzszenarien ist gerade die Verinnerlichung der eigenen medienbezogenen Lernbedürftigkeit eine der zentralen Aufgaben einer zukunftsgewandten Medienbildung. Die Frage, wie gut es allen daran beteiligten Instanzen gelingt, Kinder und Jugendliche dabei zu unterstützen, wird maßgeblich über das Gleichund Ungleichgewicht der Gesellschaft von morgen entscheiden.

Prof. Dr. Bardo Herzig ist Professor für Allgemeine Didaktik und Schulpädagogik unter Berücksichtigung der Medienpädagogik und Direktor des Zentrums für Bildungsforschung und Lehrerbildung (PLAZ) der Universität Paderborn. Seine Arbeitsund Forschungsschwerpunkte liegen in der Medienbildung und informatischen Bildung, in der Kompetenzmodellierung und -messung sowie in der gestaltungsorientierten Bildungsforschung. Dr. Alexander Martin ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl von Prof. Dr. Bardo Herzig und in der Didaktik des Unterrichtsfaches Pädagogik. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der medienpädagogischen Forschung sowie der Gestaltung und Untersuchung von LehrerInnenfortbildungen.

Bardo Herzig / Alexander Martin  —  Lehren und Lernen mit digitalen Medien

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STILBRUCH ALS STILMITTEL ÜBER DIE VERÄNDERUNG DEMOKRATISCHER ­DISKURSKULTUR ΞΞ Christopher Schmitz

Die Gesellschaft der Bundesrepublik liegt im Widerstreit. Es werden in der politischen Debatte wieder grundsätzliche Auseinandersetzungen geführt und einander nicht in Einklang zu bringende Haltungen und Meinungen ausgetauscht. Erwähnenswert ist dies, da weite Teile der Feuilletons und Wissenschaft – im Schatten der Regierungszeit von Angela Merkel und drei großen Koalitionen innerhalb von vier Legislaturperioden – zuvor vor allem die Abwesenheit des Streits, der Auseinandersetzungen sowie klarer und distinkter politischer Alternativen monierten.1 Den Beginn dieser Polarisierung zu bestimmen, ist im Nachhinein gar nicht so einfach: Einerseits spricht vieles dafür, den Beginn dieser Entwicklung auf die Jahre 2014 und 2015 zu datieren. Zwischen der Emergenz von Pegida auf den analogen und digitalen politischen Bühnen auf der einen Seite und der Aussetzung der Dublin-­ Verordnung auf der anderen Seite. Ebenso zulässig wäre die Datierung auf 2013, das Gründungsjahr der AfD, oder auf das Jahr 2010 mit der Publikation von Thilo Sarrarzins Buch »Deutschland schafft sich ab«. Beide Ereignisse haben die Art und Weise, wie in der Bundesrepublik Deutschland über Politik gesprochen wird, vermutlich nachhaltig, zumindest jedoch unmittelbar, verändert. Somit haben beide Ereignisse den Diskurs in seiner Schärfe befeuert und eine der Alternativlosigkeit bezichtigte politische Sphäre entlang von klar identifizierbaren Meinungspolen neu aufgeladen. Im Zentrum der Debatte über die Art und Weise der Auseinandersetzung steht das Internet. Wieder und wieder werden die gesellschaftsverändernden Potenziale des Webs betont – zugleich bleibt die Diskussion über die gesellschaftlichen Auswirkungen von netzbasierten Diensten auch oberflächlich und banal. Das liegt auch zum Teil daran, dass es lange Zeit Usus war, Prozesse, die online stattfinden, im Sinne einer binären Logik als eine »virtuelle Welt« zu bezeichnen und in ihren Ursachen, Wirkungen, Auswirkungen und Folgen rhetorisch auf ebendiese virtuelle Welt zu beschränken und kategorial von der »realen Welt« abzuschneiden. Dies, so lässt sich nunmehr argumentieren, war vermutlich nicht nur der Kardinalfehler von politischen Debatten über das Internet der letzten Jahre, es war auch ein eklatanter Widerspruch:

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1  Vgl. Danny Michelsen, Franz Walter, Unpolitische Demokratie. Zur Krise der Repräsentation, Berlin 2013, S. 10 f.

Es ergibt schlichtweg wenig Sinn, Bedrohungsszenarien über digitale Welten zu zeichnen, die zugleich die politische, moralische und ökonomische Integrität von Gesellschaften bedrohen, wenn sie indes so weit voneinander entfernt sein sollen, dass die Trennung zwischen der Virtualität und der Realität absolute Dimensionen bekommt. Es lohnt sich in diesem Zusammenhang auf Diskussionen über Themen wie die Sperrung von Seiten mit kinderpornografischen Inhalten und den Kampf gegen Urheberrechtsverletzungen unter dem Stichwort der »Raubkopie« und »Internetpiraterie« zu verweisen.2 Die gegenwärtigen Diskussionen, die sich seit dem Brexit-Votum in Großbritannien 2016 und den Präsidentschaftswahlen in den USA 2015/2016 auch um die gesellschaftsverändernden Potentiale von Sozialen Netzwerken, allen voran facebook, drehen,3 haben diese Unterscheidung nachdrücklich und endgültig ad absurdum geführt. Langsam setzt sich die Erkenntnis durch, dass das Internet mitsamt seinen Diensten, Plattformen und Applikationen eben keine entkoppelte Parallelwelt ist, sondern in einem sehr intensiven Inter­ dependenzverhältnis zu allen anderen gesellschaftlichen Prozessen steht, gar mithin eine alltäglich gewordene Erweiterung von Handlungsräumen geworden ist. Nur wenn diese digitalen Räume als eine Erweiterung und Ergänzung analoger Handlungsfelder begriffen werden, ist es überhaupt sinnvoll, sie soziologisch und politikwissenschaftlich in den Blick zu nehmen. Auffällig ist, dass es dem Ton in dieser Auseinandersetzung keinesfalls an Superlativen des Schreckens mangelt: Die Frage, ob soziale Netzwerke demokratische Gesellschaften in ihren Grundfesten herausfordern, erschüttern oder gar bedrohen, wird seit den Schockwahlen der beiden vergangenen Jahre mal mehr, mal weniger intensiv gestellt. Begriffe wie Fake News oder Hate Speech sowie Alternative Facts haben sich zu den Dauerbrennern wie Filterblase und Echokammer gesellt. Zusammen ergeben sie ein buntes Potpourri demokratieskeptischer Szenarien im Schatten sozialer Netzwerke. Prinzipiell sind zwar soziale Medien im Allgemeinen gemeint – das schließt 2  Zur Genese einer Netzbewegung entlang dieser Themen vgl. auch Kathrin Ganz, Zehn Jahre Netzbewegung. Konflikte um Privatheit im digitalen Bürgerrechtsaktivismus vor und nach Snowden, in: Forschungsjournal Soziale Bewegungen, Jg. 28, H. 3/2015, S. 35–45. 3  Eine Übersicht bietet u. a. Daniel Leisegang, Die Demokratiehacker, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 5/2018, S. 71–75.

eine ganze Reihe weiterer Dienste mit ein, wie beispielsweise twitter, insta­ gram, flickr, pinterest, vkontakte oder whatsapp – aber letztlich verfügt vor allem facebook über eine solch umfassende Omnipräsenz, dass beide Begriffe mehr oder weniger bruchlos synonym verwendet werden können. Zweifellos ist es wichtig und notwendig, nicht nur im Lichte jüngerer Skandale, sondern auch ganz grundsätzlich, die Frage nach den politischen und sozialen Dimensionen von facebook und seinem Quasi-Monopol genau in den Blick zu nehmen. Diese Dienste sind ja nicht bloß digitale schwarze Bretter. Sie verfügen über das Potential, wesentliche Interaktionen entscheidend zu beeinflussen. Sie funktionieren nach inhärenten Logiken, die der öffentlichen Kontrolle Christopher Schmitz  —  Stilbruch als Stilmittel

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weitestgehend entzogen sind, obwohl sie zugleich wesentliche Aspekte von Öffentlichkeit mit beeinflussen. Die Verabschiedung des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes hat diese »weithin unkontrollierte Selbstregulierung […] im Grunde hoheitlich legitimiert und gefestigt«4, also die Verantwortlichkeit für die Inhalte vom Staat weg hin zu privaten Akteuren verlagert.5 ZWISCHEN HÖHENRAUSCH UND KATERSTIMMUNG Diese kurze Vorrede soll vor allem diverse Probleme aufzeigen. Zum einen ist das Medium Internet in seinen Ausprägungen von den Anfängen des WWW Anfang der 1990er Jahre, über die zarten Entwicklungen des Web 2.0 Mitte der 2000er Jahre und bis heute immer ein Medium gewesen, das Ziel überschießender Deutungsszenarien gewesen ist – und dies gilt sowohl in einem positiv-utopischen wie auch in einem pessimistisch-dystopischen Sinne. Zum anderen sind diese Momente des Überschwangs und Überschusses auch zum Teil von der wissenschaftlichen Debatte nicht nur kolportiert, sondern auch aktiv geführt und forciert worden. Insofern ist es auch beinahe ein Treppenwitz – wenn nicht der Geschichte, so zumindest der wissenschaftlichen Auseinandersetzung –, dass bisweilen explizit die Notwendigkeit betont werden muss, dass das Spannungsfeld von Internet und Demokratie eben jenseits dieser überschießenden Momente mit nüchternem Realismus betrachtet werden sollte.6 Als ob Wissenschaft, bei aller Normativität, die sie sich ja durchaus erlauben darf, nicht zunächst auch vor allem darauf achten sollte, realistisch zu bleiben oder sich zumindest um Realismus zu bemühen. Diese Feststellung klingt provokativ und banal zugleich. Allerdings verweist das Faktum, dass dieser Zugang, in wissenschaftlicher Zeitrechnung, erst jüngst (nämlich im Jahr 2016) herausgestellt wurde, aber auch auf die Tatsache, dass es hier tatsächlich Nachholbedarf zu geben scheint. Und um das Rad weiter zu drehen, den Finger weiterhin in die Wunde zu legen: Die Auseinandersetzungen, die gegenwärtig in, um und über das Netz geführt werden, zeigen an, dass dieser Realismus noch nicht vollständig eingezogen ist. Mehr noch: Die gegenwärtigen Debatten sind womöglich mehr als eine Folge von unliebsamen und unerwarteten Ereignissen, die einen politischen Handlungsdruck provozieren. Stattdessen lassen sie sich auch so interpretieren, dass sie ihre Wucht und Dynamik aus der gefühlten normativen Fallhöhe beziehen – also weniger aus dem konkreten Ereignis selbst als vielmehr aus den unerfüllt gebliebenen Erwartungen – vielleicht sogar Verheißungen – an ein mitunter überschätztes Medium. Der Pessimismus, der allenthalben die Frage provoziert, inwieweit das Internet und soziale Netzwerke nicht auch eine Bedrohung für die Demokratie darstellen

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4  Ulrich Dolata, Big Four: Die digitale Allmacht?, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, H. 5/2018, S. 81–86, S. 86. 5  Hierzu besonders prägnant: ebd., S. 82 ff. 6  Vgl. hierzu auch Marianne Kneuer, Samuel Salzborn, Digitale Medien und ihre Wirkung auf demokratische Prozesse, in: Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft, Jg. 10, H. 7/2016 (Sonderheft), S. 1–14, hier S. 3 ff.

könnten, speist sich dann weniger aus der tatsächlichen Sachlage. Stattdessen wirkt das demokratiegefährdende Potential des Web 2.0 auch mitunter deshalb so bedrohlich, weil es zuvor vor allem als die Rettung für die Demokratie und ihre allerorten konstatierten abnehmenden Integrations- und Bindekräfte angepriesen wurde. Oder zumindest als ein Allzweckwerkzeug, das diese Erosion aufhalten und den Status Quo stabilisieren konnte – als eine Art Gaffa-Tape für die gestressten Demokratien, um die lecken Stellen notdürftig zu flicken und abzudichten. Die Katerstimmung in Bezug auf das Internet fällt so heftig aus, weil die Enttäuschung, die sich auf den vorherigen Höhenrausch eingestellt hat, besonders wirkmächtig und in ihren konkreten Auswirkungen auch besonders krass war. Doch woraus resultiert diese enorme Fallhöhe? Aus welchem Reservoir konnte eine derartige Enttäuschung gespeist werden? Sicherlich nicht aus einer sonderlich realistischen Haltung gegenüber den demokratischen Potenzialen des Internets, dem Web 2.0 oder gar den sozialen Netzwerken. Phänomene wie der digital zelebrierte Niedergang der Piratenpartei, Ereignisse wie die #Aufschrei-Debatte oder auch Erscheinungen wie #Gamergate waren bereits in den vergangenen Jahren mehr als deutliche Anzeichen dafür, dass dort etwas faul ist im Staate Neuland. Die Gewissheiten waren also immer schon brüchig, sie wurden im Höhenflug jedoch schlicht übersehen oder wissentlich ignoriert. Mittlerweile hat »die Netzkultur ihre Leichtigkeit verloren, den Glauben an den gesellschaftsverändernden Impuls, der mit dem ›Geist des Internets‹ verbunden war«, wie es Kathrin Ganz formuliert.7 Diese Argumentation ist natürlich etwas gewagt, weil sie Phänomene, Akteurinnen und Akteure sowie Positionen zusammenwirft und aneinander bindet, die mitunter nicht zusammen gehören, weil sie Ausdruck von Interessenlagen sind, die mitnichten ein monolithischer Block waren, sondern – historisch, soziodemographisch, kulturell – mitunter auch gegeneinander agiert haben und dies zum Teil auch noch immer tun. Aber bei allen zunächst inhaltlichen Differenzen war der Modus, über den diese inhaltlichen Differenzen ausdiskutiert und ausgehandelt, auch erstritten werden sollten, eigentlich unhinterfragt und gewiss die Faktizität und Geltung des herrschaftsfreien, deliberativen Diskurses. Die Überzeugung, dass die inhaltliche Auseinandersetzung im Rahmen einer sachlichen, wahrhaftigen und aufrichtigen Debatte geführt werden soll, war insofern unhinterfragt und stellt zudem in gewisser Weise immer noch die Urutopie digitaldemokratischer Emanzipationsnarrative dar. Das Habermas’sche Ideal kommunikativer Vernunft hat also digitale wie analoge Lebenswelten und Handlungssphären gleichermaßen ko7  Ganz, S. 42.

lonisiert und dabei einen beispiellosen Siegeszug hingelegt. Für bestimmte Christopher Schmitz  —  Stilbruch als Stilmittel

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Teile der Gesellschaft – und das sind vor allem liberale, urbane und zumeist auch akademische Eliten – ist der Modus deliberativer Auseinandersetzung derart zur unhinterfragten Selbstverständlichkeit geworden, dass ihnen die Bedingung einer Möglichkeit von anderen Formen der politisch-inhaltlichen Auseinandersetzung entweder gar nicht mehr in den Sinn kommt oder dass diese Konfliktmodi eine solche Irritation, Abwehr oder Ablehnung hervorruft, dass sie sofort und nachhaltig abgeblockt werden. Gerade das Milieu also, gefangen im Modus der ständigen Reflexion, ist entweder unfähig oder unwillig, die eigene Vorprägung, mit der der Zugang zur politischen Debatte reglementiert wird, einer kritischen Selbstreflexion zu unterziehen.8 Dirk Jörke hat dieses Phänomen einmal eine Art der »Mittelschichtsorientierung«9 der Demokratie und Demokratietheorie genannt. Der Begriff ist sicherlich nicht optimal gewählt, weil er eine Verknüpfung von Mittelschichten und deliberativer Kommunikation suggeriert, die keinen Automatismus darstellt, auch wenn der Begriff bei Jörke auf die akademische Mitte zielt. Die Folge dieser engmaschigen Perspektive ist aber nicht nur ein Ausschluss von wesentlichen Teilen der Bevölkerung im soziodemographischen und der Gesellschaft im politischen Sinne, sondern auch ein genuin blinder Fleck der Debatte über den Zustand der Demokratie im Spiegel der Debattenkultur in sozialen Netzwerken. DER HERRSCHAFTSFREIE DISKURS ALS MACHTINSTRUMENT Dies kann zum einen daran liegen, dass die wesentlichen Plattformen, über die diese Debatten laufen, am Ende eben keine politischen, sondern kom8  Vgl. Dirk Jörke, Die populistische Herausforderung der Demokratietheorie, oder unliebsame Gemeinsamkeiten zwischen deliberativen und agonistischen Modellen der Demokratie, in: Claudia Landwehr, Rainer Schmalz-Bruns (Hg.), Deliberative Demokratie in der Diskussion. Herausforderungen, Bewährungsproben, Kritik, Baden-Baden 2014, S. 369–391, hier S. 385 ff. 9  Ebd., S. 377. 10  Frei nach Rüdiger SchmittBeck u. a., Die AfD nach der rechtspopulistischen Wende. Wählerunterstützung am Beispiel Baden-Württembergs, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft, Jg. 27, H. 3/2017, S. 273–303.

merzielle Ziele verfolgen und damit eine Erwartung erfüllen sollen, die sie mitunter gar nicht unbedingt erfüllen wollen. Zum anderen hat sich die Kommunikation im Netz nun soweit veralltäglicht, dass die deliberative Hegemonie unter Druck geraten ist. Somit ist es auch kein Zufall – und hier schließt sich nunmehr der Kreis –, dass es gerade die Ereignisse seit dem Jahr 2015 sind, die diesen Punkt offengelegt haben. Spätestens seit dem Jahr 2015 verhandelt die Gesellschaft der Bundesrepublik einen Wandel, der sich vielleicht unter dem Begriff der »rechtspopulistischen Wende« subsummieren lässt.10 Die Debatte geht also nicht zufällig mit der doch sehr rasch erfolgten Etablierung der AfD im bundesrepublikanischen Parteiensystem und der dadurch veränderten Art und Weise der politischen Auseinandersetzung einher. Die Auseinandersetzung wird also mitunter auch deshalb so erbittert geführt, weil durch die Etablierung anderer – anzunehmen, dass sie sonderlich neu wären, würde der Sache nicht gerecht – Kommunikationsmodi, vor Christopher Schmitz  —  Stilbruch als Stilmittel

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allem durch die AfD, eben nicht bloß auf einmal die inhaltliche Positionierung der deliberativ agierenden, liberalen Mittelschichten in Frage gestellt wird, sondern weil darüber hinaus auch gerade die Art und Weise, wie sie zu diesen inhaltlichen Positionen gelangt ist — also der deliberative Diskurs selbst — einer Attacke unterzogen wird. Mit einem Male ähnelt der deliberative Diskurs dem Kaiser in seinen neuen Kleidern. Was sich gegenwärtig, dazu besonders gut an und in sozialen Netzwerken – beobachten lässt, ist also ein Prozess, bei dem das eingeübte deliberativ-diskurse Verfahren seinen Nimbus der Unantastbarkeit verloren hat. Mit anderen Worten: Mit einem Male ist es wieder möglich geworden, darüber zu streiten, wie in einer Gesellschaft gestritten werden soll oder darf. Damit ist jedoch, durchaus paradox, das Ideal des Diskurses auf einmal selbst Gegenstand der diskursiven Auseinandersetzung geworden. Es lässt sich ein Modus fundamentaler Gesellschaftskritik beobachten, die sich in gewisser Weise schlichtweg weigert, nach den Regeln jenes Establishments zu spielen, dessen Konventionen der Kommunikation umfassend abgelehnt werden und dadurch selbst zum Gegenstand grundsätzlicher Kritik werden.11 Dieses derart gescholtene Establishment befindet sich dadurch auf einmal in einer prekären Lage und muss mit einer dreifachen Herausforderung umgehen, die sich jedoch auf verschiedenen Ebenen abspielt: Zum einen geht es darum, der Entzauberung des Diskursprinzips auf einer grundsätzlichen Ebene zu begegnen. Es gibt durchaus gute Gründe, diese Art und Weise der demokratischen Auseinandersetzung bewahren zu wollen und es ist in gewisser Weise tatsächlich bedenklich, dass ein so grundlegendes Konzept mit einem Mal zur Disposition steht und Objekt einer Auseinandersetzung um Macht und Hegemonie auf einer sehr grundsätzlichen Ebene geworden ist.12 Die anderen beiden Herausforderungen finden sich jedoch nicht unbedingt auf dieser grundsätzlichen Ebene und sind so vor allem mit einer – vermutlich schmerzhaften – Selbstreflexion verbunden. Entgegen ihrer Bezeichnung sind die Ideale des herrschaftsfreien Diskurses eben alles andere als herrschaftsfrei, sondern vielmehr ein Machtinstrument, das mitunter auch ganz bewusst in Stellung gebracht wird, um die politische Auseinandersetzung eben nicht nur formal, sondern auch inhaltlich zu domestizieren. Philip Manow hat dies jüngst auf die Formel eines pikitierten Bürgertums gebracht, das sehr großen Wert darauf lege, dass doch die Gepflogenheit der Sitten und des guten Anstands gewahrt bleiben müssten, bevor überhaupt eine Diskussion zustande kommen könne. Dass diese formale Zurückweisung zugleich aber auch eine Absage an eine Auseinandersetzung mit den vielleicht zu thematisierenden Inhalten darstelle, das sei

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11  Vgl. hierzu auch Heiko Beyer, Kritische Theorie: Postfaktizität und Geltung – Stößt die kommunikative Vernunft beim Rechtspopulismus an ihre Grenzen?, in: Gianna Behrendt u. Anna Henkel (Hg.), 10 Minuten Soziologie: Fakten, Bielefeld 2018 (im Erscheinen). 12  Vgl. hierzu die Gedanken von Stefan Rummens zu hinterfragbaren und unhinterfragbaren Gewissheiten demokratischer Gesellschaften: Democracy as a Non-Hegemonic Struggle? Disambiguating Chantal Mouffe’s Agonistic Model of Politics, in: Constellations Jg. 16, H. 3/2009, S. 377–391, hier S. 385 ff.

dann quasi ein Nebeneffekt.13 Dieser werde jedoch nicht hinterfragt oder bedauert, sondern vielleicht mit Erleichterung registriert oder sogar mit klammheimlicher Freude zur Kenntnis genommen. Eine politische Debattenkultur, die auf diese Art und Weise funktioniert, hat am Ende vermutlich das Problem, dass die formale Diskursanforderung und die inhaltliche Diskursposition prinzipiell ineinander fallen und sich überlappen. Ein derart abgeschlossenes System ist dann am Ende vielleicht nur noch durch den Tabubruch überhaupt zu erschüttern: Der Stilbruch als Stilmittel, um überhaupt einen Rückweg in die politische Auseinandersetzung zu erzwingen. Dazu gehört dann auch die Erkenntnis, dass es kontraproduktiv sein könnte, Formen von Wahlenthaltung und Politikverdrossenheit zu beklagen und zugleich keine Anstrengungen zu unternehmen, sich dabei auch einmal die Hände schmutzig zu machen und auch einmal eine Art und Weise des Ausdrucks zu akzeptieren, der in akademischer Noblesse vermutlich nicht unbedingt Verwendung finden würde. Dies bedeutet allerdings, dass eine ehrliche Auseinandersetzung von Wissenschaft und Forschung mit diesem Phänomen mit offenem Visier stattfinden muss. Dazu gehört einerseits die Erkenntnis, dass es eine normativ bedenkliche Attacke auf Grundfesten demokratischer Konfliktaushandlung gibt. Andererseits bedeutet dies aber auch, dass der Modus der deliberativen Demokratie nicht einfach Instrument und Ideal der Forschung bleiben kann, wenn es selbst derart in die Debat13  Vgl. Philip Manow, »Dann wählen wir uns ein anderes Volk …«. Populisten vs. Elite, Elite vs. Populisten, in: Merkur, Jg. 72 (2018) H. 827, S. 5–14, hier S. 6 f.

ten verstrickt ist. Dies bedeutet jedoch, dass die Auseinandersetzung ebenfalls darüber geführt werden muss, wann und wo der Stilbruch als Stilmittel eine berechtigte Kritik hegemonialer politischer Verhältnisse darstellt und wo er grenzüberschreitend ist.

