Mitte des 20. Jahrhunderts wendet sich die literarische Avantgarde ihrer Medialität zu und erkundet »Szenen der Schrift«
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German Pages 450 Year 2015
Table of contents :
INHALT
Siglen
Dank
Einleitung
1. Perspektiven einer Medienästhetik der Literatur
1.1 Die medienwissenschaftliche Wende der Geisteswissenschaften
1.2 Medientheoretische Reflexionen von Schrift und Literatur
1.3 Entwürfe einer medienästhetischen Perspektive auf Schrift und Literatur
1.4 Roland Barthes’ écriture-Begriff in medienästhetischer Perspektive
2. Experimentalisierung von Schrift und Literatur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts
2.1 Ästhetik des Experimentellen im intermediären Feld von Literatur und Wissenschaft
2.2 Wissenschaftspoetik der potenziellen Literatur. Oulipo
2.2.1 Poetik im intermediären Feld von Schrift und Mathematik
2.2.2 Methoden und Formen potenzieller Literatur
2.2.3 »Theoretische Literatur« und Medienkunst
2.3 Ästhetik des Spiels als Inszenierung permanenter Grenzüberschreitungen
2.3.1 ’Pataphysische Wissenschaftsphantastik
2.3.2 Experimentelle Schreibprojekte potenzieller Literatur
3. Experimentelle Ästhetik der Schrift. Georges Perec
3.1 Entwurf einer auf die Reflexion der Schrift zentrierten Poetologie
3.1.1 Am Nullpunkt der Schrift
3.1.2 Mythopoetik und Ästhetik
3.1.3 Theatralität der Schrift. Kreuzworträtsel, Theatertext, Hörspiel
3.2 Der Roman im selbstreflexiven Spiel von Medialität und Phantastik
3.2.1 Von der écriture zum Roman
3.2.2 Der Roman als Ordnungssystem. »La Vie mode d’emploi«
3.2.3 Ästhetik des trompe l’oeil
3.3 Entwurf einer anthropologischen Ästhetik der écriture
3.3.1 Topografische Ordnungen
3.3.2 Autobiographie als phantastische Topografie. »W ou le souvenir d’enfance«
3.3.3 Schrift als Geste einer Erinnerungspraxis
4. Medienphilosophische Ästhetik der Schrift. Vilém Flusser
4.1 Von der Sprachphilosophie zu einer Theorie der Medien
4.2 Medienphilosophie und Ästhetik
4.3 Medienphilosophie der Schrift
4.4 Inszenierung medienästhetisch reflektierter Verkörperungsformen der Schrift
5. Medienästhetik der Pop-Literatur. Rainald Goetz
5.1 Pop-Literatur als medienästhetische Reflexion von Schrift und Literatur
5.1.1 Pop-Literatur als medienästhetische Praxis
5.1.2 Popliterarische Erkundungen (trans-)medialer Dimensionen der Schrift. Rolf Dieter Brinkmann
5.2 Schrift als Affektmedium
5.2.1 Inszenierung kognitiver Zusammenbrüche. »Irre«
5.2.2 Schrift als Diktat und Ereignis. »Kontrolliert«
5.2.3 Schrift als terroristischer Akt. »Hirn«
5.2.4 Schrift als Performance. »Subito«
5.3 Medientheatrale Inszenierungen der Schrift
5.3.1 Theatrale Verkörperungen der Schrift. »Krieg«
5.3.2 Inszenierte Medientheatralität. »Festung«
5.4 Medienästhetik der Schrift. Das Projekt »Heute Morgen«
5.4.1 Kunst als medienästhetische Inszenierung. »Jeff Koons«
5.4.2 Medienästhetik der DJ-Culture. »Rave«
5.4.3 Das Schreiben des Medien-Romans als medienkünstlerischer Akt. »Dekonspiratione«
5.4.4 Schrift in der Medienkunst der DJ-Culture. »Celebration«
5.4.5 Schrift als transmediale Verkörperungsform zwischen Internet und Buch. »Abfall für alle«
Schluss. Perspektiven einer Medienkunst der Schrift
Literaturverzeichnis
Literatur-, Medien- und Kulturwissenschaften Medienästhetik, Literatur und Schrift. Experimentelle Literatur, Medienphilosophie und Pop-Literatur
Oulipo und Collège de ’Pataphysique
Georges Perec
Vilém Flusser
Rainald Goetz
Petra Gropp Szenen der Schrift
Petra Gropp (Dr. phil.) arbeitet als Lektorin für deutschsprachige Literatur im S. Fischer Verlag. Sie publiziert im Bereich Literatur und Medien (»Schreiben. Szenen einer Sinngeschichte«, Tübingen 2002) und ist u.a. Mitherausgeberin der Anthologie »Perspektiven interdisziplinärer Medienphilosophie«, Bielefeld 2003.
Petra Gropp Szenen der Schrift. Medienästhetische Reflexionen in der literarischen Avantgarde nach 1945
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© 2006 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung & Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Petra Gropp Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-404-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
INHALT Siglen
9
Dank
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Einleitung
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1.
Perspektiven einer Medienästhetik der Literatur
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1.1
Die medienwissenschaftliche Wende der Geisteswissenschaften Medientheoretische Reflexionen von Schrift und Literatur Entwürfe einer medienästhetischen Perspektive auf Schrift und Literatur Roland Barthes’ écriture-Begriff in medienästhetischer Perspektive
1.2 1.3 1.4
2.
2.1
2.2 2.2.1 2.2.2 2.2.3
17 27 34 44
Experimentalisierung von Schrift und Literatur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts
59
Ästhetik des Experimentellen im intermediären Feld von Literatur und Wissenschaft
59
Wissenschaftspoetik der potenziellen Literatur. Oulipo Poetik im intermediären Feld von Schrift und Mathematik Methoden und Formen potenzieller Literatur »Theoretische Literatur« und Medienkunst
72 72 81 92
2.3
Ästhetik des Spiels als Inszenierung permanenter Grenzüberschreitungen 2.3.1 ’Pataphysische Wissenschaftsphantastik 2.3.2 Experimentelle Schreibprojekte potenzieller Literatur
104 104 118
3.
Experimentelle Ästhetik der Schrift. Georges Perec
Entwurf einer auf die Reflexion der Schrift zentrierten Poetologie 3.1.1 Am Nullpunkt der Schrift 3.1.2 Mythopoetik und Ästhetik 3.1.3 Theatralität der Schrift. Kreuzworträtsel, Theatertext, Hörspiel
121
3.1
Der Roman im selbstreflexiven Spiel von Medialität und Phantastik 3.2.1 Von der écriture zum Roman 3.2.2 Der Roman als Ordnungssystem. »La Vie mode d’emploi« 3.2.3 Ästhetik des trompe l’œil
121 121 125 137
3.2
3.3 Entwurf einer anthropologischen Ästhetik der écriture 3.3.1 Topografische Ordnungen 3.3.2 Autobiographie als phantastische Topografie. »W ou le souvenir d’enfance« 3.3.3 Schrift als Geste einer Erinnerungspraxis
4.
4.1 4.2 4.3 4.4
Medienphilosophische Ästhetik der Schrift. Vilém Flusser Von der Sprachphilosophie zu einer Theorie der Medien Medienphilosophie und Ästhetik Medienphilosophie der Schrift Inszenierung medienästhetisch reflektierter Verkörperungsformen der Schrift
145 146 151 167 183 183 199 215
229
230 237 254 264
5.
Medienästhetik der Pop-Literatur. Rainald Goetz
Pop-Literatur als medienästhetische Reflexion von Schrift und Literatur 5.1.1 Pop-Literatur als medienästhetische Praxis 5.1.2 Popliterarische Erkundungen (trans-)medialer Dimensionen der Schrift. Rolf Dieter Brinkmann
285
5.1
5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4
Schrift als Affektmedium Inszenierung kognitiver Zusammenbrüche. »Irre« Schrift als Diktat und Ereignis. »Kontrolliert« Schrift als terroristischer Akt. »Hirn« Schrift als Performance. »Subito«
5.3 Medientheatrale Inszenierungen der Schrift 5.3.1 Theatrale Verkörperungen der Schrift. »Krieg« 5.3.2 Inszenierte Medientheatralität. »Festung« 5.4 5.4.1 5.4.2 5.4.3 5.4.4 5.4.5
Medienästhetik der Schrift. Das Projekt »Heute Morgen« Kunst als medienästhetische Inszenierung. »Jeff Koons« Medienästhetik der DJ-Culture. »Rave« Das Schreiben des Medien-Romans als medienkünstlerischer Akt. »Dekonspiratione« Schrift in der Medienkunst der DJ-Culture. »Celebration« Schrift als transmediale Verkörperungsform zwischen Internet und Buch. »Abfall für alle«
285 285 288 300 300 310 318 326 330 330 337
358 361 365 373 380 392
Schluss. Perspektiven einer Medienkunst der Schrift
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Literaturverzeichnis Literatur-, Medien- und Kulturwissenschaften Medienästhetik, Literatur und Schrift. Experimentelle Literatur, Medienphilosophie und Pop-Literatur Oulipo und Collège de ’Pataphysique Georges Perec Vilém Flusser Rainald Goetz
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409 429 434 442 444
SIGLEN 1989.1 1989.2 1989.3 A ACID BaH C CT D E F FSL H I JK K Kontr. Kri. Kro. M OC I OC II OC III R RB S SFL SPM St. SZ V VME Z
R. Goetz: 1989 (Bd. 1) R. Goetz: 1989 (Bd. 2) R. Goetz: 1989 (Bd. 3) R. Goetz: Abfall für alle R.D. Brinkmann/R.-R. Rygulla (Hg.): ACID. Neue amerikanische Szene R.D. Brinkmann: Briefe an Hartmut 1974-1975 R. Goetz: Celebration R. Barthes: Cy Twombly R. Goetz: Dekonspiratione V. Flusser: Eine neue Einbildungskraft R. Goetz: Festung R. Barthes: Fragmente einer Sprache der Liebe R. Goetz: Hirn R. Goetz: Irre R. Goetz: Jeff Koons V. Flusser: Kommunikologie R. Goetz: Kontrolliert R. Goetz: Krieg R. Goetz: Kronos V. Flusser: Medienkultur R. Barthes: Œuvres complètes. Bd. I 1942-1965 R. Barthes: Œuvres complètes. Bd. II 1966-1973 R. Barthes: Œuvres complètes. Bd. III 1974-1980 R. Goetz: Rave R. Barthes: Über mich selbst V. Flusser: Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft? R. Barthes: Sade. Fourier. Loyola V. Flusser: Vom Subjekt zum Projekt. Menschwerdung R.D. Brinkmann: Standphotos R. Barthes: S/Z V. Flusser/L. Bec: Vampyroteuthis infernalis G. Perec: La Vie mode d’emploi V. Flusser: Zwiegespräche
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DANK Mein Dank gilt all jenen, die mich über Jahre hinweg in meiner Begeisterung für die Literatur und die Wissenschaft begleitet und unterstützt haben, in erster Linie meiner Familie und meinem Freund Dr. Joachim Koch. Diese Arbeit ist einem Umfeld entstanden, in dem das Ausloten neuer Territorien mit Engagement, kritischem Geist und intellektueller Experimentierfreude betrieben wird. Für diese Freiheiten, ihre Anregungen und Förderungen danke ich meinen beiden Betreuern Prof. Dr. Christian Schärf und PD Dr. Matthias Bauer. Die Notwendigkeit, mich in der Theaterwissenschaft, Philosophie und anderen Nachbardisziplinen nach geeigneten Konzepten, Begriffen und Modellen umzusehen, hat es mir erlaubt, mit Kollegen anderer Fächer zusammenzuarbeiten, und auch für diese Offenheit und die Möglichkeit, in Gespräche, Veranstaltungen und Publikationsprojekte die Fragen und Überlegungen der eigenen Arbeit einbetten zu können, möchte ich danken. An dieser Stelle gilt mein Dank auch Dr. Christoph Ernst, dessen intellektuelle Brillanz, praktische Tatkraft und Freundschaft gemeinsame Seminare, verzwickte Diskussionen und zahlreiche Projekte zu einer großen fachlichen und persönlichen Bereicherung haben werden lassen. Mein Dank gilt nicht zuletzt dem Fachbereich 05 der Johannes Gutenberg-Universität für die Zuerkennung des Promotionspreises. Gefördert wurde die Arbeit durch ein Promotionsstipendium des Fachbereiches sowie anschließend durch ein Stipendium der Landesgraduiertenförderung Rheinland-Pfalz.
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EINLEITUNG »Je n’écris pas pour dire que je ne dirai rien, je n’écris pas pour dire que je n’ai rien à dire. J’écris: j’écris parce que nous avons vécu ensemble, parce que j’ai été un parmi eux, ombre au milieu de leurs ombres, corps près de leurs corps; j’écris parce qu’ils ont laissé en moi leur marque indélébile et que la trace en est l’écriture: leur souvenir est mort à l’écriture; l’écriture est le souvenir de leur mort et l’affirmation de ma vie.« Georges Perec 1
Georges Perec habe den Akt des Schreibens neu erfunden, so sieht es Harry Mathews. 2 Schreiben als Erinnerung eines Todes, als Prozess eines Erinnerns. Im Schreiben wird nicht das Erinnerte zurückgeholt, sondern der Akt des Schreibens wird zur Erinnerungspraxis, die Verkörperung der Schrift zur Inszenierung eines Erinnerns. Von der Schrift her denkend, Schrift in ihrer Medialität und als Kulturtechnik, wird Literatur zum Ort, an dem diese Reflexionen verhandelt und vorgeführt werden. Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts werden diese Fragen nach Medien und Medialität, nach der Schrift, nach dem Schreiben als medialem und kulturellem Akt zu einem zentralen Ausgangspunkt des literarischen Arbeitens. Das Poetologische wird von der Schrift her gedacht. Damit steht Literatur in einer kulturellen Konstellation, die man als medial turn bezeichnen könnte, Wissenschaft, Technik und Kunst setzen sich mit der Frage nach Medien und Medialität auseinander. Literatur greift diese Theorien, Modelle und Methoden auf und positioniert sich in diesem Feld mit Entwürfen einer Ästhetik der Schrift. Konzeptionen der Schrift werden in Praktiken des Schreibens überführt, Literatur führt Schrift in ihrer Medialität und als kulturelle Handlung vor, setzt die Grenzbereiche des Medialen und kulturell Sinnhaften in Szene. In der experimentellen Inszenierung der Schrift wird Literatur zum ästhetischen Akt. Literatur entwickelt Poetologie und literarische Verfahren in Interaktion mit zeitgenössischen Konzeptionen der Schrift – kybernetisch-systemtheoretischer, kommunikationswissenschaftlicher, semiotischer, kulturhistorischer, grammatologischer oder kognitivistischer Orientierung. Aus der Reflexion der Schrift werden Formen des Schreibens abgeleitet und poetologische Konzeptionen wie Fiktionalität und Autorschaft reformuliert. In der Verschiebung der Horizonte von Wissenschaft, Kulturtechnik und Kunst, wie sie mit der Reflexion von Medien und Medialität, in selbstreflexiver Wendung der Wissenschaften, Techniken und Künste, neue Bewegungen erfahren hat und erfährt, in der auch das Literarische in stetigem Selbstentwurf begriffen ist, wird das Ästhetische zu einem zentralen Aspekt, den es mit Blick auf das Mediale neu zu bestimmen gilt. Als viel versprechend erweisen sich hier Zusammenführungen von Literaturtheorie, Medien- und Kulturwissenschaften mit dem Fokus auf der Frage 1 2
Georges Perec: W ou le souvenir d’enfance, Paris 1975, S. 59. »Perec a repensé et réinventé l’acte d’écrire lui-même.« Harry Mathews: »Le catalogue d’une vie«, in: Magazine littéraire 193 (1983), S. 14-20, hier S. 14.
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SZENEN DER SCHRIFT
nach dem Medialen und dem Ästhetischen, wie sie im ersten Kapitel ansatzweise und vorläufig unternommen werden. Es gilt Ausgangspunkte zu entwickeln, um einen Blick auf Schrift und Literatur werfen zu können, wie sie in medienästhetischer Perspektive reflektiert werden. Diese medienästhetische Orientierung steht erst am Beginn ihrer Ausarbeitung. Verkreuzungen entstehen dadurch, dass Literaturwissenschaft und Autoren sich derselben Reflexionen zu Schrift und Sprache, Lektüre und Literatur bedienen. Literaturwissenschaft versucht, ein interdisziplinäres Instrumentarium, Begriffe und Modelle zu entwickeln, um die poetologischen Reflexionen und künstlerischen Praktiken der Literatur beschreibbar zu machen. In der Literatur nach 1945 lassen sich zwei Richtungen ausmachen, die diese Reflexionen des Medialen und des Ästhetischen, von der Schrift her kommend, in differenzierter und vielfältiger Weise unternehmen: die so genannte experimentelle Literatur und die so genannte Pop-Literatur. Diese in der literaturwissenschaftlichen Perspektive oftmals als marginal eingestuften literarischen Richtungen rücken in der Frage einer Medienästhetik der Schrift und der Literatur in den Mittelpunkt des Interesses, weil sie Reflexionen, Erkundungen, Grenzgänge unternehmen, die für die Literatur des zwanzigsten Jahrhunderts richtungweisend sind. Literarische Verfahren und Formen der Moderne werden aufgegriffen, Überlegungen im Zeichen der neuen Medien, zeitgenössischen Theorien und aktuellen ästhetischen Fragen fortgeführt und im Horizont der veränderten kulturellen Konstellation reformuliert. Experimentelle Literatur, die konkrete und visuelle Poesie in Deutschland wie die Werkstatt für potenzielle Literatur in Frankreich, bestimmen zentrale Kategorien des Literarischen im Zwischenbereich von kybernetischer Wissenschaft und Computertechnologie neu und entwerfen Gestaltungen und Praktiken der Schrift als medienkünstlerische Aktionen. Die Interaktionen von Mathematik und Literatur, Wissenschaft und Phantastik stellen spielerische Inszenierungen kultureller Ordnungsprozesse und deren performative Überschreitung vor, insbesondere die Arbeiten und Praktiken des Collegium ’Pataphysikum. Georges Perec entwickelt mit diesem experimentellen Ansatz, in der Auslotung der Schwellenbereiche symboltechnischer Konstruktionen und medialer Verkörperungsakte, eine Poetik der Literatur und eine ästhetische Praxis der Schrift, die eine Vielfalt literarischer Formen gestalten, bis hin zu einem mit der Pluralform »Romane« benannten romanesken Mammutwerk »Das Leben Gebrauchsanweisung«. Im Erkunden des Entwerfens von Raumund Zeitordnungen erhält Perecs Arbeit eine medienanthropologische Wendung, im Spiel mit Fiktionalität und Phantastik wird Literatur als Archiv, Gedächtnismedium und Erinnerungspraxis reflektiert. Es werden Gestaltungsformen der Schrift entworfen, um Dimensionen des Autobiographischen, mediale Selbstentwürfe der Autorfigur in Szene setzen zu können. Medienphilosophische Reflexionen nehmen eine Scharnierfunktion ein, insofern der aus der kybernetisch-mathematischen Richtung kommende und um Aspekte der französisch-poststrukturalistischen écriture ergänzte SchriftBegriff mit medienphilosophischen Überlegungen erweitert werden kann. Die Frage nach dem Medialen und dem Ästhetischen lässt sich mit aktuellen Perspektiven der Medienphilosophie sowie exemplarisch mit Vilém Flusser als einem der zentralen Vordenker differenzieren. Ansätze einer kybernetisch-kommunikationstheoretisch orientierten Medienreflexion werden mit phänomenologischen Überlegungen im Hinblick auf das mediale Weltent14
EINLEITUNG
werfen zusammengedacht. Insofern Flusser dabei insbesondere die aktuellen medialen Verhältnisse, die er mit dem Begriff des Technoimaginären beschreibt, im Blick hat, kann mit ihm der Brückenschlag zwischen den Reflexionen und Arbeiten der experimentellen Literatur und der Pop-Literatur unternommen werden. Zumal Schrift bei Flusser zum grundlegenden Modell für das Denken der Medien wird, und zwar Schrift im Sinne eines spielerischen Entwerfens von Erlebnismodellen, Schrift als ästhetische Praxis. Flusser inszeniert einen Zwischenraum von Wissenschaft und Ästhetik, Theorie und Science-Fiction, Philosophie und performativer Verkörperung eines DenkStils, wie er gleichermaßen die aktuelle Medienkunst und daran angrenzend die avancierte Pop-Literatur, beispielsweise eines Rainald Goetz, bestimmt. Pop-Literatur ist, von den modernistischen Wurzeln her und in der USamerikanischen Tradition gesehen, eine Praxis semiotischer und medialer Transformationen. In Auseinandersetzung mit Kognitionstheorien, neuen Medientechniken und Erlebnismodellen der Massenmedienkultur werden Gestaltungsformen der Schrift ausgelotet, um den audiovisuellen Medien vergleichbare affektive Qualitäten der Schrift in Szene zu setzen und Schrift im Rahmen einer Ästhetik des Performativen als Aktionsform, als präsentisches Ereignis vorzuführen. Orientierungshorizont des Literarischen sind dabei medienkünstlerische Formen der Performance wie ein gewandeltes Veständnis einer theatralen und spektakulär organisierten Medienkultur. Zu beobachten ist eine Konzeption von Schrift, die zugleich Organisationsform von Wissen und Kultur ist als auch affektive Potenziale integriert und über das Geschriebene hinaus transmediale Formen annimmt, Bildlichkeit und Stimmlichkeit einbezieht, und insbesondere die Schwellenbereiche der medialen Transformationen erkundet. Vor dem Hintergrund der Integration und Inszenierung affektiver, kognitiver und physiologischer Dimensionen werden die Entwürfe der Autorfigur und des Autobiografischen zu zentralen Punkten der medialen und kulturellen Reflexion, werden als ästhetische Verkörperungsakte unternommen. Die Formulierung der „Szenen der Schrift“ umfasst die Frage nach Schreib-Prozessen und Schrift-Ästhetik und wird in diesem Sinne zum roten Faden der Reflexion medienästhetischer Perspektiven auf Schrift und Literatur, die in ersten Schritten zu entwerfen sich die vorliegende Arbeit zur Aufgabe macht.
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1. P E R S P E K T I V E N
EINER
MEDIENÄSTHETIK
DER
LITERATUR 1.1 Die medienwissenschaftliche Wende der Geisteswissenschaften Der Orientierung der Geisteswissenschaften in Richtung Medien- und Kulturwissenschaften, wie sie in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zu beobachten ist, liegt ein tief greifender Wandel des wissenschaftlichen Selbstverständnisses zugrunde. Die Neudefinition der Geistes- als Medien- und Kulturwissenschaften vollzieht sich über eine fundamentale Hinterfragung und Verabschiedung des Begriffs des »Geistes«. Hinter dieser Entwicklung steht eine Kritik an der Idee von Geisteswissenschaft als hermeneutische Disziplin, wie Wilhelm Dilthey sie in seinem Forschungsprogramm der »Geistesgeschichte« konzipiert hatte. 1 Die von Dilthey vorgenommene Entgegensetzung von »verstehenden« Geisteswissenschaften, die um Erlebnis- und Erfahrungsbegriffe zentriert sind, und den nach dem Kausalitätsprinzip »erklärenden« Naturwissenschaften, wie sie seither die Wissenschaftslandschaft zweiteilt, wird in den fünfziger Jahren nochmals durch C.P. Snows These der zwei Kulturen, die Gegenüberstellung von »literarischer Intelligenz« versus »szientifischer Intelligenz«, bekräftigt. 2 Eine kritische Diskussion dieser Spaltung des wissenschaftlichen Feldes setzt unter anderem bei den geisteswissenschaftlichen Begriffen des »Verstehens« und des »Sinns« an, insofern diese, in der Tradition literarischphilosophischer Textinterpretation und philosophischer Theorie der Auslegung und des Verstehens begründet, Methode und Zielsetzung der Geisteswissenschaften bestimmen. Die geisteswissenschaftlichen Methoden des Verstehens, Interpretierens und Deutens sind auf den epistemologischen Horizont eines bestimmten Sinn-Begriffs bezogen und setzen voraus, dass Sinn gegeben und in einem Verstehensprozess zu rekonstruieren sei. 3 1
2
3
Dilthey nimmt in seiner »Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte« (1883) und in seiner Konzeption der Literatur als aus dem Erleben entsprungenes Ausdrucksvermögen, wie in »Das Erlebnis und die Dichtung« (1905) dargelegt, eine Verschränkung von Literatur, Gesellschaft, Geschichte und Erleben vor, die Literatur und Literaturwissenschaft auf ein aus dem Erleben entsprungenes Verstehen der — sinnhaften — geistesgeschichtlichen Zusammenhänge festlegt; daraus geht auch die zentrale Rolle der Autobiographie hervor, in der Geschichte und persönliches Erleben zur Geistesgeschichte verdichtet werden, wie es der Dilthey-Schüler Georg Misch in seiner umfassenden, historisch weit zurückreichenden und außereuropäische Kulturkreise einbeziehenden, die Forschung zu dieser Gattung begründenden »Geschichte der Autobiographie« (1949-1969) entwickelt hat. Siehe C.P. Snow: Die zwei Kulturen. Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz, Stuttgart 1967. Siehe dazu auch Helmut Kreuzer (Hg.): Die zwei Kulturen. Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz. C.P. Snows These in der Diskussion, München 1987. Siehe zu Ansätzen der Hermeneutik und Interpretationstheorie den Überblick bei Peter L. Brenner: Das Problem der Interpretation, Tübingen 1999.
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SZENEN DER SCHRIFT
Diese Prämisse, dass Sinn gegeben sei, liegt auch denjenigen für die philologische und geisteswissenschaftliche Interpretationstheorie zentralen Hermeneutiken zugrunde, die Verstehen als prozesshaft, veränderlich und wesenhaft subjektiv betrachten, sei es Hans-Georg Gadamers Ansatz des Aufeinanderbezogenseins von Wahrheit und Methode oder Hans Robert Jauß’ Rezeptionstheorie, die Verstehen als Prozess aktiven sinnbildenden Lesens beschreibt. 4 Die auf einen zu deutenden Sinn ausgerichteten hermeneutischen Theorien werden in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts vor allem von Seiten der französischen Theorie, aus diskursanalytischer und poststrukturalistischer Richtung, angegriffen. Konzeptionen von Sinn als diskursive Praxis bzw. die Idee der Durchstreichung von Sinn in einem differenziellen Spiel nicht-identischer Bedeutungen erweisen sich als Herausforderungen an die hermeneutische Theorie. Insbesondere die dekonstruktivistische Bedeutungstheorie und Textpraxis Jacques Derridas zeigt weit reichende Konsequenzen für das Selbstverständnis hermeneutischer Disziplinen und ihre Interpretationstätigkeit. 5 Die Hinterfragung der sich als hermeneutische begreifenden Geisteswissenschaften ist zudem darauf bezogen, dass mit der Prämisse eines vorgängigen Sinns eine unterstellte Interpretationsbedürftigkeit und Interpretierbarkeit von Welt einhergeht – immer wieder in das Bild vom Buch der Welt und die Metapher der Lesbarkeit der Welt gefasst 6 –, aus der die Geisteswissenschaften ihren wissenschaftlichen Anspruch des Verstehens und Interpretierens abgeleitet haben. Mit der Kritik an dieser implizit oder explizit unterstellten Sinnhaftigkeit von Welt und Text wird zugleich die prätendierte sinnstiftende Funktion der Geisteswissenschaften deutlich und problematisch. Diese Situation der Geisteswissenschaften in einem sich verändernden epistemologischen und wissenschaftstheoretischen Umfeld ist der Ausgangspunkt eines fundamentalen Blickwechsels, wie er in den Jahren 1981 bis 1989 in einer Reihe von Tagungen am Inter-University-Center Dubrovnik diskutiert und vollzogen wird. 7 Die um Hans Ulrich Gumbrecht und Karl Ludwig 4
5
6 7
Siehe Hans-Georg Gadamer: Wahrheit und Methode, Tübingen 1960; Hans Robert Jauß: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, Frankfurt/M. 1982. Derridas Begriff und Praxis der »différance«, die Idee, dass Zeichen und Bedeutungen als differenzielle und aufgeschobene zu denken sind, ist zu einem zentralen Schlagwort des zeichentheoretischen und hermeneutischen Diskurses geworden. Siehe die für diesen Diskussionszusammenhang zentralen Texte Jacques Derridas: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/M. 1972; Dissemination, Wien 1995; »Die différance«, in: Peter Engelmann (Hg.), Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophie der Gegenwart, Stuttgart 1990, S. 76-113. Zur Rezeption der Dekonstruktion im deutschsprachigen Wissenschaftsraum siehe zum Beispiel Peter V. Zima: Dekonstruktion. Einführung und Kritik, Tübingen u.a. 1994. Siehe dazu bspw. Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt/M. 1986. Siehe dazu die Bände: Hans Ulrich Gumbrecht/Ursula Link-Heer (Hg.): Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie, Frankfurt/M. 1985; Bernard Cerquiglini/Hans Ulrich Gumbrecht (Hg.): Der Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie. Wissenschaftsgeschichte als Innovationsvorgabe, Frankfurt/M. 1983; Hans Ulrich Gumbrecht/Karl Ludwig Pfeiffer (Hg.): Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselementes, Frankfurt/M. 1986; dies. (Hg.): Materialität der Kom-
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1. PERSPEKTIVEN EINER MEDIENÄSTHETIK DER LITERATUR
Pfeiffer versammelten Wissenschaftler stellen die Forderung nach einem neuen geisteswissenschaftlichen Diskurs auf, dessen Aufgabe nicht »Verstehen/Interpretieren/Deuten« sei, sondern der auf ein »Beschreiben« ziele, 8 das auf »sekundäre (deutende) Sinnstiftungen« 9 verzichte. Mit diesem Programm leisten die Tagungen dem entscheidenden Paradigmenwechsel Vorschub: Die »ehemaligen Geisteswissenschaften« machen sich, wie Gumbrecht formliert, endgültig zur »Selbstbefreiung von den Allgegenwart des ›Geistes‹« auf, denn »sie schlagen nicht mehr allein in vielfältiger Weise und mit ebenso vielfältigen Legitimationen Sinn aus jenen Sinnstrukturen, die ihr Gegenstand sind«, sondern stellen stattdessen »die Frage nach den Bedingungen für die Entstehung von Sinn«. 10 Die Reorientierung der Geisteswissenschaften knüpft damit dezidiert an den als blinden Fleck ausgemachten Sinn-Begriff an. Die Frage nach den Bedingungen für die Entstehung von Sinn ist insofern als zweifache zu verstehen, als sie die Fragestellung der Geisteswissenschaften an ihre Gegenstände meint und zugleich als an die Geisteswissenschaften herangetragene Frage zu verstehen ist. Vor diesem Hintergrund der disziplinären Selbstbefragung werden in den einzelnen Tagungen zentrale geistes- und kulturwissenschaftliche Begriffe und Diskurse kritisch reflektiert. Insbesondere der vierte, 1988 herausgegebene Band »Materialität der Kommunikation« treibt den neuen geisteswissenschaftlichen Diskurs entscheidend voran. Mit der Formulierung der Materialität der Kommunikation wird nach selbst nicht sinnhaften Voraussetzungen von Sinn gefragt, nach den Orten, Trägern und Modalitäten von Prozessen der Sinngenese. Hans Ulrich Gumbrecht und Karl Ludwig Pfeiffer verweisen bezüglich dieser Fragestellung nach den Entstehungsbedingungen von Sinn auf zwei fundierende Theoriekomplexe: auf poststrukturalistische Ansätze einerseits und kognitions- und systemtheoretische Positionen andererseits. Der gewählte Titel der »Materialität der Kommunikation« führt diese beiden Theoriemodelle in ein zeichen- und kommunikationswissenschaftliches Programm zusammen. Friedrich A. Kittler ist für diese anti-hermeneutische Reorientierung der Geisteswissenschaften einerseits mit seinem polemischen Angriff von der »Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften« zentral geworden, 11 andererseits mit seiner Untersuchung der medialen Voraussetzungen symbolischer Sinnkonstruktionen in »Aufschreibesystemen«. 12 Kittler hat die munikation, Frankfurt/M. 1988; dies. (Hg.): Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie, Frankfurt/M. 1991. 8 Zur kulturwissenschaftlichen Reorientierung der Geisteswissenschaften siehe insb. Hans Ulrich Gumbrecht: »Flache Diskurse«, in: ders./K.L. Pfeiffer (Hg.), Materialität der Kommunikation, S. 914-923. 9 Ebd., S. 919. 10 Ebd. 11 Siehe dazu die gleichnamige Publikation Friedrich A. Kittler (Hg.): Austreibung des Geistes aus den Geisteswissenschaften. Programme des Poststrukturalismus, Paderborn u.a. 1980. 12 Siehe Friedrich A. Kittler: Aufschreibesysteme 1800 . 1900, München 1995. Siehe auch F.A. Kittlers Beitrag »Signal — Rausch — Abstand«, in: H.U. Gumbrecht/K.L. Pfeiffer (Hg.), Materialität der Kommunikation, S. 342-359. Einführend zu Kittler sei empfohlen Angela Spahr: »Die Technizität des Textes. Friedrich A. Kittler«, in: Daniela Kloock/Angela Spahr (Hg.), Medientheorien. Eine Einführung, München 1997, S. 165-203.
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poststrukturalistische Zeichentheorie und ihre Konzentration auf den Signifikanten als Herausforderung an die Geisteswissenschaft gestellt und die Diskursanalyse Michel Foucaults für die Untersuchung der medientechnischen Voraussetzungen der Geisteswissenschaft sowie der Idee von Dichtung und Literatur um 1800 und 1900 fruchtbar gemacht. Kittler befragt mit den poststrukturalistischen Wissensformen, die mit den Namen Lacan, Foucault, Derrida, Deleuze und Guattari verbunden sind, die Voraussetzungen symbolischer Sinnkonstruktionen; als solche versteht er die – auf die Trias Geschichte, Geist und Mensch gegründeten – geisteswissenschaftlichen Disziplinen wie Geschichtsphilosophie, Literaturwissenschaft, Anthropologie und Sprachwissenschaft. Die poststrukturalistische Wende zu den Signifikanten bzw. der poststrukturalistische Diskurs über die Signifikanten wird für eine Erneuerung geisteswissenschaftlichen Fragens nach Sinnkonstruktionen in der Perspektive einer Materialität der Zeichen fruchtbar gemacht. 13 Mit Kittler wird deutlich, dass die Wende zu den Bedingungen der Entstehung von Sinn den Blick auf Zeichen und Zeichenordnungen, Wissensund Denksysteme sowie die dazugehörigen Medientechniken lenkt. Die geisteswissenschaftliche Selbstbefragung nach den Voraussetzungen wissenschaftlicher Sinnkonstruktionen stellt sich zugleich als kulturwissenschaftlich orientierte wissenschaftstheoretische Problemstellung und als Hinterfragung der Zweiteilung von Geistes- und Naturwissenschaften dar. Das Programm der »Materialität der Kommunikation« ist somit primär als wissenschaftliche Diskursanalyse bzw. als Befragung des (geistes-)wissenschaftlichen Diskurses zu verstehen, sodass die Diskursanalyse damit zum Ansatzpunkt einer kulturwissenschaftlich verstandenen Geisteswissenschaft wird, die erklärt statt sinnstiftend interpretiert und die in der Lage ist, die als Diskurse verstandenen Theorien, Begriffe und Sinnkonstruktionen der Geisteswissenschaften auf ihre Voraussetzungen hin zu befragen. 14 Diese diskursanalystische Perspektive auf Ordnungen des Wissens und der Diskurse ist auch für eine kulturwissenschaftlich orientierte Wissenschaftstheorie entscheidend geworden, insofern nicht nur geisteswissenschaftliche Disziplinen ihre Mechanismen der Sinnkonstruktion reflektieren, sondern auch Naturwissenschaften Methoden und Strategien der Konstrukti13 Siehe zur poststrukturalistischen Herausforderung an die Literaturwissenschaft Johanna Bossinade: Poststrukturalistische Literaturtheorie, Stuttgart, Weimar 2000. Bossinade stellt poststrukturalistische Textkonzeptionen und ihre Konsequenzen für Autobiographie und Autorschaft, für Praktiken der Produktion und Lektüre vor. Fundamental auch: Gerhard Neumann (Hg.): Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft, Stuttgart, Weimar 1997. Die Beiträge dieses Bandes sind um vier Themenfelder zentriert: Schrift — Gedächtnis — Differenz, Rhetorik — Poetik — Dekonstruktion, Literatur — Philosophie — Lektüre, Text — Geschichte — Repräsentation. Zum Poststrukturalismus empfiehlt sich einführend Stefan Münker/Alexander Roesler: Poststrukturalismus, Stuttgart, Weimar 2000. Einen sehr guten Überblick gibt die Sammlung von Texten französischer Philosophie der Gegenwart: P. Engelmann (Hg.): Postmoderne und Dekonstruktion. Siehe auch Peter V. Zima: Moderne/Postmoderne. Gesellschaft, Philosophie, Literatur, Tübingen 1997. 14 Es seien an dieser Stelle die für die diskursanalytisch inspirierten Diskussionen der kulturwissenschaftlich orientierten Geistes- und Wissenschaftswissenschaften grundlegenden Texte Michel Foucaults genannt: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt/M. 1999; Die Ordnung des Diskurses, München 1974; Archäologie des Wissens, Frankfurt/M. 1973.
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1. PERSPEKTIVEN EINER MEDIENÄSTHETIK DER LITERATUR
on von Wissen in den Blick zu nehmen beginnen. 15 Diese übergreifende Perspektive auf die Materialitäten und Sinnkonstruktionen wissenschaftlicher Kommunikation, die Möglichkeit der »Überwindung des klassischen ›Wissenschaftsdualismus‹« 16 von Geistes- und Naturwissenschaften, sieht auch Gumbrecht als eine der entscheidensten Konsequenzen der Erweiterung des hermeneutischen Reflexionshorizontes. Neben Diskursanalyse und poststrukturalistischen Argumentationen werden für die geisteswissenschaftliche Reflexion der Materialitäten der Kommunikation in den achtziger Jahren Kognitions- und Systemtheorie ideengebend. Gumbrecht schreibt den Theoriebildungsbemühungen von Humberto R. Maturana und Niklas Luhmann bezüglich der Frage nach den Voraussetzungen für die Entstehung von Sinn einen »gewissen Avantgarde-Status« zu, insofern die Idee der Beobachtung autopoietischer Systeme für die Diskussion der Aufgabenstellung und Methodik »beschreibender« statt »interpretierender« Geisteswissenschaften aufgegriffen und modellbildend wird. 17 »Gemeinsam ist den disparaten Ansätzen, dass sie an die Stelle des typologischen oder hermeneutischen Durchdringens der zeichenmateriellen Oberfläche diese selbst als das Medium der sinnhaften Formbildung, als bedeutsame oder aber widerständige Gestalt, beobachten [...].« 18
Das diskursanalytische Programm der »Materialität der Kommunikation«, das die Befragung der Voraussetzungen geisteswissenschaftlicher Begriffe und Diskurse unternimmt, verbindet zur Etablierung eines neuen geisteswissenschaftlichen Diskurses die beiden wissenschaftlichen Theoriefelder, führt kognitions- und systemtheoretisch orientierte Perspektiven auf Kommunika15 Siehe dazu Hans-Jörg Rheinberger/Michael Hagner/Bettina Wahrig-Schmidt (Hg.): Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur, Berlin 1997. Siehe insb. die Einleitung der drei Herausgeber: »Räume des Wissens. Repräsentation, Codierung, Spur«, in: ebd., S. 7-22. Ergänzend Michael Hagner (Hg.): Ansichten der Wissenschaftsgeschichte, Frankfurt/M. 2001. Auch hier gibt die Einleitung der Herausgebers einen sehr guten Einblick in aktuelle Tendenzen der Wissenschaftsgeschichtsschreibung: »Ansichten der Wissenschaftsgeschichte«, in: ebd., S. 7-39. 16 H.U. Gumbrecht: »Flache Diskurse«, S. 919. 17 Zu den für die geisteswissenschaftliche Theoriebildung grundlegenden Zusammenhängen von Kognition, Kommunikation und Medien, die Sinnkonstruktionen als in kognitiven Prozessen fundierte, gesellschaftlich und interaktiv konstituierte sowie in kommunikativen Medien verbreitete beschreiben, siehe vor allem Humberto R. Maturana/Francisco J. Varela: Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens, Bern, München 1987; Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1995; Gebhard Rusch: »Autopoiesis, Literatur, Wissenschaft. Was die Kognitionstheorie für die Literaturwissenschaft besagt«, in: Siegfried J. Schmidt (Hg.), Der Diskurs des radikalen Konstruktivismus, Frankfurt/M. 1988, S. 374-400; Siegfried J. Schmidt: Kognitive Autonomie und soziale Orientierung. Konstruktivistische Bemerkungen zum Zusammenhang von Kognition, Kommunikation, Medien und Kultur, Frankfurt/M. 1994; Oliver Jahraus: Literatur als Medium. Sinnkonstitution und Subjekterfahrung zwischen Bewußtsein und Kommunikation, Weilerswirst 2003. 18 Natalie Binczek/Nicolas Pethes: »Mediengeschichte der Literatur«, in: Helmut Schanze (Hg.), Handbuch der Mediengeschichte, Stuttgart 2001, S. 248-316, hier S. 299. Dieser Artikel bietet einen einführenden Überblick zu den Diskussionen und Forschungsansätzen einer Mediengeschichte und Medientheorie der Literatur.
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tionsprozesse mit der poststrukturalistischen Frage nach den Signifikanten der Bedeutungsprozesse zusammen. Diesen diskurskonstituierenden Prozess beschreibt Gumbrecht folgendermaßen: »Die vorliegenden Arbeiten produzieren daher ihrerseits mögliche Semantiken von Materialität. Sie liefern Vorschläge für historische Funktionen möglicher materialsemantischer Unterscheidungen. Sie gehen Motivationen nach, die uns veranlassen, Dimensionen des ›Materialen‹ (Unausdrücklichen, Stillschweigenden, ›Konkreten‹) und des Semantischen (des bewußten Interpretierens) zu unterscheiden.« 19
Ziel dieses Materialitätsdiskurses ist es, so Gumbrecht weiter, »konstitutive Elemente von (historisch und pragmatisch) verschiedenen Kommunikationsformen« benennbar und »Strukturen ihres Zusammenspiels« identifizierbar zu machen: »So zielte der Suchbegriff ›Materialität der Kommunikation‹ bald auf einen Diskurs, in dem Laute als Laute, Grapheme als Grapheme und körpersprachliche Gesten als körpersprachliche Gesten thematisiert werden könnten, ohne als Signifikanten mit der Identifizierung der von ihnen bezeichneten Signifikate verloren zu gehen.« 20
In diesen Formulierungen artikuliert sich die Zusammenführung poststrukturalistischer und systemtheoretischer Redeweisen zu einem neuen wissenschaftlichen Diskurs, der unter »Materialität« Aspekte versteht, wie sie einerseits Signifikanten, andererseits die Form-Seite der Medium/Form-Unterscheidung beschreiben. 21 Die in dem Band versammelten Arbeiten repräsentieren ein weites Spektrum von Ansätzen zu einem Diskurs über die Materialität der Kommunikation: Es finden sich historische (Aleida und Jan Assmann), technische (Friedrich A. Kittler) und wissenschaftstheoretische (Niklas Luhmann, Humberto R. Maturana) Ansätze ebenso wie Beiträge zu einer anthropologischen Perspektive (Dietmar Kamper). Dieses Bemühen um einen neuen geisteswissenschaftlichen Diskurs weitet sich in die Diskussionen um die Überführung von Geisteswissenschaften in Kultur- und Medienwissenschaften aus. Die in dem Band »Materialität der Kommunikation« versammelten Beiträge bilden exemplarisch diejenigen Richtungen ab, die der Diskursverschiebung von den Geisteswissenschaften in Richtung der Kultur- und Medienwissenschaften Vorschub leisten bzw. sie vollziehen. Die angestoßene Reflexion der materiellen Grundlagen der Zeichen konvergiert mit Fragestellungen der sich etablierenden Medienwissenschaften. 22 19 Karl Ludwig Pfeiffer: »Materialität der Kommunikation?«, in: H.U. Gumbrecht/K.L. Pfeiffer (Hg.), Materialität der Kommunikation, S. 15-28, hier S. 17. 20 H.U. Gumbrecht: »Flache Diskurse«, S. 915. 21 Zur systemtheoretischen Medium/Form-Unterscheidung siehe grundlegend das Kapitel »Medium und Form« in N. Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, S. 165-213. 22 Medienwissenschaften bilden bis heute ein disparates Feld von Forschungsansätzen, wobei die fundamentale Frage diejenige ist, ob es eine verschiedene
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Diese Wende der Materialität der Kommunikation zu einer Medienwissenschaft vollzieht am deutlichsten Friedrich A. Kittler, der in diskursanalytischer Orientierung die poststrukturalistische Perspektive auf das Funktionieren der Signifikanten bzw. die symbolischen Systeme einer Kultur mit der Frage nach den Medien dieser Kultur verbindet. 23 Diese Perspektiven konvergieren in dem Begriff der »Aufschreibesysteme«, in dem Materialität und Medien der Kommunikation zusammengefasst sind. Der Begriff der Aufschreibesysteme zielt auf diese in den Medien betriebene (Selbst-)Reflexion von Aufzeichnungs-, Übermittlungs- und Speichertechniken. Im Zentrum der Aufmerksamkeit Kittlers steht der Diskurs der Dichtung und die ihm zugrunde liegenden Reflexionen zu Zeichen und Medien: Wie das dichterische Aufschreibesystem 1800 auf Präsenzeffekte zielt, als Produkt sozialpsychologischer und pädagogischer Faktoren, so wird das Aufschreibesystem 1900 mit Blick auf Grammophon, Film und Typewriter selbstreflexiv und beobachtet die eigenen Mechanismen medialer Aufzeichnung. 24 Anstelle sinnhafter Gehalte werden Laute, Zeichen und Buchseiten thematisiert. Die Konsequenz »besteht für die Literatur darin, dass diese selbst nicht mehr als Medium der Realaufzeichnung von Welt begriffen werden kann, sondern nur noch als Reflexion über Medienaufzeichnungen möglich ist.« 25 Kittler lenkt die Aufmerksamkeit der Literaturwissenschaft auf die diskursiven, materiellen und medialen Kontexte und Voraussetzungen der Literatur und des sich geisteswissenschaftlich verstehenden Diskurses der Literaturwissenschaft. Zentrale Konzepte der hermeneutischen Literaturwissenschaft (Autorschaft, Werkbegriff, Unmittelbarkeitstopos) werden als Diskurseffekte beschrieben. Diese eingeschlagene Richtung einer Theorie und Geschichte der Kommunikations- bzw. Nachrichtentechniken als Voraussetzung für Literaturgeschichte rückt die medientechnischen Kontexte der Literatur in den Vordergrund. Mit Blick auf die Entwicklung insbesondere der optischen, akustischen und audiovisuellen Einzelmedien, wie Fotografie und Film, bildet sich Medien umfassende integrale Medienwissenschaft geben müsste oder ob medienwissenschaftliche Forschungsaspekte die bestehenden Kultur- und Kunstwissenschaften durchziehen. Einen Überblick zur Frage Medien/Medialität gibt der Artikel: »Medien/medial« in: Karlheinz Barck u.a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 4, Stuttgart, Weimar 2002, S. 1-38. 23 Kittlers Medien-Begriff ist ein nachrichtentechnischer, bezieht sich auf Kommunikationskanäle und ihre Techniken des Aufzeichnens, Speicherns und Übertragens. Dieser kybernetisch orientierte Medienbegriff steht demjenigen der kommunikations- und sozialwissenschaftlichen Disziplinen nahe, sodass Kittler eine Brücke zwischen poststrukturalistischen und systemtheoretischen bzw. konstruktivistischen Argumentationen schlägt. Siehe dazu auch folgenden einführenden Beitrag zu Friedrich A. Kittler: A. Spahr: »Die Technizität des Textes«. Zur Schnittstelle zwischen diskursanalystischen, nachrichtentechnischen und medienhistorischen Argumentationen bzw. zur Konnexion von Materialität und Medialität siehe Friedrich A. Kittler/Georg C. Tholen (Hg.): Arsenale der Seele. Literatur- und Medienanalysen seit 1970, München 1989. Zur Perspektive der Literaturwissenschaft: Friedrich A. Kittler: »Literatur und Literaturwissenschaft als Word Processing«, in: Georg Stötzel (Hg.), Germanistik — Forschungsstand und Perspektiven. Vorträge des deutschen Germanistentages 1984, 2. Teil: Ältere Deutsche Literatur. Neuere Deutsche Literatur, Berlin, New York 1985, S. 411-419. 24 Neben Kittlers Studie »Aufschreibesysteme 1800. 1900« ist seine folgende ebenso wegweisend geworden: Grammophon. Film. Typewriter, Berlin 1986. 25 N. Binczek/N. Pethes: »Mediengeschichte der Literatur«, S. 304.
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ein Medienbewusstsein auch für die traditionellen Künste wie Literatur aus, für die jeweiligen medialen Besonderheiten und intermediale Dimensionen, für die Interaktionen der Literatur mit den sie umgebenden Medien.26 Innerhalb der Diskussionen um eine medientheoretische Perspektive der Literaturwissenschaft wird der diskursanalytische und medientechnische Ansatz Kittlers von Seiten einer medienanthropologisch orientierten Literaturwissenschaft hinterfragt. 27 Karl Ludwig Pfeiffer bezweifelt die Ausschließlichkeit der Logik technischer Aufschreibesysteme: »Unterläuft oder überspielt ›literarisches‹ Schreiben Grenzen und Zwänge historischer Aufschreibesysteme und technischer Kommunikationsmedien? In der Geschichte der Schrift selbst — in ihrem Doppelcharakter als System und Aktivität — ist dieser Gegensatz selbst schon zum Topos geronnen.« 28
Gegen Kittlers Austreibung »historische[r] Restformen anthropomorphen Denkens« 29 setzt Pfeiffer ein Zusammendenken anthropologischer und technischer Materialität, einen Perspektivwechsel, im »›Erzählen‹, im alltäglichen wie den verschiedenen Formen des literarischen, Techniken kulturellpsychischer Rekonkretisierung am Werke [zu] sehen.« 30 Schrift und Literatur 26 Im Anschluss an Kittler lässt sich eine medientechnische Wende in der Literaturwissenschaft beobachten, die Koevolution von Technik und Literatur wird diskursgeschichtlich erforscht, es wird deutlich, dass Reflexionen von Technologien nicht erst, aber doch vermehrt im zwanzigsten Jahrhundert zu einem Leitmotiv der Literatur werden. Siehe dazu Harro Segeberg: Literatur im technischen Zeitalter. Von der Frühzeit der deutschen Aufklärung bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs, Darmstadt 1997; Theo Elm/Hans H. Hiebel (Hg.): Medien und Maschinen. Literatur im technischen Zeitalter, Freiburg 1991; Dirk Matejovski/Friedrich A. Kittler (Hg.): Literatur im Informationszeitalter, Frankfurt/M., New York 1996; Dirk Matejowski: »Von der Sinnstiftung zum Informationsdesign? — Die Kulturwissenschaften in den neuen Medienwelten«, in: ebd., S. 252- 271. 27 Das Forschungsfeld einer anthropologischen Literaturwissenschaft wurde für den deutschen Sprachraum von Helmut Pfotenhauer und Wolfgang Iser begründet. Siehe Helmut Pfotenhauer: Literarische Anthropologie. Dimensionen kulturanthropologischer Medientheorie, Frankfurt/M. 1999; Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt/M. 1991; Zur Konnexion von Anthropologie und Literatur siehe die Symposionsbeiträge in: Hans-Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. DFG-Symposion 1992, Stuttgart, Weimar 1994. Die Forschungsrichtung der Historischen Anthropologie wird dabei zur Grundlage einer sich entwickelnden Medienanthropologie. Siehe zur anthropologischen Perspektive bspw. die Bände: Christoph Wulf (Hg.): Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie, Weinheim, Basel 1997; Gunter Gebauer (Hg.): Anthropologie, Leipzig 1998. Zu Ansätzen einer Medienanthropologie: Wolfgang Müller-Funk/Hans Ulrich Reck (Hg.): Inszenierte Imagination. Beiträge zu einer historischen Anthropologie der Medien, Wien, New York 1996; Karl Ludwig Pfeiffer: Das Mediale und das Imaginäre. Dimensionen kulturanthropologischer Medientheorie, Frankfurt/M. 1999; aktuell auch: Annette Keck/Nicolas Pethes (Hg.): Mediale Anatomien. Menschenbilder als Medienprojektionen, Bielefeld 2001; Stefan Rieger: Die Individualität der Medien. Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, Frankfurt/M. 2001. 28 K.L. Pfeiffer: »Dimensionen der ›Literatur‹«. Ein spekulativer Versuch«, in: H.U. Gumbrecht/K.L. Pfeiffer (Hg.), Materialität der Kommunikation, S. 730759, hier S. 731. 29 Ebd., S. 732. 30 Ebd.
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begreift er als mediale Kulturtechniken, als Materialisierungen kultureller Semantik, des Fiktiven und Imaginären. Literatur komme es zu, »den Entwurfscharakter [...] kognitiver Aktivitäten« zu entfalten, »Spielräume einer transitorischen Inszenierung anthropologischer Potentiale« zu eröffnen, Formen einer »sinnlichen Materialität, etwa in Form der ›Körperphantasie‹« zu gestalten. 31 Angesichts dieser Diskussionen einer medienorientieren Perspektive sind Kulturwissenschaften gefordert, eine Klärung ihrer medientheoretischen Konzepte, Modelle und Begriffe vorzunehmen, so beispielsweise in einer Mediengeschichte der Literatur, 32 die medienhistorische und medientheoretische Aspekte gleichermaßen integriert. Literaturwissenschaft wird so in der Perspektive einer Einzelmedientheorie betrieben und befragt Literatur nach der Beobachtung eigener und fremder Materialität, medialer Formen und Medialität. Literaturwissenschaft ist damit in eine disziplinübergreifende kulturwissenschaftliche Theoriebildung eingebunden, die sich auf die Medien konzentriert. Die Diskursanalyse Michel Foucaults und die differenzphilosophische Grammatologie und Dekonstruktion Jacques Derridas bilden die wissenschaftstheoretische Grundlage dieser Analyse von Medien als Materialität sowie der Analyse des Diskurses über die Medien. 33 Die medienhistorische Perspektive der Literaturwissenschaft entwickelt sich ausgehend von den Forschungen zu Mündlichkeit und Schriftlichkeit, die – Rede und Schrift als Kulturtechniken verstehend – auch nach der Materialität von Kommunikationsprozessen im Sinne von Aufzeichnungsmedien, Trägermedien und technischen Übertragungsmedien fragen. 34 Seit den achtziger Jahren entwickeln sich diese Ansätze zu einer medien- und kulturwissenschaftlich orientierten Forschungsperspektive der Literatur, 35 in der be31 Ebd., S. 757. 32 Einen sehr guten Überblick gibt H. Schanze (Hg.): Handbuch der Mediengeschichte. 33 Diesen Zusammenhang beschreibt auch Mike Sandbothe: Pragmatische Medienphilosophie. Grundlegung einer neuen Disziplin im Zeitalter des Internets, Weilerswist 2001, insb, S. 98ff. Zur aktuellen Theorie der Medien als Materialität und Diskurs siehe zum Beispiel Albert Kümmel/Petra Löffler (Hg.): Medientheorie 1888-1933, Frankfurt/M. 2002; Stefan Andriopoulos/Bernhard J. Dotzler (Hg.): 1929. Schnittpunkte der Medientheorie, Frankfurt/M. 2002; Irmela Schneider/Peter Spangenberg: Diskursgeschichte der Medien nach 1945, Opladen, Wiesbaden 2002. 34 Als Auswahl der grundlegenden Texte seien genannt: Harold A. Innis — Kreuzwege der Kommunikation. Ausgewählte Texte, Wien, New York 1997; Walter J. Ong: Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes, Opladen, Wiesbaden 1987; Jack Goody: Die Logik der Schrift und die Organisation von Gesellschaft, Frankfurt/M. 1990; Eric A. Havelock: Schriftlichkeit. Das griechische Alphabet als kulturelle Revolution, Weinheim 1990; Derrick de Kerckhove: Schriftgeburten. Vom Alphabet zum Computer, München 1995; Michael Wetzel: Die Enden des Buchs oder die Wiederkehr der Schrift. Von den literarischen zu den technischen Medien, Weinheim 1992. 35 Wenn auch das Forschungsfeld einer medien- und kulturwissenschaftlich orientierten Literaturwissenschaft inzwischen unübersichtlich weit geworden ist, so sollen doch einige grundlegende und einführende Beiträge genannt werden. Hans Ulrich Gumbrecht beschreibt, antwortend auf die Frage nach einem »Medium Literatur« (in: Manfred Faßler/Werner Halbach (Hg.), Geschichte der Medien, München 1998, S. 83-107) und einen Medien-Begriff von »Fernanwesenheit« und »Zusicherungsverhältnissen« aufgreifend, für die Literatur folgende Konstellation: »Imaginierte Nähe zwischen Lesern und Autoren, Fiktio-
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züglich der kulturhistorischen Perspektive die von Jan und Aleida Assmann unternommene Archäologie der literarischen Kommunikation entscheidende Impulse gibt. 36
nalität als das Aussetzen von systematischer Skepsis, Mehrwert der Textform und gesellschaftliche Transgressivität« (ebd., S. 86) und verfolgt dieses »Bündel von Einstellungen und Zusicherungen« in einem Gang durch die Literaturgeschichte. Interessant ist auch die tragende Rolle, die Germanisten und Literaturwissenschaftler bei der Konstitution der Medienwissenschaften gespielt haben und spielen, so Friedrich A. Kittler, Joachim Paech, Jürgen Fohrmann, Jochen Hörisch und andere. Beispielhaft: Jochen Hörisch: »Vom Sinn zu den Sinnen. Zum Verhältnis von Literatur und neuen Medien«, in: Merkur 55 (2001) H. 2., S. 105-116; ders.: Die Wut des Verstehens. Zur Kritik der Hermeneutik, Frankfurt/M. 1998. Zu Literatur- und Medienwissenschaft siehe bspw. Helmut Kreuzer (Hg.): Literaturwissenschaft — Medienwissenschaft, Heidelberg 1977; Horst Wenzel: »Medialität von Literatur als Problem der Literaturwissenschaft«, in: Ludwig Jäger (Hg.), Germanistik: Disziplinäre Identität und kulturelle Leistung. Vorträge des deutschen Germanistentages 1994, Weinheim 1995, S. 121-127. Zum zentralen Feld der Intermedialität siehe Jörg Helbig (Hg.): Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebiets, Berlin 1998; Irina O. Rajewsky: Intermedialität, Tübingen 2002; Philipp Löser: Mediensimulation als Schreibstrategie. Film, Mündlichkeit und Hypertext in postmoderner Literatur, Göttingen 1999. Insofern die Intermedialitätstheorie auf Ansätze der Textsemiotik zurückgreift, kommt dem (literarischen) Text eine modellbildende Funktion zu; siehe bspw. Jürgen E. Müller: »Intermedialität als poetologisches und medientheoretisches Konzept. Einige Reflexionen zu dessen Geschichte«, in: J. Helbig (Hg.), Intermedialität, S. 3140. Die Textsemiotik wird im folgenden Sammelband zum zentralen Konzept einer (medien-)kulturwissenschaftlich orientierten Literaturwissenschaft: Renate Glaser/Matthias Luserke (Hg.): Literaturwissenschaft — Kulturwissenschaft. Positionen, Themen, Perspektiven, Opladen, Wiesbaden 1996. Siehe darin insb. folgende drei Beiträge: Matthias Luserke: »Kultur, Literatur, Medien. Aspekte einer verwickelten Beziehung«, S. 169-191; Jörg Schönert: »Literaturwissenschaft — Kulturwissenschaft — Medienkulturwissenschaft. Probleme der Wisssenschaftsentwicklung«, S. 192-208; Carsten Lenk: »Kultur als Text. Überlegungen zu einer Interpretationsfigur«, S. 116-128. Zu Literaturund Kulturwissenschaft siehe Claudia Benthien/Hans Rudolf Velten (Hg.): Germanistik als Kulturwissenschaft. Eine Einführung in neue Theoriekonzepte, Reinbek b.H. 2002; Hartmut Boehme/Klaus R. Scherpe (Hg.): Literatur und Kulturwissenschaften. Positionen, Theorien, Modelle, Reinbek b.H. 1996. Entsprechend den diversen Ansätzen der Kulturtheorie — Diskursanalyse, Cultural Studies, New Historicism, Systemtheorie, Ethnologie, Anthropologie und Interkulturalitätsforschung —, entwickeln sich für die Literaturwissenschaft unterschiedlichste Perspektiven, exemplarisch seien genannt: Jürgen Fohrmann/ Harro Müller (Hg.): Diskurstheorien und Literaturwissenschaft, Frankfurt/M. 1988; Moritz Baßler (Hg.): New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur, Frankfurt/M. 1995; Doris Bachmann-Medick (Hg.): Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft, Frankfurt/M. 1996. Eine ausführliche und nach Stichwörtern geordnete Bibliografie einer kulturwissenschaftlich orientierten Literaturwissenschaft findet sich in den ersten Heften der Zeitschrift »Kulturpoetik«: Manfred Engel/Uwe Spörl: »Auswahlbibliographie zur kulturgeschichtlichen Literaturwissenschaft. Teil 1: Theorie und Methodendiskussion. Teil 2: Beispiele für angewandte Kulturwissenschaft«, in: Kulturpoetik Bd. 1, 2 (2001), S. 141-158, 290-322. Zu erwähnen sind auch die Forschungen des Sonderforschungsbereiches »Medien und kulturelle Kommunikation« der Universitäten Köln, Bonn und Aachen. 36 Eine Skizze des Forschungsprogramms findet sich in Aleida Assmann/Jan Assmann: »Archäologie der literarischen Kommunikation«, in: Miltos Pechlivanos u.a. (Hg.), Einführung in die Literaturwissenschaft, Stuttgart, Weimar 1995, S. 200-206; sowie in Aleida Assmann: »Metamorphosen der Hermeneutik (Einlei-
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Angesichts der vielfältigen Forschungsperspektiven einer kultur- und medienorientierten Literaturwissenschaft zeichnen sich unterschiedliche Dimensionen der Begriffe von Medien und Medialität ab, 37 die Aspekte sinnlicher Wahrnehmungsmedien wie Raum und Zeit, semiotischer Kommunikationsmedien wie Bild und Schrift, technischer Verbreitungsmedien wie Buchdruck und Fernsehen integrieren. Alle prominenten Ansätzen zur Medienwissenschaft, auf die sich die medientheoretisch orientierte Literaturwissenschaft explizit oder implizit bezieht, verstehen Medien als Konstitutionssphären von Sinn, so die sozialtheoretischen (Parsons, Habermas, Luhmann), post-strukturalistischen (Baudrillard, Deleuze, Derrida, Virilio), anthropologischen (Innis, Flusser, McLuhan), semiotischen (Metz, Lotman) und konstruktivistischen (Schmidt) Ansätze – und nehmen damit eben jenen Bereich in den Blick, der in der Wende der Geisteswissenschaften zu den Voraussetzungen des Sinngeschehens anvisiert wurde. 38 Als Bezugspunkt der medialen Perspektive auf Literatur und Literaturwissenschaft tritt die Schrift in den Vordergrund.
1.2 Medientheoretische Reflexionen von Schrift und Literatur Im Fokus einer kulturwissenschaftlich und medienhistorisch wie medientheoretisch orientierten Literaturwissenschaft steht die Schrift. Im Rahmen einer Mediengeschichte der Literatur wird sie kulturhistorisch als sekundäres Aufzeichnungssystem verstanden. Schon früh, seit den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts, hat die kulturhistorische Medienforschung Formen von Mündlichkeit und Schriftlichkeit auf ihre soziokulturellen Konsequenzen hin untersucht. 39 In medienhistorischer Perspektive wird Schrift einerseits als Kulturtechnik auf ihre Trägermedien hin befragt, 40 andererseits werden die Techniken der Schriftkultur, Lesen und Schreiben, kulturhistorisch erforscht. 41 Die mit dem Buchdruck zum kulturel-
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tung)«, in: dies. (Hg.), Texte und Lektüren. Perspektiven in der Literaturwissenschaft, Frankfurt/M. 1996, S. 7-26. Zur historischen Entwicklung des Medienbegriffs siehe Stefan Hoffmann: Geschichte des Medienbegriffs, Hamburg 2002. Hoffmann verfolgt den Medienbegriff umfassend im Spannungsfeld von Geistes-, Medien- und Kulturwissenschaft. Siehe auch den Artikel: »Medien/medial« in: K. Barck u.a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe, S. 1-38. Einen guten Überblick bietet Werner Faulstich: Medientheorien. Einführung und Überblick, Göttingen 1991. Neben den Studien von Goody, Innis, Ong und Havelock sind in diesem Zusammenhang folgende Beiträge aus der Sprachwissenschaft interessant: Wolfgang Raible (Hg.): Kulturelle Perspektiven auf Schrift und Schreibprozesse. Elf Aufsätze zum Thema Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Tübingen 1995; Klaus B. Günther/Hartmut Günther (Hg.): Schrift, Schreiben, Schriftlichkeit. Arbeiten zur Struktur, Funktion und Entwicklung schriftlicher Sprache, Tübingen 1983; Hartmut Günther/Otto Ludwig (Hg.): Schrift und Schriftlichkeit. Ein interdisziplinäres Handbuch internationaler Forschung, Berlin, New York 1994. Siehe W. J. Ong: Oralität und Literalität; D. de Kerckhove: Schriftgeburten. Siehe bspw. die historische Studie von Paul Goetsch (Hg.): Lesen und Schreiben im 17. und 18. Jahrhundert. Studien zu ihrer Bewertung in Deutschland, England, Frankreich, Tübingen 1994; sowie den sehr lesbaren Überblick von Alberto Manguel: Eine Geschichte des Lesens, Reinbek b.H. 2000. Zur Schrift
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len Leitmedium avancierte Schrift wird als materielle und mediale Voraussetzung von Denksystemen, Wissenschaft und Kunst in den Blick genommen. 42 Literatur wird als Form textueller Kommunikation bezüglich dieser medienkulturellen Aspekte der Schrift untersucht, beispielsweise in der Perspektive einer Archäologie literarischer Kommunikation, 43 oder wird als ästhetische Praxis den spielerischen und selbstreferenziellen Gebrauchsweisen der Schrift zugeordnet.44 Eine medientheoretische Perspektive auf Schrift wird im Zuge der Reorientierung der Geisteswissenschaften entworfen und damit im Rückbezug auf zeichentheoretische Ansätze des Poststrukturalismus sowie system-, kognitions- und kommunikationstheoretische Positionen. Eine zentrale Sammlung von Ansätzen zu einer medientheoretischen Perspektive auf Schrift ist der von Hans Ulrich Gumbrecht und Karl Ludwig Pfeiffer 1993 in der Reihe »Materialität der Zeichen« herausgegebene Band »Schrift«. 45 Den Begriff der Schrift nehmen Gumbrecht und Pfeiffer in der Perspektive der Neugestaltung des geisteswissenschaftlichen Diskurses in den Blick und stellen an die Diskussionen des Schrift-Begriffs die Frage nach ihrem Symptomcharakter für die geisteswissenschaftliche Theoriebildung; der Schrift-Begriff fungiert als ein Symptom für die Theorievariationen, welche die Geisteswissenschaften kennzeichnen. In dieser »Symptom-Funktion« »liegt die Bedeutung des Schrift-Begriffs als Theorie-Thema.« 46 Gumbrecht und Pfeiffer geht es um die geistes- und kulturwissenschaftliche Reflexion der Schrift und ihre diskursive Wirksamkeit. Die Diskussionen und Beiträge des Sammelbandes »Schrift« konzentrieren sich »auf Veränderungen in den theoretischen Modellierungen des Aktes der Sinngebung und seiner Rahmenbedingungen [...], um den als Zentrum die kanonische Form der Geisteswissenschaften seit Dilthey konstruiert war.« 47 Die Aufteilung des »Schrift«-Bandes spiegelt die Forschungsperspektiven in ihrer Unterteilung in historische und theoretische Ansätze wider: Für eine Kulturgeschichte der Schrift zeichnen insbesondere Jan und Aleida Assmann verantwortlich, die Entwürfe einer Theorie der Schrift schließen an poststrukturalistische bzw. dekonstruktivistische Positionen an – Hans Hauges Beitrag »De la Grammatologie und die literarische Wende« und David Wellberys Aufsatz »Die Äußerlichkeit der Schrift« – sowie an systemtheoretische Perspektiven, exemplarisch Niklas Luhmann in seinem Beitrag »Die Form der Schrift«. So wird eine Konnexion zwischen der Perspektive der Materialität der Zeichen und der Medialität der Kommunikation geschaffen.