Christopher Schmitz, geb. 1988, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demo­kratieforschung und forscht zu den Themen ­»Protestforschung und politischer Kulturforschung« sowie Internet und Demokratie.

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#GAMERGATE VS. SOCIAL JUSTICE WARRIORS EIN STREIT (NICHT NUR) UM SPIELE ΞΞ Jöran Klatt

Am 15. August 2014 änderte sich das Leben der Computerspieldesignerin Zoë Quinn schlagartig. In einem Restaurant in San Francisco erfuhr sie, die sich als Entwicklerin vor allem auf so genannte Indie-Games spezialisiert hatte1, via Smartphone von einer Veröffentlichung über sich. Ihr damaliger Lebensgefährte Alex schrieb ihr folgende Nachricht: »Basically, a guy regged to post a 5k+ words wall of text and pictures about dating you.«2 Quinn beschreibt sich in ihrem Buch Crash Override selbst als einen Menschen, der enorm viel Zeit online verbringt und der sich in der bunten Welt von Comics, Computerspielen, Hashtags und Memes zuhause fühle. Sie, die in ihrer ländlichen Heimat oft eine Außenseiterin war, fand hier Freunde und ein Netzwerk aus Menschen, die, ähnlich wie sie, in dieser Welt ein liberales und offenes Dasein zelebrierten. Doch genau jene schienen sich nun gegen sie verschworen zu haben. Wer war der ominöse Ex-Freund, der Details aus ihrem Privatleben veröffentlichte? Quinn selbst beschreibt ihre erste Reaktion: »I kept looking at my phone, only halfway paying attention to the people around me. I had no idea what had been posted, but I’d be the first to admit that over the course of my life, I’ve said and done a lot of things that I regret. My mind racing, I tried to mentally catalog a lifetime of fuckups and faux pas, assuming any or all of them could have been made public. […] I excused myself from the table and went to the bathroom. Sitting in the bathroom, it hit me: this had to be my abusive ex. It had to be Eron.«3 In der Tat: Es handelte sich um Eron Gjoni, der mit dem Post über Quinn eine Welle lostrat, die in der sogenannten GamerGate-Kontroverse mündete. Was war passiert? Gjoni publizierte in dem Blogpost Details aus seiner Beziehung zu der ­Indie-Designerin. Diese habe ihn während dieser Zeit mehrfach mit Kollegen und ihr nahestehenden Personen aus dem Umfeld der Community um Computerspiele hintergangen. Als Belege für Quinns moralische Verfehlungen zieht er Chatprotokolle und SMS heran und lässt so das Bild einer kaltherzigen Frau

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1  Computerspiele, die nicht in erster Linie für den Massenmarkt gedacht sind und oft eher künstlerischen vor den Unterhaltungsanspruch stellen. 2  Zoë Quinn, Crash Override. How Gamergate (nearly) destroyed my life, and how we can win the fight against online hate, New York 2017, S. 10. 3  Ebd., S. 11.

entstehen, die jene moralischen Verpflichtungen, die eine so enge Bindung, wie sie mit Gjoni gehabt hätte, sträflich vernachlässigt habe. Der Post steckt voller Details, die nach den gängigen moralischen Normen Empörung erwecken sollen – was der Blog auch zweifellos tat. Infolge der Veröffentlichung wurde aus der Privatsache schnell Gegenstand teilöffentlichen Interesses. Zahlreiche User_innen auf diversen sozialen Plattformen begannen sich alsbald mit Gjoni zu solidarisieren. Der Punkt, an dem sich vor allem Gamerinnen und Gamer empörten, also Menschen, die aus dem Computerspielen einen Teil ihrer Identität ableiten, war vor allem die Frage, mit wem Quinn ihren Lebensabschnittsgefährten Gjoni betrogen hatte. Sie warfen Quinn vor, als Spieleentwicklerin eine unheilige private Nähe zu Personen gehabt zu haben, die aus ihrem beruflichen Umfeld entsprangen – auch vor allem jenen aus den über die Spiele berichterstattenden Medien. In seinem Post warf Gjoni der Spieldesignerin unter anderem eine Affäre mit dem Spieljournalisten Nathan Grayson vor, der für das Online-Portal Kotaku arbeitet. In einer ersten Welle der Skandalisierung war es vor allem der YouTuber InternetAristocrat, der den Schluss zog, Quinns Nähe zu Grayson (und anderen) könne auch etwas mit Gefälligkeiten zu tun gehabt haben. Der Vorwurf stand im Raum, dass diese persönliche Beziehung exemplarisch für eine problematische Nähe zwischen denjenigen stünde, welche die Spiele herstellten und jenen, die über sie berichteten. Was zunächst noch unter dem Hashtag #Quinnspiracy verhandelt wurde, taufte der Schauspieler und Waffennarr Adam Baldwin alsbald in #GamerGate um. Aus der Privatfehde wurde nun ein Grundsatzproblem abgeleitet, das offenkundig diverse Befindlichkeiten in der Community traf. Der Begriff #GamerGate ist verwirrend, denn er beschreibt zwei Dinge gleichzeitig: einerseits meint #GamerGate das bloße Hashtag, also den Begriff, unter dem ein bestimmtes Thema in sozialen Netzwerken, wie etwa Twitter, verhandelt wird. So verwendet ist #GamerGate also das ordnende Oberthema: Unabhängig davon, welche Seite, Position oder Meinung vertreten wird, sortieren Hashtags die Posts einzelner User_innen als zugehörig zu diesem Sachverhalt. Gleichzeitig meint #GamerGate aber auch vor allem den Teil der Streitenden, die Quinn und andere nun verstärkt angingen. Es bildete sich ein Kollektiv, die sogenannte #GamerGate-Community, welche manchmal auch großspurig #GamerGate-»Movement« und oft einfach nur #GamerGate genannt wurde. Bis heute markieren sich einige Blogger_innen in ihren Profilen mit dem Kürzel GG als zugehörig und sprechen beispielsweise davon, von GG »zu kommen«. Jöran Klatt  —  #GamerGate vs. Social Justice Warriors

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Jene Spielerinnen und Spieler, die sich unter dem Banner versammelten, forderten nun unter anderem eine öffentliche Diskussion über presseethische Fragen und Standards im Spielejournalismus ein. Zweifellos ein legitimes Interesse, besonders vor dem Hintergrund, dass spieleberichterstattende Medien in der Tat nach journalistischen Standards wohl noch häufiger Nachholbedarf haben. Nicht wenige der Leitmedien, ob Print- oder Onlinemedien, wirken nach wie vor eher wie Werbeplattformen denn als tatsächlich kritische Berichterstattung. So griffen auch vereinzelt Spielemagazine und Online-Portale die Debatte hier kritisch und selbstreflexiv auf, wie etwa die deutsche GameStar. Das Computerspielemagazin begann darüber zu berichten, wie die Berichterstattung des eigenen Magazins zustande kommt und welche der Spielefirmen beispielsweise für Hotel- und Reisekosten aufkam (was in der Branche nicht unüblich ist). Dennoch: in #GamerGate ging es um mehr. Im Falle von Zoë Quinn handelt es sich nicht um eine Vertreterin der großen Studios, wie beispielsweise Dice, Bethesda oder auch das deutsche Studio Crytek, die große Titel für den Massenmarkt herstellen, sondern um eine Entwicklerin aus der Indie-Szene. Hier werden Spiele oft von Einzelkämpfer_innen programmiert, die dann natürlich nicht mit den grafischen Details und dem inhaltlichen Umfang der großen Titel (man spricht von AAA-Games) mithalten können. An den großen Titeln arbeiten z. T. mehrere

hunderte Mitarbeiter_innen – in der Indie-Szene dagegen arbeitet man, wie Quinn sehr häufig alleine oder in kleinen Teams. Quinn erlangte vor allem an Bekanntheit für das Spiel Depression Quest (DQ), in welchem der/die Spieler_in den Ablauf und die Dilemmata von Depressionen nachvollziehen soll – DQ will nicht unterhalten, es soll eher eine Kunstform darstellen. In der Szene, in welcher diese Spielarten hergestellt werden, sammeln sich oftmals Menschen, die liberale Ansichten teilen, häufig progressiv eingestellt sind und nicht selten Sympathien für einen queer-feministischen Lebensstil haben. Eine Szene, in der Quinn sich angenommen fühlte, teilte sie doch ebenjene Einstellungen und Ansichten. Einer der zahlreichen Gräben, die sich in der Kontroverse auftaten, war also auch, dass sich offenkundig vereinzelte Gamer_innen an derartigen sogenannten Social Justice Warriors (SJW ) störten. So werden in der ­Gaming-Kultur (und inzwischen nicht nur dort) despektierlich jene genannt, die in irgendeiner Weise progressiv, linksliberal und emanzipatorisch eingestellt sind. SJW steht für ein diffuses Konglomerat derjenigen, die sich an den Errun-

genschaften der Neuen Sozialen Bewegungen orientieren und diese auszubauen gedenken. Im Kreis von #GamerGate meinte man damit vor allem die feministische Videobloggerin Anita Sarkeesian, aber auch Designerinnen

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wie Brianna Wu oder eben Zoë Quinn. #GamerGate bezog insofern auch Energien daraus, dass es sich bei der Hauptangeklagten um eine Vertreterin jener Gruppe handelte, an der sich offenkundig bereits länger einzelne ­Gamerinnen und Gamer störten. Mit den SJWs kam in die Gaming-Kultur – so offenkundig die Empfindung einiger Gamerinnen und Gamer – wohl eine interessenspolitisch motivierte Gruppe hinzu, die das Kulturmedium Computerspiele quasi zu unterwandern schien. Beispielsweise störte sich InternetAristocrat in einem Video über Zoë Quinn an der Tatsache, dass einige der über Spiele berichterstattenden Medien (vor allem prominente Internetportale) in jüngerer Vergangenheit vermehrt über feministische und gendersensible Themen in und um Computerspiele berichteten – die ja, so der Tenor, eigentlich mit den Spielen nichts zu tun hätten.4 Auch hierin lag ein Teil des Skandalpotentials, denn insbesondere einer von Zoë Quinns vermeintlichen Liebhabern stand daraufhin im Fokus: der Spielejournalist Nathan Grayson. Grayson hatte im Januar des Jahres 2014 auf dem Portal RockPaperShotGun eine Auflistung neu erschienener Independent-Spiele verfasst – und unter anderem Quinns Spiel Depression Quest dabei hervorgehoben. In einem weiteren Artikel auf Kotaku im März des gleichen Jahres erwähnte er Quinn in einem Artikel über einen sogenannten GameJam, also einer Zusammenkunft von Spieledesigner_innen. Die beiden Artikel reichten der #GamerGate-Community als Beleg: Grayson und Quinn (sowie weitere Personen aus dem Umfeld der Entwickler_innen-Szene) galten des Interessenskonflikts überführt. Dabei war es nicht nur die Nähe der Indie-Entwickler_innen zu berichterstattenden Plattformen, sondern es war auch der Nimbus des Progressiven selbst, der ihnen anhaftete. Quinn, Wu, Sarkeesian und auch der Indie-­ Designer Phil Fish wurden attackiert als jene, denen es nicht um gute, sprich »unterhaltsame« Spiele ginge, sondern die einerseits »ideologische« (ein Wort das in dem Konflikt auffallend häufig vorwurfsvoll verwendet wird) aber auch andererseits egoistische Ziele verfolgten. Zunächst war da der Feminismus. Anita Sarkeesian, die in ihrem YouTube-Kanal Feminist Frequency Computerspiele, Serien und Filme unter feministischen Fragestellungen auf den Prüfstand stellte, wurde beispielsweise vorgeworfen, dass sie für dieses Ziel Fakten verdrehte und aus Spielen, an denen sie sexistische Tropen kritisierte, nur diese extrahierte, ohne dabei Kontext und alternative Möglichkeiten in den Spielen zu erwähnen. Sarkeesian wurde im Rahmen dessen vor4  URL: https://www.youtube. com/watch?v=zz--i3M4PVk [eingesehen am 28.06.2018].

geworfen, die Spiele als reine Inhalte transportierende Medien darzustellen, die Spieler_innen lediglich passiv konsumierten, und nicht als Medien, die Jöran Klatt  —  #GamerGate vs. Social Justice Warriors

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interaktiv seien und daher auch Handlungsmöglichkeiten böten. Auch um dieses Selbstbild der Gamer_innen, die sich oftmals nicht als passives Publikum sehen, ging es daher in dem Konflikt.5 Gleichzeitig wurde Sarkeesian (wie den meisten SJWs) aber auch vorgeworfen, in Wirklichkeit nicht einmal vorrangig diese ideologischen Ziele zu verfolgen, sondern sich noch viel mehr an einer Mode derartiger Themen bereichern zu wollen. So sammelte Sarkeesian eine große Zahl an Unterstützer_innen um sich und erhielt von diesen auch im Rahmen einer Crowdfunding-Kampagne nicht wenig finanzielle Unterstützung. Aber mit jedem Cent, den sie bekam, wuchs auch die Kritik derjenigen, die ihr persönliche Bereicherung vorwarfen und zudem behaupteten, dass sie keine legitime Spielekritikerin sei. So ging es in #GamerGate auch um das Rederecht über Spiele. Wer darf für die Belange der Gamingkultur sprechen? Und was macht überhaupt eine/n richtige/n Spieler_in aus? In diese Belange mischte sich so wohl auch die Tatsache, dass die Spieleindustrie des Massenmarkts längst die Spielerinnen für sich entdeckt und folglich auch damit begonnen hatte, darauf einzugehen. So bietet beispielsweise die Fußballsimulation FIFA 16 als erster Teil der Reihe die Möglichkeit, mit Frauenteams zu spielen. In der Assassins Creed Reihe war es ab Teil 5 erstmals möglich, zumindest in Teilsequenzen des Spiels eine Frauenfigur zu steuern. Die bekannteste weibliche Spielfigur Lara Croft, die sich seit jeher unter den Spielerinnen Beliebtheit erfreute, erfuhr einige der Veränderungen in der Neuauflage der Tomb Raider Reihe durch den japanischen Publisher Square Enix, wohl auch ein bisschen als Entgegenkommen an die Gamerinnen. Lara Croft verkörpert seit jeher die ambivalente Position von Frauen in und um das Gaming. Einst galt sie vor allem in der durch »Killerspiele« und die bürgerliche Angst vor »Medienverwahrlosung«6 geprägten öffentlichen Debatte in den 1990er Jahren über die Spiele, als Beleg für die vermeintlich infantile, aggressive und männlich dominierte Computerspielkultur. Im Zentrum der Kritik standen Crofts ausgeprägte sekundäre Geschlechtsmerkmale, die als Beleg des male gaze, also der Orientierung an männlich heteronormativen Gelüsten, gewertet wurden. Doch bereits damals hatte die Figur, immerhin eine reiche unabhängige Frau, die in Waffengewalt und Kampfeskünsten erfahren ist und über einen hohen Bildungsgrad verfügt, offenkundig die Sympathien von nicht wenigen Spielerinnen erobert. So »oszilliert« Lara Croft, laut Birgit Richard »zwischen Übererfüllung eines

5  Jöran Klatt, ›Gamers aren’t an audience, gamers are players‹. Identitätskonstruktion, Abwehrmechanismen und politische Willensbildung in der Gaming-­Szene, in: Paidia: Zeitschrift für Computerspielforschung – Sonde­rausgabe »Das ludische Selbst«, 2016, URL: http://www.paidia.de/?p=7834. 6  Christian Pfeiffer, Medienverwahrlosung als Ursache von Schulversagen und Jugenddelinquenz?, Hannover 2003.

männlichen Begehrens durch ihren Hyperkörper und der Symbolisierung weiblicher Potenz.«7 »Sie ist es, die den Spagat ermöglicht hat, die Wünsche weiblicher Spielerinnen nach überirdischer Leichtigkeit ebenso zu erfüllen

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Digitalisierung — Analyse

7  Birgit Richard, Sheroes. Genderspiele im virtuellen Raum, Bielefeld 2004, S. 14.

wie die Phantasien ihrer männlichen Anhänger.«8 Nun haben Crofts inzwischen deutlich realistischere Körperproportionen wohl auch viel mit einer allgemeinen Tendenz zum szenischen Fotorealismus zu tun, den die enormen technischen Fortschritte in der Weiterentwicklung von Grafikkarten und Prozessorleistungen ermöglicht haben. Heute wird Croft nicht mehr in dem comicartigen Stil animiert, der wohl aufgrund des technologischen Standes der 1990er und frühen 2000er Jahre eher zu realisieren war, sondern ihre Darstellung beruht auf dem sogenannten Motion Capturing, in dem die britische Schauspielerin Camilla Luddington Modell für sie steht. Zweifellos erfüllt auch Luddington nicht wenige der zeitgenössischen Vorstellungen von Schönheitsidealen, die jedoch in der Regel heute beides einfordern, also sowohl für Frauen als auch für Männer attraktiv zu sein. Indes enthalten heute die meisten sogenannten Tripple AAA Games, also jene Spiele, die, wie die Tomb Raider Reihe, zu den meistverkauften und am teuersten produzierten gehören, spielbare weibliche Charaktere. Jüngst sorgte die Ankündigung, dass im neuen Zweite-Weltkriegs-Shooter von Electronic Arts, dem neuen Teil der Battelfield-Reihe, eine weibliche Figur zentraler Teil der Storymissionen und spielbar sein wird, für Aufregung. Offenkundig ein Affront für die politische Geschichtskultur eines Teils der Fangemeinschaft von Battlefield, denn diese kritisiert diese Konstellation unter dem Hashtag #NotMyBattlefield als unrealistisch. Gekontert wurde dies von Fans der Reihe, aber auch anderen aktiven User_innen sozialer Netzwerke, die zum Teil Bilder ihrer Groß- und (häufiger) Urgroßmütter in Militärunformen hochluden. Doch nicht nur Frauen als vorher vermeintlich aus der Spielekultur ausgeschlossene Gruppe finden verstärkt Repräsentation in den Spielen. Beispielsweise wurde es im Spiel Dragon Age: Inquisition möglich, dass Spielfiguren homosexuelle Beziehungen zueinander eingehen, woran sich ebenso in der Spielekultur vereinzelte Gemüter erregten. Frauen und andere vormals Ausgeschlossene werden nun nach und nach ein sichtbarer Teil des Gamings. Die Gaming-Industrie reagiert und entwickelt neue Spiele und Spieleformate, 8  Astrid Deuber-Mankowsky, Lara Croft – Modell, Medium, Cyberheldin. Das virtuelle Geschlecht und seine metaphysischen Tücken, Frankfurt a. M. 2001, S. 14.