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auch den Überblick: Jan Assmann: »Schrift und Kult«, in: Manfred Faßler/ Werner Halbach (Hg.), Geschichte der Medien, München 1998, S. 55-81; ergänzend Roland Barthes: »Variations sur l’écriture«, in: ders., Œuvres complètes. Bd. II 1966-1973, Paris 1994, S. 1535-1572. Richtungweisend in diesem Zusammenhang ist Jack Goody in seiner gleichnamigen Schrift: Die Logik der Schrift und die Organisation von Gesellschaft. Eine gute Skizze des Projektes gibt A. Assmann/J. Assmann: »Archäologie der literarischen Kommunikation«. Siehe das Kapitel »Sekundäre Funktionen der geschriebenen Sprachform«, in: Helmut Glück, Schrift und Schriftlichkeit. Eine sprach- und kulturwissenschaftliche Studie, Stuttgart 1987, S. 203-248. Hans Ulrich Gumbrecht/Karl Ludwig Pfeiffer (Hg.): Schrift, München 1993. Zur Symptomatik der Schrift in der geisteswissenschaftlichen Theoriediskussion siehe Hans Ulrich Gumbrecht: »Schrift als epistemologischer Grenzverlauf«, in: ders./K.L. Pfeiffer (Hg.), Schrift, S. 379-390, hier S. 388. Ebd., S. 382.
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Auch die medientechnologische Argumentation, wie sie F.A. Kittler in seinem Aufsatz »Es gibt keine Software« verfolgt, nimmt sich der Frage nach der Schrift an und ergänzt poststrukturalistische und systemtheoretische Richtungen in der geisteswissenschaftlichen Theoriediskussion um Aspekte der Medialität. »Writing/Ecriture/Schrift« wird mit unterschiedlichen Fragestellungen in ihrer zentralen Rolle für den geisteswissenschaftlichen Diskurs untersucht: »Veränderungen in den auf den Akt der Sinngebung bezogenen Theorie-Modellen; der Akt der Sinngebung und seine Rahmenbedingungen repräsentierten als ihren Kernbereich das gesamte Feld geisteswissenschaftlicher Forschung und Reflexion; und die Geisteswissenschaften waren als Ort des Entwerfens von Figuren individueller und kollektiver menschlicher Selbstreferenz thematisiert.« 48
Der letztgenannte Aspekt, die Figuren menschlicher Selbstreferenz, wird sich als einer der entscheidensten Ansatzpunkte für die Entwicklung der medienund kulturwissenschaftlichen Forschung erweisen. Die Schrift-Themen des Bandes sind, so konstatiert Gumbrecht, insofern Symptom für die Verschiebung der geisteswissenschaftlichen Diskussionsszene, als die Dominanz der am Modell mündlicher Rede ausgerichteten Sprachphilosophie und Kommunikationstheorie gebrochen scheint, wie auch die bisher scheinbar alternativlose Dominanz der Hermeneutik. Eine in der »Materialität der Kommunikation« erst ansatzweise in den Blick genommene anthropologische Perspektive rückt hier in den Vordergrund, insofern neue Theorie-Modellierungen zur Konstituierung von Sprache, Schrift und Bedeutung »dann auch Vorgaben für immer neue Figurationen menschlicher Selbstreferenz werden können.« 49 Das Verschwinden des Menschen im Diskurs der Humanwissenschaften, wie Foucault es am Schluss seiner Studie »Die Ordnung der Dinge« beschrieben hatte, läuft parallel zur Verabschiedung der Hermeneutik und ihrer »Topik von ›Innerlichkeit/Ausdruck‹, in der die Ausdifferenzierung des Subjektbegriffs ihren Ausgang nahm.« 50 Mit dem Akt der Sinnbildung ist auch der Selbstentwurf des Menschen, als Sinn schaffendes Wesen, neu zu konzipieren. Einer der blinden Flecken – und als solcher mit dem Sinn-Begriff in Zusammenhang stehend –, der in der Reorientierung des hermeneutisch-kulturwissenschaftlichen und humanwissenschaftlich-anthropologischen Diskurses wieder in den Blick genommen wird, ist die geisteswissenschaftliche Ausblendung des menschlichen Körpers. Schon in dem Band »Materialität der Kommunikation« beschreibt Gumbrecht die Wiedereingliederung des Körpers in die Geisteswissenschaften als grundlegende Gemeinsamkeit der medien- und kulturwissenschaftlichen Orientierung der Geisteswissenschaften. Angesichts der Vielzahl von geisteswissenschaftlichen Ansätzen konstatiert Gumbrecht zum Abschluss des letzten Kolloquien-Bandes, »Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche«, dass angesichts der postmodern-intellek-
48 Ebd. 49 Ebd., S. 389. 50 Ebd., S. 390. Siehe dazu auch Dietmar Kamper/Christoph Wulf (Hg.): Anthropologie nach dem Tode des Menschen. Vervollkommnung und Unverbesserlichkeit, Frankfurt/M. 1994.
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tuellen Szenerie die Rede von einer »offenen epistemologischen Situation« 51 auch auf die Lage der Geisteswissenschaften zutreffe. Als gemeinsamen Nenner für einen neuen geisteswissenschaftlichen Diskurs sieht er die Thematik des Körpers sich abzeichnen. Die Integration des Körpers in das geisteswissenschaftliche Denken, das sich auf der Basis einer Dichotomie »Körper« versus »Geist« entwickelt hatte, beschreibt Gumbrecht als die zentrale Herausforderung. 52 Zur Integration des Körpers in den geisteswissenschaftlichen Diskurs schlägt Gumbrecht die Frage nach dem Zusammenspiel der Konstellation »Sinn/Verkörperung« 53 vor. Diese Formulierung erweist sich als hoch anschlussfähige Perspektive, denn es wird sich zeigen, dass dieses Modell nicht nur in fruchtbarer Weise mit den medienhistorischen Diskursen zusammengedacht worden ist, sondern auch für eine medienästhetische Perspektive sich als grundlegend erweist. Mit dieser Formulierung wird die Frage nach der Materialität der Kommunikation zur Frage nach der Verkörperung. Erste Ansätze zu einer Reflexion von Verkörperungen liefern die kultur- und medienanthropologischen Arbeiten Dietmar Kampers, beispielsweise seine Reflexionen über Buchstaben als Markierungen. 54 Als produktivste Perspektive für die kulturgeschichtliche Forschung und Darstellung erweisen sich, so Gumbrecht, »Phänomene der Koppelung zwischen der Äußerlichkeit der Schrift und dem traditionsgemäß aus dem Objektbereich der Geisteswissenschaften ausgeschlossenen menschlichen Körper (oder genauer: den menschlichen Körpern) — nicht zuletzt deshalb, weil dieses Thema als ein Potential von Dekonstruktion erschlossen, aber kaum diskutiert worden ist.« 55
Sich Dietmar Kamper anschließend, sieht Gumbrecht als zentrale Errungenschaft der poststrukturalistischen und dekonstruktivistischen Perspektive die Versuche, die Schrift »von der ihr in der westlichen Kulturgeschichtsschreibung zugewiesenen Position einer relativ späten kulturellen Errungenschaft in den Status eines der Kultur vorausliegenden oder die Kultur begründenden 51 Zur epistemologischen Situation der Geisteswissenschaften siehe Hans Ulrich Gumbrecht: »Epistemologie/Fragmente«, in: ders./K.L. Pfeiffer (Hg.), Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche, S. 837-850, hier S. 845. 52 Dieser Herausforderung haben sich eine ganze Reihe literaturwissenschaftlicher Forschungen inzwischen angenommen. Siehe Georg Braungart: Leibhafter Sinn. Der andere Diskurs der Moderne, Tübingen 1995; Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Medieologie des 18. Jahrhunderts, München 1999. Koschorke untersucht anhand des Diskurses der »Empfindsamkeit« in der Aufklärung die Neumodellierung des menschlichen Körpers, seine physiologische, affektive und semantische Umbesetzung, in sozialen Praktiken und Schriftstücken, an der Schnittstelle von Anthropologie und Literatur. Siehe auch Gerhard Rupp: »Körper-Konzept und sinnliche Erfahrung in frühen Autobiographien der (Post-)Moderne«, in: H.U. Gumbrecht/K.L. Pfeiffer (Hg.), Materialität der Kommunikation, S. 252-266. Zu einer historischen Konstruktion der Schwelle von Körper und Schrift siehe Christian Kiening: Zwischen Körper und Schrift, Frankfurt/M. 2003. Es sind vor allem Impulse der Historischen Anthropologie und der Medienanthropologie, die auch in den Forschungen der Literaturwissenschaft ihren Niederschlag finden. 53 Ebd., S. 846. 54 Siehe Dietmar Kamper: »Der Geist tötet, aber der Buchstabe macht lebendig. Zeichen als Narben«, in: H.U. Gumbrecht/K.L. Pfeiffer (Hg.), Schrift, S. 193200. 55 H.U. Gumbrecht: »Schrift als epistemologischer Grenzverlauf«, S. 386.
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Aktes zu verschieben.« 56 Diese Forschungsperspektive der Schrift, die Materialität und Medialität als integrale Momente des Sinn-Aktes denkt, setzt die Konnexion von »Sinn/Verkörperung« an die Stelle einer Konzeption der Nachträglichkeit von Schrift im Sinne der historischen Medienforschung. Eine auf Materialität und Medialität orientierte Reflexion der Schrift wird einerseits über den écriture-Begriff der französischen poststrukturalistischen Zeichenphilosophie, andererseits über die Konzeption von Schrift als Kommunikationssystem und mediale Form begründet. Anhand des französischen écriture-Begriffs lässt sich eine wissenschaftsgeschichtliche Genealogie des Denkens der materiellen Dimensionen der Sinnerzeugung rekonstruieren, in der literarische und wissenschaftliche Medienreflexion einander wechselseitig begründen. Michel Foucault beschreibt in seiner Geschichte der Humanwissenschaften »Die Ordnung der Dinge« eine medientechnische Wende im Diskurs der Literatur, die im neunzehnten Jahrhundert zwischen den Romantikern und Mallarmé verläuft, auf die sich auch Kittler bezogen hatte, in der sich die Aufmerksamkeit der Literatur von den Funktionen der Darstellung auf die materielle Seite der Schrift verlagert. 57 Aus dieser Fokussierung modernisti56 Ebd., S. 387. 57 In dem Kapitel »Die Objekt gewordene Sprache« schreibt Foucault zu diesem Zusammenhang von Literatur und Schrift: »Aber das Wort [›Literatur‹; P.G.] ist frischen Datums, wie in unserer Kultur auch die Isolierung einer besonderen Sprache noch jung ist, deren besondere Modalität es ist, ›literarisch‹ zu sein. Am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts, der Epoche, in der die Sprache sich in ihrer Dicke als Objekt eingrub und sich allmählich von einem Wissen durchdringen ließ, rekonstruierte sie sich anderswo in einer unabhängigen, schwierig zugänglich, bezüglich des Rätsels ihrer Entstehung verschlossen und völlig auf den reinen Akt des Schreibens bezogenen Form. Die Literatur ist die Infragestellung der Philologie (deren Zwillingsgestalt sie gleichwohl ist): sie führt die Sprache der Grammatik auf die nackte Kraft zu sprechen zurück, und da trifft sie das wilde und beherrschende Sein der Wörter. Von der romantischen Revolte gegen einen in seiner Zeremonie immobilisierten Diskurs bis zur Entdeckung des Wortes in seiner ohnmächtigen Kraft durch Mallarmé sieht man wohl, welche Funktion die Literatur im neunzehnten Jahrhundert in Beziehung zur modernen Seinsweise der Sprache hat. Auf dem Hintergrund dieses wesentlichen Spiels ist der Rest nur Wirkung: Literatur unterscheidet sich mehr und mehr vom Diskurs der Vorstellungen, schließt sich in eine radikale Intransitivität ein. Sie löst sich von allen Werten, die im klassischen Zeitalter sie zirkulieren lassen konnten (der Geschmack, das Vergnügen, das Natürliche, das Wahre), und läßt in ihrem eigenen Raum alles entstehen, was dessen spielerische Verneinung sichern kann (das Skandalöse, das Hässliche, das Unmögliche). Sie bricht mit jeder Definition der ›Gattungen‹ als einer Ordnung von Repräsentationen angepaßten Formen und wird zur reinen und einfachen Offenbarung einer Sprache, die zum Gegensatz nur die Affirmation — gegen alle anderen Diskurse — ihrer schroffen Existenz hat. Sie braucht also nur noch in einer ständigen Wiederkehr sich auf sich selbst zurückzukrümmen, so als könnte ihr Diskurs nur zum Inhalt haben, ihre eigene Form auszusagen. Sie wendet sich an sich selbst als schreibende Subjektivität, oder sie sucht in der Bewegung, in der sie entsteht, das Wesen jener Literatur zu erfassen, und so konvergieren all ihre Fäden zu der feinsten — besondere, augenblicklichen und dennoch absolut universalen — Spitze, zum einfachen Akt des Schreibens. In dem Augenblick, in dem die Sprache als ausgebreitetes Sprechen Gegenstand der Erkenntnis wird, erscheint sie wieder in einer streng entgegengesetzten Modalität: schweigsame, vorsichtige Niederlegung eines Wortes auf das Weiße eines Papiers, wo es weder Laut noch Sprechen geben kann, wo sie
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scher Poetik auf die Materialität der Schrift leitet Derrida, unter anderem, seine Konzeption und Praxis einer auf das Spiel der Signifikanten orientierten grammatologischen und dekonstrukivistischen Schrift-Philosophie ab. 58 Für die Argumentation Gumbrechts, der dem Schrift-Begriff Symptomfunktion für die geisteswissenschaftliche Theoriebildung zuweist, und daran anschließend für die medientheoretische Orientierung der Literatur- und Kulturwissenschaften, kommt dem an Derridas Grammatologie und Dekonstruktion ausgerichteten Schrift-Begriff eine zentrale Rolle zu. 59 »Der entscheidende Schritt Derridas lag also nicht in der Erfindung dieses Schrift-Begriffs, sondern darin, ihn aus seinem engen literaturhistorischen und literarästhetischen Kontext herauszulösen, um von ihm ausgehend einen innovativen Entwurf der europäischen Epistemologiegeschichte zu entfalten.«60 Mit dieser Reflexion einer »Äußerlichkeit der Schrift« 61 wurden »zentrale Prämissen der bis dahin im Denken des 20. Jahrhunderts dominierenden ›sprachphilosophischen Wende‹ problematisiert.« 62 Expliziter als bei Foucault setzt Derridas Theorie und Praxis »Schrift« nicht mit geschriebener Sprache gleich. Die zentrale Konnexion von Schrift und Literatur schafft Derrida in der Annahme, »daß jene Diskurse und Texte, die wir ›Literatur‹ nennen, dem Logozentrismus entgehen und der ›Schrift‹ nahe kommen können.« 63 In dieser Zusammenführung von Schrift und Literatur liegt die Aufhebung der Distanz zwischen dem Diskurs der Philosophie und dem Diskurs der Literatur begründet, die Derrida zum Programm seiner philosophischen und ästhetischen Praxis gemacht hat. Im Anschluss an die gegen die phonozentristische Sprachphilosophie gerichtete Wende der Dekonstruktion unternimmt Derrida
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nicht anderes mehr zu sagen hat als sich selbst, nicht anderes zu tun hat, als im Glanz ihres Seins zu glitzern.« M. Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 365f. Auf diesem Zusammenhang verweist H.U. Gumbrecht: »Schrift als epistemologischer Grenzverlauf«, S. 383. Zu Derridas Schrift-Philosophie siehe folgende Schriften Derridas: Die Stimme und das Phänomen. Ein Essay über das Problem des Zeichens in der Philosophie Husserls, Frankfurt/M. 1979; Grammatologie, Frankfurt/M. 1998; Die Schrift und die Differenz; »Signatur, Ereignis, Kontext«, in: ders., Randgänge der Philosophie, Wien 1988, S. 291-314. Die wegweisende Überführung der Dekonstruktion in eine literaturwissenschaftliche Perspektive hat Paul de Man geleistet in seinem Band: Allegorien des Lesens, Frankfurt/M. 1994. Siehe aber auch einzelne Ansätze wie: Jean Gérard Lapacherie: »Der Text als ein Gefüge aus Schrift. (Über die Grammatextologie)«, in: Volker Bohn (Hg.), Bildlichkeit. Internationale Beiträge zur Poetik, Frankfurt/M. 1990, S. 69-88; Hans Hauge: »De la grammatologie und die literarische Wende«, in: H.U. Gumbrecht/K.L. Pfeiffer (Hg.), Schrift, S. 319-336. Umfassend Monika Schmitz-Emans: Schrift und Abwesenheit. Historische Paradigmen zu einer Poetik der Entzifferung und des Schreibens, München 1995. Inwiefern sich eine dekonstruktivistische Schrift-Konzeption bzw. -Praxis für eine Medientheorie der Kultur- und Literaturwissenschaft heranziehen lässt, reflektiert kritisch Christoph Ernst: »Gespenst, Phantom, Wiedergänger — Zur medienphilosophischen Lektüre der Dekonstruktion«, in: ders./P. Gropp/K.A. Sprengard (Hg.), Perspektiven interdisziplinärer Medienphilosophie, S. 45-68. Ein Bereich, in dem eine »dekonstruktivistische Medientheorie« auf literarische Phänomene appliziert wird, sind technomediale Formen wie Hypertexte; siehe dazu unter anderem George P. Landow: Hypertext. Convergences of Contemporary Critical Theory and Technology, Baltimore 1992. H.U. Gumbrecht: »Schrift als epistemologischer Grenzverlauf«, S. 384. Siehe David Wellbery: »Die Äußerlichkeit der Schrift«, in: H.U. Gumbrecht/K.L. Pfeiffer (Hg.), Schrift, S. 337-348. H.U. Gumbrecht: »Schrift als epistemologischer Grenzverlauf«, S. 384. Ebd., S. 385.
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eine zweite Wende, eine »Wende zur Literarisierung des dekonstruktivistischen Diskurses«. 64 Mit Derrida wird also eine aus der Literatur entliehene Reflexion der Materialität der Schrift in eine Theorie der Medialität überführt, die Schrift als differenzielles Spiel und mediale Praxis denkt.65 Diese Wende zur Materialität der Kommunikation und Medialität der Zeichen gründet sich mit der »écriture« auf einen Begriff, der die Fokussierung der materiellen Dimensionen als selbstreflexive Praxis meint. Die Konsequenz dieser Fundierung einer medientheoretisch orientierten Literaturwissenschaft auf den écriture-Begriff wäre eine Literarisierung des wissenschaftlichen Diskurses, wie ihn der französische Poststrukturalimus durchdacht und praktiziert hat. »Die logische Verlängerung des Strukturalismus kann nur in einer Verbindung mit der Literatur [...] als Aktivität des Schreibens bestehen [...].« 66 Diese literarische Wende des Strukturalismus, die Roland Barthes 1969 in dem Artikel »De la science à la littérature« konzipiert, bedeutet eine Wende zur Schrift sowohl der strukturalistischen Methode als auch der Literatur. Offensichtlicher als Jacques Derrida, dessen »Grammatologie« zwei Jahre zuvor erschienen war, verschränkt Barthes in seinem Begriff der Schrift strukturalistisch-semiotische und ästhetische Dimensionen. Gumbrecht bemerkt bezüglich der Beiträge zu einer neuen, an der écriture orientierten Kulturwissenschaft das Ausbleiben einer Entrüstung gegenüber dieser literarischen Wende, gegenüber dem Programm der Aufhebung der Distanz zwischen philosophischem und literarischem Diskurs, wie es Derrida und Barthes praktiziert haben. Gumbrecht konstatiert, dass keiner der Aufsätze des »Schrift«-Bandes die literarische Wende der Dekonstruktion mitvollzieht: Die Vielfalt von historischen Untersuchungen und theoretischen Reflexionen sind dadurch zusammengehalten, »daß sie die antilogozentristischen Aspekte des Schrift-Begriffs – vor allem den Aspekt der Äußerlichkeit der Schrift – aufgreifen und weiterentwickeln, ohne die Wende der Dekonstruktion zur Literarisierung ihres Diskurses mitzuvollziehen.« 67 »Deshalb dürfte insgesamt die Frage entscheidend sein, ob es möglich ist, Motive des Anti-Logozentrismus aufzunehmen und vielleicht sogar (wie im Fall der ›Äußerlichkeit der Sprache‹) fortzuentwickeln, um Grenzen zwischen Diskursen und epistemolgischen Feldern wie Philosophie, Geschichte, Anthropologie, Literatur und ihre Binnenstruktur zu variieren — ohne diese Grenzen und Diskurse in einer »literarischen Wende« gänzlich preiszugeben.« 68
64 Ebd. Siehe dazu auch H. Hauge: »De la grammatologie und die literarische Wende«. 65 Zur Reflexion einer dekonstruktivistischen Medienphilosophie sei verwiesen auf C. Ernst: »Gespenst, Phantom, Wiedergänger«. 66 Roland Barthes: »De la science à la littérature«, in: ders., Œuvres complètes. Bd. II 1966-1973, S. 428-433, hier S. 431; zit. nach der Übersetzung von Ottmar Ette: Roland Barthes. Eine intellektuelle Biographie, Frankfurt/M. 1998, S. 286. 67 H.U. Gumbrecht: »Schrift als epistemologischer Grenzverlauf«, S. 388. 68 Ebd., S. 386.
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Hier wird eine Grenze zwischen Wissenschaft und ästhetischer Praxis zu ziehen versucht, die in dem Begriff der écriture, wie Roland Barthes und Jacques Derrida ihn konzipiert und betrieben haben, aufgehoben ist. Die Reflexion der ästhetischen Implikationen des écriture-Begriffs wird ausgeblendet und es wird anstelle dessen ein Brückenschlag zu dem zweiten maßgeblichen Theoriefeld der Schrift-Reflexion versucht, zu einer System-, Kommunikations- und Kognitionstheorie der Schrift, mittels derer die Formen der Schrift analysiert werden.69 Dieses an Luhmann orientierte medientheoretische Modell der Schrift schlagen Binczek und Pethes in der Mediengeschichte der Literatur gegenüber dem dekonstruktivistisch geprägten Schrift-Begriff vor. Sie fragen, »ob das zentrale Medium der Literatur, die Schrift, überhaupt als Materialität begriffen werden muss, oder ob sie — anstelle der metaphorischen Generalisierung des Schriftkonzepts in der Dekonstruktion — nicht schlicht als Form einer Unterscheidung zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit beobachtet werden muss. Aus dieser Perspektive wäre Schrift weniger aufgrund ihrer Materialität als wegen ihres Unterscheidungspotenzials [...] zentrales Anschlussmedium (auch) für literarische Kommunikation [...].« 70
Was Binczek/Pethes dabei ausblenden, ist eine ästhetische Dimension der Schrift.
1.3 Entwürfe einer medienästhetischen Perspektive auf Schrift und Literatur In dem Maße wie Kulturwissenschaften zunehmend Medien und Medialität in den Blick nehmen, entwickelt sich ein unübersehbares Feld von Medientheorien, Mediengeschichte(n) und Medienwissenschaften. Versucht man eine wissenschaftsgeschichtliche Rekonstruktion dieser Ansätze, so erweist sich über Derrida und Luhmann zurückreichend eine philosophische Reflexion von Medien und Medialität als ursprünglich, die auch Ausgangspunkt aktueller Medienphilosophie ist. 71 Über Diskursanalyse, Dekonstruktion und Systemtheorie bezieht sich medienorientierte Kulturwissenschaft auf phänomenologische Fragestellungen zurück, mit denen sich auch Medienphilosophie zentral auseinandersetzt, 72 und die, angesichts der medialen Situation 69 Siehe Niklas Luhmann: »Die Form der Schrift«, in: H.U. Gumbrecht/K.L. Pfeiffer (Hg.), Schrift, S. 349-366.Siehe dazu auch Oliver Jahraus: Theorieschleife. Systemtheorie, Dekonstruktion und Medientheorie, Wien 2001. Jahraus zeigt die Konvergenzen von Dekonstruktion und Systemtheorie auf. Ergänzend ders.: Literatur als Medium. Darin zeichnet Jahraus das Feld der medientheoretischen Literaturwissenschaft in der Perspektive Kommunikation — Kognition — Medien nach. 70 N. Binczek/N. Pethes: »Mediengeschichte der Literatur«, S. 304. 71 Zu historischen philosophischen Grundlagen aktueller Medienreflexion siehe Günther Helmes/Werner Köster (Hg.): Texte zur Medientheorie, Stuttgart 2002. 72 Siehe zur Medienphilosophie C. Ernst/P. Gropp/K.A. Sprengard (Hg.): Perspektiven interdisziplinärer Medienphilosophie; zum Überblick aktueller Diskussionen der Medienphilosophie insb. die Einleitung dieses Bandes, S. 9-16, sowie die Einleitung in die Sektion Philosophie von Josef Rauscher, S. 19-24, und
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um 1900, Reflexionen zu Techniken und Operationen medialer Welterzeugung, zu erkenntnistheoretischen, ontologischen, ethischen, anthropologischen und ästhetischen Implikationen angestellt hatte, die nun mit Blick auf die Voraussetzungen der Erzeugung von Sinn wieder aufgegriffen werden. Angesichts der jeweils neuen und alten Medientechniken wird ausgehend von der phänomenologischen Grundüberlegung, wie etwas als etwas zur Erscheinung gebracht wird, also der fundamentalen Frage nach Medialität, die Bestimmung der je unterschiedlichen und spezifischen Medialität der Medien unternommen. Dieser phänomenologisch grundierte Diskurs der Medien durchzieht eine Reihe von medientheoretischen Denkansätzen von Walter Benjamin über Marshall McLuhan bis hin zu Vilém Flusser, die zentrale Referenzautoren sowohl der kulturwissenschaftlichen als auch der medienphilosophischen Diskurse sind. 74 Von einer Reaktualisierung phänomenologischer Themenfelder und Problemkonstellationen für die medienphilosophische Reflexion, wie sie zur Zeit Bernhard Waldenfels bereitstellt, 75 gehen disziplinübergreifende Impulse für die Fragen medialer Wirklichkeitskonstruktionen aus. Die von Gumbrecht für eine medienorientierte Kulturwissenschaft geforderten Reflexionen der Konstellation von Sinn und Verkörperung sowie der Integration des Körpers in den geisteswissenschaftlichen Diskurs lassen sich vor dem Hintergrund dieser phänomenologischen Reflexionen zu Medien und Medialität und insbesondere mit den phänomenologisch orientierten Körperdiskursen in Angriff nehmen. 76 Mit dem Blick auf aktuelle medienphilosophische Diskussionen bzw. die Reaktualisierung der phänomenologi-
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dessen Beitrag: »Medien und Medialität«, S. 25-44. Einen Überblick über die aktuellen Diskussionen bieten: Stefan Münker/Alexander Roesler/Mike Sandbothe: Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs, Frankfurt/M. 2003; M. Sandbothe: Pragmatische Medienphilosophie. Siehe des Weiteren: Hans-Dieter Bahr: Medien-Nachbarwissenschaften I: Philosophie, in: JoachimFelix Leonhard u.a. (Hg.), Medienwissenschaft. Ein Handbuch zur Entwicklung der Medien und Kommunikationsformen, Berlin, New York 1999, S. 273-281; Hans-Dieter Bahr: »Medien und Philosophie. Eine Problemskizze in 14 Thesen«, in: Sigrid Schade/Georg C. Tholen (Hg.), Konfigurationen. Zwischen Kunst und Medien, München 1999, S. 50-68; Jay David Bolter: Der digitale Faust. Philosophie des Computerzeitalters, Stuttgart 1990; Wolfgang MüllerFunk: Ouvertüren zu einer Philosophie der Medialität des Menschen, in: ders./H.U. Reck (Hg.), Inszenierte Imagination, S. 63-86; Matthias Vogel: Medien der Vernunft. Eine Theorie des Geistes und der Rationalität auf Grundlage einer Theorie der Medien, Frankfurt/M. 2001; Gianni Vattimo/Wolfgang Welsch (Hg.): Medien, Welten, Wirklichkeiten, München 1998. Siehe A. Kümmel/P. Löffler: Medientheorie 1888-1933; S. Andriopoulos/B.J. Dotzler (Hg.): 1929; I. Schneider/P. Spangenberg: Diskursgeschichte der Medien. Siehe bspw. H. Schanze (Hg.): Handbuch der Mediengeschichte; Georg Stanitzek/Wilhelm Vosskamp (Hg.): Schnittstelle. Medien und Kulturwissenschaften, Köln 2001. Siehe Bernhard Waldenfels: »Experimente mit der Wirklichkeit«, in: Sybille Krämer (Hg.), Medien Computer Realität. Wirklichkeitsvorstellungen und Neue Medien, Frankfurt/M. 1998, S. 213-243. Siehe dazu auch Barbara Becker: »Philosophie und Medienwissenschaft im Dialog«, in: S. Münker/A. Roesler/M. Sandbothe: Medienphilosophie, S. 91-107, hier insb. S. 97ff. Siehe bspw. A. Keck/N. Pethes (Hg.): Mediale Anatomien; W. Müller-Funk/ H.U. Reck (Hg.): Inszenierte Imagination; K.L. Pfeiffer: Das Mediale und das Imaginäre; Irmela Schneider/Barbara Becker: Was vom Körper übrig blieb. Körperlichkeit, Identität, Medien, Frankfurt/M. 2000. Diese Ansätze entwickeln medienanthropologische Perspektiven oft im Rückgriff auf die Arbeiten Maurice Merleau-Pontys zur Phänomenologie des Leibes.
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schen Orientierung in der Frage nach den Medien lassen sich die kulturwissenschaftlichen Konzeptionen von Medien und Medialität, Verkörperungen und Körperlichkeit präzisieren. Im Zuge des Programms der Materialität der Kommunikation, das auf Semantisierungen von Materialität zielt, und einhergehend mit der Etablierung eines Diskurses zur Medialität stellt sich für Medienphilosophie und Kulturwissenschaften die Frage nach einem »Eigen-Sinn« der Medien. 77 In diesem Zusammenhang kommt dem Ästhetischen bzw. der Kunst eine fundamentale Rolle zu. Es ist die Kunst, die die Beobachtung von Medien als Techniken zur Erzeugung von Sinn, als mediale Selbstreflexion oder als Reflexion fremder Medien und Medialität, unternimmt. Diese mediale Selbstreflexion beobachtend, hat wiederum die Medienphilosophie ihren Ausgang genommen, wie Derridas Reflexion der Schrift, die er als Modell (phänomenologischer) Welterzeugung setzt und die auf die Beobachtung der medialen Selbstreflexion modernistischer Literatur gegründet ist. Aus dieser Begründungskonstellation ergibt sich die Relevanz des Ästhetischen, die auch in der Verkreuzung von medienphilosophischer und ästhetischer Reflexion in weiten Teilen der Medienphilosophie zu beobachten ist. Eine Wurzel dieser Verkreuzung von Medienreflexion und Ästhetik liegt in der Phänomenologie als Wahrnehmungs- und Bewusstseinstheorie und ihrer Nähe zur ästhetischen Reflexion der Wahrnehmung, der Imagination und der sinnlichen Erkenntnisvermögen begründet. 78 Eine zentrale Vermittlungsposition zwischen Materialität der Zeichen, Medien und Ästhetik nimmt der materielle, prozessuale und affektive Dimensionen integrierende Zeichenbegriff Charles Sanders Peirces ein, der von Medienphilosophie, Literatur und Theaterwissenschaft gleichermaßen für die Zusammenführung von Semiotik, Medientheorie und Ästhetik herangezogen wird. 79 Medialität und Ästhetik 77 Siehe bspw. für die Frage nach dem Eigen-Sinn des Mediums Buch und anderer Trägermedien der Schrift: Ernst Fischer: »Sinn und Eigen-Sinn. Medien in buchwissenschaftlicher Sicht«, in: C. Ernst/P. Gropp/K.A. Sprengard (Hg.), Perspektiven interdisziplinärer Medienphilosophie, S. 296-309. Fischer bezieht sich grundlegend auf Sybille Krämer: »Erfüllen Medien eine Konstitutionsleistung? Thesen über die Rolle medientheoretischer Erwägungen beim Philosophieren«, in: S. Münker/A. Roesler/M. Sandbothe (Hg.), Medienphilosophie, S. 78-90. 78 Zu Ästhetik siehe den Überblicksartikel: Karlheinz Barck/Jörg Heininger/Dieter Kliche: »Ästhetik/ästhetisch«, in: K. Barck (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe, S. 310-400. »In den unterschiedlichen Diagnosen von Zusammenhängen zwischen technischen Entwicklungen und den Modi unserer Empfindungen, Erfahrungen, Wahrnehmungen vermittelt Ästhetik in bestimmter Hinsicht. Ästhetik wird seit den 80er Jahren deutlich als Theorie von Wahrnehmungsweisen — als aisthesis — aktualisiert. Sie wird selbstreflexiv: Ästhetik der Ästhetik.« K. Barck: ebd., S. 310. Die Selbstreflexion des Ästhetischen verbindet Barck hauptsächlich mit den Namen Wolfgang Welsch und JeanFrançois Lyotard. Siehe Wolfgang Welsch (Hg.): Die Aktualität des Ästhetischen, München 1993; Karl Heinz Bohrer: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins, Frankfurt/M. 1981. Grundlegende Beiträge finden sich in Karlheinz Barck (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1996. 79 Siehe dazu die Rezeption des Peirce’schen Zeichenbegriffs für eine interdisziplinäre Medienphilosophie bei Matthias Bauer: »Szenen gemeinsamer Aufmerksamkeit — Medien der Kulturpoetik. Zum Verhältnis von Kulturanthropologie, Semiotik und Medienphilosophie«, in: C. Ernst/P. Gropp/K.A. Sprengard (Hg.), Perspektiven interdisziplinärer Medienphilosophie, S. 94-118; und Petra Maria Meyer: »Medienphilosophische Grundlagen intermedialer Theaterpraxis
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werden darüber hinaus über die Begriffe Performanz und Performativität vermittelt, die aus sprachwissenschaftlicher und kulturwissenschaftlicher Sicht den Vollzug medialer Handlungen bezeichnen und die materiellen Bedingungen medialer Erscheinungsformen und Verkörperungen in den Blick nehmen. 80 Medialität und Performanz bilden eines der zentralen Begriffspaare einer medienästhetisch reflektierten Kulturwissenschaft. 81 Die Frage der Medialität der Medien entzündet sich an den Konfrontationen unterschiedlicher Medientechniken, die als medienkulturelle Zäsuren wahrgenommen werden, wie seit 1968 das Schlagwort der »GutenbergGalaxis« die Diskussionen um alte Schrift-Medien und neue audiovisuelle, digitale und Computer-Medien, kurz als Neue Medien apostrophiert, um die Mythen der Buchkultur und die Visionen des Informationszeitalters bestimmt. 82 In der Beobachtung und Konstruktion medienkultureller Szenarien – 1800/1900, Oralität/Skripturalität, Gutenberg-/Turing-Ära – werden spezifische Materialitäten und Medialitäten von Schrift und Buch, Computer und Internet konstruiert und grundlegende Operationen medialer und performativer Welterzeugung reflektiert. Für eine Reflexion der Schrift stellt der Hypertext denjenigen Gegenstand dar, an dem sich aktuell die Diskurse zu der Me-
und Theoriebildung«, in: ebd., S. 215-233. Bauer und Meyer beziehen sich beide auf Charles Sanders Peirce: Collected Papers. I-VIII, Cambridge 193135/1958. Siehe dazu auch: Alexander Roesler: »Vermittelte Unmittelbarkeit. Aspekte einer Semiotik der Wahrnehmung bei Charles S. Peirce«, in: Uwe Wirth (Hg.), Die Welt als Zeichen und Hypothese. Perspektiven des semiotischen Pragmatismus von Charles Sanders Peirce, Frankfurt/M. 2000, S. 12-129. 80 Siehe zur Diskussion dieses Begriffsfeldes die Beiträge in Uwe Wirth (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaft, Frankfurt/M. 2002. Ihren Ursprung finden diese Diskussionen in dem Beitrag von J. L. Austin: How to Do Things with Words, Cambridge, Massachusetts 1962. 81 Siehe dazu die Beiträge der literatur- und theaterwissenschaftlichen Sektionen in dem Band: C. Ernst/P. Gropp/K.A. Sprengard (Hg.): Perspektiven interdisziplinärer Medienphilosophie. 82 Zu den Grundlagentexten siehe Marshall McLuhan: Die Gutenberg-Galaxis. Das Ende des Buchzeitalters, Düsseldorf 1968; Norbert Bolz: Am Ende der Gutenberg-Galaxis. Die neuen Kommunikationsverhältnisse, München 1993. Dazu auch Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, Frankfurt/M. 1991; ders.: Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft. Trendforschungen zur kulturellen Medienökologie, Frankfurt/M. 2002. Ergänzend Christoph Ernst/Karl Anton Sprengard: »Einleitung (Buchwissenschaft und New Media Studies)«, in: C. Ernst/P. Gropp/K.A. Sprengard (Hg.), Perspektiven interdisziplinärer Medienphilosophie, S. 291-295; E. Fischer: »Sinn und Eigen-Sinn«. Zur Reflexion der Neuen Medien siehe S. Krämer (Hg.): Medien Computer Realität; G. Vattimo/W. Welsch (Hg.): Medien, Welten, Wirklichkeiten. Zum Computer als Medium, zur Medienkultur des Internetzeitalters und zum Cyberspace siehe Norbert Bolz/Friedrich A. Kittler/Georg C. Tholen (Hg.): Computer als Medium, München 1994; D. de Kerckhove: Schriftgeburten; Hartmut Winkler: Docuverse. Zur Medientheorie der Computer, München 1997. Siehe auch Stefan Bollmann (Hg.): Kursbuch Neue Medien. Trends in Wissenschaft und Politik, Wirtschaft und Kultur, Mannheim 1995; Wolfgang Coy: Computerkultur, Berlin 1984; Stefan Münker/Alexander Roesler (Hg.): Mythos Internet, Frankfurt/M. 1997; dies. (Hg.): Praxis Internet. Kulturtechniken der vernetzten Welt, Frankfurt/M. 2002; Florian Rötzer: Digitale Weltentwürfe. Streifzüge durch die Netzkultur, München 1998.
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dienwechselsituation Buch versus Neue Medien exemplarisch ablesen lassen. 83 Für die zugleich Kultur- und Kunstwissenschaft betreibenden Disziplinen wie die Literaturwissenschaft stellt sich die Herausforderung, medienkulturelle und ästhetische Fragestellungen zusammenzudenken. Für die Literaturwissenschaft bedeutet diese Engführung mit phänomenologisch und medienphilosophisch orientierten Fragestellungen eine Erweiterung ihrer Perspektive insofern, als sich Ansätze der Reflexion von Schrift mit Überlegungen zu medialen Welterzeugungen verbinden lassen. Ein Begriff wie die von Campe vorgestellte »Schreibszene« 84 , die im Anschluss an Roland Barthes’ écriture-Begriff eine »sprachlich-gestische Beziehung« meint, ein Zusammenspiel von »Schrift als eine Instanz der Sprache im Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit«, als Praxis des Schreibens, »ein nicht-stabiles Ensemble von Sprache, Instrumentalität und Geste«,85 erweist sich als Ausgangspunkt einer auch als mediale, performative und ästhetische gedachten Konstellation von Schrift und Literatur. Campe untersucht Schreibszenen in der Spannung zwischen Schrift und Schreiben, »Akt oder Struktur«, 86 als Zusammenhang von »Semantik und Technologie«. 87 Zentral ist dabei die Idee eines »Schnitt[s], der die Implikation der Techniken in die Reproduktion der Symbolsysteme unterbricht und ihre Kopplungsstücke sehen lässt [...].« 88 Campes Begriff der Schreibszene bezeichnet selbstreflexive Inszenierungen der Schrift in der Literatur, anders formuliert: eine inszenierte Reflexion und Darstellung von Verkörperungsprozessen der Schrift in ihren medientechnischen, schriftkonzeptionellen und poetologischen Dimensionen. Als richtungweisend für die Analyse von Schrift und Literatur in medienästhetischer Perspektive erweist sich die bei Roland Barthes explizit und bei Rüdiger Campe implizit gedachte Theatralität medialer Prozesse. Die von Campe beschriebene Interaktion von Schreibtechniken, Konzeptionen der Schrift und literarischer Poetologie lässt sich als szenisches Geschehen vorstellen. Das Theater-Modell erweist sich als treffend, um die Selbstbeobachtung der eigenen medialen Vollzüge bzw. die selbstreflexiven Akte zu beschreiben. In diesem Sinne einer Szene der Schrift wird auch das Gestische als selbstreferentielles Zeigen der Materialitäten und Verkörperungen verständlich. Dieses Modell ermöglicht eine das Semiotische, Mediale und Performative integrierende Perspektive auf die Theatralität der Zeichen, ihre materielle Instrumentalität und mediale Verkörperung, auf ihre performative Dynamik und die selbstreferentielle Vorführung. Das Theater wird damit zu einer »Ur-Szene gemeinsamer Aufmerksamkeit«, 89 zu einer Standardszene medialer Welterzeugung. In dieser Perspektive schließen sich Semiotik bzw. 83 Siehe zur aktuellen Forschung Christiane Heibach: Literatur im elektronischen Raum, Frankfurt/M. 2003; Beat Suter (Hg.): Hyperfiktion und interaktive Narration im frühen Entwicklungsstadium zu einem neuen Genre, Zürich 2000. 84 Zum Begriff der »Schreibszene« siehe Rüdiger Campe: »Die Schreibszene«, in: H.U. Gumbrecht/K.L. Pfeiffer (Hg.), Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche, S. 759-772. 85 Ebd., S. 759, 760. 86 Ebd., S. 762. 87 Ebd., S. 767. 88 Ebd., S. 770. 89 Siehe zu dieser Argumentation auch M. Bauer: »Szenen gemeinsamer Aufmerksamkeit«, hier S. 100.
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1. PERSPEKTIVEN EINER MEDIENÄSTHETIK DER LITERATUR
Semiologie nach Roland Barthes, Phänomenologie und Ästhetik zu einem Modell szenischer Medialität zusammen. 90 An dieser Stelle lässt sich eine Unterscheidung von Kunst und Ästhetik insofern diskutieren, als Kunst und Literatur eine Funktion zukommt, die man als »display«-Funktion bezeichnen könnte und die das Aufzeigen und Durchspielen medialer Operationen der Welterzeugung meint und damit die in allen Medien ablaufenden Prozesse in der Kunst selbstreflexiv in Szene setzt und vor Augen führt. 91 Ästhetik ist ein die Medien und Künste verklammernder Begriff, insofern er – phänomenologisch orientiert – das Zusammenspiel von Aisthesis, Poesis und Katharsis meint. 92 Dass Gernot Böhme in seiner »Aisthetik« das Theater zum paradigmatischen Ort für eine Ästhetik erklärt, der es »um den Schein, oder wie wir sagen würden, um die phänomenale Wirklichkeit« 93 geht, unterstreicht den grundlegend theatralen und inszenatorischen Charakter von Medialität. Aus dieser Argumentation lässt sich ein Begriff von Medienästhetik ableiten, der die selbstreflexiven, performativen und inszenatorischen Dimensionen medialer Prozesse meint. Unter dem Stichwort »Medienästhetik« diskutiert die Medienwissenschaft audiovisuelle Medien als Wahrnehmungsdispositive – in expliziter Abgrenzung von »den geschichtsphilosophisch inspirierten Ästhetiken, die sich vor allem auf den literarischen Text beziehen.« 94 Hier offenbart sich ein Dilemma der medientechnisch orientierten Ästhetik der Kulturwissenschaften, Literatur in medienästhetischer Perspektive zu betrachten. Mittels einer medienphilosophisch argumentierenden Ästhetik lassen sich auch an der Literatur mediale und ästhetische Dimensionen, insbesondere im Blick auf selbstreflexive, performative und inszenatorische Prozesse der Schrift, beobachten. Die Medienphilosophie hat über die Reflexion von Medien hinaus einen Begriff von Medialität entwickelt, der für ästhetische Problemstellungen anschlussfähig ist. Mit einer derart erweiterten Ästhetik ist eine Literatur zu greifen, 90 Theatralität wird in diesem Zusammenhang zu einem den Rahmen der Theaterwissenschaft überschreitenden, kultur- und medienwissenschaftlich relevanten Begriff. Siehe dazu: Erika Fischer-Lichte/Doris Kolesch (Hg.): Die Kulturen des Performativen, Berlin 1998; Erika Fischer-Lichte (Hg.): Theatralität und die Krisen der Repräsentation. DFG-Symposion 1999, Stuttgart, Weimar 2001. Dieser Argumentation liegt auch zugrunde Erving Goffman: Wir alle spielen Theater. Die Selbstdarstellung im Alltag, München 1969. Siehe dazu auch Udo Göttlich/Jörg U. Nieland/Heribert Schatz (Hg.): Kommunikation im Wandel. Zur Theatralität der Medien, Köln 1998. Zur Theatralität als Kategorie der Literaturwissenschaft siehe Gerhard Neumann/Caroline Pross/Gerald Wildgruber (Hg.): Szenographien. Theatralität als Kategorie der Literaturwissenschaft, Freiburg i. Br. 2000. Ergänzend Josef Früchtl/Josef Zimmermann (Hg.): Ästhetik der Inszenierung. Dimensionen eines künstlerischen, kulturellen und gesellschaftlichen Phänomens, Frankfurt/M. 2001. 91 Vgl. M. Bauer: »Szenen gemeinsamer Aufmerksamkeit«, S. 118. 92 Zu diesem Verständnis von Ästhetik siehe den Überblicksartikel K. Barck/J. Heininger/D. Kliche: »Ästhetik/ästhetisch«. Einen historischen Abriss gibt Norbert Schneider: Geschichte der Ästhetik von der Aufklärung zur Postmoderne. Eine paradigmatische Einführung, Stuttgart 1997. 93 Gernot Böhme: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München 2001, S. 118. 94 Ralf Schnell:»Medienästhetik«, in: H. Schanze (Hg.), Handbuch der Mediengeschichte, S. 72-95, hier S. 73. Siehe auch ders.: Medienästhetik. Geschichte und Theorie audiovisueller Wahrnehmungsformen, Stuttgart 2000.
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die das Medium bzw. die Medialität der Schrift als ästhetische Komponente reflektiert. Dieses für Schrift und Literatur zu konkretisierende Zusammendenken von Medialität und Ästhetik lässt sich in der Zusammenschau einer phänomenologisch orientierten Literaturwissenschaft und Medienphilosophie rekonstruieren. Gemeinsamer Kern sind phänomenologische Reflexionen zu Produktion, Gestaltung und Rezeption von Lebenswelten, zur Erzeugung medialer Wirklichkeitsentwürfe. Die von Hans Robert Jauß und Wolfgang Iser bezeichneten Dimensionen ästhetischer und literarischer Welterzeugung – einerseits das Zusammenspiel von Poiesis, Aisthesis und Katharsis, von produktiver Gestaltung, sinnlicher Erkenntnis und affektiver Erregung, andererseits das Zusammenspiel von Fiktivem, Realem und Imaginärem 95 – werden auch hinsichtlich medialer Welterzeugung diskutiert, insbesondere bezüglich computergestützter und virtueller Realitätsmodi. 96 Auch die Inszenierungsdimension fiktiver, fiktionaler und medialer Welten, mit Wolfgang Iser anthropologisch als Möglichkeitsraum und Experimentierfeld von Welt- und Selbstentwürfen verstanden, 97 verbindet phänomenologische und medienästhetische Blickweisen: »Inszenierung wäre dann der unablässige Versuch des Menschen, sich selbst zu stellen; denn sie erlaubt zum einen durch Simulacra die Flüchtigkeit des Möglichen zu Gestalten zu erwecken, und zum anderen, dem ständigen Entfalten zu möglicher Andersheit zuschauen zu können. Dadurch gelingt eine Versetzung des Menschen in sich selbst, die ihn nicht mit dem zusammenfallen lässt, worin er versetzt ist, sondern ihm die Wahrnehmbarkeit einer solchen Versetzung eröffnet. Nur inszeniert kann der Mensch mit sich selbst zusammengeschlossen sein; Inszenierung wird damit zur Gegenfigur aller transzendentalen Bestimmungen des Menschen.« 98
Gemeinsam ist diesen Konzeptionen medialer Inszenierungen von Lebenswelten eine Metaphorik des Medialen, die Georg Christoph Tholen mit Blick auf den Mediendiskurs beschreibt. 99 Das Mediale wird als Differenzfigur gedacht, als »differentielles Spiel des Erscheinen-Lassens«: »Medialität hieße Gestaltwechsel durch Gestaltentzug zu exponieren und zu konfigurieren – ein
95 Siehe H.R. Jauß: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik; W. Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. 96 Siehe die Beiträge in S. Krämer (Hg.): Medien Computer Realität; G. Vattimo/W. Welsch (Hg.): Medien, Welten, Wirklichkeiten. 97 Kolesch und Lehmann weisen darauf hin, dass insofern mit Iser Inszenierung als Bedingung der Möglichkeit von Performativität verstanden wird, als damit eine anthropologische Ontologisierung des Inszenierungsbegriffs verbunden sei. Doris Kolesch/Annette Jael Lehmann: »Zwischen Szene und Schauraum — Bildinszenierungen als Orte performativer Wirklichkeitsgestaltung«, in: U. Wirth (Hg.), Performanz, S. 347-365, vgl. hier S. 343f. »Dabei sind die Praktiken des Inszenierens nicht auf den künstlerischen Bereich des Arrangierens von Medien, Materialien und Körper zu beschränken. Inszenierung umfasst ein weites Spektrum von Verfahren und Kulturtechniken, mit denen etwas zur Erscheinung gebracht, in Szene gesetzt wird, das ohne Inszenierung unsichtbar, ja inexistent bliebe.« Ebd., S. 363. 98 W. Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 515. 99 Siehe dazu Georg C. Tholen: Die Zäsur der Medien. Kulturphilosophische Konturen, Frankfurt/M. 2003.
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1. PERSPEKTIVEN EINER MEDIENÄSTHETIK DER LITERATUR
Zwischenraum zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, in dem sich – stets anders – eben dieses ›Zwischen‹ re-präsentiert.« 100 Diese Denkfigur des Medialen als differenzieller Verkörperungsprozess liegt implizit auch der Reflexion des Fiktiven und der literarischen Fiktion zugrunde, in der Idee der differenziellen Transformationen zwischen Fiktivem, Realem und Imaginärem, der Grenzüberschreitungen unterschiedlicher Realitätsmodi. Isers Theorie mimetischer und performativer Welterzeugung lässt sich in diesem Sinne als Theorie von medialen Verkörperungsprozessen verstehen. Die Präsentation dieser Medialisierungsprozesse macht für Iser das Ästhetische aus, sie werden im ästhetischen Text nicht nur vollzogen, sondern zugleich reflektiert und zur Ansicht gebracht. Iser beschreibt das Ästhetische als selbstreflexives und darstellerisches Moment. Gleichsam Medialität und Ästhetik verknüpfend, formuliert Iser, es komme dem Ästhetischen zu, das »Wie eines solchen Vorgangs« 101 zu inszenieren, »das sich diskursiv allenfalls als ein leeres Dazwischen beschreiben ließe«. 102 Das Ästhetische wird in diesem Sinne zur Inszenierung der Selbstreflexion von Medialität. Mit dieser Inszenierung des Wie im Spiel fiktiver, realer und imaginärer Welterzeugungen tritt bei Iser der performative Aspekt in den Vordergrund, die generative Seite des Entwerfens von Sinnwelten und die Art der Hervorbringung. 103 Die Begriffe der Performanz, Performativität und Performance spielen in den aktuellen auf die Materialität und Medialität von Sinnerzeugungen fokussierten Sprach-, Medien- und Kulturwissenschaften eine entscheidende Rolle. 104 Aus der Theaterwissenschaft lässt sich der Begriff der »Verkörperung« gewinnen. 105 Mittels der »Verkörperung« lässt sich ein sprachwissenschaftli100 101 102 103
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Georg C. Tholen: »Überschneidungen. Konturen einer Theorie der Medialität«, in: S. Schade/ders. (Hg.), Konfigurationen, S. 15-34, hier S. 20. W. Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 406. Ebd., S. 409. Siehe das Kapitel »Mimesis und Performanz« in W. Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 481-503; sowie die Beiträge des Sammelbandes U. Wirth (Hg.): Performanz. Zu einer groben Differenzierung lässt sich festhalten, dass der Begriff der Performanz aus der linguistischen Sprechakttheorie stammt, Performativität ein kulturwissenschaftlich erweitertes theaterwissenschaftliches Konzept darstellt und Performance die theatrale Aufführung meint, aber auch das soziale Rollenspiel und Inszenierung kultureller Szenen beschreibt. Die im Kontext der Theater- und Kulturwissenschaft entwickelten Terminologien beziehen, im Gegensatz zur Performanz, den Körper in die Betrachtung mit ein. Siehe dazu die grundlegenden Beiträge von Austin, Searle, Goffman, Turner, Fischer-Lichte, Butler, Krämer, Schumacher und Wirth in U. Wirth (Hg.): Performanz. Ergänzend RoseLee Goldberg: Performance Art. From Futurism to the Present, New York 2001. Für die Literaturwissenschaft siehe den Absatz »Performanzbegriff im Kontext der Literaturtheorie« in der Einleitung von Uwe Wirth: »Der Performanzbegriff im Spannungsfeld von Illokution, Iteration und Indexalität«, in: ders. (Hg.), Performanz, S. 9-60, hier S. 25-34. Zu performativen Aspekten der Literatur siehe auch folgende Beiträge: Jan-Dirk Müller (Hg.): ›Aufführung‹ und ›Schrift‹ in Mittelalter und Früher Neuzeit, Stuttgart, Weimar 1996; Stephan Jaeger/Stefan Willer (Hg.): Das Denken der Sprache und die Performanz des Literarischen um 1800, Würzburg 2000; Georg Braungart: Leibhafter Sinn. Der andere Diskurs der Moderne, Tübingen 1995. Siehe Erika Fischer-Lichte/Christian Horn/Matthias Warstatt (Hg.): Verkörperung. Tübingen, Basel 2001; Sybille Krämer: »Sprache, Stimme, Schrift:
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cher Performanz-Begriff, der das Ausführen von Sprechakten bezeichnet, mit einem theaterwissenschaftlichen Performativitäts-Begriff, der – Performance als theatrale Aufführung in erweitertem Sinne kulturell verstehend – Aspekte der Materialität, Korporalität und Inszenierung beschreibt, vermitteln. »Verkörperung« verschränkt darüber hinaus die Reflexionen zu Performanz/Performativität mit den Komplexen der Medien und Medialität. Meint Medialität einen Zwischenraum, in dem performativ etwas zur Erscheinung gebracht wird, so bezieht sich Verkörperung auf die medialen Erscheinungsformen von Sinnkonstruktionen, auf ihre materiellen, vorprädikativen Formgebungen. Verkörperung bezeichnet die Schwelle zwischen »vor-performativer Ereignishaftigkeit und performativer Akthaftigkeit«, 106 Verkörperung ist als Schnittstelle der Entstehung von Sinn aus nicht-sinnhaften Phänomenen und als mediales Geschehen zu begreifen. Aus dem theater- und kulturwissenschaftlichen Feld wird der Begriff in die Sprachtheorie übernommen und beschreibt dort die Betrachtung von Sprache als »verkörperte Sprache«. 107 Insofern der Begriff der »Verkörperung« auch die ästhetische Dimension bezeichnet, erweist er sich als zentral für die Konstruktion einer medienästhetischen Perspektive. Verkörperung lässt sich als selbstreflexiver und inszenatorischer Prozess beschreiben. Zugleich verknüpft er die Reflexion des Medialen und des Performativen. Er integriert als ästhetischer Begriff das Zusammenspiel von Aisthesis, Poiesis und Katharsis; und bietet sich an, Medialität und Korporalität zu verknüpfen, insofern der performative Entwurf von Körperlichkeit als mediale Konstruktion verstanden werden kann. Unter dem Stichwort einer »Ästhetik des Performativen« lassen sich diese Akte der Hervorbringung von Materialität und Bedeutung, die als Ereignis gedachten Aufführungen dieser Hervorbringungen in den Blick nehmen. 108 Im Fokus einer medienästhetischen Perspektive auf Schrift und Literatur stehen selbstreflexive Verkörperungen der Schrift, Formen der Schrift, die die eigenen materiellen, medialen und performativen Prozesse reflektieren und in Szene setzen. Eine medienästhetischen Perspektive der Literatur fragt nach Szenen der Schrift, in denen Bedeutungsprozesse, Repräsentationsproblematiken und Welterzeugungen reflektiert und vorgeführt werden. Bernhard Waldenfels, der in der aktuellen Diskussion die phänomenologischen Grundlagen für die Medienphilosophie reformuliert, unterstreicht das
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Sieben Gedanken über die Performativität der Medien«, in: U. Wirth (Hg.), Performanz, S. 323-346. U. Wirth: »Der Performanzbegriff«, S. 21. Im Spannungsfeld von Ereignis und Akt, mit Blick auf die Aspekte der Iteration und des Zitierens, werden zentrale Anliegen der dekonstruktivistischen Auseinandersetzung Derridas mit Austins Performanzkonzept aufgegriffen. S. Krämer: »Sprache, Stimme, Schrift«, S. 331. Siehe Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt/M. 2004. Fischer-Lichte konstatiert eine performative Wende der Künste insbesondere seit den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts. In der Literatur lasse sich dieser Performativierungsschub nicht nur an so genannten labyrinthischen bzw. kombinatorischen Texten erkennen, sondern auch in den zahlreichen Dichterlesungen. Vgl. ebd., S. 24f. »Ob bildende Kunst, Musik, Literatur oder Theater — alle tendieren dazu, sich in und als Aufführungen zu realisieren. Statt Werke zu schaffen, bringen Künstler zunehmend Ereignisse hervor [...].« Ebd., S. 29. Siehe ergänzend zur Untersuchung einer Ästhetik des Performativen Dieter Mersch: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen, Frankfurt/M. 2002.
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selbstreflexive Potenzial der Literatur und insbesondere des modernen Romans, dessen Sprachspiele Waldenfels in ihrer Vieldeutigkeit, Heterogenität und Zitathaftigkeit zum Modellfall lebensweltlicher Konstruktion erklärt. »Das Spiel mit den Grenzen erzeugt eigentümliche Paradoxien eben dann, wenn die Grenzen nicht festliegen, sondern in Eigenbewegung geraten. [...] Man spricht und schreibt an den Grenzen über die Grenzen.« 109 Dieses Spiel mit den Grenzen, wie es beispielsweise Robert Musil in seinem – von Waldenfels zum exemplarischen Experiment mit der Wirklichkeit erklärten – Romanfragment »Der Mann ohne Eigenschaften« betreibt, mache den Roman zum Seismograph für das »Außer-Ordentliche«, für »Schwankungen, Abweichungen, Gleichgewichtsstörungen«. 110 Dass Literatur das Unberechenbare, die Störungen und Zusammenbrüche sinnhafter Entwürfe reflektiere und die Bruchstellen von Verkörperungsprozessen ansichtig mache, wird auch in der Literaturwissenschaft hervorgehoben. Schreiben, so Karl Ludwig Pfeiffer, entfalte paradigmatisch den Entwurfscharakter problematischer kognitiver Aktivitäten: »Damit könnten neue/alte Spielräume einer transitorischen Inszenierung anthropologischer Potentiale, einer sinnlichen Materialität etwa in Form der ›Körperphantasie‹ freigeschrieben werden.« 111 Die Selbstreflexion der Sinntechnik Schrift, die in den literarischen Formen betrieben wird, hat Konsequenzen für die Lektürearbeit, auch die literaturwissenschaftliche. Dies unterstreicht Pfeiffer in der Frage, »wann und inwiefern das konsistenzstiftende Zuendelesen und seine Stilisierung zur Interpretation noch eine zureichende wissenschaftliche Verhaltensfigur abgibt. Georges Perec hat, beziehungsvoll genug, seiner puzzleartigen Durchmischung biographischer, kriminalistischer, deskriptiver, wissenschaftlicher... Textsorten den Titel Das Leben Gebrauchsanweisung (1978, dt. 1982) und den Untertitel Romane gegeben.« 112
Pfeiffer formuliert damit die zentrale Frage an eine Literaturwissenschaft, die sich nicht mehr als Geistes-, sondern als Medien- und Kulturwissenschaft versteht. Mit Campe und Pfeiffer angeregt, um die Begriffe der Medialität und Verkörperung ergänzt, lassen sich literarische Reflexionen auf die Schrift und das Schreiben neu in den Blick nehmen. Hier liegt ein Ansatz zu einer medienästhetischen Theorie der Literatur, die insbesondere die intermedialen und körperlichen Dimensionen der Schrift neu fokussieren würde. Darüber hinaus könnten Schrift-Verkörperungen in anderen Medien und Künsten mit einem derartigen Ansatz beschrieben werden. 109
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Bernhard Waldenfels: Die Vielstimmigkeit der Rede. Studien zur Phänomenologie des Fremden 4, Frankfurt/M. 1999, S. 184. Siehe auch ders.: »Experimente mit der Wirklichkeit«. Waldenfels rekurriert in der Formulierung seines phänomenologischen Ansatzes auf Michail Bachtins Konzepte der Dialogizität des Wortes und der karnevalesken Polyphonie des modernen Romans. Siehe dazu Michail Bachtin: Die Ästhetik des Wortes, Frankfurt/M. 1979; ders.: Literatur und Karneval, München 1969. B. Waldenfels: Die Vielstimmigkeit der Rede, S. 183 K.L. Pfeiffer: »Dimensionen der ›Literatur‹«, S. 759. Pfeiffer verweist insb. auf Georges Perecs »Romane« »Das Leben Gebrauchsanweisung«, die in ihrer Form als Puzzle unterschiedlicher Diskurse und Textsorten kognitive Paradoxien und Dissonanzen inszenieren. Ebd., S. 758.
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An dieser Stelle lässt sich auch der Bogen zu den Figuren menschlicher Selbstreferenz, zu einer medienanthropologischen Perspektive schlagen, insofern mediale Selbstentwürfe bzw. Inszenierungen von Autorschaft und autobiographische Formen als selbstreflexive Akte medialer Verkörperung beschrieben werden können. 113
1.4 Roland Barthes’ écriture-Begriff in medienästhetischer Perspektive Da der écriture-Begriff nicht nur symptomatisch, sondern auch modellbildend für die Reorientierung der Geisteswissenschaften ist, insofern er die selbst-reflexive Wendung zur Materialität der Schrift verkörpert, lässt sich an ihm eine erste und vorläufige medienästhetische Perspektive erproben. 114 Vorarbeiten zu einer medienästhetischen Reflexion der Schrift liefert eine »Sinngeschichte des Schreibens«, 115 die Konzeptionen von Schrift als Sinntechnik in medialer, kultureller und genuin ästhetischer Perspektive in den Blick nimmt. Literatur wird als Zentralmedium semiotischer Reflexionen beschrieben, sehr verkürzt lässt sich rekonstruieren, dass die Verknüpfung von Schriftzeichen und Sinn seit dem achtzehnten Jahrhundert nicht länger ontosemiologisch gedacht wird, als wesenhafte Verbindung, sondern mit den 113
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Siehe zur Autobiographieforschung grundlegend den Dilthey-Schüler Georg Misch: Geschichte der Autobiographie. Bd. I-IV, Frankfurt/M. 1949-1969. Klassische Texte der Autobiographieforschung sind versammelt in Günther Niggl (Hg.): Die Autobiographie. Zur Form und Geschichte einer literarischen Gattung, Darmstadt 1998; siehe darin besonders Dilthey, Misch, Pascal, Aichinger, Starobinski, Lejeune. Siehe auch den strukturalistischen Ansatz von Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt, Frankfurt/M. 1994. Einen anthropologischen Ansatz beschreibt H. Pfotenhauer: Literarische Anthropologie. An Pfotenhauer anknüpfend G. Rupp: »Körper-Konzept«. Diskursanalytisch in der Nachfolge Kittlers Manfred Schneider: Die erkaltete Herzschrift. Der autobiographische Text im 20. Jahrhundert, München, Wien 1986. Zu Derrida und de Man Thomas Böning: »Dichtung und Wahrheit. Fiktionalisierung des Faktischen und Faktifizierung der Fiktion. Anmerkungen zur Autobiographie«, in: Gerhard Neumann/Sigrid Weigel (Hg.), Lesbarkeit der Kultur. Literaturwissenschaft zwischen Kulturtechnik und Ethnographie, München 2000, S. 343-373. Einführende Überblicke in Geschichte und Theorie der Autobiographie geben Martina Wagner-Engelhaaf: Autobiographie, Stuttgart 2000; Michaela Holdenried: Autobiographie, Stuttgart 2000. Zur Diskussion um Konstruktionen von Autorschaft grundlegend Roland Barthes: »Der Tod des Autors«, in: Fortis Jannidis u.a. (Hg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart 2000, S. 185-193; Michel Foucault: »Was ist ein Autor?«, in: ders., Schriften zur Literatur, Frankfurt/M. 1988, S. 7-31. Fortis Jannidis u.a. (Hg.): Die Rückkehr des Autors. Beiträge zur Rechtfertigung eines umstrittenen Begriffs, Tübingen 1999; Felix Philipp Ingold/Werner Wunderlich (Hg.): Der Autor im Dialog. Beiträge zu Autorität und Autorschaft, St. Gallen 1995. Zu einem medien- und kulturwissenschaftlich orientierten Ansatz siehe Aleida Assmann: »Schrift und Autorschaft im Spiegel der Mediengeschichte«, in: W. Müller-Funk/H.U. Reck (Hg.), Inszenierte Imagination, S. 13-24. Siehe dazu auch Petra Gropp: »Perspektiven einer Ästhetik der Schrift. Verkörperungen der Schrift als inszenierte Selbstreflexion von Medialität — anhand Roland Barthes’ écriture-Konzept«, in: C. Ernst/dies./K.A. Sprengard (Hg.), Perspektiven interdisziplinärer Medienphilosophie, S. 119-138. Siehe dazu Christian Schärf (Hg.): Schreiben. Szenen einer Sinngeschichte, Tübingen 2002.
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Romantikern wird Sinnerzeugung als Akt poietischer Gestaltung begriffen, eine Tendenz, die sich zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts mit Nietzsche ins Physiologische verlagert, wie Christian Schärf die Entwicklung skizziert. 116 Im Horizont dieser Genealogie entwickelt Schärf an Nietzsche und Roland Barthes eine medienphilosophische Perspektive auf Schrift und Literatur: »Literatur meint seit Homer Mündlichkeit auf die Weise der Schriftlichkeit, Verschriftlichung oraler Performativität, dadurch aber Anspruch auf diese Performativität gerade auch im Repräsentationsbereich der Schrift.« 117 In dieser Performativität verknüpft sich die von Gumbrecht anvisierte Korrelation von Sinn und Verkörperung, denn mit der »Schreibbarkeit der Stimme« bezeichnet Schärf eine Denkfigur Roland Barthes’, die den Augenblick der »Verknüpfung von Körper und Sprache, nicht von Sinn und Sprache« 118 meint: »Schreiben wird damit nicht in erster Linie als Ausübung einer Kulturtechnik aufgefasst. Vielmehr meint Barthes die prinzipielle Disposition einer physiologischen Spannung, die in die Kulturakte des Literarischen eingeprägt ist und ohne die sie nicht stattfinden könnten.« 119 Gegenstand einer Medienphilosophie der Literatur wäre nach Schärf »nicht die Schrift, sondern das Schreiben«, »nicht die abendländische Kulturtechnik, auch nicht die Spur der Differenz, sondern die Schreibbarkeit der Stimme, Antizipation einer Präsenz jenseits der Substanzen, Instinkt für die Geschichte eines Sinns, der noch nicht erreicht, der aber (von wem?) versprochen ist.« 120 Roland Barthes’ Reflexionen zur Verknüpfung von Körper und Schrift sind Teil einer écriture, die als Selbstreflexion der Schrift, sowohl in theoretischer Konzeption als auch im praktischen Schreib-Akt, einen der Ausgangspunkte der philosophischen und kulturwissenschaftlichen Wende zu Materialität und ästhetischer Praxis der Schrift darstellt.121 116
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Christian Schärf: »Einleitung. Schreiben. Eine Sinngeschichte«, in: ders. (Hg.), Schreiben, S. 7-26. Siehe ergänzend ders.: »Autobiographie als Graphogenese des Selbst. Friedrich Nietzsches ›Ecce Homo‹ und Jean-Paul Sartres ›Die Wörter‹«, in: ebd., S. 195-210; ders.: »Nietzsches Schreiben. Eine medienphilosophische Skizze«, in: C. Ernst/P. Gropp/K.A. Sprengard (Hg.), Perspektiven interdisziplinärer Medienphilosophie, S. 139-153. Schärf verdeutlicht den mit Nietzsche ins Utopische und Existenzielle gesteigerten Mythos der Schrift als psychophysische Energetik. Es wird deutlich, dass hier die ereignishaften, sinnlich-affektiven Aspekte der Semiose nicht nur im ästhetischen Kontext, sondern mit Nietzsche gerade im Zwischenraum literarischer und philosophischer Schriftkonzeption zum Tragen kommen. Die Radikalität der Schrift-Praxis Nietzsches verdeutlicht Schärf anhand der performativen Inszenierung des Denkens und des Körpers in der Schrift bzw. der Stilisierung der Schrift zum Medium des Selbstentwurfes — darin wiederum auf szenographische und inszenatorische Muster rekurrierend. Mit Nietzsche erläutert Schärf die Praxis eines nachmetaphysischen Schriftbegriffs, der seine metaphysische Kraft auf die Ebene der Physiologie verlagert und in seiner Radikalität eine Wirkungsmacht entfaltet, deren Spuren eine performative Medienphilosophie der Schrift und des Schreibens nachzuspüren hätte. Siehe in diesem Kontext auch Christian Schärf: Franz Kafka. Poetischer Text und heilige Schrift, Göttingen 2000. C. Schärf: »Nietzsches Schreiben«, S. 139. Roland Barthes: Die Lust am Text, Frankfurt/M. 1974, S. 98. C. Schärf: »Nietzsches Schreiben«, S. 140. Ebd. Siehe dazu insbesondere Roland Barthes’ Text »Variations sur l’écriture«, der eine Kulturgeschichte der Schrift skizziert, entlang eines Leitfadens der Schrift als körperlicher Akt, den er mit dem Begriff der »scription« benennt.
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SZENEN DER SCHRIFT »Wir denken, daß das, was man ›Literatur‹ genannt hat, einer abgeschlossenen Epoche angehört, die einer im Entstehen begriffenen Wissenschaft weicht, der Wissenschaft von der Schrift.« 122
Die um die Zeitschrift »Tel Quel« versammelten Intellektuellen wie Jacques Derrida, Phillippe Sollers, Julia Kristeva entwickeln aus strukturalistischsemiotischen und generativ-linguistischen Ansätzen einen neuen Begriff des Schreibens, der in Richtung eines Materialismus der Schrift argumentiert und produktionsorientiert ein Schreiben des Bruchs, der Differenz und des Zwischenraums propagiert. 123 Diese Ausrichtung auf Schrift und Schreiben, die Überführung der activité structuraliste in eine avctivité d’écriture, markiert eine literarische Wende des Strukturalismus, die in einem in Bewegung geratenden disziplinären Spektrum grundlegend die Unterscheidungen von Objekt- und Metasprache, von wissenschaftlichem und literarischem Schreiben hinterfragt. 124 In Grenz-Texten zwischen Literaturkritik, Kultursemiotik und Medienphänomenologie zeigt Roland Barthes Regeln und Grenzen der Diskurse, ihrer Methoden, Textformen und institutionellen Systeme auf, setzt Zwischenräume und Überschreitungen in Szene. Die Vorstellung einer jeder Textproduktion zugrunde liegenden Schreibbewegung écriture, die quer zu konventionalisierten Text- und Diskurssystemen das Ins-Spiel-Setzen der Zeichenordnungen vorführt, leitet Barthes aus einer Konzeption von Literatur ab, die durch eben diese Pluralisierung der Sinne im Spiel der Zeichen gekennzeichnet ist: »[L]a Littérature est fondementalement inversion du langage, puisque la forme y est singulière et les sens innombrables.« 125 Diese Bestimmung des Literarischen als Spiel der Bedeutungen verlagert nicht nur den Fokus von der semantischen Ebene auf die performative Seite, sondern setzt die Formen friktionaler Texte, die sich als Differenzfiguren durch den Rei-
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Er beschreibt, wie er von einem frühen Verständnis der écriture im metaphorischen Sinne zur Idee der scripture gelangte: »Aujourd’hui, vingt ans plus tard, par une sorte de remontée vers le corps, c’est au sens manuel du mot que je voudrais aller, c’est la ›scription‹ (l’acte musculaire d’écrire, de traces des lettres) qui m’interesse [...].« R. Barthes: »Variations sur l’écriture«, S. 1535. Phillippe Sollers: »Écriture et révolution«, in: Michel Foucault (Hg.), Tel Quel. Théorie d’ensemble, Paris 1968, S. 67-80, hier S. 72; Übersetzung zit. nach François Dosse: Geschichte des Strukturalismus. Bd. 2: Die Zeichen der Zeit 1967-1991, Frankfurt/M. 1999, S. 195. Zum Begriff der écriture bei Mallarmé, Derrida und Kristeva — als Ausgangspunkt einer transmedialen Theorie der écriture — siehe Petra Maria Meyer: Intermedialität des Theaters. Entwurf einer Semiotik der Überraschung, Düsseldorf 2001, S. 100-104. »Die logische Verlängerung des Strukturalismus kann nur in einer Verbindung mit der Literatur nicht mehr als Analyse-›Objekt‹, sondern als Aktivität des Schreibens bestehen, in einer Abschaffung jener von der Logik ausgehenden Unterscheidung, die aus dem Werk eine Objektsprache und aus der Wissenschaft eine Metasprache macht, um auf diese Weise das illusorische Privileg aufs Spiel zu setzen, das von der Wissenschaft dem Besitz einer sklavischen Sprache zugewiesen wird.« R. Barthes: »De la science à la littérature« (Anm. 66), S. 431. Die Essays Roland Barthes’ werden originalsprachlich nach den Œuvres complètes, Bd. I 1942-1965, Paris 1993, Bd. II 1966-1973, Paris 1994, Bd. III 1974-1980, Paris 1995 (im Folgenden: »OC I, II, III«) zitiert, die bei Suhrkamp auf deutsch erschienenen Schriften werden in der jeweiligen Übersetzung zitiert. Roland Barthes: »Tables rondes«, OC I, S. 802-804, hier S. 803.
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1. PERSPEKTIVEN EINER MEDIENÄSTHETIK DER LITERATUR
bungseffekt der heterogenen Zeichenordnungen und pluralen Sinne ergeben, zentral. 126 Aus der Konzeption von Literatur als differenzieller Verkörperungspraxis leitet Barthes die Vorstellung von Schrift bzw. écriture als Spiel heterogener Bedeutungsprozesse ab. In dieser Verortung des écriture-Begriffs auf der Ebene der Verkörperungen liegt der ästhetische Kern des écritureKonzepts, da damit die Materialisierungs- und Medialisierungsprozesse der Schrift in den Blick rücken sowie die Formen der Reflexion dieser Prozesse. In diesem Sinne als dynamisches Prinzip multipler Bedeutungserzeugungen verstanden, bildet écriture den Nullpunkt des Schreibens. 127 Dass der Begriff der écriture auf die alle Schreibweisen begründenden Verkörperungsprozesse zielt, unterstreicht Barthes in seiner Antrittsvorlesung am Collège de France (Lehrstuhl für literarische Semiologie) durch die Gleichsetzung von Literatur, Schreiben und Text: »Je puis donc dire indifférement: littérature, écriture ou texte.« 128 Wie diese Semiologie der Verkörperungsprozesse zu betreiben ist, führt Barthes in der exemplarischen Lektüre »S/Z« 129 vor, die nicht den Inhalt des analysierten Textes anvisiert, sondern die Konstruktion einer Schreibweise, der écriture. Die Geschlossenheit, Sinn-Illusion und inszenierte »Naturhaftigkeit« 130 des klassischen, lesbaren Textes, hier Balzacs Novelle »Sarrassine«, wird aufgebrochen mit dem Ziel, »den Text zu misshandeln, ihm das Wort abzuschneiden« (S/Z, 19). In erster Linie führt Barthes eine Lektüre vor, die jedes »konsistenzstiftende Zuendelesen« (Pfeiffer) unterbricht. Wolfgang Iser verweist auf »S/Z« als kongeniale Lektürepraxis des Zusammenspiels von Fiktivem, Realem und Imaginärem, von Mimesis und Performanz: Eine Lektüre, die die Differenzen nicht durch Supplemente auszulöschen und die Spielbewegung zum Stillstand zu bringen versucht, sondern den Text als Entfaltung potenzieller Lektüren vorführt: »Sie läßt nichts aus; sie ist schwerfällig, klebt am Text, sie liest, wenn man so sagen kann, mit Akribie und Besessenheit, erfasst an jedem Punkt des Textes das Asyndeton, das die Sprachen zerschneidet – und nicht die Anekdote«. 131 Diese Transformation des geschlossenen, lesbaren Textes in einen offenen, schreibbaren Text, wird in einer Schreibweise vorgeführt, die zugleich Semiologie, Litera-
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Den Begriff »Friktion« schlägt vor O. Ette: Roland Barthes, S. 313. Der als »Am Nullpunkt der Literatur« übersetzte Text Roland Barthes’ (Am Nullpunkt der Literatur. Objektive Literatur. Zwei Essays, Hamburg 1959) heißt im Original exakter »Am Nullpunkt des Schreibens« bzw. »der écriture«: »Le Degré zéro de l’écriture«, Paris 1953. Roland Barthes: Leçon/Lektion, Frankfurt/M. 1980, S. 24. Roland Barthes: S/Z, Frankfurt/M. 1987. Zitate werden im fortlaufenden Text mit der Sigle »S/Z« und der Seitenzahl gekennzeichnet. Die Illusion einer Denotation, diejenige Konnotation, »die die Lektüre abschließen gleichzeitig zu begründen und abzuschließen scheint«, ist »jener Mythos, aufgrund dessen der Text so tut, als kehre er zur Natur der Sprache, zur Sprache der Natur zurück.« (S/Z, 14) Die Denotation ist »jenes alte, wachsame, listige, theatralische Göttliche, das berufen ist, die kollektive Unschuld der Sprache dazustellen.« (S/Z, 14) Gegen die Illusion des abschließbaren denotativen Sinns stellt Barthes den schreibbaren Text: »Das Schreibbare, das ist das Romaneske ohne den Roman, die Poesie ohne das Gedicht, der Essay ohne das Dissertieren, die Scheibweise ohne den Stil, die Produktion ohne das Produkt, die Strukturierung ohne die Struktur.« (S/Z, 558) W. Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 477.
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SZENEN DER SCHRIFT
turkritik und Schreibbewegung ist, zugleich auf das zu analysierende Objekt und auf sich selber gerichtet, »un masque qui se montre du doigt.« 132 Die semiologische Arbeit reflektiert unterschiedliche mediale Dimensionen der Schrift: Das intertextuelle Notieren pluraler Lektüren, multipler Codes und »Stimmen« 133 wird als Akt grafischen Aufzeichnens betont: »Es wird versucht, den stereographischen Raum eines Schreibens (hier die klassische, lesbare Schreibweise) aufzuzeichnen [...].« (S/Z, 19) Die in diesem Bild implizite intermediale Relation von Stimme und Grafie wird in einer dem Text vorangehenden Anmerkung explizit gemacht, indem écriture als Bewegung vorgestellt wird, die zwischen zwei medialen Systemen, dem Akustischen und der Skription, vermittelt: »S/Z« sei »Spur« einer Arbeit mit Studenten, Hörern und Freunden, Text, »der im Hören auf sie geschrieben wurde.« (S/Z, 2) Dieser vorgängige polyphone Raum von Seminarlektüren, diese Vielstimmigkeit der Rede, wird in unterschiedlichen Schreibformen evoziert und verkörpert: Der Effekt der Simultanität beispielsweise wird einerseits erzeugt durch die wiederholte Lektüre einzelner Satzfragmente, die nach unterschiedlichen Codes entziffert werden, andererseits wird die suggerierte Parallelität der Lektüren in Form einer Partitur veranschaulicht, die exemplarisch das Dazwischen von Phonie und Grafie zur Schau stellt (vgl. S/Z, 34). Diese Übersetzung stimmlicher und grafischer Performativität impliziert des Weiteren die Imagination des Körperlichen, der Stimme. Die Zeichenkombination »S/Z« wird zum Meta-Zeichen dieser Reflexion von Medialität und Inszenierung medialer Erscheinungsformen: »S/Z« verkörpert das Friktionale sowohl von Stimmhaftigkeit und Stimmlosigkeit als auch von runder und eckiger Grafie, »S« und »Z« figurieren darüber hinaus den differenziellen Spielraum des Imaginären, der auch in der kastratischen Beziehung zwischen dem Erzähler Sarrasine und dem Kastrat Zambinella Form annimmt; der »S« und »Z« spiegelbildlich deformierende Querstrich »/« ist Schnittstelle, »Abstraktion der Grenze« (S/Z, 110) und stellt den Ort permanenter Überschreitung dar. Aus dieser Figur der eine Leerstelle (Kastration) überspringenden Transgression differenzieller Codes, Konnotationen und Sinne leitet Barthes auch die im Widerstreit der Zeichen und Imaginationen evozierte Körperlichkeit ab: »Tücke der Sprache ist: ist der ganze Körper erst einmal zusammengefügt, um selber zur Sprache zu kommen, muß er zu dem Wörterstaub, zu der Spreu der Details, zum monotonen Inventar der Teile, zum Zerbröckeln zurückkehren: Sprache baut den Körper ab, verweist ihn auf den Fetisch.« (S/Z, 116)
Die literarische Wende der Semiotik ist zugleich, so erklärt Barthes in seiner Antrittsvorlesung am Collège de France und führt es in »S/Z« vor, die Überführung der Literatur in eine Praxis der Schrift, die als materielle und mediale Selbstreflexion betrieben wird. Écriture meint eine Transgressionsbewegung von Zeichen, medialen Verkörperungen und Imaginationen.
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Roland Barthes: »La littérature et méta-langage«, OC I, S. 1245-1246, hier S. 1245f. »Stimme der Empirie (der Proaïresen), Stimme der Person (die Seme), Stimme der Wissenschaft (kulturelle Codes), Stimme der Wahrheit (die Hermeneutismen), Symbolstimme.« (S/Z, 26)
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1. PERSPEKTIVEN EINER MEDIENÄSTHETIK DER LITERATUR
Reflexion der materiellen Verkörperungen der Schrift In ihrer medien- und kulturtheoretischen Orientierung wendet sich die Literaturwissenschaft den materiellen Trägermedien der Schrift zu; die auch als »grammatologische« bezeichnete literarische Wende von Strukturalismus und Semiotik wird insofern als Hinwendung zur Materialität der Schrift verstanden, als Formen der Schrift und Schreibstile in den Blick rücken, die das Bedeutungsgeschehen mitkonstituieren. 134 Roland Barthes reflektiert die materiellen Dimensionen der écriture in einer phänomenologischen Lektüre der Zeichnungen Cy Twomblys. 135 Die Zeichnungen deutet Barthes als Erscheinungsweisen von Schrift, sie seien »ein Werk der Schrift«, »Kalligraphie«, ein »Anspielungsfeld von Schrift« (CT, 8). Allerdings zeigten diese Visualisierungen der Schrift die dem Sinnhaften abgewandte Seite: »das Wesen der Schrift« sei »weder eine Form noch ein Gebrauch [...], sondern bloß eine Geste«, »Gewirr«, »Geschmier«, »Schlamperei«: »Das Wesen eines Gegenstandes hat etwas mit seinem Abfall zu tun: nicht unbedingt mit dem, was übrig bleibt, nachdem man davon Gebrauch gemacht hat, sondern mit dem, was aus dem Gebrauch geschmissen worden ist.« (CT, 9) Diese nicht-prädikativen Dimensionen sind es, auf die auch Barthes’ Semiologie zielt: »Die Semiologie wäre dann jene Arbeit, die das Unreine der Sprache sammelt, den Abfall der Linguistik, die unmittelbare Korrumpiertheit der Botschaft: nichts Geringeres als die Begierden, Ängste, Mienen, Einschüchterungen, Vorgaben, Zärtlichkeiten, Proteste, Entschuldigungen, Aggressionen, die Musik, aus denen die aktive Sprache besteht.« 136
An der Schnittstelle vom Gekritzel zur Schrift geht es nicht um die Konstruktion von Sinnhaftigkeit, um die »Botschaft« oder das »Zeichen, das eine Einsicht hervorbringen will«, sondern der Prozess der Verkörperung wird phänomenologisch als Ereignis des Erscheinenlassens reflektiert: »Die Geste oder Gebärde ist die unbestimmte und unerschöpfliche Summe der Gründe, Triebe, Faulheiten, die den Akt mit einer Atmosphäre (im astronomischen Sinn des Wortes) umgeben.« (CT, 11) Barthes liest die Zeichnungen Twomblys als Wahrnehmungsszenen und setzt Schrift als aisthetisches Ereignis: Die von Barthes hervorgehobene Atmosphäre beschreibt Gernot Böhme als ersten Erfahrungseindruck im Prozess der Wahrnehmung. Den Inszenierungscharakter des Wahrnehmungsvorgangs unterstreichend, weist Böhme darauf hin, dass Atmosphäre in der szenischen Konstruktion der phänomenalen Erscheinung miterzeugt werde. 137 Nicht nur die phänomenale Erscheinung der Schrift reflektiert Barthes, sondern ausgehend von dem Oszillieren zwischen Zeichnung und Schrift rekonstruiert die Lektüre Schrift in ihrer poietischen, aisthetischen und kathartischen Funktion: Barthes unterstreicht ihre performativ-generativen Potenzia-
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Siehe J.G. Lapacherie: »Der Text als ein Gefüge aus Schrift«; H. Hauge: »De la grammatologie und die literarische Wende«. Siehe dazu grundlegend Roland Barthes’ Essay: »Variations sur l’écriture«. Roland Barthes: Cy Twombly, Berlin 1983. Zitate werden im fortlaufenden Text mit der Sigle »CT« gekennzeichnet. Ders.: Leçon/Lektion, S. 47. Siehe dazu G. Böhme: Aisthetik.
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SZENEN DER SCHRIFT
le, ihr Funktionieren als Wahrnehmungsszene sowie die Konnexionen mit dem Komplex des Leiblich-Physiologischen. Im Zwischenraum von vorgängigem Gekritzel und nachträglicher Spur des Schreibens wird das aus der Sinngeschichte ausgeschlossene Gekrakel zum ästhetischen Ereignis: »Beginnt nicht an dieser äußersten Grenze wahrhaft die Kunst, der ›Text‹, all das ›Umsonst‹ des Menschen, seine Perversion, seine Verausgabung?« (CT, 12) Die Materialisierung der Schrift als »graphische Textur« (CT, 14) im Zusammenspiel mit der Materialität des Papiers wird als topografische Szene entworfen: »da ist die Körnung des Papiers, dann die Flecken, die Gitter, die Schlingen, die Diagramme, die Wörter.« (CT, 14) Das Sinnliche, Haptische, Affektive, das Ästhetische als sensuelles und emotionales Potenzial wird nicht nur als der Sinnbildung vorgängige Dimension aktiviert, sondern als performative Praxis: »Der Strich ist energon, Arbeit, das die Spur des Triebes sichtbar macht. Der Strich ist eine sichtbare Aktion. Unnachahmlich, wie der Körper.« (CT, 26) Der Akt der materiellen Verkörperung wird im Rahmen einer »Ästhetik des Performativen« inszeniert: 138 »[D]ie Frage ist immer: Was passiert da? Ob Leinwand, Papier oder Mauer: es handelt sich um einen Schauplatz, wo etwas daherkommt (wenn in bestimmten Kunstformen der Künstler will, daß nichts passiert, dann ist auch das noch ein Abenteuer). So muß man das Bild als eine Art Theater nehmen: der Vorhang öffnet sich, wir schauen, wir warten, wir vernehmen, wir verstehen: und ist die Szene vorbei, das Bild verschwunden, dann erinnern wir uns: wir sind nicht mehr dieselben wie vorher: wie im antiken Theater sind wir initiiert worden. Ich möchte Twombly unter dem Blickwinkel des Ereignisses betrachten.« (CT, 65)
Barthes setzt die Zeichnung wie eine Bühne, auf der Schrift-Szenen präsentiert werden, die an verschiedenen »Ereignistypen« Teil haben: »[...] es passiert ein Fatum (pragma), ein Zufall (tyche), ein Ausgang (telos), eine Überraschung (apodeston) und eine Handlung (drama).« (CT, 65) In der theatralen Szene werden die Materialien – »das bißchen Kreide, dies karierte Papier« (CT, 67) – gezeigt. So wird das Theatrale Barthes’ zum Modell des Ästhetischen, des poietischen Aktes, der sich zur Schau stellt. Aus der Theaterszene lässt sich auch das Sinnliche, Affektive und Emotive ableiten, das an die Anwesenheit aufeinander gerichteter Körper, derjenigen der Schauspieler und des Publikums, gebunden ist. Diese Vermittlung von Zeichnung und Schrift über das theatrale Modell im Horizont einer ereignishaften Ästhetik inszenierter Erscheinungen wird in anderen »Ikonotexten«, wie Ottmar Ette sie nennt, ausgeweitet. Texte, in denen Schrift und Bilddokumente interagieren, konstruieren einen Zwischenraum, eine Szene medialer Verkörperungen: »Der Text ist kein ›Kommentar‹ zu den Bildern. Die Bilder sind keine ›Illustrationen‹ zum Text. Beide dienten mir lediglich als Ausgangspunkt für eine Art visuellen Schwankens — ähnlich vielleicht zu jenem Sinnverlust, den das Zen als Sartori bezeichnet. Text und Bilder sollen in ihrer Verschränkung die Zirkulation, den Aus-
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Siehe dazu E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen; D. Mersch: Ereignis und Aura.
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1. PERSPEKTIVEN EINER MEDIENÄSTHETIK DER LITERATUR tausch der Signifikanten: Körper, Gesicht, Schrift, ermöglichen und darin das Zu139 rücktreten der Zeichen lesen.«
Reflexion der Medialität der Schrift Die in der Reflexion des Materiellen deutlich gewordene Figur des Medialen als Zwischenraum innerhalb von Verkörperungsprozessen macht Barthes in seinem medientheoretischen Essay »Die helle Kammer« 140 explizit. Hier soll daher nur kurz die intermediale Reflexion als Überleitung zur Frage der aus der Medialität abgeleiteten Körperlichkeit skizziert werden. In dieser phänomenologisch orientierten Lektüre der Fotografie beschreibt Barthes im Begriff des punctum die Ereignishaftigkeit und das Imaginäre des Wahrnehmungsaktes, das insbesondere in der Porträt-Fotografie die Performanz imaginärer Körper als augenblickshaftes und affektives Geschehen, in der emphatischen Evidenz des Es-ist-so-gewesen, zeigt. 141 »So wird PHOTOGRAPHIE für mich zu einem bizarren Medium, zu einer neuen Form der Halluzination: falsch auf der Ebene der Wahrnehmung, wahr auf der Ebene der Zeit: eine gemäßigte, in gewisser Weise bescheidene, geteilte Halluzination (auf der einen Seite ›das ist nicht da‹, auf der anderen ›aber das ist sehr wohl dagewesen‹): ein verrücktes, ein vom Wirklichen abgetriebenes Bild.« 142
Fotografie, die Barthes als ein »Requiem, den Versuch, ein Theater der Abwesenheit [...] zu zeigen« 143 beschreibt, wird in ihrer Medialität zur Metapher eines rememorativen Ereignisses – die mimetische Differenz des Fiktionalen (Iser) inszeniert Fotografie als zeitliche Differenz. Im Zusammenspiel von abgebildeten Fotografien und das Fotografische interpretierender Lektüre, die Schriften zur Fotografie (Bourdieu, Calvino, Sontag), zu Phänomenologie (Husserl, Lyotard), Semiologie (Kristeva), Psychoanalyse (Lacan), zum Imaginären (Sartre), aber auch literarische Texte (Proust, Rilke, Valéry) ins Spiel setzt, wird die Performanz imaginärer Körper – auch in der Zitation fremder Texte, in der Nennung der Namen von Fotografen und Autoren – zur medialen Inszenierung. Texte und Bilder verschränken sich zu Formen außerordentlicher, affektiver, evidenter Wahrnehmungsereignisse.
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Roland Barthes: Das Reich der Zeichen, Frankfurt/M. 1981, S. 11. Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt/M. 1989. »[...] punctum, das meint auch: Stich, kleines Loch, kleiner Fleck, kleiner Schnitt — und Wurf: Wurf der Würfel. Das punctum einer Photographie, das ist jenes Zufällige an ihr, das mich besticht (mich aber auch verwundet, trifft).« R. Barthes: Die helle Kammer, S. 36. »Nun weiß ich auch, daß es noch ein anderes punctum (ein anderes ›Stigma‹) gibt als das des ›Details‹. Dieses neue punctum, nicht mehr eines der Form, sondern der Dichte, ist die Zeit, ist die erschütternde Emphase des Noemas (›Es-ist-so-gewesen‹), seine reine Abbildung.« Ebd., S. 105. Die Fotografie »führt das Abbild bis an jenen verrückten Punkt, wo der Affekt (Liebe, Leidenschaft, Trauer, Sehnsucht und Verlangen) das Sein verbürgt.« Ebd., S. 124. Ebd., S. 126. Gerhard Neumann: »Theatralität der Zeichen, Roland Barthes’ Theorie einer szenischen Semiotik«, in: ders./C. Pross/G. Wildgruber (Hg.), Szenographien, S. 65-112, hier S. 110.
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SZENEN DER SCHRIFT
Inszenierte Körperlichkeit Es ist Roland Barthes’ Auseinandersetzung mit dem Theater, die das écritureKonzept maßgeblich bestimmt: einerseits die Idee der écriture als Verkörperung medialer Ereignisse – sei es als Verkörperung der Stimme oder der gezeichneten Handschrift –, andererseits die Vorstellung der écriture als inszenierte Reflexion von Materialität und Medialität der Schrift. Gerhard Neumann beschreibt diese Verlagerung des Theatralen in die Schrift bei Roland Barthes als Ausgangspunkt einer Bedeutungskonzeption, die das generative Moment des sprachlichen Geschehens als theatrales Modell denkt. Um dieses der Sprache inhärente Produktionsprinzip zu verdeutlichen, greift Neumann Barthes’ Begriff der »Szenographie« auf, der – dem Wortfeld der Schrift verwandt – das Inszenieren, den Gestus des »In-SzeneSetzens« in den Vordergrund stellt. 144 Das Konzept der »Theatralität der Zeichen« entwickelt Barthes in Auseinandersetzung mit den performativen Dimensionen des griechischen, avantgardistischen (Artaud), epischen (Brecht) und japanischen Theaters (Bunraku, Kabuki). Diese dienen als Modelle einer Theatralität, die das Ereignishafte der körperlichen Präsenz fokussiert, insbesondere auch das Selbstreflexive, das Zeigen des Zeigens. 145 Die theatrale Inszenierung des Körperlichen beobachtet Barthes als mediales und kulturelles Wahrnehmungsdispositiv in den phänomenologischen Skizzen zu den »Mythen des Alltags«, exemplarisch in den Körper-Inszenierungen des Sports wie in der massenmedial konstruierten »Gesichtlichkeit« des weiblichen Filmstars. 146 Wie aber kann diese theatrale Körperlichkeit in die Schrift überführt werden? Barthes entwirft unterschiedliche Szenen der Verknüpfung von Körper und Schrift, beispielsweise die Handschrift als Verkörperung von Schreibformen: »L’écriture, expression de la personnalité? Vraiment? J’ai moi-même trois écritures, selon que j’écris des textes, que je prends des notes, ou que je fais ma correspondance.« 147 Die écriture wird zur Szene, in der die sich in der Handschrift spiegelnde körperliche Präsenz in ihrer Ereignishaftigkeit ansichtig gemacht wird: »J’aime la scription, l’action par laquelle nous traçons manuellement des signes […]. L’écriture, c’est la main, c’est donc le corps: ses pulsions, ses contrôles, ses 144
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Siehe Gerhard Neumann: »Einleitung«, in: ders./C. Pross/G. Wildgruber (Hg.), Szenographien, S. 11-32. Als Vertreter eines theatralen ZeichenModells nennt Neumann neben Barthes: Greimas, Derrida, Iser, Bachtin, Blumenberg, Leiris, Geertz, Turner und Lacan. Zu Barthes siehe G. Neumann: »Theatralität der Zeichen«. Diese Dimensionen nimmt auch die aktuelle kulturwissenschaftlich orientierte Theaterforschung in den Blick und kann dabei auf neuere Beiträge aus Ästhetik und Historischer Anthropologie zurückgreifen, die seit den achtziger Jahren den Körper als Forschungsobjekt reaktualisieren. Siehe dazu Dietmar Kamper/Christoph Wulf (Hg.): Die Wiederkehr des Körpers, Frankfurt/M. 1982; Erika Fischer-Lichte/Anne Fleig (Hg.): Körper-Inszenierungen. Präsenz und kultureller Wandel, Tübingen 2000; Julia Funk/Cornelia Brück (Hg.): Körper-Konzepte, Tübingen 2000. Roland Barthes: Mythen des Alltags, Frankfurt/M. 1964. Zur Inszenierung und Lektüre des Gesichtes siehe auch das Kapitel »Le visage écrit« in R. Barthes: Das Reich der Zeichen. Zur »Gesichtlichkeit« siehe Gilles Deleuze/Felix Guattari: »Das Jahr Null — Gesichtlichkeit«, in: V. Bohn (Hg.), Bildlichkeit, S. 430-467. R. Barthes: »Variations sur l’écriture«, S. 1545f.
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1. PERSPEKTIVEN EINER MEDIENÄSTHETIK DER LITERATUR rythmes, ses pensées, ses glissements, ses complications, ses fuites, bref, non pas l’âme (peu importe la graphologie), mais le sujet lesté de son désir et de son inconscient.« 148
Wie Formen der Handschrift Schreibweisen zugeordnet sind, so wird die institutionalisierte Differenzierung in Objekt- und Metasprache, in Literatur und Wissenschaft, durch inszenierte Imaginationen des Körperlichen ersetzt: »La science se parle, la littérature s’écrit; l’une est conduite par la voix, l’autre suit la main; ce n’est pas le même corps, et donc le même désir, qui est derrière l’un et l’autre.« 149 Das Begehren, das Barthes hier anspricht, ist das zentrale Moment der Körper-Inszenierung. Dieses Begehren richtet sich auf die Körperlichkeit, die der direkten Rede Aufführungsqualität, Appellstruktur und Dramatik verleiht und in der Niederschrift verloren geht. In der Lektüre der Zeichnungen (»Cy Twombly«) und der Fotografien (»Die helle Kammer«) wurde deutlich, dass Schrift als mediales Ereignis auf die Inszenierung des Körpers fokussiert ist. Im Rahmen einer Szene des Begehrens entwirft Barthes écriture als Technik der Körper-Imagination: »[...] nous désirons le désir que l’auteur a du lecteur lorsqu’il écrivait, nous désirons le aimez-moi qui est dans toute écriture.« 150 Eine Variante dieser Szene des Begehrens ist die Evokation der Stimme des Anderen, wobei der auch in »S/Z« verkörperte Zwischenraum von Phonie und Grafie zur Spur des vorgängigen körperlichen Ereignisses des Sprechens erklärt wird: »La littérature est en effet, à tous les niveaux, la parole de l’autre.« 151 In dieser Inszenierung als Materialisierung der abwesenden Stimme wird écriture – analog zum fotografischen Dispositiv – als rememoratives Ereignis präsentiert. Nach dem Muster einer Verführungsszene 152 spielt Barthes in seinem japanischen Reisebericht »Das Reich der Zeichen« Wahrnehmung und écriture als nach der Logik des Erotischen strukturiertes »Entdeckungstheater« im Sinne einer first contact-Szene durch. Diese Begegnung mit dem Anderen, dem Zeichensystem Japan, stellt die »Ursituation des Abenteuers der Wahrnehmung« 153 zur Schau. Diese Konstruktion einer Wahrnehmungsszene, diese Szenographie des Begehrens, ist Technik zur »Produktion von Präsenz«, zur »Herstellung auffälliger Gegenwart«154 . Inszeniert wird eine Ereignishaftigkeit, welche die semiotische Konstruktion zu einer performativen Aktion 148 149 150 151 152
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Roland Barthes: »Roland Barthes contre les idées reçues«, OC III, S. 70-74, hier S. 73. R. Barthes: »De la science à la literature«, (Anm. 66), S. 429. Roland Barthes: »Sur la lecture«, OC III, S. 377-384, hier S. 382. Roland Barthes: »Essais critiques, Avant-propos«, OC I, S. 1167-1176, hier S. 1172. In einem Interview erläutert Barthes zu dem Stichwort »drague«: »La drague c’est le voyage du désir. C’est le corps qui est en état d’alerte, de recherche par rapport à son propre désir. Et puis la drague implique une temporalité qui met l’accent sur la rencontre, sur la ›première fois‹. […] C’est pourquoi la drague est une notion que je peux très bien transporter de l’ordre de la quête érotique, où elle prend son origine, dans la quête des textes.« Roland Barthes: »Vingt mots clés pour Roland Barthes«, OC III, S. 327-333, hier S. 333. G. Neumann: »Theatralität der Zeichen«, S. 96f. Hans Ulrich Gumbrecht: »Produktion von Präsenz, durchsetzt mit Absenz. Über Musik, Libretto und Inszenierung«, in: J. Früchtl/J. Zimmermann (Hg.), Ästhetik der Inszenierung, S. 63-76, S. 74.
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macht. Wie aber ist die Szenographie der Lust in eine écriture zu überführen? Lektüre und Schrift konstruieren eine Ordnung des Textes, die unterschiedliche Arten des Begehrens verkörpert: »Die Lust am Text, das ist jener Moment, wo mein Körper seinen eigenen Ideen folgt – denn mein Körper hat nicht dieselben Ideen wie ich.« 156 Die Logik des Körperlichen übersetzt Barthes in eine Ordnung der Schrift, die sich an Saussures Anagrammstudien orientiert: »Der Text hat eine menschliche Form, er ist eine menschliche Figur, ein Anagramm des Körpers? Ja, aber unseres erotischen Körpers.« 157 Das Anagrammatische steht für eine szenographische Zeichenordnung nach rhetorischen Figuren und Stellungen (postures), die Barthes bei den Logotheten (Sprachbegründern) Sade, Fourier, Loyola 158 zu erotischen Sprachsystemen ausgearbeitet sieht. Vergleichbar de Sade, der in seinem syntagmatischen Erotismus, der Kombinatorik von Orten und Figuren und ihrer Anordnung zu Stellungen und Szenen, jegliche erotische Erzählung begründet habe, sei Fourier und Loyola ebenso das Obsessive der Ordnungsmethode eigen, »die gleiche Schreibweise: die gleiche Klassifizierungssucht, die gleiche Besessenheit des Zerlegens [...], die gleiche Zählmanie [...], der gleiche Zuschnitt des gesellschaftlichen, erotischen und phantasmatischen Systems.« (SFL, 7) Barthes führt weiter aus, die Sprache der Lust folge einer musikalisch-rhythmischen Ordnung (vgl. SFL, 9), durch das »Theatralisieren« dieser metrisch komponierten Sprache werde der Logothet zum »Szenograph« (SFL, 10). Vor dem Hintergrund dieser Szenerie verkörpere sich in der Sprachordnung der Szenograph, der Erfinder des theatralen Sprachmodells, als rhythmisches Ereignis: »Die Lust am Text bringt auch eine freundschaftliche Wiederkehr des Autor mit sich. Er (der Autor) ist für uns ganz einfach eine Vielzahl von ›Reizen‹, der Ort einiger zerbrechlicher Details und doch Quelle lebendiger romanesker Ausstrahlung. Keine (juristische oder moralische) Person, sondern ein Körper.« (SFL, 12)
Mittels dieser Technik theatraler Präsenzerzeugung wird auch die Stimmlichkeit in ihrer Rhythmik und Physiologie – vergleichbar der materiellen Rauheit des Papiers – als Teil der Szenographie integriert: Die écriture der Lust ist getragen »vom Korn der Stimme, das eine erotische Mischung aus Timbre und Sprache ist. [...] Das knirscht, das knistert, das streichelt, das schabt, das schneidet: Wollust [...].« 159 Die zugrunde liegende, ursprüngliche Szene ist das laute Lesen: »le texte passait alors fatalement par le gosier, le muscle la-
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Auf diese Komplexe ist auch die Aufmerksamkeit der Theatralitätsforschung gerichtet, die in semiotisch und phänomenologisch orientierter Richtung Ansätze einer Ästhetik des Medialen entwirft. Siehe dazu E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen; dies.: Ästhetische Erfahrung. Das Semiotische und das Performative, Tübingen 2001; dies. u.a. (Hg.): Wahrnehmung und Medialität, Tübingen 2001; dies. u.a. (Hg.): Performativität und Ereignis, Tübingen 2003; D. Mersch: Ereignis und Aura. R. Barthes: Die Lust am Text, S. 26. Ebd. Roland Barthes: Sade. Fourier. Loyola, Frankfurt/M. 1974. Zitate im werden im Folgenden mit der Sigle »SFL« gekennzeichnet. R. Barthes: Die Lust am Text, S. 98. Zur Stimmlichkeit auch Roland Barthes: Die Körnung der Stimme. Interviews 1962-1980, Frankfurt/M. 2002.
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1. PERSPEKTIVEN EINER MEDIENÄSTHETIK DER LITERATUR
ryngé, les dents, la langue, le corps en somme dans sa densité musculaire, sanguine, nerveuse.« 160 Die Inkarnation der Sprachszene des Begehrens ist die Sprache der Liebe, deren Diskurse, Zeichenordnungen und Verkörperungen Barthes in »Fragmente einer Sprache der Liebe« 161 nachbildet, reflektiert und in Szene setzt. Barthes arbeitet als Szenograph und führt Figuren vor, Ausdruckweisen, Topoi der Rede, die der »Bewegung des Hin-und-Her-Laufens« (FSL, 15) folgen – er setzt räumliche und zeitliche Sprachfiguren in Szene, die als »chronotopische Gestalten« funktionieren, als Figurationen im Sinne von choreographischen Bewegungsdispositiven 162 . Das Buch ist eine Abfolge von TextFiguren, wobei jede Figur dieselbe Anordnung von Textmustern präsentiert: zuerst Titelwort, dann in der Kopfleiste das »Argumentum: ›Darstellung, Bericht, Zusammenfassung, kleines Drama, erfundene Geschichte‹; und ich füge hinzu: Instrument der Distanzierung, Schrift- oder Bildtafel im Sinne Brechts« (FSL, 17f.), es folgen diskursive Fragmente aus Literatur, Philosophie, Musik, Film, Text, Rede, Autobiographie und Fiktion. Autorennamen und Titel dieser zitierten Fragmente sind in einer Randspalte verzeichnet, Quellenangaben bilden den Abschluss jeder Text-Figur. Bis in die grafische und grammatextuelle Gestaltung, bis in Typografie und Zeichensetzung wird ein Zusammenspiel von Diskursen, Textmustern und grafischen Gestaltungen in Szene gesetzt. Das Ganze ist als dramatische Struktur angelegt: »Die Figur ist gewissermaßen eine Opernarie; in eben dem Sinne, wie diese Arie anhand ihrer Anfangszeile identifiziert wird, wiedererkannt und gehandhabt wird [...], so geht auch die Figur von einer Sprachfalte (einer Art Vers, Refrain, Gesangslinie) aus, die sie insgeheim artikuliert.« (FSL, 18)
Die »dramatischen« Sprachszenen und Textfiguren sind mediale Verkörperungen der poietischen, aisthetischen und kathartischen Potenziale der Sprache des Begehrens, performative Figuren, die die Ereignishaftigkeit der Sprache der Liebe zur Darstellung bringen und die Sprache des Begehrens in ein Affektmedium Schrift überführen: »Jede Figur blitzt auf, vibriert allein wie der aus einer Melodie herausgelöste Ton – oder wiederholt sich bin zum Überdruß wie das Motiv einer in sich kreisenden Musik.« (FSL, 19) Die in der fotografischen Medialität zeitliche Differenzialität des »Es ist so gewesen«, fällt in der Sprache der Liebe in der tautologischen Faszination – »ich liebe dich, weil ich dich liebe« (FSL, 40) – zusammen, die in der Abfolge der szenographischen Figuren wiederholt und variiert, inszeniert und gezeigt wird: »Was die Sprache der Liebe auf diese Weise zum Abschluß bringt, ist eben das, was sie initiiert hat: die Faszination.« (FSL, 40) Die Schrift der Liebe ist die permanente Reflexion und Ausstellung dieser Schnittstelle der Verkörperung von Faszination, die in den friktionalen Materialisierungen, Medialisierungen und performativen Vollzügen immer wieder erspielt wird. 160 161 162
R. Barthes: »Variations sur l’écriture«, S. 1565f. Roland Barthes: Fragmente einer Sprache der Liebe, Frankfurt/M. 1988. Zitate werden im fortlaufenden Text mit der Sigle »FSL« gekennzeichnet. Siehe Gabriele Brandstetter: »Figur und Inversion. Kartographie als Dispositiv von Bewegung«, in: Bettina Brandl-Risi/Wolf-Dieter Ernst/Meike Wagner (Hg.), Figuration. Beiträge zum Wandel der Betrachtung ästhetischer Gefüge, München 2000, S. 189-212.
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SZENEN DER SCHRIFT
Die Friktionalisierung wird dadurch verstärkt, dass es ein Ort des Sprechens ist, den die Diskurse der Liebe in Szene setzen: »es ist also ein Liebender, der hier spricht und sagt:« (FSL, 23) – eine Anordnung, die in »Über mich selbst« 163 explizit auf die Autorfigur Roland Barthes zurückgebogen wird, die im komplexen Spiel zwischen fiktionaler Rede und imaginierter Körperlichkeit des Schreibenden inszeniert wird, wie es die handschriftliche Anweisung »Tout ceci doit être considéré comme dit par un personnage de roman« 164 ankündigt. In der Zusammenführung der in den vorangegangenen Texten erkundeten ikonographischen und phonographischen Dimensionen der Schrift stellt »Roland Barthes par Roland Barthes« Prozesse der materiellen, medialen und imaginären Verkörperung der Schrift als faszinierter »autobiographischer Text« aus – »Der Intertext ist nicht unbedingt ein Feld von Einflüssen; er ist vielmehr eine Musik von Figuren, Metaphern, Wort-Gedanken; es ist der Signifikant als Sirene.« 165 Handschrift, Zeichnung und Fotografie funktionieren als Dispositive einer Evidenzerfahrung des Imaginären in seiner Faszinationsstruktur, das Imaginäre des Körpers erscheint in der Schnittstelle zwischen Text und Bild, Handschrift und fotografischem Autoporträt, seien es Bildern aus der Kindheit oder solche, die Barthes als Schriftsteller inszenieren: 166 »Hier wird man also [...] nur die Figuration einer Vorgeschichte des Körpers finden — von diesem Körper, der sich auf die Arbeit, auf die Wollust des Schreibens hin bewegt. [...] Das Imaginäre von Bildern wird also an der Schwelle zum produktiven Leben [...] zum Stillstand gebracht. Ein anderes Imaginäres tritt dann nach vorn: das des Schreibens.« 167
Die medialen Differenzen von Zeichnung, Fotografie und Text perpetuieren die Faszination und die Selbst-Reflexion. Sie bilden den Rahmen für die sich anschließende Folge von Schreibszenen und Figurationen, Textfragmente in der dritten Person Singular, die anhand von Begriffen Perspektiven des Schreibens reflektieren – in die wiederum grafische Dokumente, eine gezeichnete Partitur, Malereien eingefügt sind. Texte und Bilder konstituieren ein Ensemble von Verkörperungen der écriture, die das Erscheinen einer autobiographischen Schriftsteller-Figur »Roland Barthes« inszenieren. In dieser Perspektive medienästhetischer Reflexionen auf Schrift und Literatur, die Inszenierungen der materiellen Dimensionen, der Medialität und Körperlichkeit fokussierend, lassen sich Differenzierungen bezüglich unterschiedlicher Konzeptionen von Schrift, Praktiken des Schreibens und literari163 164 165 166
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Roland Barthes: Über mich selbst, München 1987; im Original: Roland Barthes par Roland Barthes. Roland Barthes: Roland Barthes par Roland Barthes, Paris 1975, S. 5. R. Barthes: Über mich selbst, S. 148. So funktionieren Fotografien aus der Kindheit als Dispositive des erinnernden Wiedererkennens, als Evidenzerfahrung »Es-ist-so-gewesen«: »Es ist dieser inszenierte, künstliche Vorgang der Anamnese — als Form der augenblickshaften Erfahrung der Welt, als Re-memoration, die auf die Suche nach dem Faktum geht, es als blitzhaftes déjà-vu im imprévu sinnlicher Plötzlichkeit — auf den es Barthes ankommt [...].« G. Neumann: »Theatralität der Zeichen«, S. 81f. R. Barthes: Über mich selbst, S. 8.
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1. PERSPEKTIVEN EINER MEDIENÄSTHETIK DER LITERATUR
scher Poetologie beobachten – wie es in den folgenden Kapiteln anhand der experimentellen Literatur, den medienphilosophischen Schriften Vilém Flussers und der Pop-Literatur als Schreib-Projekt der Gegenwart aufgezeigt wird. Dieser Blickwechsel, das Literarische als medienästhetische Reflexion der Schrift zu betrachten, vollzieht die Wende, Literaturwissenschaft nicht mehr als geisteswissenschaftliche Disziplin zu betreiben, sondern als medienund kulturwissenschaftliche und als solche Literatur – wie Film und Theater – als Medienkunst zu untersuchen; es gilt, Literatur als medienästhetische Praxis der Schrift zu verstehen, wie Fotografie, Film und Theater sich im Rahmen einer Medienästhetik des Bildes in den Blick nehmen lassen. 168
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Aus dem weiten Feld des so genannten Pictorial Turn sei folgender Beitrag zum Theater als Medienkunst des Bildes herausgegriffen: Alexander Jackob/Kati Röttger: »Ab der Schwelle zum Sichtbaren. Zu einer neuen Theorie des Bildes im Medium Theater«, in: C. Ernst/P. Gropp/K.A. Sprengard (Hg.), Perspektiven interdisziplinärer Medienphilosophie, S. 234-256.
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2. E X P E R I M E N T A L I S I E R U N G V O N S C H R I F T LITERATUR MITTE DES ZWANZIGSTEN JAHRHUNDERTS
UND
2.1 Ästhetik des Experimentellen im intermediären Feld von Literatur und Wissenschaft Die Konzeption der écriture als selbstreflexiv auf materielle und mediale Dimensionen bezogene Theorie und Praxis der Schrift ist aus der Beobachtung einer literarischen Praxis modernistischer Literatur abgeleitet, deren Aufmerksamkeit auf den materiellen Akt des Schreibens gerichtet ist. Insofern die Wende der Geistes- zu Kultur- und Medienwissenschaften um die Idee der écriture und die Aufmerksamkeit für die materiellen Dimensionen der Zeichenprozesse zentriert ist, erweist sich die Tradition sprachexperimenteller Literatur als Wurzel dieser Wende. 1 Diese Praktiken und Reflexionen modernistischer Poetik werden wiederum in Auseinandersetzung mit den jeweiligen zeitgenössischen Theorien der Zeichen und ihrer Bedeutungsprozesse, der Sprache und der Schrift unternommen, sodass sich wechselseitige Bezüge zwischen Sprachphilosophie, Theorie der Schrift und literarischer Poetik entwickeln, die ein intermediäres Feld von Literatur und Wissenschaft konstituieren. Für die Literaturwissenschaft stellt sich die Frage, wie in einem solchen intermediären Feld, das über geisteswissenschaftliche Disziplinen hinausgreift, Begriffe und Modelle aufgegriffen und transformiert werden, 2 um sie beispielsweise für die poetologische Reflexion der Schrift nutzbar zu machen. Es gilt nachzuvollziehen, wie wissenschaftliche Begriffe und Theorien zu Metaphern umfunktioniert und modellbildend für Konzeptionen von Literatur werden. 3 Die Frage nach Schrift und Literatur muss diese intermediären Prozesse nachzeichnen, insofern Schrift von Seiten der Literatur in Auseinandersetzung mit vielfältigen Konzeptionen von Schrift entworfen wird und dabei Modelle unterschiedlicher Provenienz zu poetologischen Konzep-
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Sowohl Michel Foucault als auch Friedrich A. Kittler begründen ihre Konzeption der Schrift in Rückbezug auf Mallarmés literarische Experimente mit Sprache und Schrift. Siehe dazu Kapitel 1, Anm. 57 und 122 der vorliegenden Arbeit. Eine fundierte Übersicht zur sprachspielerischen Dichtung gibt Alfred Liede: Dichtung als Spiel. Studien zur Unsinnspoesie an den Grenzen der Sprache, Berlin, New York 1992. Liede stellt diese poetische Tradition mit Blick auf ihre sprachkritische und sprachskeptische Fundierung vor. Siehe dazu bspw. die Habilitationsschrift von Matthias Bauer: Schwerkraft und Leichtsinn. Kreative Zeichenhandlungen im intermediären Feld von Wissenschaft und Literatur, Freiburg i.B. 2005. Bauer beschreibt anhand der Ideengeschichte der Schwerkraft dieses intermediäre Feld als Aufgabenbereich einer erweiterten Literaturwissenschaft. Zur produktiven Rolle der Metapher siehe grundlegend Anselm Haverkamp (Hg.): Theorie der Metapher, Darmstadt 1983.
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SZENEN DER SCHRIFT
tionen transformiert werden. Auf diese Operationen gründet die aus der Reflexion der Schrift abgeleitete Poetologie und Praxis der Literatur. Für den Diskurs der Materialität der Zeichen ist eine Traditionslinie experimenteller Poetik zentral, die Literatur als Sprachspiel betreibt und in diesen spielerischen Experimenten die Voraussetzungen und Techniken von Sinnkonstruktionen auslotet. 4 Parallel zu der sich abzeichnenden Wende der Geistes- zu Kultur- und Medienwissenschaften entwickeln Richtungen experimenteller Literatur, wie die international verbreitete konkrete und visuelle Poesie oder die in Frankreich aktive Werkstatt für potenzielle Literatur (Oulipo), Traditionen experimenteller Sprachspiele weiter, deren Konzeptionen von Schrift und Literatur im intermediären Feld von Wissenschaft, Technik und Kunst der fünfziger und sechziger Jahre entwickelt werden.5 Die Vordenker der konkreten Dichtung Eugen Gomringer und Max Bense konstituieren die experimentelle Poetik – »wir spechen von einer materialen poesie oder kunst« 6 – in der Konnexion von Naturwissenschaft und Ästhetik: »sie [die dichtung; P.G.] ist in der naturwissenschaftlich-technischen weltanschauung von heute begründet und wird sich in einer synthetisch-rationalistischen weltanschauung von morgen entfalten.« 7 Dieses intermediäre Feld von Wissenschaft und Literatur ist Teil einer Experimentalkultur. In wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive meint Experimentalkultur eine kulturelle Konstellation aus Technik, Wissenschaft und Kunst, die um den Begriff des »Experiments« zentriert ist, das heißt in der geregelte Verfahren zur Erzeugung von Erfahrung organisiert werden. 8 Dieser wissenschaftskulturelle Blick auf Prozesse der Experimentalisierung, die sich seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts als Interaktion wissenschaftlicher, technischer und künstlerischer Tätigkeiten untersuchen lassen, geht auf eine kulturwissenschaftlich orientierte Wissenschaftsgeschichte zurück, die parallel zur kulturwissenschaftlichen Wende der Geisteswissenschaften den Fokus auf diskursive Formationen und materielle und mediale Präsentationsformen der Wissensorganisation richtet. In diesem Sinne sind experimentalkulturelle Praktiken zu beobachten, die mittels sprachlicher und technischer
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Siehe Klaus Peter Dencker (Hg.): Poetische Sprachspiele. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Stuttgart 2003; ders. (Hg.): Deutsche Unsinnspoesie, Stuttgart 1978. Siehe dazu Harald Hartung: Experimentelle Literatur und konkrete Poesie, Göttingen 1975. Hartung skizziert eine historische Entwicklung experimenteller Literatur ausgehend von der romantischen Idee des Experimentierens mit Bildern und Begriffen analog dem physikalischen Experiment bei Novalis, über Zolas Übertragung des naturwissenschaftlichen Experiments in die Literatur in seinem an Experimental-Medizin, Milieutheorie und soziale Physik angelehnten Manifest zum experimentellen Roman (Le roman expérimental, 1879) bis zur Realisierung einer sprachexperimentellen Literatur der Nachkriegszeit des zwanzigsten Jahrhunderts durch Eugen Gomringer, Franz Mon, Helmut Heißenbüttel und die Mitglieder der Wiener Gruppe, eine »Literatur, die in und mit der Sprache experimentiert.« Ebd., S. 9. Max Bense/Reinhard Döhl: »zur lage. (1964)«, in: E. Gomringer (Hg.), konkrete poesie. deutschsprachige autoren, Stuttgart 1991, S. 167-168, hier S. 168. Eugen Gomringer: »vom vers zur konstellation (1956)«, in: ders. (Hg.), konkrete poesie, S. 155-168, hier S. 162. Siehe zum Begriff der Experimentalkultur insb. den Kontext des Forschungsprojektes »Die Experimentalisierung des Lebens. Konfigurationen zwischen Wissenschaft, Technik und Kunst« der Max-Planck-Gesellschaft http://vlp.mp. iwg-berlin.mpg.de/exp/ vom 10.08.2004.
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2. EXPERIMENTALISIERUNG VON SCHRIFT UND LITERATUR
Verfahren epistemische, ästhetische und technische Objekte konstruieren. 9 Die wissenschaftskulturelle Situation der sechziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts zeichnet der Wissenschaftstheoretiker Michael Hagner als durch die dichotome Aufteilung in Geistes- und Naturwissenschaften geprägt, wie sie sich in der Diskussion um C.P. Snows These der zwei Kulturen – der »literarischen Intelligenz« und der »szientifischen Intelligenz« – manifestiert. 10 Für die Literaturwissenschaft ist diese Frage nach der experimentalkulturellen Situation insofern aufschlussreich, als Literatur, Poetik und Literaturtheorie an den Prozessen der Experimentalisierung Teil haben, indem sie Ansätze des naturwissenschaftlichen Arbeitens aufgreifen und Methoden, Modelle und Ergebnisse mit Blick auf die damit verbundenen kulturellen Vorstellungen, Weltdeutungsmodelle und Mythen reflektieren. Nicht erst in der konkreten Poesie wird die Idee des Experimentellen für die Literatur übernommen und Schreiben und Textproduktion in den Kategorien von Methode, Beobachtung und Versuchsanordnung begriffen. 11 Literatur ist in diesem Sinne als Kulturtechnik zu verstehen, die in einer hybriden Konstellation aus Techniken und Wissenschaften Ordnungen des Wissens entwirft, reflektiert und zur Schau stellt. Die Interaktion zwischen natur- und geisteswissenschaftlichen Wissensfeldern wird in der wissenschaftlichen Ästhetik wie in der experimentellen Poetik vorangetrieben. Maßgeblicher Repräsentant einer wissenschaftlichen Ästhetik in der durch die Leitdisziplinen Kybernetik und Informationstheorie bestimmten Experimentalkultur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts ist Max Bense. Der studierte Mathematiker, Physiker und Philosoph personifiziert eine interdisziplinäre Wissenschaftlichkeit, verbindet semiotische und kybernetische Ansätze zu einer technologischen Informationsästhetik, die Theorie und Praxis der konkreten Poesie und der experimentellen Literatur bestimmt sowie die Entwicklung einer linguistischen Texttheorie für die Literaturwissenschaft in den sechziger und siebziger Jahre beeinflusst.12 Seine Konzeption von expe9
Siehe dazu die Tagung »Experimentalkulturen. Konfigurationen zwischen Lebenswissenschaften, Kunst und Technik (1830-1950)«, die im Dezember 2001 am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin stattgefunden hat. (Zum Programm: www.vlp.mpiwg-berlin.mpg.de/exp/tagungen/mpiwg 2001/ vom 10.08.2004) Siehe auch: H.-J. Rheinberger/M. Hagner/B. WahrigSchmidt (Hg.): Räume des Wissens; M. Hagner: Ansichten der Wissenschaftsgeschichte; sowie ders.: »Zwei Anmerkungen zur Repräsentation in der Wissenschaftsgeschichte«, in: H.-J. Rheinberger/ders./B. Wahrig-Schmidt (Hg.), Räume des Wissens, S. 339-356. 10 Vgl. M. Hagner: Ansichten der Wissenschaftsgeschichte, S. 15f. Siehe dazu C.P. Snow: Zwei Kulturen. 11 Zur Diskussion von naturwissenschaftlichem und künstlerischem Experiment siehe H. Hartung: Experimentelle Literatur und konkrete Poesie, S. 11-23; siehe dazu Anm. 5. 12 Genannt seien in diesem Zusammenhang folgende Beiträge Max Benses: Theorie der Texte (1962); Semiotik. Allgemeine Theorie der Zeichen (1967); Einführung in die informationstheoretische Ästhetik (1969); Zeichen und Design. Semotische Ästhetik (1971); Semiotische Prozesse und Systeme in Wissenschaftstheorie und Design, Ästhetik und Mathematik (1975). Die grundlegenden Schriften Benses sind nachzulesen in: Max Bense: Aesthetica. Einführung in die neue Ästhetik, Baden-Baden 1982; sowie in ders.: Ausgewählte Schriften in 4 Bdn. Bd. 1: Philosophie, Stuttgart 1997, Bd. 2: Philosophie der Mathematik, Naturwissenschaft und Technik, Stuttgart 1998, Bd. 3: Ästhetik und Texttheorie, Stuttgart 1998, Bd. 4: Poetische Texte, Stuttgart 1998.
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SZENEN DER SCHRIFT
rimenteller Literatur entwirft Schreiben als Versuchsanordnung. Im Hinblick auf die Kategorie des Experimentellen in der Literatur formuliert er 1964 programmatisch: »der künstler heute realisiert zustände auf der basis von bewußter theorie und bewußtem experiment. wir sprechen von einer experimentellen poesie, insofern ihre jeweiligen singulären realisationen ästhetische verifikationen oder falsifikationen bedeuten. wir sprechen wieder von einer poietike techne.« 13
Konkrete Dichtung, seit den fünfziger Jahren als internationale Bewegung im Rückgriff auf die konkrete Kunst entstanden, versteht poetische Texte als »sprachliches gestaltungsgebiet mit einem engen bezug zu modernen, naturwissenschaftlich und soziologisch fundierten kommunikationsaufgaben.« 14 Eugen Gomringer beschreibt, dass die zwei Jahrzehnte der konkreten Poesie, die fünfziger und sechziger Jahre, »identisch waren mit den entwicklungsjahren jener internationalen kommunikation und zeichensprache, welche die ursprünglichen struktural-funktionalen intentionen der konkreten poesie bald nur noch als ästhetischen kern begriffen.« 15 An den programmatischen Beschreibungen der experimentellen Poetik lässt sich das dominierende wissenschaftskulturelle Feld aus Strukturalismus, Semiotik und Kommunikationstheorie ablesen. Vor diesem Hintergrund wird der Dichter zum Wissenschaftler, der semantische und grafische Organisationen sprachlicher Zeichensysteme mittels regelgeleiteter Techniken untersucht: »an stelle des mystikers und metaphysischen schwadroneurs ist der a-theistische, also der rationale autor getreten, dessen augenmerk der sprache, den materialien gilt, derer er bei der verfertigung seiner reihen und strukturen bedarf, die er methodisch handhabt. [...] in dem maße, wie zivilisation heute auf perfektion aus sein muß, um zu überleben, tendiert poesie heute in richtung einer perfektionierten künstlichen poesie, im sinne der berücksichtigung ihrer programmierung und reproduktion, ihres theoretischen und experimentellen vergnügens, ihrer freiheit und ihres verbrauchs, ihrer maschinellen und ihrer menschlichen realisation. poesie heute siedelt also in einem zwischenbereich zwischen natürlicher und künstlicher poesie, als bewußte poesie in einer progressiven absicht.« 16
13 M. Bense/R. Döhl: »zur lage«, S. 168. Siehe auch H. Hartung: Experimentelle Literatur und konkrete Poesie. Hartung skizziert, dass der Experimentbegriff der konkreten Literatur mit einem veränderten Experimentbegriff der Physik einhergeht, deren Bezugspunkt nicht mehr Kausalität, sondern statistische Wahrscheinlichkeit ist. Die informationstheoretische Ästhetik, wie sie Max Bense und Abraham Moles entwerfen, setzt den ästhetischen Prozess als Gegensatz zu einem nach den Gesetzen der Entropie und der Wahrscheinlichkeit funktionierenden physikalischen Prozess: »So tendiert der ästhetische Prozeß nicht wie der physikalische auf einen wahrscheinlichen, sondern auf einen unwahrscheinlichen Zustand. Er lebt von der Überraschung, er wird bestimmt durch das Maß an Ursprünglichkeit, Unwahrscheinlichem, Anordnung, das er zu realisieren vermag.« Ebd., S. 14. Siehe ergänzend Siegfried J. Schmidt (Hg.): Das Experiment in Literatur und Kunst, München 1978. 14 E. Gomringer: »vom vers zur konstellation«, S. 161. 15 Eugen Gomringer: »vorwort«, in: ders. (Hg.), konkrete poesie, S. 4-7, hier S. 5f. 16 M. Bense/R. Döhl: »zur lage«, S. 167.
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2. EXPERIMENTALISIERUNG VON SCHRIFT UND LITERATUR »ihre kriterien sind experiment und theorie, demonstration, modell, muster, spiel, reduktion, permutation, iteration, random (störung und streuung), serie und struktur. das erzeugen ästhetischer gebilde erfolgt [...] auf der basis bewußter theorien, intellektueller (cartesianischer) redlichkeit. zur realisation ästhetischer gebilde bedarf es des autors und des druckers und des malers und des musikers und des übersetzers und des technikers und programmierers. wir sprechen von einer materialen poesie oder kunst.« 17
Formen wie Ideogramme, Konstellationen und Piktogramme sind Gestaltungsformen dieser grammatikalischen, strukturalen, kombinatorischen Operationen, sind methodische, spielerische Experimente. 18 Neben Max Bense ist Siegfried J. Schmidt eine der Zentralgestalten im intermediären Feld experimenteller Poetik und Literaturwissenschaft. 19 S.J. Schmidts Weiterentwicklung der konkreten Poesie zur konzeptionellen Dichtung 20 konzentriert sich auf Texte als komplexe sprachliche und visuelle semiotische Systeme: »konzeptionelle texte vollziehen als texte komplexe möglichkeiten der bedeutungskonstitution und ihrer kommunikativen realisierung. jeder konzeptionelle
17 Ebd., S. 168. 18 Siehe zu Beispielen und programmatischen Texten konkreter und visueller Dichtung E. Gomringer (Hg.): konkrete poesie; ders. (Hg.): visuelle poesie. eine anthologie, Stuttgart 1996. Siehe auch die beiden Hefte: Experimentelle und konkrete Poesie I. Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur 25 (April 1971). Experimentelle und konkrete Poesie II. Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur 30 (April 1971). Darin finden sich Beispiele experimenteller und konkreter Poesie von Gomringer, Mon, Jandl und Rühm sowie theoretische und poetologische Beiträge, zudem eine Dokumentation dreidimensionaler »Textkörper« sowie das Programm zu einer Veranstaltung in der Cinematèque New York von Schrödt (in Text + Kritik, Experimentelle und konkrete Poesie II, S. 11-17), woran der performative Charakter der experimentellen Poesie deutlich wird. Einen ausführlichen und anschaulichen Überblick zur visuellen Poesie von der Antike bis zur Moderne bietet der Ausstellungskatalog: Jeremy Adler/Ulrich Ernst: Text als Figur. Visuelle Poesie von der Antike bis zur Moderne, Weinheim 1987. Ergänzend zur internationalen visuellen Poesie der neunziger Jahre Siegfried J. Schmidt/Karl Riha (Hg.): »ersichtlichkeiten«. internationale visuelle texte der 90er, Siegen 1996. Zu Nähe von experimenteller und konzeptueller Literatur siehe die Beiträge in Hanna Stegmayer (Hg.), Konkrete Poesie Konzept Kunst, Rosenheim 1997. Zum Zusammenhang von experimenteller Poesie, Medienästhetik und Materialkunst siehe Franz Mon: Das Röcheln der Mona Lisa. Experimentelle Poesie, Medienästhetik, Materialkunst, Tübingen 1994. Ergänzend Michael Backes: Experimentelle Semiotik und die Literaturavantgarden, München 2001; Max Bense: »Notiz über konkrete Poesie«, in: ders., Die Realität der Literatur. Autoren und ihre Texte, Köln 1971, S. 97-98. 19 Siehe insb. folgende Beiträge von Siegfried J. Schmidt: Texttheorie, München 1973; Grundriß der empirischen Literaturwissenschaft. Bd. 1: Der gesellschaftliche Handlungsbereich der Literatur, Frankfurt/M. 1991, Bd. 2: Zur Rekonstruktion literaturwissenschaftlicher Fragestellungen in einer empirischen Theorie der Literatur, Braunschweig, Wiesbaden 1982; Literaturwissenschaft und Systemtheorie. Positionen, Kontroversen, Perspektiven, Opladen, Wiesbaden 1993; Kognitive Autonomie und soziale Orientierung; Die Welten der Medien, Braunschweig, Wiesbaden 1996. 20 Siegfried J. Schmidt: »von der konkreten poesie zur konzeptionellen dichtung«, in: E. Gomringer (Hg.), visuelle poesie, S. 147-148.
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SZENEN DER SCHRIFT text zeigt (simultan, nicht in sequentieller narrativität) ein nukleäres gesprächsuniversum.« 21
S.J. Schmidt geht von einem intermedialen und selbstreflexiven ästhetischen Textbegriff aus, nach dem einzelne »text-sehwerke« einen »komplexen ästhetischen kommunikationsprozeß« initiieren und »den prozeß selbst thematisch« machen. 22 Schmidt entwickelt diese Ansätze einer informationsästhetisch und semiotisch orientierten Konzeptkunst in kontinuierlicher Auseinandersetzung mit aktuellen Wissenschaftstheorien zu Perspektiven eines theoretischen und ästhetischen Konstruktivismus weiter. 23 Steht S.J. Schmidt einerseits für die Integration empirischer Methoden in die Literaturtheorie und damit für eine anti-hermeneutische Geisteswissenschaft, die ihre Methoden aus Informations- und Kommunikationstheorie, Konstruktivismus und Kognitionswissenschaft bezieht, 24 so ist er andererseits exemplarisch für eine experimentelle Poetik, die als wissenschaftliche Ästhetik auf die Materialität, und das heißt in diesem Falle semiotische und kommunikative Prozesse, gerichtet ist. Das Poetische wird dabei als selbstreflexiver und ambivalenter Grenzfall des Semiotischen konzipiert: »kommunikationsprozesse dieser art sind nicht mehr in einfachen verstehensresultaten abschließbar. die anschließbarkeit konzeptioneller texte an interpretationssysteme bleibt unentscheidbar.« 25 Die wissenschaftliche Ästhetik experimenteller Literatur, insbesondere in ihrer konstruktivistischen und kognitionstheoretischen Spielart, gründet auf Vorstellungen von Sprache und Kommunikation, wie sie im Zuge der Übertragung kybernetischer Modelle möglich wurde. Die Entwicklung der Nachrichtentheorie und ihre Erweiterung auf unterschiedlichste Wissensgebiete machte unter anderem eine mathematische Theorie der Information möglich, auf die die informationstheoretische Ästhetik gründet. 26 Die Experimentalkultur der fünfziger und sechziger Jahre wurde maßgeblich durch die Kybernetik und durch kybernetische Modelle bestimmt, die im Verbund mit der Automatentheorie Alan Turings und der Spieltheorie John von Neumanns zu transdisziplinären Modellen ausgeweitet wurden. 27 »Die Kybernetik verstand sich als Wissenschaft, die sowohl von Kühlschränken als auch von sozialen Prozessen handelte«, 28 formuliert Michael Hagner die universelle Kompatibilität kybernetischer Modelle, die schon der Begründer 21 Ebd., S. 148. 22 Ebd. 23 Siehe dazu Siegfried J. Schmidt: Der Kopf, die Welt, die Kunst. Konstruktivismus als Theorie und Praxis, Wien, Köln, Weimar 1992; Zu Literaturwissenschaft und Radikalem Konstruktivismus siehe G. Rusch: »Autopoiesis, Literatur, Wissenschaft«. 24 Kognitionswissenschaftliche Ansätze aufgreifend, entwickelt S.J. Schmidt eine medien- und kulturwissenschaftliche Perspektive. Siehe dazu S.J. Schmidt: Kognitive Autonomie und soziale Orientierung. 25 S.J. Schmidt: »konzeptionelle dichtung«, S. 148. 26 Siehe zu diesem Zusammenhang auch F.A. Kittler: »Signal — Rausch — Abstand«, insb. S. 342f. 27 Weiterführend siehe Pierre Lévy: »Die Erfindung des Computers«, in: Michel Serres, Elemente einer Geschichte der Wissenschaften, Frankfurt/M. 1994, S. 905-944; Claude E. Shannon/John McCarthy (Hg.): Studien zur Theorie der Automaten, München 1974; Rolf Herken: The Universal Turing-Machine. A HalfCentury Survey, Wien, New York 1995. 28 M. Hagner: »Ansichten der Wissenschaftsgeschichte«, S. 18.