die diesen Veränderungen und Interessen entgegenkommen sollen.9 Auch dies ist Teil der Kritik, denn oft sind es kurzweilige Spiele, Casual Games, die auch häufig eher auf Smartphones als auf den klassischen Plattformen wie dem PC oder den Konsolen gespielt werden, welche bei Frauen beliebt sind. Doch es gibt auch nicht wenige Spielerinnen, die wiederum an diesen gar

9  Jürgen Hoffman u. Simon Mikuteit, Frauen zocken anders, in: Süddeutsche Zeitung, 17.8.2011.

kein Interesse zeigen. Manche Frauen zählen sich lieber zu den sogenannten Core-Gamer_innen, die Spiele bevorzugen, die zweifellos von der Community Jöran Klatt  —  #GamerGate vs. Social Justice Warriors

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anerkannt werden und die zu spielen eine/n echte/n Gamer_in ausmachen: beispielsweise eben Shooter wie die Battlefield-Reihe. #GamerGate war daher nicht nur ein Konflikt zwischen Männern und Frauen, sondern fand auch als Bewegung Anhängerinnen, die sich vom klassischen Frauenbewegungs-Feminismus einer Anita Sarkeesian nicht vertreten fühlten. Sie störten (und stören) sich auch nicht an den in Spielen weiter verbreiteten hyperfemininen und auch hypermaskulinen Codes, sondern empfinden die Themensetzung und den Habitus der Social Justice Warriors viel mehr als lustlos und prüde. Gleichwohl zeigte #GamerGate aber auch die Mechanismen digitaler Kommunikation, die nicht selten von aufgeklärten deliberativen Idealen weit entfernt sind und sich vor allem durch aggressive Überschreitung auszeichnen. Die Transgressionskultur ist in sozialen Netzwerken tief verwurzelt und geht auf den Geist der amerikanischen Gegenkulturen zurück, deren Bestreben stets die Störung hegemonialer Ordnungen ist.10 Wer im Netz ist, provoziert oft gerne und muss stets mit grenzüberschreitenden Feedbacks rechnen. Auch bei #GamerGate kam es daher zu den typischen Phänomenen »anti-genderistischer« Artikulation im Netz. Die Sozialwissenschaftlerinnen Kathrin Ganz und Anna-Katharina Meßmer unterteilen in Mansplaining, antifeministische Argumentation, Trolling und Hate Speech.11 Die Medienwissenschaft­ lerin Jennifer Eickelmann konkretisierte unter anderem aus ihren Studien zu #GamerGate heraus die inzwischen auch öffentlich häufig diskutierte Hate Speech weiter zu einem Begriff der »mediatisierte[n] Missachtung als potenziell gewaltförmige Praxis multimodaler Herabsetzung«.12 Zweifellos überschritt in der Kontroverse manch ein/e User/in die Grenzen legitimer Sprechhandlungen und es kam zu Beleidigungen, wüsten Beschimpfungen bis hin zu Vergewaltigungs- und Morddrohungen. #GamerGate gilt seither auch als einer der vielen Belege dafür, dass aus dem Internet – dem Ort, dem doch einst die Hoffnungen völlig neuartiger Möglichkeiten der deliberativen Demokratie, Transparenz und der vermeintlichen »Schwarmintelligenz« galten – ein düsterer Ort neuer Vitalität vormodernen Denkens geworden war. #GamerGate enttäuschte dabei vor allem die Erwartungen eines linksliberalen und progressiven Publikums, das

10  Angela Nagle, Kill all normies. The online culture wars from Tumblr and 4chan to the alt-right and Trump, Winchester, UK 2017, S. 36. 11  Kathrin Ganz u. Anna-Katharina Meßmer, Anti-Genderismus im Internet. Digitale Öffentlichkeiten als Labor eines neuen Kulturkampfes, in: Sabine Hark u. Paula-Irene Villa (Hg.), (Anti-) Genderismus. Sexualität und Geschlecht als Schauplätze aktueller politischer Auseinandersetzungen, Bielefeld 2015, S. 59–77, hier S. 61.

doch einst, wie Zoë Quinn, seine Hoffnungen und Heimatgefühle vor allem auf das Netz projizierte. Die Gegenbewegung aus #GamerGate heraus zeigte ihnen nun vor allem, dass sowohl Offenheit als auch die Mechanismen des Netzes eben auch denen zur Verfügung standen, die die Wertgrundlagen des linksliberalen progressiven Lagers nicht teilten.

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Digitalisierung — Analyse

12  Jennifer Eickelmann, »Hate Speech« und Verletzbarkeit im digitalen Zeitalter. Phänomene mediatisierter Missachtung aus Perspektive der Gender Media Studies, Bielefeld 2017, S. 21.

Zwar zeigt sich in #GamerGate auch die Tendenz der sozialen Schließung einzelner digitaler Bereiche und auch in dem Phänomen sammelten sich die Lager tendenziell in ihren eigenen Sphären, bildeten dabei gar die berühmten digitalen Echokammern.13 Dieses Phänomen betraf die liberale Seite vielleicht sogar mehr als das #GamerGate-Movement selbst, denn schnell waren es die SJW, die sich abschotteten, und die #GamerGate Fraktion, die immer selbstbewusster im offenen Raum agierte und mit jeder Konfrontation vitaler zu werden schien. Die verstärkten Forderungen dieser Tage nach einer stärkeren Regulierung von Hate Speech im Netz, nach dem Ausschließen von Trollen und Überschreiter_innen aus sozialen Netzwerken, wird daher von Gruppen wie der #GamerGate-Bewegung vor allem als eines empfunden: als endgültiger Beleg, dass man auf der Seite der freien Rede sei, die sich gegen die Zensurmaßnahmen und den Autoritarismus des linksliberalen Mainstreams erwehren muss. Intensiv griffen die #GamerGate-Bannerträger_innen daher das gefühlte und reale Gegenüber an, um zu beweisen, dass sie es sind, die sich in liberale Echokammern zurückzogen, als die beispielsweise das soziale Netzwerk Twitter beschimpft wird. Alsbald fand #GamerGate hierfür auch neue Allianzen mit Gruppen, die eine ähnliche Gemütslage »kränkender Enteignung« teilten, wie der Soziologe Michael Kimmel ein besonders weiße Männer in den USA betreffendes Gefühl nennt, »dass unsichtbare Kräfte, die größer und mächtiger sind als sie, ihnen Vorteile weggeschnappt haben, die ihnen zustehen.«14 Subkulturelle Befindlichkeiten, wie #GamerGate aber auch viele andere, kulminieren heute in einem weitreichenden Befinden diverser Grup13  Vgl. Klatt.

pen und Milieus, die Beharrungskräfte und das Bestreben der Wiedererlangung von Souveränität gegenüber einem scheinbaren Mainstream organisie-

14  Michael S. Kimmel, Angry white men. Die USA und ihre zornigen Männer, Bonn 2016, S. 35.

ren. Von diesem fühlen sich heute nicht nur Gamerinnen und Gamer entfremdet.

Jöran Klatt, geb. 1986, ist Redakteur der Zeitschrift Indes und Mitarbeiter am Göttinger Institut für Demo­ kratieforschung. Er promoviert an der Universität Hildesheim. Zu seinen Forschungsschwerpunkten ­gehören politische Kulturforschung sowie Sprachund Kommunikationswissenschaften.

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INSPEKTION

SELBSTOPTIMIERUNG IM STADTFORMAT WIE DARMSTADT ALS SMART CITY IN DIE DIGITALE ZUKUNFT SCHREITET ΞΞ Michael Kulmus

»Das Leben der Vornehmen ist ein langer Sonntag, sie wohnen in schönen Häusern, sie tragen zierliche Kleider, sie haben feiste Gesichter und reden eine eigene Sprache«, schrieb Georg Büchner, Darmstadts berühmter Sohn, im Jahr 1834. Gepflegt geht es auch in einem Projektvideo der südhessischen Stadt zu. Morgens gehen die Rollläden automatisch hoch. Die smarte Uhr übermittelt Gesundheitswerte zum Arzt. Der Kühlschrank bestellt gesunde Bioware nach, die ein lächelnder Bote mit dem Lastenrad liefert. Den Weg zur Arbeit steuern Algorithmen. »Das Leben in der digitalen Stadt wird so effizient und bequem, so bürgernah und umweltfreundlich sein wie in keiner anderen europäischen Stadt«, erklärte enthusiastisch Bernhard Rohleder, Geschäftsführer des IT-Branchenverbandes Bitkom.1 Er hatte unter mittelgroßen Städten einen Wettbewerb für die Stadt der Zukunft initiiert. Darmstadt ging daraus Mitte 2017 als Gewinnerin hervor. Montagmorgen, unzählige Menschen drängeln von den Bahnsteigen des Darmstädter Hauptbahnhofs die Treppen hoch. Wer in der Bahnhofshalle nach oben blickt, wird vom Jugendstil begrüßt. Die Industrialisierung menschlich formen war ein Ziel der Künstler, Architekten und Designer des Jugendstils. Mit der Künstlerkolonie auf der Mathildenhöhe war die Stadt schon einmal Modellkommune. Vor dem Hauptbahnhof rauschen Straßenbahnen und Busse an einem kleinen Park und bunten Haltestellenwürfeln vorbei. Eigentlich sollten schon zwei Elektrobusse durch die Straßen rollen, die sind aber beim Hersteller abgebrannt. Unweit des Bahnhofs hat Simone Schlosser ihr Büro. Direkt im Fraunhofer-Institut für Sichere Informationstechnologie, dessen weiße Fassadenteile wie Pixelblöcke wirken. »Wir sind jetzt fünf Mitarbeiter, zehn sollen es werden«, sagt die kaufmännische Geschäftsführerin

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1  Zitiert nach. Rebecca Prion, So werden Sie ›Digitale Stadt 2017‹, in: kommunal.de, 02.12.2016, URL: https://kommunal.de/artikel/digitale-stadt [eingesehen am 15.04.2018].

der städtischen Digitalstadt-GmbH. Leiter des Instituts ist Michael Waidner. Die Verwaltung hat den Informatikprofessor und Experten für Cybersicherheit für den Posten des »Chief Digital Officer« ins Boot der Digitalstadt geholt. Er meint, für diese brauche es sowohl digitale Enthusiasten als auch Digitalskeptiker, die den Ideen die notwendige Bodenhaftung geben.2 Mit der Straßenbahn sind es vom Hauptbahnhof nur wenige Minuten in die Innenstadt. Tickets buchen und zahlen ist mit der Smartphone-App des regionalen Verkehrsverbundes schon seit Jahren möglich. Künftig sollen Nutzer mit einer einzigen App nicht nur Tickets für die Tram kaufen, sondern auch Elektroautos mieten und Fahrräder ausleihen können. Papiertickets werde es aber auch in Zukunft noch geben, glaubt Simone Schlosser. Richtung Lichtwiese nehmen die meisten Buslinie K. Das Areal ist Park, Campus und Sportzentrum in einem. Hier forschen sie an den Mobilitätskonzepten, der Architektur und dem Bauen von Morgen. Die kommunale Abfallwirtschaft testet auf dem Gelände seit Monaten die Müllabfuhr der Zukunft. Sensoren in den Behältern registrieren, ob sie geleert werden müssen. So entfallen überflüssige Fahrten. Außerdem können die Tonnen mit kleineren, elektrisch betriebenen Fahrzeugen abgeholt werden. Diese sollen mithilfe von Verkehrsdaten auch nur dann fahren, wenn kaum Verkehr ist. Eine App könnte signalisieren, wann die Mülltonnen auf die Straße gestellt werden sollen. Das ist aber noch Zukunftsmusik. »Wir legen keinen Schalter um und sind dann Digitalstadt. Die meisten Projekte spielen sich auch eher im Hintergrund ab«, erklärt Schlosser, die für die Stadt lange im Controlling tätig war. Darmstadt habe jetzt die Gelegenheit, »Zukunft zu erproben und Digitalisierung zu gestalten, anstatt sie mit uns geschehen zu lassen«, sagte Jochen Partsch, der grüne Oberbürgermeister. Das Projekt werde ohne die Einbindung und Mitsprache der Bürgerschaft aber keinen Erfolg haben. Beim Darmstädter Chaos Computer Club würden sie sich dagegen mehr Mitsprache wünschen. »Seit der Preisverleihung gab es keine öffentlichen Beteiligungswerkstätten 2  Vgl. Digitalstadt Darmstadt GmbH, Koryphäe für Cybersicherheit wird »Chief Digital ­Officer« der Wissenschaftsstadt, in: digitalstadt-darmstadt.de, URL: https://digitalstadt-darmstadt.de/koryphaee-fuercybersicherheit-wird-chief-digital-­ officer-der-wissenschaftsstadt/ [eingesehen am 15.04.2018]. 3  Hackathons (von »Hack« und »Marathon«) sind gemeinsame Soft- und Hardwareentwicklungsveranstaltungen.

mehr«, berichtet IT-Aktivist und Informatiker Marco Holz. Auch städtische Hackathons3 oder offene Workshops und Tagungen vermisst der Hackerverein, der nur einen Steinwurf von den Büros des Projektteams entfernt regelmäßig zusammenkommt. Die Stadtbewohner sollten nicht nur Kunde oder Produkt sein, sondern aktiv an den Projekten beteiligt werden, so die Kritik der Darmstädter IT-Aktivisten. Laut Schlosser soll noch im Sommer eine städtische Online-Beteiligungsplattform an den Start gehen. In Südkorea, Indien oder Portugal haben IT-Konzerne schon ganze Smart Cities auf dem Reißbrett geplant und gebaut. Google gestaltet gerade einen Stadtteil in Toronto. Technokratische Visionen und Scheinlösungen für die sozialen und ökologischen Michael Kulmus  —  Selbstoptimierung im Stadtformat

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Probleme seien das, schrieb der Informationsarchitekt Adam Greenfield schon 2014 in seiner Streitschrift »Against the Smart City«.4 Schlosser meint, die Digitalisierung werde an der Stelle häufig überschätzt. »Brave New World«, wie sie es ausdrückt, sei mit dem Projekt nicht zu erwarten. »Wir wollen als Stadt Themen aktiv aufgreifen und bestimmte Angebote vereinfachen.« DIE DIGITALSTADT ALS RIESIGES INVESTITIONSPROJEKT Bis heute steht in Darmstadt die Engel Apotheke, aus der sich der Pharma- und Chemieriese Merck formte. Zum 350-jährigen Firmenjubiläum reiste Anfang Mai die Kanzlerin an. Das Unternehmen unterstützt junge Forscher und StartUps in einem neu gebauten Innovationscenter. Der Bau im Darmstädter Norden ist innen komplett offen, die sechs Ebenen sind spiralförmig angeordnet. Man bekennt sich hier zur Digitalstadt und ist etwa mit Flüssigkristallen für Displays auch gut im Geschäft. Auch andere lokale Unternehmen, die neben der Pharma- und Chemiebranche vor allem in der IT und dem Maschinenbau zuhause sind, möchten in die Digitalstadt investieren. Das Land Hessen zeigt sich mit zehn Millionen Euro für das Leuchtturmprojekt ebenfalls spendabel. Vodafone plant ein 500-Mbit-Mobilfunknetz. Auch die Deutsche Bahn, Intel, Roland Berger, HP, ebay und SAP wollen sich mit ihren Produkten und Dienstleistungen beteiligen. Doch selbst wenn Unternehmen Gelder verschenken – jede Investition über 200.000 Euro muss ausgeschrieben werden. Der Chaos Computer Club fordert, dass die Stadt dabei auf offene Datenstandards und die Herausgabe des Quellcodes der für die städtische Infrastruktur relevanter Software besteht. »Grundsätzlich gehen alle Projekte der Digitalstadt den gleichen Gang durch Politik und Verwaltung wie andere«, erläutert Simone Schlosser. Nach Schätzungen von Consultingunternehmen, »wird der SmartCity-Markt demnächst die Grenze von drei Billionen US-Dollar knacken und damit alle traditionellen Wirtschaftszweige überflügeln«.5 Mitten in Darmstadt steht das Residenzschloss und gleich um die Ecke die Universitäts- und Landesbibliothek, die aus der Luft wie ein kleines »b« aussieht. Die Straßenlaternen sollen nicht nur hier zukünftig mit Sensoren bestückt werden. Je nach Lichtverhältnissen könnten sich die Lampen dann selbst steuern. Digitale Anzeigen könnten den Fahrrad- und Fußgängerverkehr regeln. »Mit diesem Projekt wird die Digitalstadt sichtbar und wir erhöhen die Sicherheit für Radfahrer und Fußgänger«, erklärt Schlosser. Im niederländischen Eindhoven verbreiten solche Straßenlichter sogar Orangenduft, um das Aggressionspotenzial in einer beliebten Ausgehstraße zu senken. Hören und sehen können die smarten Lampen in Eindhoven längst. So wird etwa die Notrufzentrale alarmiert, wenn die Sensoren Hilferufe erfassen.6 Solcherlei

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Digitalisierung — Inspektion

4  Vgl. Patrick Dax, »Niemand weiß, was Smart City bedeutet«, in: futurezone.at, 24.06.2014, URL: https://futurezone.at/ digital-life/niemand-weiss-wassmart-city-bedeutet/70.823.281 [eingesehen am 15.04.2018]. 5  Evgeny Morozov u. Francesca Bria, Die smarte Stadt neu denken. Wie urbane Technologien demokratisiert werden können, in: Rosa-Luxemburg-Stiftung (Hg.), Berlin 2017, S. 15. 6  Vgl. Saskia Naafs, »Living laboratories«: the Dutch cities amassing data on oblivious residents, in: theguardian.com, 01.03.2018, URL: https://www. theguardian.com/cities/2018/ mar/01/smart-cities-dataprivacy-­eindhoven-utrecht [­eingesehen am 20.04.2018].

Vorkehrungen sind laut Schlosser in Darmstadt aber nicht geplant. Die Laternen steckten momentan noch in der Entwicklungsphase. In den Niederlanden übernehmen häufig auch private Unternehmen die digitalen Dienste. Und sammeln damit viele wertvolle Daten. Smarte Laternen sollten laut Chaos Computer Club generell »datensparsam« etwa nur mit Lichtsensoren ausgestattet werden. Fast vierzig Meter hoch ist das Denkmal für Ludwig den Ersten auf dem Luisenplatz. Gegen die geplante Videoüberwachung des Platzes hat der Chaos Computer Club mit anderen Gruppen schon eine Demo organisiert. Nur ein paar Straßen weiter steht das zentrale Stadthaus. Während Konten online eröffnet und Flugtickets im Internet gebucht werden, müssen Pässe oder Meldebescheinigungen immer noch direkt auf dem Amt abgeholt werden. Zukünftig will die Stadt ihre Dienstleistungen allerdings digital bündeln. Wie in Estland soll es eine Art elektronisches Bürgerkonto geben. Ob Anmeldung für die Wasserversorgung, Geburtsurkunden, Fahrkarten für Bus und Bahn: Herzkammer der Überlegungen ist eine zentrale Datenplattform. »Auf der Plattform

Michael Kulmus  —  Selbstoptimierung im Stadtformat

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werden unterschiedliche Datentöpfe zusammenlaufen und wir wollen damit vor allem auch unsere einzelnen IT-Systeme harmonisieren«, erklärt Simone Schlosser. Informatiker Holz meint indessen, personenbezogene Daten sollten »niemals auf einer zentralen Datenplattform zusammengeführt oder gar an externe Dienstleister weitergegeben werden«. In der Vergangenheit habe es immer wieder Datenlecks und Probleme bei der Zugriffskontrolle bei öffentlich erreichbaren Datenbanken gegeben. Einer seiner Mitstreiter hat erst vor wenigen Monaten eine Datenpanne bei Online-Anträgen fürs Anwohnerparken in der Nachbarstadt Frankfurt aufgedeckt.7 Datenschutz und Cyber­ sicherheit »stehen bei allen unseren Überlegungen an erster Stelle«, betont Schlosser. An der TU laufe momentan etwa ein spezielles Projekt, das sich nur mit der Absicherung der Schnittstellen zur Datenplattform befasst. Laut Schlosser hat die Datenplattform »so hohe Anforderungen, dass wir damit sicher mehr Zeit benötigen werden als die zwei Jahre der Projektphase«. WER PROFITIERT VON DER SMART CITY? Gerade unter nationalen Sparorgien leidenden Städten falle es besonders leicht, wertvolle Daten gegen Angebote wie freies WLAN oder modernste Verkehrssteuerungssoftware einzutauschen, »da Daten etwas sind, was in der Buchhaltung von kommunalen Verwaltungen in der Regel nicht auftaucht und von daher für sie auch keinen Wert darstellt«, schreiben die Technologieexpertin Francesca Bria und der Technikpublizist Evgeny Morozov in ihrer Studie »Die smarte Stadt neu denken«.8 Sie kritisieren zudem, dass die oftmals neoliberalen Konzepte der immer weiteren Privatisierung öffentlicher Infrastruktur Vorschub leisten würden. Grundsätzlich begrüße der Chaos Computer Club zwar mehr städtische Online-Angebote, erklärt Marco Holz. »Wir teilen aber Befürchtungen, dass die Stadt Projekte durch Dritte umsetzen lässt und sich dabei in langfristige Abhängigkeiten einzelner Hersteller begibt oder öffentliche Infrastrukturdaten nicht als Open Data bereitgestellt werden, sondern als Geschäftsgeheimnisse der Plattformanbieter behandelt werden.« Den Umstieg der Stadtverwaltung auf quelloffene Software würde sein Verein befürworten. »Freie Software stellt die Grundlage für eine souveräne Verwaltung dar, die unabhängig von den Produkten einzelner Softwarehersteller ist«, sagt der Informatiker. Solche Vorhaben sind laut Simone Schlosser in der Projektphase allerdings nicht geplant: »Wir arbeiten in gewachsenen Strukturen und können nicht von heute auf morgen alles umstellen und auf der grünen Wiese experimentieren.« Andere Städte arbeiten schon an Digitalkonzepten ohne die großen IT-Konzerne, Barcelona etwa. Francesca Bria, die auch die Digitalstrategie der