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2. EXPERIMENTALISIERUNG VON SCHRIFT UND LITERATUR
der Kybernetik, Norbert Wiener, ins Auge gefasst hatte. Die Kybernetik selbst ist ein Feld intermediärer Übertragungen zwischen technischen, mathematischen, informationstheoretischen Gegenständen, Begriffen und Methoden sowie linguistischen und biologischen, psychologischen und ästhetischen Anwendungsfelder. 29 Die Übertragung von Ideen der neu konzipierten Theorie der Nachrichtentechnik auf unterschiedlichste Disziplinen ist in den Schriften Norbert Wieners angelegt. In seinen Untersuchungen wie »Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung im Lebewesen und in der Maschine« 30 oder auch »Mensch und Menschmaschine« 31 reduziert Wiener die weit zurückreichende Chronologie nachrichtentechnischer Erfindungen zugunsten der Ausweitung der kybernetischen Modelle auf psychologische, kognitive, kommunikative und soziale Phänomene, wobei diese Ansätze wiederum zentral die zeitgleiche Psychologie und die Forschung zur Künstlichen Intelligenz angeregt haben, indem kybernetische Prozesse auf mentale und sprachliche Vorgänge übertragen wurden. 32 Insbesondere für die Informations- und Kommunikationstheorie sind kybernetische Modelle grundlegend und haben dort die Entwicklung von kommunikationswissenschaftlichen Medientheorien eingeleitet. 33 Die Idee rückgekoppelter Regelkreisläufe wird als Modell autopoietischer Systeme fundamental für kognitionswissenschaftliche und systemtheorietische Ansätze, nicht nur in Biologie und Sozialwissenschaft, 34 sondern – wie es Gumbrecht/Pfeiffer unterstreichen – werden zu wissenschaftstheoretischen Modellen anti-hermeneutischer Kulturwissenschaften ausgeweitet. Was den Bereich der Ästhetik betrifft, so haben insbesondere Max Bense und Abraham Moles eine kybernetisch fundierte informationstheoretische Ästhetik entwickelt. 35 Moles führt in seiner Arbeit »Informationstheorie und ästhetische Wahrnehmung« vor, wie strukturalistische und mathematische, informationstheoretische und computertechnische Modelle zu einer wissenschaftlichen Ästhetik zusammengeführt werden. 36 Aus Kybernetik und In29 Zu den imaginativen Potenzialen der Kybernetik siehe insb. Peter Galison: »Die Ontologie des Feindes. Norbert Wiener und die Vision der Kybernetik«, in: H.-J. Rheinberger/M. Hagner/B. Wahrig-Schmidt (Hg.), Räume des Wissens, S. 281-324. Interessante Hintergründe liefert auch die Autobiographie Norbert Wieners: Mathematik. Mein Leben, Düsseldorf, Wien 1962. 30 Siehe Norbert Wiener: Kybernetik. Regelung und Nachrichtenübertragung im Lebewesen und in der Maschine, Düsseldorf, Wien 1963. 31 Norbert Wiener: Mensch und Menschmaschine, Frankfurt/M. 1958. 32 Siehe bspw. Norbert Wiener/J. P. Schade (Hg.): Nerve, brain and memory models, Amsterdam, London, New York 1963. 33 Siehe S.J. Schmidt: Kognitive Autonomie und soziale Orientierung. 34 Siehe H.R. Maturana/F.J. Varela: Der Baum der Erkenntnis. 35 Siehe Max Bense: Einführung in die informationstheoretische Ästhetik. Grundlegung und Anwendung in der Texttheorie, Reinbek b.H. 1969; Abraham Moles: Informationstheorie und ästhetische Wahrnehmung, Schauberg 1971. 36 Abraham Moles’ Informationsästhetik betreibt die zunehmende Formalisierung und Mathematisierung ästhetischer Prozesse, die den physikalischen Prozessen entgegengesetzt, sich durch ein hohes Maß an Unvorhersehbarkeit und Neuheit auszeichnen. Siehe dazu A. Moles: Informationstheorie und ästhetische Wahrnehmung. Ergänzend H. Hartung: Experimentelle Literatur und konkrete Poesie, S. 14f. Siehe auch Albert Kümmel: »Mathematische Medientheorie«, in: D. Kloock/A. Spahr (Hg.), Medientheorien, S. 205-236; sowie für eine an strukturalistischen, linguistischen und mathematischen Modellen orientierte Literaturwissenschaft Helmut Kreuzer/Rul Gunzenhäuser (Hg.): Mathematik und Dichtung, München 1969.
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formationstheorie abgeleitet, sind Ästhetik und Literatur als methodische und naturwissenschaftliche zu verstehen – und insofern nicht mehr einem Bereich der Geisteswissenschaften oder klassischen philosophischen Kunst-Ästhetik zuzurechnen. Zur »informationellen Poetik« bemerkt Moles in diesem Sinne: »Experimentelle Ästhetik ist nicht Kommunikations-Kunst, sie ist Kommunikations-Wissenschaft.« 37 Entsprechend der wissenschaftlichen Methoden des Analysierens, Synthetisierens und Formalisierens eines Zeichenrepertoires und seiner Regeln schlägt Moles zur Untersuchung poetischer und künstlerischer Nachrichten ein komplexes Modell vor, das grammatikalische und strukturelle Aspekte ebenso quantifiziert wie psychophysische: »Zur Erneuerung der Imagination muß die ›Poetik‹ das wissenschaftliche Denken als wirkungsvolles Hilfsmittel verwenden.« 38 Dieses intermediäre Feld von Mathematik, Kybernetik und Ästhetik lässt sich weit reichender noch als in der konkreten Poesie oder den theoretischen und praktischen Arbeiten S.J. Schmidts in der Poetik der »Werkstatt für potenzielle Literatur« beobachten. Die in Frankreich arbeitende Gruppe Oulipo (Ouvroir de littérature potentielle), die sich 1960 als »Seminar für experimentelle Literatur« gegründet hat, entwickelt Konzeptionen von Schrift und Literatur in diesem die fünfziger und sechziger Jahre bestimmenden experimentalkulturellen Feld und arbeitet an der Formalisierung der Literatur, parallel zu anderen wissenschaftlichen und kulturellen Bereichen, in denen Mathematik, Logik und Automatentheorie zu zentralen organisierenden Modellen werden. 39 In einer Untersuchung der Arbeiten der Gruppe Oulipo, in der sich Mathematiker und Literaten wie François LeLionnais und Raymond Queneau, Paul Braffort, Georges Perec und Jaques Roubaud zusammengeschlossen haben, sind unterschiedliche Aspekte einer experimentellen Poetik im intermediären Feld von Literatur und Wissenschaft zu beobachten. Augenfällig sind die Transformationsprozesse im Zwischenfeld von Literatur und Mathematik, anhand derer Konstituierungsprozesse wissenschaftlicher und ästhetischer Diskurse deutlich werden. In kulturwissenschaftlicher Perspektive lassen sich sprachliche, semiotische und symbolische Techniken der Wissensproduktion sowie die dazugehörigen Aufschreibesysteme beleuchten. Konzepte, die das wissenschaftskulturelle Feld modellbildend durchziehen, wie das Schachspiel, die Struktur oder der Algorithmus, können in ihrem Funktionieren als kulturelle Metaphern rekonstruiert werden. An der Bestimmung und am Gebrauch dieser Metaphern lässt sich das Verständnis von Wissenschaftlichkeit ablesen, das die experimentalkulturelle Szene bestimmt und in den fünfziger und sechziger Jahren durch Mathematik, Kybernetik, Automaten- und Computertheorie geprägt ist. An die Frage, wie sich Literatur in diesem Feld positioniert, schließt sich eine zweite Frage nach der Funktion der Literatur innerhalb des wissenschaftlichen Feldes bzw. nach den Reflexionsperspektiven der Literatur auf das wissenschaftliche Feld hin an. Über eine wissenschaftli37 A. Moles: Informationstheorie und ästhetische Wahrnehmung, S. 221. 38 Ebd., S. 233. 39 Bernd Dotzler spricht von der »Formation [...] eines homogenen Wissensraums für Literatur und Maschine, Wörter und Zahlen, Dichtung und Mathematik«. Bernd Dotzler: Papiermaschinen. Versuche über communication & control in Literatur und Technik, Berlin 1996; zit. nach N. Binczek/N. Pethes: »Mediengeschichte der Literatur«, S. 307
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che Ästhetik hinaus werden mit Blick auf das Collegium ’Pataphysikum, als dessen Untersektion sich Oulipo konstituiert, Aspekte einer spielerischen und phantastischen Wissenschaftspoetik relevant, wodurch die mathematischformalistische Theorie oulipistischer Literatur entscheidende Verschiebungen erfährt. Die oulipistische Poetik ist auf vielfältige Weise mit der experimentalkulturellen Szene der fünfziger und sechziger Jahre verflochten, sodass ihre Untersuchung die Wurzeln der Reflexion von Materialität und Medialität in Bezug auf den Komplex von Kybernetik, Kommuniktionstheorie und Medienwissenschaft erhellt. In der Poetik und den Arbeiten Georges Perecs lässt sich dann die Brücke von diesen Ansätzen zu den postrukturalistischen Konzeptionen von écriture und Literatur schlagen. In einzigartiger Weise erlaubt Oulipo Einsichten in die Grundlagen der kultur- und medientheoretisch orientierten Literatur und Literaturtheorie. Die nähere Betrachtung der Wissenschaft und Phantastik zusammenführenden Praktiken des Collegium ’Pataphysikum beleuchtet ein Denken, das grundlegend für die Poetik der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts ist, auch für die so genannte postmoderne Literatur, wie sie mit den Namen Borges, Calvino, Queneau und Perec verbunden ist. Die Beschreibung oulipistischer Literatur, einerseits als kombinatorische Spielerei, andererseits als formalistische Reduktion von Literatur auf linguistische Modelle, erscheint vor diesem Hintergund als bei weitem nicht ausreichend. Die Subsumierung unter die Kategorie der Nonsenseliteratur erweist sich angesichts der in dieser Arbeit vorgestellten Argumentation wenn nicht als unzutreffend, so doch zumindest in ihrer Aussagekraft für die literarische Konzeption und Praxis als unzureichend. 40 Inwiefern die oulipistische Konzeption literarischer Techniken und Textformen im Zusammenhang mit wissenschaftlichen Denkmustern und Arbeitstechniken steht und insofern als Wissenschaftspoetik zu verstehen ist, zeigt sich exemplarisch an einem Aufsatz des italienischen Schriftstellers und Oulipo-Mitglieds Italo Calvino. Der Text »Kybernetik und Gespenster«41 zeichnet die Konstitution von Literatur in einem intermediären Feld von Kybernetik, Formalismus und Strukturalismus nach. Der Aufsatz versteht sich als ein Beitrag zur Erzählforschung, der auf formalistischen Erzähltheorien aufbaut und den Ursprung des Erzählens in der Erforschung der in der Sprache angelegten lexikalischen und grammatischen Möglichkeiten sieht. Über den wissenschaftlich-formalistischen Ansatz und die Pluralität der herangezogenen Methoden, Modelle und Metaphern hinaus, beschreibt Calvino die soziale Funktionalisierung der literarischen Praktiken, deren Aufgabe es sei, die zunehmende Komplexität der Erfahrungswelt sprachlich fassbar zu machen. Er entwirft einen Ansatz, der anthropologische und technische Argumentation 40 Siehe zu dieser Einordnung der experimentellen Literatur in die Kategorie der »Unsinnspoesie« Humbertus von Amelunxen: »OuLiPo — oder die Eintreibung des Sinns aus dem Unsinn«, in: Theo Stemmler/Stefan Horlacher (Hg.), Sinn im Unsinn. Über Unsinnsdichtung vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert, Tübingen 1997, S. 57-70. 41 Italo Calvino: »Kybernetik und Gespenster«, in: ders., Kybernetik und Gespenster. Überlegungen zu Literatur und Gesellschaft, München 1984, S. 7-26. Zu Calvino als Oulipo-Mitglied siehe Anna Botta: »Calvino and the Oulipo: An Italian Ghost in the Combinatory Machine?«, in: Modern Language Notes (MLN) 112 (1997) H. 1, S. 81-89; Warren Motte: »Calvino and the Oulipo«, in: Romance Notes 39 (1999) H. 2, S. 185-193.
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verbindet – ganz im Sinne des Programms einer anthropologisch orientierten Materialität der Zeichen, wie Karl Ludwig Pfeiffer es skizziert.42 Calvino beschreibt, wie die Zuordnung von Welt und Wort im Zeichenprozess, in der sich auch poietische und magische Praktiken und Funktionen der Sprache begründen, sich in der syntaktischen Dimension von Sprache abspielt, in ihren syntagmatischen und paradigmatischen Relationen: »Die feste Welt, welche den Stammesmenschen umgab, bevölkert von Zeichen, von flüchtigen Entsprechungen von Wörtern und Dingen, belebte sich durch die Stimme des Erzählers, ordnete sich zum Fluß der Rede-Erzählung, innerhalb derer jedes Wort neue Werte annahm und sie weitergab an die Gedanken und Bilder, die von ihm bezeichnet wurden; jedes Tier, jeder Gegenstand, jedes Verhältnis gewann heilende und schädliche Kräfte, die später als magische Kräfte bezeichnet werden, welche man aber erzählerische Kräfte nennen könnte, Potentiale, die das Wort in sich trägt, die Fähigkeit, sich auf der Sprechebene mit anderen Wörtern zu verbinden.« 43
Diese anthropologische Theorie der Mythen, Märchen und Erzählungen entwickelt Calvino mit Hinweis auf die formalistischen und strukturalistischen Modelle von Vladimir Propp und Claude Lévi-Strauss, wobei er diese insbesondere auf die ihnen zugrunde liegenden mathematischen Verfahren der Kombinationsanalyse zurückführt. Dieses die Verbindung von Anthropologie und Mathematik unterstreichende Modell stellt Calvino in ein Panorama von Diskursen der fünfziger und sechziger Jahre, das die Verflechtung von Wissenschaft, Technik und Weltbild erhellt, in der Literatur und Poetik sich verorten. Den Leitideen von Strukturalität, Formalisierbarkeit und Kombinatorik folgend, lassen sich strukturale Linguistik und mathematische Transformationsmodelle mit den biologisch-kognitiven Wurzeln der logischen Prozesse, auf die die Grammatik Chomskys rekurriert, verbinden, dies ist wiederum kompatibel mit der Reduktion aller Lebensformen auf Säuren und Basen im Anschluss an die Entdeckung der DNA durch Watson und Criek. Calvino zeichnet ein Feld von wissenschaftlichen Modellen zu Sprache, Denken und Leben und entwirft davon ausgehend ein Konzept von Literatur, das weniger aufgrund seiner »Wissenschaftlichkeit« interessant ist als dadurch, dass es Aufschluss gibt, wie Vorstellungen von wissenschaftlichem Wissen in Bildern und Metaphern konstruiert und vermittelt werden. Calvinos Erzähltheorie verbindet Kybernetik und das in diesen Modellen nicht erklärbare Anthropologische, die »Gespenster«. Damit zeichnet er eine Entwicklung von einer nachrichtentheoretischen Ästhetik zu einer anthropologisch orientierten Medienästhetik vor. Das Modell eines aus diskreten Elementen gebildeten Systems, das sowohl strukturalistischen als auch kybernetischen Theorien zugrunde liegt, die Calvino in seinem Aufsatz »Kybernetik und Gespenster« ausführlich im Hinblick auf Sprache, Literatur und Kultur erläutert, findet seine exemplarische
42 Siehe K.L. Pfeiffer: »Dimensionen der ›Literatur‹«; siehe Kapitel 1.1, S. 24f. der vorliegenden Arbeit. 43 I. Calvino: »Kybernetik und Gespenster«, S. 8.
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Darstellung im Bild vom Schachspiel. 44 Das Schachspiel fungiert in unterschiedlichen Disziplinen als zentrales Modell, in ihm kreuzen sich wissenschaftliche Diskurse, sodass sich an ihm Übertragungen und Transformationen zwischen angrenzenden Wissenschaftsbereichen nachvollziehen lassen. Es sind die Vorstellungen von Sprache und Denken als strategische und regelgeleitete Prozesse, die in prominenter Weise Ferdinand de Saussure durch die Metapher des Schachspiels veranschaulicht. Calvinos Formulierung, »unser Gehirn [ist] ein Schachbrett« 45 verkürzt ein komplexes diskursives Feld der Theorie mentaler Prozesse, wie es in den sechziger Jahren ausgehend von der Kybernetik in Psychologie, Kognitionswissenschaft und Kreativitätsforschung entwickelt wurde, in ein einprägsames Bild. Die der SchachMetapher im Hinblick auf Denkprozesse zugrunde liegende Verknüpfung von mathematischer Logik, Informationstheorie und Intelligenzforschung stellt der Mathematiker und Oulipo-Autor Paul Braffort in seinem 1968 erschienenen Buch »L’intelligence artificielle« differenziert dar. 46 Die Simulation von strategischen Spielen, beispielsweise des komplexen Schachspiels, mittels elektronischer Rechenmaschinen konstituiert einen Schnittpunkt zwischen der Spieltheorie John von Neumanns, der sich in den fünfziger und sechziger Jahren entwickelnden Computerwissenschaft und den Forschungen zu Denken und Sprache. Diese mittels des Schach-Modells verbundenen Komplexe differenziert Braffort folgendermaßen: Es sind logisch-mathematische Prozesse, die menschliche und maschinelle Intelligenz vergleichbar machen, wobei die Forschung zur Künstlichen Intelligenz nicht vom Funktionieren des Gehirns ausgeht, sondern von der Formalisierung der mathematischen Logik als Grundlage jeglicher symbolmanipulierender Systeme; als solche werden auch Sprache und Denken angesehen. 47 Schach als Prototyp des regelgeleiteten Spiels wird somit zum Modell für die logischen Denkprozesse und die Grammatik der Sprache. 48 Braffort schreibt die Wissenschaftsgeschichte der Erforschung des kombinatorischen Denkens als Suche nach Regeln der Symbolmanipulation, von den antiken und scholastischen Formalisierungen des Denkens über Leibniz‘ ars combinatoria bis hin zu den Re-
44 Das exemplarische Beispiel der Zusammenführung von Schach und Literatur ist Lewis Carrolls um eine Partie Schach konstruierte Erzählung »Alice im Wunderland« (1865). 45 I. Calvino: »Kybernetik und Gespenster«, S. 11. 46 Paul Braffort: L’intelligence artificielle, Paris 1968. Siehe dazu auch Walter R. Fuchs: Knaurs Buch der Denkmaschinen. Informationstheorie und Kybernetik, München, Zürich 1968. Fuchs macht in sehr anschaulicher Weise, im Rückgriff auf Wittgensteins Begriff des Sprachspiels, die Zusammenhänge von Kognition, Sprache und Computertechnologie deutlich. 47 P. Braffort: L’intelligence artificielle, S. 76. 48 Eine Kritik an dieser Formalisierungen von Sprache und Denken im Bild des Schachspiels übt insb. John R. Searle: Geist, Gehirn, Wissenschaft. Die Reith Lectures 1984, Frankfurt/M.1986. Searle formuliert bis heute gültige Einwände für die Diskussion der Künstlichen Intelligenz und der Philosophie des Geistes. Im Gedankenexperiment des chinesischen Zimmers macht er die Unvergleichbarkeit von maschinellem und menschlichem Sprachhandeln deutlich, indem er einerseits die maschinelle Fähigkeit zur Syntax der menschlichen semantischen Kompetenz gegenüberstellt, andererseits Intentionalität als zentrales Phänomen des menschlichen Bewusstseins definiert. Einen guten Überblick geben: Sybille Krämer (Hg.): Geist, Gehirn, Künstliche Intelligenz, Berlin 1994; Dieter Münch (Hg.): Kognitionswissenschaft. Grundlagen, Probleme, Perspektiven, Frankfurt/M. 1992.
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chenmaschinen, wie sie in der Erfindung durch Charles Babbage zum Computer weiterentwickelt werden. 49 In diese Geschichte der Abstraktion kombinatorischer Operationen, die es ermöglicht, menschliches Handeln und maschinelle Prozesse mittels des Bildes vom Schachspiel kompatibel zu machen, schreibt sich die Literaturauffassung des Ouvroir de littérature potentielle (Oulipo) mit ihrer Stoßrichtung der Formalisierung literarischer Prozesse und dem Ziel der Unterstützung dichterischer Kreativität ein, wie es Braffort kurz unter dem Stichwort der »littérature artificielle« anspricht. 50 In ähnlicher, auf kognitive Prozesse orientierter Perspektive, mit Blick auf Arten der Sinnbildung und des Verstehens, ordnet der Texttheoretiker Wolfgang Raible die Arbeiten des Oulipo in ein Schema, das sprachspielerische Verfahren verzeichnet. Raible legt das Augenmerk auf die Verfahren als Akte des Kommentierens, die er als eine Form generischer Intertextualität beschreibt. 51 In den Operationen des Übersetzens, der Abstraktion, der Expansion und anderen vergleichbaren Akten intertextuellen Kommentierens erkennt Raible grundlegende Prozesse des Verstehens, das er als schöpferische Adaption beschreibt. Diesen Ansatz weitet er auf Textgattungen aus, die er in anthropologischer Dimension wiederum mit Arten des Verstehens in Beziehung setzt. Die Methoden und Textformen Oulipos ordnet er jeweils Arten des Sinnbildens und des Verstehens zu. Diese Verknüpfung von Textformen, Kognition und Anthropologie schlägt den Bogen zurück zu Calvinos anthropologischer Wissenschaftspoetik. Der entscheidende Punkt von Calvinos Aufsatz ist der mit Hilfe der skizzierten wissenschaftlichen Methoden nicht zu erklärende Umschlag von sprachlichem Kombinationsspiel in individuellen und gesellschaftlichen Sinn. »Die literarische Maschine kann in einem gegebenen Material alle möglichen Verwandlungen bewirken; aber das dichterische Resultat ist die besondere Wirkung einer dieser Verwandlungen auf den Menschen, der ein Bewußtsein und ein Unbewußtes besitzt, also auf den empirischen und historischen Menschen — es ist der Schock, der nur deshalb zustande kommt, weil um die schreibende Maschine die verborgenen Gespenster des Individuums und der Gesellschaft schweben.« 52
49 Vgl. P. Braffort: L’intelligence artificielle, S. 163-166. Siehe ergänzend P. Lévy: »Die Erfindung des Computers«. 50 An das Kapitel zur »littérature artificielle« schließt sich bei Braffort die Behandlung der »musique artificielle« an. Auf mathematische Muster der Kombinatorik und algorithmische Strukturen, die der Kompositionstheorie von Mozart bis Stockhausen, vom Jazz bis John Cage unterliegen, weist auch Le Lionnais hin. Vgl. François Le Lionnais: »A propos de la littérature expérimentale«, in: Oulipo, La littérature potentielle, Paris 1973, S. 250-253, hier S. 253. Diesen Aspekt musikalisch-textueller Regelzwänge in den Werken der Oulipisten untersucht auch Susanne Winter: »A propos de l’Oulipo et de quelques contraintes musico-textuelles«, in: Peter Kuon (Hg.), Oulipo — poétiques. Actes du colloque de Salzburg, Tübingen 1999, S. 173-192. 51 Siehe Wolfgang Raible: »Arten des Kommentierens — Arten der Sinnbildung — Arten des Verstehens«, in: Jan Assmann/Burhard Gladigow (Hg.), Text und Kommentar. Archäologie der literarischen Kommunikation IV, München 1995, S. 51-74. 52 I. Calvino: »Kybernetik und Gespenster«, S. 22.
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An dieser Stelle bringt Calvino den in kybernetischen und informationsästhetischen, strukturalen und systemischen Ansätzen ausgeschlossenen Menschen ins Spiel. Die mit den Geisteswissenschaften vergangenen Entwürfe der Humanwissenschaften spuken als Gespenster um das technizistische Weltbild der sechziger Jahre. In der Zusammenführung von anthropologischen und phantastischen Potenzialen wird die Literatur zum Ort der Reflexion sich ihrer materiellen und medialen Verkörperungsprozesse bewusster Selbstentwürfe des Menschen. Calvinos Unterstreichen von Wirkung und Schock, Bewusstsein und Unterbewusstsein bringt die affektiven, die ehemals als niedrige Erkenntnisvermögen bezeichneten Dimensionen ins Spiel und damit das Ästhetische, nicht in einem informationsästhetischen Sinne, sondern in Materialität und Anthropologie verbindender medienästhetischer Perspektive. Literatur ist der Ort, an dem diese Räume des Ästhetischen innerhalb der experimentalkulturellen Szene ausgelotet werden. Dem Phantastischen und dem Spielerischen kommt dabei eine zentrale Rolle zu, bei Calvino und Borges, Queneau und Perec. Literatur wird zu einem Ort der Interaktion von rationaler Methodik und irrationaler Phantastik. Die in der rationalen Sprache nicht zu artikulierenden Regionen menschlicher Vorstellungskraft, die Territorien des Komischen, Erotischen, Phantastischen 53 zu gestalten, ist die eigenste Möglichkeit der Literatur: »Der Kampf der Literatur ist eben eine Anstrengung, aus den Grenzen der Sprache auszubrechen; sie beugt sich über den äußersten Rand des Sagbaren hinaus.« 54 Die aus dem Logischen ausgegrenzten Bedeutungen zeigen sich, so Calvino, in den »geliehenen Wörtern, gestohlenen Symbolen, Sprachschmuggeleien« 55 der Literatur. Calvino zeichnet eine Literaturkonzeption, die von einer experimentellen, methodischen und in Auseinandersetzung mit den zeitgenössischen Wissenschaftstheorien entwickelten Poetik ausgeht, diese Modelle ins Spiel bringt und daraus phantastische und ästhetische Potenziale gewinnt: »Die mythische Wertigkeit kann man letztlich nur finden, wenn man fortfährt hartnäckig mit den erzählerischen Funktionen zu spielen.« 56 Hier artikuliert sich eine experimentelle Poetik, die die Erkundung der Materialität der Zeichensysteme mittels wissenschaftlich inspirierter Methoden als Grenzgang zwischen kybernetisch-mathematischen Modellen einerseits und anthropologisch-ästhetischen Dimensionen andererseits unternimmt. Es sind also zwei Richtungen experimenteller Ästhetik in demselben intermediären Feld von Wissenschaft und Literatur, die bei der konkreten Poesie als Informationsästhetik einerseits und Italo Calvino als anthropologisch orientierte Ästhetik andererseits deutlich werden. Diese, aus der Reflexion der Materialität der Schrift und Sprache hervorgegangenen Ästhetiken sind für die Entwicklung einer medien- und kulturwissenschaftlich orientierten Literatur und Literaturwissenschaft von grundlegender Bedeutung. Wie Konzeptionen von Schrift und Text an den Grenzen der Sprache – verflochten in eine wissenschaftskulturelle Szene – durch nicht-literarische 53 Siehe die entsprechenden Kapitel zu den Territorien des Komischen, Erotischen und Phantastischen in: I. Calvino, Kybernetik und Gespenster, S. 36-37, 38-42, 43-45. 54 I. Calvino: »Kybernetik und Gespenster«, S. 18. 55 Ebd., S. 20. 56 Ebd., S. 23.
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Modelle erweitert werden und wie Schrift als symbolmanipulierendes System in neue literarische Formen transformiert wird, lässt sich an den vielfältigen Arbeiten der Gruppe Oulipo nachvollziehen.
2.2 Wissenschaftspoetik der potenziellen Literatur. Oulipo 2.2.1 Poetik im intermediären Feld von Schrift und Mathematik »[...] nous prenions conscience de notre utilité — et, suprême encouragement, nous savions désormais à quoi précisement nous pouvions servir: aider à comprendre le fonctionnement de l’écriture et, pour les plus doués, aider à la création littéraire.« 57
Die Werkstatt für potenzielle Literatur (Ouvroir de littérature potentielle, Oulipo), 58 die 1960 als Seminar für experimentelle Literatur von Raymond Queneau und François Le Lionnais gegründet wird, entwickelt Konzeptionen von Schrift und Literatur in Auseinandersetzung mit den avanciertesten zeitgenössischen Theorien der wissenschaftskulturellen Szene. Die Mathematiker, Schachtheoretiker, Informatiker und Autoren konstituieren ein Feld, in dem wissenschaftliche und poetische Argumentationen und Modelle interagieren. In den Übertragungsprozessen werden Bedingungen, Prozesse und Techniken der Organisation von Wissen und kultureller Semantik deutlich und Entwürfe von Schrift und Literatur rekonstruierbar. Die Werkstatt für potenzielle Literatur beschreibt in einem programmatischen Bericht, der einer Sammlung von Sitzungsprotokollen der Arbeitstreffen vorangestellt ist, die eigene Entstehungsgeschichte und skizziert die Poe57 Noël Arnaud, N.: »Et naquît l’Ouvroir de Littérature Potentielle«, in: J. Bens, OuLiPo. 1960-1963, Paris 1980, S. 7-14, hier S. 13. 58 Wenn auch Oskar Pastior sich dafür ausspricht, das Adjektiv »oulipotisch« zu verwenden und sich selber als »Oulipianer« bezeichnet (Vgl. Oskar Pastior: »Spielregel, Wildwuchs, Translation«, in: Jürgen Ritte/Hans Hartje (Hg.), Oulipo. Affensprache, Spielmaschinen und allgemeine Regelwerke, Berlin 1997, S. 73-82, hier S. 74), so werden in der vorliegenden Arbeit die allgemein üblichen Übersetzungen »oulipistisch« und »Oulipisten« verwendet. Die ursprüngliche französische Schreibung »OuLiPo« verlor im Laufe der Zeit ihren Abkürzungscharakter und findet sich heute durch »Oulipo« ersetzt; die vorliegende Arbeit schließt sich dieser Schreibung an. Ursprüngliche Mitglieder des Oulipo: Noël Arnaud, Jacques Bens, Claude Berge, Jacques Duchateau, Latis, François Le Lionnais, Jean Lescure, Raymond Queneau, Jean Queval, Albert-Marie Schmidt; zu einem späteren Zeitpunkt wurden aufgenommenen: Marcel Bénabou, Luc Etienne, Paul Fournel, Georges Perec, Jacques Roubaud; korrespondierende Mitglieder im Ausland: André Blavier (Belgien), Paul Braffort (Niederlande), Italo Calvino (Italien), Stanley Chapman (Groß-Britannien), Ross Chambers (Australien), Marcel Duchamp (U.S.A.), Harry Mathews (U.S.A.).Vgl. J. Bens: OuLiPo, S. 15. Da Oulipo sich zu einer internationalen Organisation erweiterte, kamen in den folgenden Jahren zahlreiche Mitglieder hinzu, die aber im Hinblick auf die in der vorliegenden Arbeit untersuchte Konstellation der sechziger und siebziger Jahre vernachlässigt werden können.
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tik potenzieller Literatur. 59 Vor dem Hintergrund einer Archäologie menschlicher Kulturtechniken wird eine Art Ursprungsszene entworfen, in der Zählen und Dichten als einander verwandte operative und kombinatorische Symboltechniken vorgestellt werden: »[…] et nul ne conteste que le fainéant du Néandertal (ou d’avant) qui, par désœuvrement, se prit un jour à compter ses doigts de pieds a ouvert la voie des mathématiques et, poétiquement, jeté les bases du décasyllabe […]. Avant Sumer, il y avait l’OuLiPo (François Le Lionnais, CR du 22.3.63) [...].« 60
In dieser fiktiven Szene wird potenzielle Literatur aus der Perspektive struktureller Konstruktionstechniken bestimmt, die selbst der Schrift noch vorgelagert sind – mit Gumbrechts Formel von »Sinn/Verkörperung« gesprochen wird potenzielle Literatur von Seiten der materiellen Verkörperung her bestimmt. Das Denken in numerischen Systemen, wie es die französische Dichtungstradition bestimmt, wird zur grundlegenden Idee potenzieller Literatur, der Zehen zählende Neandertaler zum ersten Handwerker in der Werkstatt für potenzielle Literatur. Eine sich durch diese Potenzialität des Kombinatorischen bestimmende Konstruktion von Sprache und Dichtung wird zur Urform von Schrift und Literatur erklärt. 61 Das oulipistische Literaturverständnis stellt Dichtung im Rahmen einer experimentalkulturellen Szene vor, in der die Kulturtechniken Schrift, Bild und Zahl interagieren und unterschiedliche Aufschreibesysteme konstituieren. Die von Oulipo vorgestellte Archäologie der Schrift und der Literatur trifft sich mit der aktuellen kulturwissenschaftlichen Schriftforschung, welche die Geschichte der Schriftsysteme in ihren materialen, funktionalen, sozialen und kulturellen Aspekten erforscht und den Ursprung von Alphabetschriften im kaufmännischen Kontext und den dort gebräuchlichen Zählmarken und Zeichen sieht. 62 Diese Aufzeichnungssysteme der Buchhaltung, die zur Niederschrift von Königslisten, Geschichtsereignissen und Mythen weiterentwickelt werden, stehen am Beginn sowohl der literarisch-kulturellen Schriftsysteme und Textgattungen wie der unterschiedlichen Wissenschaften mit ihren spezifischen schriftbasierten Darstellungsformen. Wie Oulipo Mathematik und Dichtung in Beziehung zueinander setzt, so entwickelt die seit den fünfziger Jahren betriebene Schriftforschung integrative Ansätze, die 59 N. Arnaud: »Et naquît l’Ouvroir de Littérature Potentielle«. Die Protokolle der Arbeitssitzungen aus den Jahren 1960-1963 sind versammelt in J. Bens: OuLiPo. 60 N. Arnaud: »Et naquît l’Ouvroir de Littérature Potentielle«, S. 8. 61 Diese phantastische Archäologie der Dichtung setzt Jacques Bens fort und führt die Sonettform, diese prototypische Matrix regelhafter neuzeitlicher Dichtung, auf rituelle sumerische Liebesdichtung zurück. Er berichtet, in einem Buch zur sumerischen Geschichte von einer Zeremonie gelesen zu haben, in der am letzten Tag des sumerischen Jahres eine Priesterin dem König ein Liebesgedicht vortrage, dessen Strophenform — 4 Verse, 4 Verse, 6 Verse, 4 Verse, 4 Verse, 6 Verse — er als doppeltes Sonett identifiziert habe. Vgl. J. Bens: OuLiPo, S. 188f. 62 Eine anschauliche Einführung in die Entstehung von Sprache und Schrift bietet die Kulturgeschichte der menschlichen Verständigung von Martin Kuckenburg: ... und sprachen das erste Wort. Die Entstehung von Sprache und Schrift. Eine Kulturgeschichte der menschlichen Verständigung, Düsseldorf 1996. Für einen Überblick über den Stand der Schriftforschung siehe H. Günther/O. Ludwig (Hg.): Schrift und Schriftlichkeit.
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auch anthropologische und kognitive Fragestellungen in den Blick nehmen und sich zunehmend Aspekten einer Medien-, Technik- und Wissenschaftsgeschichte zuwenden. Notations-, Ordnungs- und Repräsentationssysteme werden untersucht, die in jeweiligen kulturellen Konstellationen von Techniken, Wissenschaften und Künsten neben der Schrift weitere Symbolsysteme wie Bild und Zahl integrieren. 63 Wie Oulipo eine mathematische und dichtende Tätigkeit verbindende Perspektive setzt, die nicht zwischen literarischer und naturwissenschaftlicher Intelligenz trennt, wie es in der experimentalkulturellen Szene der fünfziger und sechziger Jahre vorherrscht, so transzendiert die als kulturwissenschaftliche betriebene aktuelle Wissenschaftsgeschichte in der Erkundung komplexer Zeichensysteme die Kategorien künstlerischer und wissenschaftlicher, natur- und geisteswissenschaftlicher Systeme zugunsten einer Perspektive auf die Interaktionen von Wissenschaft, Technik und Kunst. In diesem Sinne schreibt sich der Forschungsansatz der Werkstatt für potenzielle Literatur in eine experimentakulturell orientierte Wissenschaftsgeschichte der Kulturtechniken ein, indem sie, ausgehend von der metrischen Dichtung, einen Literaturbegriff und eine Praxis entwickelt, in denen sich numerische und literarische Methoden und Darstellungsweisen überschneiden, beispielsweise durch die Integration von Notationssystemen wie Tabellen, Diagrammen und Graphen in die literarische Produktion. Literatur basiert also keineswegs ausschließlich auf Schrift, sondern wird als integratives, experimentelles Aufschreibesystem unterschiedlicher Symboltechniken vorgestellt. Die Tradition derart verstandener potenzieller Literatur lässt sich im Rahmen einer Geschichte alphabetischer und numerischer Aufzeichnungssysteme rekonstruieren. In der Perspektive der kulturhistorischen Schriftforschung steht Literatur neben anderen aus der Kombinatorik numerischer und alphabetischer Strukturen hervorgegangener kulturellen Praktiken, ist beispielsweise in der sprach- und kulturwissenschaftlichen Studie von Helmut Glück den »sekundären Funktionen der geschriebenen Sprachform« 64 zugeordnet und in die Rubrik »Spiel, Poesie, Kunst und Trivialitäten« zu Schriftmystik und Schriftmagie, Buchstabenzauber und Alphabetmagie einsortiert. Erkennbar wird hier die unterschiedliche kulturelle Funktionalisierbarkeit vergleichbarer Schriftformen. Wie magisch-okkulte und religiös-spiritualistische Praktiken ein Bild von Welt als regelhaftes System aus Korrespondenzen, Strukturen und Analogien implizieren, so ist auch die Konzeption einer Literatur als Spiel kombinatorischer Strukturen auf einen jeweiligen experimentalkulturellen Hintergrund bezogen – wie es sich hier für Oulipo nachvollziehen lässt. Literatur erweist sich dabei als aus dem kulturell funktionalisierten, rituell-religiösen Gebrauch hervorgegangener experimenteller und spielerischer Umgang mit kulturellen Aufzeichnungssystemen.
63 Zum aktuellen Stand der Forschungen siehe insb. das Graduiertenkolleg »Institutionelle Ordnungen, Schrift und Symbole« an der Technischen Universität Dresden (www.tu-dresden.de/egk/ vom 10.08.2004) sowie das Projekt »Bild Schrift Zahl« am Hermann von Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik der Humboldt Universität Berlin (www2.hu-berlin.de/kulturtechnik/bsz.php?show= startseite vom 10.08.2004) und die in diesem Umfeld unternommenen Tagungen und Publikationen, bspw. Sybille Krämer/Horst Bredekamp (Hg.): Bild — Schrift — Zahl, München 2003. 64 Siehe H. Glück: »Sekundäre Funktionen der geschriebenen Sprachform«.
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Literaturgeschichtlich formuliert steht Oulipo in einer Genealogie, die sich von der Entstehung der Schrift, über die Zahlenmystik zu einem Schreiben als Planspiel im Rahmen einer technisch-rationalistischen Ästhetik entwickelt, 65 eine Tradition, die Methoden und Formen von Alphabettexten, Bild-Schriften und Schrift-Bildern, wie sie auch in pragmatisch-rituellen Kontexten verwendet werden, ins Zentrum der Poetik stellt, wie es im zwanzigsten Jahrhundert der futuristische und dadaistische Modernismus, die experimentelle, die konkrete und visuelle Poesie aufgreifen, reaktualisieren und weiterentwickeln. 66 In den Blick zu nehmen ist die jeweilige wissenschaftlich-kulturelle Konstellation, in der Zahlentheorie, Poetik und Literaturtheorie zu einer Konzeption von Literatur als numerisch organisierte Zeichensprache verbunden werden. Raoul Schrott beispielsweise beleuchtet Programmatik und Formen der konkreten Poesie vor dem Hintergrund der Geschichte der Schrift. Fragen der Form und Strukturierung von Sprache und Schrift, wie die Beziehung von Laut und Zeichen oder eine Grammatik elementarer Symbole, sieht er als gemeinsame Fragestellung in der Schriftentwicklung wie in der experimentellen Poesie: »Damit schöpft die konkrete Poesie genau jenen Raum aus, der jedem bereits erstellten Alphabet eignet und den bereits die Erfindung der Schrift in ihren gegensätzlichen Koordinaten von abstrakten Zeichen und Piktogrammen umreißt.« 67 An diese Untersuchungen zu den Kulturtechniken der Schrift schließen sich anthropologische und kognitive Erklärungsansätze an, sei es in der Schriftforschung wie bei Derrick de Kerckhove, 68 sei es bei Raoul Schrott, der Figuren des Symmetriedenkens in Mathematik und Poetik als Ausdruck kognitiver Muster beschreibt: »Unser Gehirn ist von der Evolution her darauf angelegt, in jedem Ausschnitt ein Muster wahrzunehmen, eine Gestalt, Rahmen und Diagonalen. Es ist ein biologischer Instinkt, der uns nach Ordnungen suchen läßt.« 69 65 Siehe dazu Raoul Schrott: »Über die antiken Wurzeln der Konkreten Poesie und die Geschichte der Schrift«, in: ders., Die Erde ist blau wie eine Orange. Polemisches, Poetisches, Privates, München 1999, S. 93-112. Zu Oulipo siehe Eva Ludwig: »Rückkehr ohne Ankunft. Zum Ouvroir de littérature potentielle«, in: Lendemains 52 (1989), S. 29-32 66 Einen Einblick in die aktuelle Forschung zu Bild-Text-Interaktionen in der Dichtung geben: Ulla Fix/Hans Wellmann (Hg.): Bild im Text — Text im Bild, Heidelberg 2000; Wolfgang Harms (Hg.): Text und Bild, Bild und Text. DFGSymposion 1988, Stuttgart 1990. Rolf Günter Renner: »Schrift-Bilder und Bilder-Schriften. Zu einer Beziehung zwischen Literatur und Malerei«, in: Peter V. Zima (Hg.), Literatur intermedial. Musik — Malerei — Photographie, Darmstadt 1995, S. 171-208. 67 R. Schrott: Die Erde ist blau wie eine Orange, S. 99. 68 Siehe D. de Kerckhove: Schriftgeburten. 69 R. Schrott: Die Erde ist blau wie eine Orange, S. 45. In Wissenschaften und Poetiken zeigt Schrott symmetrische Figuren als Beispiele der Organisation von Sinneswahrnehmungen, von Erfahrung, Information und Bedeutung auf. Siehe insb. Teil II: Poesis und Physis, darin das Kapitel: Über die Symmetrie der Poesie, S. 29-48; und: Die primären Prozesse der Poesie und die Musik, S. 75-92. Siehe auch Raoul Schrott: Die Erfindung der Poesie, München 1999, S. 7-23. Schrott vetritt einen kognitiv-anthropologischen Ansatz, vergleichbar der modernen Soziobiologie, wie sie Edward O. Wilson prominent gemacht hat; siehe Edward O. Wilson: Die Einheit des Wissens, München 2000. Wilson stellt einerseits eine kompensatorische Theorie der Kunst und Religion als
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SZENEN DER SCHRIFT »Die Poesie steht beständig auf der Kippe zwischen dem Chaos und der Form, die sie ihm abgewinnt. Dabei aber skizziert sie, ohne sich in ihr zu erschöpfen, immer nur Anfänge einer Symmetrie, ein paar Winkel und unvollständige Diagonalen, daß sich der Rest gerade noch erahnen läßt. [...] Ihre Proportionen, Regelmäßigkeiten und Ordnungen sind nur eine ungefähre Skala am Rande einer Karte, die halb verwischt ist, naß und verworfen.« 70
Calvinos »Gespenster« erfahren hier eine – in der kybernetischen Forschung verwurzelte – kognitionswissenschaftliche Erklärung, die im Körperlichen verankert ist, wie in der oulipistischen Neandertaler-Szene die numerische Technik an die Körperanatomie, das Zählen der Zehen, rückgebunden ist. 71 Hier lässt sich ein weiterer Ausschnitt der wissenschaftsgeschichtlichen Konstellation erhellen: Die Forschungen des Oulipo-Mitglieds Paul Braffort zur Künstlichen Intelligenz 72 fungieren als Scharnier zwischen Norbert Wieners Übertragung kybernetischer Modelle auf mentale und sprachliche Vorgänge auf der einen Seite und der Rückführung sprachlicher und mathematischer Strukturen auf kognitive Prozesse auf der anderen Seite. 73 Die Betrachtung literaturtheoretischer Fragestellungen mit Blick auf das wissenschafts-kulturelle Umfeld macht deutlich, dass Oulipo seine Konzeptionen von Schrift und Literatur in Auseinandersetzung mit den fortgeschrittensten wissenschaftlichen Forschungen der Zeit entwirft. Wie es sich an der vermeintlich pittoresken Neandertaler-Szene ablesen lässt und in Calvinos Aufsatz »Kybernetik und Gespenster« deutlich wird, werden wissenschaftliche und literatur-ästhetische Argumentationen in einem synkretistischen Interaktionsprozess entwickelt. Literatur wird im Rahmen einer phantastischen Szene aus numerisch strukturierten Symbolprozessen abgeleitet, die wiederum auf anatomische und kognitive – oder bei Cavino anthropologische und
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Techniken der Komplexitätsorganisation von Erfahrung vor und andererseits eine Theorie der Schönheit und der Ästhetik, welche sich auf Wahrnehmungsexperimente der Psychologie und Gehirnforschung zur Erkundung des Reizpotenzials universeller, als »schön« empfundener Strukturmuster bezieht. Siehe Edward O. Wilson: »Kunst und Interpretation«, S. 281-316. R. Schrott: Die Erde ist blau wie eine Orange, S. 48. Siehe dazu grundlegend den anthropologischen Ansatz von André LeroiGourhan: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst, Frankfurt/M. 1980. Siehe Kapitel 2.1, S. 69f. der vorliegenden Arbeit. Der Sprachrhythmus, wie er sich mnemotechnisch funktionalisiert in oraler Dichtung und in Versmaßen verkörpert, sowie die Textlektüre korrespondieren mit Sequenzierungsmechanismen des Gehirns, die unser Zeiterlebnis, Erleben und Handeln in Einheiten von zwei bis drei Sekunden strukturieren. Vgl. Marc Wittmann: »Das Erlebnis von Zeit«, in: Deutsches Hygiene-Museum (Hg.), Gehirn und Denken. Kosmos im Kopf, Stuttgart 2000. S 64-70, hier S. 66f.; siehe auch ders./Ernst Pöppel: »Neurobiologie des Lesens«, in: Bodo Franzmann (Hg.), Handbuch Lesen, München 1999, S. 224-239. Zu den Ergebnissen der kognitiven Leseforschung Sabine Gross: Lese-Zeichen. Kognition, Medium und Materialität im Leseprozeß, Darmstadt 1994. Eine Beziehung der experimentellen Poetik zur Kognitionstheorie ergibt sich über die Grundlagen der Kognitionsforschung in der Übernahme informationstheoretischer und kybernetischer Modelle in die Psychologie und Neurophysiologie seit den vierziger Jahren; dazu Warren S. McCullough/Walter Pitts: »A logical calculous of ideas immanent in nervous activity«, in: Bulletin of Mathematical Biophysics 5 (1943), S. 115-133; und N. Wiener/J. P. Schade (Hg.): Nerve, brain and memory models.
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affektive – Prozesse zurückgeführt werden. Wie diese Interaktionen vorgenommen werden, lässt sich an der Zusammenführung von Mathematik und Literatur genauer untersuchen, beispielsweise mit der Frage, welcher Begriff von Symboltechnik eine intermediäre Parallelisierung alphabetischer und numerische Systeme möglich macht. Der Zeichenbegriff, der strukturalistische und kybernetische Systeme ineinander überführen kann, wie bei Calvino beschrieben, bzw. numerische und alphabetische Strukturen, wie in der kulturhistorischen Perspektive, lässt sich mit Bezug auf Sybille Krämer näher definieren. Den intermediären Relationen einer experimentellen und sprachspielerischen Poetik liegt ein Schrift-Begriff zugrunde, der Schrift als operative Symboltechnik versteht. 74 Als operativen Symbolismus bezeichnet Sybille Krämer das Funktionieren von Schriften, die nicht nach dem Muster der Lautschrift operieren und nicht der Abbildung der symbolisierten Gegenstände dienen, sondern diese erst herstellen. Damit ist historisch der Übergang von einem transzendental-metaphysisch ausgerichteten, ontologisch begründeten zu einem manipulativen Symbolismus markiert. Pioniere dieses operativen Symbolgebrauchs waren mathematische Symbole, die mit dem Ziel einer rationalisierbaren Erkenntnistheorie für die Philosophie vorbildlich geworden sind. Die Operationalisierbarkeit der Erkenntnis, deren Ziel nicht Wahrheit, sondern Richtigkeit ist, mündet in der Idee der interpretationsfreien kalkülisierbaren Prozedur, einer rein syntaktischen Kombinatorik der ars combinatoria. Krämer beschreibt für Mathematik und Philosophie Sprachtechniken, die mittels Variation, Permutation und Kombinatorik funktionieren, als regelgeleitete Produktion von Zeichen, deren Potenzial in der möglichen Existenz von Gegenständen des Erkennens liegt, welche mittels dieser Schriften konstruiert werden. Ein solches Zeichenverständnis des operativen und konstruktiven Symbolismus liegt auch der experimentellen, potenziellen Poetik zugrunde, wobei die Idee der ars combinatoria, hier als regelgeleitete Symboltechnik beschrieben, eines der zentralen intermediären, Wissenschaft und Kunst vermittelnden Konzepte darstellt, auf das sich auch die Poetik potenzieller Literatur bezieht. Nimmt man die wissenschaftlich-kulturelle Szene in den Blick, in die Oulipo sich einpasst, so fungieren neben der Kybernetik Mathematik und Strukturalismus als Leitdisziplinen, wobei beide als Regelsysteme diskreter Elemente funktionieren und die fundamentalen strukturalistischen Operationen der Segmentierung und Klassifikation auf die idealen Prämissen der Universalität, Strukturiertheit und Regelhaftigkeit gründen, die aus den involvierten mathematisch-logischen Modellen und Verfahrensweisen resultieren. 75 Die potenzielle Literatur nimmt eine zentrale Position in der kulturellen Konnexion von Mathematik und Strukturalismus ein, alle drei sind durch den »cultural connector« 76 Nicolas Bourbaki, ein Pseudonym für eine geheime Gruppe junger französischer Mathematiker, verbunden. Die Veröffentlichun74 Siehe Sybille Krämer: »Kalküle als Repräsentation. Zur Genese des operativen Symbolismus in der Neuzeit«, in: H.-J. Rheinberger/M. Hagner/B. WahrigSchmidt (Hg.), Räume des Wissens, S. 111-122. 75 Siehe H. Kreuzer/R. Gunzenhäuser (Hg.): Mathematik und Dichtung; A. Kümmel: Mathematische Medientheorie. 76 Siehe auch zu den folgenden Ausführungen, zur Rolle Bourbakis für den Strukturalismus David Aubin: »The Withering Immortality of Nicolas Bourbaki. A Cultural Connector at the Confluence of Mathematics, Structuralism, and the Oulipo in France«, in: Science in Context 10 (1997) H. 2, S. 297-342.
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gen Bourbakis streben die Isolierung der Mathematik von Wissenschaft und Gesellschaft an sowie die konsequente Axiomatisierung der Mathematik. Dies stellte nicht nur ein neues Paradigma für die Mathematik dar, sondern war von großem Einfluss auf den enstehenden Strukturalismus, auf Roman Jakobson, Lévi-Strauss’ »Elementare Verwandtschaftsstrukturen« oder auch Piagets »genetischen Strukturalismus«: »What a structure was for Bourbaki – an axiomatized collection of relationships among elements of a set, whose nature remained unspecified – was readily acceptable for any brand of structuralism.« 77 Die Übertragung mathematischer in strukturalistische Konzepte funktionierte beispielsweise durch die Übernahme algebraischer und topologischer Strukturen, wie Baumstrukturen, die Piaget zur Abbildung kognitiver Strukturen einsetze und die in der strukturalen Linguistik wie in der potenziellen Literatur das Funktionieren von Sprache und Poetik illustrieren. 78 »Les mathématiques — plus particulièrement les structures abstraites des mathématiques contemporaines — nous proposent mille directions d‘explorations, tant à partir de l’Algèbre (recours à de nouvelles lois de composition) que de la Topologie (considérations de voisinage, d’ouverture ou de fermeture de textes).« 79
Raymond Queneau und François Le Lionnais treten als Vermittler der Mathematik Bourbakis auf, Le Lionnais, indem er einen Beitrag Bourbakis in den von ihm herausgegeben Band »Les Grands Courants de la Pensée Mathématique« 80 aufnimmt, Queneau durch seinen Text »Bourbaki et les mathématiques de demain« 81 . Der oulipistische Strukurbegriff, so unterstreicht auch Jacques Roubaud, bezieht sich explizit auf den mathematischen Begriff Bourbakis und nicht auf 77 Ebd., S. 316. 78 Paul Braffort betont, dass die in der deutschen Algebra entwickelten Grundbegriffe (Menge, Element, Teil) und die ihnen assoziierten Operationen, Relationen und Prädikate (»appartenance«, »inclusion«, »complément«, »réunion«, »intersection«) wesentlicher Bestandteil strukturalistischer Disziplinen wie der Literaturarbeit des Ouvroir de littérature potentielle sind. Paul Braffort: »F.A.S.T.L. Formalismes pour l’analyse et la synthèse de textes littéraires«, in: Oulipo, Atlas de littérature potentielle, Paris 1981, S. 108-137, hier S. 116f. Algebra meint ursprünglich die Lehre von den Gleichungen und ihrer Auflösung, im modernen Sinne auch den Teil der Mathematik, der sich mit den durch Verknüpfungen definierten mathematischen Strukturen befasst. Vgl. Meyers Lexikonredaktion (Hg.): Meyers Großes Taschenlexikon in 24 Bänden. Bd. 1, Mannheim u.a. 1987, S. 218. Die Topologie ist das Teilgebiet der Mathematik, das ursprünglich diejenigen Eigenschaften geometrischer Gebilde (Kurven, Flächen, Räume) behandelt, die bei umkehrbar eindeutigen stetigen Abbildungen erhalten bleiben, d. h. topologisch invariant sind. Heute versteht man unter Topologie die allgemeine Theorie der topologischen Räume, d. h. solcher Räume bzw. Punktmengen, die eine topologische Struktur aufweisen. Vgl. ebd., Bd. 22, S. 157. 79 François Le Lionnais: »La LiPo. Le premier Manifeste«, in: Oulipo, La littérature potentielle, S. 19-22, hier S. 21. 80 Der von Le Lionnais herausgegebene Band erschien zuerst 1948 in Paris unter dem Titel »Les Grands Courants de la pensée mathématique« und 1971 in New York unter dem Titel »Great Currents of Mathematical Thought«. 81 Raymond Queneau: »Bourbaki et les mathématiques de demain«, in: ders., Bords. Mathématiciens, précurseurs et encyclopédistes, Paris 1963, S. 11-29. (»Bourbaki und die Mathematik von Morgen«, in: ders., Mathematik von morgen, München 1967, S. 9-33).
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die im Strukturalismus vorgenommene Adaption und Transformation dieses Begriffs für Strukturen sprachlicher Zeichen: »La très grande majorité des œuvres OuLiPiennes qui ont vu le jour jusqu’à aujourd’hui se place dans une perspective SYNTAXIQUE structurEliste (je prie le lecteur de ne pas confondre ce dernier vocable — imaginé à l’intention de ce manifeste — avec structurAliste, terme que plusieurs entre nous considèrent avec circonspection.« 82 »La structure dans son acceptation quenienne et oulipienne n’a aucun rapport minimal avec le ›structuralisme‹. Idéalement (comme la contrainte par rapport à l’axiome), elle se réfère à la structure bourbakiste: l’objet, dans le cas mathématique, est un (des) ensemble(s) avec quelque chose ›dessus‹ (une, des lois en algèbre; des voisinages en topologie...); dans le cas oulipien l’objet est linguistique et sa structure est un mode d’organisation.« 83
Literarische Strukturen im Sinne der oulipistischen Poetik sind, wie Roubaud hier deutlich macht, linguistische Objekte, vergleichbar den algebraisch oder topologisch organisierten mathematischen Objekten. Die Idee der Formalisierung und Axiomatisierung wird aus der Bourbaki’schen Mathematik auf die Konzeption sprachlicher und literarischer Objekte übertragen. So wie ein Axiom eine mathematische Struktur organisiert, bestimmt der poetische Regelzwang (la contrainte) das Kompositionsgesetz eines Textes. Der Transfer mathematischer Strukturen in die literarische Arbeit ist zugleich als Vertextung bzw. Literarisierung dieser Strukturen zu verstehen: »La méthode la plus efficace à l’heure actuelle semble être celle du ›transport de structure‹: un ensemble, muni d’une structure donnée est interprété en texte; les éléments de l’ensemble deviennent des données du texte, les structures existantes sur l’ensemble sont converties en procédures de composition du texte, avec contraintes: une expérience privilégiée est celle du texte en cours d’écriture de Georges Perec à partir d’un bi-carré latin.« 84
Anhand der Transformationen mathematischer Modelle in literarische Produktionsmethoden und Gestaltungsformen in den Arbeiten Queneaus lenkt Roubaud die Aufmerksamkeit auf diese Literarisierung mathematischer Strukturen, auf die »passage de la mathématique à sa littéralisation« 85 . Raymond Queneau, so macht es auch Raymond Roubaud deutlich, hat sich als Amateur und Literat intensiv mit der Mathematik auseinandergesetzt. 86 Diese Auseinandersetzung ist vor dem wissenschaftskulturellen Hin82 François Le Lionnais: »Le second Manifeste«, in: Oulipo, La littérature potentielle, S. 23-27, hier S. 23. 83 Jacques Roubaud: »La mathématique«, in: Critique 359 (1977), S. 392-413, hier S. 410. 84 Vgl. ebd. 85 Vgl. ebd. 86 Siehe dazu auch François Le Lionnais: »Raymond Queneau et l’Amalgame des Mathématiques et de la Littérature«, in: La Nouvelle Revue Française 290 (1977), S. 71-79. Abgedruckt in: Oulipo, Atlas, S. 34-41. Le Lionnais erläutert, dass Queneau als Nicht-Mathematiker, als Amateur, Mathematik zuerst als Leser betreibt, unter anderem diverser Fachzeitschriften wie »Bulletin of the
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tergrund zu sehen, den auch Queneau verschiedentlich beleuchtet, dass Natur-, aber auch Sozial- und Kulturwissenschaften ihre Methoden mit Bezug auf die Mathematik reformulieren. Diese wissenschaftsgeschichtlichen und wissenschaftstheoretischen Veränderungen, die Axiomatisierung der Wissenschaften durch ihre Begründung auf Regeln und Methoden, beschreibt Raymond Queneau in seinem Beitrag »La Place des mathématiques dans la classification des sciences« in dem von François Le Lionnais herausgegeben Sammelband »Les Grands Courrants de la Pensée Mathématique«. Queneau geht zur Übertragung mathematischer Prinzipien in die Literatur über Bourbaki zurück auf den deutschen Mathematiker David Hilbert, auf den sich auch die Bourbaki’sche Formalisierung und Axiomatisierung der Mathematik bezieht. Von David Hilbert, dessen Arbeiten für die Mathematik der Nachkriegszeit eine bedeutende Rolle spielten, wird, unter anderem durch Queneau, das Zitat überliefert: »Au lieu de points, de droites, de plans, on pourrait tout aussi bien employer les mots tables, chaises et vidrecomes«. 87 Dieses Argument ist die Basis der Übertragbarkeit des axiomatischen Denkens auf unterschiedlichste Wissensgebiete. Queneau ersetzt »points«, »droiAmerican Society«, »Journal of Combinatorial Theory«, »Journal of Symbolic Logic«, »Mathematical Reviews«, »Mathematical Games« (vgl. ebd., S. 35.). Queneau ist darüber hinaus Mitglied der »Société mathématique de France«. Im »Journal of combinatorial Theory« hat er einen Aufsatz auf dem von ihm privilegierten Gebiet der Kombinatorik, ein Teilgebiet der Zahlentheorie, veröffentlicht zu den s-additiven Reihen — »Sur les suites s-additives«, in: Journal of Combinatorial Theory XII (Januar 1972) —, die auch »Queneau-Reihen« heißen und in Anlehnung an die Fibonacci-Reihen (eine Reihe von Zahlen, in denen jede Zahl größer ist als die vorangehende und kleiner als die folgende und die Summer der zwei vorangehenden bildet: 1, 2, 3, 5, 8, 13 usw.) entwickelt sind. Diese Queneau-Reihen wurden 1972 von Paul Braffort und seinen Mitarbeitern mit Hilfe eines Computers erstellt und analysiert. Siehe dazu Raymond Queneau: »Sur les suites s-additives« (diese Anm., s.o.); und F. Le Lionnais: »Raymond Queneau«, S. 36; sowie J. Roubaud: »La mathématique dans la méthode Raymond Queneau«, S. 394. Die Veröffentlichungen Queneaus auf dem Gebiet der Wissenschaftsgeschichte, Philosophie und populärwissenschaftlicher Mathematik sowie die Integration berühmter mathematischer Probleme in seine Romane lässt die vielfältige Auseinandersetzung mit Methoden, Fragestellungen und Anwendungen der Mathematik erkennen. Die grundlegende Annahme der Mathematik als universelle Methode der Organisation von Symbolsystemen und Wissen macht Queneau im Bezug auf ein Zitat Piagets deutlich, dass »Logistik die Axiomatik des Denkens selber ist« (zit. nach: Raymond Queneau: »Vorstellung der ›Encyclopédie‹«, in: ders., Mathematik von morgen, S. 97-134, hier S. 121), eine Prämisse, die auch Queneaus Arbeit an der Gallimard-Enzyklopädie zugrunde liegt, deren Aufgabe eine Übersicht über die Wissenschaften der Zeit ist. Siehe Raymond Queneau: »Die Mathematik in der Klassifizierung der Wissenschaften«, in: ebd., S. 147-155. Auf dem Gebiet der Literatur stellt Queneau E.A. Poe als Initiator nicht nur der »Philosophy of Composition« vor, sondern in seinen Erzählungen als Neuerer auf dem Gebiet der Anwendung von Vernunftschlüssen auf die scheinbar bedeutungslosesten Alltagsverrichtungen, wodurch Poe die Überlegungen der Theorie strategischer, Glücks- und Intelligenzspiele vorweggenommen habe. Siehe Raymond Queneau: »Poe und die ›Analyse‹«, in: ebd., S. 75-91. 87 Aus dieser Überlegung geht 1899 das Werk »Grundlagen der Geometrie« hervor, in welchem Hilbert die Axiomatik der euklidischen Geometrie darlegt und fünf Gruppen von Axiomen benennt: der Zugehörigkeit, der Ordnung, der Kongruenz, der Parallelen und der Kontinuität (d’appartenance, d’ordre, de congruence, des parallèles et de continuité). Vgl. Raymond Queneau: »Fondements de la littérature d’après David Hilbert (extrait)«, in: Oulipo, Atlas, S. 17-18, hier S. 17.
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tes«, »plans« durch »mots«, »phrases« und »paragraphes« und schlägt derart in »Fondements de la littérature d’après David Hilbert« 88 eine Axiomatik der Literatur vor. Die Übertragung der axiomatischen Methode auf die Literatur funktioniert insbesondere in Form einer Poetik des Regelzwangs. Durch die Vorgabe eines bestimmten Stilmittels oder einer Verfahrensweise »imitiert« Literatur die mathematische Axiomatik. » […] la méthode ouipienne mime la méthode axiomatique […]. Une contrainte est un axiome d’un texte. […] L’écriture sous contrainte oulipienne est l’équivalent littéraire de l’écriture d’un texte mathématique formalisable selon la méthode axiomatique [...].« 89
Wie in der Literarisierung mathematischer Strukturen durch die Adaption für poetische Produktionen wird auch hier deutlich, dass es um Transferprozesse in einem intermediären Feld von Mathematik und Literatur geht. Der zentrale Punkt in der Argumentation des Oulipisten Jacques Roubaud zur mathematischen Methode in den Werken Raymond Queneaus ist der Hinweis auf das spielerische Moment am Ursprung von sowohl mathematischen als auch literarischen Experimenten. Wie man die oulipistischen Tätigkeiten für »Denksportaufgaben« halten könnte, ist auch die Zahlentheorie, so erklärt Queneau, aus der sogenannten »amüsanten Mathematik« hervorgegangen, die Wahrscheinlichkeitsrechnung sei in ihren Anfängen ein »Zeitvertreib« gewesen, ebenso wie die Spieltheorien bis zu John von Neumann. 90 Ein Zwischenfeld von Mathematik und Ästhetik erschließt auch François Le Lionnais in einem Aufsatz »Beauty in Mathematics«, 91 in dem er mathematische Strukturen mit Konzeptionen von klassischer und romantischer Ästhetik zusammenbringt und an Darstellungen mathematischer Figuren veranschaulicht, die er einerseits mit mathematischen Formeln beschreibt, andererseits in Zusammenhang mit Zitaten zur Poetik von Mallarmé, Queneau und anderen Schriftstellern setzt.
2.2.2 Methoden und Formen potenzieller Literatur »[...] we can say that science oscillates between art and game, while art oscillates between game and science [...].« 92
Beschreibt Queneau die Wissenschaft als Oszillieren zwischen Kunst und Spiel, die Kunst als Oszillieren zwischen Spiel und Wissenschaft, so entwirft er ein intermediäres Feld zwischen Wissenschaft, Kunst und Spiel, in dem 88 Ebd. 89 J. Roubaud: »La mathématique«, S. 404. 90 Vgl. Raymond Quenau: »Potentielle Literatur«, in: Heiner Boehncke/Bernd Kuhne, Anstiftung zur Poesie. Oulipo — Theorie und Praxis der Werkstatt für potentielle Literatur, Bremen 1993, S. 43-60, hier S. 44f. 91 Siehe F. Le Lionnais: »Beauty in Mathematics«, in: ders. (Hg.), Great Currents of Mathematical Thought. Bd. II. Mathematics in the Arts and Sciences, New York 1971, S. 121-158. 92 Raymond Queneau: »The Place of Mathematics in the Classification of the Sciences«, in: F. Le Lionnais (Hg.), Great Currents of Mathematical Thought, S. 73-77, hier S. 76.
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das Spiel zum organisierenden Prinzip von Wissenschaft und Kunst wird. Inwiefern setzen die Poetik und die Arbeiten der Werkstatt für potenzielle Literatur diese spielerische Interaktion um? Gegründet wurde die Werkstatt für potenzielle Literatur als Seminar für experimentelle Literatur, das es sich zur Aufgabe gemacht hatte, eine Geschichte experimenteller Literatur zu schreiben, deren Kriterium der Umgang mit literarischen Techniken ist. 93 Von den Rhetorikern und Troubadouren, von Arnaut Daniel, Petrarca und Georg Philipp Harsdörffer über Rabelais, François Villon zu Raymond Roussel und Lewis Carroll 94 erstreckt sich die Genealogie einer experimentellen Poetik, auf die Oulipo zurückgreift, um seine Literaturgeschichte und Literaturtheorie am Leitfaden der Schrift zu entwickeln. Im wissenschaftskulturellen Horizont der fünfziger und sechziger Jahre allerdings wird Schrift als operative Symboltechnik neben anderen konzipiert. Das Experiment mit kulturtechnischen Aufzeichnungssystemen der Literatur in den Vordergrund stellend und zum fundierenden Prinzip von Literatur erklärend, positioniert sich Oulipo als Schnittstelle zwischen Tradition und Kreation. Queneau formuliert die Funktion der Werkstatt für potenzielle Literatur folgendermaßen: »Quel est le but de nos travaux? Proposer aux écrivains de nouvelles ›structures‹, de nature mathématique ou bien encore inventer de nouvaux procédés artificiels ou mécaniques, contribuant à l’activité littéraire: Des soutiens de l’inspiraion, pour ainsi dire, ou bien encore, en quelque sorte, une aide à la créativité.« 95
Oulipo unterstützt diesen von Queneau formulierten Entwurf durch programmatische Schriften wie die zwei Manifeste zur potenziellen Literatur von François Le Lionnais und die »Petite histoire de l’Oulipo« von Jean Lescure. 96 Das oulipistische Projekt steht im Dienste der Erkundung der Verkörperungsformen von Literatur, mit dem Ziel, Inspiration und Kreativität durch ein Repertoire an Techniken zu unterstützen. 97
93 Siehe F. Le Lionnais: »La LiPo«. 94 Vgl. Jacques Bens: »Queneau oulipien«, in: Oulipo, Atlas, S. 22-33, hier S. 33; Peter Kuon: »L’Oulipo et les avant-gardes«, in: ders. (Hg.), Oulipo — poétiques, S. 15-30, hier S. 23. 95 Raymond Queneau: »Littérature potentielle«, in: ders., Bâtons, chiffres et lettres, Paris 1965, S. 293-320, hier S. 297. 96 Siehe F. Le Lionnais: »La Lipo«; ergänzend ders.: »Le second Manifeste«; Jean Lescure: »Petite histoire de l’Oulipo«, in: Oulipo, La littérature potentielle, S. 28-40; ders.: »Le collège de Pataphysique et l’Oulipo«, in: ebd., S. 41-44. Siehe zu oulipistischer Programmatik und Praxis des Weiteren: Paul Fournel/ Jacques Jouet: »L’Écrivain oulipien«, in: Magazine littéraire 245 (1987), S. 9094; Alain Lance (Hg.): Oulipo (dossier), in: Lendemains XIII 52 (1988), S. 1646; Franz Penzenstadler: »Die Poetik der Gruppe Oulipo und deren literarische Praxis in Georges Perecs La Disparition«, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur (ZFSL) 104 (1994) H. 2, S. 163-182. 97 Bezüglich einer Auffassung von Kreativität als prozessuale Veränderung von Ordnungsmustern lässt sich an Brafforts Arbeit zur Künstlichen Intelligenz (P. Braffort: L’intelligence artificielle) und die aus ursprünglich kybernetischen Modellen abgeleitete Kreativitätsforschung anschließen. Siehe exemplarisch die mit dem Untertitel »Kreativität und künstliche Intelligenz« versehene Studie Margaret A. Boden: Die Flügel des Geistes. Kreativität und Künstliche Intelligenz, München 1992. Zur Kreativitätstheorie in einem wissenschaftskulturellen Umfeld von Kybernetik und Kognitionstheorie siehe auch: Hans Ulrich
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In der Absicht, alle Ebenen des sprachlichen Kunstwerks zu erforschen und zu unterstützen, dienen die vorgestellen praktischen Arbeiten – wie Max Bense es für die experimentelle Poesie formulierte – als Beispiele und Exemplifizierungen der untersuchten Methoden: »L‘Oulipo a pour but de découvrir des structures nouvelles et de donner pour chaque structure des exemples en petite quantité.« 99 Dabei geht es sowohl um das Entdecken traditioneller Strukturen, den – augenzwinkernd – sogenannten »plagiats par anticipation«, 100 wie um die Erfindung neuer Techniken. 101 Dergestalt zeigt sich auch der Aufbau der zwei maßgeblichen Anthologien, welche nach einer einführenden Darstellung von Theorie und Geschichte der Werkstatt für potenzielle Literatur in »Oulipo« (1973) bzw. der Thematisierung des Zusammenhangs von Mathematik und Literatur bei Raymond Queneau im »Atlas de littérature potentielle« (1981) die oulipistischen Texte als Forschungsarbeiten geordnet nach den zugrunde liegenden Techniken präsentieren (lexikographische, syntaktische, prosodische und périmathematische Verfahren, Transformationen, Spiralen, Konstellationen etc.). Ergänzend dazu hat Queneau ein Schema erstellt, das die Arbeiten des Oulipo klassifiziert. 102 Dieses Modell wurde erweitert und systematisiert von Marcel Bénabou, der horizontal die Sprachebene anordnet (Buchstabe, Phonem, Silbe, Wort, Syntagma, Satz, Abschnitt) und vertikal die Operationen (Verschiebung, Ersetzung, Addition, Substraktion, Multiplikation/Wiederholung, Division, Entnahme, Kontraktion). 103 Diese Formalisierung der literarischen Praktiken, die Abstraktion durch die Verbindung zur Mathematik, die Betonung des systematischen und wissenschaftlichen Vorgehens 104 stellen die Neuerung im Vergleich zu vorangegangenen und zeitgleichen poetischen Arbeiten beispielsweise der konkreten Dichtung dar.
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München 1988, darin Beiträge unter anderem von Niklas Luhmann und S.J. Schmidt. F. Le Lionnais: »Le second Manifeste«, S. 24. J. Lescure: »Petite histoire de l’Oulipo«, S. 38. F. Le Lionnais: »La LiPo«, S. 27. »En resumé l’anoulipisme est voué à la découverte, synthoulipisme à l’invention.« ebd., S. 22. Siehe R. Queneau: »Classification«. Siehe auch Marc Lapprand: Poétique de l’Oulipo, Amsterdam 1998; Lapprand stellt die oulipistischen Stilzwänge vor. Vgl. Marcel Bénabou: »Regel und Formzwang«, in: J. Ritte/H. Hartje (Hg.), Oulipo, S. 51-64, hier S. 63. Bénabou hat die Arbeiten des Oulipo an anderer Stelle in einem Kreisdigramm dargestellt, welches in einen Circle of linguistic objects, einen Circle of semantic objects und einen Circle of operations eingeteilt ist. Vgl. Marcel Bénabou: »Rule and constraint«, in: Warren F. Motte (Hg.), Oulipo. A Primer of Potential Literature, London 1986, S. 4047, hier S. 47. Siehe dazu auch das Glossar oulipistischer Strukturen: W.F. Motte (Hg.): Oulipo, S. 197-202. Vgl. F. Le Lionnais: »La LiPo«, S. 21.
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»Il n’y a de littérature que volontaire«, 105 so das häufig zitierte Postulat Raymond Queneaus, der sich mit der Mathematisierung der Literatur kategorisch von der surrealistischen Bewegung abwendet hat, der er zu Beginn seiner schriftstellerischen Tätigkeit angehörte. Die Untersuchung der Methoden und Techniken der Sprache tritt an die Stelle der Erforschung der Psyche und des Unbewussten. Dies macht Queneau an dem Beispiel eines unter Magenschmerzen leidenden Menschen und dem Scheitern, diese Schmerzen in Worte zu fassen, deutlich: »Évidemment, il n’y parvenait pas, il n’y est jamais parvenu, jamais personne n’y parviendra.« 106 Dieses Versagen der Versprachlichung von Affekten setzt Queneau an den Ursprung von Sprache – und berührt damit den Bereich des Anthropologischen und Ästhetischen, wie ihn Calvino in »Kybernetik und Gespenster« als ureigenstes Terrain der Literatur umrissen hat: »Depuis cette mystérieuse origine, il est arrivé que les échecs du langage ont peu à peu conduit les usagers à s’interroger sur cet étrange outil que l’on pouvait, qui vous forçait parfois à le considérer en dehors de son utilité. On s’est aperçu que l’on était langage de la tête aux pieds. [...] [O]n s’est donc mis à explorer, ou à vouloir explorer le langage.« 107
Das Augenmerk Queneaus und der Oulipisten richtet sich auf die formale Ebene von Sprache und geht von der These aus, dass Inspiration auf Formbeherrschung beruhe 108 – worin sie sich mit Calvinos Theorie treffen, Sprache, Kultur und Mythos beruhten auf dem Spiel mit erzählerischen Strukturen. »Tout œuvre littéraire se construit à partir d’une inspiration […] qui est tenue à s’accomoder tant bien que mal d‘une série de contraintes et de procédures qui rentrent les unes dans les autres comme des poupées russes. Contraintes du vocabulaire et de la grammaire, contraintes des règles du roman (division en chapitres etc.) ou de la tragédie classique (règle des trois unités), contraintes de la versification générale, contraintes des formes fixes (comme dans le cas du rondeau ou du sonnet) etc.« 109
Die systematische Suche, das Regelwerk der literarischen Sprache zur Quelle der Inspiration zu machen, ist dasjenige, was die zu einer Geschichte experimenteller Literatur versammelten Autoren verbindet und den Begriff des sprachlichen Experiments zur Grundlage potenzieller Poetik macht: »L’expérimentation se trouvait ainsi réintroduite dans l’Oulipo [...].« 110 Die Verknüpfung des Experimentellen und Potenziellen wird durch das Bild des Labyrinths gekennzeichnet, das eine experimentalkulturelle Metapher vorstellt, wie vergleichsweise das Bild des Schachspiels: »Der oulipotische Autor ist darüberhinaus noch derjenige, der versucht, den Ausweg zu
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109 110
Raymond Queneau: »CR 13.2.1961«, in: J. Bens, OuLiPo, S. 36. Raymond Queneau; zit. nach J. Lescure: »Petite histoire de l’Oulipo«, S. 32. Ebd., S. 32f. »Toute œuvre littéraire se construit à partir d’une inspiration […] qui est tenue à s’accommoder tant bien que mal d’une série de contraintes […].« F. Le Lionnais: »La LiPo«, S. 20. Ebd. J. Lescure: »Petite histoire de l’Oulipo«, S. 35.
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finden aus einem Labyrinth, das Raymond Queneau und François Le Lionnais für ihn konzipiert haben […].« 111 Der Rückgriff auf den Labyrinth-Topos, der auch in der Formulierung »Oulipiens: rats qui ont à construire le labyrinthe dont ils se proposent de sortir« 112 tradiert wird, fasst die Methode des Entdeckens und Erfindens, der »invention-discovery«, 113 in ein Bild: »[…] le premier postulat de la potentialité, c’est le secret, le dessous des apparances, et l’encouragement à la découverte. Rien ne nous empêche alors de décider qu’il y aura littérature potentielle si l’on dispose à la fois d’une œuvre résistante et d’un explorateur.« 114
Neben dem Rückbezug auf die Mathematik ist es eine allgemeine Konzeption potenzieller Literatur als methodische Erkundung sprachlicher Strukturen, die die oulipistische zu einer Wissenschaftspoetik macht: »Literature […] is no less than science a fundamentally methodical construct.« 115 Das Methodische wird zum Zentrum einer experimentellen Wissenschaftspoetik erklärt. 116 Mit unterschiedlichen Formen des Methodischen sind jeweilige Arten des Forschens und des Wissenschaftlichen verbunden, wie sich zum LabyrinthTopos zurückkehrend, nachvollziehen lässt. Kann in kulturhistorischer Sicht ein weites Spektrum der Bedeutung labyrinthischer Strukturen aufgezeigt werden, 117 so kommentiert Calvino die Selbstbeschreibung der Oulipisten als Ratten im selbstgestellten Labyrinth mit Blick auf eine Symbolik der Moderne, wie sie auch in philosophischen Diskursen und literarischen Erzählformen ihren Ausdruck findet. 118 Calvino greift zurück auf Hans Magnus Enzensber111 112 113 114 115
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Jacques Roubaud: »Der oulipotische Autor«, in: J. Ritte/H. Hartje (Hg.), Oulipo, S. 29-50, hier S. 40. J. Lescure: »Petite histoire de l’Oulipo«, S. 36. Stephen S. Bold: »Labyrinths of invention from the new novel to Oulipo«, in: Neophilologus 82 (1998) H. 4, S. 543-557, hier S. 551. J. Bens: »Queneau oulipien«, S. 24. S.C. Bold: »Labyrinths of invention«, S. 453. Bold untersucht die komplexen Relationen zwischen rhetorischer Inventio, Wissenschaft und der Praxis postmoderner Literatur, zu der er neben »Robbe-Grillet’s methodical labyrinth« und »Queneau’s Icare: sick author in surch of a text« auch die Arbeiten des Ouvroir de littérature potentielle zählt. Insb. nennt Bold die mathemematischen Grundlagen der Kombinatorik und die Graphentheorie, die den Arbeiten der Autoren Roubaud, Berge und Le Lionnais zugrunde liegen, Queneaus »Cent Mille Millards de Poèmes«, Bens’ »Inventaires« und Calvinos »Il castello die destini incrociati« (dt.: »Das Schloß, darin sich die Schicksale kreuzen«). An dieser Stelle lässt sich die Anmerkung einflechten, dass Edgar Morins in den Jahren 1977 bis 1991 erschienenes mehrbändiges Projekt »La methode« (Siehe Edgar Morin: La Méthode. Bd. I. La nature de la nature, Paris 1977, Bd. II. La vie de la vie, Paris 1980, Bd. III. La conaissance de la conaissance. Anthropologie de la conaissance, Paris 1986, Bd. IV. Les idées, Paris 1991), das biologisch-anthropologische System differenziert nach Strukturmustern einteilt, wie es Niklas Luhmann in seiner Systemtheorie für die gesellschaftlichen Funktionssysteme unternehmen wird. Siehe bspw. den Artikel zum Labyrinth in E.A. Seemann (Hg.): Lexikon der Kunst. Architektur, Bildende Kunst, angewandte Kunst, Industrieformgestaltung, Kunsthistorie. 7 Bde. Bd. 4, Leipzig 1992, S. 187f. Siehe Kurt Röttgers/Monika Schmitz-Emans (Hg.): Labyrinthe. Philosophische und literarische Modelle, Essen 2000; Manfred Schmeling: Der labyrinthische Diskurs. Vom Mythos zum Erzählmodell, Frankfurt/M. 1987.
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gers Essay »Topologische Strukturen in der modernen Literatur«, 119 der einen Überblick zu Labyrinth-Erzählungen seit der Antike bis zu Borges und Robbe-Grillet gibt und das Labyrinth insofern als Bild einer modernen Welt beschreibt, als Faszination und Risiko dieses labyrinthischen Spiels auf dem Oszillieren zwischen der Erfahrung der Desorientierung und dem Finden von Orientierungsstrategien als Überlebenstraining beruhen. Wird die topologische Struktur als metaphysische dargestellt, endet die Spielbewegung und »die Literatur wird zu einem Beweismittel dafür, daß die Welt im wesentlichen unergründlich, daß jegliche Kommunikation unmöglich ist«, zitiert Calvino aus Enzensbergers Essay. 120 Diese Stelle beschreibt das Umschlagen einer Erkenntnisbewegung in Mythos, den »gespenstischen« Ort der Literatur. Das Labyrinth funktioniert im oulipistischen Diskurs auf drei Stufen: Es bezeichnet die Methode der Konstruktion von Schrift und Text nach einem vorgegebenen Regelzwang bzw. als invention-discovery, es ist zweitens Modell für Sprach- und Denkbewegungen an den Grenzen von Rationalität und Phantastik, von Sprache und Jenseits der Sprache, und fungiert drittens als Sinnbild oder Metapher für unüberschaubar komplexe Prozesse, seien es diejenigen von Sprache und Denken oder diejenigen der Theoretisierung von Sprache, Denken und Literatur. Calvino weitet Enzensbergers Argumentation »auf all das aus […], was wir heute, nach von Neumann, in der Literatur und in der Kultur als mathematisches Kombinationsspiel sehen [...].« 121 Es ist diese, an der Idee des Labyrinths als Methode handlungsorientierter Lösungen in einer komplexen Welt ausgerichtete Literaturkonzeption Oulipos, die eine »littérature à faire« 122 zur zentralen poetologischen Aufgabe erklärt. Daher ist es nicht erstaunlich, dass die Gründung des Oulipo auf ein konkretes literaturpraktisches Problem zurückgeht. Das Zögern Queneaus während der Arbeit an »Cent mille millards de poèmes« veranlasste Le Lionnais zu dem Vorschlag der Gründung einer Art Gruppe zur »recherche de littérature expérimentale«.123 Die Umbenennung des »Séminaire de littérature expérimentale« (S.L.E.) in »Ouvroir de Littérature Potentielle« (OuLiPo) unterstreicht, dass die Potenzialität, die unbegrenzte Vielfalt sprachlicher Formen, zum Charakteristikum von Literatur bzw. literarischer Experimentalität erklärt wird: »Le mot ›potentiel‹ porte sur la nature même de la littérature, c‘est-à-dire qu’au fond, il s’agit peut-être moins de littérature proprement dite que de fournir des formes au bon usage qu’on peut faire de la littérature. Nous appellons littérature potentielle la recherche de formes, de structures nouvelles et qui pourront être utilisées par les écrivains de la façon qui leur plait.« 124
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I. Calvino: »Kybernetik und Gespenster«, S. 25. Ebd. Ebd. Anders als beispielsweise in »Kleine Fabel« von Kafka, in der die Maus zwischen den enger werdenden Mauern auf eine Falle zuläuft und von der Katze gefressen wird (Franz Kafka: Sämtliche Erzählungen, Frankfurt/M. 1992, S. 320), geht es hier nicht um die Ausweglosigkeit der Moderne, das zwangsläufige Zusteuern auf die unvermeidliche Katastrophe, und sei sie semantischer oder gleichnishafter Art, sondern im Gegenteil um das praktische, lösungsorientierte Handeln in einer komplexen Welt. Vgl. J. Lescure: »Petite histoire de l’Oulipo«, S. 36. Ebd., S. 28. Ebd., S. 38.
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Die topologische Struktur des Labyrinths als ein Bild komplexer Prozesse in der Methodik des Entdeckens und Erfindens veranschaulicht die Idee des Potenziellen in der Literatur, als – aktionistisch gedachtes – Entdecken und Erfinden von Techniken und Verkörperungsformen der Schrift für die literarische Produktion. Es ist diese in der systematischen Erkundung sprachlicher, schriftlicher und literarischer Formen begründete Abkehr von einer Poetik des Zufalls – »OuLiPo, c’est l’anti-hasard« 125 –, die Oulipo von anderen literarischen Experimenten im Surrealismus und der konkreten Kunst unterscheidet, von denen Queneau sich dezidiert abgrenzt: »Es handelt sich nicht um experimentelle oder aleatorische Literatur (wie sie von der Gruppe um Max Bense in Stuttgart betrieben wird).« 126 Diesen Punkt übersieht Gérard Genette, der in seiner Studie zur Transtextualität, in welcher er Oulipo als »moderne Erscheinungsform […] der Parodie im Sinne einer Texttransformation mit spielerischer Funktion« 127 deutet, nach Durchsicht einiger transformationeller Verfahren zu dem Ergebnis kommt, dass »der Oulipismus aber ein Glücksspiel wie Roulette« sei, 128 und das Fazit zieht: »Dieses Vertrauen in die ›dichterische‹ (semantische) Produktivität des Zufalls ist natürlich ein Erbe des Surrealismus, und der Oulipismus ist somit eine Variante des ›erlesenen Kadavers‹.« 129 Aufgrund seines Interesses an hypertextuellen Relationen einander überlagernder Texte nimmt Genette diejenigen oulipistischen Verfahren in den Blick, welche bestehende Texte nach einer bestimmten Regel transformieren (Lipogramm, S+7, Haikuisierung, definitionelle Erweiterung, Kontamination) 130 und sieht die spielerische Funktion primär darin, den einer oulipistischen »Parodie« zugrunde liegenden Hypotext samt der Spielregel zu finden. 131 Für die Untersuchung der oulipistischen Poetik scheint jedoch interessanter als die Idee transtextueller Parodie die Frage nach der Potenzialität. Die Bestimmung des Begriffs der Potenzialität erweist sich als mehrfach anschlussfähig, was auf den intermediären Raum zurückzuführen ist, in dem Oulipo Diskurse und Modelle, Methoden und Aufschreibesysteme zusammenführt und transformiert. Es ist die Idee der Potenzialität, die als Konnektor wissenschaftlicher und poetischer Modelle und Verfahren fungiert. 132 125 126 127 128 129 130 131 132
J. Bens: »Queneau oulipien«, S. 25. »3o il ne s’agit pas de littérature... aléatoire...« J. Roubaud: »La mathématique«, S. 402. R. Quenau: »Potentielle Literatur«, S. 44. Gérard Genette: Palimpseste. Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt/M. 1993, S. 59. Ebd., S. 69. Ebd., S. 70. Siehe zur Programmatik und Anwendung dieser Verfahren die Anthologien Oulipo: La littérature potentielle; Oulipo: Atlas. Vgl. G. Genette: Palimpseste, S. 63. Siehe zur Rolle der Potenzialität in der wissenschaftskulturellen Szene der sechziger Jahre auch Walter Falk: Vom Strukturalismus zum Potentialismus. Ein Versuch zur Geschichts- und Literaturtheorie, Freiburg, München 1976. In der Entwicklung von Strukturalismus zum Potentialismus erkennt Falk eine Dynamisierung des Strukturmodells im Geschichtsdenken der Kultur-, Sprach-, Wissenschafts-, Gesellschafts- und Evolutionswissenschaft, sich beziehend auf C. Lévy-Strauss, N. Chomsky, S. Kuhn, M. Foucault, K. Lorenz und N. Luhmann. Falk zielt auf eine neue Epochenforschung, die sich auf eine Analyse des Zusammenwirkens von Aktual-, Potential- und Resultativkomponenten stützt. Das Verhältnis von Potentialgeschichte und Dichtung beschreibt Falk mit einem potentialistischen Produktionsmodell, das durch
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Auf den naturwissenschaftlichen Kontext verweist beispielsweise François Le Lionnais, der fordert, die wissenschaftliche Untersuchung poetischer Strukturen mit Begriffen wie »temperature, entropie« 133 zu unternehmen. Den der mathematischen Terminologie entlehnten Begriff des »Virtuellen« 134 stellt Le Lionnais als Schlüsselkonzept potenzieller Literatur vor, insofern als einer gegebenen Struktur die Virtualität aller möglichen aus ihr generierbaren Objekte inhärent sei. Le Lionnais sieht die poetologische Aufgabe in der Erforschung der Grenzbereiche, wie es Queneau mit seinen 1014 Sonetten beispielhaft realisiert hat oder, so schlägt Le Lionnais vor, wie es Gedichte mit null Wörtern, die von ihm erfundenen PzM (poèmes de zéro mots) 135 darstellen würden. Das Potenzielle wird zur Schnittstelle zwischen Konzeption und Realisierung, wobei das Konzept auch unmögliche Realisierungen beschreiben kann und das Potenzielle somit das Konkrete und das Phantastische gleichermaßen umfasst. Die oulipistische Wissenschaftspoetik erkundet die Grenzen zwischen Rationalität und Phantastik in den Schnittstellen von schriftlichen und mathematischen Symbolsystemen, die im Fokus der Aufmerksamkeit der oulipistischen Mathematiker und Autoren stehen. Wie sich dies in Methoden und Formen potenzieller Literatur umsetzt, lässt sich an einer Reihe von oulipistischen Experimenten nachvollziehen. 136 Zahlentheorie, Kombinatorik, Mengentheorie und die Theorie der Graphen sind Bereiche der Mathematik, deren Methoden und Darstellungsweisen in die literarische Arbeit übertragen werden, entsprechend der Prämisse, Sprache so zu behandeln als sei sie mathematisierbar. 137 Zur Formalisierung der Literatur wurden insbesondere Methoden aus der mathematischen Kombinatorik fruchtbar gemacht, sodass sich eine Vielfalt von Kreuzungen mathematischer und literarischer Verfahren auf dem Feld der kombinatorischen Literatur beobachten lassen. Im Nachwort der »Cent mille millards de poèmes« von Raymond Queneau, 138 dieser »machine à
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eben diese Kategorien der Potentialität, Aktualität und Resultativität bestimmt ist: Für die Literatur ergibt sich nach Falk eine auf das öffentliche Handeln bezogene Aktualliteratur wie Werbung, eine auf die Darstellung von Wissen bezogene Resultativliteratur und eine Potentialliteratur, die in Rückbezug auf Aristoteles beschreibt, was hätte geschehen können und somit mit dem Möglichen in Zusammenhang steht. Vgl. ebd., S. 294-298. François Le Lionnais: »L’antéantépénultième«, in: Oulipo, Atlas, S. 19-21, hier S. 20. J. Roubaud: »La mathématique«, S. 411. Das Problem der PzM ist als Grenzfall der PnM (poèmes de n mots) zu betrachten. Vgl. F. Le Lionnais: »L’antéantépénultième« (Anm. 133), S. 20. Es können hier bei weitem nicht alle Formen oulipistischer Literatur vorgestellt werden. Sie präsentieren zum Teil sehr spezielle Übertragungen mathematischer Modelle auf poetische Strukturen. Um sich einen Eindruck von der Vielfalt der Formen zu machen, sei auf die beiden Anthologien verwiesen: Oulipo: La littérature potentielle; Oulipo: Atlas. Vgl. J. Roubaud: »La mathématique«, S. 394. Die Kombinatorik ist dasjenige Teilgebiet der Mathematik, in dem untersucht wird, auf welche und wie viele verschiedene Arten gewisse Mengen von Dingen angeordnet und zu Gruppen zusammengefasst werden können. Vgl. Meyers Lexikonredaktion (Hg.): Meyers Großes Taschenlexikon (Anm. 78), Bd. 12, S. 76. Es handelt sich dabei um ein aus einzelnen Streifen bestehendes Buchobjekt das es ermöglich, die einzelnen Streifen bzw. die auf ihnen notierten Gedichtzeilen beliebig zu 14-zeiligen Sonetten kombinieren. Siehe zur Konzeption dieses Sonett-Projektes und seiner Einordnung in den Kontext oulipisti-
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fabriquer des poèmes« 139 , spricht Le Lionnais zum ersten Mal von einer littérature combinatoire 140 und macht diese Sammlung kombinierbarer Sonettzeilen somit zum Prototyp kombinatorischer und potenzieller Literatur. Die Kombinatorik ermöglicht einerseits die Transformation mathematischer Modelle in die Literatur, andererseits stehen diese Übertragung in einer Tradition, die das Kombinatorische zu einer zentralen Technik intermediärer Verknüpfungen macht. François Le Lionnais und Claude Berge formulieren die mathematische Perspektive auf kombinatorische Dichtung mittels des Begriffs der Konfiguration: eine Konfiguration meint die strukturelle Anordnung einer begrenzten Zahl von Objekten, die permutationellen Verfahren unterzogen werden; darin werden Geometrie und Arithmetik zusammengeführt. 141 Ihre kulturtechnische Bedeutung erhält die Konzeption kombinatorischer Literatur durch ihren Rückbezug auf die ars combintatoria, 142 die bei Ramon Lull als synthetisch-kombinatorische Logik begründet, in Leibniz’ »De Arte Combinatoria« (1666) eine zunehmende Durchdringung durch das Numerische-Logische erfuhr; betont Leibniz einerseits den Zahlenbegriff für die Metaphysik, so ermöglicht die Idee der ars combinatoria andererseits die Verbindung von Logik, Geschichte, Moral und Metaphysik. 143 »Cette combinatoire s’inscrit dans une tradition très ancienne presque aussi vieille que la mathématique occidentale.« 144 Claude Berge hebt hervor, dass sich kombinatorische Strukturen, Konfigurationen, mengentheoretisch mathematisieren und im Rahmen von Optimalisierungsproblemen behandeln lassen. 145 Die »analyse potentielle de la litté-
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scher Arbeit Raymond Queneau: »Cent mille millards de poèmes. Mode d’emploi«, in: Oulipo, La littérature potentielle, S. 247-249. Ebd., S. 247. Vgl. François Le Lionnais: »A propos de la littérature expérimentale«, in: Oulipo, La littérature potentielle, S. 250-257, hier S. 255f. Vgl. Claude Berge: »Pour une analyse potentielle de la littérature combinatoire«, in: Oulipo, La littérature potentielle, S. 47-61, hier S. 48. Geometrie ist dasjenige Teilgebiet der Mathematik, das sich ursprünglich mit der Größe und Gestalt der Dinge der physikalischen Welt befasst. Als euklidische Geometrie bezeichnet man den Teilbereich, der auf dem von Euklid aufgestellten Axiomensystem beruht. In der elementaren euklidischen Geometrie werden die Beziehungen der Elemente des zwei- und dreidimensionalen Raumes (Punkte, Geraden, Ebenen) untersucht, wobei die Ergebnisse auf den n-dimensionalen Raum übertragbar sind. Die analytische Geometrie stellt Kurven und Flächen als Graphen von Funktionen und Relationen dar. Vgl. Meyers Lexikonredaktion (Hg.): Meyers Großes Taschenlexikon (Anm. 78), Bd. 8, S. 104. Die Arithmetik ist dasjenige Teilgebiet der Mathematrik, das sich mit den Zahlen im allgemeinsten Sinne befasst. Die Arithmetik umfasst unter anderem die Behandlung arithmetischer und geometrischer Folgen bzw. Reihen und die Kombinatorik. Vgl. ebd., Bd. 2, S. 218. Siehe C. Berge: »Pour une analyse potentielle«, S. 47. Zur ars combinatoria siehe bspw. einführend E. W. Platzek: »Ars combinatoria«, in: Joachim Ritter: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 1. Basel, Stuttgart 1971, S. 522. Vgl. J. Roubaud: »La mathématique«, S. 395. Vgl. C. Berge: »Pour une analyse potentielle«, S. 48f. Claude Berge entwickelt mengen- und graphentheoretische Methoden für die Spieltheorie zur Optimierung von Problemen der Wirtschaftsmathematik, Biologie und Gesellschaftswissenschaften. Siehe dazu Claude Berge/A. Ghouila-Houri: Programme, Spiele, Transportnetze, Leipzig 1969; Claude Berge: Théorie des Graphes et ses applications, Paris 1958; ders.: Principes de Combinatoire, Paris 1968.
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rature combinatoire«, die Claude Berge unterninmt,146 wendet die Idee des Potenziellen auf die Methode der mathematischen Analyse zurück, das heißt es werden Möglichkeiten erkundet, literarische Konfigurationen mittels unterschiedlicher mathematischer Methoden und Darstellungsformen zu beschreiben. Dabei wird ein Prozess von Übertragungen nicht nur zwischen Literatur und Mathematik, sondern auch zwischen mathematischen Richtungen, Modellen und Repräsentationsformen in Gang gesetzt. Wie also auf Seiten der Literatur unterschiedliche Aspekte von Schrift und Sprache ins Spiel gebracht werden – alphabetische (Lipogramm, G. Perec), phonetische (heterosexuelle Reime, N. Arnaud)147, syntaktische, numerische (nach der Zahl π strukturierte sonnets irrationnels, J. Bens)148 und semantische (Inventaires, J. Bens)149 –, so wird auch auf der Seite der Mathematik auf verschiedene Zweige – Arithmetik, Algebra, Topologie, Mengentheorie150 – rekurriert. Formen der Kombinatorik mathematischer und schriftlicher Symboltechniken lassen sich in unterschiedliche mathematische Formulierungen und Darstellungsweisen überführen, die wiederum eine Vielzahl von Hybriden zwischen Mathematik und Dichtung ermöglichen. Queneaus kombinatorische Dichtung »Cent mille millards de poèmes« lässt sich zugleich als Beispiel exponentieller Literatur beschreiben – die Anzahl der Gedichte bei n Versen ist 10n – wie auch als faktorielle Literatur, da gewisse Elemente des Textes uneingeschränkt auf alle möglichen Arten permutiert werden können unter Erhaltung der syntaktischen Struktur; als poésie factorielle verstanden, lässt sich die Struktur der 1014 Gedichte als Graph darzustellen.151 Claude Berge beschreibt als weitere Formen kombinatorischer Literatur unter anderem die von Paul Braffort und Françios Le Lionnais entwickelten »poèmes fibonacciens«,152»poèmes sur graphes« und »poèmes quasi eulériens«. Anhand dieser kombinatorischen Literatur lassen sich die aus unterschiedlichen mathematischen Zweigen stammenden Darstellungsformen exemplarisch studieren: Klammerschreibweise, Formel, Graph, Baumdiagramm, Pfeildarstellung der »Poèmes carrés«,153 Wort-Liste154 und Matrix. Anhand der Matrix erläutert Berge das Problem des »bi-carré latin d’ordre
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Vgl. C. Berge: »Pour une analyse potentielle«, S. 48f. Heterosexuelle Reime meinen einen männlicher Reim, der dieselbe vokalische Basis und denselben Konsonanten hat wie ein weiblicher Reim, bspw. égout — goules, pas — pâle. Vgl. Noël Arnaud: »Conte de noël en rimes hétérosexuelles«, in: Oulipo, La littérature potentielle, S. 230-232. Jacques Bens: »Le sonnet irrationnel«, in: Oulipo, La littérature potentielle, S. 254-258, hier S. 254. Siehe auch Jacques Bens: 41 Sonnets irrationnels, Paris 1965. »Nous appelons Sonnet irrationnel un poème à forme fixe, de quatorze vers (d’où le substantif sonnet), dont la structure s’appuie sur le nombre (d’où l’adjectif irrationnel).« J. Bens: »Le sonnet irrationnel«, S. 254. Jacques Bens: »Inventaires«, in: Oulipo, La littérature potentielle, S. 166171. Inventaires sind Wortvereichnisse einzelner Gedichte, die zum Teil nach Wortarten geordnet sind. Zur Arithmetik siehe Anm. 141, zu Algebra und Topologie Anm. 78. Vgl. C. Berge: »Pour une analyse potentielle«, S. 50, 51. Ebd., S. 52. Zur Fibonacci-Reihe siehe Anm. 86. Jean Lescure: »Des permutations en particulier et en général des poèmes carrés«, in: Oulipo, La littérature potentielle, S. 155-165, hier S. 165. Siehe J. Bens: »Inventaires«.
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dix«, auf welchem Georges Perec unter anderem seinen monumentalen Roman »La Vie mode d’emploi« aufgebaut hat. Neben der seriellen Operation »Excercises de style« 156 und der kombinatorischen Struktur der »Cent mille millards de poèmes« entwickelt Raymond Queneau weitere Praktiken, um Textanalyse und Mathematik zu verbinden, beispielsweise die »Relation X prend Y pour Z«, 157 die Roubaud in »Pricesse Hoppy ou Le Conte du Labrador« 158 zu »X complote avec Y contre Z« variiert. Die Struktur X prend Y pour Z wird zu einem allgemeinen Schema, dessen Varianten zahlreichen Erzählungen in der literarischen Tradition zugrunde liegen, nicht zuletzt der Ödipus-Konstellation, und die als Relation mit n Personen verallgemeinert werden kann und sich mittels unterschiedlicher mathematischer Darstellungsmethoden umsetzen lässt, als Formel, als Graph, als Multiplikationsmatrix oder textuelle Beschreibung, beispielsweise: »La table de multiplication d’un groupe correspond à la situation suivante: personne ne se prend pour ce qu’il est, ni ne prend les autres pour ce qu’ils sont à l’exception de l’élément unité qui se prend pour ce qu’il est et prend les autres pour ce qu’ils sont.« 159
An diesem Schema ist zu erkennen, inwiefern mathematische Methoden einerseits zur Formalisierung der poetischen Sprache und der literarischen Praktiken herangezogen werden und wie andererseits die poetische Struktur in diverse Darstellungsformen umgesetzt werden kann. Diese Transformierbarkeit in mathematische Repräsentationsformen macht den Kern potenzieller Literatur aus, insofern eine virtuelle Struktur in unterschiedlichen Darstellungsformen konkretisiert und in einem zweiten Schritt mit einer unbegrenzten Anzahl von Inhalten gefüllt werden kann. Die Metrik als klassisches Organisationsschema von Literatur ist eines der zentralen Forschungsobjekte der Oulipisten. Nicht nur Sonett und Sestine lassen sich mittels arithmetischer und gruppentheoretischer Methoden systematisch analysieren und in ihrer Potenzialität erkunden. Das Permutationsschema der auf den provenzalischen Troubadour Arnaut Daniel zurückgehenden Sestine kann mit Hilfe der Theorie der Permutations-Gruppen (théorie des groupes de permutations) 160 für die Reimstrukturen von Oktinen161 und n-inen verallgemeinert werden, wobei letztere nach ihrem »Entdecker« Queneau, queninen genannt werden. 162 Dieses Permutationsschema der
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Vgl. C. Berge: »Pour une analyse potentielle«, S. 58-61. Siehe zum Problem des bi-carré latin d’ordre dix Kapitel 3, Anm. 154 der vorliegenden Arbeit. Queneaus »Excercises de Style« (Paris 1961) variieren eine beschriebene Situation in unterschiedlichen Stilen und Schreibweisen. Vgl. Raymond Queneau: »La relation X prend Y pour Z«, in: Oulipo, La littérature potentielle, S. 62-65. Jacques Roubaud: »Le Conte du Labrador«, in: Oulipo, Atlas, S. 338-343. R. Queneau: »La relation X prend Y pour Z«, S. 62. J. Bens : »Queneau oulipien«, S. 41. Vgl. R. Quenau: »Potentielle Literatur«, S. 53. Die Theorie der Gruppen, die eine unbestimmte Serie von Gedichtstrukturen mit festgelegtem Formschema liefert, wird zur Lösung des Problems der nnine herangezogen: »La ›mutation spirale‹ définit une permutation telle qu’à tout élément numéroté 2p + 1 correspond l’élément n-p et à tout élément numéroté 2p l’élément p.« J. Roubaud: »La mathématique«, S. 397. Die Quenine ist eine Verallgemeinerung der Sestine, die einer »permutation
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Sestine, stellt man es grafisch dar, bildet eine Spirale. 163 Die Sestine zur Ordnungsstruktur eines gesamten Romanzyklus zu machen, ist das Projekt Jacques Roubauds, der in diversen Veröffentlichungen metrische Formen literaturhistorisch, mathematisch-strukturell und poetisch untersucht hat. 164 In seinem erfolgreichen, auf sechs Teile angelegten »Hortense«-Zyklus – Kriminalgeschichten um die gleichnamige Protagonistin Hortense 165 – strukturiert die Sestine die Textelemente auf verschiedenen Ebenen: sie bestimmt die Kapitelfolge, den Handlungsfortgang und die Lösung der Kriminalgeschichte, entsprechend dem von Roubaud formulierten Prinzip: »Un texte écrit suivant une conrainte parle de cette contrainte«. 166 Perecs mit der Gattungsbezeichnung »Romane« versehenes Werk »La Vie mode d’emploi« zeigt wie Roubauds Roman-Zyklus, dass sich die Poetik oulipistischer Literatur nicht nur in experimentellen Kleinformen umsetzt, sondern dass auch die klassische Romanproduktion zum Testfall potenzieller Literatur werden kann. Wie lässt sich angesichts dieser vielfältigen Formen potenzieller Literatur das Konzept der Potenzialität als das intermediäre Feld von Wissenschaft, Technik und Kunst organisierende Prinzip herausarbeiten?
2.2.3 »Theoretische Literatur« und Medienkunst Wie S.J. Schmidt experimentelle Literatur in Richtung konzeptueller Dichtung weiterentwickelt hat, 167 so wird über die Figur des Algorithmus auch die Idee potenzieller Literatur zunehmend abstrahiert und konzeptualisiert, denn mittels Algorithmisierung lassen sich die einzelnen Formen und Darstellungsmodi der littérature combinatoire in eine höhere Ebene der Abstraktion überführen. Der Algorithmus ist ein mathematisches schematisiertes Rechenverfahren, das in endlich vielen, eindeutig festgelegten Schritten zur Lösung einer bestimmten Aufgabe führt und die Formalisierung von Vorgängen unterschiedlichster Art ermöglicht. Er fungiert als zentrale Schnittstelle zwischen Mathematik, Wissenschaft und Sprache, insofern dieses mathematische Konzept in engem Zusammenhang mit den jeweiligen Denkmodellen zur Theoriebildung in anderen Wissenschaften herangezogen wird. Der Algorithmus ist damit eines der zentralen Elemente zur Formalisierung von Wis-
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166 167
spirale« folgt. Roubaud zeigt auch Beispiele einer Neuvine und einer Quatorzine. Die Sestine besteht aus sechs sechsversigen Strophen, die in einem festgelegten Schema permutiert werden. Die erste Strophe besteht aus den Reimwörtern 1 2 3 4 5 6 die zweite Strophe 6 1 5 2 4 3 usw. Siehe die folgenden Beiträge Jacques Roubauds: La fleur inverse. L’art des troubadours, Paris 1994; Soleil du soleil. Le sonnet français de Marot à Malherbe. Une anthologie, Paris 1990; »La disposition numérologique du rerum vulgarium fragmenta précédé de Vie brève de François Petrarque«, in: Oulipo, La Bibliothèque Oulipienne. Bd. 3, Paris 1990, S. 215-240. Siehe Jacques Roubauds Hortense-Zyklus: La belle Hortense, Paris 1987; L’enlèvement d’Hortense, Paris 1987; L’exil d’Hortense, Paris 1990. Erzänzend siehe Siegfried Loewe: »Jacques Roubaud — Le cycle labyrinthique des Hortense«, in: P. Kuon (Hg.), Oulipo — poétiques, S. 95-108. Jacques Roubaud: »Deux principes parfois respectés par les travaux oulipiens«, in: Oulipo, Atlas, S. 90. Vgl. S.J. Schmidt: »konzeptionelle dichtung«.
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sensgebieten, vergleichbar der Kombinatorik. 168 Insofern der Algorithmus den Rechenverfahren der Informatik zugrunde liegt, wird er zum modellbildenden Konzept und zur Zentralmetapher in der Organisation des Wissenschaftsfeldes im Computerzeitalter. Diese Formalisierung der Literatur als hierachisierte Anordnung von sprachlichen Elementarteilchen logischer und linguistischer Kategorien, die Formalisierung dieser Strukturen mittels symbolischer Notationssysteme zur Darstellung von Entitäten, Operationen und Relationen 169 führt zu einer »conceptualisation purement ›métalittéraire‹« 170 , zu einer »Littérature Théorique«, vergleichbar der theoretischen Physik und Chemie. 171 Mittels des Algorithmus lassen sich grafische und phonetische Sprachfragmente ebenso wie Atome und Quarks oder ganze Episoden aus der Fiktion, ganze Bücher, Zivilisationen, Planeten- und Sonnensysteme bis hin zu Galaxien formalisieren, »tout ce qui en somme peut être manipulé sous sa forme matérielle ou symbolique«. 172 Formen der Wissensorganisation und der Konzeptualisierung der Literatur bedingen einander und erhellen sich wechselseitig. Diese Idee einer metaliterarischen Konzeption, einer theoretischen Literatur, erläutert Paul Braffort in seinen Überlegungen zur Formalisierung der Analyse und Produktion literarischer Texte anhand wissenschaftstheoretischer Überlegungen, die er im Hinblick auf unterschiedliche kulturelle Methoden und Modelle der Wissensorganisation anstellt.173 Hierbei wird eine Hierarchie kultureller Organisationsformen von analogischem über metaphorisches bis zu abstrakt-modellhaftem Denken angenommen. Die heuristischen Methoden der Weltkonzeptualisierung Analogie und Metapher beruhen auf dem Informationssystem der Sprache und machen Strukturanalogien, »Isomorphismen«, anschaulich, sind, wenn auch trügerisch und poetisch, als universelle Algorithmen der Rationalisierung anzusehen. Modelle dagegen, so Braffort, leisten eine adäquatere Repräsentation und Interpretation der uns umgebenden Welt, von »grammaire et logique, physique et chimie, mais aussi histoire et géographie ou littérature et musique«. 174 Das Verhältnis von Literatur und Wissenschaft im Hinblick auf die Ordnung von Erfahrung beschreibt Braffort dahingehend, dass Literatur einen ständigen Gebrauch von Metaphern macht, die daher fast unsichtbar geworden sind, und dass die Wissenschaft sich wie eine permanent vervollständigende und reorganisierende Bibliothek darstellt, in welche sich Atlanten von Modellen und Lesebücher von Metaphern einreihen. Das Bewusstsein, dass es sich bei formalisierten 168
169 170 171 172 173 174
Die Kombinatorik (siehe Anm. 137), als Wissenschaft der Konfigurationen, der Anordnung diskreter Elemente, fungiert in der oulipistischen Wissenschaftsgeschichtsschreibung als universale Methode für jegliche atomistische, strukturelle und systemische Modelle, angefangen bei Demokrit und Lukrez (vgl. P. Braffort: »F.A.S.T.L.«, S. 121) über die Ars Magna von Ramon Lull und Leibniz’ Dissertatio de Arte Combinatoria (vgl. Harry Mathews: »L’algorithme de Mathews«, in: Oulipo, Atlas, S. 91-107, hier S. 106) bis zu Literatur als Organisation einer kleinen Anzahl endlicher Mengen von Sprachelementen und typografischen Zeichen (vgl. P. Braffort: »F.A.S.T.L.«, S. 120f.). Vgl. P. Braffort: »F.A.S.T.L.«, S. 116. Ebd., S. 120. Jacques Bens/Claude Berge/Paul Braffort: »La littérature récurrente«, in: Oulipo, Atlas, S. 61-89, hier S. 83. H. Mathews: »L’algorithme de Mathews«, S. 92. Siehe P. Braffort: »F.A.S.T.L.« Ebd.
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Modellen um Instrumente handelt, trage in der Wissenschaft dazu bei, den alten Irrtum des »réalisme conceptuel« zu vermeiden, der zur Verwechselung von formalem Modell und Erklärung führe und der sich als Falle für die Human- und Sprachwissenschaften erweise.175 In diesem Fortschrittsmodell von analogischem über metaphorisches bis zu abstrakt-modellhaftem Denken verorten sich Literatur und Kultur in erkenntnistheoretischer Hinsicht als metaphernproduzierende Praktiken zwischen analogischem und wissenschaftlichem Denken. Die Formalisierung sprachlicher Strukturen zielt demnach darauf, Sprache und Literatur als abstrakte Modelle zu begreifen. Es wird hier deutlich, wie die kulturwissenschaftlich formulierte Frage nach der Materialität der Zeichen und den Bedingungen für die Entstehung von Sinn vor dem Hintergrund eines bestimmten Wissenschaftsverständnisses beantwortet wird. Das Experiment als modellhaften Akt vorstellend, wird Literatur als theoretische auf die Stufe abstrakter Modellierung von Wissen »gehoben«. Der Algorithmus prägt das Verständnis sprachlicher Strukturen und Literatur auch insofern, als die Prozessualität der Produktion von sprachlichen Objekten in den Vordergrund der Definition potenzieller Literatur gerückt wird: »Le mot potentiel ne caractérise pas des œuvres mais des procédés.« 176 Der aus einem Algorithmus, demnach einer Regelvorschrift oder einem Kompositionsgesetz, generierte Text ist weniger als Text denn als permanenter Prozess der Textgenerierung zu verstehen. Algorithmisch produzierte Texte gehören der sogenannten »littérature récurrente« 177 an, wobei diese Benennung der mathematischen Rekurrenz entlehnt ist und diejenige Literatur beschreibt, deren Regelwerk den Leser dazu einlädt, die Textproduktion unendlich fortzusetzen. Es lassen sich drei Arten rekurrenter Literatur – repetitive, iterative und rekursive – unterscheiden. Innerhalb der rekursiven Literatur lässt sich eine Form, die »littérature à programme métapragmatique«, 178 besonders hervorheben. 179 Diese Literatur nach einem metapragmatischen Programm stellt eine Erweiterung der Zeichentheorie nach Charles Morris dar, wie Jacques Bens, Claude Berge und Paul Braffort in einem gemeinsamen Aufsatz zur rekurrenten Literatur erklären: Die in einem Algorithmus dargestellte Produktionsanweisung, aus einem gegebenen Text nach einer bestimmten Vorschrift einen neuen Text zu gene175 176 177 178 179
Vgl. ebd., S. 115. J. Bens: OuliPo, S. 109. Siehe J. Bens/C. Berge/P. Braffort: »La littérature récurrente«. Vgl. ebd., S. 88. Eine zweite Form rekursiver Literatur ist die sogenannte zelluläre Prosodie. Der zellulären Prosodie liegt das »Spiel des Lebens« des Mathematikers Conway zugrunde, das eine Version des zellulären Automaten John von Neumanns darstellt und einen Organismus mittels einer Konfiguration von Punkten in einem Gitternetz bestimmt, der unter gewissen Umständen existiert oder verschwindet; ein entsprechender Algorithmus ließe sich auf die Prosodie übertragen. Siehe J. Bens/C. Berge/P. Braffort: »La littérature récurrente«, S. 86. Interessant ist dieses Gedankenexperiment hinsichtlich der Idee Vilém Flussers, einen Vampyproteuthis infernalis mittels Komputation zu generieren. Flusser visiert die Animierung des künstlich entworfenen Organismus im Hologramm an: »Dieses Hologramm produzieren wir zuerst in der Fläche, dann erst stellen wir es in den Raum und beginnen, es zu animieren. Und dann lebt das Vieh.« Vilém Flusser: Zwiegespräche. Interviews 1967-1991, Göttingen 1996, S. 82. Siehe Kapitel 4.4, S. 272-282 der vorliegenden Arbeit.
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rieren, rückt die pragmatische Dimension des Literarischen in den Vordergrund. 180 Methode, Experiment und potenzielle Literatur werden durch diese Idee des (Meta-)Pragmatischen als Handlungsvorschrift in Beziehung gesetzt. 181 Diesen geregelten, prozessualen Generierungsprozess beschreiben Bens, Berge und Braffort als Spielprozess im Sinne von John von Neumann. Oulipistische Literatur steht damit neben der sozialen, politischen und ökonomischen Theorie als Anwendungsgebiet mathematischer Spieltheorie. Dieser, im Zusammenhang mit Formalisierungen und Automatisierungen von Prozessen stehende, mathematische Spiel-Begriff lässt sich auch der Formulierung Queneaus zugrunde legen, Wissenschaft oszilliere zwischen Kunst und Spiel, während Kunst zwischen Spiel und Wissenschaft oszilliere. Das Spiel, wie es sich für das Bild des Schachspiels nachvollziehen ließ, meint ein formalisierbares System geregelter Operationen. Als derart handlungsorientierte und spielerische Programme lassen sich neben den von Oulipo vorgestellten formalisierten Techniken zur Generierung von Literatur auch die theoretischen Texte der oulipistischen Autoren lesen. Aufgrund der präzisen Definitionen, Theoreme, Demonstrationen und Aufgabenstellungen sind sie wissenschaftlichen Textsorten vergleichbar und entsprechen darin der Vorgabe, potenzielle Literatur mit wissenschaftlichen Methoden zu betreiben. Vergleichbare Versuchsanordnungen und Gebrauchsanweisungen sind auch den praktischen Beispielen beigegeben, sodass die Kombination aus modellhafter Vorschrift und exemplarischer Praxis sich als Form des literarischen Experiments vorstellt. Diese Bestrebungen der Formalisierung von Literatur, wie sie die Mathematiker des Oulipo in differenzierter Weise unternehmen, zielen auf die »élaboration des structures artificielles«, 182 die auf automatisierbare und computergestützte literarische Praktiken zulaufen. Deutlich hervorzuheben ist das Interesse, in den Überkreuzungen von Mathematik und Literatur Grenzformen von Sprache und Schrift zu erkunden. Mit Blick auf diese Grenzbereiche werden zentrale Aspekte des Projekts potenzieller Literatur deutlich: In den Formalisierungen wird die Potenzialität von Literatur im Hinblick auf die unendliche Variabilität formaler, aber auch semantischer Muster konzentriert, in neuen, nicht-literarischen Disziplinen entlehnten Darstellungsformen anschaulich gemacht und theoretisch reflektiert. Die Verschiebung des Literarischen ins Mathematische bzw. die Konstruktion eines intermediären Feldes schafft einen Raum und Darstellungsweisen für Grenzfälle von Sprache, Schrift und Literatur. In den hybriden Konzeptionen und Formen können Grenzen und ihre Überschreitung darstellbar gemacht werden, seien sie konzeptueller Art oder praktische Konkretisierungen betreffend. 180 181
182
Vgl. J. Bens/C. Berge/P. Braffort: »La littérature récurrente«, S. 88f. Siehe zur Forschungsrichtung einer pragmatischen Literaturwissenschaft Meyer H. Abrams: The Mirror and the Lamp. Romantic Theory and the Critical Edition, New York 1953. Linguistische Ansätze wie Teun A. van Dijk (Hg.): Pragmatics of Language and Literature, Amsterdam 1976; Herbert Stachowiak (Hg.): Pragmatik. Handbuch pragmatischen Denkens. 5 Bde., Hamburg 1986-1995; Dieter Breuer: Einführung in die pragmatische Texttheorie, München 1974; Stephen C. Levinson: Pragmatik, Tübingen 1994. Einen soziologisch orientierten pragmatischen Ansatz vertritt Gottlieb Gaiser: Literaturgeschichte und literarische Institutionen. Zu einer Pragmatik der Literatur, Meitingen 1993. F. Le Lionnais: »La LiPo«, S. 21.
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François Le Lionnais stellt eine Reihe solcher Formen literarischer Grenzphänomene zur Verfügung: Das Krimischema »Qui est le coupable?« 183 listet beispielsweise auch die nicht realisierbare Lösung auf, dass der Leser der Mörder sei. In unterschiedlichen Darstellungsweise lassen sich verschiedene Konzeptionen dieser Problemstellung formulieren, sie lässt sich als Liste potenzieller Mörder oder in prozessualer Perspektive als Baumstruktur umsetzen, die den Handlungsfortgang als Weg mit Wahlmöglichkeiten beschreibt – eine Perspektive, nach der Le Lionnais diese Form, in die sich auch Queneaus »Conte à votre façon« 184 und Fournels »L’Arbre à théâtre. Comédie combinatoire« 185 überführen lassen, als »littérature ›en arbre‹« 186 bezeichnet. Andere Grenzbereiche literarischer Formen visiert Le Lionnais in den »tentatives à la limite« 187 genannten Gedichten an, die aus nur einem Wort, einem Buchstaben oder aus Interpunktionszeichen bestehen; er konzipiert Versuche mit Reimen, 188 von der Nullform »absence de rime« bis zum »holorime«, der in jeder Zeile den Reim wiederholt und so wie ein Hologramm funktioniert, das in jedem Element das gesamte Bild enthält. Es ist das Prinzip des Hybriden, das aus der Biologie entlehnt die Zusammenführung heterogener Teile beschreibt und hier die Zusammenschau mathematischer und poetischer Strukturen kennzeichnet. Dass es hybride Formen sind, in denen Literatur und Mathematik in immer neuen grenzwertigen Formen ineinander überführt werden, macht Le Lionnais zu einem eigenständigen Prinzip, den »Chimères« 189 . In der »Boîte à idées« 190 versammelt Le Lionnais Vorschläge zu dreidimensionalen Gedichten, zu Holoreimen und Antireimen, Texte mit begrenztem Vokabular, für das er auch Computer- oder Tiersprachen vorschlägt, und erstellt eine Liste für die literarische Arbeit brauchbarer mathematischer Strukturen und Begriffe. François Le Lionnais’ Versuche verdeutlichen, dass potenzielle Literatur nicht nur Grenzen zwischen sprachlich-literarischen Textformen und mathematischen Darstellungsformen überschreitet, sondern – ausgehend von der Idee formalisierter Ordnungsmuster – Elemente unterschiedlichster Diskurse 183
184 185 186 187 188
189
190
François Le Lionnais: »Les structures du roman policier: Qui est le coupable? (avant-projet de classification)«, in: Oulipo, La littérature potentielle, S. 66-69. Raymond Quenau: »Un conte à votre façon«, in: ebd., S. 277-280. Paul Fournel: »L‘Arbre à théâtre. Comédie combinatoire«, in: ebd., S. 281285. François Le Lionnais: »Une nouvelle policière en arbre«, in: ebd., S. 276. François Le Lionnais: »Enchainements et tentatives à la limite«, in: ebd., S. 172-175. Siehe auch Albert-Marie Schmidt: »La Lamproie (Dizain saphique à la lionnaise avec rimes initiales et terminales)«, in: ebd., S. 234. Siehe auch die Reime setzenden, wo keine erwartet werden, und die gewohnten Reime auslassenden Poèmes-barre von François Le Lionnais, in: ebd., S. 235. Weitere Beispiele Le Lionnais’: »A propos de l’absence de rime«, in: ebd., S. 236; »Holorime à répétition«, in: ebd., S. 237: »Hou! Lippe, eau! / Où Lipp? Haut? / Houx lit: ›peau‹, / Houle hippo! / Où lit, pot?« François Le Lionnais: »Chimères«, in: ebd., S. 181-184. Als »Chimères« bezeichnet Le Lionnais die spezielle Form der »poèmes booléens« bzw. das »théâtre booléen«, für die die Operationen von Vereinigung, Einfügung und symmetrischer Differenz aus der Mengentheorie und Algebra von Boole auf die als Untermengen verstandenen Gedichte und Theaterstücke angewendet werden. Vgl. François Le Lionnais: »Poèmes booléens«, in: ebd., S. 262-268. François Le Lionnais: »Boîte à idées«, in: ebd., S. 287-299.
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und Modelle, von Tiersprachen über Fabelwesen bis zu Hologramm-Techniken, in die Idee von Literatur integrieren kann. In diesen Hybridisierungen spiegelt sich symptomatisch die experimentalkulturelle Konstellation. Literatur wird zu einer spielerischen Organisationsform heterogenster kultureller Elemente. Anschließend an David Hilbert ist potenzielle Literatur die Möglichkeit, gegebene Strukturen mit allen denkbaren Inhalten zu füllen. Literatur wird hier zu einer Idee von Übertragungsprozessen im kulturellen Feld – und damit selbstreflexiv, insofern die Interaktion von Mathematik und Literatur das allgemeine Prinzip der Organisation kultureller Konfigurationsprozesse zwischen Technik, Wissenschaft und Kunst widerspiegelt. In diesem Transformationsmoment liegt das Spielerische der potenziellen Literatur begründet, zwischen Wissenschaft und Kunst zu oszillieren. Als selbstreflexives Moment ist auch der Aspekt zu verstehen, dass potenzielle Literatur hypothetische Möglichkeiten eröffnet, deren Realisierung zweitrangig, spielerisch oder unmöglich ist, womit eine Grundfrage von Literatur, das Problem der Fiktion, angesprochen ist. Diese Gedankenspiele – mit Waldenfels: »Experimente mit der Wirklichkeit«191 – sind Abenteuer des Geistes in einer ratioïden Welt: Sie führen den universellen Formalismus als abstraktes Modell vor und als reines Gedankenspiel zugleich ad absurdum. Michael Hagner beschreibt die wissenschaftskulturelle Situation der sechziger und siebziger Jahre unter anderem als eine, »die der kalte Krieg in den 50er bis 70er Jahren mit sich brachte, denn naturwissenschaftliche Erkenntnis und technologische Fortschritte wurden immer wieder instrumentalisiert, um die kognitive und moralische Überlegenheit westlicher Demokratien zu beweisen. Wer sich über diesen naturwissenschaftlich-technologischen Primat kritisch äußerte, manövrierte sich bewußt oder unbewußt in eine Ecke, die rasch in den Verdacht geriet, moralisch oder politisch unzuverlässig zu sein.« 192
Informatik und Medienkunst François Le Lionnais und Paul Braffort sind diejenigen Oulipisten und Mathematiker, die das Konzept potenzieller Literatur konsequent in Richtung der Formalisierung und Automatisierung weiterentwickeln und auf die Bereiche Informatik und Computertechnologie ausdehnen. Enzyklopädische Projekte wie die Idee eines Lexikons thematischer und semantischer Strukturen, geordnet nach Ideen, Gefühlen, Empfindungen, Objekten, Handlungen, Phänomenen etc., 193 sind einerseits als Instrument zur Texttransformation gedacht, stellen andererseits auch Grundlagenforschung auf dem Gebiet der Informatik und computergestützten Textverarbeitung dar. In diese Richtung arbeitet Le Lionnais weiter, indem er die Computersprache ALGOL (ALGorithmic Oriented Language) 194 aufgrund ihres restringierten Vokabulars und ihrer streng geregelter Grammatik als kombinatorische Sprache und damit als Modell oulipistischer Literatur vorstellt, die Noël Arnaud
191 192 193 194
Siehe B. Waldenfels: »Experimente mit der Wirklichkeit«. M. Hagner: »Ansichten einer Wissenschaftsgeschichte«, S. 17. Siehe François Le Lionnais: »Structures thématiques ou sémantiques«, in: Oulipo, La littérature potentielle, S. 299. Siehe François Le Lionnais: »Ivresse algolique«, in: ebd., S. 217-222.
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in den »Poémes algoliques« in Gedichte transformiert. 195 Der Themenkomplex Oulipo und Informatik stellt sich demnach als ein weiterer Ort der Interaktion von Wissenschaft, Kunst und Technologie dar, wobei Computerwissenschaft und Informationstechnik in der kulturellen Konstellation seit den fünfziger Jahren eine zunehmend zentrale Rolle spielen. Einerseits dienen Programmiersprachen als Material oulipistischer Regelsysteme, andererseits werden Informatik und ihre Programmiersprachen zu Modellen oulipistischen Arbeitens. Darüber hinaus dienen elektronische Rechenanlage als Instrument zur Realisierung potenzieller literarischer Strukturen, zum Beispiel zur Erstellung exemplarischer Gedichte der 1014 Sonette Queneaus. 196 Oulipistische Wissenschaftler und Autoren beteiligen sich mit diesen theoretischen und praktischen Arbeiten an Projekten der Computerforschung und positionieren die Arbeit potenzieller Literatur in einem Feld von Automatentheorie, Steuerungswissenschaften und Computerlinguistik. Die von Paul Braffort vorgestellten Formalismen zur Analyse und Synthese literarischer Texte (F.A.S.T.L., formalismes pour l’analyse et la synthèse de textes littéraires) 197 werden in der von Jacques Roubaud geleiteten Projektgruppe ALAMO (Atelier de littérature Assistée par la Mathématique et les Ordinateurs) in Anlehnung an formale Sprachen weiter entwickelt. Es wird ein Notationssystem USFAL (Un Système Formel pour l’Algorithme Littéraire) vorgestellt, das neueste Forschungen aus der Linguistik und Narratologie berücksichtigt und sich der Programmiersprache APL (A Programming Language) bedient. Diese aus oulipistischen Regelzwängen, Algorithmen und Programmiersprachen konstruierten Modelle hybrider Sprachsysteme, wie die USFAL-Technik zur Formulierung literarischer Algorithmen, sind exemplarische Beispiele theoretischer Literatur. 198 Das Atelier der durch Mathematik und Computer unterstützten Literatur ALAMO versammelt – wie zuvor Methoden und Darstellungsformen unterschiedlicher mathematischer Zweige – diverse Sprachgenerierungs-Programme: das generativ-transformationelle Textprogramm LAPAL (Langague Alhorithmique pour la Production Assistée de Littérature), die Programme CAVF (Conte à votre façon), SEL (Synthèse Elégante de Littérature), MAOTH (Manipulation Assistée par Ordinateur de Textes Hybrides). 199 Die Idee des Programms und der Programmierung von Sprache ist eine durch die Informatik eingeführte Weiterentwicklung der Idee literarischer Algorithmen, die in einem regelgeleiteten Prozess sprachliche Strukturen generieren. In diesem Sinne greift Oulipo explizit auf linguistische Praktiken wie die mit Stemmata arbeitende Konstituentenstrukturgrammatik Tesnières und die per rekursiver Regelanwendung prozessierende generative Transformationsgrammatik Chomskys 200 zurück. Diese Modelle aus Informatik und Linguistik integrierend, konzipiert potenzielle Literatur komplexe Program195 196
197 198 199 200
Noël Arnaud: »Poèmes algol«, in: ebd., S. 223-227. Vgl. das Kapitel »Pourquoi l’informatique?«, in: Oulipo, Atlas, S. 297. Die Mitglieder des Oulipo betonen, dass auch wenn der elektronische Rechner die Komposition von Gedichten übernimmt, die Wahl der Verse nicht dem Zufall überlassen werden sollte. Vgl. in J. Bens: OuliPo, S. 73. Zur Erstellung von »suites finies de Queneau« 1972 durch Paul Braffort und seine Mitarbeiter vgl. F. Le Lionnais: »Raymond Queneau «, S. 37. P. Braffort: »F.A.S.T.L.«, S. 108-137. Vgl. ebd., S. 127f. Vgl. ebd., S. 130f. Vgl. ebd., S. 135.
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me zur Produktion sprachlicher Strukturen: »C’est une procédure ›universelle‹ de fabrication de bases de données littéraires.« 201 In der an die Terminologie der Informatik angelehnten Formulierung erreicht die Idee potenzieller Literatur ihren höchsten Abstraktionsgrad: »Pour un esprit mathématicien, on dira que l’algorithme est une fonction qui, appliqué à ce texte, considéré comme son argument fournit un résultat. Ce résultat est lui-même un texte, mais un texte où se trouve explicitée une organisation complexe et fortement structurée de fragments de textes et d’énoncés symboliques et que nous appelons le dossier.« 202
Der per Algorithmus generierte formalisierte Text konstruiert seine komplexe Organisation auf allen Ebenen der sprachlichen Hierarchie. Im Umfeld der computerbasierten Sprachverarbeitung entstehen neue Formen von Schriftsystemen und werden Mechanismen zur Organisation von Sprachsystemen erforscht, die in die Idee potenzieller Literatur integriert werden. Braffort sieht das oulipistische Experimentieren mit Formalisierungen von Literatur in der Tradition der philosophischen Reflexion über das Funktionieren von Sprache, das in den fünfziger und sechziger Jahren in der Informationsgesellschaft, der »civilisation de l’information«, seine aktuelle Herausforderung findet. 203 Die Idee von (literarischer) Schrift als hybrides Symbolsystem erfährt durch die Computertechnik eine konzeptionelle Ausweitung und ihre technische Realisierung. Ist potenzielle Literatur auch ein abstraktes Konzept der Formalisierung sprachlicher Strukturen, so ist es – wie oben schon angesprochen – das selbstreflexive Moment, das Literatur auszeichnet. Paul Braffort zeigt dies anhand des Grenzphänomens des Paradoxons und seiner reflexiven Funktion auf, wobei er an die paradoxalen Grenzen der Rekursivität erinnert, die in dem Bild des in sich verschlungenen Möbiusbandes veranschaulicht werden, oder an Paradoxa in ihrer abstraktesten Form in den mathematisch-logischen Formalisierungen Gödels. 204 »En littérature, au contraire, la réflexivité peut devenir le thème d’une œuvre et donner lieu à des excercises de haute virtuosité dont Borges et Nabokov ont donné de nombreux exemples.« 205
Im intermediären Feld zwischen Mathematik, Informatik und Literatur, das über die Idee der Formalisierung konstituiert wird, zeichnet sich für die Literatur wiederum ab, dass sie der Ort ist, an welchem die im Feld der Wissenschaften vorgenommenen Überkreuzungen, beispielsweise auf dem Gebiet der Computerwissenschaften, nachgeahmt, mitvollzogen, vorgestellt und reflektiert werden: »Décidément, c‘est une littérature bien vivante que la formalisation nous propose. Certes, il faut des moyens (sans doute informatiques) et surtout des ouvriers […].« 206 201 202 203 204 205 206
Ebd., S. 132. Ebd., S. 133. Vgl. ebd., S. 111f. Das Paradox zum Beispiel, dem Barbier aufzutragen, alle Männer der Stadt zu rasieren, welche sich nicht selbst rasieren. Ebd., S. 113. Ebd., S. 136.