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7  Vgl. Anette Rehn, Vorerst keine Online-Anträge auf An­woh­ nerparken, in: hessenschau.de, 04.01.2018, URL: https://www. hessenschau.de/panorama/sicherheitsluecke-vorerst-keine-online-antraege-auf-anwohner-parken,parken-sicherheitsluecke-100. html [eingesehen am 24.04.2018]. 8  Morozov u. Bria, Die smarte Stadt neu denken, S. 38 f.

spanischen Millionenmetropole leitet, setzt auf eine Abstimmungsplattform, Open-Source-Software und Entwicklungen vor Ort. Freilich sind das andere Dimensionen: Ihr Team besteht aus rund 300 Mitarbeitenden.9 Darmstadt ist weit über die Grenzen Hessens hinaus als Crypto-Hochburg bekannt. In der Stadt wurde das erste deutsche Rechenzentrum gegründet, die Europäische Raumfahrtagentur steuert von hier ihre Weltraummissionen. Über das ganze Stadtgebiet sind Gebäude der Technischen Universität, mehrere Hochschulen und Dutzende Forschungseinrichtungen verteilt. »Darmstadt ist seit 20 Jahren Wissenschaftsstadt. Dass es uns ausgerechnet im Jubiläumsjahr gelingt, Digitalstadt für Deutschland und Europa zu werden, ist kein Zufall«, freute sich Bürgermeister Partsch. »Sicher bietet Darmstadt gute Voraussetzungen für Studierende und AbeitnehmerInnen im IT-Bereich«, sagt Marco Holz. Andere Städte wie etwa Berlin, Bonn oder Heidelberg seien aber offener und organisierten Projekte wie Jugend Hackt oder Veranstaltungen zu digitalen Themen in ihren Stadtbibliotheken. »Hier kann sich Darmstadt noch viel von anderen Kommunen abschauen«, meint der IT-Experte. Zwar ist nach Angaben von Schlosser für kommenden Herbst eine städtische Konferenz mit Vorträgen und Debatten zur Digitalisierung geplant, ein digitales Ökosystem zwischen der Stadt und zivilgesellschaftlichen Gruppen besteht laut Chaos Computer Club bislang aber nicht. Inwiefern sie im Dagger-Komplex am westlichen Rand Darmstadts in städtische und andere Aktivitäten eingebunden sind, ist streng geheim. US-Geheimdienste sollen hier tief unter der Erde Datenspionage betreiben. Auch die Lincoln-Siedlung war einst militärisches Sperrgebiet. Stück für Stück werden die Barracken umgebaut und renoviert, nachdem die Stadt das marode Gelände vor einigen Jahren aufgekauft hatte. Auch genossenschaftliche Wohnprojekte mit einem hohen Anteil an Sozialwohnungen sind geplant, denn von Wohnungsnot und Mietenexplosion sind immer mehr Darmstädter betroffen. In ein paar Jahren könnten elektrische Minibusse durch das Gebiet tingeln. Dank Laser, Kameras und GPS sind die Gefährte ohne Fahrer unterwegs. Bislang gab es aber nur kurze Teststrecken, die als Privatgelände ausgewiesen sein müssen: Betreten auf eigene Gefahr. »Wir überlegen momentan, wo wir eine Strecke zum Testen dieser Fahrzeuge einrichten können«, sagt Simone Schlosser. Eine neue Haltestelle der Straßenbahn hat das Gelände schon. Auch die Tram soll zukünftig autonom 9  Vgl. Nina Scholz, »Für uns geht es gerade um alles«, in: freitag.de, 01.03.2018, URL: https:// www.freitag.de/autoren/der-freitag/fuer-uns-geht-es-gerade-umalles [eingesehen am 13.04.2018].

fahren – teilautonom zumindest. Am Maschinenbau-Institut der Universität werden solche Fahrzeuge entwickelt. Digitalstadt-Geschäftsführerin Schlosser geht davon aus, dass voraussichtlich bis 2021 mit einer solchen Linie gerechnet werden könne. Michael Kulmus  —  Selbstoptimierung im Stadtformat

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DIGITALE INFRASTRUKTUR UND BIG-BROTHER IS WATCHING YOU Die Verkehrskolonnen, die sich tagtäglich nach, aus und durch Darmstadt schieben, werden schon heute von einem digitalen Hirn orchestriert. Kameras erfassen anonymisierte Bilder der Verkehrsdichte. Die Ampelanlagen sind über ein Lichtwellennetz miteinander verbunden und senden Daten in Echtzeit. Das System erkennt sogar Fußgänger, die über eine Kreuzung wollen. Busse und Bahnen melden sich bei den Ampeln per GPS-Signal an und bekommen Vorfahrt. Über eine Open-Data-Plattform für Verkehrsdaten – die bislang erste in Deutschland – sind die Daten öffentlich zugänglich. Ums Parken in der Stadt kümmert sich künftig die Deutsche Telekom. Das Unternehmen will die städtischen Parkplätze zukünftig mit Sensoren ausstatten. Eine App zeigt dann freie Parkplätze an, die auch sofort gebucht und bezahlt werden können. Vorstellbar sei laut Telekom auch, etwa Schwarmdaten aus dem Mobilfunknetz für die Vorhersagen zum Parkraumangebot zu nutzen.10 Dass solche Dienstleistungen nach der Projektphase voraussichtlich etwas kosten werden, wissen sie bei der Stadt. »Wir sind darauf eingestellt«, erklärt Schlosser. Nur ein paar Kilometer Luftlinie von Darmstadt entfernt, steht in Frankfurt mit DE- CIX der größte Internet-Knoten der Welt: In Spitzenzeiten strömen hier über sechs Terabit pro Sekunde durch die Leitungen. Auch bei den jährlich rund 40.000 stationären Patienten des Darmstädter Klinikums fallen eine Menge Daten an. Neue Patientenakten werden digital angelegt, die alten wurden eingescannt und digitalisiert. Überall hängen große Displays zur Stationsplanung. Mit einem mobilen Visitewagen rufen Ärzte über WLAN etwa Röntgenbilder auf und besprechen Befunde mit den Patienten.

Bald soll auch das Pflegepersonal damit Puls, Blutdruck, Temperatur und Atmung der Patienten dokumentieren. Über die Datenplattform sollen Patienten zukünftig ebenfalls auf ihre Krankenakte zugreifen können sowie in virtuellen Chaträumen Fragen und Beschwerden mit Ärzten erörtern. »Solche Daten auf zentralisierten Plattformen halten wir grundsätzlich für sehr bedenklich«, erklärt IT-Aktivist Holz. Nach dem Gebot der Datensparsamkeit sollten seiner Ansicht nach auch keine biometrischen Merkmale erfasst werden, sofern nicht unbedingt nötig. Das geplante Gesichtserkennungsprojekt für Medizingeräte am Klinikum sieht Holz deshalb kritisch. Mit ihren übers Eck eingebauten Fenstern, halbrunden Formen und dem glatten Putz hebt sich die Reihenhaussiedlung Am Lindgraben wohltuend von den Einfamilienhauswüsten und Klötzchenbauten heutiger Tage ab. In der Stadt stehen einige Wohnanlagen des Reform- und Gartenstadtbauens der 1920er Jahre, die häufig von großen Unternehmen wie etwa Eisenbahngesellschaften für ihre Arbeiter errichtet wurden. Mit intelligenten, vernetzten

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10  Siehe hierzu Deutsche T ­ elekom AG, Die digitale Stadt Darmstadt parkt smart, 28.06.2017, URL: http://connectedcar. telekom-dienste.de/node/28 [eingesehen am 20.04.2018].

Stromzählern sollen in der Digitalstadt zukünftig alle Bauten ausgestattet werden. Denn die braucht es für die Stromnetze der Zukunft, die sogenannten Smart Grids. Mit denen befassen sich Forscher der Hochschule Darmstadt. Eine digitale Steuerung stimmt Erzeugung, Speicherung und Verbrauch des Stroms optimal aufeinander ab und gleicht Leistungsschwankungen aus, insbesondere von Wind- und Sonnenenergie. Für eine dezentralisierte Stromerzeugung mit vielen Stromlieferanten sind diese Netze daher deutlich besser ausgelegt.11 Für den Fluss der Datenpakete sorgt in der Innenstadt unter anderem ein frei verfügbares WLAN. Bald soll das Netzwerk auf ganz Darmstadt ausgeweitet werden und in allen Bussen und Bahnen funken. Außerdem gibt es ein dezentrales, nichtkommerzielles Freifunk-Netzwerk über die Router von Privatpersonen. »Das Freifunknetz ist ein offenes Netzwerk der Menschen in Darmstadt und speichert keine personenbezogenen Daten. Die WLAN-Netze der kommerziellen Anbieter sind nicht kostenfrei, sondern müssen mit Daten bezahlt werden«, erklärt Marco Holz. Gemeinsam mit der Stadt betreibt die Initiative unter anderem die WLAN-Zugänge der meisten städtischen Flüchtlingsunterkünfte. Die Digitalökonomie fördere vor allem kurze Aufmerksamkeitsspannen und gefährde unsere Demokratie, erklärt der US-Philosoph Michael Sandel in einem Interview.12 Im Silicon Valley sollen manche Tech-Arbeiter ihre Kinder extra auf Schulen schicken, in denen Smartphones und Tablets tabu sind. In Darmstadt gehe es »nicht einfach nur darum, den Schülerinnen und Schülern ein Tablet in die Hand zu drücken und das als Digitalisierung zu verkaufen«, erklärt Simone Schlosser. »Wir wollen vor allem die Medienkompetenz fördern und zum offenen Diskurs etwa über Cybermobbing und Medienkonsum anregen.« Dem pflichtet auch der Chaos Computer Club bei. Der Verein hält an Schulen Vorträge etwa zu digitaler Selbstverteidigung oder den 11  Vgl. Peter Carstens, Das Stromnetz der Zukunft, in: geo.de, 22.10.2012, URL: https:// www.geo.de/natur/oekologie/ 3245-rtkl-modellstadt-mannheim-das-stromnetz-der-zukunft [eingesehen am 02.05.2018]. 12  Vgl. Anna Sauerbrey (Interview mit Michael Sandel), »Das digitale Zeitalter bedroht die Demokratie«, in: tagesspiegel. de, 16.06.2016, URL: https:// www.tagesspiegel.de/kultur/ us-philosoph-michael-­sandeldas-digitale-zeitalter-bedrohtdie-demokratie/13739332.html [eingesehen am 03.05.2018].

grundlegenden Funktionsweisen des Internets. Digitale Bildung dürfe aber nicht nur von Freiwilligen abhängen, sagt Marco Holz. Laut Schlosser ist ein Digitallabor in der Stadt geplant. In diesem soll nicht nur der Umgang mit digitalen Medien vermittelt, sondern auch debattiert werden. Schüler seien heute ständig mit digitalen Medien konfrontiert. »Diese Realität müssen wir offen und kritisch erörtern«, sagt sie. BÜRGERBETEILIGUNG PER APP Jüngst hat die konservative Regierung in Großbritannien ein Ministerium gegen Einsamkeit gegründet, was sicher auch Kosten für das Gesundheitssystem der Insel senken soll. In der Digitalstadt Darmstadt soll hingegen eine Quartiersapp die Menschen zueinander bringen. »Auch diese Idee stammt Michael Kulmus  —  Selbstoptimierung im Stadtformat

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aus einer Bürgerbeteiligung«, erläutert Schlosser. Nachbarn sollen sich damit vernetzen und so beispielsweise gemeinsam Feste im Viertel organisieren, oder auch nur Bohrmaschinen und Fahrräder teilen. Mängel im öffentlichen Raum, wie etwa Schlaglöcher, überfüllte Mülleimer oder defekte Straßen­ laternen, teilen Bürgerinnen und Bürger schon seit einigen Jahren über eine Mängelmelder-App der Stadtverwaltung mit. Die Anwendung wurde in Darmstadt entwickelt und zum Exportschlager, sodass auch andere Kommunen die App mittlerweile nutzen. Die Funktionen sind seit kurzem auch auf einer digitalen Stadtkarte verfügbar. Ob und wie schnell die Verwaltung die jeweiligen Meldungen angeht, ist per Farbschema direkt ersichtlich.13 Studierende der Hochschule Darmstadt entwickeln indes ihre Navigationsapp für Menschen im Rollstuhl weiter, die ebenfalls von Nutzerinnen und Nutzern mit Daten versorgt wird. Im Abendlicht schimmern die goldenen Kuppeln der Russischen Kapelle in voller Pracht. Nebenan stehen der Hochzeitsturm und das Ausstellungsgebäude von Joseph Maria Olbrich, das wohl bekannteste Duo auf der ­Mathildenhöhe. Geformte Gärten, riesige Feuerleuchter, detailreiche Wohnund Atelierhäuser: Hier wurde kaum etwas dem Zufall überlassen. Wie in den Smart Cities. Was die Jugendstilkünstler oder Georg Büchner zur Digitalstadt gesagt hätten, wissen wir nicht. Könnte es sein, dass die bisherigen Konzepte nur Chancen für die Vornehmen des Digitalzeitalters, also Investoren und gut verdienende Fachkräfte bieten wie Kritiker behaupten? Wohnraummangel, Gentrifizierung oder soziale Spaltungen spielen in den Werbebotschaften der Techkonzerne jedenfalls keine Rolle. Dass Städte dynamische Gebilde sind, in denen auch Konflikte ausgetragen werden – wo sonst? – geht in den Investorenträumen unter. »Wir begrüßen, dass sich die Stadt dem Thema Digitalisierung annimmt, sehen aber noch viel Handlungsbedarf, gerade was die Themen Bürgerbeteiligung und Digitale Bildung angeht«, erklärt IT-­A ktivist Holz. Für kleine und größere Updates scheint indes noch etwas Zeit. Die Digitalstadt wird Simone Schlosser zufolge »auch nach der Projektphase Ende 2019 nicht einfach die Türen schließen«.

Michael Kulmus hat in Darmstadt Online-Journalismus studiert. Anschließend war er Volontär und Redakteur für die städtische Online-Redaktion und das Stuttgarter Amtsblatt, wo er aus Stadtpolitik, Verwaltung und Kulturleben der schwäbischen Hauptstadt berichtet hat. Stationen unter anderem bei der 3sat Kulturzeit, im Haus des Dokumentarfilms und als freier Dozent in der Erwachsenenbildung. Jetzt als Online-Redakteur für das Naturkundezentrum der Universität Hamburg tätig.

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13  Vgl. Claudia Kabel, Beschwerde per Mausklick, in: fr.de, 01.02.2018, URL: http://www.fr.de/rhein-main/ alle-gemeinden/darmstadt/ darmstadt-beschwerde-­ per-mausklick-a-1439056 [eingesehen am 03.05.2018].

PERSPEKTIVEN

ANALYSE

DER EUROMAIDAN ALLTAGSPRAKTIKEN DER PARLAMENTARISCHEN ­ELITEN IN DER UKRAINE ΞΞ Oleksandra Iwaniuk

Aus der Sicht außenstehender Beobachter hat die Maidan-Revolution eine neue Ära in der Geschichte der Ukraine eingeleitet, eine Ära der Demokratisierung und somit auch eine Stärkung des Parlaments, Werchowna Rada (Oberster Rat) genannt, welche durch eine Verfassungsreform und eine Politik der Entoligarchisierung, also ein Zurückdrängen des Einflusses ukrainischer Oli­ garchen auf staatliche Institutionen und Unternehmen, ermöglicht worden sei. Nach dem Maidan fanden in der Ukraine Präsidentschafts- und Parlamentswahlen statt; letztere hatten zum Ergebnis, dass mit 64 % eine ungewöhnlich große Zahl neuer Abgeordneter in den Obersten Rat einziehen konnte. Dies hat zunächst zu großem Optimismus Anlass gegeben, dem jedoch eine Welle der Enttäuschung folgte: Nach über drei Jahren ist klar, dass es – trotz der (de jure) gestärkten Position des Obersten Rates im politischen System – dem Präsidenten Petro Poroshenko gelungen ist, seinen Einfluss auf das Parlament aufrechtzuerhalten, insbesondere durch informelle Mechanismen wie die aktive Kooperation zwischen der Präsidentenpartei Petro Poroshenko’s Blok und oligarchischen Fraktionen wie Vidrodzhennia (Erneuerung) und Volia Narodu (Volkswillen). Diese interfraktionelle Zusammenarbeit kompensiert den Mangel an stabilen Koalitionen und stattet den Präsidenten mit zusätzlichen Stimmen aus. Poroshenko handelt im Gegenzug im Interesse der Oligarchen, die die staatlichen Unternehmen kontrollieren. Zudem hat der ehemalige Präsident des Obersten Rates, Volodomyr Hroisman, der mittlerweile Ministerpräsident ist, eine Reihe illegaler Praktiken im Parlament salonfähig gemacht: So wird Druck auf oppositionelle Fraktionen ausgeübt, Gesetzesentwürfe werden solange zur Abstimmung gestellt, bis sie angenommen sind (signal voting) und Abstimmungen nachts durchgeführt.

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Angesichts der Tatsache, dass die parlamentarischen Prozesse sich auch weiterhin nach den alten Regeln vollziehen – ergänzt durch neue illegale Praktiken, die die Zustimmung des Präsidenten finden –, ist der hohe Anteil von Parlamentsneulingen und die kleine Zahl derjenigen Abgeordneten, die genügend Erfahrung besitzen, um eine effektive Kontrollfunktion auszuüben, problematisch. Dies ist einer der Gründe dafür, weshalb der Rat trotz – oder gerade wegen – der zahlreichen »Neuzugänge« bei seinen alten Praktiken geblieben ist. Das Ungleichgewicht zwischen mangelnder Erfahrung im Umgang mit den parlamentarischen Regeln einerseits und der Dominanz der alten informellen Regeln und illegalen Praktiken andererseits ist evident. DER OBERSTE RAT, SEINE AKTEURE UND PIERRE BOURDIEU Um die angedeuteten Entwicklungen und die damit korrespondierenden Verhaltensweisen der politischen Eliten in Zeiten des Aufruhrs zu erklären, sollen im Folgenden einige Ergebnisse meiner Forschung zu den politisch-­sozialen Praktiken in der Ukraine im Zeitraum von 2002 bis 2014 präsentiert werden. Im Obersten Rat habe ich ethnografische Beobachtungen durchgeführt, indem ich mich in den Räumen bewegte, die Journalisten offenstehen und jene Räume und Flure umfassen, die zum Plenarsaal, zum Pressebereich, zum Speisesaal, zum Raucherzimmer und zu den Zuschauertribünen führen. Zusätzlich zu diesen Beobachtungen habe ich eine genaue Analyse der Print­medien und verfügbarer Presseberichte vorgenommen, um Art und Häufigkeit der im Obersten Rat gepflegten Praktiken zu registrieren. Schließlich stütze ich mich auf 55 halbstandardisierte Interviews, bei denen ich vor allem mit Mitarbeitern von Abgeordneten, aber auch mit Abgeordneten selbst, mit Parlamentskorrespondenten, Politikberatern sowie Mitarbeitern des Obersten Gerichtshofes der Ukraine gesprochen habe. In den Interviews ging es vor allem um die Praktiken, die den Arbeitsalltag ukrainischer Abgeordneter bestimmen, speziell um die Strategien, die sie verfolgen, um an ihre Ziele zu gelangen und ihre Arbeit im Parlament beziehungsweise in den Ausschüssen effizient zu gestalten. Zudem habe ich nach der Zeit gefragt, die Abgeordnete benötigen, um sich mit den formellen und informellen Regeln parlamentarischer Aktivitäten vertraut zu machen. Außerdem interessierten mich die Lebensstile der Abgeordneten, ihre Beziehungen zu anderen Abgeordneten, ihr Verständnis ungeschriebener Regeln, ihre persönlichen Motive und ihr Verhalten außerhalb der Öffentlichkeit. Auf der Basis von Pierre Bourdieus Theorie der Praktiken, des Habitus, der Kapitalformen und des Feldes können wir die Produktion und Reproduktion von Macht betrachten und dabei insbesondere auf ihre Alltagspraktiken Oleksandra Iwaniuk  —  Der Euromaidan