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Die Mathematiker und Informatiker, Computerwissenschaftler und Autoren der Werkstatt für potenzielle Literatur verkörpern exemplarisch eine experimentalkulturelle Konstellation von Literatur, Kunst, Forschung und Ästhetik. Dass Oulipo als avancierte Forschungsgruppe auf dem Gebiet von Informatik und Medienkunst zu gelten hat, unterstreicht die Tatsache, dass im Rahmen des Atelier de Recherches avancées du Centre National d’Art et de Culture Georges Pompidou (A.R.T.A.) die Arbeiten Oulipos zu Informatik und Literatur unter der Leitung Brafforts umgesetzt wurden. 207 Anhand der Protokolle der Arbeitstreffen Oulipos lässt sich nachvollziehen, dass die Gruppe in aktivem Austausch mit Forschungsinstitutionen und Experten auf den Gebieten der Computerlinguistik und -wissenschaft stand, Kontakt hatte zu Max Bense und Abraham Moles, 208 die ihre Informationsästhetik mit Computern an ästhetischen Objekten überprüften und weiterentwickelten, dass Mitglieder Oulipos ihre Arbeiten auf Kongressen beispielsweise zur Geschichte automatisierbarer Strukturen in der Literaturgeschichte vorstellten und aktiv an den Diskussionen zu Technologie und Ästhetik partizipierten. 209 Angesichts dieses Feldes computergestützter Medienkunst stellt sich die Frage, inwiefern sich von einer Ästhetik oulipistischer Literatur sprechen lässt. Im Gegensatz zu den Informationstheorien beispielsweise S.J. Schmidts und Abraham Moles, die semiotische Modelle zur Messung des Informationsgehalts und damit Innovationsgehalts von Texten zu einer Theorie ästhetischer Wahrnehmung entwickeln, 210 lehnt Queneau den Begriff des Ästhetischen für die Arbeit potenzieller Literatur ab: »L’OuLiPo n’est pas un mouvement ou une école littéraire. Nous nous plaçons en deça de la valeur esthétique, ce qui ne veut pas dire que nous en fassions fi.« 211 Wenn Oulipo sich auch in erster Linie als Forschungsgruppe versteht, so ist hier wieder eine deutliche Unterscheidung zu den experimentellen Arbeiten um Max Bense gegeben. Für die Konzeption und Praxis potenzieller Literatur gilt ein anderer Begriff des Ästhetischen, der nicht eine Informationsästhetik meint, sondern 207
208
209
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211
Siehe Paul Fournel: »Ordinateur et écrivain. L’expérience du Centre Pompidou«, in: Oulipo, Atlas, S. 298-302. Beispiele finden sich in den sich anschließenden Texten von Paul Braffort: »Poésie et combinatoire«, in: ebd., S. 303-305; »Prose et combinatoire«, in: ebd., S. 306-318. Max Bense hatte Oulipo kurz nach dessen Gründung kontaktiert und seitdem lange Berichte seiner eigenen experimentellen Arbeit übermittelt. Vgl. David Bellos: Georges Perec. A Life in Words, London 1993, S. 351. Diese Arbeiten wurden anlässlich der Sitzungen des Oulipo diskutiert. Vgl. J. Bens: OuliPo, S. 266; auch ebd., S. 92, 95; vgl. A. Moles: Informationstheorie und ästhetische Wahrnehmung, S. 226. Bezüglich des Kontaktes zu I.B.M. vgl. J. Bens: OuliPo, S. 26. M. Gross, Mathematiker an dem auf automatische Übersetzunge spezialisierten Institut B. Pascal, berichtet auf einer Sitzung des Oulipo von seinen Forschungen. Vgl. J. Bens: OuliPo, S. 252. Jacques Duchateau stellte auf einer Konferenz in Cerisy-la-Salle die Verwendung automatisierbarer Strukturen in der Literaturgeschichte und in der Arbeit Oulipos vor, betonend, dass es die Arbeit eines jeden Schriftstellers sei, Informationen in Funktion auf ein Modell zu verarbeiten. Siehe Duchateau Jacques Duchateau: »Communication sur l’OuLiPo à Cerisy-la-Salle«, in: ebd., S. 240-247. Moles beschreibt den Begriff des Ästhetischen, indem er der semantischen Information, unter die er Grammatik, Logik und Linguistik fasst, die ästhetische Information, das Persönliche, den ›Stil‹ gegenübersetzt. Vgl. A. Moles: Informationstheorie und ästhetische Wahrnehmung, S. 226. Zit. in J. Bens: »Queneau oulipien«, S. 22.
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als selbstreflexive Inszenierung von symboltechnischen Verkörperungsprozessen zu begreifen ist. In diese Fokussierung und Ausstellung der eigenen Prozesse der Materialisierung spielt eine zweite Dimension hinein, das Anthropologische bzw. das an den Menschen gebundene kreative Potenzial, das Italo Calvino unterstreicht. Calvino weist in einem Aufsatz zu potenzieller Literatur und Informatik auf einen Aspekt hin, der sich einer Ästhetik potenzieller Literatur zuschlagen lässt, zumal er indirekt auch als selbstreflexives Moment verstanden werden kann: Calvino sieht den Computer als willkommenes Hilfsmittel zur Kreation kombinatorischer Strukturen beispielsweise im Kriminalroman, der den Autor allerdings keinesfalls ersetzen könne, sondern ihm im Gegenteil mehr Freiheit zur Konzentration auf die Fehler im System erlaube, welche allein aus einem Text ein Kunstwerk machten. 212 Diese Idee des Fehlers im System geht zurück auf das Konzept des clinamen, das in der oulipistischen Poetik einen zentralen Stellenwert einnimmt und insbesondere bei Georges Perec zu einem entscheidenden Motiv literarischer Produktion wird. Diese von Lukrez entliehene Idee des Klinamen beschreibt einen Fehler im System, eine Funktionsstörung, die in der oulipistischen Poetik als menschlicher Faktor in die Produktion eingeführt wird und damit einerseits den intentionalen Eingriff des Autors meint, andererseits den Einbruch des Nicht-Logischen, Nicht-Erklärbaren, Zufälligen und Irrationalen. Calvino bezeichnet durch die Einführung des Klinamens die Schwelle von Systematik und Phantastik, von Wissenschaft und Kunst: »ce ›clinamen‹ qui, seul, peut faire du texte une véritable œuvre d’art.« 213 Ohne die Diskussion um Intentionalität weiter zu verfolgen, wird der Anteil der Kunst in der potenziellen Literatur hier an den menschlichen Eingriff gebunden, die Beobachtung der materiellen Verkörperungsprozesse wird in einen ästhetischen und anthropologischen Rahmen gestellt. Im Feld von Informatik, Computertechnologie und Dichtung leisten die Mitglieder der Werkstatt für potenzielle Literatur grundlegende Arbeiten, die in die Richtung der Konzeptkunst weisen und Teil der experimentellen Forschung sind, wie sie in der Interaktion von digitaler Technologie und Medienkunst fortgeführt werden. 214 Oulipo hat mit seinen Forschungen zu Literatur und Informatik bzw. zur computergestützten Literatur Teil an entscheidenden Veränderungen im kulturellen Feld, für die Paul Braffort das Schlagwort der Informationsgesellschaft aufgreift. Mit der Geschichte der Computerdichtung als kongeniale literarische Form des Computerzeitalters hat sich Max Bense als einer der Protagonisten der deutschen Szene befasst: »Die Geburt der Poesie aus dem Geist der Maschine« beschreibt Bense in einem 1971 verfassten Aufsatz zur experimentellen computergenerierten Dichtung. 215 Bense skizziert für den deutschen Sprachraum den wissenschaftstheoretischen Hintergrund und einen Ansatz der methodischen Erzeugung von Texten. Aus einer programmierten syntaktischen Struktur samt semantischem Inhalt, literarischen Werken ent212 213 214
215
Vgl. Italo Calvino: »Prose et anticombinatoire«, in: Oulipo, Atlas, S. 319331, hier S. 331. Ebd. Siehe bspw. zu — teilweise schriftbasierten — Formen des Internettheaters: Julia Glesner: »Internet Performances als Site-Specific Art«, in: C. Ernst/P. Gropp/K.A. Sprengard (Hg.), Perspektiven interdisziplinärer Medienphilosophie, S. 275-287. Siehe Max Bense: »Die Gedichte der Maschine der Maschine der Gedichte. Über Computer-Texte«, in: ders., Die Realität der Literatur, S. 74-96.
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SZENEN DER SCHRIFT
nommenen Wortlisten, werden maschinell per Zufallsgenerator stochastische Texte selektiert, die so genannten Autopoeme. Der ästhetische Gehalt dieser Texte wird informationsästhetisch bestimmt und programmiert, das heißt die ästhetische Dimension der Texte wird als statistisch formulierbarer Ordnungszustand beschrieben, als chaogener (gleichwahrscheinliche Verteilung), strukturaler (reguläre Anordnungen wie Symmetrien, Permutationen, Wiederholungen etc.) oder konfigurativer (irreguläre Wahrscheinlichkeit) Grundzustand. 216 »Das Team ›Mensch-Maschine‹ ist zu einem wechselseitigen geworden, im dem die Maschine (wiederum mindestens im Prinzip) nicht nur das Bewußtsein des Menschen simuliert, sondern der Mensch unter Umständen den Automatismus der Maschine nachahmt.« 217
»Das elektronische Zeitalter der Künste begann in den Jahren 1950 bis 1955«, konstatiert Siegfried J. Schmidt zu Beginn seines Aufsatzes »Computerlyrik – eine vertane Chance?«, 218 der ähnlich wie der Artikel Benses die im Rahmen einer rationalistischen, kybernetischen Ästhetik maschinell realisierten Autopoeme beschreibt. Die Arbeit mit dem Computer als Experiment mit der Materialität der Literatur verstehend, verweist S.J. Schmidt auf parallele Entwicklungen in anderen Künsten, die die Gestaltungsformen zum Gegenstand der ästhetischen Arbeit machen, wie Happening und Fluxus, Water und Land Art, Arte Povera, Environment und Destructive Art, Pop, Op, Minimal und Concept Art. 219 Einzig Dada und konkrete Dichtung hätten ähnliches für die Literatur geleistet. Im Hinblick auf die Nutzung des neuen Mediums Computer, die er in Musik und Malerei beschreibt – welche aus heutiger Sicht um Grafikdesign und digitale Computerkunst zu ergänzen wären –, konstatiert Schmidt eine in der Literatur vertane Chance, die Möglichkeiten des neuen Mediums weiter zu erforschen. Bezüglich der Konnexion zwischen Wissenschaftskultur und literarischer Poetik beschreibt S.J. Schmidt mit Blick auf die Autopoeme die Profanisierung des »Mythos der Muse« auf Kosten eines »Mythos der Maschine«, 220 woran sich eine bis in die literarischen Programmatiken und künstlerischen Praktiken des Modernismus reichende Genealogie der intermedialen Verkreuzung von Literatur und jeweils neuen (Medien-)Technologien rekonstruieren ließe. Im Rückblick zieht Schmidt das Fazit, dass die Computerlyrik der sechziger Jahre ein Anstoß für die Entwicklung einer Medienpoesie hätte sein können, »im Sinne einer temporalisierten (Ad hoc-)Beziehung verschiedener Medien, Materialien und Methoden«, 221 wie sie der Künstler und Medientheoretiker Peter Weibel entwirft und praktiziert. In eine solche Traditionslinie techno-ludischer Literatur stellt J.-J. Thomas neben dadaistische und konkrete Lektüre-, Montage- und Raumtechniken die von Oulipo entwickelten Schreibtechniken und computerbasierten Lektürepraktiken, insbesondere in ihrer Bedeutung für das französische intel216 217 218 219 220 221
Vgl. ebd., S. 90f. Ebd., S. 96. Siegfried J. Schmidt: »Computerlyrik — eine vertane Chance?«, in: ders., Der Kopf, die Welt, die Kunst, S. 286-307, hier S. 286. Vgl. ebd., S. 294. Ebd., S. 293. Ebd., S. 301.
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2. EXPERIMENTALISIERUNG VON SCHRIFT UND LITERATUR
lektuelle Milieu und für die 1985 von J.-F. Lyotard organisierte Austellung »Les Immatériaux« im Centre national d’art et de culture Georges Pompidou. 222 Damit wird das Konzept potenzieller und theoretischer Literatur zum Vorläufer einer nicht nur Frankreich sich an die Ausstellung »Les Immatériaux« anschließenden Debatte auf den Gebieten des postmodenen Denkens und der Medienphilosophie sowie für eine Theorie digitaler Kultur. An der Konzeption potenzieller Literatur lassen sich die Grundlagen eines Diskurses um fundamentale medientechnische Veränderungen, um eine Wende von der Gutenberg-Galaxis in das Universum einer elektronischen Kultur nachvollziehen. Die Konzeptionen und Arbeiten der potentiellen Literatur machen komplexe Entwicklungen im kulturellen Feld nachvollziehbar, das in seiner gesamten Spannweite kaum mehr zu überschauen ist. Der Bezug aktueller Theorien des Hypertextes auf die Werke Oulipos verdeutlicht die zentrale Rolle, welche diese literarisch-wissenschaftliche Gruppe für das Verständnis der gegenwärtigen Konstellationen von Kunst, Technologie und Wissenschaft spielt. Der Cybertexttheoretiker Aarseth 223 fasst Hypertexte, ComputerAbenteuerspiele, Internetliteratur und MUDs (Multi User Dungeons) zu »ergodic literature« zusammen, als deren gemeinsame Basis er die spielerische Erforschung labyrinthischer narrativer Strukturen sieht. Mit einem CalvinoZitat seine Arbeit einleitend – »Literature is a combinatorial game...« – führt er Oulipo als eines der literarischen Projekte an, welche für die Konzeption einer seiner Ansicht nach dringend benötigten Computersemiotik Vorarbeiten geleistet hätten. 224 Mit dem Internet werden die frühen Arbeiten der Computerdichtung wieder entdeckt und mit ihnen die Theorien experimenteller Literatur.225 Im Forum Ästhetik digitaler Literatur stellt Florian Cramer kombinatorische Dichtungen und Computernetzliteratur sowie kombinatorische Textspiele aus Antike, Frühzeit und Moderne vor, die sich als computergestützte Permutationsspiele animieren lassen. 226 Er führt im Netz das von Oulipo angeregte Projekt einer Geschichte potenzieller Literatur sowie die computertechnische Umsetzung der kombinatorischen Literatur fort. Bezüglich einer Theorie von Netzliteratur wirft Cramer einer etablierten Medienwissenschaft, die ein im Anschluss an Walter Benjamin und Marshall McLuhan entwickeltes Begriffsund Analyseinstrumentarium auf Computer und Internet übertrage, eine »geisteswissenschaftliche Fehllektüre« vor und setzt dem die Reflexion von Sprachkombinatorik und algorithmisch prozessierten Sprachcodes als Grundlage einer semiotischen Poetik von Netzliteratur gegenüber. »OuLiPian theory and practice might also provide stimulating hints for those interested in the nature of word processing and its philosophical significance, just as 222 223 224 225
226
Vgl. Jean-Jacques Thomas: Essais sur la poésie contemporaine, Lille 1989, S. 163, 177 Anm. 5. Espen Aarseth: Cybertext. Perspectives on Ergodic Literature, Baltimore, London 1997. Ebd., S. 25. Kuon erklärt das Internet zum idealen Realisierungsmedium oulipistischer Literatur, vgl. Peter Kuon: »Préface«, in: ders. (Hg.), Oulipo — poétiques, S. 9-14,hier S. 9. Siehe Cramer, Florian: Kombinatorische Dichtung und Computernetzliteratur www.userpage.fu-berlin.de/~cantsin/homepage/writings/net_literature/pe rmutations/kassel_2000/kombinatorische_dichtung.html vom 10.08.2004).
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SZENEN DER SCHRIFT inversely the use of desk top computers and the linguistic data bases that are now available to writers could provide increased facility for a new generation of OuLiPians. Finally the whole tradition of ›writing by numbers‹ which OuLiPo exemplifies raises a number of questions about what constitutes ›literature‹.« 227
An den Spielen Oulipos im intermediären Feld von Mathematik und Literatur, Dichtung und elektronischer Medienkunst zeigt sich eine Genealogie literarischer Experimentalität, die bis in die aktuelle Produktion reicht. Es ist der Perspektivwechsel, Literatur als Potenzialität von Schrift-Formen zu begreifen, der dieser Entwicklungslinie zugrunde liegt. Mit neuen Techniken und Medien wird die Erkundung der Verkörperungsformen der Schrift fortgeführt. Im Zentrum dieser literarischen Konzeptionen und Praktiken steht das Spiel als medienästhetische Praxis, die spielerische Selbstreflexion der materiellen und medialen Verkörperungsprozesse der Schrift. Die von Queneau aufgeworfene Frage nach der Reflexion des intermediären Feldes im Spiel von Wissenschaft und Kunst lässt sich näher beleuchten, nimmt man das Collège de ’Pataphysique, Collegium Pataphysikum, in den Blick, als dessen Untersektion Oulipo gegründet wurde. Inwiefern lässt sich angesichts ’pataphysischer Wissenschaftspoetik von einer Ästhetik des Spiels sprechen, sodass auch die oulipistischen Experimente an den Grenzen und Schnittstellen von Sprache, Schrift und Literatur als Praktiken einer solchen Ästhetik zu verstehen wären?
2.3 Ästhetik des Spiels als Inszenierung permanenter Grenzüberschreitungen 2.3.1 ’Pataphysische Wissenschaftsphantastik Das von Raymond Queneau beschriebene Oszillieren der Wissenschaft zwischen Kunst und Spiel und der Kunst zwischen Spiel und Wissenschaft 228 lässt sich insbesondere in den Aktivitäten des Collège de ’Pataphysique beobachten, dieses zur Erforschung und Praktizierung der ’pataphysischen Wissenschaft gegründete Kollegium. Die ’Pataphysik ist die Wissenschaft der imaginären Lösungen, »science des solutions imaginaires«, »science du particulier, science de l’exception (étant bien entendu qu’il n’y a au monde que des exceptions et que la ›règle‹ est précisement une exception à l’exception [...]).« 229 Diese Wissenschaft des Besonderen und der Ausnahmefälle, die als alle anderen Wissenschaften umfassende Metawissenschaft konzipiert ist, geht auf die von Alfred Jarry erfundene Figur des Doktor Faustroll zurück, dessen Prinzipien und Ziele ’pataphysischer Wissenschaft in den »Gestes et 227
228
229
Collin Symes: »Writing by numbers. OuLiPo and the creativity of constraints«, in: Mosaic. A Journal for the Interdisciplinary Study of Literature 32 (1999) H. 3, S. 87-107, hier S. 107. »[...] we can say that science oscillates between art and game, while art oscillates between game and science [...].« R. Queneau: »The Place of Mathematics«, S. 76. www.college-de-pataphysique.org/ vom 10.08.2004, unter der Rubrik: Qu’est-ce que la ’Pataphysique?
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2. EXPERIMENTALISIERUNG VON SCHRIFT UND LITERATUR
opinions du docteur Faustroll, pataphysicien. Roman néo-scientifique« 230 aufgezeichnet sind. Es ist also eine literarische Figur des Dada-Vorläufers Alfred Jarry und die ebenso literarische Fiktion einer Wissenschaft der imaginären Lösungen, auf die sich die Gründung des realen Collège de ’Pataphysique (1948) stützt, das einen bis heute aktiven und lange Zeit geheimen Zusammenschluss von Wissenschaftlern, Literaten und Intellektuellen darstellt. 231 Das Collège de ’Pataphysique erscheint als Alternativprogramm zu einer ratioïden Moderne der wissenschaftlich-technischen, politischen und ästhetischen Totalitätsentwürfe. Dabei geht es nicht um einen spöttischen Pessimismus oder bissigen Nihilismus, sondern das Collegium ’Pataphysikum situiert sich »Au-délà du rire et peut-être du sourire.« 232 In einem Aufsatz »La Pataphysique et révélation du rire« beschreibt René Dumal das Lachen der ’Pataphysiker: »Je soutiens et je sais que la Pataphysique n’est pas une simple plaisanterie. Et si à nous autres pataphysiciens le rire souvent secoue les membres, c’est le rire terrible devant cette évidence que chaque chose est précisement (et selon quel arbitraire!) telle quelle est et non autrement, que je suis sans être tout, et c’est grotesque et que toute existence définie est un scandale.« 233
Die von Jarry entworfene Wissenschaft der imaginären Lösungen und das entsetzte Lachen der Pataphysiker sind das Programm einer dadaistischen Tradition, die mit den Mitteln des Deformierens und der Groteske, des Irrationalen und Phantastischen gegen die Macht von Logik und Rationalismus antritt: »Dada explique la guerre mieux que la guerre ne l’explique«, 234 formu230
231
232 233 234
Alfred Jarry: Gestes et opinions du docteur Faustroll, pataphysicien. Roman néo-scientifique, in: ders., Œuvres complètes. Bd. I, Paris 1972, S. 655-743; verfasst 1898, 1911 posthum erschienen. Der Roman enthält auch die »Éléments de Pataphysique«; ebd., S. 669-670. Siehe zum Collège de ’Pataphysique die Website www.college-depataphysique.org/ vom 10.08.2004. Zur ’Pataphysique und zur Geschichte des Collège de ’Pataphysique siehe insb. das Dossier »La Pataphysique. Histoire d’une société très secrète« des Magazine littéraire 388 (2000), S. 1965. Darin besonders Ruy Launoir: »Un sciècle de Pataphysique«, S. 21-29; Michel Arrivé: »Les origines jarryques de la Pataphysique«, S. 29-32.; ergänzend auch Jean Roudaut: »Le collège des Collèges«, S. 24. Im Jahr 2000 begab sich das Collège de ’Pataphysique nach 25 Jahren der »Occultation« wieder an die Öffentlichkeit. Von den Feierlichkeiten, die anlässlich der »désoccultation« stattfanden, sind zum Beispiel die Ausrufung »Urbi et orbi de la Désoccultation« von der Terrasse der Trois Satrapes (Fondation Boris Vian) in Paris zu nennen, Veranstaltungen in Reims und Chartres und insb. die Aussstellung »Useless Science« im Museum of Modern Art New York, die die Werke des Colège de ’Pataphysique zeigte. Zur Schreibweise mit oder ohne Apostroph ist anzumerken, dass Jarry in »Elèments de pataphysique« die Schreibung »’pataphysique« zur exakten erklärt, woran er sich allerdings in keinem Fall hielt. Das Collège de ’Pataphysique unterscheidet die unbewusste Pataphysique (diejenige, die man ist) von der bewussten ’Pataphysique (diejenige, die man betreibt). Vgl. M.A.: »L’apostrophe du mot ’Pataphysique«, in: ebd., S. 22. www.college-de-pataphysique.org/ vom 10.08.2004, unter der Rubrik: Qu’est-ce que la ’Pataphysique? Zit. nach R. Launoir: »Un sciècle de Pataphysique«, S. 22. Noël Arnaud: Les métamorphoses historiques de dada«, in: Critique 134 (1958), S. 579-604, hier S. 580.
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liert Noël Arnaud, Oulipist und Mitglied des Collège de ’Pataphysique, in einem Aufsatz zur Geschichte des Dadaismus. Das Collège de ’Pataphysique ist als dadaistische und geheime Wissenschaftsorganisation zu verstehen, die eine utopische alternative Wissenschaftskultur entwirft: »Le collège est la manifestation discrète d’une civilisation utopique et absolue.« 235 Das Collegium ist eine zeremoniell organisierte und streng hierarchische Institution, die sich in zahlreiche ’pataphysische Untersektionen und Lehrstühle 236 untergliedert, die von so genannten Satrapen geleitet werden. Damit ließe sich das Collegium einerseits in der Tradition der Geheimorganisationen wie Freimaurerlogen sehen oder als Persiflage auf die Institutionalisierungen des Wissenschafts- und Kulturbetriebs, wie sie die Académie Française oder das Collège de France repräsentieren, aber in erster Linie erscheint das Collegium als eine Gesellschaft, die in einem intermediären Feld zwischen Wissenschaft, Spiel und Kunst eine phantastische Wissenschaft betreibt. Das Utopische der Gesellschaft wäre damit das Imaginäre als zwischen Realität und Fantasie oszillierender Raum. Zentrale Organe der pataphysischen Arbeit, der wissenschaftlichen und literarischen Studien sind die Zeitschriften »Cahiers du Collège«, die »Dossiers« und die »Subsidia Pataphysica«, des Weiteren werden interne Veröffentlichungen erstellt und Editionen bisher unveröffentlichter ’pataphysischer Werke besorgt. 237 Neben dem Werk Alfred Jarrys beschäftigen sich die ’pataphysischen Forschungen mit Autoren wie Lichtenberg, Jules Verne, Valéry, Gide, Raymond Roussel, James Joyce, Antonin Artaud, Max Jacob sowie mit einzelnen Mitgliedern des Collège de ’Pataphysique wie Jacques Prevert, Marcel Duchamp, Max Ernst, Raymond Queneau, René Clair, Boris Vian, Michel Leiris, Joan Miro, Man Ray und anderen. 238 Hier zeichnet sich das Projekt einer ’pataphysischen Literaturgeschichte ab, die einer dadaistischsurrealistischen Traditionslinie nahe steht.239 Die Organisation und die Forschungen des Collège de ’Pataphysique lassen sich mit Renate Lachmann als phantastische beschreiben. 240 Lachmann versteht Phantastik als »Fiktionshäresie«, insofern sie eine Abweichung und Verletzung der Regeln des Fiktionsdiskurses darstellt. Lachmann beschreibt die Konstruktion von Ambivalenz durch Phantastik, welche die Kausalität des aufklärerisch-rationalistischen Denkens bestreitet und kontingente Phänomene einer natürlichen Ordnung zuweist. Aus dieser Ambivalenz resultiert eine Desautomatisierung des Verstehens und die Entdeckung von Unsinn im 235 236 237 238 239
240
J. Roudaut: »Le collège des Collèges«, S. 24. Siehe www.college-de-pataphysique.org/ vom 10.08.2004, unter der Rubrik: Commissions. Ausführlicher zu den Themen und Inhalten der Zeitschriften in R. Launoir: »Un sciècle de Pataphysique«; siehe auch die Bibliografie ebd., S. 64f. Vgl. www.college-de-pataphysique.org/ vom 10.08.2004, unter der Rubrik: Qu’est-ce que la ’Pataphysique? »Der oulipistische Unsinn unterliegt einer Lesbarkeit, nach der die Welt weiterhin beschreibbar bleibt, ihre Signatur jedoch nur kryptographisch die Seiten zitiert.« H. v. Amelunxen: »OuLiPo«, S. 68. Hubertus von Amelunxen stellt das semiotische Projekt der Werkstatt für potenzielle Literatur, »die sich dem surreal nonsensicalischen Handeln« (Theo Stemmler: »Vorwort«, in: ders./S. Horlacher (Hg.), Sinn im Unsinn, S. 9) verschrieben habe, in eine Traditionslinie neben den Dadaismus als Sinn destruierende »Nonsensedichtung«. Renate Lachmann: »Exkurs: Anmerkungen zur Phantastik«, in: M. Pechlivanos u.a. (Hg.), Einführung in die Literaturwissenschaft, S. 224-229.
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Sinn und umgekehrt Sinn im Unsinn. Phantastik ist zurückzuführen auf Zusammenhänge von Aufklärung und Geheimnis, von naturwissenschaftlichem und technischem Wissen einerseits und Geheimwissen andererseits. »Die der Phantastik innewohnende Tendenz zur Übersteigerung und Exzentrik führt auch dazu, daß sie den von Geheimwissen und Spezialistenwissen besetzten Rahmen übersteigt, indem sie phantastisches Wissen hervorbringt und damit gewissermaßen ›Leerstellen des Wissens‹ besetzt. Gerade im Entwurf von Logophantasmen wird deutlich, worum es der Phantastik im Extrem geht: um eine A-Topik des Alternativwissens. Hierin aber äußert sich das Verhältnis der Phantastik zum kulturellen Gedächtnis. Indem die Phantastik zum einen vergessene oder tabuisierte, verdrängte oder noch nicht zum Allgemeinwissen gehörende Alternati-ven aufruft und zum anderen Präzendenzloses vorstellt, kann sie (archäologisch) die Kultur mit ihrem Vergessen oder (futurologisch) mit ihren ›Noch-NichtWirklichkeiten‹ konfrontieren. Die Konstruktion komplexer Wissensalternativen, in denen verworfene, nichtzugelassene Gedankenmodelle mit Logophantasmen sich mischen, die irreale Systeme mit monströser Alogik zu begründen scheinen, gilt besondert für den Klassiker moderner Phantastik, Jorge Louis Borges. Hier tritt die Phantastik als Gegenprojekt zum kulturellen Gedächtnis und dessen festverankerter Imaginationstradition auf und erscheint somit als Repräsentationsmodus nicht nur des Noch-Nicht-Gesehenen, sondern auch des Noch-NichtGedachten.« 241
Lachmanns Hinweis auf Borges nachgehend, lässt sich nachvollziehen, wie sehr Phantastik Teil kultureller Wissensordnungen ist, wenn man daran erinnert, dass Foucaults wissenschaftsgeschichtliche Studie »Die Ordnung der Dinge« sich auf einen Essay Borges’ beruft, der »eine gewisse chinesische Enzyklopädie« und die in ihr aufgeführte Gruppierung von Tieren vorstellt, in der reale Tiere und phantastische Wesen nebeneinander stehen. Von dieser Taxinomie, also von den Rändern des Wissens bzw. von einer imaginären chinesischen Enzyklopädie ausgehend, stellt Foucault die Frage nach den Denksystemen und den die Wissensfelder ordnenden Diskursen. 242 In vergleichbarer Weise nimmt das Collège de ’Pataphysique die Ordnungen des Wissens von einer phantastischen Perspektive aus in den Blick. Anders als Foucault arbeiten sie selbst phantastisch, betreiben phantastische Wissenschaft. Mit den Forschungseinrichtungen der »Mythographie des Sciences Exactes et des Sciences Absurdes«, der »Photosophistique«, den »Travaux Pratiques d’Héraldique, Celtologie, Escrime, Tarots, Cybeutique Expérimentale« 243 besetzt das Collège Leerstellen des Wissens, ein neues Wissenschaftssystem stellt den exakten Wissenschaften absurde gegenüber, alternative Wissensfelder werden im Rückgriff auf klassische nichtrationale Gebiete
241 242
243
Ebd., S. 228f. M. Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 17. Der Essay, auf den Foucault Bezug nimmt ist: Jorge Luis Borges: »Die analytische Sprache John Wilkins’«, in: ders., Das Eine und die Vielen. Essays zur Literatur, München 1966, S. 212. www.college-de-pataphysique.org/ vom 10.08.2004, unter der Rubrik: Commissions.
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mythischen, geheimen und esoterischen Wissens konzipiert. 244 Anders als es für die Arbeiten Oulipos der Fall war, liegt der Fokus nicht auf Schnittstellen von Mathematik und Poetik, sondern ’Pataphysik führt reale und fiktive Disziplinen im Rahmen einer Wissenschaftsphantastik zusammen. Die Überschreitung der Grenzen von Rationalität und Phantastik im Rahmen einer experimentalkulturellen Szenerie, die Oulipo in Ansätzen unternommen und in die Idee theoretischer Literatur integriert hatte, stehen hier im Vordergrund. Wie die einzelnen im Collegium organisierten Disziplinen so ist das gesamte Projekt ’pataphysischer Wissenschaft ein phantastisches und darin utopisches Projekt, als es reale und fiktive Wissensfelder zu einem Forschungsprojekt zusammenführt. Bezieht Lachmann die Kategorie des Phantastischen auf Texte, so ist sie hier auf einen realen und zugleich imaginären Raum auszuweiten. 245
244
245
Die Gesellschaft gibt sich einen eigenen Kalender, dessen Zeitrechnung mit der Geburt Alfred Jarrys beginnt und sich aus vierzehn Monaten zu je 28 Tagen plus einem neunundzwanzigsten Tag zusammensetzt, wobei die Tage jeweils einer bedeutenden imaginären Persönlichkeit gewidmet sind. Der Kalender ist abgedruckt im Magazine littéraire 388 (2000), S. 33f. Siehe dazu auch J. Roudaut: »Le collége des Collèges«, S. 24. Auf gemeinsame Traditionslinien hermetischer, ’pataphysischer und surrealistischer Schriften weist Henri Behar in seinem Beitrag »Hermétisme, pataphysique et surréalisme« hin, der die vorgebliche Dunkelheit dieser Texte auf eine Unkenntnis esoterischen Wissens und poetischer Praktiken zurückführt, welche der Rationalismus verdeckt, die poetische Imagination dagegen erschlossen habe. Neben der Annahme universeller Analogien und der alchimistischen Idee der Verwandlung von Materie nennt Behar das Einheitsprinzip als Kernmotiv mystischen Denkens, bspw. die Einheit der Gegensätze, die auch Jarry als »axiome et principe des contraires identiques« (Alfred Jarry: César-Antéchrist; zit. nach Henri Behar: »Hermétisme, pataphysique et surréalimse«, in: Proceedings of the Xth Congress of the international comparative literature association. Actes du Xe Congrès de l’association internationale de littérature comparée. Vol 2, New York, London 1985, S. 495504, hier S. 496) zu einem zentralen Prinzip ’pataphysischer Wissenschaft erklärt. Auch Boris Vian verweist auf dieses Prinzip der coïncida oppositorum: »Un des principes fondamentaux de la pataphysique est celui de l’equivalence des contraintes. C’est peut-être ce qui vous explique ce refus que nous manifestons de ce qui est sérieux et ce qui ne l’est pas, puisque pour nous c’est exactement la même chose.« Interview vom 25. Mai 1959. Boris Vian: »Qu’est-ce que la ’Pataphysique?«, in: Magazine littéraire 320 (1994), S. 95-109, hier S. 97. Vian spielt für das Collège einer derart maßgebliche Rolle, dass von einer »époque Boris Vian« gesprochen wird. Siehe dazu auch Marc Lapprand: »Boris Vian l’Équarisseur de première classe«, in: La Pataphysique. (dossier), S. 50-54; Noël Arnaud: »Boris Vian et la ’Pataphysique«, in: Boris Vian. Colloque de Cerisy. Bd. 2, Paris 1977, S. 385-413. Arnaud betont, dass bei Jarry und Vian gleichermaßen bestimmende Interesse für die wissenschaftlichen und technischen Erfindungen ihrer Zeit zu beobachten seien, das sich bei beiden in Formen der Science-Fiction-Literatur niederschlägt, in der Schaffung von Paralleluniversen. Vgl. N. Arnaud: »Boris Vian et la ’Pataphysique«, S. 396, 399. Dieses Prinzip der Einheit der Gegensätze, das Behar aus der Mystik herleitet, lässt sich als grundlegendes Organisationsschema hybrider ambivalenter Strukturen begreifen, vergleichbar der Idee der ars combinatoria bzw. dem Prinzip der Kombinatorik, das für die Konzeption potenzieller als intermediärer Literatur von zentraler Bedeutung ist.
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2. EXPERIMENTALISIERUNG VON SCHRIFT UND LITERATUR
Behar stellt die ’Pataphysik in eine Tradition anti-rationalistischer Entzifferungstechniken für eine als großes Kryptogramm verstandene Welt. 246 In dieser Perspektive phantastischer Entzifferungen imaginärer Welten fügt sich Jarrys Held König Ubu in eine Reihe von »héros incitateurs de mots, d’images et de comparaisons faciles, avec Gargantua, Hamlet, Don Quichotte et Monsieur Fenouillard.« 247 Die Wissenschaftsphantastik beruht auf einer Sprache, die zwischen Wissenschaft und Phantastik oszillliert und ambivalente Ordnungen hervorbringt. Eine ’Pataphysik, Phantastik und Phänomenologie verkreuzende Rezeptionslinie ’pataphysischer Literatur eröffnet Gilles Deleuze, der die Sprachwelten Alfred Jarrys an den Ursprung der phänomenologischen Philosophie setzt: »En créant la patapyhsique, Jarry a ouvert la voie à la phénomenologie.« 248 Die Argumentation Deleuzes mündet in dem Fazit, dass die ’Patapyhsik den einzig allgemeinen Begriff für das neue, die Metaphysik überwindende Denken, wie es sich auch bei Nietzsche, Marx und Heidegger zeige, gefunden habe. Als Wissenschaft des Besonderen sei sie als Epiphenomen der Metaphysik zu verstehen, wie diese als Epiphenomen der Physik, zitiert Deleuze Jarry. 249 Es ist nicht nur die Hinwendung zu den Dingen, die sich als gemeinsames Feld phantastischer und phänomenologischer Arbeit auftut, wobei auch auf Borges und Foucault zurückzuverweisen wäre, sondern es sind insbesondere die Formen der Sprache, die in Deleuzes Argumentation phänomenologische Reflexion und ’pataphysische Phantastik verbindet. Die Sprache wird zu einem Medium des Entwurfes von Lebenswelten und Dingen; das Imaginäre und Phantastische sind dabei Techniken der Konstruktion von Sinnwelten und Wissensfeldern. Als Prinzip dieser ’pataphysischen und phanasischen »Sprachmaschinen«, das nicht nur Jarry mit Marx, Nietzsche und Heidegger verbinde, sondern auch dieser Reihenbildung durch Deleuze zugrunde liege, beschreibt David Rabouin folgendermaßen: »Mettre Heidegger en couple avec Jarry, comme l’abeille et l’orchidée, puis regarder ce que cela donne.« 250 Diese in der ’Pataphysik erklärtermaßen angestrebte Zusam246
247 248 249
250
H. Behar: »Hermétisme, pataphysique et surréalisme«, S. 498. Antwort gibt ein Artikel von Michel Arrivé, Herausgeber des Gesamtwerks Alfred Jarrys in der Pléiade, Editions Gallimard, der in einem Artikel zu Sprache und ’Pataphysik die sprachlichen und intertextuellen Maschinen Jarrys untersucht, etwa anhand des Begriffs der ’pataphysique, und die Eigenheiten der Sprache Jarrys interpretiert, wie das Schimpfwort »merdre«, als Hinweise auf eine »double lecture«, eine Lektüre der in der Tiefenschicht angesiedelten sexuellen Symbolik. Michel Arrivé: »Langage et pataphysique«, in: L’Esprit Créateur 24 (1984) H. 4, S. 7-19. Noël Arnaud: »La nouvelle vie d’Alfred Jarry«, in: Critique 151 (1959), S. 1011-1025, hier S. 1013. Gilles Deleuze: »En créant la patapyhsique, Jarry a ouvert la voie à la phénomenologie«, in: La Pataphysique. (dossier), S. 63. »›Un épiphénomène est ce qui se surajoute à un phénomène. La pataphysique ... est la science de ce qui se surajoute à la métaphysique, soit en elle-même, soit hors d’elle-même, s’entendant aussi loin au-delà de celle-ci que celle-ce au-delà de la physique. Ex.: l’épiphénomène étant souvent l’accident, la pataphysique sera surtout la science du particulier, quoiqu’on diese qu’il n’y a de science que du général.‹ (Gestes et opinions du Docteur Faustroll). Parlons pour les spécialistes: l’Etre est épiphénomène de tous les étants, qui doit être pensé par le nouveau penseur, lui-même épiphénomène de l’homme.« G. Deleuze: »En créant la patapyhsique«, S. 63. David Rabouin: »Gilles Deleuze et la Pataphysique: une enquête philosophique«, in: La Pataphysique. (dossier), S. 61-63, hier S. 62.
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menschau heterogener Elemente funktioniert als ein sprachliches Prinzip, das als literarisches zu begreifen ist: »Ce n’est pas à la linguistique qu’il faut comparer des entreprises comme celle de Heidegger et de Jarry, c’est plutôt aux entreprises analogues de Roussel, Brisset et Wolfson«, zitiert Rabouin Deleuze, »les beaux livres sont écrits dans une sorte de langue étrangère [...]«: »La Langue portée à sa limite, bégaye et suraute, tourne sur elle-même, jusqu’à nous porter alors au plus près de la Chose silencieuse. Elle s’ouvre à un nouveau langage, dont le rêve poétique à été livré par le symbolisme, celui du Villiers (que Deleuze aimait tant) ou celui de Hölderlin (qui fascina Heidegger).« 251
Deleuze beschreibt hier ein Oszillieren an den Grenzen, wie es der Phänomenologe Waldenfels als für die Literatur typisches Experimentieren mit der Wirklichkeit erklärt. 252 Die Bruchlinien der lebensweltlichen Entwürfe erkundend, wird Literatur zum Seismograph für das »Außer-Ordentliche«, für »Schwankungen, Abweichungen, Gleichgewichtsstörungen«, reflektiert das Unberechenbare, die Störungen und Zusammenbrüche sinnhafter Entwürfe. Rabouin führt die Konzeption einer Sprache, die zwischen Lebenswelt und Imagination oszillierende Hybride entwirft, auf eine romantische Sprachpoetik und ihre Topoi und Motive »unmittelbarer Sprache« zurück. Dieses semiologische Problem einer Verbindung von Sprache und Ding, von Signifikant und Siginifikat, wird in der Ästhetik literarischer Sprache in der Romantik selbstreflexiv, der Akt der Sinnerzeugung spiegelt seine Verkörperungsformen wider. Diese Prozesse poietischer Gestaltung sind nicht nur für die Literatur, sondern für die Frage nach sprachlicher Weltgestaltung insgesamt grundlegend, das heißt auch für die Sprachphilosophie der Phänomenologie. Diese Argumentationslinie, wie sie Deleuze eröffnet, lässt Sprache als Medium der Imagination im Zwischenfeld von Fiktivem, Realem und Imaginärem deutlich werden. Als solche wird sie in der ’Pataphysik grundlegend für die Gestaltung einer phantastischen Wissenschaft. Wie Borges den Ausgangspunkt einer Ordnung der Dinge und Diskurse markiert, das heißt Phantastik in ihrer Funktion für die Wissensgeschichte deutlich macht, so wird Jarry und die Wissenschaft des Imaginären an den Ursprung phänomenologischen Denkens gesetzt. Neben dem Imaginären und dem Phantastischen zieht die ’Pataphysik die Kategorie des Mythos zur Beschreibung ihrer Wissenschaft heran: »la ’Pataphysique est avant tout un mythe et le mythe d’un mythe.« 253 Hier wird die selbstreflexive Ebene explizit, insofern man ’Pataphysik als Mythos versteht und das Collège als Ort der Schaffung dieses Mythos, wobei das Collège selber den mythischen Raum entwirft, Bilder, Topoi und Diskurse vergleichbar einem Mythos in immer neuen Varianten zusammenführt. Es ist das aus dem Mythos und dem kultischen Fest hervorgehende Theater, das als zentrales organisierendes Prinzip der ’pataphysischen Wissen251 252
253
Ebd., S. 63. »Das Spiel mit den Grenzen erzeugt eigentümliche Paradoxien eben dann, wenn die Grenzen nicht festliegen, sondern in Eigenbewegung geraten. [...] Man spricht und schreibt an den Grenzen über die Grenzen.« B. Waldenfels: Vielstimmigkeit der Rede, S. 184; siehe auch ders.: »Experimente mit der Wirklichkeit«. N. Arnaud: »Boris Vian et la ’Pataphysique«, S. 395.
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2. EXPERIMENTALISIERUNG VON SCHRIFT UND LITERATUR
schaft hervorgehoben werden muss. 254 »Le théâtre est, par définition, pataphysique; il est fiction et convention, il n’est que cela et ne prétend à rien d’autre: au théâtre on joue, en pleine lumière, et on ne fait que de jouer.« 255 Das Phantastische, das für die Idee der Wissenschaften und der Wissensordnungen wie hinsichtlich der Sprachwelten bestimmend ist, wird hier ins Theatrale überführt. Das Spiel ist die zwischen Wissenschaft und Kunst vermittelnde Instanz, hier nicht mehr als mathematischer Spielbegriff verstanden, sondern als theatrales Spiel, als fiktionales Spiel, das Welten im Modus des Imaginären zur Schau stellt.256 Das Collège de ’Pataphysique ahmt im Modus des Phantastischen Wissenschaft nach wie die Arbeiten des Oulipo den Algorithmus imitieren, und mittels dieser Inszenierung organisiert die ’pataphysische Spielkultur einen Schwellenbereich zwischen Imagination und Realität. Damit fokussiert das Collège de ’Pataphysique Prozesse der Konkretisierung, auf die auch die Idee potenzieller Literatur zwischen theoretischem Programm und praktischem Beispiel zielt. Wie bei Oulipo sind es die Grenzbereiche, auf die die Aufmerksamkeit gerichtet ist. Kulturtheoretisch und theaterwissenschaftlich betrachtet, sind es die Umschlagstellen von Fiktion und Realität wie sie in den Zwischenbereichen von Theater, Kult und Kultur stattfinden, die hier spielerisch erprobt werden. Das Spiel und das Theatrale werden somit als konstituierendes Moment von Wissenschaftskultur, Kultur und Sprache zur Schau gestellt. Auch die Arbeiten der Werkstatt für potenzielle Literatur sind unter dieser Frage nach Verkörperungsprozessen und medialen Erscheinungsformen, seien es sprachliche Objekte, Figuren bzw. Personen oder wissenschaftliche Zirkel, zu betrachten. Das Ouvroir de littérature potentielle als Untersektion des Collége de ’Pataphysik hat somit Teil an einer Kultur des Performativen, die nicht Texte in den Vordergrund stellt, sondern eine experimentalkulturelle Szene zur Aufführung bringt. Diese experimentelle und spielerische Gestaltung von Alternativkultur steht in einer Traditionslinie von Literatur und Aktionismus, wie sie hier von Jarry herkommend beispielsweise Dadaisten und Surrealisten umfasst. Für eine literaturwissenschaftliche Arbeit ist es unerlässlich, diesen aktionistischen Kontext ins Auge zu fassen. Literatur ist aber nicht nur als Teil einer Performance im intermediären Raum zwischen Fiktion und Realität zu verstehen, wobei diese Begriffe aus Theater- und Kunstwissenschaft den ambivalenten Spielcharakter zu beschreiben helfen, sondern das Literarische als Potenzialität und Phantastik ist als dasjenige Prinzip zu begreifen, das die kulturellen Spiele zur Darstellung bringt. Das Theatrale ist eine der möglichen Gestaltungsformen potenzieller Literatur wie es eine Ausdrucksform des Phantastischen ist. Deutlich ist hier, dass der Begriff des Literarischen auf eine Metaebene verlagert ist, wie es Oulipo in der Idee der theoretischen Literatur formuliert hat, und dass 254
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Bezüglich des Zusammenhangs von Theater und Ritual siehe grundlegend Richard Schechner: Theater-Anthropologie. Spiel und Ritual im Kulturvergleich, Reinbek b.H. 1999. Für die Literatur siehe in diesem Zusammenhang Wolfgang Braungart: Ritual und Literatur, Tübingen 1996. N. Arnaud: »Boris Vian et la ’Pataphysique«, S. 394. Zu einem vergleichbaren anthropologischen und kulturkonstitutiven Spielbegriff siehe Johan Huizinga: Homo ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Reinbek b.H. 1987; Roger Caillois: Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch, Frankfurt/M. u.a. 1982. Den Zusammenhang zwischen Literatur und Spiel beleuchtet auch Thomas Anz: Literatur und Lust. Glück und Unglück beim Lesen, München 1998.
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angesichts eines mathematisch orientierten Schrift-Begriffs oder einer Wissenschaft imaginärer Lösungen das Literarische zu einem übergreifenden ästhetischen Prinzip wird. Das ästhetische Prinzip, das hier mit dem Begriff der Literatur in Verbindung steht, ist die »gespenstische«, das heißt ambivalente, nicht-rationale und nicht-sprachliche, zugleich selbstreflexive und inszenatorische Verkörperung von Schrift-Formen und kulturellen Sinnsystemen. Dieser Komplex lässt sich unter einen erweiterten Schrift-Begriff fassen, wenn man sich auf den Begriff der écriture bezieht, der in seinen Varianten bei Barthes, Derrida und Kristeva auch als über das Geschriebene hinausgreifendes metaphorisches Konzept zu verstehen ist und bei Barthes beispielsweise eben auch die gesellschaftliche Dimension der Schrift und des Schreibens meint. 257 Es ist auch dieser écriture-Begriff Roland Barthes’, der Sprache, Schrift und Text als theatrale denkt und über dieses theatrale Konzept Dimensionen der Materialisierung und Verkörperung von Schrift, ebenso wie die Aspekte einer Körperlichkeit der Schrift ableitet. 258 Diese Konzeption von écriture bildet den Rahmen einer als wissenschaftskulturelle Performance betriebenen Literatur. Wie sich die Arbeiten der Werkstatt für potenzielle Literatur in einer um das Phantastische und Theatrale erweiterten Perspektive darstellen und inwiefern dies Auswirkungen auf den Begriff potenzieller Literatur hat, lässt sich im Folgenden nachvollziehen. Die Verbindung zwischen dem Collège de ’Pataphysique und der Werkstatt für potenzielle Literatur stellt Raymond Queneau dar. Nachdem Queneau sich von der Gruppe der Surrealisten abgewandt hat, wird er 1950 Mitglied des Collège de ’Pataphysique, gründet 1951 mit Boris Vian den »Club des savanturiers«, 1952 die »Académie de la moule poilu«, 1953 wird der »Club des savanturiers« in die »société d’hypertétique« eingegliedert, diese 1954 in den »Cercle du Futur« überführt, dessen Vizepräsidenten François Le Lionnais und Boris Vian sind. 1960 gründet sich im Anschluss an die Raymond Queneau gewidmete Tagung »Une nouvelle défense et illustration de la langue française« in Cerisy ein Seminar für experimentelle Literatur. 259 Der theatrale und spielkulturelle Charakter dieser Organisationen zeigt sich nicht nur in den Benennungen der Clubs und Akademien, sondern auch im Verlaufsgeschehen der Arbeitssitzungen; so wurde während des konstituierenden Treffens des Seminars für experimentelle Literatur der Autor Jean Queval mehrfach für insgesamt 297 Jahre ausgeschlossen und jedes Mal unter Beifall wieder aufgenommen. 260 Eine bekannte Fotografie zeigt die zukünftigen Oulipo-Mitglieder Jacques Bens, Jacques Duchateau, François Le Lionnais, Jean Queval, André Blavier, Raymond Queneau und Jean Lescure unter den Teilnehmern in Cerisy: »C’est dans ce pavillion que l’idée de l’OuLiPo a pris corps.«261 Zur Umbenennung in »Werkstatt für potenzielle Literatur« kam es auf Vorschlag von Albert-Marie Schmidt, mit der Begründung, dass sich die Arbeit auf einen
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Siehe R. Barthes: Am Nullpunkt der Literatur. Siehe Kapitel 1.4 der vorliegenden Arbeit. Zur Geschichte der Gründung des Oulipo siehe J. Lescure: »Petite histoire de l’Oulipo«. Vgl. ebd., S. 30. J. Bens: OuliPo, S. 16.
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2. EXPERIMENTALISIERUNG VON SCHRIFT UND LITERATUR
konkreten Aspekt des Literarischen beziehen würde, »un fait réel de l’être littéraire: sa potentialité.« 262 In den Sitzungsprotokollen 263 lässt sich das Zeremonielle und Phantastische dieser bis heute monatlich in einem guten Paris Restaurant stattfindenden Arbeitstreffen anschaulich nachvollziehen, so beispielsweise die Namensgebung des Oulipo oder seine Integration in die »Sous-Commission des Epiphanies et Ithyphanies«, eine Untersektion der »Commission des Imprévisibles« des Collège de ’Pataphysique am 22. sable 88 der ’pataphysischen Zeitrechnung. Im Kreise der damit automatisch zu Mitgliedern des Collège de ’Pataphysique gewordenen Oulipisten ist als radikalster Grenzgänger zwischen Künsten und Wissenschaften, Malerei, Skulptur, Poesie, Musik und Mathematik, Linguistik und Ingenieurwesen Marcel Duchamp zu nennen – den oulipistischen Arbeiten am nächsten ist sein Sprachexperiment Rrose Sélavy. 264 Im Sinne der ’Pataphysik als »mythe d’un mythe« und ihrer Inszenierung als moderne Mythologie von Kunst und Wissenschaft, entwirft Oulipo eine mythische Archäologie potenzieller Literatur in Erzählungen wie »Et naquît l’Ouvroir de littérature potentielle« 265 . Potenzielle Literatur wird in diesem Gründungsmythos zu einem Schrift und Zahl, das gesamte Wissen und alle zivilisatorisch-kulturellen Praktiken und Medientechniken umfassenden Prinzip: »Semblable à ces déesses-mères des antiques civilisations, l’OuLiPo recouvre la totalité du temps, embrasse passé, présent et futur, en un mot l’éternité.« 266 »La littérature potentielle, qu’on nomme maintenant la Li Po, suppose un trésor longuement accumulé et renfermé dans ces cassettes en forme d’obélisques, de papyrus, de careaux de terre cuite, de toile de lin, de rouleaux, de livres en papier, aujoud’hui dans ces cassettes en forme de ›cassettes‹. Avant Sumer il y avait l’OuLiPo [...].« 267
Die Mythen der ’Pataphysik und der potenziellen Literatur, die die Geschichte der Ordnungen des Wissens neu schreiben, treffen sich in den Konzeptionen des Virtuellen und Potenziellen. Ist die ’Pataphysik als Wissenschaft der imaginären Lösungen auf die »Virtualität« der Dinge fokussiert, so definiert sich die potenzielle Literatur als Suche reeller Lösungen zu imaginären Lösungen. »DEFINITION: La pataphysique est la science des solutions imaginaires, qui accorde symboliquement aux linéaments les propriétés des objets décrits par leur virtualité [...].« 268
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Zit. nach J. Lescure: »Petite histoire de l’Oulipo«, S. 30. Gesammelt sind die Protokolle aus den Jahren 1960 bis 1963 in: J. Bens: OuliPo. Vgl. ebd., S. 15. N. Arnaud: »Et naquît l’Ouvroir de Littérature Potentielle«. Ebd., S. 7. »L’OuLiPo a pour coutume de mesurer des décennies d’existence en millénaires.« Ebd. Ebd., S. 8f. A. Jarry: Gestes et opinions du docteur Faustroll, S. 669.
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SZENEN DER SCHRIFT »Et si la ’Pataphysique est la ›science des solutions imaginaires‹, l’Oulipo pourrait être la recherche des solutions réelles à des problèmes (prosodiques ou rhétoriques) imaginaires.« 269
Die kulturellen Spielregeln der Mythen- und Wissensproduktion bedienend, produziert Oulipo gezielt Dokumente der eigenen Arbeit und Arbeitsweisen, erstellt Protokolle der Sitzungen, die in festgelegter Zahl reproduziert werden und in projizierter, archäologischer Perspektive archiviert werden: »[...] conserver une trace de certains propos qui seraient tenues: exhumations de documents, projets de travaux, voies de recherches.« 270 Für die realen Lösungen imaginärer Probleme, wie sie Oulipo zur Aufgabe potenzieller Literatur erklärt, wird ein neues, rationaleres Alphabet in der Ordnung POURQI 271 vorgeschlagen – wobei die in der Buchstabenfolge formulierte Frage »warum« in nuce das Programm jeden wissenschaftlichen Forschens enthält. In der theatralen Aktion lassen sich Verkörperungsprozesse potenzieller Literatur in ihrem aktuellen Vollzug als Überschreitungen von Realität und Phantastik beobachten. Die Zurschaustellung von Konventionen wissenschaftlicher Kommunikation sowie die Überschreitung derselben in Komik, in Lachen und Brüllen, ist in den Sitzungsprotokollen festgehalten. Gesprächsführung und Argumentation bewegen sich von der Einhaltung kommunikativer Standards und Kooperationsprinzipien bis zu unlogischen, asemantischen und grammatikalisch falschen Dialogen, die mit Gestik und körperlichen Aktivitäten einhergehen. In apodiktischem Sprachgestus werden Definitionen und Behauptungen ausgesprochen, individuelle und kollektive Forschungsprojekte vorgeschlagen, Untersuchungen durchgeführt und Ergebnisse vorgestellt und somit akademischer Habitus und Praktiken wissenschaftlichen Forschens imitiert und parodiert. Dieses Oszillieren zwischen Wissenschaft und Spiel, Spiel und Kunst macht den Charakter einerseits potenzieller, andererseits experimenteller Literatur aus: »On voyait ici reapparaître la notion d’expérimentations ou d’excercice, au moment même où nous prenions conscience de ce qui nous distinguait de ce passé: la potentialité.« 272 Es sind Quellen komischer Literatur wie die »Poétique curieuse« von Gabriel Brunet, die im Hinblick auf eine Tradition gesichtet werden, 273 klassische Texte werden erfundenen Transformationen unterzogen: »Jean Lescure donne lecture de permutations réalisées sur les Phrases d’Arthur Rimbaud. L’opération paraît intéressante. A poursuivre.« 274 Diese Protokolle ermöglichen eine ansatzweise Rekonstruktion einer potenziellen Literatur, die die Idee eines experimentellen intermedialen Feldes in die theatrale Aktion überführt, was sich in den Anthologien oulipistischer Dichtung nicht nachvollziehen und damit zentrale Aspekte potenzieller Literatur übersehen lässt. Wie die Zeitschrift des Collège de ’Pataphysique »Dossier« in ihrer siebzehnten Nummer »Excercices de Littérature Potentielle« vom 22. Dezember 1961 die ersten Arbeiten des Oulipo vorstellt, so ist die Herausgabe der Anthologien 269 270 271 272 273 274
Paul Braffort: »Oulipo et la ’Pataphysique«, in: La Pataphysique. (dossier), S. 57-59, hier S. 59. Ebd. Vgl. J. Bens: OuliPo, S. 25. J. Lescure: »Petite histoire de l’Oulipo«, S. 31. Vgl. J. Bens: OuLiPo, S. 37. Ebd., S. 51.
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2. EXPERIMENTALISIERUNG VON SCHRIFT UND LITERATUR
zu Geschichte und Theorie der Werkstatt für potenzielle Literatur samt exemplarischer Arbeiten nicht nur als literaturkonzeptionelle Arbeit, sondern auch als Akt ’pataphysischer Wissenschaft zu verstehen: »[...] nous prenions conscience de notre utilité — et, suprême encouragement, nous savions désormais à quoi précisement nous pouvions servir: aider à comprendre le fonctionnement de l’écriture et, pour les plus doués, aider à la création littéraire.« 275
Diese Erklärung, das Funktionieren von Schrift verstehen zu wollen, erweist sich für eine Frage nach Schrift und Literatur als fundamental, insofern potenzielle Literatur sich in dieser Perspektive als Projekt zur Erkundung der Schrift vorstellt. Schrift meint dabei die Potenzialität möglicher SchriftFormen, die in theoretischen Schriften zu entwerfen und praktischen Beispielen umzusetzen Aufgabe der Literatur ist. Potenzielle Literatur ist demnach als Erkundung der Gestaltungsformen und Verkörperungsprozesse von Schrift zu verstehen. Die Ästhetik potenzieller Literatur stellt diese Hervorbringungen von Schrift in einer exprimentalkulturellen Konstellation anhand der Inszenierung von Grenzformen und Grenzüberschreitungen zur Schau: »Le Verbe est intimement potentiel (et par là ontogéniquement pataphysique ou générateur de Solutions Imaginaires); c’est cela qu’il est Dieu. Mais le temps des adorations est passé, celui de la science et des ambitieuses surenchères est venu. La divine potentialité du Verbe malgré quelques fulgurations notables, était restée, quoique toujours prête à sourdre, latente et implicite. Il s’agit, et c’est qu’à signifié la création de L’Ouvroir de Littérature Potentielle, de passer à l’explicite et de mettre en œuvres ses pouvoirs.« 276
Es ist die metaphysische oder auch mythische Idee des Schöpferischen der Sprache, welche in der Potenzialität von Literatur aufgehoben ist und durch Oulipo vor dem Hintergrund des wissenschaftlichen Zeitalters, der technomathematischen Wissenssysteme reformuliert wird. Die poietische Kraft, welche die »mystérieuse alchimie des chef-d’œuvres« erzeugt, wird in die sprachlichen Ordnungsstrukturen verlegt, es gelte den Zeiten der »CRÉATION CRÉES«, welche die bekannten literarischen Werke hervorgebracht hätten, das Zeitalter der »CRÉATION CRÉANTES« folgen zu lassen: »Pour l’instant nous ne sommes qu’au crépuscule de l’aurore.« 277 Im metaphorischen Rückgriff auf romantische Topoi artikuliert Oulipo eine Produktionsästhetik der Schrift, die die Möglichkeiten von Sprachformen und Verkörperungsprozessen an den Grenzen der Sprache reflektiert. 278 275 276 277 278
N. Arnaud: »Et naquît l’Ouvroir de Littérature Potentielle«, S. 13. J. Lescure: »Le collège de Pataphysique et l’Oulipo«, S. 42. Ebd., S. 43. Eine Kartografie der eigenen Virtualitäten zu zeichnen, könnte dem Schriftsteller mit Hilfe des Computers ermöglicht werden, so die oulipistische Vorstellung, »nous rejoignons ici la définition de la ’Pataphysique par Jarry.« Ebd., S. 44. Boris Vian verweist in seiner Begründung potenzieller Literatur auf Erkenntnisprozesse in den Wissenschaften, in denen oftmals Ausnahmefälle und Anomalien die Entdeckung der zu Grunde liegenden Mechanismen befördert hätten und erinnert an die Geschichte der Entdeckung des Penizillins. B. Vian: »Qu’est-ce que la ’Pataphysique?«, S. 98. Wie sehr Wissen-
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SZENEN DER SCHRIFT
Inwiefern Potenzialität die Grenzen von Realität, Fiktion und Imagination überschreitet, lässt sich auch in der Diskussion um die Kategorie des Potenziellen ablesen, die sich in der Sitzung vom 28. April 1962 entspinnt. Es entwickelt sich eine hitzige Diskussion um die Bedeutung von Wissenschaftlichkeit und wissenschaftlicher Methodik für die Arbeit des Oulipo. 279 Im Anschluss an die Feststellung, das zwanzigste Jahrhundert sei das »sciécle de la science« stellt sich die Frage, ob eine experimentelle wissenschaftliche Methode auch auf inexistente Fälle anwendbar sei, was Raymond Queneau und Jean Lescure mit dem Argument bekräftigen, die größte Potenzialität sei die des Inexistenten, worauf Jacques Bens mit dem Ausruf reagiert, dies sei ein poetisches, aber kein wissenschaftliches Vorgehen. 280 »Queneau: je proteste! Notre méthode pourrait s’appliquer à des faits inexistants. Jean Lescure: Il y a une potentialité de l’inexistant. Albert-Marie Schmidt: Lescure rejoint là un certain nombre de conceptions très en honneur dans le Romantisme Allemand.« 281
Dem mathematischen steht ein poetischer und ästhetischer PotenzialitätsBegriff gegenüber, der in einem Manifest Jean Lescures als der zentrale gesetzt wird. Wenn auch an anderer Stelle Mitglieder Oulipos den Begriff des Ästhetischen ablehnen, so wird er hier im Zusammenhang mit Vergnügen, Affektivität und Phantasie explizit eingeführt: »Oulipo: organisme qui se propose d’examiner en qui et par quel moyen, etant donnée une théorie scientifique concernant eventuellement le langague (donc l’anthropologie), on peut y introduire le plaisir esthétique (affectivité et fantaisie).« 282
Die Reflexion der Überführung wissenschaftlicher Methoden in ein spielerisch organisiertes Zwischenfeld der Imagination und Phantastik ist das ästhetische Projekt potenzieller Literatur. Vor dem Hintergrund dieses poetischen und phantastischen Projektes wird verständlich, inwiefern Roubauds
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schaft des Rationalen und des Potenziellen in einander übergehen können, macht Jean Starobinski an der anagrammatischen Methode Ferdinand de Saussures deutlich, der der Frage nach in anagrammatischen Formen verschlüsselte Grundbegriffe in antiken poetischen Texten ausführliche Studien widmete. Jean Starobinski: »Les anagrammes de Ferdinand de Saussure«, in: Mercure de France 350 (1964), S. 243-262. Da sich diese Grundwörter als imaginäre erwiesen, spricht Michel Deguy von der »folie de Saussure«. Siehe Michel Deguy: »La folie de Saussure«, in: Critique 260 (1969), S. 20-26. Die Arbeit de Saussures ließe sich aber auch als ’pataphysische, als Wissenschaft der imaginären Lösungen begreifen. Unter diesem ’pataphysischen Blickwinkel des Entwurfes einer imaginären Sprache wäre Saussures AnagrammProjekt die von Jacques Jouet durchgeführte Studie zum großäffischen Liebesgesang vergleichbar, ein von Jouet gesammeltes, übersetztes und kommentiertes, bislang unbekanntes lyrisches Korpus. Jacques Jouet: »Der großäffische Liebesgesang. Ein unbekanntes lyrisches Korpus. Gesammelt, übersetzt und kommentiert von Jacques Jouet«, in: J. Ritte/H. Hartje (Hg.), Oulipo, S. 93-116. Vgl. J. Bens: OuliPo, S. 49-51. Der Vorfall wird referiert in J. Lescure: »Petite histoire de l’Oulipo«, S. 36f. J. Bens: OuliPo, S. 50. Vgl. J. Lescure: »Petite histoire de l’Oulipo«, S. 36.
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2. EXPERIMENTALISIERUNG VON SCHRIFT UND LITERATUR
Charakterisierung der Werkstatt für potenzielle Literatur zutrifft: »Oulipo ist ein von Queneau nicht geschriebener Roman.« 283 Oulipistische und ’pataphysische Poetik unternehmen Reflexionen und Zurschaustellungen der mittels Imaginationen funktionierenden Prozesse von Sinnbildungen, schaffen in Gedankenexperimenten und deren Realisierungen, sei es im Text, sei es in realen Handlungen und Auftritten, ambivalente, zwischen Realität und Fiktion oszillierende literarische, theatrale und reale Räume. Den Aspekt der Realisierung des Phantastischen in den oulipistischen Organisationen und Aktionen bringt auch Roubauds Satz zu Oulipo als ein von Queneau nicht geschriebener Roman zum Ausdruck. Potenzielle Literatur zeichnet sich dadurch aus, dass sie die zwischen Fiktion, Realität und Imagination changierenden Räume literarischer Poetik über den Text hinaus in reale Handlungsräume überführt. 284 Diese Handlungspraxis setzt sich auch in den creative writing-Kursen fort, die das Oulipo-Mitglied Harry Mathews beispielsweise in den USA abhält, in den oulipistischen Lesungen, Workshops und Festivals, die an ein »Rotary Club meeting on LSD« erinnern, wie ein Journalist schreibt. 285 Als spielerische Inszenierung eines intermediären Feldes von Wissenschaft und Kunst initiiert, weitet sich das Konzept potenzieller Literatur zu einem transmedialen und diverse Künste, Disziplinen und kulturelle Praktiken übergreifenden Prinzip aus. Die bis heute anhaltenden Aktivitäten des Oulipo schlagen sich in vielfältigen Sektionen eines OuXpo – Oupeinpo (peinture), Oucuipo (cuisine), Oubapo (bande déssinée), Oucipo (cinéma) etc. – nieder. 286 In welchen literarischen Formen sich die potenzielle, theoretische und ’pataphysische Literatur gestaltet – über die in den Anthologien vorgestellten
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J. Roubaud: »Der oulipotische Autor«, S. 37. Erst in diesem Sinne ließe sich von einer Integration von Kunst und Leben sprechen, auf die Heiner Boehncke und Bernd Kuhne im Vorwort ihrer Anthologie zu sprechen kommen, die die oulipitischen Arbeiten dem deutschen Publikum zugänglich macht: »Die kollektiven Schaffensräume der Frühromantiker, die ›eingreifenden‹ Techniken der sowjetischen LEF-Gruppe, die gemeinsamen Protokolle der Surrealisten: Immer wurde versucht, ästhetische Theorie und Praxis in die Lebenswelt zu integrieren. Und genau dort erweit sich das Oulipo-Konzept als postavantgardistisch, als bescheiden und — wenn man so will — realistisch.« H. Boehncke/B. Kuhne: Anstiftung zur Poesie, S. 12. Boehncke und Kuhne stellen eine reduzierte Sicht auf die oulipistischen Arbeiten vor, indem sie sie als Techniken zur Schreibschulung präsentieren, wobei diese Rezeptionsrichtung gestützt ist durch den Oulipisten Harry Mathews, der in den USA creative writing-Kurse unterrichtete. Darin erfüllt sich in einem praktischen Sinne das Anliegen der Werkstatt, künftigen Autoren Instrumente zur literarischen Produktion zur Verfügung zu stellen. Jonathan Bing: »Oulipo service. An Experimental Literary Society Invades New York«, in: The Village Voice, New York 43 (November 1998) H. 46, S. 157. In den USA, wo Oulipo seit 1986 durch die Sammlung oulipistischer Texte, M. F. Motte (Hg.): Oulipo, und das 1998 von Harry Mathews herausgegebene »Oulipo Compendium« bekannt wird, werden die aktionistischen Formen der oulipistischen Arbeiten in Lesungen, Workshops und Festivals fortgeführt. Oupeinpo (peinture), Oumupo (musique), Outrapo (théâtre), Oucuipo (cuisine), Oubapo (bande déssinée), Ouhispo (histoire), Ouphopo (photographie) und Oucipo (cinéma). Vgl. R. Launoir: »Un sciècle de Pataphysique«, S. 28.
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Programmatiken und Beispiele hinaus – lässt sich in den vielfältigen Publikationen der »Bibliothèque Oulipienne« 287 erkennen.