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fokussieren. So können wir verstehen, warum Parlamentarier und generell politische Eliten in der Ukraine sich gegen jegliche Veränderungen sperren. Bourdieu selbst bemerkt hierzu, dass »eine der stärksten Mauern zwischen Klassen durch den Unwillen einer Klasse, ihren Lebensstil aufzugeben, errichtet wird, der eine mächtige Zurückweisung von Veränderungen bedingt«1. In dieser Hinsicht sind Praktiken als Ergebnis einer unbewussten Beziehung zwischen einem Habitus und einem Feld zu verstehen.2 Die Theorie der Praktiken hilft uns, gewisse Vererbungen von Verhaltensstrategien zu verstehen, aber auch, die Logiken von Entscheidungsprozessen und – besonders wichtig – spezifischer Denkmuster nachzuvollziehen, die sich der Veränderung altbewährter Praktiken verweigern und dadurch das Erreichen qualitativ neuer Entwicklungsstadien blockieren.3 So gesehen sind die Atmosphäre im Obersten Rat, sein sense pratique, seine Hierarchien, seine formellen und informellen Regeln und deren Einfluss auf das Verhalten von Abgeordneten von großer Bedeutung. Aus meinen Beobachtungen und aus den von mir geführten Interviews kann ich schließen, dass der Rat eher einen elitären Club und ein Mittel zum Netzwerken darstellt als jenes repräsentative Organ, das er sein sollte. Die von mir Befragten haben wiederholt darauf hingewiesen, dass die Atmosphäre in der Rada von einer paradoxen Mischung aus Misstrauen und Anything goes geprägt sei. Manche Abgeordnete haben ständig Angst, abgehört oder attackiert zu werden. Dies ist der Grund, weshalb einige der mächtigeren Abgeordneten es vorziehen, die leeren Korridore der Rada in Begleitung von Leibwächtern zu passieren. Während die vielen Fälle von absichtlichen Störungen und offener Gewalt im Parlament, die von der Politikwissenschaftlerin Ioulia Shukan detailliert beschrieben wurden,4 geradezu schockierend sind, haben andere Abgeordneten keine Hemmungen, sich direkt in der Abstimmungshalle mit ihren Geschäftspartnern und Gönnern über korrupte Geschäftspraktiken auszutauschen. Insbesondere auch letzteres hat wiederholt für politische Skandale gesorgt. Einige der Praktiken, die sich in der Rada festgesetzt haben, wurden offenbar aus früheren, dem Parlamentsmandat vorgelagerten vorpolitischen Karrieren importiert, während andere Handlungsmuster ganz einfach auf die Motivation zurückzuführen sind, Networking zu betreiben und auf diese Weise private Geschäfte voranzutreiben. Dementsprechend geht es im Parlament relativ hektisch zu: »Der Plenarsaal ist unglaublich laut – Abgeordnete bleiben nicht auf ihren Plätzen, sie kommen ständig in Zweier- oder Dreiergruppen zusammen, um sich wieder mal im politischen Kuhhandel zu betätigen.«5

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Perspektiven — Analyse

1  Pierre Bourdieu, ­Dystynkcja: Społeczna krytyka władzy sa˛dzenia, Warszawa 2005, S. 75. 2  Vgl. Karl Maton, Habitus, in: Michael J. Grenfell (Hg.), ­Bourdieu. Key Concepts, Durham 2010, S. 48–65, hier: S. 52. 3  Vgl. David Swartz, Culture and Power. The Sociology of Pierre Bourdieu, London 1997. 4  Vgl. Ioulia Shukan, Intentional disruptions and violence in Ukraine’s Supreme Rada: political competition, order, and disorder in a post-Soviet chamber, 2006–2012, in: Post-Soviet Affairs, Jg. 29 (2013), H. 5, S. 439–456. 5  Sergii Leshchenko, Ukraine’s Verkhovna Rada: an oligarchs’ club or a real parliament?, in: Open Democracy: Russia and Beyond, 02.06.2016, URL: https://www.opendemocracy. net/od-russia/sergii-leshchenko/ ukraine-s-verkhovna-rada-oligarchs-club-or-real-parliament [eingesehen am 10 May 2017].

MANGEL AN SUBSIDIARITÄT UND POLITISCHER VERANTWORTUNG Die Arbeit im Obersten Rat ist darüber hinaus in einer Weise organisiert, die viel Raum für Vetternwirtschaft, Klientelismus, Nepotismus und Korruption auf allen Ebenen lässt. Zunächst einmal besteht ein Mangel an Subsidiarität im Parlament: Abgeordnete und ihre Assistenten müssen bei Problemen oder Anfragen immer die höchste Ebene kontaktieren, was dazu führt, dass es vielfältige Gelegenheiten für Amtsmissbrauch gibt. Selbst wenn nur ein einfacher Parkplatz benötigt wird, muss ein parlamentarischer Assistent einen Antrag beim Büro des Parlamentspräsidenten einreichen. Dieses wurde in der Vergangenheit unter anderem beschuldigt, fingierte Bestellungen von neuen Möbeln und Computern, die nie im Parlament angekommen sind, aufgegeben zu haben. Journalistische Untersuchungen und die Angaben meiner Interviewpartner bestätigen, dass es im Zusammenhang mit solchen Bestellungen auch heute noch immer wieder Unterschlagungen gibt. Zu ähnlichen Betrügereien kommt es bei der Verteilung von Vergünstigungen für Abgeordnete, zu denen etwa kostenlose Apartments und Stadthäuser zählen, aber auch unverhältnismäßig teure Renovierungen von Parlamentsbüros, die durch Haushaltsmittel finanzierte Einrichtung geheimer Telefonleitungen, die der Kommunikation untereinander dienen soll, oder kostenlose Kuraufenthalte, die meist gar nicht von den Abgeordneten selbst, sondern von ihren Assistenten oder engen Angehörigen in Anspruch genommen werden. Obwohl die meisten Abgeordneten wohlhabend sind, klammern sie sich an ihre Privilegien. Sie erstellen großzügige Reisekostenabrechnungen, verlangen nach einem separaten Budget für Lebenshaltungskosten, obwohl ihnen bereits die Miete bezahlt wird, und versuchen aus allen möglichen Vergünstigungen Vorteile zu ziehen. Hinzu kommt, dass die meisten ukrainischen Politiker in abgeschotteten Siedlungen leben, Charterflüge ukrainischer Airlines nutzen und auch sonst alles tun, um den Kontakt mit normalen Menschen zu vermeiden. DAS »KLAVIERSPIELEN«, DIE HIERARCHIE DER AUSSCHÜSSE UND DER INTERESSENWETTBEWERB Eine der am weitesten verbreiteten und gewöhnlichsten Praktiken in der Rada ist seit langer Zeit das sogenannte »Klavierspielen«: Abgeordnete geben bei Wahlgängen mehrere Voten ab, indem sie für abwesende Kollegen abstimmen. Es ist bezeichnend, dass in 26 Jahren kein einziger Abgeordneter dafür bestraft wurde, obwohl es sich hierbei, zumindest in der Theorie, um einen eindeutigen Oleksandra Iwaniuk  —  Der Euromaidan

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Verfassungsbruch handelt. Die Abgeordneten sind weder daran interessiert, Strafen zu verhängen, noch wollen sie technische Vorkehrungen treffen, die das Problem des Klavierspielens lösen könnten. In den Interviews haben manche Abgeordnete zugegeben, dass sie auf die Möglichkeit, für ihre Kollegen abzustimmen, dringend angewiesen sind, um die benötigten Gesetze trotz der im Parlament verbreiteten Neigung zum ständigen Fernbleiben (insbesondere an Freitagen) verabschieden zu können. Die Praxis des Klavierspielens bleibt daher auch in der neuen Rada bestehen; sie wird besonders von jenen Abgeordneten gepflegt, die der Partei des Präsidenten angehören, wodurch die anderen Fraktionen inspiriert werden, es ihnen gleichzutun. Die meisten Abgeordneten vertreten im Übrigen die Meinung, dass nicht das Klavierspielen per se ein Problem darstelle. Vielmehr sei dies bloß das Ergebnis eines sehr viel tiefergehenden Problems, nämlich des mangelnden Verantwortungsbewusstseins, dessen Ausdruck die ständige Abwesenheit von Abgeordneten sei. Damit erhärtet sich der Eindruck, dass die Motivation vieler Abgeordneter, in die Rada gewählt zu werden, auf ihr Interesse zurückzuführen ist, Privilegien wie die Möglichkeit des Netzwerkens, Immunität und einen direkten Draht zum Kabinett in Anspruch zu nehmen. Angesichts der Tatsache, dass die Arbeit in den Ausschüssen eine der wichtigsten Abgeordnetentätigkeiten darstellt, bündeln sich hier die Probleme ebenso wie die Gelegenheiten für korrupte Praktiken. Ganz abgesehen davon, dass die Ausschusssitzungen von den Abgeordneten noch seltener besucht werden als die Plenarsitzungen – die Mandatare zeigen also nur besonders wenig Interesse für die letztlich ausschlaggebende Arbeit an Gesetzesentwürfen. Zum einen entspricht die Zahl der Ausschüsse nicht der Zahl der Ministerien, wodurch die Arbeit bestimmter Ausschüsse entweder überflüssig oder ineffizient wird. Zum anderen ist die Verteilung der Abgeordneten auf die verschiedenen Ausschüsse unausgewogen. Es gibt zum Beispiel Ausschüsse, die außerordentlich viele Mitglieder haben, weil sie viele Gelegenheiten für Korruption bieten und daher bei den Abgeordneten sehr beliebt sind, so etwa der Ausschuss zur Steuer- und Zollpolitik. Ausschüsse wie der Ausschuss für Bildung und Wissenschaft, der Ausschuss für Familie, Jugend, Sport und Tourismus, der Ausschuss für Arbeit, Soziales und Rentenversicherung oder der Ausschuss für Veteranen, Teilnehmer an Kampfhandlungen und Anti-­Terroreinsätzen sowie für Menschen mit Behinderung dagegen

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Perspektiven — Analyse

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sind mit einer extrem kleinen Zahl von Abgeordneten besetzt. Die derzeit bestehende Methode zur Besetzung der Ausschüsse hat zur Folge, dass die lukrativen Ausschüsse zugleich die prestigeträchtigen sind. Drittens werden Abgeordnete vielfach in Ausschüsse gewählt, die für ihre Geschäftsinteressen besonders günstig sind, was laut Verfassung illegal ist, da diese die Verquickung von politischen und wirtschaftlichen Aktivitäten strikt verbietet. Das hauptsächliche Kriterium für die Mitgliedschaft von Abgeordneten in einem bestimmten Ausschuss sollten ihre fachlichen Kompetenzen sein, nicht politische Opportunitäten. So ist zum Beispiel ein Drittel der Mitglieder des Landwirtschaftsausschusses in irgendeiner Weise mit der Agrarwirtschaft verbunden, indem sie entweder einen eigenen Betrieb oder entsprechende Aktienanteile besitzen.6 Viertens finden die meisten Ausschusssitzungen zur selben Zeit statt, wodurch es Abgeordneten, die an Gesetzesentwürfen mitarbeiten, welche in verschiedenen Ausschüssen beraten werden, unmöglich gemacht wird, an jeder Sitzung teilzunehmen. In diesem Zusammenhang sollte auch die Tatsache Erwähnung finden, dass die Mehrzahl der von Parlamentariern – und hier unterscheiden sie sich nicht nach Fraktionszugehörigkeiten – initiierten Gesetzesentwürfe in den Entscheidungsbereich von Ausschüssen fallen, in denen sie selbst gar nicht sitzen. Hieran zeigt sich besonders markant, dass die Prinzipien, nach denen die Abgeordneten auf die Ausschüsse verteilt werden, dringend korrekturbedürftig sind.7 Ein weiteres Problem stellt die Marginalisierung der parlamentarischen Opposition dar. So wurde beispielsweise kein Vertreter jener Parteien, die im Wahlkampf 2014 in Opposition zur Regierung auftraten, zum Vorsitzenden irgendeines Parlamentsausschusses gewählt. Einige Anführer von Oppositionsparteien wurden sogar strafrechtlich verfolgt, was als Bestandteil der überaus vielseitigen postsowjetischen Einschüchterungstaktiken gegenüber oppositionellen politischen Kräften betrachtet werden kann.8 WAS ZU DURCHGREIFENDER DEMOKRATISIERUNG FEHLT In der vierten und fünften Legislaturperiode wurden 1506 Gesetzesentwürfe registriert, aber nur 187 von ihnen wurden schließlich zu Gesetzen. Dies ist nicht zuletzt auf die weitverbreitete Praxis in der Rada zurückzuführen, dass Abgeordnete so viele Gesetzesanträge wie möglich stellen, auch wenn vielfach nicht ernsthafte die Absicht besteht, sie einer erfolgreichen Abstimmung zuzuführen. Ihre Motivation besteht eigentlich nur darin, ihre persönliche Leistungsfähigkeit zu demonstrieren, die oft anhand der eingereichten Gesetzesinitiativen gemessen wird.

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Perspektiven — Analyse

6  Vgl. Equator of the Supreme Rada: The History of Parliamentary Disease, Civic Movement »Chesno« Report, 01.06. 2017, URL: http://www.pravda.com.ua/ cdn/graphics/2017/06/ekvator_ vru_istorija_parlamentskoi_hvoroby/ [eingesehen am 15.06.2017]. 7  Vgl. Report on Efficiency of the Work of Parliamentary Committees (prepared within the framework of the USAID»RADA: Accountability, Responsibility, Democratic Parliamentary Representation« Program), 26.11.2016, URL: https:// rada.oporaua.org/analityka/ zviti/13080-efektyvnist-roboty-parlamentskykh-komitetiv [eingesehen am 02.02.2017]. 8  Vgl. Mykhailo Minakov, Post-Soviet Parliamentarian Drama: a View from ›the Gods‹ in Kyiv, Open Democracy, 22.02.2016, URL: https:// www.opendemocracy.net/ westminster/mikhail-minakov/ post-soviet-parliamentarian-­ drama-view-from-gods-inkiev [retrieved 03.03.2016].

Diese Praxis hat in Wirklichkeit in höchstem Maße kontraproduktive Auswirkungen. Denn indem Abgeordnete ständig neue und meist dilettantisch ausgearbeitete Gesetzesanträge stellen, überlasten sie die üblichen parlamentarischen Verfahren. Zugleich lassen sie Kapazitäten für die Ausarbeitung langfristiger Projekte ungenutzt und erschweren die fraktionsübergreifende Kommunikation im Parlament. Im Gegensatz zu ihrem Übereifer bei der Antragsstellung von Gesetzen scheinen die Abgeordneten der Rada im Allgemeinen nicht sehr interessiert daran zu sein, sicherzustellen, dass die von ihnen beantragten Gesetze, die schließlich vom Parlament verabschiedet wurden, auch tatsächlich umgesetzt werden. Ausgerechnet die Implementierung von Gesetzen entzieht sich großteils ihrer Aufmerksamkeit. Absichtlich oder unbeabsichtigt behindert die überwältigende Mehrheit der Abgeordneten durch ihr Verhalten elementare Veränderungen im bestehenden System. Dem Großteil der Mitglieder der Rada fehlt es aber wohl ohnehin an der nötigen Motivation, solche Veränderungen auf den Weg zu bringen, da sie im Widerspruch zu wichtigen Interessen stehen – den Interessen ihrer Förderer, aber auch ihren eigenen Vorstellungen politischer Zweckdienlichkeit. Die Dominanz der Beharrungskräfte ist aber auch dem Wahlsystem geschuldet, das Korruption und die Oligarchisierung des Parlaments begünstigt. Zudem wird der Bestandserhalt des gegenwärtigen Systems vom Staatspräsidenten unterstützt, dessen Gesetzesinitiativen vom Parlament in neunzig Prozent der Fälle und also fast immer angenommen werden. Kurzum: Die informellen Spielregeln sowie die formellen und informellen Praktiken der politischen Eliten sind im Grunde dieselben geblieben, trotz der großen Zahl an neuen Abgeordneten, die nach den Maidan-Protesten und der Parlamentswahl 2014 in die Rada eingezogen sind. Anstatt alte Muster und Denkweisen zu verändern, haben die Newcomer entweder alte Praktiken erfolgreich adaptiert oder ernüchtert aufgegeben. Nur sehr wenige neue Abgeordnete versuchen, das System zu verändern, aber ihre Bemühungen bleiben bislang aussichtslos. Die Frage aber, was nötig wäre, um diese informellen Regeln und Strukturen durch einen Demokratisierungsprozess zu ändern, ist nach wie vor o­ ffen.

Oleksandra Iwaniuk, geb. 1986, forscht als PhD-­ Studentin an der Maria Curie-Skłodowska University in Lublin. Sie forscht zu politischen Eliten in der Ukraine, post-sowjetischen Transformationsprozessen, Systemwandel und der Polnisch-Ukrainischen Beziehung.

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DIE RESTAURIERTE REPUBLIK HISTORISIERENDER STAATSBAU ALS SPACIOCIDE 1 ΞΞ Orhan Esen Augenblicklich befindet sich die Türkei auf der Suche nach einer gebauten Identität für eine »Neue Türkei«. Im Zentrum dieses Bemühens steht nicht zuletzt der zentrale Taksim-Platz in Istanbul, der symbolischen Hauptstadt der Türkei. Hier soll die »Neue Türkei« buchstäblich gebaut – ihre Verfassung in Stein gemeißelt werden. Die Oper am Taksim, eine bauliche Ikone der Nachkriegsmoderne, soll dazu einem Neubau weichen, der laut dem türkischen Präsidenten Erdog˘ an »mit barocker Architektur in Einklang stehen«2 wird. Den Auftakt zum Umbau sollte ursprünglich der umstrittene Wiederaufbau der 1940 abgerissenen Artilleriekaserne auf dem Gelände des angrenzenden Gezi-Parks bilden. Dieses Vorhaben ist jedoch angesichts des massiven Gezi-Protests im Juni 2013 bislang gescheitert. Erdog˘ an betont indes bei jeder Gelegenheit, dass er nicht nachgeben werde – der seit Jahrzehnten angestrebte, ebenfalls stark umstrittene Moscheebau am Taksim, der im Februar 2017 begonnen hat und sich architektonisch an Beispielen des 19. Jahrhunderts orientiert, verweist jedenfalls auf den Durchsetzungswillen des türkischen Staatsoberhauptes. Die Artilleriekaserne am Taksim ersetzte 1806 einen abgebrannten kurzlebigen Vorgängerbau aus dem späten 18. Jahrhundert. Die Kaserne war, vor allem an ihrer Fassade, mehrmals umgebaut, nachträglich auch »orientalisiert« worden, ehe sie im 20. Jahrhundert demilitarisiert und von Kulturschaffenden und Sportlern zivil genutzt wurde. 1940 wurde sie im Rahmen der kemalistischen Stadtumbauprozesse im Maçkatal und auf dem Taksim-Hügel abgetragen. Sollte hier ursprünglich das Hauptquartier des Einparteienregimes entstehen, wurde stattdessen auf den noch sichtbaren Fundamenten der Gezi-­ Park, die Promenade von Taksim, errichtet. Der geplante Neubau setzt nun an den Fassadenarbeiten des 19. Jahrhunderts an. Dadurch wird jedoch die Fassade von der Architektur entkoppelt und damit eine neue anti-intellektuelle Disziplin, die »Außenarchitektur«, etabliert. In der Fachwelt mag diese Entwicklung Entsetzen hervorrufen, das Potenzial einer über die Fachgrenzen hinausreichenden Unterstützung hat sie aber dennoch. Denn die globale Volksweisheit, der zufolge zu bauen Sache der Bauleute sei, d. h. der Ingenieure oder Baufirmen, und auf Architekten für gewöhnlich verzichtet werden könne, ist in den politischen Entscheidungsgremien inzwischen so populär wie nie.

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1  Durch die Indes-Redaktion um ca. 55 % gekürzte Version des Manuskripts »Historisierender Staatsbau als Spaciocide. Symbolische Ergründung der Stadtmitte nach dem Kalten Krieg«. Die Urschrift untersuchte »… vor allem die Frage inwiefern sich die Türkei auch auf […] bauliche Art und Weise inner- oder außerhalb Europas positioniert.« Zu diesem Zwecke wurden Berlin und ˙Istanbul komparativ untersucht: Die Parallelen zwischen dem erfolgten Abriss des Palastes der Republik zu Berlin und der von Recep Tayyip Erdog˘ an bezweckte Abriss des ˙Istanbuler Kulturpalastes am Taksim, zwei in Funktion, Architektursprache und ikonografischem Stellenwert vergleichbare Bauten des kalten Krieges, sowie der erfolgte historisierende Wiederaufbau des Stadtschlosses auf der Spreeinsel und der aufgrund des Geziaufstandes gescheiterte historisierende Wiederaufbau der osmanischen Artilleriekaserne am Taksim bildeten das Rückgrat des Urmanuskripts. Der Wiederaufbau, der in Deutschland erfolgreich zu einer »Fachdebatte zwischen unterschiedlichen Schulen des Denkmalschutzes« marginalisiert werden konnte, stand in der Türkei stets als »im Wesen politische Entscheidung« da. Das Urmanuskript und die veröffentlichte Redaktionsversion unterscheiden sich in den zusammengefassten Segmenten um Nuancen und Akzentsetzungen; und manche Gedankensprünge blieben unvermeidbar. Der Urtext bildet, um weitere Abschnitte erweitert, den Kern einer eigenständigen Publikation im Entstehen. 2  Offizielles Statement Erdog˘ ans während des Gezi-Aufstandes: »­Barok mimariyle bütünlük arz edecek sekilde buraya dev bir opera binası yapalım«, zit. nach o.V., »AKM yerine ›Barok‹ bir opera binası!«, in: gazetevatan.com, 08.06.2013, URL: http://www.gazetevatan.com/-akm-yerine--barok-bir-opera-binasi---544347-gundem/ [eingesehen am 31.05.2017].