2.3.2 Experimentelle Schreibprojekte potenzieller Literatur Entsprechend der Programmatik einer theoretischen bzw. einer Metaliteratur reflektieren oulipistische Texte nicht nur das Funktionieren von Sprache, sondern insbesondere die Techniken und Konventionen literarischer Texte, spielen mit Mustern der Literatur- und Buchkultur als Ordnungssysteme unseres kulturellen Wissens. Es werden Grenzphänomene entworfen, von denen aus die Regeln sowie Alternativen der Schriftkultur ins Auge genommen werden. Paul Fournel spielt in seinem Text »Banlieu«288 mit der Konvention eines für den Schulunterricht aufbereiteten Skandalromans. »Banlieu« ist ein Konvolut von Paratexten, die den nur imaginären Roman beschreiben: Das von Fournel gestaltete Heft 46 der Bibliothèque Oulipienne präsentiert sich als eben diese Schulausgabe »Banlieu« in Titelblatt, Titelei, Motti, Widmung, Warnung an den Leser, Anmerkungen des Autors und kommentierten Fußnoten; es gibt ein mit dem Namen Maguerite Duras gekennzeichnetes Vorwort sowie ein Nachwort und ein an den Text anschließendes Unterrichtsdossier mit Autoreninformationen und Aufgabenstellungen; Index, Inhaltsverzeichnis, Errata und Klappentext auf der Rückseite des Heftes schließen das Werk ab. Diesem Roman, den der Klappentext als »une sorte d’Orange mécanique pressée« beschreibt, fehlt einzig der romaneske Haupttext, der somit in seiner vollen Virtualität und Potenzialität erhalten bleibt und als Leerstelle in Szene gesetzt wird. Aus den Paratexten lassen sich unterschiedliche Aspekte zu Inhalt, Autor und Geschichte dieses Skandalromans rekonstruieren, der dennoch ein »imaginärer« Roman bleibt. »Banlieu« erkundet die Voraussetzungen des kulturell konventionalisierten Textes »Roman« und spielt mit seinen konstitutiven Elementen wie Autorschaft und Fiktionalität, Narration und Rezeption. Fournel präsentiert hier einen potenziellen Roman, indem er die Spielregeln der Paratexte ausnutzt und den Prozess der Imagination in das Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Vorgeführt wird der Prozess, aus einem Reservoir literarischer Techniken Fiktion zu konstruieren, das heißt es wird eines der fundamentalsten Prinzipien nicht nur des neuzeitlichen Romans zur Schau gestellt. Hier erweist sich potenzielle Literatur in ihrer theoretischen und metafiktionalen bzw. metaliterarischen Funktion, die Prinzipien von Literatur als
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Diese auf eine Idee Raymond Queneaus zurückgehenden Hefte wurden jeweils unter der Leitung eines oder mehrerer Mitglieder erstellt und in einer Auflage von 150 Exemplaren herausgegeben. 1981 präsentierte Jacques Roubaud eine erste Sammlung ausgewählter Hefte, von 1987 bis 2003 erschienen in sechs Bänden die gesamten bis dahin erstellten Hefte der Bibliothèque Oulipienne. Das Erscheinen der Anthologien und des Sammelbandes, der die ersten Hefte der Bibliothèque Oulipienne zusammenfasst, markieren zudem das Heraustreten des Oulipo aus der Verborgenheit einer Geheimgesellschaft in die Öffentlichkeit. Paul Fournel: »Banlieu. La Bibliothèque Oulipienne No 46«, in: Oulipo, La Bibliothèque Oulipienne. Bd. 3, o. S.
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2. EXPERIMENTALISIERUNG VON SCHRIFT UND LITERATUR
Kulturtechnik von ihren Grenzen aus in den Blick zu nehmen und in ihren Regelwerken vorzuführen. Paul Braffort nimmt in der von ihm verantworteten Ausgabe der Bibliothèque Oulipienne das kulturelle System der Bibliothek und die durch sie konstruierten Ordnungen des Wissens in den Blick.289 Wie Borges imaginäre Bücher und phantastische Bibliotheken entwirft, so konstruiert Braffort in »Les bibliothèques invisibles«290 eine Systematik realer, fiktionaler und imaginärer Bibliotheken. In einem einleitenden Artikel erklärt er sein Vorgehen, mittels systematischer Modelle und kombinatorischer Techniken die oulipistische Erkundungen von Sprache und Literatur auf umfassendere Systeme wie Bibliotheken auszuweiten. Sein mit Algorithmik und Linguistik, Gerard Genette und Roland Barthes begründetes Projekt erweist sich als exemplarisch für potenzielle Literatur, insofern reale Instrumente auf imaginäre Probleme angewandt werden und ein zwischen Wissenschaft und Kunst oszillierendes Feld konstruiert wird: »[O]n néglige trop souvent les bibliothéques cachées, invisibles parce que potentielles — ou même imaginaires. Et pourtant ces dernières sont les seules qui donnent à ce niveau élevé de l’organisation textuelle la possibilité d’une expression artistique.«291
Ausgehend von Roland Barthes’ erweitertem écriture-Begriff lassen sich die realen und phantastischen Organisationsformen von Wissen einer Schriftkultur zusammenfassen. Braffort schafft in dieser Systematik ein Konnexionssystem, das wirkliche und fiktive Autoren und Werke zusammenführt und damit – vergleichbar Foucault – eine Ordnung der Bücher ausgehend von den phantastischen, noch nicht gedachten Ordnungen her entwirft. Es könnten nicht nur anhand der Hefte der »Bibliothèque Oulipienne«, sondern auch in anderen literarischen Projektes der einzelnen OulipoMitglieder zahlreiche weitere Verfahren vorgestellt werden, welche das Funktionieren von Literatur als Wissenschaft imaginärer Lösungen und Inszenierung von Schwellenbereichen vorführen. Jacques Roubauds Arbeiten ließen sich näher untersuchen, seine auf die Regeln und Formen des Go-Spieles aufbauenden Gedichte »∈«,292 die philosophische Anekdote »Comment la Tortue combattait Archille«,293 der kriminalistische Hortense-Zyklus oder seine »Autobiographie chapitre dix«.. 289
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Siehe dazu auch Dietmar Rieger: Imaginäre Bibliotheken. Bücherwelten in der Literatur, München 2002; Günther Stocker: Schrift, Wissen und Gedächtnis. Das Motiv der Bibliothek als Spiegel des Medienwandels im 20. Jahrhundert, Würzburg 1997. Paul Braffort: »Les bibliothèques invisibles. La Bibliothéque Oulipienne No 48«, in: Oulipo, La Bibliothèque Oulipienne. Bd. 3, S. 241-261. Ebd., S. 246. Braffort unterscheidet: Bibliothèques réelles imaginaires (reale Bibliotheken in fiktiven Werken), Bibliothèques imaginaires réelles (in realen Werken zitierte imaginäre Bücher und Autoren), Bibiothèques potentielles (Bücher, deren Titel nach oulipistischen Verfahren konstruiert sind), Bibliothèques systématiques (mögliche bibliothekarische Klassifikationssysteme). Die Gebrauchsanleitung zu diesen Gedichten (Jacques Roubaud: »∈«, Paris 1967) findet sich in Jacques Roubaud: »∈. Mode d’emploi de ce livre«, in: Oulipo, La littérature potentielle, S. 259-261. Jacques Roubaud: »Comment la Tortue combattait Archille«, in: Oulipo, La Bibliothèque Oulipienne. Bd. 3, S. 107-118.
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SZENEN DER SCHRIFT
Auch Italo Calvinos Bücher bieten einen reichen Fundus an metaliterarischen Spielen, die Erzählverfahren vorführen, sei es das Kompendium literarischer Anfänge »Wenn ein Reisender in einer Winternacht« oder die als Lektüre von Tarotkarten konstruierte Erzählung vom »Schloss, in dem sich die Geschichten kreuzen«. Neben der Produktionsästhetik potenzieller Literatur wird eine rezeptionsästhetische Perspektive von Felix Philipp Ingold eingenommen, der die Lektürearbeit an den Ursprung oulipistischer Transformationen literarischer Sprache setzt: »[...] oulipistische Texte sind primär Gebrauchsanweisungen, sie leiten den Leser zum Handeln an, und erst als Handelnder kann der Leser verstehen, was die Texte zu bedeuten haben – ob und wozu sie zu gebrauchen sind.« 294 Auch bezüglich potenzieller Literatur als Schrift, als Potenzialität des Schreibbaren, legt Ingold den Schwerpunkt auf den Lektüre-Aspekt: »Schreiben als Suche nach der Potenzialität des immer schon Geschriebenen.« 295 Ingold sieht in der ludischen Dichtungstheorie Oulipos einen »ernstzunehmenden Beitrag zur Begründung einer postmodernen Poetik«, deren Anliegen »die Errettung der Schriftkultur vor einem neuen, nachgeschichtlichen Analphabetismus« 296 sei. Ingolds Positionierung der Arbeiten potenzieller Literatur an der Schwelle einer in die Bilderkultur übergehenden Schriftepoche – eine These von kulturtechnischen Umbrüchen, die in Kapitel 4 zur Medienästhetik Vilem Flusser eine zentrale Rolle spielt – ist vor allem mit Blick auf die Formulierung der Postmoderne interessant, insofern Oulipo die Grundlagen einer spielerischen und metaliterarischen Postmoderne in einem experimentalkulturellen Feld legt, dessen hybride Gedankenexperimente die Fragestellungen des Denkens, der Kunst und der Lebenswelt in einer als postmodern empfundenen Epoche nachhaltig bestimmen. Das intermediäre Feld zwischen Wissenschaft und Kunst wird zum Ausgangspunkt einer neuen Ordnung des Wissens, die Welt als sprachlich und medial konstruierte wahrnimmt und Modelle entwirft, um die Prozesse der Mediatisierung als spielerische Simulationen zu beschreiben. Ein vielfältiges Panorama literarischer Schreib-Experimente, die auf eben diese »postmodernen«, ambivalenten medialen Konstruktionen von Lebenswelten zielen, entwirft Georges Perec, dieser im deutsches Sprachraum erstaunlicherweise kaum präsente Schrift-Künstler.
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Felix Philipp Ingold: »OuLiPo«, in: Verena van der Heyden-Rynsch (Hg.), Vive la littérature! Französische Literatur der Gegenwart, München 1989, S. 215218, hier S. 217. Ebd., S. 218. Ebd.
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3. E X P E R I M E N T E L L E Ä S T H E T I K GEORGES PEREC
DER
SCHRIFT.
3.1 Entwurf einer auf die Reflexion der Schrift zentrierten Poetologie 3.1.1 Am Nullpunkt der Schrift »Perec a repensé et réinventé l’acte d’écrire lui-même.«
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Wie sich aus der Programmatik potenzieller Literatur eine vielgestaltige poetische Praxis ableiten lässt, verdeutlichen insbesondere die unterschiedlichen Produktionstechniken, Textformen und ästhetischen Reflexionen Georges Perecs (1936-1982) 2 . Ausgangspunkt der Arbeiten Perecs ist ein oulipistisch erweiterter Schrift- und Literatur-Begriff, der sowohl eine schreibtechnische Produktionsästhetik meint als auch Gestaltungsformen von Schrift, seien es mathematische Repräsentationsformen oder seien es aktionistische Verkörperungen der theatralen Dimension von Schrift, sowie die Potenzialität von Literatur, spielerisch phantastische Räume zu organisieren und zur Schau zu stellen. Im experimentierenden Spiel mit Verkörperungen der Schrift lotet Perec die Materialität und Medialität der Schrift sowie zentrale Aspekte literarischer Poetik aus und erfindet in diesem Sinne den Akt des Schreibens neu, wie Harry Mathews es formuliert. 3 1 2
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H. Mathews: »Le catalogue d’une vie«, S. 14. Zu Leben und Werk Perecs siehe D. Bellos: A Life in Words. Zur kritischen Lektüre dieser Biographie: Cahiers Georges Perec. Nr. 7. Antibiotiques, Paris 2003. Perecs Leben in Bildern präsentieren Jacques Neefs/Hans Hartje: Georges Perec. Images, Paris 1993. Ergänzend Paul Schwartz: Georges Perec. Traces of His Passage, Birmingham, Alabama 1988; Claude Burgelin: Georges Perec, Paris 1988. Aus einer persönlich geprägten Erinnerung geht hervor Jean Duvignaud: Perec ou la cicatrice, Paris 1993. Dies unterstreicht auch Formulierung »A Life in Words«, die David Bellos seiner Perec-Biographie gibt. Auf die Beherrschung unterschiedlichster Schreibtechniken zielend, erklären Heiner Boehncke und Bernd Kuhne Perec zum »Meister aller Klassen oulipistischer Literatur« (H. Boehncke/B. Kuhne: Anstiftung zur Poesie, S. 8.) und widmen seinem Andenken das Buch »Anstiftung zur Poesie«, das oulipistische Techniken wie Lipogramm, Anagramm und Palindrom als literarisches Handwerkszeug vorstellt. »In artifizieller Meisterschaft sticht hier wiederum Georges Perec hervor.« Ebd., S. 15. Das Experimentieren potenzieller Literatur gehe über das Ziel artifizieller Meisterschaft hinaus, betont dagegen Marcel Bénabou in Übereinstimmung mit anderen Autoren wie Harry Mathews und Georges Perec, die unterstreichen, der Formzwang sei ein geeignetes Mittel, um von der Sprache zum Schreiben zu gelangen, jedoch nicht als »wie immer geartete Vorführung von Virtuosität«, sondern zur »Entdeckung von Virtualität«. M. Bénabou: »Regel und Formzwang«, S. 55. Wenn die experimentellen Techniken auch zur Unterstützung von Stilübungen dienen können, so ist doch das Ansinnen oulipistischer Poetik, Literatur als Erkundung der Virtualitäten und Potenzialitäten von Sprache zu praktizieren.
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Perec wird insbesondere in den ihm zugedachten posthumen Hommagen als Spracherfinder rekonstruiert, in der als Akt der Trauerarbeit unternommenen Wiederholung seines Schreibens. Harry Mathews greift beispielsweise das Perec’sche Sprachmuster »Je me souviens« auf, das Perec wiederum von Joe Brainards »I remember« (1970) übernommen hatte. 4 Matthews führt diese Technik seriellen Schreibens in seinem 1991 erschienenen Text »Der Obstgarten. Erinnerungen an Georges Perec« 5 als rememorative Praxis fort, indem er kleine Absätze aneinander reiht, die von der Person Perec und gemeinsamen Begegnungen erzählen und mit der Formel »Je me souviens« eingeleitet werden; Mathews greift diese Schreibweise auf, um, wie er sagt, die »Scherben jenes Grabhügels zu bezeichnen, den ich in Trauerarbeit aufzuhäufen dabei war.« 6 Über die Stilübung hinaus wird der Text zu einem Medium erinnernder Verkörperung, insbesondere in solchen Texten und Formen, die den Namen Perecs in Kreuzworträtseln, Lipogrammen und vergleichbaren Mustern variierend vergegenwärtigen, wie beispielsweise das »acrostiche double sur un palindrome utilisant seulement les lettres de ›PEREC‹« von Luc Etienne oder das italienische Gedicht Italo Calvinos »Georges Perec Oulipien«, das ausschließlich die Buchstaben der im Titel genannten Wörter verwendet. 7 Die Tatsache, dass es diese besonderen Schrift-Formen sind, mittels derer die Erinnerungsarbeit betrieben wird, macht deutlich, wie sehr Perec als literarische Person mit den Formen seines Schreibens identifiziert wird und wie sehr diese Akte des Schreibens als eigene Schreibweisen Perecs angesehen werden. Perec selber entwirft, vergleichbar einem Logotheten, einem Sprachbegründer, 8 eine Variationsbreite unterschiedlicher Gestaltungen der Schrift; so greift er anlässlich der Hochzeit eines befreundeten Paares die Form der »Épithalames« auf, eine nach alter Tradition in den Hochzeitritus eingebundene Gedichtgattung. 9 Die Gedichte, die aus den Buchstaben, die die Namen der Brautleute bildenden, zusammengesetzt sind, schaffen eine »langue à eux seuls commune«, 10 indem das Buchstabenspiel den auch in der Hochzeit vollzogenen Prozess der Vereinigung nachbildet. »Ici, la contrainte ›littérale‹ prend en charge la contrainte ›sématique‹ de l’épithalame: comme dans le marriage qui est fusion et échange, les ›lettres‹ des époux vont se fondre et s’échanger. [...] Une à une, le marié et la mariée vont se
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Georges Perec: Je me souviens. Les Choses communes, Paris 1978. Der Text erschien 1978. Perec hatte diese Formel »Je me souviens« von Joe Brainard »I remember« (1970) für eine Textform übernommen, in der er die Kultur der Nachkriegsjahre auflistend erinnert und archiviert. 5 Harry Mathews: The Orchard. A Remembrance of Georges Perec, o. O. 1988. 6 Harry Mathews: Der Obstgarten. Erinnerungen an Georges Perec, Berlin 1991, S. 6. 7 Neben den beiden genannten finden sich zahlreiche dieser Formen in der 23. Ausgabe der Bibliothèque Oulipienne, die Perec gewidmet ist; siehe Oulipo: »À Georges Perec. La Bibliothèque Oulipienne No 23«, in: Oulipo, La Bibliothèque Oulipienne. Bd. 2, Paris 1987, S. 83-122. 8 Diese Bezeichnung des Logotheten ist angelehnt an Roland Barthes, der de Sade, Fourier und Loyola als solche beschreibt, siehe R. Barthes: Sade. Fourier. Loyola, S. 7. 9 Georges Perec: »Épithalames«, in: Oulipo, À Georges Perec, S. 1-23. 10 Ebd., S. 2.
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3. EXPERIMENTELLE ÄSTHETIK DER SCHRIFT. GEORGES PEREC donner leurs lettres non communes, jusqu’á n’être plus qu’une langue, et qu’un corps.« 11
Über die oulipistische Technik hinaus wird das Spiel mit der Materialität der Zeichen in einen pragmatischen und kulturellen Handlungskontext eingebunden. Diese Prozesse der Zeichenkonstitution und Zeichenpraxis machen zugleich mögliche selbstreflexive Semantisierungen deutlich, sei es eine Konzeption von Schrift als Erinnerungspraxis, als Vergegenwärtigung des Abwesenden in der Wiederholung der Spur des Namens – um mit einem Derrida entlehnten Vokabular und Ideenkomplex von Schrift als disseminierender und testamentarischer Praxis zu sprechen –, sei es in der Inszenierung einer Körperlichkeit der Schrift durch die Konkretisierung eines symbolischen Vorgangs auf der Ebene des literarischen Stilzwangs. Diese sich hier abzeichnenden Aspekte eines Schrift-Begriffs, auf welchen Perec seine Poetik aufbaut, reflektiert der Oulipist Perec in einem »Histoire du lipogramme« überschriebenen und in der ersten OulipoAnthologie veröffentlichten Text. 12 Perec nimmt einen kabbalistischen Schrift-Begriff zum Ausgangspunkt – sich Borges’ Faszination angesichts »cette idée prodigieuse d’un livre impénétrable à la contingence« 13 anschließend: »S’il est vrai qu‘au commencement était le Verbe et que l’Œuvre du Dieu s’appelle l’Écriture, chaque mot, chaque lettre appartient à la nécessité: le livre est un reseau infini à tout instant parcouru par le Sens; l’esprit se confond avec la Lettre; le Secret (la Savoir, la Sagesse) est une lettre cachée, un mot tu: le Livre est un cryprogramme dont l’Alphabet est le chiffre.« 14
Anhand der kryptogrammatischen Buchstabenmythologie der Kabbala reflektiert Perec die Konnexion von Zeichenkörper, kombinatorischen Ordnungspraktiken der Schrift und Prozessen der Sinnkonstruktion, wie sie auch die poststrukturalistische und grammatologische Wende zur Materialität der Kommunikation, zur Äußerlichkeit der Schrift, zu den Spielregeln der Signifikanten in den Blick nimmt und wie sie in der literarischen Poetik seit der Neuzeit immer wieder Grundlage sprachspielerischer Reflexionen und Praktiken ist. 15 Gegen eine hermeneutische und geistesgeschichtliche Tradition wird eine Poetik vorgestellt, die – wie zeitgleich unterschiedliche Denkrichtungen und Disziplinen – die »Einsetzung der Schrift in den Schauplatz der
11 Ebd. 12 Georges Perec: »Histoire du lipogramme«, in: Oulipo, La littérature potentielle, S. 77-93; ergänzend ders.: »Un roman lipogrammatique«, in: ebd., S. 94-96; ders.: »Traductions lipogrammatiques de poèmes bien connus«, in: ebd., S. 99-100. 13 G. Perec: »Histoire du lipogramme«, S. 77. 14 Ebd. 15 Zur kabbalistischen Schrift-Konzeption und ihrer Adaption in der SchriftPhilosophie und der literarischen Poetik siehe Gershom Scholem: Von der mystischen Gestalt der Gottheit. Studien zu den Grundbegriffen der Kabbala, Frankfurt/M. 1977; Andreas Kilcher: Die Sprachtheorie der Kabbala. Die Konstruktion einer ästhetischen Kabbala seit der frühen Neuzeit, Stuttgart, Weimar 1998; M. Schmitz-Emans: Schrift und Abwesenheit.
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SZENEN DER SCHRIFT 16
Bedeutung« unternimmt. Im Rahmen dieser Poetik skizziert Perec einen Begriff von Schrift als Praxis, Arbeit und Spiel: »Uniquement préoccupée de ses grandes majuscules (l’Œuvre, le Style, l’Inspiration, la Vision du Monde, les Options fondamentales, le Génie, la Création, etc.), l’histoire littéraire semble délibrément ignorer l’écriture comme pratique, comme travail, comme jeu.« 17
Für die Poetik erschließt Perec einerseits das Mathematisch-Nummerische des kabbalistischen Schriftsystems als Ordnungsmuster der Schrift, andererseits die Integration von Schreibweisen an den Rändern der Sinnkonstruktion, die bisher in den »registres d’asiles de fous littéraires« als »monstruosités pathologiques«, als »monstres para-littéraires« 18 abgehandelt wurden. Es sind diese Grenzfälle von Sinnhaftigkeit, an denen sich die Konnexionsprozesse von Zeichenkörper und Sinn studieren lassen. 19 Ausgehend von den Überlegungen zu Kabbala und Schrift skizziert Perec die mythopoetischen Grundlagen schriftbasierter Wissensordnungen und entwirft Spielräume für Schrift-Verkörperungen, die Schwellenbereiche von sinnhaften und nicht sinnhaften Formen zur Schau stellen, vergleichbar Le Lionnais’ »tentatives á la limite« 20 . Anhand des Lipogramms, das einen oder mehrere Buchstaben nicht verwendet, verweist Perec einerseits auf den mathematisch-spieltheoretischen Kontext und erwähnt, dass lipogrammatische Wahrscheinlichkeit eine der Grundlagen der Kryptographie sei, andererseits gibt er einen poetologischen Überblick über die literaturgeschichtliche Entwicklung lipogrammatischer Texte. 21 Insofern das Lipogramm im Gegensatz zu anderen Stilformen nicht zu bemerken ist, stellt Perec es als Nullpunkt regelgeleiteten Schreibens vor. In medienästhetischer Perspektive lässt sich das Lipogramm daher als exemplarische Grenze von Sinnbildungsprozessen in Szene setzen: »En ce sens, la suppression de la lettre, du signe typographique, du support élémentaire, est une opération plus neutre, plus nette, plus décisive, quelque chose comme le degré zéro de la contrainte, à partir duquel tout devient possible.« 22
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D. Wellbery: »Die Äußerlichkeit der Schrift«, S. 343. G. Perec: »Histoire du lipogramme«, S. 79. Ebd. Angesichts dieses durch Zufall, Diskontinuität und Materialität gekennzeichneten poststrukturalistischen Schrift-Begriffs definiert David Wellbery Kunst als denjenigen Ort, an welchem die Semiose sich der Willkür aussetze. Kunst sei aufgrund ihres konstitutiven (Nicht-)Prinzips von einem nicht-sinnhaften Element geprägt: »Die methodologische Schlußfolgerung meiner Behauptung wäre also, daß die Wissenschaft von der Kunst ihren Diskurs als eine Deutung des Undeutbaren entwickeln würde, die dem Moment der Zufälligkeit und dem Un-Sinn angehörte.« D. Wellbery: »Die Äußerlichkeit der Schrift«, S. 348. Eben dieses Oszillieren zwischen Ordnung und Störung, Sinn und Unsinn stellt Perec und die experimentelle Literatur in den Mittelpunkt der Reflexion und der literarischen Praxis. 20 F. Le Lionnais: »Tentatives à la limite«. Siehe auch Kapitel 2.2.3, S. 96-98 der vorliegenden Arbeit. 21 Vgl. G. Perec: »Histoire du lipogramme«, S. 82ff. 22 Ebd., S. 92.
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3. EXPERIMENTELLE ÄSTHETIK DER SCHRIFT. GEORGES PEREC
Das Lipogramm als Nullpunkt der regelgeleiteten Schrift-Konstruktion und damit selbstreflexive Verkörperung der Idee des Regelzwangs veranschaulicht den Kern oulipistischer Poetik. Darüber hinaus zeigt es Schrift als regelgeleiteten Mechanismus, dessen fundierendes Prinzip und dessen erste Spielbewegung – hier das Auslassen mindestens eines Buchstabens – verborgen bleibt. Das Lipogramm wird zum exemplarischen Fall der mythopoetischen Konstruktion eines Schrift-Konzepts, die Perec in seinem Beitrag »Histoire du lipogramme« vorführt: aus der kabbalistisch-ontosemiologischen Konzeption von Schrift wird ein (post-)strukturalistischer, disseminierend auf sein abwesendes Zentrum verweisender Schrift-Begriff abgeleitet. Verfolgt Perec in diesem Text auf der ersten Ebene die Konnexion von Materialität und (kulturellem) Imaginärem, so lässt sich auf einer zweiten Ebene der Entwurf eines Schrift-Begriffs und die Vorführung einer daraus abgeleiteten Poetik rekonstruieren. Ergänzen lässt sich diese »Geschichte des Lipogramms« durch Paul Fournels Erzählung »Das Lipogramm«. Vergleichbar Calvinos »Gespenstern« skizziert Fournel in der Geschichte eines Mädchens, das den Buchstaben »o« verweigert, die Konsequenzen eines revidierten Schrift-Begriffs für die Konstruktion von Sinn, Wissen und Kultur als diffus bedrohlich: ››Man kann nicht mit einem Alphabet von nur 25 Buchstaben leben!‹ brüllte sie [die Lehrerin; P.G.]. Dieser plötzlich aufklaffende Riß in ihren Gewißheiten hatte ihr einen Schauer über den Rücken gejagt […].« 23
3.1.2 Mythopoetik und Ästhetik Diese selbstreflexive Figur des Lipogramms macht Perec zum Produktionsprinzip einer Konstellation literarischer Texte: des 1969 erschienenen Romans ohne »e« »La disparition« 24 sowie seiner komplementären monovokalischen Gegenstücke »Les revenentes« und »What a man!«. Einerseits als sprachspielerische Experimente gedacht – »Je me considère vraiment comme un produit de l’OuLiPo [...]« 25 – sind sie singuläre Meisterstücke oulipistischer Formtechnik, wie Roubaud mit Blick auf »La disparition« unterstreicht: »So ist denn dieses Buch auch das erste und m. E. bislang auch das einzige wirkliche Beispiel für ein von einem oulipotischen Autor geschriebenes Buch.« 26 Darüber hinaus sind sie selbstreflexive Figur des von Perec skizzierten Schrift-Begriffs: Getreu Roubauds Maxime, ein unter Formzwang ge23 Paul Fournel: »Das Lipogramm«, in: J. Ritte/H. Hartje (Hg.), Oulipo, S. 117120, hier S. 118. 24 Georges Perec: La disparition, Paris 1969. Ins Deutsche übersetzt von Eugen Helmlé unter dem Titel: Anton Voyls Fortgang, Frankfurt/M. 1986. Siehe dazu John Lee: »Brise ma rime. L’ivresse livresque dans La Disparition«, in: Littératures 7 (1983), S. 11-20; ders.: »La Disparition: Problèmes de traduction«, in: Mireille Ribière (Hg.), Parcours Perec. Colloque de Londres — mars 1988. Lyon 1990, S. 109-126. 25 »[...] c’est-à-dire que mon existence d’écrivain dépend à quatre-vingt-dixsept pour cent du fait que j’ai connu l’OuLiPo à une époque tout à fait charnière de ma formation, de mon travail d’écriture.« Georges Perec, zit. nach Jacques Bens: »Oulipien à 97%«, in: Magazine littéraire 193 (1983), S. 26, 27, hier S. 26. 26 J. Roubaud: »Der oulipotische Autor«, S. 46.
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schriebener Text spreche von diesem Formzwang, durchzieht das Modell des Verschwindens den Roman »La disparition« auf allen seinen Ebenen. Die Idee der kabbalistischen Schrift-Technik, zugleich Spiel auf Ebene der Materialität und Verweis auf einen dieses Spiel strukturierenden und nicht zu erkennenden Mechanismus, wird poetologisches Prinzip. In der Titelformulierung, in der Gattung des Krimis, in der Geschichte vom Verschwinden des Protagonisten Anton Voyl, in der als detektivisches Sammeln von Informationen und Deuten von Zeichen angelegten Lektüre, in all diesen Aspekten verweist der Roman auf das zugrunde liegende Prinzip des Verschwindens bzw. des Verschwindens eines Sinn und Kohärenz stiftenden Zentrums sowie der Verselbstständigung der spielerischen Mechanismen. Das gestellte Rätsel: »Quel est le fin mot de cette histoire?« 27 spiegelt die aus dem Entzug eindeutiger Referenzbezüge resultierende Unabschließbarkeit – eine Anordnung, die, um an dieser Stelle vorzugreifen, dem zentralen Puzzle-Szenario in Perecs Roman »La Vie mode d’emploi« entspricht, dem Moment, als die Formen des letzten Puzzleteils und der einzig verbliebenen Lücke nicht übereinstimmen. Die Idee des Lipogramms als Nullpunkt eines nicht zu erkennenden und doch die Produktion bestimmenden Regelzwangs ist die (postmoderne) semiotische Reflexionsfigur, nach der dem kabbalistischen Code der »Name Gottes« bzw. der Sinnkonstruktion ihr »transzendentales Signifikat« – um noch einmal Derridas Formulierung zu entleihen – abhanden kommt und die Materialität der Schrift in den Vordergrund tritt. In einem romanpoetologischen Post-scriptum des Romans »La disparition« unterstreicht Perec diesen produktionsästhetischen Ansatz des »primat du signifiant«, 28 aus dem eine Praxis des Schreibens abgeleitet ist, die sich auszeichnet durch »sa passion pour l’accumulation, pour la saturation, pour l’imitation, pour la citation, pour la traduction, pour l’automatisation.« 29 Das Primat des Signifikanten für Poetologie und literarische Praxis bezieht sich auf die Materialität der Buchstaben, auf Figuren der Selbstrepräsentation sowie auf die Semantisierung der Materialität bzw. die Reflexion dieser Semantisierung, beispielsweise in den Überlegungen zur Mythopoetik des Vokals. Die Zitatensammlung »Métagraphes«, als Anhang dem Haupttext und der Geschichte der »disparition« angefügt, 30 versammelt anthropologisch-kulturgeschichtlich orientierte Kurztexte zu Vokalen als »cellules primitives du langage«, zur Idee einer »Voyelle inconnu, la Voyelle des Voyelles qui les contiendra toutes«, »la Voyelle qui est à la fois le commencement et la fin, et se prononçera avec tout le souffle de l’homme«, Vokal, der in einem einzigen Schrei das Gähnen, die Langeweile, das Brüllen des Hungers, das Seufzen der Liebe, das Röcheln des Todes vereine. 31 Perec führt einen von Roland Barthes zitierten Hinweis auf das Volk der Papou an, von dem berichtet wird, das es nach dem Tod eines seiner Mitglieder einige der Worte seiner Sprache nicht mehr verwende. 32 27 28 29 30 31 32
G. Perec: La disparition, Klappentext. Ebd., S. 309. Ebd., S. 310. Georges Perec: »Métagraphes«, in: ebd., S. 313-316. Ebd., S. 313. »Chez les Papus, le langage est très pauvre; chaque tribu a sa langue, et son vocabulaire s’appauvrit sans cesse, parce qu’après chaque décès on supprime quelques mots en signe de deuil. E. Baron Géographie (cité par Roland Barthes: Critique et Vérité).« Ebd., S. 316.
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3. EXPERIMENTELLE ÄSTHETIK DER SCHRIFT. GEORGES PEREC
Diese von Perec zusammengetragene Kulturgeschichte des Vokals, die von der alten philologischen Utopie einer Ursprache bis zu körpertechnischen Dimensionen der Sprache reicht, beleuchtet das mythische Potenzial von Buchstaben und Lauten, erhellt in anthropologischer Perspektive die Mythopoetik der Sprache. Perec zeigt sich als Sprachenforscher, der diese Befunde zur Grundlage seiner Poetik der Schrift und Methodik des Schreibens macht und diese mythopoetischen Potenzialitäten als Potenzialitäten des Signifikanten in literarische Formen transformiert. Kabbalistische Schrift-Technik, lipogrammatischer Nullpunkt des Regelzwangs und Kulturpoetik des Vokals treffen sich in der Idee des Primats der Signifikanten, deren Spiele und Gestaltungsformen diversen Semantisierungen offen stehen. 33 Die mythopoetische Semantisierung der Siginifikanten lässt sich am augenfälligsten in den biographisch orientierten Lesarten der Texte Perecs nachvollziehen. Die Formzwänge und Texte oulipistischer Literatur funktionieren nicht nur als autoreferentielle Reflexionen der Schrift und als textuelle Gestaltungen des Formzwangs, sondern dem Stilzwang wird seinerseits ein autobiographisches Sinnpotenzial zugeschrieben und Perecs Text von seinen Interpreten nach einer quasi-kabbalistischen Mechanik hinsichtlich existenzieller Sinndeutungen aufgelöst. Boehncke/Kuhne beispielsweise deuten das verschwundene »e« des Romans »La disparition« explizit autobiographisch: »Die Abwesenheit dieses Buchstabens und die ins Leere gehende Suche im Roman stehen dann für die Abwesenheit der Eltern in der Biographie des Autors.« 34 Es ist die Ebene der Signifikantenstruktur bzw. der Verkörperung, auf der die mythopoetischen und existenziellen Implikationen, auch psychoanalytische Deutungen der Schrift verankert werden.
33 Perec selber setzt durch den intertextuellen Verweis auf seine Erzählung »Un homme qui dort« im Titel des ersten Kapitels des Romans »La disparition«, »Qui, d’abord, à l’air d’un roman jadis fait où il s’agissait d’un individu qui dormait tout son saoul«, den abwesenden Text an den Ursprung des Schreibspiels. G. Perec: La disparition, S. 17. Auf Bezüge zu Mallarmé und Moby Dick machen Lee und Ribière aufmerksam; siehe J. Lee: »Brise ma rime«; Mireille Ribière: »›Maudit Bic!‹ ou la Maldiction«, in: Georges Perec. écrire/transformer. Etudes littéraires 23 (1990) H. 1-2, S. 53-78. 34 H. Boencke/B. Kuhne: Anstiftung zur Poesie, S. 142f. Das als Formzwang den Roman »La disparition« generierende verschwundene »e«, welches im Französischen auch in der Variante des stummen e (»e muet«) existiert, spielt auch für Perecs autobiographischen Text »W ou le souvenir d’enfance« (Paris 1975) eine konstitutive Rolle, insofern als der Text die Widmung »pour e«, auch als »pour eux« lesbar, im Deutschen »Für E«, trägt, und dieses sich als Anspielung auf die verstorbenen Eltern lesen lässt, deren Tod Perec als Auslöser für sein Schreiben bennent: »J’écris: j’écris parce que nous avons vécu ensemble, parce que j’ai été un parmi eux, ombre au milieu de leurs ombres, corps près de leurs corps; j’écris parce au’ils ont laissé en moi leur marque indélébile et que la trace en est l’écriture: leur souvenir est mort à l’écriture; l’écriture est le souvenir de leur mort et l’affirmation de ma vie.« (W, 59) Boehncke/Kuhne weisen darüber hinaus darauf hin, dass das »W«, Chiffre für die KZ-ähnliche Feuerlandinsel in »W ou Le souvenir d’enfance«, ein um 90 Grad gedrehtes E darstellt. Eine ähnliche symptomatische Lektüre unternimmt Magoudi (Ali Magoudi: La lettre fantôme, Paris 1996), der in psychoanalytischer Perspektive anhand des Verschwindens der Mutter Perecs und der Präsenz dieser Tragödie in »La disparition« Auswirkungen der Geschichte, insbesondere der Shoa auf das unbewusste Subjekt beschreibt.
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Exemplarisch führt dies der Text »What a man!« vor, dieses »monument linguistique et ludique«, 35 das einzig aus dem Vokal »a« generiert ist und – mit Blick auf die Zeichenfigur des aleph – die kulturpoetischen Potenziale dieses Buchstabens reflektierend auslotet: die Idee des Vokals, der sämtliche andere enthält, bzw. aus dem sich alle anderen generieren lassen, sowie die unzähligen Gestaltungsformen, semantischen und kulturgeschichtlichen Assoziationen und Verknüpfungen. 36 Wie Roland Barthes Literatur bzw. den schreibbaren Text als einzigartige Form mit unzähligen Sinnen beschreibt – »[L]a Littérature est fondementalement inversion du langage, puisque la forme y est singulière et les sens innombrables« 37 –, zeigt Marcel Bénabou in dem Vorwort zu »What a man!« die Verbindung von Monovokalismus und »Polysemismus« in den sprachspielerischen Formen Perecs auf, unter Bezug auf die von Perec in der »Histoire du lipogramme« diskutierten kabbalistischen Schrift-Techniken. Dieses Spiel mit Schrift und Bedeutungsdimensionen erklärt Bénabou zum Zentralphänomen literarischer Modernität und Perec neben Joyce und Queneau zu einem ihrer virtuosesten Vertreter: »Homophonies à répétition, mots contractés, mots-valises, multilinguisme, expression à double, triple ou quadruple entente, il sait jouer de toute la panoplie rhétorico-linguistique qui est, depuis un certain nombre d’années, l’emblème de la ›modernité littéraire‹.« 38 In einer entsprechenden semiotischen Lektüre der multiplen Verweisungen des monovokalischen Textes »What a man!« unternimmt Bénabou Analysen in phonetischer, buchstäblich-literaler und konnotativer Richtung, vergleichbar Roland Barthes’ Lektüre des Balzac-Textes »Sarrasine« in »S/Z«. 39 In Form von Fußnoten erweitert Bénabou den Text Perecs, interpretiert Segmente des ursprünglichen Textes als Elemente diverser, beispielsweise intertextueller, kabbalistischer oder autobiographischer Codes. Anhand des Titels lässt sich exemplarisch die Konnexion von Sprachmaterial und multiplen Sinnordnungen nachvollziehen, denn »What a man!« demonstriert die Generierung der Sprache aus dem Vokal »a«, und zugleich funktioniert in anthropologischer Sicht der Ausruf/Anruf »Welch ein Mensch!« als medialer (Selbst-)Entwurf des Menschen. In nuce wird die poietische Praxis der Schrift als Inszenierung medialer Verkörperung vorgeführt. Darüber hinaus steht der Titel in Verbindung zu Queneaus autobiographischer Katalog-Collage »What a life«, 40 worauf Bénabou im Vorwort aufmerksam macht, und, daran anschließend, zu Perecs späterem Roman »La Vie mode d’emploi«. Perecs Text positioniert sich in einem Geflecht kulturkonstituierender Textformen, anspielend auf die Golem-Legende, in welcher die semontologische Konnexion von Sprache und Leben begründet ist, an35 Georges Perec: What a man!, Paris 1996, Klappentext. 36 Der Text »Les revenentes« erweist sich insofern als komplementär zu »La disparition«, als sie nicht nur beide durch ihren Bezug auf das »e« gekennzeichnet sind, sondern durch die gemeinsame Thematik des Geheimnisses sowie durch den monovokalischen Text »Eve’s Legend« verbunden sind, der in den Métagraphes des Romans »La disparition« abgedruckt ist und das Motto der »Revenentes« bildet. 37 R. Barthes: »Tables rondes« (Kap.2, Anm. 125), S. 803. 38 Marcel Bénabou: »Du monovovalisme au ›polysémisme‹«, in: Perec, What a man!, S. 7-20, hier S. 17. 39 Siehe dazu auch Kapitel 1.4, S. 47-49 der vorliegenden Arbeit. 40 Raymond Queneau: »What a life!«, in: ders., Bâtons, chiffres et lettres, Paris 1950, S. 197-207; Paris 1965, S. 269-280.
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spielend auch auf Robert Antèlemes »L’espèce humaine«, einen für Perec zentralen Text über jüdisches Leben im Konzentrationslager, auch anspielend auf Michel Leiris’ autobiographische Textformation »L’âge de l’homme«. Um diesen Kern von Schrift und anthropologischem Lebensentwurf zentriert, ist »What a man!« nicht allein virtuoses Spiel mit Buchstaben und Worten, sondern führt die Potenzialitäten von Schrift als kulturstiftendes, sinngenerierendes und anthropologisches Medium vor 41 – und geht in diesem Sinne Calvinos »Gespensten« nach, den Ordnungen der Schrift, die in ihren kulturellen Gebrauchsweisen sozialen, religiösen und mythischen Sinn entfalten. Diese Formbildungen von Schrift als Vorrausetzung und integraler Bestandteil der Zeichen- und Sinnbildungsprozesse sowie der kulturellen Bedeutungszuweisungen führt Perec in unterschiedlichen Formen von Texten vor, beispielsweise in solchen, die aus »heterogrammatischen« Regelsystemen generiert werden, wie »Ulcérations«, »Beaux présents, belles absentes«, »Alphabets« oder dem von Oskar Pastior übersetzten Text »La Clôture. Okular ist eng oder Fortunas Kiel«. Durch die begrenzte Anzahl von Buchstaben und die dazugehörigen Kombinationsregeln wird ein Miniaturmodell von Sprache als regelgeleitetes System geschaffen, an welchem sich das Funktionieren eines Sprachsystems über die Formbildungen der Schrift beobachten und nachvollziehen lässt. Die heterogrammatischen Gedichte können quasi als Anschauungsobjekte einer grammatologischen Wende verstanden werden. Dabei zeigt sich, wie produktiv anagrammatische und permutationelle Verfahren sind, wie komplex sich an ihnen das Zusammenspiel sinnlichmaterieller, formal-struktureller, kulturell-sinnhafter und performativ-inszenatorischer Dimensionen der Schrift vorführen lässt. Literatur wird zum Ort der spielerischen Erkundung dieser Prozesse, die modellhaft durchgeführt und anschaulich gemacht werden. Die Gedichtfolge »Ulcérations« 42 beispielsweise generiert aus den elf häufigsten Buchstaben des französischen Alphabets (U, L, C, E, R, A, T, I, O, N, S) anagrammatische Gedichte, die in zwei unterschiedlichen Darstellungsformen präsentiert werden, einmal als zu einem Buchstabenblock geforme Liste der 399 Permutationsanagramme und – buchstabenidentisch – in Form von Gedichten. Diese Gedichte sind in der Lektüre ohne Kenntnis des zugrunde liegenden Stilzwanges verständlich, der Stilzwang ist dagegen ohne detektivische Sezierarbeit nicht zu erkennen; die blockhaften Buchstabenlisten sind allerdings kaum in einen verständlichen Text, den Gedichttext, übersetzbar.
Cœur a l’instinct saoûl, reclus à trône inutile,
000 ULCERATIONS 001 COEURALINST 002 INCTSAOULRE
41 Die dem Text »What a man!« angefügten Texte verdeutlichen jeweils Aspekte dieser Perspektiven: die monovokalischen Transformationen von Jacques Roubaud, Jacques Jouet, Patrice Caumon und Michel Laclos erscheinen als strukturelle Variationen des Perec’schen »What a man!«, die Biographie »Gargas Parac« streicht die »anthropologie de la banalité«, die Perec in seinem Text betreibt, heraus; Paul Zumthor und Marcel Bénabou erhellen in »Les riches heures de l’alphabet« und »Une brève anthologie du A« den schriftpoetischen bzw. schriftmythologischen Kontext. 42 Die »Ulcérations« erschienen 1974 als erster Band der Bibliothèque Oulipienne.
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SZENEN DER SCHRIFT Corsaire coulant secourant l’isolé, tu crains la course intruse? [...] 43
003 CLUSATRONEI 004 NUTILECORSA 005 IRECOULANTS [...] 44
Perec führt in diesen buchstabenidentischen Schriftfolgen vor, wie einerseits im lesbaren Text die grammatologische Ordnung kaum zu rekonstruieren ist und wie sehr andererseits die Lesbarkeit des Textes von der räumlichen Organisation der Schrift abhängig ist, wie sehr die Zuordnung von Sinn auf die Materialität als räumliches Wahrnehmungsdispositiv bezogen ist. Die materielle Sinnlichkeit wird als konstitutive Bedingung der Bedeutungserzeugung vorgeführt und gleichberechtigt der semantischen Dekodierung der Buchstabenfolge und der kulturell konventionalisierten Bedeutungszuweisung beigeordnet. In den Formexperimenten der heterogrammatischen Gedichte wird einerseits die Prozesshaftigkeit der Schrift in Szene gesetzt, indem es die Lektüretätigkeit ist, welche die Identität der Buchstabenfolgen gegenüber der im Druckbild unterschiedlichen Bildlichkeiten erkennbar macht. Dabei wird der Lektüreprozess als Intergration der heterogenen und friktionalen Codes und Gestaltungsformen bewusst gemacht. 45 Andererseits wird die Medialität der Schrift als Transformierbarkeit unterschiedlicher Gestaltungsformen vorgeführt. 46 Diese figurative Dimension erkundet Perec weiter in symmetrischen Formen wie dem Palindrom, 47 von dem er das längste der französischen Sprache schafft, oder dem »Boule de neige«, das von einem kurzen Wort ausgehend in jeder Zeile einen Buchstaben mehr einfügt und dann wieder reduziert, sodass die Form einer Raute entsteht, oder sich, die Bewegungen der Reduktion und Expansion umkehrend, in X-Form darstellen kann, wobei Perec von dieser letztgenannten X-Form eines konstruiert, das zudem auf einem »X« endet. 48 Als Gegenstück zu dem in lautlicher Dimension kulturell signifikant werdenden Aleph wird die Figur des X in unterschiedlichen Bedeu43 Georges Perec: »Ulcérations«, in: La Bibliothèque Oulipienne No 1, in: Oulipo, La Bibliothéque Oulipienne. Nr. 1, Paris 1987, S. 1-16. Auch in: La Bibliothèque Oulipienne. Presenté par Jacques Roubaud. Reimpr. des ed. de Paris 1974-1981, Genève, Paris 1981, S. 1-15, hier S. 3. 44 Ebd., S. 11. 45 Siehe zur Interaktion von Zeichenfunktion, Textstruktur und Rezeptionsprozess im Lektüreakt S. Gross: Lese-Zeichen. Gross weist darauf hin, dass poetische kognitive Abläufe im Lektüreprozess explizit bewusst machen. 46 Siehe zur Bildlichkeit der Schrift J.G. Lapacherie: »Der Text als ein Gefüge aus Schrift«. Zur Reflexion von Repräsentation und Darstellung in Bild und Schrift und die in den wechselseitigen Verweisungen und Überkreuzungen entstehenden Räume siehe exemplarisch Foucaults Studie zu den Kalligrammen René Magrittes: Michel Foucault: Dies ist keine Pfeife. Mit zwei Briefen und vier Zeichnungen von René Magritte, München 1997. 47 Georges Perec: »Palindrome«, in: Oulipo, La littérature potentielle, S. 101106. Siehe dazu auch Philippe Dubois: »(Petite) Histoire des Palindromes«, in: Littératures 7 (1983), S. 125-140. Dubois betont, dass das Palindrom eine den symmetrischen Buchstaben vergleichbare Form ist, welche der Dimension des Geschriebenen, nicht der Oralität angehört. Perecs »Histoire du lipogramme« zitierend verweist er auf die traditionelle literaturgeschichtliche Einordnung in die Kategorie der »folies littéraires«. 48 Georges Perec: »Boule de neige«, in: Oulipo, La littérature potentielle, S. 110.
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tungskontexten aufgrund ihrer räumlichen Materialität produktiv, wie Jean Ricardou in einem Aufsatz zur Kunst des X in Perecs Poetik und Texten detailliert nachweist. 49 Das selbstreflexive Potenzial der Figur »X« verdeutlicht auch die Widmung »An X...« der »Beaux présents, belles absentes«, wobei diese Widmung nicht nur das Grundprinzip des Widmens modellhaft bezeichnet, sondern zugleich das abstrakte Prinzip einer Potenzialität figürlicher Gestaltungsformen der Schrift verkörpert. Perec präsentiert die Texte, welchen ein gemeinsamer Stilzwang zugrunde liegt, in sehr unterschiedlichen Gedichtformen und visualisiert so eine Variationsbreite möglicher Anordnungen und Raumaufteilungen der Schrift auf der Buchseite. Das oulipistisch-mathematische Ordnungssystem, die grafische Textgestaltung, die Semantik sowie die sinn- und kulturstiftenden Funktionen von Literatur werden als interagierende Elemente ins Spiel gesetzt. Die aus den alphabetisch-nummerischen Konstruktionsvorschriften der »beaux présents« 50 oder dem reduzierten Alphabet der »belles absentes« 51 abgeleiteten Permutationen funktionieren beispielsweise als kryptographische Verfahren, mittels derer Perec in die Diagonale der Textform Namen einschreibt, in »A Claude Berge« oder »Alphabets pour Stämpfli«, wobei sich letzteres einzig aus den Buchstaben der im Titel genannten Person zusammensetzt. Die »Alphabets pour Stämpfli« präsentieren sich nicht nur als Anagramm des Namens, sondern stellen sich darüber hinaus als »empreintes strictes / de ces milles alphabets de la vie quotidienne« 52 dar; wie in der lipogrammatischen Programmatik entworfen werden hier Verschränkungen von Sprachordnung und Konstruktion der Lebenswelt über Alphabetsysteme hergestellt, deren Regelmechanismen zum Teil unkenntlich im Text verborgen sind. Es wird deutlich, dass die Formen der »Beaux présents, belles absentes« vielschichtigere Dimensionen zusammenführen als die in dem Vorwort von Eric Beaumatin, Marcel Bénabou und Bernard Magné genannten drei Traditionen okzidentaler Literatur: persönliche Hommage, Gelegenheitsdichtung und literarischer Stilzwang. 53 Im Vordergrund steht das performative Potenzial von Sprache, Bedeutungswelten zu generieren, seien es enzyklopädische Zuordnungen von Worten und Dingen, seien es identitätsstiftende Benennungsakte im Medium des Namens, seien es Episoden kultureller Sinngeschichten, welche Perec im semantischen Spiel polysemer Wortfelder eröff49 Siehe Jean Ricardou: »L’art du X«, in: Littératures 7 (1983), S. 35-48. 50 Georges Perec: Beaux présents, belles absentes, Paris 1994. Die »beaux présents« werden aus einem restringierten Vokabular gebildet, das aus den Buchstaben eines Themen- bzw. Titelworts gebildet wird, z.B. »Oulipo« (»Pli ou Loi«, ebd., S. 21), oder aus den Namens-Buchstaben desjenigen, dem das Gedicht gewidmet ist, »A Claude Berge (ebd., S. 31f.) oder in der Form der »Epithalames« (ebd., S. 55-72). 51 »Quant à la belle absente, forme d’invention plus réceinte au sein de l’OuLiPo, elle repose également sur le principe d’un alphabet simplifié renonçant aux trop exotiques k, w, x, y et z. Dans chaque’un de ses vers, toutes les lettres doivents apparaître, sauf une: celle qui, vers après vers, inscrit en creux dans la verticalité du poème le nom dissimulé.« Eric Beaumatin/Marcel Bénabou/Bernard Magné: »Présentation«, in: G. Perec, Beaux présents, belles absentes, S. 7-8, hier S. 7f. 52 Georges Perec: »Alphabet pour Stämpfli«, in: ders., Beaux présents, belles absentes, S. 97-85, hier S. 84. 53 E. Beaumatin/M. Bénabou/B. Magné: »Présentation« (Anm. 51), S. 7.
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net. Das Gedicht »Pli ou Loi« evoziert, den Begriff »Oulipo« umspielend, im Titel das diskursive Material von Dekonstruktion und Psychoanalyse, verweist in der Zeile »Io ou Lou« intertextuell auf Roubauds Text »Io et le Loup« 54 ; das Gedicht »Le pacte« spielt mit Sprechweisen, Begriffen und Diskursfragmenten des Ikarus-Mythos. 55 Auch die von Beaumatin, Bénabou und Magné hervorgehobene Interpretation der den Gedichten zugrunde liegenden Regelsysteme im Rahmen einer »poétique du manque«56 lässt sich durch die in den Gedichten evozierten Wortfelder und Topoi stützen. Diese Verschränkung von gestalterischer Transformation und polysemer Bedeutungsbildung stellt Literatur als Simulation der Dynamik sprachlicher Prozesse und als mediale Inszenierung komplexer semiotischer Konstruktionen vor. Diese medialen Verkörperungsprozesse werden in den zitierten Topoi, Worten und Figuren selbstbezüglich, wodurch das Moment der Inszenierung in den Vordergrund tritt. Mireille Ribières spricht bezüglich dieser autorepräsentativen Mechanismen, unter Bezug auf Bernard Magnés Studien zur Metatextualität in den Texten Perecs, 57 von einem »exhibitionisme en littérature« 58 . Die Sammlung »Alphabets« 59 präsentiert wie »Ulcérations« – aus deren alphabetischem Repertoire auch »Alphabets« aufgebaut ist – die Buchstabenfolge als Blocksatz und Gedichtfigur und treibt dieses Spiel mit der visuellen Dimension insofern weiter, als großflächige und farbige Illustrationen den Text stellenweise bis zur Unlesbarkeit übermalen. Schrift und Bild eröff54 G. Perec: »Pli ou Loi« (Anm. 50); Jacques Roubaud: »Io et le Loup. La Bibliothèque Oulipienne. No. 15«, in: La Bibliothèque Oulipienne, S. 325-335. 55 »Tel un Icare à l’aile éteinte,/le Prince, la pupille écartelée, le rire canaille,/perpétra le rite cruel.« Georges Perec: »Le pacte«, in: ders., Beaux présents, belles absentes, S. 27-29, hier S. 27. 56 E. Beaumatin/M. Bénabou/B. Magné: »Présentation« (Anm. 51), S. 8. 57 Siehe Bernard Magné: »Le Métatextuel«, in: Actes du collque d’Albi: langages et significations, Université de Toulouse-Le Mirail 1980, S. 228-260. 58 Mireille Ribière: »Alphabets: De l’exhibitionisme en littérature«, in: Cahiers Georges Perec. Nr. 1. Actes du Colloque de Cerisy (juillet 1984), Paris 1985, S. 134-145. 59 Georges Perec: Alphabets. Cent soixante-seize onzains hétérogrammariques, illustré par Dado, Paris 1985. Die 172 Gedichte bestehen aus 11 Strophen zu 11 Versen à 11 Zeilen mit je 11 Buchstaben. Jeder Vers benutzt eine gleiche Serie elf unterschiedlicher Buchstaben. Jeder Buchstabe darf erst wieder vorkommen, wenn die Serie komplett ist. Alle Gedichte haben die zehn häufigsten Buchstaben des französischen Alphabets gemeinsam (E, S, A, R, T, I, N, U, L, O), der elfte Buchstabe ist je einer der verbleibenden sechzehn des Alphabets. Siehe zu den »Alphabets« und ihrer komplexen Strukturierung: M. Ribière: »Alphabets«; dies.: »Coup d’L«, in: Littératures 7 (1983), S. 49-60. Eine vergleichbare Lektüre unternimmt Jaen Baetens: »Série B, où comment les textes peuvent occuper des volumes«, in: M. Ribière (Hg.), Parcours Perec, S. 127-145. Baetens hebt vor allem auf den räumlichen Aspekt des Buches ab, auf »La mise en livre de l’objet dit texte«. Siehe dazu wiederum: Mireille Ribière: »Signé Perec ou l’ordonnance des poèmes dans Alphabets«, in: ebd., S. 147-154. Ribière ergänzt Baetens’ Analyse einer palindromischen Struktur der »Alphabets«-Texte um die Modalität der Inversion, welche sie in Bezug auf Magné als fundamentale Figur des Perec’schen Schreibens identifiziert. In »Coup d’L« nimmt Ribière — anschließend an das Diktum Roubauds, jeder oulipistische Text spreche von dem zugrunde liegenden Stilzwang — reflexive Prozesse der »Alphabets« in den Blick, auch in der ikonischen Dimension des Schriftbildes, zeigt die Art der De- und Rekonstruktion von semantischen Isotopien auf, insbesondere der Isotopie »Metatextualität«, bezüglich derer sie an B. Magné »Le Métatextuel« anschließt.
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nen in der Figürlichkeit der Texte, in der visuellen Materialität der Gedichte, einen Bildraum der Schrift, der allerdings durch das Hineinragen der Illustration zu einem Raum wird, der die Schrift-Dimension der Texte verunmöglicht. An diesem Grenzfall der Überlappung wird, noch deutlicher als in den textuellen Gestaltungsvarianten, die Aufmerksamkeit auf die Bildebene gelenkt und deutlich gemacht, dass die einander überlagernden Referenzsysteme von Schrift und Bild einander ergänzen oder stören können. Die Medialität der Schrift wird, die phonetische Dimension einbeziehend, als konstitutives und differenzielles Zusammenspiel von Schriftlichkeit, Bildlichkeit und Akustik gekennzeichnet. 60 Wie Ottmar Ette die komplexen Interaktionen unterschiedlicher Codes und Dimensionen des Semiotischen, Syntaktischen, Semantischen, Pragmatischen und Materiellen, der visuellen und akustischen Verkörperungen, in den Texten Roland Barthes mit dem Begriff des friktionalen Textes beschreibt, 61 so erzeugen auch bei Perec die heterogenen Zeichenordnungen, polysemen Bedeutungsprozesse und diversen Präsentationsformen Reibungseffekte, die er – angelehnt an »la belle erreur du réel«62 – auch intentional in die Texte einführt. 63 Die in der Linguistik stratosphärisch getrennten Ebenen der Sprache verschränken sich zu einem Spiel, das an den Bruchstellen die Grenzen und Transgressionen, das Funktionieren und die Störungen der in den Prozessen medialer Verkörperung interagierenden Dimensionen ausleuchtet. Der Klappentext der »Alphabets« stellt die Materialität der Buchstabenserien, Matrizen und Permutationen als »nouvel art poétique« den Lastern einer noch aktiven, doch zu ersetzenden Rhetorik gegenüber. Versteht man Rhetorik mit Roland Barthes 64 als Kulturtechnik, als Theorie und Praxis kultureller Topoi, und versteht Grammatik und Rhetorik als einander ergänzende Systeme, so erscheint die Arbeit Perecs als Aktivierung vielfältiger Mechanismen der Konstruktion schriftlicher Symbolordnungen, ausgehend von den Ordnungstechniken Bild, Schrift, Zahl bis zu den rhetorisch strukturierten Vorstellungsbildern einer Kultur. Das Inszenatorische dieser Spiele wird auch in dem von Pastior übersetzten Gedichtzyklus »La Clôture. Okular ist eng Oder Fortunas Kiel« 65 deutlich. Pastior unternimmt ausgehend von Perecs französischem Text »La Clôture« eine, wie er im Nachwort erläutert, zu 97% zeichenidentische deutsche Übersetzung, indem er den heterogrammatischen Stilzwang samt einge60 Siehe zu den Interaktionen textueller und visueller Zeichensysteme insb. die Studie M. Foucaults: Dies ist keine Pfeife. Einen ergänzenden Einblick in die aktuelle Forschung zu Bild-Text-Interaktionen in der Dichtung geben: U. Fix/H. Wellmann (Hg.): Bild im Text — Text im Bild; W. Harms (Hg.): Text und Bild, Bild und Text; R. G, Renner: Schrift-Bilder und Bilder-Schriften. 61 Vgl. O. Ette: Roland Barthes, S. 313. 62 Georges Perec: »A Claude Berge«, in: ders., Beaux présents, belles absentes, S. 31-32, hier S. 31. 63 Eric Beaumatin/Marcel Bénabou/Bernard Magné: »Note additionelle sur le fonctionnement des contraintes», in: ebd., S. 87-88. 64 Siehe Roland Barthes: Das semiologische Abenteuer, Frankfurt/M. 1988, insb. das Kapitel »Die alte Rhetorik«, S. 15-101. Barthes beschreibt Rhetorik als Technik, Unterricht, Wissenschaft, Moral, gesellschaftliche Praxis und als eine Praxis des Spiels. Vgl. ebd., S. 16f. 65 Zu den Übersetzungstechniken Pastiors siehe den Anhang: Oskar Pastior: »Kleine Öffnung (Quirlsons Akte)«, in: Georges Perec/ders., La Clôture/Okular ist eng oder Fortunas Kiel, Berlin 1992, o. S.
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setzter Buchstaben übernimmt. Wie Foucault angesichts Magrittes Bildes »Ceci n’est pas une pipe« erklärt, der Betrachter habe es mit einem Text zu tun, der einen Text simuliert, und einem Pfeifenbild, das ein Pfeifenbild simuliert, 66 so spricht Jaques Lajarrige aufgrund des zwischen Französisch und Deutsch oszillierenden Vokabulars von einem »simulacre de traduction littéraire«; 67 Pastior greift Wortfelder des Perec’schen Textes auf, übernimmt die Technik der Wort-Assemblage und schafft assoziative Anklänge an den Ausgangstext Perecs. Das Experiment erweist sich als eine Inszenierung von Zeichenordnungen, die sich selbst als Simulakren und Trugbilder ihrer selbst ausstellen. Literatur entwirft sich selbst die Bühne, auf der sie sich in Szene setzt: Evoziert werden Wortfelder der Kunst, des Schweigens und der Spur, ein Assoziationshorizont abendländisch-ästhetischer Sinngeschichte von der antiken Mythologie der Maske bis zu poststrukturalitischen Ideengebäuden. CLOTURESA§IN NULECRITSA§O RTNASOUCILE§ §ULSIONTRACE SALI§NECOURT SURTOICLAN§E
Clôture. Sa fin. Nul écrit. Sa Mort n’a souci. L‘expulsion trace sa ligne, court sur toi, clandestine. 68
OKULARISTEN§ UOTELARS§INK TKLAREUNO§IS KUITS§OLAREN §UTERKAOLINS KINOS§URTLEA N§ROSKLAUTEI S§RAUKNIETLO §KERINSOLAUT ESINKU§ATORL §ANTEILORKUS
Okularistenquote: Lars zinkt Klare Uno-Biskuits polaren Puterkaolins — Kino spurt Leandros klaut Eisfrau (kniet locker in so lautes Inkubator-Laub) Lenk ist Organteil Orkus... 69
Die grammatologisch organisierte »assemblage de mots« 70 wird durch die typografische Inszenierung als »Gedicht« kenntlich, eine inhaltliche Kohärenz lässt sich nur als Serie von Assoziationsfeldern herstellen; im Vordergrund stehen die Transformationen, zwischen Bildlichkeit und Stimmlichkeit, zwischen den Sprachen Deutsch und Französisch, zwischen den Buchstaben und den Sinngehalten: »[…] la sensualité de la langue se frotte aux épines du sens, où l’écriture se transforme en cabine d’essayage […].« 71 In medienäs66 »Nichts von all dem ist eine Pfeife; sondern ein Text, der einen Text simuliert; ein Pfeifenbild, das ein Pfeifenbild simuliert; eine Pfeife (gezeichnet, als ob sie eine Zeichnung wäre), die das Trugbild einer Pfeife ist (gezeichnet in der Art einer Pfeife, die keine Zeichnung sein will).« M. Foucault: Dies ist keine Pfeife, S. 45f. 67 Lajarrige, Jacques: »La poésie et poétique d’Oskar Pastior — Une démarche oulipienne?«, in: P. Kuon (Hg.), Oulipo — poétiques, S. 141-156, hier S. 144. 68 G. Perec/O. Pastior: La Clôture, o. S. 69 Ebd. 70 J. Lajarrige: »La poésie et poétique d’Oskar Pastior«, S. 144. 71 Ebd., S. 151.
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thetischer Perspektive werden an den Bruchstellen der friktionalen Texte die Medialitäten von Sprache und Schrift deutlich, als differenzielle und transformatorische Verkörperungsprozesse. Lajarrige ordnet die Textkonstellation von Perec/Pastior der von den Dadaisten bis zu den Surrealisten reichenden oralen Tradition zu. 72 Diese artikulatorische Dimension erhält der Text allerdings insbesondere durch seine dialogische Inszenierung der zweisprachigen Gegenüberstellung, durch Auszeichnung einzelner Textfragmente in Anführungszeichen sowie durch die dynamisch-perfomative Gestaltung der Buchstabenketten mittels Interpunktion und grafischer Anordnung. In erster Linie hat es der Leser/Betrachter also mit inszenierter Schrift zu tun, mit der Vorführung eines Schrift- und Sprachspiels, welches vielfältige Dimensionen medialer Erscheinungsformen ins Spiel bringt. Zentral ist die Verankerung des Symbolisches im Sinnlichen. Die akustische Dimension der Schrift erkundet Perec in nach homophonen Stilzwängen organisierten Gedichten, wie den von 1970 bis 1982 alljährlich als Neujahrsgruß an Freunde versandten »Vœux«, die sich wie die »Épithalames« explizit als Gebrauchstexte auszeichnen und damit Teil einer kulturell-rituellen Praxis sind. Den Texten liegt das Regelsystem zugrunde, dass die Texte Erklärungen zu gesuchten Begriffen sind, deren homophones Grundwort in einer den Texten angefügten Lösungstabelle aufgeführt ist. Namen von Jazzmusikern in der »Anthrologie du jazz américain« oder von Filmleuten im »Dictionnaire des cinéastes«, Werktitel, seien es die eigenen in »Œuvres anthumes« oder diejenigen Queneaus in »Cocktail Queneau«, werden in einer homophonen Übersetzung zu Grundworten, welche in einer entsprechenden Textpassage erklärt werden. Zwei Beispiele aus »Œuvres anthumes«: »1. Que faut-il dire à une jeune fille que la fellation intimide?« »3. Attila avait un guerrier nommé Kyd, lequel avait la fâcheuse habitude d’entrer à tout instant dans la tente de son chef, obligeant chauque fois celui-ci à crier:« »1. Lèche, ose Les Choses« »3. Hun nommé Kyd, hors! Un homme qui dort«
Produktionsästhetisch gesehen handelt es sich also um ein System der Textgenerierung, welches zuerst über Homophonie, dann über »Themenentfaltung« bzw. über die Textsorte der »Erklärung« prozessiert wird, in rezeptionsästhetischer Hinsicht hat es der Leser mit einem zweistufigen Rätselverfahren zu tun. Einerseits führt Perec hier lexikologische, grammatische und kognitive Mechanismen vor, wie sie auch die Linguistik in Lexikologie, generativer Transformationsgrammatik und kognitiver Semantik untersucht, andererseits funktionieren die Texte als ästhetische Objekte und autonome Spielräume der Schrift – so lässt Perec in den »Lieux communs travaillés« die Lösungswörter mit dem Hinweis weg, der Text trage sich selber, was aber bedeutet, dass die Texte nicht mehr als Rätsel funktionieren, der Produktionsprozess nicht mehr rekonstruiertbar ist und somit der ursprüngliche semi72 Siehe zu Schrift und Akustik auch Klaus Schenk: Medienpoesie. Moderne Lyrik zwischen Stimme und Schrift, Stuttgart 2000.
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otische Mechanismus nicht mehr funktioniert. Diese Störung des Schemas von Rätsel und Lösung bzw. des Textgenerierungsprozesses weist den Textminiaturen eine Autonomie zu, sie werden, aus ihrer ursprünglichen Funktionalität und semantischen Referenzialität entlassen, zum Ort, an dem Sprachmaterial in seiner Sinnlichkeit präsentiert und in seiner semantischen Assoziationsvariabilität ausgestellt wird. Die theatrale Dimension dieser Präsentationspraxis stellt Perec durch die Überführung des Spiels grammatologischer Ordnungen in eine Dramenform in den Vordergrund: »Les horreurs de la guerre. Drame alphabétique en trois actes et en trois tableaux«. 73 Die inhaltliche Ebene dieses Kriegsstücks wird einerseits über kulturell konventionalisierte Topoi der Kriegs- und Schauerliteratur, über die Lokalisierungen in einem Kloster in Transylvanien und die Zeitangabe Ende des Ersten Weltkrieges konstruiert, andererseits über ein intertextuelles Verweisungssystem, das beispielsweise über die Person Joseph K. Kafkas Strafkolonien und Terrorsysteme konnotiert. Perec entwirft eine grammatologische Organisation rhetorischer und literarischer Topoi des Krieges. So wird das Ordnungssystem der Schrift zu einem Medium der Inszenierung von Terror und Angst – nicht ohne groteske Note. »ACTE UN La scène se passe dans la cour du couvent de H., en Transylvanie supérieure à la fin de la première Guerre Mondiale. Le Capitaine Vainqueur a été chargé par l’État-Major de la Première Division d’infanterie Légère de recruter des filles pour un Bordel Militaire installé au Pecq à l’usage des permissionnaires et convalescents de la Région parisienne. Il demande à la Supérieure du couvent de lui donner ses nonnes, la menaçant, si elle refuse, de faire fusiller quinze orages. LE CAPITAINE VAINQUEUR (dans un dernier appel à la bonne volonté de l’Abesse) – Abbesse! Aidez! L’ABBESSE (d’origine auvergnate) (toujours pas décidée à se séparer de ses filles) – Euh... (elle sort) Le Capitaine Vainqueur, furibard, donne l’ordre aux soldats de fusiller les otages. LE CAPITAINE VAINQEUER – Eh! Feu!... Les soldats tirent. S’abattent les otages. Cependant revient l’Abbesse qui paraît avoir changé d’avis. L’ABBESSE – J’ai... Mais soudain elle aperçoit l’amas trucidé des otages et, parmi, elle reconnaît le corps de son amant, Joseph K! L’ABBESSE (d’origine auvergnate) – Ah! Chi-gît K! Elle s’évanouit. FIN DU PREMIER ACTE« 74
73 Georges Perec: »Les horreurs de la guerre. Drame alphabétique«, in: Oulipo, La littérature potentielle, S. 111-114; ergänzend ders.: »Petit abécédaire illustré«, in: ebd., S. 239. 74 G. Perec: »Les horreurs de la guerre«, S. 111f.