Dabei ist auch klar, dass die Kaserne auf dem Gezi-Park nicht nur aufgrund ihrer historisierenden Fassade gescheitert ist. Der Widerstand und Protest richtete sich vielmehr gegen die Zerstörung der Parkanlage zugunsten eines vermeintlichen Einkaufszentrums. Die antiautoritäre Motivation war unverkennbar. Wäre die türkische Politik nicht so heillos polarisiert, sondern fähig, sachbezogen für gesellschaftliche Mehrheiten zustimmungsfähige Entscheidungen zuwege zu bringen: Die außenarchitektonische Mittelmäßigkeit hätte sich möglicherweise auch am Taksim etablieren können. DAS NUTZUNGSKONZEPT, EIN NACHTRÄGLICHER EINFALL Die architektonische Form eines Gebäudes leitet sich für gewöhnlich aus seiner Funktion ab. Form follows function, so die – nicht unangefochtene – Maxime moderner Baukunst. Dieser wird am Taksim nicht gefolgt, vielmehr dominiert dort die Besessenheit, historische Bilder neu zu erschaffen. Der Imperativ, Historisches wiederaufzubauen, steht am Anfang; erst im Nachhinein folgen mögliche Nutzungskonzepte. Gleiches gilt für den Neubau der Kaserne am Taksim. Der durch den Istanbuler Stadtrat angenommene »Plan zur Errichtung einer Fußgängerzone am Taksim-Platz« sah lediglich den Wiederaufbau der Artilleriekaserne ohne jegliche Zweckbestimmung vor – als reine Bauhülle mit vier historischen Fassaden. Die gesellschaftliche Opposition wandte sich aber nicht gegen die Form, sondern basierte auf Gerüchten, welche die »Entwicklung einer Mall unter dem Deckmantel Kaserne« behaupteten.3 Von offizieller Seite wurde erst während des Aufstandes ein vages Bekenntnis zu einer kulturellen Nutzung (»Stadtmuseum«) abgegeben.4 Dabei war weder die Mall noch das Museum jemals Gegenstand einer öffentlichen Planungsdebatte geworden. Auch ein rechtsgültiges Nutzungskonzept ist nie beschlossen worden. Festzuhalten bleibt somit, dass hier, die 3  Vgl. Korhan Gümüs, Taksim Örneg˘ i Üzerinden Mekanın ˙Isaretsizlestirilmesi Ve Siyasetteki Temsil Biçimleri, in: xxi.com, 21.02.2017, URL: https://www.xxi. com.tr/yazilar/taksim-ornegi-uzerinden-mekanin-isaretsizlestirilmesi-ve-siyasetteki-temsil-bicimleri [eingesehen am 31.05.2017]. 4  Vgl. o.V., Erdog˘ an: Gezi Parkı AVM’ye uygun deg˘ il, sehir müzesi olabilir, in: ilgazetesi. com, 12.06.2013, URL: http:// www.ilgazetesi.com.tr/erdogangezi-­parki-avmye-uygun-degilsehir-muzesi-olabilir-209100h. htm [eingesehen am 31.05.2017].

Funktion hinter der Form zurückzutreten hatte gegenüber einer gewollten Formgebungsabsicht. IDENTITÄT UND STADTBAUPOLITIK Über den Wiederaufbau einstmals bestehender Vorbilder hinaus fokussiert sich die Debatte in Istanbul auf die Zerstörung bis vor Kurzem bedeutender architektonischer Ikonen. Im Besonderen gilt dies für den Taksim – handelt es sich bei ihm doch um ein Städtebauprojekt, das von der Nationalpolitik vereinnahmt worden ist; um einen Ort nationalstaatlicher Symbolik, an dem der Städtebau der Logik des Staatsbaus unterstellt wurde und noch immer wird. Der Zeitgeist seit dem Ende des Kalten Krieges unterstützt zudem diesen Trend. Im Zuge des weltgeschichtlichen Umbruchs zerfielen ganze Staaten, Orhan Esen  —  Die restaurierte Republik

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andere entstanden neu, wieder andere unterlagen einer radikalen Transformation, manche befinden sich auch heute noch in einer schmerzhaften Wandlungsphase. Auch das gerade im Kalten Krieg in einem Prozess beständigen Zusammenwachsens begriffene Europa entwickelt sich seit dem Ende der Blockkonfrontation immer mehr zu einem loseren Nebeneinander von Nationalstaatlichkeiten. Schließlich haben die Osterweiterung und die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei nicht nur den darauf fußenden Trend der Euroskepsis gefördert, sondern vielmehr eine Renaissance des Denkens in nationalstaatlichen und identitären Kategorien begünstigt – eine Entwicklung die dazu geführt hat, dass die Städtebaupolitik zentrale Orte als Schlüssel zu identitätsstiftendem Staatsbau (neu) entdeckt haben mag. EIN NEUES EUROPA: DAS ENDE DES KALTEN KRIEGES ALS ORT DER MODERNE Im 20. Jahrhundert konkurrierten die rivalisierenden Systeme u. a. um den Anspruch des konsequenteren Umgangs mit dem Begriff Moderne. Die Moderne verkörperte die Utopie, Fortschritt mit Gleichheit zu koppeln – wenn auch mit unterschiedlichen gesellschaftlich-politischen Strategien. Der Kalte Krieg avancierte so zum Spielort der Moderne, ihre Architektursprache fungierte als symbolische Brücke über den Eisernen Vorhang hinweg. Das Ende des Kalten Krieges brachte hingegen das Ringen der Systeme um Modernität zum Erliegen, die architektonische Brücke verlor an Bedeutung. Die Ziele der Moderne wirken seither entrückt, erscheinen altbacken, mit einer gerade für die Architektursprache weitreichenden Folge: Mit dem Verlust des Zukunftsbezugs geht, nur vermeintlich paradox, eine Re-Orientierung auf das Vergangene einher. Wo die real existierende Zukunft nichts mehr zu bieten hat, scheint die Flucht in die Vergangenheit attraktiv. Erst vor diesem Hintergrund werden kulturpolitische Vergangenheitsrezeptionen, in denen nunmehr Goldene Zeitalter ausgegraben und zur Referenz offizieller Städtebaustrategien erklärt werden, verständlich. Die symbolischen Akte der Entdeckung des neustaatlichen Selbst orientieren sich dabei an diversen Haltungen gegenüber der Vergangenheit – so stellt jedes Land sein eigenes Repertoire goldener Epochen zusammen. Und so überrascht es auch nicht, dass eine Denkmalkommission die Artilleriekaserne auf dem Hügelplateau von Taksim ganze 72 Jahre nach ihrem Abriss zum denkmalgeschützten Objekt erklärt und deren Wiederaufbau empfiehlt. In diese Logik passt ebenso, dass auf Massenproteste hin dasselbe mit den mittlerweile 73 Jahre alten Platanen auf demselben Grundstück geschieht und diese ebenfalls als historische Denkmäler eingestuft werden.

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Perspektive — Analyse

Bauliche Kontinuitäten als Identitätsanker diverser Gesellschaftsschichten und Gruppen zu erhalten, für neue Kontexte Neues zu kreieren, ohne dabei Anderes revanchistisch auszulöschen, nicht mehr Wertzuschätzendes mit gebührender Relativierung, gegebenenfalls als Mahnmale mit kritischer Distanz zu erhalten: Das sind zweifellos Techniken, die pluralistische Betrachtungsweisen erfordern. Die Euphorie, mit welcher der Kalte Krieg endete, und das simultan eintretende Siegesgefühl der neoliberalen Neuordnung haben diese Kultur aber weitestgehend geschwächt. Es braucht kreative Ansätze der Politik, des Städtebaus und der Architektur, um die Teufelskreisläufe zu durchbrechen, die Sari Hanafi als spaciocidal bezeichnen würde. Fachliche oder künstlerische Kritiken an symbolischen urbanen Transformationen der Stadtmitten blieben in der Regel folgenlos. Maßgebender waren und sind die populären Proteste, die Existenz von Bevölkerungsgruppen, so in Istanbul, die sich mit dem Symbolgehalt von Gebäuden und Orten stark identifizieren und Zerstörungen bzw. deren Planung als einen gewaltsamen Akt der Auslöschung ihrer Identitäten verstehen. GESCHICHTE DES ORTES, TAKSIM I: PAN-OSMANISCHE VERSUS REPUBLIKANISCHE STADTMITTE Aktuell setzt indes Erdog˘ an mit Nachdruck dem Historizismus Denkmäler. Seine »Neue Türkei« baut auf einer Rezeption des spät-osmanischen 19. Jahrhunderts auf, das für ihn den dichotomischen Gegensatz zur kemalistischen Republik darstellt. Folglich mutiert die ehemalige Hauptstadt Istanbul, aber vor allem der im heutigen Umfang erst 1940 eröffnete Taksim-Platz, immer mehr zum Schauplatz einer Städtebau-Vendetta. Der ihr zugrundeliegende gesellschaftlich-politische Konflikt erstreckt sich bereits über Jahrhunderte. Schließlich ist die Modernisierung des Stadtraumes der Metropole am Bosporus in der Agenda der Machthaber seit dem 19. Jahrhundert fest verankert. Die Errichtung repräsentativer öffentlicher Räumlichkeiten jenseits der historischen Halbinsel in der nördlichen Neustadt war dabei immer ein besonderes Anliegen. Die Verortung dieses Zentrums im Stadtgefüge, sein Bauprogramm, dessen Architektursprache sowie ideologische Botschaft blieben seitdem ein heißumstrittenes Thema. Aufeinanderfolgende Konzepte wussten sich nicht anders zu helfen als durch eine – um bei unserem Begriff zu bleiben – spaciocidale Tilgung des jeweils vorangegangenen Konzepts. Istanbul vom 19. Jahrhundert bis heute kann deshalb am besten gekennzeichnet werden als eine Stadt räumlicher Neuanfänge. Zunächst hatte die osmanische Monarchie ein ambitioniertes Modernisierungsprogramm mit dem politischen Ziel betrieben, ein pan-osmanisches Orhan Esen  —  Die restaurierte Republik

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Bürgertum zu schaffen, also die Maximen der Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit im Rahmen multiethnischer, multireligiöser Heterogenität zu verwirklichen. Der Begriff Osmane war bis zur Tanzimat, der osmanischen Reformationsperiode Mitte des 19. Jahrhunderts, das exklusive Markenzeichen der Angehörigen der Staatskaste; nun sollte er zur gemeinsamen Bezeichnung aller Menschen innerhalb der Reichsgrenzen werden, die offiziell zu gleichberechtigten Bürgern erklärt wurden. Lange vor der Entstehung der Idee eines vereinigten Europa haben die Osmanen auch offiziell gewagt, ein nach Glaubensnationen (Millet’s) hierarchisch organisiertes Reich zu einer gemeinsamen Willensnation umzugestalten. Die Gesetzestexte, sogar das Papiergeld, waren viersprachig: Griechisch, Armenisch, Türkisch und Französisch. Bekanntlich ist das Projekt mit dem Balkankrieg und dem Ersten Weltkrieg endgültig gescheitert. Aus heutiger Sicht ist es einfach, zu sagen, es sei schlicht naiv gewesen – auch weil grundlegende politische Erfahrungen, Verfahrensnormen und Institutionen fehlten. Sicherlich hatte sich das Projekt einer osmanischen Nation gegen den politischen Mainstream des 19. Jahrhunderts in Europa positioniert, der vom homogenen Nationalstaat als optimalem Rahmen der Modernisierung ausging. Letzterer hat im Endeffekt die diversen Völker viel stärker in seinen Bann gezogen als das abenteuerlich anmutende Wagnis einer transethnischen Willensnation. Die »neue Residenz« der osmanischen Monarchen, der Dolmabahçe-­PalastKomplex, war ein zentrales Glied innerhalb eines Gebäude-Ensembles, das jenseits staatlicher Repräsentation die gesellschaftliche Modernisierungsagenda symbolisierte.5 Den fokalen Punkt des Dolmabahçe-Ensembles bildete der Schlossplatz am Kai, mit dem Uhrturm in der Mitte. Dieser verkörperte die Emanzipation vom Sonnen-Rhythmus einer bäuerlichen Standesgesellschaft und den Übergang in den 24-Stunden-Takt einer modernen Industrieund Dienstleistungsgesellschaft. Die Residenz selbst stellte mit ihrem öffentlichen Empfangsflügel (Selamlık) eine Mischung aus Musterwohnraum und -büro dar, wo die Reichseliten eine Etikette trainieren konnten, die sich an westlich-modernen Vorbildern orientierte. Die Akaretler, eine im Norden an den Komplex andockende und der Londoner Regent Street nachempfundene Reihenhaussiedlung, war ebenfalls Hofbeamten vorbehalten. Den Platz umsäumten eine Zeremonialmoschee, ein Theater und der Hofmarstall. Die Moschee, nicht mehr wie noch im klassischen Zeitalter des Reiches im Zentrum des städtischen Ensembles (külliye), sondern an dessen Rande platziert, demonstrierte, dass es mit der Annahme einer klassenübergreifenden Solidarität der Glaubensgemeinde endgültig vorbei war – bot sie doch Platz ausschließlich für die Eliten der Bürokratie, Politik und

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Perspektive — Analyse

5  Die weiteren Entwicklungsachsen der nördlichen Neustadt im 19. Jahrhundert waren des Weiteren die von bürgerlicher Architektur geprägte Kammachse und die industrielle, von Arbeitersiedlungen geprägte Golden-Horn-Achse. Alle drei Achsen gingen von Karaköy, dem nördlichen Ankerpunkt der Galatabrücke aus strahlenförmig in den Norden, und bildeten das räumliche Skelett einer segregierten Stadt.

Wirtschaft. Der Marstall und das durch ihn abgeschirmte Gaswerk dahinter waren bedeutende Infrastruktureinrichtungen.6 Die Stallungen direkt am neuen Hauptplatz waren ein öffentliches Monument der neuen Mobilität, das Stadtgas aus dem benachbarten Betrieb revolutionierte das urbane Leben wie keine andere Errungenschaft in der Geschichte davor. Eine schicke Platanenallee durchzog den gesamten Komplex in nord-südlicher Richtung und integrierte ihn städtebaulich. Der Schlossplatz mit Anbauten, das physische Zentrum des Palastkomplexes, befand sich dort, wo das Maçkatal – damals aus Gemüsegärten und Wiesen bestehend – an die Bosporusküste angrenzte. Den Talrand umsäumte ein Ring aus sieben zumeist recht mächtigen Militärbauten: Kasernen oder Krankenhäuser die weithin im Stadtbild sichtbar waren. In ihrem aktuellen Zustand als Baukörper waren sie zwischen dem späten 18. und dem frühen 19. Jahrhundert entstanden und beherbergten die »parallele« Armee, mittels derer Sultan Mahmud II. um 1826 seinen eigenen Staat, das osmanische Ancien Régime, gewaltsam aufgelöst, reformiert und durch das explizit dem Westen zugewandte »neu-osmanische Reich« ersetzt hatte. Kasernen hatten seit jenem Glückseligen Ereignis7 ihre Primärfunktion erfüllt und bildeten von nun an mit ihren massiven Kubaturen eher symbolische Garanten der so6  Innerhalb der Stadtteile ging man zu dieser Zeit noch zu Fuß. Den Großraum Istanbul verbanden viele Wasserwege, während es nur sehr wenige kutschentaugliche Straßen gab. 7  So die offizielle Bezeichnung der blutigen Ereignisse im Jahre 1826, die weit über ein bloßes Liquidieren der Janitscharenkorps hinausgingen. Vielmehr wurde der gesamte historische Staat samt Institutionen, samt diese beherbergenden Baulichkeiten sowie deren Personal, Tradition und Archiv aufgelöst – ein kaum beachtetes Ereignis der Weltgeschichte. 8  Seine Arbeitskultur aus seiner früheren Karriere im islamisch geprägten französisch-­ kolonialen Nordafrika, wo er lediglich dem Militärgouverneur, jedoch nicht der Bevölkerung zur Rechenschaft verpflichtet war, dürfte einen der wichtigsten Gründe für seinen Einsatz bilden.

genannten Nizam-ı Cedid, der Neuen Ordnung, während die nun funktionslosen Übungsplätze für den Neubau moderner bürgerlicher Viertel freigegeben werden konnten. Das am Nordrand der damaligen Stadt lokalisierte pan-osmanische Neustadtensemble aus Palastkomplex, Kasernenring und angrenzenden Neubauvierteln war das stolze Wahrzeichen einer sich modernisierenden Vielvölkernation. Der Dolmabahçe- oder Schlossplatz bildete deren bauliche, symbolische sowie ideologische Mitte und stellte damit den Hauptplatz der Bosporusmetropole dar. Der »spätgeborene« Nationalstaat Türkei war diesbezüglich regelrecht das Gegenmodell des pan-osmanischen Projektes. Der Modernisierungsprozess wurde nunmehr auf das »richtige« Gleis gestellt und auf das im Geist der Zeit naheliegende Ziel, die Aufzucht des nationalen Staatsbürgers, ausgerichtet. Die Raumstrategie der anatolischen Republik in der ehemaligen Reichshauptstadt wurde entsprechend weiterentwickelt. Mustafa Kemal Atatürk höchstpersönlich betraute mit der Raumplanung den Architekten Henri Prost. Der Franzose bekleidete das Amt des städtischen Bauplaners von 1936 bis 1951.8 Eines der Zentralprojekte war der Aufbau des Bürgerforums, bestehend aus Sport- und Kulturbauten sowie weiteren symbolischen Wahrzeichen. Die geistige und physische Ertüchtigung, so lautete der dahinterstehende Gedanke, mache den Neuen Menschen, sprich: den Türken. Das umfangreiche Orhan Esen  —  Die restaurierte Republik

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Bauprogramm des Komplexes, das vier Jahrzehnte umspannte und Prost lange überdauerte, beinhaltete eine Technische Universität, ein Museum, Theater und Freilichttheater, Oper und Konzertsaal, Bibliothek, Radiohaus, Ausstellungs- und Sporthalle, ein Stadion sowie ein Denkmal des Atatürknachfol­gers ˙Inönü, unter welchem der Ausbau stattfand. Diese Bauten sind eingebettet in einen ausgedehnten öffentlichen Raum, der aus drei Abschnitten besteht: dem Maçkapark im namensgebenden Maçkatal; dem Taksim-Platz auf dem Gipfelplateau des gleichnamigen Hügels; sowie dem Gezi-Park, die »Promenade«, welche die beiden anderen räumlich verbindet. Die Platzwahl für das Forum ist zentral für die Idee. Eingebettet in das Maçkatal sowie das angrenzende Taksim-Hügelplateau – dort, wo das Tal ans Wasser mündet –, befindet sich auch das städtebauliche Zentrum mit Dolmabahçe-Komplex, Schlossplatz, Uhrturm, Moschee, Theater, Stallungen und Gasfabrik. Im Klartext: Man suchte sich kein freies Gelände auf einer der Entwicklungsachsen, man trat nicht ein paar Schritte zur Seite, sondern man ging ins Zentrum, um das eigene Programm städtebaulich sichtbar zu machen. Man stelle sich etwa vor, die Protagonisten des Roten Wien hätten für ihr Städtebauprogramm das historische Zentrum der Donaumetropole geschleift und etwa die imperiale Wiener Ringstraße durch die Errichtung von Gemeindebauten zur Schaubühne des Munizipalsozialismus umgewandelt. In Istanbul kommt es indes genau so: Der Schlossplatz wird dem Bau des neuen Stadions sowie des neuen Straßennetzes geopfert, das Gaswerk, die Stallungen, das Theater sowie die Anbauten der Moschee werden abgerissen. Der Platz wird physisch aufgelöst und mutiert zur Verkehrsfläche und zum Parkplatz. Die Moschee, der Uhrturm sowie das Schloss Dolmabahçe bleiben zwar bestehen, werden jedoch ihres städtebaulichen Kontextes beraubt und führen ab jetzt nur noch ein Schattendasein als touristische Einzelobjekte. Auf dem Taksim-Hügel werden die Kaserne und die Stallungen entfernt, der neue Taksim-Platz und die Promenade entstehen; Taksim löst den Schlossplatz als Hauptplatz ab. Zudem werden die baulichen Strukturen der pan-osmanischen Neustadt, vor allem die Villen und die Stadtpalais, durch die neuen republikanischen Eliten und Bauunternehmer beseitigt. Ihre Grundstücke werden parzelliert, an deren Stelle entstehen moderne Appartementhäuser, nicht selten im Bauhausstil. Freilich: Die Republik als selbsternannter Missionsträger der »richtigen« Modernisierung geriet dadurch in Konkurrenz zu ihrem historischen Vorgänger. Aus dieser Konkurrenzsituation und dem Versuch der Republik, den Begriff der Moderne ausschließlich für sich zu beanspruchen, folgte logischerweise, dass für die nunmehr pauschalisierte Gesamtheit des osmanischen

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Perspektive — Analyse

Reiches keine andere Schublade mehr zur Verfügung stand als die »mittelalterliche«. Die These ließ sich auch international, und gerade im Westen, sehr gut vermarkten: Die junge kemalistische Republik habe ein im Mittelalter versunkenes Reich und ihr hoffnungsloses Volk aus dem Dunkel errettet und auf den Weg der Aufklärung geleitet. Prometheus ist tatsächlich eine beliebte Figur in diesem Zusammenhang, in Selbstdarstellungen gerne zitiert, wie etwa am Denkmal für ˙Inönü, heute am Rande des Maçkaparks – statt wie ursprünglich am oberen Ende der Freitreppe zu seiner Promenade am Taksim. Die so konstruierte Dichotomie lautete: hier die aufgeklärte moderne junge Nation im Aufbau, dort das mittelalterliche Gefängnis der Völker. Als Schlüsselfigur der Modernisierung fand Mustafa Kemal Atatürk weltweit Einzug in die Standard-Schulbücher. Problematischer war, diese Erzählung auch zu Hause glaubhaft zu machen. Die erhaltenen osmanischen Archive stammten zum überwältigenden Teil aus dem 19. Jahrhundert und erzählten Reformgeschichten. Nicht zuletzt blieb das gebaute Erbe der pan-osmanischen Modernisierung in der neuen Stadtmitte Istanbuls sichtbar. Insofern blieb die jüngste osmanische Geschichte als Widerspruch zum republikanischen Mythos eines mittelalterlichen Osmanischen Reiches in Textarchiven und Bauwerken lebendig. Die Pauschalisierung der osmanischen Geschichte als vermeintlich dunkles Zeitalter rechtfertigte andererseits die Entwertung ihres baulichen Erbes; ebenso, wie auch umgekehrt, parallel zum Verschwinden des baulichen Erbes, die Idee der Wertlosigkeit des Osmanischen verankert wurde. So verstümmelte die republikanische Raumintervention die baulichen Spuren der modernisierenden Monarchie zur Unkenntlichkeit, während sie ihr spaciocidales Bauprogramm verwirklichte. Darüber hinaus erzeugte die Schriftreform eine bis heute nicht überbrückte Distanz zur osmanischen, vor allem der jüngeren, Geschichte. Das ist nicht unproblematisch, weil dadurch eine tiefgreifende Unkenntnis der osmanischen Reformversuche gerade bei den westlich Orientierten und selbstverständlich erst recht im Westen selbst gefördert und befestigt wurde. Erst vor diesem Hintergrund wird verständlich, wie es Erdog˘ an zuletzt gelingen konnte, die Chiffre Osmanisches Reich beinahe nach Belieben im eigenen Sinne zu füllen. GESCHICHTE DES ORTES, TAKSIM II: TRANSFORMATION MIT OFFENEM ENDE Mit Ankara baute sich die Republik eine komplett neue und moderne Hauptstadt mit Regierungsviertel und viel öffentlichem Raum. Nirgendwo in Ankara entstand jedoch ein Ort, der mit Taksim vergleichbar wäre, der auch nur annähernd die Symbolträchtigkeit dieses Platzes erlangt hätte. Orhan Esen  —  Die restaurierte Republik

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Dabei war Taksim seit dem Tage seiner Erstkonzeption permanent in Veränderung begriffen. Jahrzehntelang wirkten Kräfte aus allen Winkeln auf den Platz ein und gestalteten ihn physisch und nutzungstechnisch stets um, während die Stadt von sechs- auf achtstellige Einwohnerzahlen anwuchs. Die komplette Veränderungsgeschichte würde den Rahmen sprengen, weshalb hier einige Eckdaten genügen müssen: Die von Prost projektierte place de la ­republique, umgeben von Regierungsbauten9, ist nie fertiggestellt worden. Einer ursprünglich von Prost und Perret (Urkonzept für die Oper) konzipierten, und später im Atatürk-Kulturzentrum-Projekt des Tabanlıog˘ lu berücksichtigten Funktion des Taksim als Opernplatz standen die Busterminals auf dem Platz sowie der »Parkplatz« Gezi entgegen. In den 1970er Jahren avancierte der Platz zum Fokus aufstrebender gesellschaftlicher Oppositionsbewegungen. Die Abrissaktionen um die Tarlabas‚ ıstrasse (1986) am Rande des Platzes, um sie auf eine sechsspurige Durchfahrtsstraße zu erweitern, haben die Freifläche auf dem Hügel ihrer letzten physischen Eigenschaften als Platz beraubt. Baulich ist er niemals ein klassischer abgegrenzter Platz gewesen, abgesehen vielleicht von dem Urplatz als Rotunda (1928–38). Das Fehlen einer umfassenden Platzgestaltung wurde nicht selten von Reisenden wie Einheimischen verärgert angemerkt. 1987 wurde Taksim zum Thema eines Wettbewerbs zur Totalgestaltung; das den Zeitgeist der Nachkriegsepoche widerspiegelnde Projekt wurde nicht sofort und nicht exakt in dieser Form und Totalität verwirklicht. Vielmehr marschierte es durch die Schubladen von Generationen von Planungsbürokratie, unterwanderte die Gedanken und Vorhaben kommender Bürgermeister:10 Die umstrittene Mall auf dem Gezi wurde in den 90ern in den Plan integriert und durch den Aufstand null und nichtig gemacht. Die mittlerweile antiquierte Hauptidee, den Platz für Autos zu untertunneln, ist eben durch den Plan von 2012 mit kaum Widerstand realisiert

9  Prost fertigte Entwürfe an, die den Platz, inklusive des Kasernengrundstücks, von monumentalen Bauten der Staatspartei und des Regimes umsäumt zeigen. 10  Vgl. Korhan Gümüs, http://www.xxi.com.tr/yazilar/ taksim-ornegi-uzerinden-­ mekanin-isaretsizlestirilmesive-siyasetteki-temsil-bicimleri

worden. Taksims Attraktivität erklärt sich nicht aus seiner, wenn man so will, physischen Gestalt. Wie auch immer die Umgestaltungen der wechselnden Akteure aussahen, wie entstellt der Ort, sukzessive jeglicher Aufenthaltsqualität beraubt, auch immer gewesen sein mag: Der Taksim-Platz war das Barometer der türkischen Politik, unumstrittener Fokus der Nation. Taksim wurde zu dem Ort für politische Manifestationen schlechthin. Im 21. Jahrhundert werden dort teilweise von Freitagmittag bis Samstagabend im Dreiviertelstundentakt Demonstrationen abgehalten. Nirgendwo sonst kann man die Kräfteverhältnisse im Lande besser ablesen als an der Konstellation (nicht) gezeigter Zeichen am Taksim.11 Folglich ist mittlerweile jede politische Kraft mit Ambitionen daran interessiert, dem Platz ihren Stempel aufzudrücken.

110

Perspektive — Analyse

11  Einige der prägenden Ikonen am Platz sind: die Bajonette nach dem Putsch von 1960, der sich von Ketten befreiende Arbeiter – als riesiges Transparent an der AKM-Fassade am 1. Mai 1977, die mit Plakaten behangene AKM-Fassade während des Gezi-Aufstands, die Performance »stehender Mann« des Künstlers Erdem Gündüz, das Riesentransparent an der AKM Fassade mit dem Atatürkspruch »die Souveränität dem Volke« in seinem original-osmanischen Wortlaut seit dem Putschversuch am 15. Juli 2016.

EIN WANDEL DES STAATES SAMT NEUER BAUTEN Die Republik war als ein politisches Zuhause für die muslimischen Restvölker der zerfallenen Monarchie gedacht worden, die nun pauschal zu Türken erklärt wurden; aus der Muslimischen Nation des klassisch osmanischen Nationensystems wurde die Türkische Nation. Diese war allerdings ethnisch nicht homogen, sondern umfasste neben Menschen mit türkischer Muttersprache auch muslimische Slawen, Albaner, Griechen, Araber, Kurden, Kaukasier, Lasen und weitere. Entscheidend war dabei nur, dass sie aus dem Staatsterritorium der Resterepublik stammten bzw. im Zerfallsprozess des Reiches dorthin migriert waren – sei es freiwillig oder, aufgrund von zwischenstaatlichen Verträgen, gezwungenermaßen. Jedoch war die Umbenennung von Muslim zu Türke nicht ganz unproblematisch: Die laizistisch-türkische Republik basierte auf einer inflexiblen Bürgerdefinition, verlangte eine Loyalität, die nicht-türkische und nicht-säkulare Identitäten ausschloss oder zu assimilieren trachtete. Menschen, die sich primär als Muslime verstanden oder sich nicht als Türken identifizierten, hatten Schwierigkeiten, einen Platz für sich unter dem Schirm der Republik zu finden. Wurde dieser Identitätskonflikt während des Kalten Krieges konserviert, brach er in den 1990er Jahren nicht nur wieder auf, sondern wuchs sich zu einer Identitätskrise aus, die 2002 mit der Abwahl des gesamten Parlaments die herkömmliche Zentrumspolitik zusammenbrechen ließ. Von nun an betrieb die neugegründete Regierungspartei AKP unter konservativ-liberalen Vorzeichen zunächst eine öffnungs- und europaorientierte Politik; Aufbruchstimmung herrschte, Hoffnungen auf eine inkludierende Neudefinition des Staatsbürgertums gediehen, vor allem im Prozess der Beitrittsverhandlungen mit der EU. Mit der Ernennung zur europäischen Kulturhauptstadt 2010 wurden Erwartungen geweckt, die Bosporus­ metropole werde bald eine Stätte demokratischen Bauens. Zivilgesellschaft­ liche Impulse zur Neugestaltung des Taksim-Platzes mit Gezi-Park und AKM wurden intensiver. Sie kulminierten 2012 dann ein paar Jahre später in der Formel »Taksim gehört allen!« der Taksim-Plattform, welche die autoritative Vorgehensweise der verantwortlichen Planer kritisierte. 12  So sorgten etwa Nicolas Sarkozys geäußerte Präferenz für eine christlich-essentialistische Europadefinition anstelle einer zukunftsorientierten-politischen Konzeption im Jahr 2006 und die unkritische Haltung der deutschen Politik hierzu für viel Unmut und Enttäuschung unter türkischen Wählern und Wählerinnen, die dem einen Gegenessentialismus entgegenstellten.

Doch der anfängliche Wind des Aufbruchs drehte sich alsbald. Schon ab 2008, zunächst unscheinbar, dann aber immer konsequenter, vollzog die regierende AKP eine Wende. Sie wurde fortgesetzt autoritärer und identifizierte sich zusehends stärker mit dem Staat, den umzugestalten sie einst zum Ziel erklärt hatte. Globale, europäische und lokale Gründe ließen sich dafür aufzählen und benennen – als externe Faktoren etwa die Zurückweisung durch die EU – bereits 2006 durch Sarkozy und eine »unerfahrene« Merkel – sowie die Weltwirtschaftskrise.12 Erdog˘ an als Personifikation des Orhan Esen  —  Die restaurierte Republik

111

Wandels mutierte vom Reformer zum Restaurator des Staates. Mit dem gescheiterten Putschversuch am 15. Juli 2016 wurde der Pakt mit dem alten Staat offenkundig – ein Pakt, der bislang allerdings noch nicht vollständig durchgesetzt werden konnte, wie die Referendumsergebnisse vom 16. April 2017 nahelegen. Dennoch sind Grundzüge des neuen Staatspaktes schon klar ersichtlich: Der Staat hat scheinbar seine historische, im 18. Jahrhundert begründete Distanzierung zum Islam überwunden.13 Die öffentliche Manifestation von Religion ist nicht mehr tabu. Der bauliche Ausdruck des Wandels hat freilich am Taksim-Platz stattzufinden – da, wo die kemalistische Urrepublik sich baulich-symbolisch inszenierte. Dabei wurde der seit fünfzig Jahren währende Hauptkonflikt am Taksim-Platz, der im Grunde allen anderen Konflikten zugrunde lag, »gelöst«. Die Taksim-Moschee ist seit Februar 2017 im Bau und wird voraussichtlich 2018 eingeweiht werden. Es ist eindeutig eine Kompromisslösung im Rahmen des neuen Staatspaktes – und dies in zweierlei Hinsicht: Es handelt sich um einen eher dezenten Bau bescheidenen Ausmaßes; und er befindet sich halbversteckt hinter der historischen Zisterne, am Westende des Platzes. Die Kubatur der Taksim-Moschee, dem ideologisch wichtigsten Punkt, bleibt maßvoll. Das bedeutet zugleich: Es handelt sich nicht um eine den Platz dominierende Bebauung mit einer Megakuppel. Das war, ist und bleibt der Albtraum der säkularen Gesellschaft. Die Angst davor hatte in den letzten zwanzig Jahren sämtliche Dialogversuche am Taksim unmöglich gemacht.14 Damit harmoniert die Kuppel auch mit den beiden christlichen Kathedralen, mit denen sie sich einen engen Raum teilt. Sie bildet mit der griechisch-orthodoxen sowie der armenisch-katholischen Kathedrale eine Triade und gewährt diesen beiden Bauten, die im säkularen Taksim unsichtbar geworden waren, eine Mit-Sichtbarkeit und Mit-Öffentlichkeit. Offen ist, wie das Zusammenwirken der drei Bauten konzipiert werden wird. Eine Möglichkeit besteht darin, in der Tradition osmanischer Reformation auf die Gleichberechtigung zurückzugreifen.15 Die andere ist, im Sinne des klassischen osmanischen Reiches auf die Hierarchie der Glaubensnationen, sprich: Religionen, zu setzen. Jedenfalls hat die De-facto-Ausführung der Moschee ohne Zugriff auf die Gezi- und AKM-Grundstücke sowie ohne massive Eroberung des Platzes eine Wahrnehmung des Projektes seitens der Säkularen als spaciocidal vorläufig ausgesetzt. RESTAURATION STATT AUFBRUCH Architektonisch bedient sich der Erdog˘ an’sche Historizismus am Taksim bei Vorbildern des Eklektizismus des 19. Jahrhunderts. Das Vorhaben, die Kaserne auf dem Gezi-Park wiederaufzubauen und die Wunschäußerung nach

112

Perspektive — Analyse

13  Die staatsoffizielle Islamophobie wurde grundsätzlich genährt durch das Argument von »Lethargie und Fatalismus«: Islamisches Bekenntnis und islamische Lebensweise würden die Gläubigen in weltfremde Asketen verwandeln, die nicht viel für Wissenschaft, Produktion und Handel übrig hätten und somit die wirtschaftliche Entwicklung der Nation hemmten. In den letzten vierzig Jahren haben Muslime jedoch scheinbar das Gegenteil bewiesen. Für einen gebührenden Teil des Staates ist dies Grund genug, einen pragmatischen, gegenseitig instrumentalisierenden Pakt mit dem Islam einzugehen, statt sich gegen die Mehrheitsreligion zu stellen. Die klassische Formel des kemalistischen Säkularstaates ist jedenfalls nicht mehr gültig. Der 15. Juli  2016 markiert dahingehend die endgültige Scheidung zwischen pragmatischen Staatskemalisten, die den historischen Pakt mit dem Islam akzeptieren, und den »naiven« Bekenntniskemalisten, die auf die herkömmliche islamophobe Linie bestehen. 14  Und sie hat damit eine Leerstelle hinterlassen, in welche die alte Artilleriekaserne vordringen konnte – schließlich avancierte sie in gewissem Maße zu einer Ersatzmoschee, zu einem Platzhalter für die nicht gebaute Moschee, zu einem Kompromissprojekt zwischen AKP und Republikanern. 15  Dies würde den perfekten baulichen Rahmen für die »Allianz der Zivilisationen« – eine frühere, heute eher ungewisse, internationale Initiative Erdog˘ ans zusammen mit dem spanischen Ministerpräsidenten Zapatero unter UNO-Schirmherrschaft – bilden. Taksim bekäme so eine neue symbolische Bedeutung als »Platz der Harmonie der Zivilisationen« zugewiesen. Jedoch versperrt die derzeitige politische Polarisierung im In- wie Ausland eine solche symbolische Aufladung.

einer barocken Oper sind hierfür unmissverständliche Hinweise. Diese Wahl ist einerseits verständlich, und doch stellt sie eine offenkundige Fehlinterpretation seiner vermeintlichen historischen Vorbilder im 19. Jahrhundert dar. Die Vorbilder entstanden unter einem klaren panosmanischen Kontext einer multiethnischen Gesellschaft. Der neue türkische Staatspakt ist dagegen in erster Linie eine Restauration des Nationalen, wie das Aussetzen des Friedensprozesse und das Wiederaufflammen des Krieges mit der bewaffneten kurdischen Arbeiterpartei ( PKK) an den Tag legt. Die tatsächliche Oberfläche des Taksim-Platzes wurde durch den Tunnelbau 2013, der den Abriss von über 100 Jahre alten massiven Platanen bedingte, massiv erweitert. Die ohnehin seit den Abrissen von 1986 schon sehr formlose Freifläche, die allein aus Konvention und Gewohnheit noch Platz genannt wurde, kam seit 2013 als unendliche Einöde aus Beton daher. Inzwischen wurde dieser Raum durch eine Top-down-Planung unter striktem Ausschluss der Öffentlichkeit sichtbar umgestaltet: Der Platz sowie der Raum auf dem Dach des Tunnels ähneln inzwischen einer künstlichen, fragmentierten, in Beton eingelassenen Parklandschaft, übersät mit einer Unzahl von Bäumen in Riesentöpfen, Wasserbecken, Sitzelementen und größeren Blumenkästen. Hierin liegt die Kernaussage, die dann doch klar auf einen Spaciocide hin16  Für weitere Aspekte zum Fall Taksim siehe Orhan Esen, 5 Kasım 2012 Taksim, Bir Darbenin S ifreleri, in: Birikim, Bd. 286/2013, S. 79–92.

weist: Es ist nunmehr physisch unmöglich, den Taksim-Platz als den Ort des zivilen Ungehorsams, für Demonstrationen und Massenkundgebungen zu nutzen. Die konventionelle Republik nannte den 1. Mai jahrzehntelang offiziell den Frühlingstag. Die restaurierte Republik hat einen Ort dafür gebaut.16

Orhan Esen ist freier Forscher, Autor, und stadtpolitischer Aktivist. Er konzipiert und führt politische Bildungsreisen und Studienexkursionen im Bereich der historischen und politischen Urbanistik in ˙Istanbul. Sein aktuelles Forschungsinteresse gilt zur Genese und Politik des öffentlichen Raumes, gefördert durch den Konflikt im symbolträchtigen Gezipark/Taksimplatz, der in einem massiven Aufstand im Juni 2013 kulminierte. Neben Beiträgen zu Sammelbändern und Periodika, ist er Co-Autor und Mitherausgeber des Bandes »I˙stanbul: Self Service City«, b_books, Berlin 2005.

Orhan Esen  —  Die restaurierte Republik

113

DER KAMPF UM PLATZ ZWEI DAS DEUTSCHEN PARTEIENSYSTEM IM WANDEL ΞΞ Lothar Probst Bis Anfang der 1980er Jahre galt das deutsche Parteiensystem als hyperstabil. Das lag vor allem an der integrativen Stärke der Volksparteien, die unterschiedliche Milieus binden konnten. Außerdem war im sogenannten Zweieinhalb-Parteiensystem der ersten Jahrzehnte nicht nur die Fragmentierung gering, darüber hinaus war die ideologische Polarisierung moderat und die Koalitionsfähigkeit von Union, SPD und FDP untereinander groß. Vergleicht man diese goldenen Jahre des Parteiensystems mit der Lage nach der letzten Bundestagswahl, wird das ganze Ausmaß der Erosion der alten Konstellationen deutlich. Das Parteiensystem hat sich von einem moderaten Pluralismus mit zentripetaler Tendenz zu einem polarisierten Pluralismus mit zentrifugaler Tendenz entwickelt. Ein Kennzeichen dieser Entwicklung ist die Tatsache, dass die sogenannte Zweiparteiendominanz, die sich darin ausdrückt, dass die beiden größten Parteien (wobei CDU und CSU wie eine Partei gezählt werden), die bis weit in die 2000er Jahre bei jeder Bundestagswahl mehr als zwei Drittel aller Mandate erringen konnten – also selbst noch zu Zeiten, als bereits die Grünen und die PDS bzw. die Linke in den Bundestag eingezogen waren –, zerbröselt ist. 2009 und 2017 konnten die Volksparteien diese Marke nicht mehr erreichen, bei der letzten Bundestagswahl erzielten sie sogar nur noch 56,2 Prozent der Mandate. Mit Blick auf die Entwicklung in anderen westeuropäischen Ländern liegt es nahe, von einer Europäisierung des deutschen Parteiensystems zu sprechen, zumal sich mit der AfD, wie es scheint, auch in Deutschland eine rechtspopulistische Partei im Parteiensystem etabliert hat. So sehr sich die Entwicklungen hier und da ähneln, so falsch wäre es aber, daraus eine einheitliche Tendenz abzuleiten und den Wandel der Parteiensysteme vor allem auf sozialstrukturelle Veränderungen in den Wählerschaften der meisten westeuropäischen Länder zurückzuführen. Natürlich haben gesellschaftliche Modernisierungsprozesse zu einer Erosion traditioneller Milieus, aus denen vor allem die Volksparteien schöpfen konnten, und zu einer Individualisierung und Pluralisierung von Lebensstilen beigetragen, aber der Wandel muss in den Kontext der institutionellen und politisch-kulturellen Besonderheiten der jeweiligen Länder eingeordnet werden. Zentralistische oder föderale Strukturen des politischen Systems, unterschiedliche Wahlsysteme, Parteiengesetze

114

und historisch gewachsene Konfliktlinien haben einen erheblichen Einfluss auf den Wandel. Hinzu kommen unvorhergesehene Ereignisse, die die Entwicklung des jeweiligen Parteiensystems beeinflussen können. All das lässt sich am Beispiel Deutschlands gut illustrieren. FRAGMENTIERUNG Während sich der Aufstieg der Grünen Anfang der 1980er Jahre u. a. dem Entstehen einer neuen Konfliktlinie (Ökologie versus Ökonomie bzw. neue versus alte Politik) und der föderalen Struktur der Bundesrepublik, die den Aufstieg neuer Parteien begünstigt, verdankte, war die Deutsche Einheit 1990 die Voraussetzung für die Etablierung der PDS als fünfte, wenn auch zunächst nur regional verankerte politische Kraft. Obwohl schon in dieser Zeit die Fragmentierung des Parteiensystems deutlich zugenommen hatte und in Ostdeutschland Koalitionsbildungen schwieriger wurden, zeichnete sich bis in die 2000er Jahre zunächst nur ein moderater Wandel ab. Die Grünen hatten zu diesem Zeitpunkt ihre systemoppositionellen Züge und parlamentarischen Vorbehalte längst abgestreift und spätestens seit dem Eintritt in die rot-grüne Bundesregierung ihren Frieden mit der parlamentarischen Demokratie und den Institutionen der Bundesrepublik gemacht, während sich die reformorientierten Kräfte in der PDS nach Bildung der ersten rot-roten Koalition in Mecklenburg-Vorpommern 1998 als weitaus weniger systemoppositionell herausstellten, als ihnen lange Zeit unterstellt wurde. Nach einer kurzen Phase der stärkeren ideologischen Polarisierung machte das Parteien­system im Laufe der 1990er Jahre jedenfalls im europäischen Vergleich immer noch einen relativ stabilen Eindruck, zumal es auf Bundesebene noch jedes Mal gelang, eine kleinstmögliche Gewinnkoalition aus einer der beiden Volksparteien und einer ihnen nahestehenden kleineren Partei zu bilden. Erst nach der Bundestagswahl 2005 und mit der Bildung der Großen Koalition geriet das Parteiensystem in eine volatile Bewegung mit häufig wechselnden Konfigurationen. Freilich, um eine lineare Entwicklung handelte es sich immer noch nicht. Während bei der Bundestagswahl 2009 die kleinen Parteien deutlich zulegen konnten und die Schwächen der beiden Volksparteien am Ende der Großen Koalition sichtbar wurden, gelang es der CDU/ CSU 2013 noch einmal, an alte Stärken anzuknüpfen, während die SPD und

die kleinen Parteien als Verlierer dastanden. Weil die FDP sogar den Einzug in den Bundestag verpasste und die erstmals antretende AfD knapp an der Sperrklausel scheiterte, nahm die Fragmentierung des Parteiensystems erstmals seit mehr als 30 Jahren sogar ab. Dazwischen lag zwischen 2009 Lothar Probst  —  Der Kampf um Platz Zwei

115

und 2013 noch einmal eine klassische kleinstmögliche Gewinnkoalition aus CDU/CSU und FDP. Eine solche Gewinnkoalition wäre auch 2013 wieder

möglich gewesen, wenn die Grünen nicht Angst vor der eigenen Courage und ihrer Basis gehabt hätten und auf das Angebot einer schwarz-grünen Koalition eingegangen wären. Die Bundestagswahl 2017 stellt in diesem Szenario insofern eine Ausnahme dar, als zum ersten Mal sieben Parteien die Fünfprozenthürde überspringen konnten und beide Volksparteien erhebliche Einbußen zu verzeichnen hatten. Am schwersten gebeutelt ging die SPD aus der Wahl hervor. Dass unter diesem Vorzeichen die Regierungsbildung schwierig werden würde, war zu erwarten gewesen. Geht man von den föderalen politischen Strukturen der Bundesrepublik aus, hatte sich diese Entwicklung allerdings schon seit Längerem abgezeichnet. Nicht erst durch die Erfolge der AfD bei Landtagswahlen seit 2013, sondern schon seit 2005 war die Regierungsbildung in verschiedenen Bundesländern entweder politisch oder arithmetisch enorm erschwert worden, wodurch die Bildung neuer Koalitionsformate nötig wurde. Die erste schwarz-grüne Koalition in Hamburg, die kurzlebige Jamaika-­ Koalition im Saarland, die Minderheitsregierung in Nordrhein-Westfalen, der Einzug der Piraten in verschiedene Landtage – all das waren bereits Anzeichen einer tektonischen Verschiebung im Parteiensystem. Der Siegeszug der AfD bei allen Landtagswahlen seit 2013 verstärkte den Trend zu neuen und ungewöhnlichen Koalitionsbildungen insofern lediglich – u. a. den Trend zu Dreier­koalitionen, unter denen vor allem die Dreierkoalition aus CDU, SPD und Grünen in Sachsen-Anhalt, gewissermaßen als letztes Aufgebot der demokratischen Parteien gegen die AfD, hervorsticht. Abbildung 1: Dreierkoalitionen in den Bundesländern

Anzahl der ­Parteien/ Bundesland

116

1

2

3

4

5

6

Berlin

CDU

SPD

Grüne

FDP

LINKE

AfD

RheinlandPfalz

CDU

SPD

Grüne

FDP

AfD

x

SPD-FDP-Grüne

SachsenAnhalt

CDU

SPD

Grüne

LINKE

AfD

x

CDU-SPD-Grüne

SchleswigHolstein

CDU

SPD

Grüne

FDP

AfD

SSW

CDU-Grüne-FDP

Thüringen

CDU

SPD

Grüne

FDP

LINKE

AfD

LINKE-SPD-Grüne

Perspektiven — Analyse

Regierung

SPD-LINKE-Grüne

SOZIALDEMOKRATISCHER NIEDERGANG Die markanteste Entwicklung der letzten Jahre ist der elektorale Niedergang der SPD, der sich nicht nur auf Bundesebene, sondern – von einigen Ausnahmen wie Hamburg, Rheinland-Pfalz, Niedersachsen und Brandenburg abgesehen – auch auf Landesebene abspielt. Auffällig ist dabei das Nord-SüdGefälle und das West-Ost-Gefälle bei den Wahlergebnissen der SPD, wobei das Nord-Süd-Gefälle das West-Ost-Gefälle noch überlagert. Aber selbst in den norddeutschen Hochburgen schwächelt die SPD. In Bremen erreicht sie neun Monate vor der Bürgerschaftswahl in den Umfragen nur noch ca. 25 Prozent, und das in einem Bundesland, das viele Jahre auch gegen den Bundestrend immer für Wahlergebnisse deutlich über dreißig oder sogar vierzig Prozent gut war. Der langfristige Trend zeigt bei der SPD eindeutig nach unten und lässt darauf schließen, dass dafür nicht nur Schwierigkeiten mit den jeweiligen Spitzenkandidaten, deren mangelhafte Performance sowie Fehler des Wahlkampfkonzeptes verantwortlich sind, sondern dass es dabei um tiefreichende strukturelle Faktoren geht, die jenseits unzulässiger Gleichmacherei auch in anderen europäischen Ländern zu beobachten sind. Abbildung 2: Wahlergebnisse der SPD in den Bundesländern

Bundesland

Partei

Wahlergebnis jeweils letzte Landtags­ wahl seit 2013

Baden-Württemberg

SPD

12,7 %

Bayern

SPD

20,6 %

Berlin

SPD

21,6 %

Brandenburg

SPD

31,9 %

Bremen

SPD

32,8 %

Hessen

SPD

30,7 %

Hamburg

SPD

45,6 %

Mecklenburg-Vorpommern.

SPD

30,6 %

Niedersachsen

SPD

36,9 %

NRW

SPD

31,2 %

Rheinland-Pfalz

SPD

36,2 %

Saarland

SPD

29,6 %

Sachsen

SPD

12,4 %

Sachsen-Anhalt

SPD

10,6 %

Schleswig-Holstein

SPD

27,3 %

Thüringen

SPD

12,4 %

Lothar Probst  —  Der Kampf um Platz Zwei

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In den Niederlanden etwa hat der Niedergang der alten sozialdemokratischen Partei von der Arbeit in den 1990er Jahren plötzlich und mit Vehemenz eingesetzt, in anderen Ländern vollzieht er sich allmählicher. Bei den jeweils letzten Wahlen haben aber auch in Frankreich, Österreich und Italien sozialdemokratische respektive linkssozialdemokratische Parteien herbe Verluste erlitten. Ihre Fähigkeit, eine Regierung anzuführen, haben sie dadurch eingebüßt. Die Gründe für diesen Niedergang sind vielfältig. Der Soziologe Andreas Reckwitz führt die Schwäche der SPD u. a. darauf zurück, dass sie in der Wahrnehmung ihrer Traditionswähler sozialpolitisch nach der Agenda 2010 eher wirtschaftsliberal, kulturell aber eher libertär wahrgenommen wird, weil sie sich auf ihrem linken Flügel die kulturpolitische Identitätspolitik der Grünen zu eigen gemacht habe. Das habe den Raum für Abwanderungen sowohl in Richtung Linkspartei als auch AfD geschaffen. In Österreich vermochte es die FPÖ mit einer sozialprotektionistischen und zugleich fremdenfeindlichen Politik weit in das Lager der SPÖ einzudringen und zur stärksten Arbeiterpartei aufzusteigen. Auch der Front National, der sich dem neuen Trend in Richtung Bewegungspartei angeschlossen hat und inzwischen als Rassemblement National fungiert, konnte tief in das Arbeitermilieu eindringen. Inzwischen repräsentieren die sozialdemokratischen Parteien vorwiegend nur noch einen Teil der gewerkschaftlich organisierten Facharbeiter sowie des privilegierten Öffentlichen Dienstes, während ihnen die Mobilisierung breiter Wählerschichten kaum noch gelingt. Aber auch die konservativen Parteien haben in vielen Parteisystemen Europas ihre prägende und tragende Rolle verloren und werden von Erosionsprozessen heimgesucht. In Deutschland ist die Union zwar immer noch unangefochten stärkste Partei, aber die Auseinandersetzungen zwischen CDU und CSU über die zukünftige Ausrichtung ihrer Politik (eher Mitte oder eher rechts) könnten Vorboten eines Zerreißprozesses sein, der ihre Stellung im Parteiensystem langfristig ebenfalls schwächt. IN LAUERSTELLUNG: DIE AFD … Vor diesem Hintergrund steuert das Parteiensystem der Bundesrepublik auf einen langfristigen Wandel zu. Die lange Zeit vorherrschenden Zweiparteiendominanz in einem System, in dem gleichzeitig mehrere kleinere Parteien miteinander konkurrieren und als Koalitionspartner zur Verfügung stehen, wird durch ein Mehrparteiensystem mit einer Führungspartei (die gleichwohl auch an Dominanz verliert), zwei bis drei Mittelparteien und weiteren Kleinparteien abgelöst.

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Perspektiven — Analyse

Gleichzeitig öffnet die Schwäche der sozialdemokratischen Parteien das Tor für den Kampf um Platz zwei im Parteiensystem. In Österreich ist die FPÖ auf dem besten Wege, diesen Kampf zu gewinnen, während in Deutschland noch nicht ausgemacht ist, wie er ausgeht. Ob die SPD diesen Platz noch verteidigen kann, ist jedenfalls fraglich. Die AfD, aber auch die Grünen, verringern den Abstand zunehmend. In Baden-Württemberg und neuerdings auch in Bayern (geht man dort von den letzten Umfragen vor der anstehenden Landtagswahl aus) hat die SPD diesen Platz bereits an die Grünen verloren, in mehreren ostdeutschen

Bundesländern entweder an die Linkspartei oder an die AfD. Auf Bundesebene hängt viel davon ab, ob der SPD der Spagat gelingt zwischen der Rolle als Regierungspartei in der Großen Koalition und dem Versuch, sich gleichzeitig als Oppositionspartei gegenüber der Union zu profilieren. Bisher sind alle entsprechen­den Versuche mehr oder weniger gescheitert. Nicht einmal aus dem Streit der Unionsparteien über die Flüchtlingspolitik hat die SPD Honig saugen können. Gute Chancen, die SPD als zweitstärkste Partei zu beerben, hat die AfD, die gar nicht viel zu tun braucht, weil die Auseinandersetzung in der Union ihr die Wähler in die Arme treibt und die öffentliche Debatte sich zuletzt sukzessive nach rechts verschoben hat. Die Einforderung und Formulierung einer neuen Identitätspolitik sind innerhalb weniger Jahre in Europa zu einem Instrument rechtskonservativer und rechtspopulistischer Bewegungen und Kräfte geworden, die das semantische Feld rund um den Begriff »Identität« neu aufrollen und codieren. Vor allem in den neuen sozialen Medien hat sich eine Assoziationskette aus den Begriffen Identität, Emotion, Entfremdung im eigenen Land, Zugehörigkeit und deutsche Leitkultur herausgebildet, die weit in die Gesellschaft ausstrahlt. Dabei hat sich die Frage, wer ausgegrenzt wird aus dem öffentlichen Diskurs, ins Gegenteil verkehrt. Eine imaginierte Mehrheit setzt sich politisch und sprachlich gegen die politische, wirtschaftliche und kulturelle Elite zur Wehr, die, so die gefilterte Wahrnehmung, auf Minderheiten fixiert ist und die breite Masse der Mehrheitsdeutschen vernachlässigt. Die AfD beansprucht, genau diese vorgebliche Mehrheit zu repräsentieren. Ihr Co-Vorsitzende Alexander Gauland warf den »etablierten« Parteien auf einer AfD-Kundgebung in Berlin am 27. Mai 2018 vor, dass sie »die Fremden lieben, nicht uns, nicht euch, nicht die Deutschen«. Das Milieu, in dem dieser Diskurs gepflegt wird, beschränkt sich jedoch keinesfalls auf die AfD oder auf die sogenannte Identitäre Bewegung, sondern reicht inzwischen bis in die Mitte der Gesellschaft. Lothar Probst  —  Der Kampf um Platz Zwei

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Die einzige Schwachstelle innerhalb der AfD ist die – noch unentschiedene – Auseinandersetzung zwischen den eher wirtschaftsliberalen Kräften und dem bewegungsorientierten sozialprotektionistischen Flügel um Björn Höcke. Sollte sich Höcke mit der von ihm favorisierten Ausrichtung der AfD als »Partei der kleinen Leute« durchsetzen, könnte die Partei vor allem in Ostdeutschland, aber nicht nur dort, weitere Wähler aus dem Umfeld von SPD und Linkspartei einsammeln und ihre Ambitionen auf Platz zwei wahrmachen. … UND DIE GRÜNEN Sahra Wagenknecht weiß, dass der Linkspartei insbesondere im Osten Gefahr von dieser Seite droht. Mit ihrer Idee der linken Sammlungsbewegung (geeigneter wäre wahrscheinlich der Name »Liste Sahra Wagenknecht«), die

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Perspektiven — Analyse

sich am Vorbild von Jean-Luc Mélenchons Bewegungspartei La France Insoumise orientiert, träumt sie davon, mit einer Mischung aus sozialpopulistischen Elementen und Anleihen aus dem rechten Identitätsdiskurs selber zur zweiten Kraft im Parteiensystem aufzusteigen. Dafür stehen die Aussichten allerdings nicht sehr gut, da ihre Partei in dieser Frage tief gespalten ist. Realistische Chancen auf Platz zwei im Parteiensystem haben dagegen interessanterweise auch die Grünen, die sich seit den mit großer Ernsthaftigkeit geführten Jamaika-Sondierungsgesprächen stetig in den Umfragen verbessert haben. Nicht nur mit ihrer neuen Parteispitze hat sich der Sound der Grünen verändert. Schon in den Jamaika-Sondierungen waren von der Partei auch neue Töne in der Zuwanderungspolitik zu hören, die sich den Realitäten in Europa stellen, ohne den humanitären Gestus in Frage zu stellen. Gegenwärtig präsentieren sich die Grünen ökologisch radikal, aber gesellschafts- und sozialpolitisch geerdet. Gleichzeitig sind sie mit ihrer Politik der kulturellen Vielfalt sowie ihrer europapolitischen Offenheit der geborene Gegenpol zur AfD – eine Rolle, die sie in den öffentlichen Auseinandersetzungen zur Mobilisierung nicht nur grün-affiner Wählern nutzen können. Cem Özdemir hat mit seiner Brandrede im Bundestag gegen die AfD, die auch von den Fraktionen der anderen demokratischen Parteien beklatscht wurde, vorgemacht, wie man – wo nötig – die Kontroverse mit der AfD nicht nur mit der notwendigen inhaltlichen Schärfe, sondern auch mit Leidenschaft führen kann. Die Grünen täten sich einen Gefallen, das Talent und die Erfahrung von Cem Özdemir besser zu nutzen, als sie es gegenwärtig tun. Als eine der rhetorischen Speerspitzen im Bundestag würde er das neue Führungsteam aus Robert Habeck und Annalena Baerbock kongenial ergänzen. Wenn es den Grünen in den nächsten Jahren gelingt, der Debatte um die Zukunft Europas neue Impulse zu verleihen, die Notwendigkeit, ökologisch radikaler zu denken, gesellschaftsfähig zu machen und gleichzeitig eine sozialpolitische Infrastrukturpolitik rund um die Themen Kinder, Familie, Rente und Alter mit innovativen Ansätzen in der Wirtschaftspolitik zu verbinden, haben sie durchaus realistische Chancen, den Kampf um Platz zwei zu gewinnen. Aber noch ist alles offen.

Prof. Dr. Lothar Probst,  geb. 1952, ist Professor an der Univer­ sität Bremen. Er war Geschäftsführer des Instituts für Interkulturelle und Internationale Studien am Fachbereich 8 der Universität Bremen und Leiter des Arbeitsbereichs Wahl-, Parteien- und Partizipationsforschung am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bremen. Seine Forschungs- und Lehrschwerpunkte liegen im Bereich der Parteien- und Wahlforschung.

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INDES ZEITSCHRIFT FÜR POLITIK UND GESELLSCHAFT Herausgegeben durch das Institut für Demokratieforschung der Georg-August-Universität Göttingen. Redaktion: Dr. Felix Butzlaff, Alexander Deycke, Dr. Lars Geiges, Jens Gmeiner, Julia Bleckmann, Jöran Klatt, Danny Michelsen, Dr. Robert Lorenz, Dr. Torben Lütjen, Luisa Rolfes. Konzeption dieser Ausgabe: Jöran Klatt. Redaktionsleitung: Dr. Matthias Micus (verantw. i. S. des niedersächs. Pressegesetzes), Michael Lühmann, Marika Przybilla-Voß. Redaktionsanschrift: Redaktion INDES c/o Göttinger Institut für Demokratieforschung Weender Landstraße 14, 37073 Göttingen, [email protected] Online-Auftritt: www.indes-online.de Anfragen und Manuskriptangebote schicken Sie bitte an diese Adresse, möglichst per E-Mail. – Die Rücksendung oder Besprechung unverlangt eingesandter Bücher kann nicht gewährleistet werden.

BEBILDERUNG Die in dieser Ausgabe gezeigten Fotografien und Bilder sind in der Meereswelt zu verorten. Die verschiedenen zu sehenden Meerestiere eint neben ihrem Körperbau, zu dem meist Tentakeln gehören, die sie zur Verteidigung und Beutefang nutzen und oftmals wie ein Netz wirken, ihre Fortbewegung und Lebensweise. Zudem können sie sowohl gefährlich als auch harmlos für den Menschen sein. Zunächst als Individuum wahrnehmbar, scheinen sie durch die Weite des Meeres zu schweben. Indes nehmen sie eine Verbindung zu anderen Meerestieren auf, bewegen sich in Massen und zählen zu der Lebensgemeinschaft des Meeres. Ebenso scheint es sich in der digitalen Welt zu gestalten. Das Individuum betritt zunächst alleine diese Welt, hat jedoch stets die Möglichkeit mit anderen in Kontakt zu treten, ein Netzwerk zu bilden und zu kommunizieren. Dabei hat es Zugriff auf ein Meer von Informationen – ungewiss des Anfangs und des Endes dieser Weite und der hier möglicherweise schlummernden Risiken und Vorteile.

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INDES erscheint viermal jährlich. Bestellung durch jede Buchhandlung oder beim Verlag. Jahresbezugspreis € 71,– D / € 73,– A / SFr 88,90; ermäßigter Preis für Studierende/Auszubildende (gegen Bescheinigung, befristet auf drei Jahre) € 41,80 D / € 43,– A; Einzelheftpreis € 20,– D / € 20,60 A. Inst.-Preis € 133,– D / € 136,80 A. Jeweils zzgl. Versandkosten. Preisänderungen vorbehalten. Die Bezugsdauer verlängert sich jeweils um ein Jahr, wenn nicht eine Abbestellung bis zum 1.10. erfolgt.

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