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In seinen komisch-verfremdenden Elementen an Perecs Kriegssatire »Quel petit velo à guidon chromé au fond de la cour?« erinnernd, kommt in diesem Drama primär das Sprachmaterial in seinen phonetischen Qualitäten zur Aufführung. Schrift wird hier in der intermedialen Oszillation zwischen Visualität und Akustik zu medienästhetischem Material. Schrift tritt in dieser transmedialen Potenzialität auch in der Oper »L’Art éffaré. Opéra pédagogique« auf, die Perec in Zusammenarbeit mit Philippe Drogoz geplant hatte. Die 1994 von Bernard Magné 75 veröffentlichten Fragmente eines Librettos bilden den Text aus den Silben do-re-mi-fa-sol-la-si, die, so Perecs Intention, gleichmaßen als Textmaterial wie als musikalische Noten Bedeutung tragen, die Schrift-Form als Notensymbol in die musikalische Realisierung übersetzbar ist. Schrift konstruiert Perec hier als abstraktes virtuelles System, das sich in einer semantisch-textuellen wie einer tonalmusikalischen Realisierung verkörpern lässt.76 Werden einerseits theatrale Realisierungsformen in die Präsentation der Schrift integriert, so ist damit umgekehrt der theatrale Charakter der Organisation von Schrift zur Schau gestellt. Die Oper erscheint dabei als das komplexeste System medialer Interaktionen, in ihr lassen sich Transformationen unterschiedlichster materieller und medialer Verkörperungen zwischen semiotischen Systemen der visuell organisierten Text-Schrift, der musikalischakustischen Realisierung und der dramatischen Aufführung beobachten. 77 Schrift zeichnet sich durch eine den Zeichenprozessen inhärente Theatralität aus, die in unterschiedlichen Szenographien Materialität und Medialität der Schrift zur Darstellung bringt.
3.1.3 Theatralität der Schrift. Kreuzworträtsel, Theatertext, Hörspiel Das theatrale Moment der semiotischen und performativen Prozesse der Schrift verkörpert sich, wie in der ’pataphysischen Literatur, in Formen aktionistischen Arbeitens. In wöchentlichen Arbeitssitzungen erkunden Georges 75
Bernard Magné: L’Art éffaré. Fragments d'un opéra inachevé de Georges Perec. Cahiers de l'IRCAM n° 6. Paris 1994. 76 Siehe auch Susanne Winter: »A propos de l’Oulipo et de quelques contraintes musico-textuelles«, in: Kuon (Hg.), Oulipo — poétiques, S. 173-192. Winter betrachet musikalisch-textuelle Formzwängen oulipistischer Literatur, wobei sie neben der Oper Perecs die Textvariation »35 Variations sur un thème de Marcel Proust« (1974) vorstellt. Die Transfomationen des ersten Satzes der »Recherche du temps perdu«, »Longtems je me suis couché de bonne heure«, nach Mechanismen wie alphabetische Reorganisation, Anagramm, Lipogramm, Palindrom sind angelehnt an die literalen, phonetischen, grammatikalischen, syntaktischen, semantischen und literarischen Variationen der »Exercices de style« (1947) von R. Queneau. Winter setzt diese Sprachverfahren in Beziehung zu mathematisch-strukturellen Organisationsschemata der Musik. In diese Analyse einzubeziehen wäre auch die oulipistische Gemeinschaftsproduktion »La cantatrice sauve«, eine Oper, deren Text 100 homophone Variationen auf den Namen »Monserra Caballet« darstellt; siehe Claude Burgelin u.a.: »La Cantatrice Sauve. La Bibliothèque Oulipienne No 16«, in: Oulipo, La Bibliothèque Oulipienne. Bd. 1, Paris 1987, S. 305-348. 77 Bezüglich des Zusammenhangs von Musik, Libretto und Inszenierung in der Perspektive der Oper als Technik zur Herstellung von Präsenz siehe H.U. Gumbrecht: »Produktion von Präsenz«.
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Perec und Marcel Bénabou in wissenschaftspoetischer Perspektive schriftbasierte Ordnungen von Wissenssystemen, beispielsweise in Experimenten mit Wortlisten und lexikalischen Transformationen in der »Littérature semidéfinitionelle« (»L.S.D.«) sowie der »Production automatique de littérature française« (»P.A.L.F.«): 78 »En effet nous étions un jour tombés d’accord sur ce qui nous semblait être une évidence méconnue, à savoir que le langage tourne en rond et fonctionne en circuit clos. Il nous apparut que le moment était venu d’en faire la démonstration pratique, et d’en tirer les conséquences littéraires.« 79
Es sind diese Erkundungen der Sprache mittels Wörterbücher, Lexika, Anthologien und enzyklopädischer Werke, die Perec und Bénabou in Kontakt mit der Gruppe Oulipo bringen. Die praktische Demonstration oulipistischer Regelsysteme hat vor allem zum Ziel, an den Zusammenbrüchen der Ordnungen ihr Funktionieren und ihr Umschlagen in den Unsinn und das Phantastische auszuloten, so wie beispielsweise die »Poésie Sémantique« 80 ein »dérèglement systématique de tout les sens« 81 in Gang setzt. Diese ins Spiel gebrachten materiellen, semiotischen und medialen Perspektiven fokussieren auch die latent kybernetisch, psychoanalytisch und dekonstruktivistisch orientierten Deutungen dieser Konzeption und Praxis von Schrift als deregulierender, aufschiebender und disseminierender Prozess von Zeichen- und Bedeutungsbildung. 82 Dass es die Verzerrungen sind, in denen ein anderer Sinn
78 Marcel Bénabou/Georges Perec: »La littérature sémo-définitionelle«, in: Oulipo, La littérature potentielle, S. 123-132; dies.: »L.S.D. poétique«, in: ebd., S. 133-137; dies.: »L.S.D analytique (exercice sur une phrase de Raymond Roussel)«, in: ebd., S. 138-140. Die »L.S.D.« ist angelehnt an die von Raymond Queneau erfundene »Littérature Définitionelle«, bei der ein Begriff durch seine Erklärung im Wörterbuch ersetzt wird. Raymond Queneau: »La littérature définitionelle«, in: ebd., S. 119-122. Perec und Marcel Bénabou erweitern diese Technik, indem sie zwei weit auseinanderliegende Begriffe, wie »Presbytère« und »Prolétaires« — Siehe Cahiers Georges Perec. Nr. 3. Presbytères et Prolétaires. Le dossier P.A.L.F, Paris 1989, S. 36-39 —, oder vorgegebene Sätze beispielsweise von R. Roussel wählen und sie einer Reihe lexikologischer Transformationen unterziehen, bis die zwei Ausgangselemente in einen gemeinsamen Begriff bzw. Text münden. Jürgen Ritte weist auf den parodistischen Effekt der Bezeichnung »L.S.D.« hin, die sich einerseits auf den Geschmack der siebziger Jahre an Formalisierungen bezieht, andererseits auf das bewusstseinserweiternde und Kreativität freisetzende populäre Halluzinogen LSD anspielt. Vgl. Jürgen Ritte: Das Sprachspiel der Moderne. Eine Studie zur Literarästhetik Georges Perecs. Köln 1992, S. 91. 79 Marcel Bénabou: »Présentation«, in: Cahiers Georges Perecs. Nr. 3, S. 7-12, hier S. 9. 80 Diese Traditionslinie stellt Marcel Bénabou vor in: Cahiers Georges Perec. Nr. 3. Presbytère et Prolétaires. Bénabou verweist auf die Vorgänger dieser Methodik der »définition-à-répétition« Raymond Queneau und Stefan Themerson, letzterer ein dem Collège de ‘Pataphysique nahestehender englischer Schriftsteller, Erfinder der »Poésie Sémantique«, in welcher Schlüsselwörter einer Erzählung durch ihre Definition ersetzt werden. Vgl. M. Bénabou: »Présentation«, S. 10f. 81 Ebd., S. 12. 82 Marcel Bénabou rückt diese semantischen Experimente in eine Nähe zur psychoanalytischen Interpretation der Träume nach Sigmund Freud, wobei die Nähe von Dichtung und Psychoanalyse sich durch die gemeinsame Auffassung
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sich konstituiert, verbindet psychoanalytische Lektüre des Unbewussten und ’pataphysische Phantastik: »›Je vagabonde‹, dit la Vérité chez Lacan, ›dans ce que vous tenez pour être le moins vrai par essence: dans le rire, dans le défi au sens de la pointe la plus gongorique et le nonsense du calembour le plus grotesque‹.« 83
Diese in den Zwischenräumen und Schwellenbereichen der Sinnverschiebungen aufscheinenden Momente des Imaginären, des Komischen und Grauenhaften, sind nach Calvino die Territorien des Literarischen, wie ihnen Perecs Drame alphabétique »Les horreurs de la guerre« im Spiel der Buchstaben Raum gibt. Die Kluft zwischen grammatologischer Regelhaftigkeit und einer daraus abgeleiteten Differenzialität und Ambivalenz von Sinn liegt als Unsicherheit komischen und angstbesetzten Effekten zugrunde, es tun sich unbestimmte Stellen des Wissens und des Sinns auf, Systematik schlägt in Phantastik um. Ein Modell dieser Sinnverschiebungen sind Kreuzworträtsel, 84 die Perec zum Gelderwerb konstruierte und als textuelle Produktionsmatrix entwickelte – wobei das französische Kreuzworträtsel einer Rätselform entspricht, die im Deutschen als »Um die Ecke gedacht« bezeichnet wird und bei der die Lösungswörter erst über einen Gedankensprung aus den gegebenen Definitionen abzuleiten sind. Zum grundlegenden Modell der Schrift wird dieses Kreuzworträtsel insofern, als es die Virtualität der im Spiel der Buchstaben zu generierenden Sprache verkörpert: »c‘est un système de contraintes primaires où la lettre est omniprésente mais d’où le langage est absent.« 85 Es ist diese Aufmerksamkeit für den Buchstaben in seiner Materialität und der ihm inhärenten Potenzialität, zum Zeichen zu werden und im Spiel der Bedeutungen Sinn zu generieren, die im Mittelpunkt der Schrift-Konzeption und SchriftErkundungen Perecs steht und den Kern der Poetik des Potenziellen ausmacht: »[…] la recherche des définitions est un travail fluide, impalpable, une promenade au pays des mots où il s’agit de découvrir, dans ces alentours imprécis qui constituent la définition d’un mot, le lieu fragile et unique, ou il sera à la fois révélé et caché.« 86
Das Schema des Kreuzworträtsels setzt – produktionästhetisch zwischen konkretem Buchstaben und potenzieller Definition und rezeptionsästhetisch zwischen konkreter Definition und virtueller Lösung – einen Prozess der Transposition und der Verschiebung in Gang: »tout le problème étant de voir
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von Sprache als über substituierende und metonymische Verschiebungen funktionierende Sinn-Technik begründet. Marcel Bénabou: »Approches théoriques«, in: Cahiers Georges Perecs. Nr. 3, S. 15-33, hier S. 33. Siehe Georges Perec: Les Mots croisés. Précédées de considérations de l’auteur sur l’art et la manière de croiser les mots, Paris 1979; ergänzend Jacques Bens: »Les mots croisés de Georges Perec«, in: Magazine littéraire 316 (1993), S. 81-82. Georges Perec: »Les mots croisés de Georges Perec«, in: Magazine littéraire 316 (1993), S. 81-82. Georges Perec: »Avant-propos«, in: ders., Les Mots croisés, S. 3-15, hier S. 4. Ebd.
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autrement«. Dieses Feld der Übertragung beschreibt Perec als Kommunikationsprozess zwischen demjenigen, der eine Definition stellt, »Sphinx« genannt, und demjenigen, der das Rätsel löst, »Ödipus«. Während das von der Sphinx gestellte Rätsel von einer blendenden Einfachheit – »simplicité aveuglante«88 – sei, gehe es um diese Unsicherheit des Sinns, welche das Kreuzworträtsel und die psychoanalytische Sprachkonzeption verbinde, so Perec: »c‘est cette espèce de tremblement du sens, cette ›inquiétante étrangeté‹ à travers laquelle s’infiltre et se révèle l’inconscient du langage.«89 Es sind diverse kleine Formen, Denksportaufgaben, Sprachspiele und logische Rätsel, die Perec mit Jacques Bens für verschiedene Zeitschriften entworfen hatte und die Bens und Magné als »Nouveaux jeux intéressants«90 veröffentlicht haben, in denen Perec diese im dialogischen Kommunikationsprozess erzeugte Vagheit, Instabilität und Ambivalenz des Sinns in Szene setzt. Wie das Schreiben erscheint das Erfinden von Spielen einerseits als eine Produktionstechnik, die ihre Formen entsprechend verschiedenen Problemfamilien variiert, basierend auf Verknüpfungs- und Substitutionstechniken, andererseits als eine kommunikative Tätigkeit zwischen Produzent und Rezipient. Die Praxis, Spiele an den Ausgangspunkt des Schreibens zu stellen, findet sich beispielsweise auch in Jaques Roubauds Gedichtsammlung »∈«, worin die Muster und Regeln des Go-Spiels in dynamische poetische Strukturen transformiert sind.91 Diese Zusammenführung von Rätselpraxis, Schreibweise und Spieltechnik erprobt Perec in den kleinen, eigentlich nichtliterarischen Formen und integriert sie als grundlegende Mechanismen in andere Textformen wie Romane. Die Zusammenhänge von Spiel, Rätsel und Literatur erläutert auch Warren F. Motte in seiner Studie »The Poetics of Experiment«. Ausgehend von Johan Huizingas Theorie der Entstehung von Kultur und Literatur aus dem Spiel, charakterisiert Motte das Spiel als interaktives Geschehen: »The basic model is that of communication.«92 Ausgehend von dem Ansatz, Perecs Poetik als »post-modernist« zu charakterisieren, wird einerseits der oulipistischen Konzeption von Literatur als formal geregeltes Spielsystem eine zentrale Rolle zugewiesen, andererseits wird die Rätselstruktur in den Vordergrund gerückt, insofern als das kommunikative Spiel zwischen Autor und Schreiber sich als hermeneutische Aufgabe darstellt. Auf diesem Hintergrund, dass der Rezipient zum Detektiv und Exegeten wird, erhalten das Kreuzworträtsel und vergleichbare Spiele ihre fundamentale Rolle, denn »the oldest form of the verbal enigma is the riddle [...].«93 Die übergrei-
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Ebd., S. 11. Ebd. Ebd. Georges Perec: Nouveaux jeux intéressants, Paris 1997. Siehe ergänzend J. Roubaud: »∈. Mode d’emploi de ce livre«. Siehe auch Jacques Roubaud/Georges Perec/Pierre Lusson: Petit traité invitant à la découverte de l’art subtil du go, Paris 1986; dies.: Petit traité destiné aux amateurs désirant s’initier à l’art subtil du go, Paris 1969. 92 Warren F. Motte: The Poetics of Experiment: A Study of the Work of Georges Perec. French Forum, Lexington, Kentucky 1984, S. 51. 93 Ebd., S. 61. Motte macht die Rolle deutlich, welche das Kreuzworträtsel für andere Werke Perecs spielt, indem er auf sein Vorkommen in »Un homme qui dort«, »La boutique obscure« und insbesondere in »La Vie mode d’emploi« hinweist, wo er das Kreuzworträtsel als literarisches Bild am umfassendsten umgesetzt sieht, auch vor dem Hintergrund, dass »puzzle« im englischen »Rätsel« heißt.
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fende Intention der oulipistischen Sprachtechniken, Spielanordnungen und Rätselstrukturen ist, diese »inneren Mechanismen der Poesie« 94 aufzuzeigen. Neben dem Theater und den Gebrauchsformen der Rätsel-Texte lotet Perec in Hörspielen aus der medientechnischen Perspektive die Grenzen von Sinnbildungen und Sinnverzerrungen aus. In den Hörspielen »Die Maschine« und »Tagstimmen« werden die in den homophonen Gedichten und Dramen anvisierten phonetisch-akustischen Dimensionen der Schrift technisch realisiert und die intermedialen Transformationen der Schrift in Szene gesetzt. 95 Vergleichbar den »35 Variations sur un thème de Marcel Proust« unterzieht Perec in »Die Maschine« Goethes Gedicht »Wanderers Nachtlied« verschiedenen Permutationen und Transformationen, eine Technik, die Werner Klippert, im Bezug auf Max Bense, in einem Nachwort, vor dem Hintergrund der experimentalkulturellen Szene der fünfziger und sechziger Jahre und in informationsästhetischer Perspektive, als der Arbeitsweise eines Computers nachempfunden erklärt und als »Hörspiel ex machina« 96 bezeichnet – hier sei »technische Intelligenz« gefragt und »nicht dichterische Gestaltungskraft«.97 Perec verweist dagegen auf den »inneren Mechanismus der Poesie«, 98 den es zu entdecken gelte. Eugen Helmlé unterstreicht den komischen Effekt, »Die Maschine« sei ein »witziges Spiel mit der Sprache«, denn »nicht Computerlyrik bekommen wir zu hören, sondern einen Mordsspaß«. 99 Perec reflektiert und inszeniert die poietische Dynamik der Generierung von Sprache, Zeichenwelten und Literatur: Die vierte Transformationsstufe, die »Zitatenexplosion«, so erläutert Perec, ist »im wesentlichen poetischer Natur«, sie stellt dem Goethe-Gedicht Zitate aus der Weltliteratur gegenüber, »um am Ende aus ihr das herauszuziehen, was man den Wesenskern der Dichtung nennen kann.« 100 Die Texttransformationen enden in einer vierspaltigen Liste von Worten in mehreren Sprachen, die auf die letzten Verse des Goethe-Gedichtes Bezug nehmen: »friede«, »reposo«, »quiet«, »silence«, »schweigen«, »verstummen« und letztlich »pst«. 101 Was in den Kreuzworträtseln als fragiler Ort des zugleich Entdeckens und Verbergens von Sinn bezeichnet wurde, wird hier als Grenze der Verkörperung von Schrift, Sprache und Bedeutung, als medialer Nullpunkt in Szene gesetzt. Die Verkörperungen des Schweigens in Form von fremdsprachigen Wörter und der a-semantischen Geräuschformel »psst« lenkt die Aufmerksamkeit auf die Repräsentationsformen des Schweigens, auf die mediale Grenze von Sinn und Verkörperung.
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Georges Perec: Die Maschine, Stuttgart 1972, S. 5. Siehe dazu auch J.-J. White: »Goethe in the machine. George Perec’s computer-based exercises with the repertoire of ›Über allen Gipfeln‹«, in: Publications of the english Goethe society XLI (1971), S. 103-130. Zu dem Hörspiel »Die Maschine«, 1968 im Original als »La machine« konzipiert, liegt in deutscher Übersetzung als Reclam-Ausgabe vor, das Hörspiel »Tagstimmen«, zu dem es keine französische Fassung zu geben scheint, ist abgedruckt in »Die Funkpostille« (1971), herausgegeben vom Saarbrücker Rundfunk. Werner Klippert: »Hörspiel ex machina«, in: G. Perec, Die Maschine, S. 8186. Ebd., S. 83. G. Perec: Die Maschine, S. 5. Eugen Helmlé: »Georges Perec«, in: KLG, S. 4. G. Perec: Die Maschine, S. 5. Ebd., S. 78f.
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Diese Grenzen sind auch in der Sprach- und Geräuschcollage »Tagstimmen« anvisiert, die einen Hörraum mittels vielfältiger Geräusche, Rhythmik und unterschiedlicher Sprechweisen gestalten, Lieder, Gestammel, eine Verlesung der Börsenkurse, Dialogfetzen, Abzählreime, Lachen und Herzschlaggeräusche ineinander blenden. Das in der Tradition des Neuen Hörspiels 102 stehende Stück macht die performative Dimension der Schrift nicht nur in ihrer akustischen Realisierung deutlich, die stellenweise Ähnlichkeit mit Lautpoesie aufweist, sondern es werden insbesondere die Schnittstellen von physiologischer Verkörperung der Schrift und den sich darin manifestierenden Äußerungen des Körperlichen vorgeführt. 103 Im Lachen und Stottern, in den Formen rituellen Sprechens im Lied und der Deklamation eines Gedichtes, in den repetitiven Passagen, die in veränderter Stimmlage Sprüche wiederholen und variieren, wird eine Schnittstelle von Korporalität und technischer Medialität zur Aufführung gebracht. Diese Konzeption von Schrift als das Korporelle in Szene setzender medialer Transformationsprozess – wie ihn auch Roland Barthes in seinem Konzept der Stimmlichkeit und der Körnung der Stimme beschreibt – wird in die Definition potenzieller und experimenteller Literatur integriert. Literatur ist die Praxis, die Materialität der Stimme als Konzept der Schrift zur Aufführung zu bringen. 104 Es ist das Imaginäre der Stimme, das in der Transkription des Gesprochenen – in der Niederschrift des Radiointerviews wie in der Textgrundlage des Hörspiels – evoziert wird. Roland Barthes präzisiert die Relationen zwischen Medialität der écriture und imaginärer Korporalität folgendermaßen: »Was in der Rede zu gegenwärtig (auf eine hysterische Weise) und in der Niederschrift zu abwesend ist (auf eine kastrierende Weise), nämlich der Körper, kehrt im Schreiben wieder, jedoch auf einem indirekten, abgemessenen und, um es ganz genau zu sagen, richtigen, musikalischen Wege, durch lustvolles Genießen und nicht durch das Imaginäre (das Bild). Im Grunde ist es diese Reise des Körpers (des Subjekts) durch die Sprache, die unsere drei Verwendungen (Rede, Geschriebenes, Schreiben) jeweils auf ihre Art modulieren: eine schwierige, gewundene, vielgestaltige Reise, die mit der Entwicklung des Rundfunks, das heißt einer zugleich ursprünglichen und erinnerbaren Rede, heute ein greifbares Interesse gewinnt.« 105
Schrift wird als dramatisch strukturiertes sinnliches Material konkretisiert und in seiner akustischen – bzw. in der Textform grafischen – Präsenz vorgeführt, Sinn und Bedeutung erweisen sich dabei als fragile und störanfällige Momente: 102 103
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Siehe einführend Stephan B. Würffel: Das deutsche Hörspiel, Stuttgart 1978. Philippe Drogoz, welcher neben Perec und Helmlé an der Produktion von »Tagstimmen« beteiligt war, unterstreicht diesen körpertechnischen Aspekt, Ausgangspunkt sei ein Auftrag von Radio Sarbrücken über die menschliche Stimme gewesen; Perecs Idee sei gewesen, das Leben eines Menschen über sich verschränkende Sprichwörter zu erzählen, unter Hinzufügung von Geräuschen aus der Umwelt. Vgl. Philippe Drogoz: »Georges Perec et la musique«, in: Cahiers Georges Perec. Nr. 1, S. 267-277, hier S. 271-273. Siehe zur Schreibbarkeit der Stimme bei Roland Barthes und zu einer daran anknüpfenden medienphilosophischen Perspektive der Literatur C. Schärf: »Nietzsches Schreiben«. Roland Barthes: »Von der Rede zum Schreiben«, in: ders.: Die Körnung der Stimme, S. 9-13, hier S. 13.
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3. EXPERIMENTELLE ÄSTHETIK DER SCHRIFT. GEORGES PEREC »Wer die oulipotische Idee von Schreiben akzeptiert, überläßt sich Materialismus und Relativität und verzichtet auf Finalität und Transzendenz. Oulipotisches Schreiben untergräbt jede Fantasmagorie des Absoluten.« 106
Das theatrale Moment der selbstreferentiellen Reflexionen und Inszenierungen medialer Verkörperungen wird in den Theaterstücken Perecs »L’augmentation« und »La poche Parmentier« modellhaft in Szene gesetzt. 107 Beide Stücke bringen eine Grundsituation auf die Bühne und spielen diese in immer neuen Variationen durch: »Die Gehaltserhöhung« variiert die Szene eines seinen Vorgesetzten um eine Erhöhung seines Lohnes bittenden Angestellten, »Die Kartoffelkammer« versammelt fünf Personen beim Kartoffelschälen in einer Kammer. Einerseits in Form kombinatorischer Dramatik Permutationen von Handlungsstrukturen und Textelementen vorstellend, 108 wird »Die Kartoffelkammer« durch Improvisationen konstituiert, denn wenn auch Regieanweisungen Handlungen vorgeben, so ist es den Schauspielern überlassen, sich weitere Tätigkeiten auszudenken. Einerseits wird das gesamte Stück so zur Gebrauchsanweisung für mögliche Realisierungen und Aufführungen, andererseits fundiert das Moment des Unbestimmten, die Virtualität als organisierendes Prinzip, die Produktion des Stückes. Auf dieser Ebene verschränken sich die Potenzialität des Theatralen wie die Theatralität der Literatur, die es sich zur Aufgaben macht, die Potenzialität von Schrift zu reflektieren und diese Reflexion in Szene zu setzen. Zugleich ist es das Performative als Vollzug eines Verkörperungsaktes, das in dem Improvisationsstück zur Aufführung kommt, da – wie es die Kunstform der Performance eher als das Bühnentheater auszeichnet – die mediale Generierung und das Zeigen dieses Werdens einer bzw. in der Aufführung zusammenfallen. Es ist das Ineinander von Medialität und Performativität, das hier zur Darstellung kommt. Nach einem langen Augenblick des Schweigens tritt am Ende des Stückes »Die Kartoffelkammer« der Diener an die Rampe: »Sie waren zu Gefängnis verurteilt, aber niemand sah ihre Zellen; sie saßen zu Pferd, doch niemand sah ihr Reittier; sie kämpften, doch ihre Schwerter waren aus Schilfrohr; sie starben, doch sie standen danach wieder auf. Denn die Handlungen der Irren gehen über die Vorhersagen der Weisen hinaus.« 109
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Harry Mathews: »Auf der Suche nach Oulipo«, in: J. Ritte/H. Hartje (Hg.), Oulipo, S. 121-129, hier S. 124f. Perecs Theaterstück »L’augmentation« hatte Uraufführung am Théâtre de la Gaité, Paris 1970; deutschsprachige Erstaufführung (»Die Gehalterhöhung«): Theater am Sozialamt, München 1972. »La poche Parmentier« hatte Uraufführung am Théâtre de Nice 1974; deutsche Erstaufführung (»Die Kartoffelkammer«) am Stadtheater Luzern 1988. Publiziert sind beide Stücke in deutscher Sprache: Georges Perec: Die Gehaltserhöhung. Die Kartoffelkammer. Zwei Theaterstücke, Frankfurt/M. 1990. Helmlé stellt die performative Dimension der Sprache in den Vordergrund, wenn er zu dem zuerst als Hörspiel und dann erst als Theaterstück aufgeführten Stück »Die Gehaltserhöhung« bemerkt: »Was herauskommt, ist Sozialkritik als Wortballett und (auf der Bühne) pantomimische Glosse.« E. Helmlé: »Georges Perec«, S. 7. Siehe zum kombinatorischen Drama auch Paul Fournel: »L‘Arbre à théâtre. Comédie combinatoire«, in: Oulipo, La littérature potentielle, S. 281-285. G. Perec: Die Kartoffelkammer, S. 145.
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Wie Perec es in seiner programmatischen Schrift zum Lipogramm beschrieben hat, sind es die Sprechakte und Schreibweisen der Irren, der »foux littéraires«, in denen die Fragilität der Ordnungssysteme zu Tage tritt und die Schwellenbereiche von sinnfreier Materialität, Bedeutungshaftigkeit und Phantastik beobachtbar werden. Dieses Oszillieren zwischen Sinn und Phantastik führt das »Das SopranoProjet. De Iaculatione Tomatonis (in cantatricem)« vor, ein exemplarisches Beispiel ’pataphysischer Wissenschaft, ein zwischen Wissenschaft und Fiktion, Systematik und Phantastik, Dokumentation und Phantasie changierender Text, eine »Experimental Demonstration of the tomatotopic organization in the soprano (Cantatrix sopranica L.)«: 110 »As observed at the turn of the century by Marks & Spencer (1899), who first named the ›yelling reaction‹ (YR), the striking effects of tomato throwing on Sopranos have been extensively described.« 111 Perec simuliert Darstellungsweisen wissenschaftlicher Aufschreibesysteme wie Fußnoten, Tabellen und Abstracts in einer phantastischen Ordnung des Wissens, wendet wissenschaftliche Methoden und Modelle auf einen imaginären Gegenstand an und schafft so einen Schwellenbereich von wissenschaftlicher Systematik und Phantastik. Die Perec’schen Sprachmaschinen und Regelkreise bringen im Vergleich zu den oulipistischen Arbeiten nicht nur komplexe Organisationsebenen des Sprachlichen, Kulturellen und Medialen ins Spiel, sondern stellen die Inszenierung dieser medialen Verkörperungen der Schrift in den Vordergrund. Perec erweitert den Zusammenhang von Schrift und Literatur um differenzielle und kommunikative, mediale und körperliche Aspekte. In medienästhetischer Perspektive erkundet Perec, von einer grammatologischen SchriftKonzeption und einer Auffassung von Literatur als Theorie und Metaliteratur ausgehend, zentrale Schnittstellen der Verkörpungen von Schrift in unterschiedlichen materiellen und medialen Erscheinungsformen. Mit dem Rückbezug der Literatur auf einen derart verstandenen Schrift-Begriff eine veränderte Literaturgeschichtsschreibung, Literaturtheorie und Literaturproduktion zu initiieren, verbindet Perec grundlegend mit der Gruppe Oulipo. Das Literarische wird als Praxis semiotischer und medialer Experimente betrieben. Die medienästhetische Perspektive dieser Schriftkonzeption lässt sich anhand des Anagramms skizzieren. Die anagrammatische Technik Perecs deutet Bernard-Olivier Lancelot als »desarticulation du lagage« 112 und hebt damit einerseits die Dynamik der Formbildung und andererseits die Grenze zwischen Gestaltung und Deformierung hervor. Was Roman Jakobson als Randphänomen aus der linguistischen Betrachtung ausschließt, das Anagramm als eine die normale Zeichenrelation störende Praxis, macht Perec zum Mittelpunkt der literarischen Arbeit: »l’anagramme poétique franchit les deux ›loix fondamentales du mot humain‹ proclamées par Saussure, celle du 110
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Der Urtext des »Soprano-Project« ist in englischer Sprache verfasst. Die deutsche Übersetzung des Titels in der zweisprachigen Ausgabe lautet: Das Soprano-Project. De Iaculatione Tomatonis (in cantatricem). Experimental Demonstration of the tomatotopic organization in the soprano (Cantatrix sopranica L.). Praktische Versuche zum Nachweis des Tomatotopischen Organisationsmusters bei Sopranistinnen (Cantatrix Sopranica L) für den Erwartungshorizont deutschsprachiger Musikfreunde eingerichtet von Gerhard Pilzer, Bottighofen am Bodensee 1992. G. Perec: Das Soprano-Projekt, S. 10. Bernard-Olivier Lancelot: »Georges Percé ou les ruses de l’écriture«, in: Cahiers Georges Perec. Nr. 1, S. 125-133, hier S. 125.
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lien codifié entre le signifiant et son signifié, et celle de la linéarité du signifiant.« 113 Lancelot folgert: »Autrement dit, ce que l’anagramme conteste, c’est le primat du signe dans le texte.« 114 Anhand des Anagramms, das für eine den Signifikanten fokussierende Schrift-Konzeption und eine materiale Ästhetik steht, lässt sich diese selbstreflexiv die eigene Gestaltung beobachtende Schrift-Konzeption Perecs verdeutlichen und auf den Horizont zeitgenössischer Theoriegeschichte von Saussure zu Tel Quel beziehen. 115 Das Anagramm ist jene Figur, die mit der materialen Schrifthülse eines entzogenen bzw. latenten (Gottes-/Autor-)Namens spielt, und ist darin Inbild der Oberfläche moderner Textualität und postmoderner bzw. poststrukturalistischer Figuren des Verschwindens. Das Anagramm ist zugleich Schreibweise der Memoria, Einschreibung aller Namen und Texte, Vergegenwärtigung des Verdrängten: »Man kann diesen Sinn ›ästhetisch‹ nennen nach dem in ihm Nicht-Verdrängten, in obtuser Sinnlichkeit Präsent-Vergessenen. Ästhetik als sinnen-analoge Oberfläche des Vergessens hat in den Inschriften der Anagramme ihr ganz vergessenes Anderes.« 116
Inwiefern diese Konzeptionen und Praktiken von Sprache als medialer und kulturtechnischer Praxis auf Literatur übertragbar sind, auf die prominente literarische Form des Romans, und wie sich auf diesem Hintergrund Fragen nach Mimesis, Fiktionalität und Interpretation neu stellen, wird im folgenden Kapitel zu untersuchen sein.
3.2 Der Roman im selbstreflexiven Spiel von Medialität und Phantastik Ausgangspunkt der Poetik Georges Perecs ist die oulipistische Konzeption von Schrift als regelgeleitetes System von Buchstaben und von Literatur als Potenzialität der Gestaltungsformen von Schrift, deren materielle und mediale, performative und kulturelle Dimensionen er in unterschiedlichen Schreibweisen auslotet – im Rahmen einer Ästhetik des Spiels die Grenzen zwischen Sinnbildungen und Phantastik vermessend. Wie entwickelt Perec vor diesem 113 114 115
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Roman Jakobson: Questions de Poétique, Paris 1973, S. 200; zit. nach B.-O. Lancelot: »Georges Percé«, S. 126. B.-O. Lancelot: »Georges Percé«, S. 126. Siehe zum Anagramm grundlegend: Anselm Haverkamp: »Anagramm«, in: K. Barck (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Bd. 1, S. 133-152. Haverkamp zeichnet detailliert die mit dem Anagramm verbundene, auf die Materialität der Zeichen orientierte Ästhetik der Schrift und des Schriftbildes nach, insbesondere die Schlüsselrolle, die Saussures Studie »Les mots sous les mots« und deren Lektüre durch Jean Starobinski »Les anagrammes de Ferdinand de Saussure« für den semiotischen Diskurs spielte. An die Stelle der Wirkmächtigkeit der dem Anagramm eingeschriebenen (Götter-)Namen tritt »die bloße Funktion der Benennung« (ebd., S. 136). Den anagrammatischen Raum der Texte definiert Haverkamp als grammatikfreien, nicht-linearen Raum querlaufender Codes und diskontinuierlicher Sinneffekte (vgl. ebd., S. 139). Er skizziert eine Linie von Saussure über Starobinski zum Intertextualitätsbegriff Kristevas und der dissémation-Konzeption Derridas. Siehe zu de Saussures Anagramm-Studie auch M. Deguy: »La folie de Saussure«. A. Haverkamp: »Anagramm«, S. 152.
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Hintergrund semiotischer und medienästhetischer Erkundungen das Zusammenspiel von Schrift und Literatur weiter, insbesondere mit Blick auf literarische Gattungsmuster wie Erzählung, Roman, essayistische und autobiographische Texte? Inwiefern ist beispielsweise der Roman eine spielerische Inszenierung der Reflexionen von Medialität? Es ist der in der poststrukturalistischen Theorieszene diskutierte écritureBegriff, an den Perecs Überlegungen zu Schrift und Schreiben, Literatur und Ästhetik anschließen. Wie sich dieser semiotische und performative écritureBegriff für eine literarische Poetik fruchtbar machen lässt, ist anhand des Romans »La Vie mode d’emploi« (1978) differenziert nachzuvollziehen, insbesondere anhand der kulturtechnischen Funktion des Romans als Archiv des Wissens sowie der Ästhetik des Trugbildes als Figur medialer Reflexion.
3.2.1 Von der écriture zum Roman Georges Perecs Poetik des Romans entwickelt sich in Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen französischen Literatur und der Szene einer linksintellektuellen bis kommunistischen »culture de gauche« der sechziger Jahre. Für die geplante, doch nie erschienene Literaturzeitschrift »La Ligne Générale«, um die sich eine Gruppe junger Schriftsteller und Intellektueller versammelte und die einen marxistisch orientierten Realismus vertrat, verfasste Perec in den Jahren 1959 bis 1963 eine Reihe programmatischer Aufsätze zur Literatur. 117 Da einerseits angesichts der Kolonialkriege humanistische Reflexionen à la Sartre oder andererseits erzähltechnische (Pseudo-)Revolutionen wie des Nouveau Roman 118 die Signatur des Falschen zu tragen schienen, die »omniprésence du faux« 119 widerspiegelten, wurde literaturästhetisch eine Reformulierung marxistischer Ästhetik als notwendig empfunden. »La Ligne Générale« diskutierte einen sozialen Realismus, der sich nicht auf Ideologie, sondern die Komplexität und Ambiguität der sozialen Realität zu beziehen hätte, gefordert wurden »aventures de la connaissance, d’utopies, de heurts cinglants avec les puissances de l’Histoire, d’éducations par l’ironie ou par l’échec«. 120 Der Begriff des Realismus ist dabei nicht als mimetische Kategorie zu verstehen, sondern: »il se veut avant tout méthode et exigence«.121 Die 117
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Neben Perec gehörten Marcel Bénabou und Claude Burgelin, Jean Crubellier, Pierre Getzler, Jacques Lederer, Paulette Pétras-Perec in den Jahren 1959 bis 1963 dem Kern um eine geplante, doch nie erschienene Literaturzeitschrift »La Ligne générale« an. Burgelin hat 1992 die von Perec für diese Zeitschrift verfassten Texte herausgegeben: »Le Nouveau Roman et le refus du réel«; »Pour une littérature réaliste«; »Engagement ou crise du langage«; »Robert Antelme ou la vérité de la littérature«; »L’univers de la science-fiction; La perpetuelle reconquête«; siehe Georges Perec: L.G. Une aventure des années soixante. Dem Nouveau Roman wirft Perec in erster Linie Realitätsverweigerung vor, wie es schon die Titelformulierung zum Ausdruck bringt; siehe Georges Perec: »Le Nouveau Roman et le refus du réel«, in: ders., L.G., S. 25-46. Claude Burgelin: »Péface«, in: Perec, L.G., S. 7-24, hier S. 12. Burgelin beleuchtet in seinem Vorwort den kulturhistorischen und literaturästhetischen Hintergrund. Ebd., S. 13. Ebd., S. 14. Der Titel »La ligne Générale« bezieht sich auf einen gleichnamigen Eisenstein-Film (1929), die anvisierte neue realistische Literatur orientiert sich an der von Eisenstein geschaffenen Verbindung von »violence de
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Poetik des Realismus und die »littérature réaliste« meinen – in Auseinandersetzung mit den ästhetischen Bezugspunkten Eisenstein, Brecht, Lukacs und Hegel, mit der Idee des Bildungsromans und den zeitgenössischen Positionen Roland Barthes’ und Tel Quels – eine Methode zur Strukturierung und Formung von Weltentwürfen, zur Ordnung der Zeichen, die entsprechend der lebensweltlichen Ordnungsprozesse von Komplexität und Ambivalenz gezeichnet ist, diese reflektiert und verkörpert: »Il faut que la recherche de la vérité soit elle-même vrai.« 122 »Ce dévoilement, cette mise en ordre du monde, c’est ce que nous appellons le réalisme. Le réalisme est description de la réalité, mais décrire la réalité c’est plonger en elle et lui donner forme, c’est mettre à jour l‘essence du monde: son mouvement, son histoire.« 123 »La littérature est par sa définition même, création d’une œuvre d’art. Elle n’est même rien de plus. [...] ce n’est justement pas cette création sans racines qu’est l’œuvre esthétique, c’est, au contraire, l’expression la plus totale des réalités concrètes: si la littérature crée une œuvre d’art, c’est parce qu’elle ordonne le monde, c‘est parce qu’elle le fait apparaître dans sa cohérence, c’est parce qu’elle le dévoile, au-delà de son anarchie quotidienne [...].« 124
Literatur ist das Schaffen eines Kunstwerks, das Entwerfen von Lebenswelt, Methode zur Ordnung der Dinge. Perec verbindet in dieser Definition semiotische und performative, phänomenologische und anthropologische Aspekte, indem er die Momente der Bewegung und der Geschichte sowie die menschlichen Selbstentwürfe hervorhebt: »La littérature […] est d’abord le compte rendu d’une experience personelle, et, écrire, c‘est écrire pour se connaître ou se comprendre [...].« 125 Perec, der, neben der »Ligne Générale«, eine Zeit lang einer Gruppe um Jean Duvignaud, Edgar Morin und die Zeitschrift »Arguments« angehörte, 126 entwirft seine Idee von Realismus und Literatur in einer experimentalkulturellen Konstellation, in der das Denken in Strukturen, Systemen und Methoden – Morin legt in seinem vierbändigen Werk »La Méthode« einen proto-systemtheoretischen Totalentwurf von Wissenschaft vor 127 –, phänomenologische Reflexionen von Lebenswelt und die Frage nach der Materialität und den Medien der Bedeutungsprozesse einander ergänzen: Im Horizont der Frage der Lesbarkeit und Rekonstruktion von Welt wird Literatur zum »descripteur-décrypteur de nos espaces«. 128
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l’emotion et analyse rationelle du monde et de l’Histoire« (ebd., S. 13f.); Vorbild wurde insbesondere die methodische Organisation des filmischen Materials in der Montage. Ebd., S. 14. Georges Perec: »Pour une littérature réaliste«, in: ders., L.G., S. 47-66, hier S. 51. Ebd., S. 52. Ebd., S. 53. Vgl. J. Neefs/H. Hartje: Georges Perec, S. 59. Siehe E. Morin: La Méthode. Bd.1: La nature de la nature, Bd. 2: La vie de la vie, Bd. 3: La conaissance de la conaissance, Bd. 4: Les idées. C. Burgelin: »Préface«, S. 21.
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SZENEN DER SCHRIFT
In diesem Feld marxistisch-materieller, strukturalistisch-semiotischer und methodisch-systemischer Ideen kommt ein Begriff von écriture auf, der das Denken der Schrift und die Idee von Literatur grundlegend verändert: »A l’époque où j’ai commencé à écrire, le mot ›écriture‹ n’existait pas dans la langue française. Il y avait des romanciers, il n’y avait pas d’écriture. Le problème de l’écriture ne se posait pas. Le problème qui se posait était un problème de contenu, un probléme idéologique, on était en plein dans ce qu’on appelait, ce qu’on appelle, ce qu’on appelait, la littérature engagée. Autrement dit, ou, pour dire autre chose..., la littérature sartrienne.« 129
Einem derart ideologisch ausgerichteten Verständnis werden Begriffe von Schrift und Literatur entgegengestellt, die sich, in Auseinandersetzung mit mathematischen Symbol- und Ordnungssystemen und außerliterarischen kulturellen Gebrauchsweisen der Schrift, der Materialität der Zeichen zuwenden, literarische Formen, textuelle Regelsysteme und Darstellungsmuster befragen, Erkundungen semiotischer Prozesse und Gestaltungsformen unternehmen. Perec verbindet Schrift-Reflexion und Poetologie insbesondere im Hinblick auf die anvisierte Vermittlung von Ambiguität und Weltkomplexität. In einem Vortrag »Poivoirs et limites du romancier français contemporain« beschreibt Perec, wie literarische Techniken der Verfremdung, Ironie und Rhetorik als Methoden eines kritischen Realismus funktionieren könnten. 130 Rhetorik versteht Perec in dieser Perspektive in Anlehnung an Roland Barthes als System sprachlicher und kultureller Organisation, zugleich als Macht der Sprache zu Konstruktion und Durchsetzung von Weltentwürfen: 131 »Mais la vision du monde, ce qu’on appelle la ›Weltanschauung‹, ce n’est pas un ensemble de concepts, c’est seulement un langage, un style de mots.« 132 Auf dieser Ebene der sprachlichen Materialität kultureller Organisation verbindet Perec einen Flaubert entlehnten Stilbegriff mit dem grammatologischen Terminus der »écriture«, auf eine Definition von Literatur als Sprachform und Kulturtechnik zielend: »L’écriture est un acte culturel […]. Si entre le langage et le monde il y a la culture, c’est pour parler, enfin, pour écrire, il faut passer par quelque chose qui est culturel.« 133 Écriture als sprachlicher und kultureller Akt ist zugleich ein Prozess der Gestaltung, ein Akt medialer Verkörperung – auch als Akt der Wahrnehmung, des Affektiven, des Ästhetischen.
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Georges Perec: »Pouvoirs et limites du romancier français contemporain (conférence inedite)«, in: M. Ribière (Hg.), Parcours Perec, S. 31-40, S. 32. Eine vergleichbare Argumentation wie in »Pour une littérature réaliste« verfolgend, hebt Perec hier insbesondere die Begriffe der Verfremdung, entlehnt von Brecht, der Kritik, sich beziehend auf Lukács’ gegenwärtige Bedeutung des kritischen Realismus, der Ironie, in Anlehnung an Thomas Mann, Fieldling, Sterne und Diderot, hervor. Vgl. ebd., S. 33. Rhetorik versteht Perec als Gesamtheit derjenigen Mittel, welche einerseits die Potenzialität der Sprache ausmache, eine Pluralität an Interpretationen zu ermöglichen, und andererseits die Relation von Sprache und Überzeugungsmacht begründe. Vgl. ebd., S. 34. Ebd. Ebd., S. 35.
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3. EXPERIMENTELLE ÄSTHETIK DER SCHRIFT. GEORGES PEREC »Si vous voulez, je peux définir mon écriture comme une espèce de parcours — il y a une très, très belle phrase de Michaux qui dit ›J’écris pour me parcourir‹ —, comme une espèce de parcours, une espèce d’itinéraire que j’éssais de décrire à partir, disons, d’une idée vague, d’un sentiment, d’une irritation, d’un refus, d’une exaltation, en me servant, non pas de tout ce qui me tombe sous la main, mais de tout un acquis culturel qui existe déjà.« 134
Wie écriture als Gestaltung einer Ordnung der Dinge im Horizont einer Reflexion von Medialität und Ästhetik funktioniert, lässt sich an Perecs erstem, 1965 publizierten Roman »Les Choses« und seiner Leitidee, »Les Choses sont le lieux rhétoriques de la fascination«, 135 nachvollziehen. Über eine sozialkritische Gesellschaftsstudie hinaus, als die der Roman primär rezipiert wird, 136 lassen sich an dieser Formulierung, »Les Choses sont les lieux rhétoriques de la fascination«, die poetologischen Ideen von écriture als Methode, Kulturtechnik und Schreibweise veranschaulichen. Realistischer Roman ist »Les Choses« insofern, als Perec die aufgrund ihres Warencharakters faszinierenden und als imaginativ aufgeladene kulturelle Artefakte funktionierenden Dinge beschreibt, die, vergleichbar den von Roland Barthes analysierten Mythen des Alltags, als sekundäres semiotisches System funktionieren und an denen sich im Sinne einer Ordnung des Begehrens eine bestimmte psychosoziale Dynamik entfaltet, die der Roman in der Geschichte um das den eigenen Lebensentwurf suchende Protagonistenpärchen verdeutlicht. Vergleichbar Roland Barthes’ Arbeiten zur Ordnung des Begehrens und zur Lust am Text, 137 zeichnet Perec die mit den Dingen verbundenen kulturellen Imaginationen eines – auch im 21. Jahrhundert erstaunlich aktuell wirkenden – modernen Lifestyle nach, rekonstruiert das System der Faszination in der Ordnung der Dinge. Die faszinierenden Dinge werden im Rahmen einer Rhetorik der Werbung – die Hauptfiguren verdienen ihr Geld in der Marktforschung –, einer Sprache der Faszination als Topoi der Faszination entworfen. In diesem rhetorischen System der Faszination verschränken sich Lebenswelt, Kulturtechnik und Schreibweise. Wie Barthes die écriture der Lust anhand de Sades Ordnung der Stellungen entwickelt, 138 so führt Perec, exemplarisch in dem Roman »Les Choses«, Flauberts Ästhetik des Stils, Roland Barthes’ Rhetorik, Robert Antelmes Wahrheit der Schrift 139 und den Begriff der écriture zu einer Idee von Schrift als Form zusammen, die zwischen lebensweltlichen Ordnungen, kulturellen Imaginationen und literarischen Mustern vermittelt und so rhetorische, semiotische und phänomenologische Aspekte verbindet. Wie das drame alphabétique »Les horreurs de la guerre« die grammatologische Organisation rhetorischer und literarischer Topoi des Krieges vorführt, so wird Schrift in »Les
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Ebd., S. 36f. Ebd., S. 37. Siehe bspW.E. Helmlé: »Georges Perec«. Siehe R. Barthes: Die Lust am Text. Siehe R. Barthes: Sade Fourier Loyola; siehe ergänzend Kapitel 1.4, S. 54f. der vorliegenden Arbeit. Vgl. G. Perec: »Pouvoirs et limites«, S. 35f. Siehe zu Antelme insb. Georges Perec: »Robert Antelme ou la vérité de la littérature«, in: ders., L.G., S. 87114.
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Choses« zur Inszenierung eines rhetorischen Systems des Begehrens und der Faszination. 140 Dieser Aspekt des Inszenatorischen, der eine Konzeption von realistischer Literatur als Methode der Organisation kultureller Topoi bestimmt, wird in dem Text »Quel petit vélo à guidon chromé au fond de la cour?« 141 deutlich, der eine Sprache der Macht und des Krieges vorführt. Es ist ein »Récit / épique en prose / agrémenté / d’ornements versifiés / tirés / des meilleurs / auteurs / par / l’auteur de / comment / rendre / service / à / ses amis / (Ouvrage couronné / par diverses Académies / Militaires)« 142
Vor dem Hintergrund intellektueller Diskussionen um marxistisch-stalinistische Terrorsysteme einerseits und Kolonialkriege andererseits im Frankreich der sechziger Jahre 143 führt Perec in diesem Text, der zugleich Schlüsselroman und Kriegssatire ist, eine kritische, verfremdende und ironische Schreibweise vor, die zwischen Groteske, Phantastik und Sprachartistik 144 das Rhetorische als Diskurse und Lebenswelten organisierende Sprachtechnik zeigt, so auch in dem angehängten »Index des fleurs et des ornements rhétoriques, et, plus précisement, des métaboles et des parataxes que l’auteur croit avoir identifiées dans le texte qu’on vient de lire.« 145 Perecs Konzeption von Schrift und Literatur im Sinne eines neuen Realismus, der ein semiotischer Realismus wäre, als Inszenierung komplexer und widersprüchlicher Ordnungsprozesse, trifft sich mit Jacques Bens’ Beschreibung der potenziellen Literatur Raymond Queneaus als realistische Literatur: »Et maintenant, si l’on se mettait à considérer que la potentialité, plus qu’une technique de composition, est une certaine façon de conçevoir la chose littéraire, on admettrait peut-être qu’elle ouvre sur un réalisme moderne parfaitement authentique. Car la réalité ne révèle jamais qu’une partie de son visage, autorisant mille interprétations, significations et solutions, toutes également probables. Ainsi le regard potentiel sauvera l’évrivain, aussi bien de l’hermétisme de salon que du populisme de banlieu, tous phénomènes qui, de nos jours, gâtent sa plume et son
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Inwieweit diese rhetorischen Systeme zu gewalthaften Ordnungen werden, eine faschistoide Dimension des Zu-Sagen-Zwingens entwickeln, wie Roland Barthes es formuliert (vgl. R. Barthes: Leçon/Lektion, S. 19), macht Perec in einem Essay zur Mode deutlich: »Was zählt, ist der Name, das Etikett, die Signatur«, »die Mode steht ganz auf der Seite der Gewalt«. Georges Perec: »Zwölf Seitenblicke«, in: ders., In einem Netz gekreuzter Linien, Bremen 1996, S. 34-45, hier S. 36, 40. 1988 in deutscher Sprache, übersetzt von Eugen Helmlé: Was für ein kleines Moped mit verchromter Lenkstange steht dort im Hof?, Frankfurt/M. 1991. Georges Perec: Quel petit velo à guidon chromé au fond de la cour?, Paris 1966, S. 7. Siehe zum Hintergrund des Algerienkrieges in »Quel petit vélo« Yannick Séité: »A vélo, partir pour la guerre«, in: Les Temps modernes 54 (1999), S. 153-189. Diese Aspekte hebt insbesondere Perecs Übersetzer Eugen Helmlé hervor: »Eine simple Begebenheit wird in einem Feuerwerk von Einfällen im Faktischen so beiläufig ausgeschöpft, wie im Sprachlichen eine Summe von rhetorischen Formen systematisch und fast penetrant (inspiriert von einer Vorlesung Roland Barthes’) ausgeschöpft wird.« E. Helmlé: »Georges Perec«, S. 3. G. Perec: Quel petit vélo, S. 113.
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3. EXPERIMENTELLE ÄSTHETIK DER SCHRIFT. GEORGES PEREC inspiration. Quant à Raymond Queneau, c‘est, de tous les écrivains français contemporains, celui que la notion de potentialité a le plus attiré.« 146
Es ist die literarische Potenzialität in ihrem Oszillieren zwischen Systematik und Phantastik, die hier mit der Idee eines literarischen Realismus als Organisation komplexer, ambivalenter und widerspüchlicher Systeme konvergiert.
3.2.2 Der Roman als Ordnungssystem. »La Vie mode d’emploi« Selbstreflexive Figurationen von Systematik und Phantastik Dieser rhetorische Begriff der écriture als Organisation von Topoi lässt sich auch auf das Regelsystem des 1978 erschienenen Romans »La Vie mode d’emploi« 147 anwenden, versteht man die zugrunde liegenden Figuren als Methoden struktureller Organisation, als Figurationen. 148 Vergleichbar anderen produktionstechnischen Planskizzen, wie sie Raymond Queneaus »La technique du roman«, Italo Calvinos »Comment j’ai écrit un de mes livres« und Raymond Roussels »How I wrote certain of my books« entwerfen, beschreibt Perec vier zentrale Figuren, die zugleich als poetologische und medienästhetische Reflexionsfiguren fungieren: mit dem Plan eines Pariser Wohnhauses wird die poetologische Metapher architektonischer Strukturalität des Literarischen selbstreflexiv in Szene gesetzt; 149 das Schachproblem des »polygraphe du chevalier«, wie die Figur des Pferdes die 64 bzw. hier 100 Felder durchqueren könne, wird zu einem der Kapitelstrukturierung unterliegenden Bewegungsdispositiv; 150 vergleichbar ordnet die Kombinati146 147
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J. Bens: »Queneau oulipien«, S. 33. In der deutschen Übersetzung mit dem Titel: Das Leben Gebrauchsanweisung, Reinbek b.H. 2001. Im Folgenden werden originalsprachliche Zitate (La Vie mode d’emploi. Romans, Paris 1978) im Text mit der Sigle »VME« und der Seitenzahl angegeben. Siehe zu diesem aus der Theaterwissenschaft entliehenen Begriff der »Figuration« auch Kapitel 5, Anm. 135 der vorliegenden Arbeit. Diese Figur des Pariser Wohnhauses, dessen Fassade abgenommen ist, formuliert Perec als »Projet de roman« in dem Kapitel »l’immeuble« des Bandes »Espèces d’espaces«; vgl. Georges Perec: Espèces d’espaces, Paris 1974, S. 57-63, hier S. 57f. Der Hinweis Perecs, das Haus sei der eigentliche Protagonist des Romans und er habe die Geschichte eines Hauses schreiben wollen, (vgl. Georges Perec: Entretien (avec Gabriel Gabriel Simony), Paris 1989, S. 9) macht die Figur in einem dreifachen Sinne zu einer selbstreflexiven: erstens als Metapher architektonischer bzw. literarischer Strukturalität, zweitens wird diese Strukturalität zum zentralen Thema des Romans, der in der Inszenierung dieses romanesken Prinzips drittens zu einem selbstreflexiven oder metaliterarischen wird. Diese zweite Figur greift das in der oulipistischen Poetik zentrale Modell des Schachspiels auf und verknüpft mittels dieses intermediären Konnektors die Methode des Romans mit der ihn umgebenden (mathematisch-strukturalistischen) Experimentalkultur und etabliert für den Roman Motive und Figuren der Reflexion dieser interdisziplinären und wissenschaftspoetischen Transformationen. Bezüglich dieses klassischen Schachproblems, »polygraphe du cavalier«, verweist Perec auf François Le Lionnais: Dictionnaire des Echecs, Paris 1974, S. 304-305; zit. nach Georges Perec: »Quatre figures pour ›La Vie mode d’emploi‹«, in: L’Arc 76 (1980), S. 50-53. Abgedruckt in: Oulipo, Atlas, S. 387-395, hier S. 389. Das Problem, einen Weg für das Pferd über die 64 Felder des Schachbrettes zu konstruieren, ohne dass die Figur sich
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onsmatrix des lange Zeit für unlösbar gehaltenen mathematischen Problems des »bi-carré latin orthogonal d’ordre 10« jedem Kapitel konstitutive Elemente zu; 151 die »pseudo-quenine d’ordre dix«, eine spiralförmige Permutationsfigur, erweist sich als choreographische Figuration zur Organisation des Romans. 152 Perec entwirft durch diese grafischen, mathematischen, topografischen und dynamischen Figuren 153 eine komplexe Figuration eines methodischen Programms und macht diese »écriture à programme« 154 in der Titelformulierung der »Gebrauchsanweisung« selbstreflexiv. Derart stellt der Roman seine eigenen Materialisierungsprozesse zur Schau, er wird zur Inszenierung der Schrift als Verkörperungsprozess, als Praxis, Arbeit und Spiel. Medienästhetisch formuliert inszeniert der Roman selbstreflexive Figuren medialer Verkörperungsprozesse. Zugleich ist diese Gebrauchsanweisung
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mehr als einmal in demselben Feld aufhält, habe Perec — hier für 100 Felder — in einem trial-and-error-Verfahren gelöst, »d’une manière plutôt miraculeuse«. Ebd., S. 390. Diese Figur ist, anders als die architektonische Struktur, als Bewegungsdispositiv zu verstehen — und in diesem Sinne als Figuration. Siehe dazu auch Kapitel 5, Anm. 135 der vorliegenden Arbeit. Mit der dritten Figur des aus der Mathematik übernommenen »bi-carré latin orthogonal d’ordre 10« — die derart konstruierten einundzwanzig mal zwei Serien aus zehn Elementen unterzieht Perec einem Permutationsverfahren und ordnet nach diesem System anschließend jedem Kapitel seine konstitutiven Elemente zu (siehe zu Formen kombinatorischer Dichtung im Schreiben Georges Perecs: Claude Berge/Eric Beaumatin: »Georges Perec et la combinatoire«, in: Cahiers Georges Perec. Nr. 4. Mélanges, Paris 1990, S. 83-96.) — macht Perec seinen Roman zu einem zwischen Phantastik und Systematik oszillierenden Akt ’pataphysischer Wissenschaft, insofern das zugrunde liegende mathematische Problem lange Zeit als unlösbar galt. Erst 1960 haben Bose, Parker und Shrikande erstmalig ein derartiges bi-carré latin konstruiert. Siehe dazu auch R. Queneau: Mathematik von morgen, S. 38; C. Berge: »Pour une analyse potentielle«, S. 58-61. Siehe dazu das Kapitel »l’immeuble« in G. Perec: Espèces d’espaces, S. 5763. Diese »pseudo-quenine d’ordre dix« ist eine spezifische aus der »sestine« abgeleitete generalisierte »quenine«, nach ihrem Erfinder Raymond Queneau benannt. Siehe dazu auch Hans Hartje/Bernard Magné/Jacques Neefs: »›Une machine à raconter des histoires‹«, in: Georges Perec, Cahier des charges de La Vie mode d’emploi. Hg. v. dies., Paris 1993, S. 7-35, hier S. 22-25. Siehe dazu auch Kapitel 2, Anm. 162 der vorliegenden Arbeit. Siehe zu weiteren Rafinessen des ausgeklügelten Regelsystems, das den »Romanen« zugrunde liegt, das von Hans Hartje, Bernard Magné und Jacques Neefs herausgegebene: Cahier des charges de La Vie mode d’emploi. Ergänzend Bernard Magné: »Cinquième figure pour la Vie mode d’emploi«, in: Cahiers Georges Perec. Nr. 1, S. 173-177. In der editionstheoretischen Forschung der critique génétique wird unterschieden zwischen »écriture à programme« und »écriture à processus«; als exemplarischer Vertreter der letztgenannten gilt Kafka. Siehe dazu A. Grésillon: Eléments de critique génétique. Zur »écriture à programme« führt Grésillon aus: »type d’écriture qui obéit à un programme préétabli et dont l’èlaboration parcourt plusieurs états génétiques (notes documentaires, plans, listes, esquisses, brouillons); exemple: Zola.« Der Vergleich des Schreibens bei Kafka und Perec — das man als Prozess versus Plan apostrophieren könnte — erweist sich auch hinsichtlich des zugrunde liegenden Schrift-Begriffs insofern als weiterführend, als beide ihr Schreiben in Auseinandersetzung mit der jüdisch-kabbalistischen Praxis entwickeln. Reduziert Perec das Schreiben auf die kombinatorische Buchstabentechnik, zielt Kafka in die entgegengesetzte Richtung der unveränderlichen Heiligen Schrift. Zu Kafkas Schrift-Praxis siehe C. Schärf: Franz Kafka. Der Stilzwang dagegen erfüllt Funktionen der Demystifizierung; siehe dazu Anne Garréta: »Mirage dans deux miroirs«, in: Magazine littéraire 316 (1993), S. 77-79.
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3. EXPERIMENTELLE ÄSTHETIK DER SCHRIFT. GEORGES PEREC
experimentalkulturelles Spiegelbild wissenschaftlicher Totalentwürfe wie Edgar Morins »Methode«, dieser Nachfahre der Kybernetik und Vorläufer der Systemtheorie. Prototypische literarische Form einer »écriture à programme« ist der Kriminalroman, der das Prinzip einer Literatur als Planspiel verkörpert. Perecs Fragment gebliebener Kriminalroman »53 jours« 155 gibt anhand der Notizen und Pläne Einblick in die Verfertigung des Romans, unterschiedliche prototextuelle Schreibweisen und Formen, Listen, Matrizen und Stichworte lassen das ausgeklügelte System von Stilzwängen und Figuren, das der Verschriftlichung zugrunde liegt, andeutungsweise erkennen.156 Wie Perecs Konzeption von Schrift als Methode und Praxis mit Metaphern des Systems, der Maschine und des Netzes veranschaulicht wird, 157 und darin die Semantisierung einer Materialität der Zeichen deutlich wird, so tritt auch die inszenatorische Dimension in den Vordergrund, die der in Figuren und (kriminalistischen) Schreibweisen transformierten Reflexion von Schrift und Literatur inhärent ist. Bernard Magné spricht in Bezug auf die kriminalistischen Strukturen in »53 jours« von einer »lecture réticulée«, einer ein Netz imitierenden Lektüre, 158 womit er den Akzent auf das Simulatorische, auf das Theatrale der sich permanent in unterschiedlichen Figuren selbst vorführenden literarischen Mechanismen legt. Im Zuge dieser medialen Selbstinszenierungen werden zentrale Aspekte des Literarischen und Poetischen, beispielsweise die Autorschaft, reflektiert. Dem Verschwinden des Protagonisten in »La disparition« folgt die Suche nach einem verschwundenen Schriftsteller in »53 jours«, im Laufe derer sich ein Netz von Verweisen entspinnt. Das Romanfragment spielt so mit zeitgenössischen text- und literaturtheoretischen Diskursen um das Verschwinden des Autors und den autonomen Status (inter-)textueller Gewebe und führt diese Konzeptionen, ebenso wie Barthes es unternommen hat, auf den Begriff der écriture zurück. Insofern der Detektiv, der in das Geschehen hineingezogene Erzähler, sich zunehmend in den komplexer werdenden Verweisungszusammenhängen verliert, ist das Simulatorische des Netzes auch als Figur des Trügerischen zu verstehen, wodurch Perecs Krimi auch zum Prototyp des 155
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In deutscher Übersetzung: 53 Tage, Frankfurt/M. 1994. Die ausgeführten und die skizzierten Romanteile wurden 1989 von Jacques Roubaud herausgegeben. Roubaud fügte die Pläne und Notizen anlässlich der posthumen Herausgabe des Romans 1989 den fertigen Textteilen in einem Anhang an. Die Komplexität des Systems lässt sich beispielsweise im Blick auf die Zahl 53 erkennen, die auf jene 53 Tage verweist, die Stendhal zum Schreiben der »Chartreuse« benötigte; zudem dürfte die Übereinstimmung zu Roubaud nicht zufällig sein, der zur Erklärung der Zahl 53 in seinem Romanzyklus »Hortense« auf sein eigenes Alter von 53 Jahren zum Zeitpunkt der Erscheinens des ersten Bandes verweist. Siehe auch Bernard Magné: »53 jours. Pour lecteurs chevronnés...«, in: Georges Perec. écrire/transformer, S. 185-203. Zu einer systemorientierten Lektüre siehe Alain Goulet: »La Vie mode d’emploi. Archives en jeu«, in: Cahiers Georges Perec. Nr. 1, S. 193-212; zur Metapher der Maschine H. Hartje/B. Magné/J. Neefs: »Une machine à raconter des histoires«; Bernard Magné: »Textus ex machina«, in: ders, Perecollages 1981-1988. Toulouse 1989, S. 219-229; zum Bild des Netzes: ders.: Pour une lecture réticulée, in: Cahiers Georges Perec. Nr. 4, S. 130180. »Réticulé: qui imite un réseau. Petit Robert«. B. Magné: »Pour une lecture réticulée«, S. 130. »[…] le ›réseau‹ transforme totalement la signification du fragment cité.« Ebd., S. 139.
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postmodernen Metaromans werden könnte, insofern er die Lektüre als Suche nach einem Sinn und einer Lösung inszeniert, an deren Ziel es weder diese eindeutige Erklärung noch – anders als im Roman »La disparition« – das Durchschauen des viel zu komplexen zugrunde liegenden Plans geben kann. Écriture wird damit zu einer Methode der Inszenierung selbstreflexiver semiotischer Spiele. Die mit Blick auf den Roman »La Vie mode d’emploi« abgegebene Erklärung Perecs, »le message, les idées [...] importent moins que le dictionnaire!«, 159 stellt den Roman als Erweiterung der L.S.D.- bzw. P.A.L.F.- und Kreuzworträtsel-Techniken vor und erklärt umgekehrt das Wörterbuch als weitere Konstruktionsfigur, die wiederum zugleich Figur literarischer Selbstreflexion ist. Das Wörterbuch als linguistisches und enzyklopädisches Modell der Produktion semantischer Strukturen und sprachlicher Wissensordnungen ist strukturell der Bibliothek und der Literatur als Gesamtheit aller möglichen Bücher vergleichbar und damit Metapher einer Ordnung der Dinge. Bibliothek und Archiv sind zentrale Reflexionsfiguren unserer abendländischen, durch das Buch bestimmten medienkulturellen Ordnung. Wie die Modelle des Wörterbuchs, der Enzyklopädie und des Archivs die »Romane« »Das Leben Gebrauchsanweisung«, diese Matrix sämtlicher romanesker Schreibweisen und Genres, bestimmt – und Perec unterstreicht als Motivation seines Schreibens, die gesamte Literatur seiner Zeit zu durchstreifen, all das zu schreiben, was für einen heutigen Menschen zu schreiben möglich ist: dicke Bücher und dünne Bücher, Romane und Gedichte, Dramen, Opernlibrettos, Krimis, Abenteuerromane, Science-Fiction-Romane, Fortsetzungsromane, Kinderbücher – 160 so wird diese Idee eines Romans, der sämtliche Romane in sich enthält, auch in der Erzählung »Le voyage d’hiver« 161 verkörpert, in welcher nicht ein Vokal oder ein Schriftsteller, sondern eben jenes Buch verschwindet, welches die klassischen Romane der Moderne zitierend vorwegnimmt, bzw. diese werden als Kopien des verschwundenen Buches vorgestellt. Der Roman, der die anderen in sich enthält, wird zur prototypischen Figur potenzieller Literatur. Die selbstreflexive Konstruktion des Romans lässt sich auch symptomatisch an den Lektüren ablesen, welchen der Roman unterzogen wird. Dabei sind zwei Lesarten dominant, erstens eine strukturelle Analyse, 162 die nach den Textgeneratoren fahndet, um das Repertoire der von Perec benannten Figuren zu ergänzen und die Konstruktion und das Funktionieren der textuellen Maschinerie zu verstehen, und zweitens eine Lektüre, die archäologisch, symptomatisch vorgeht und die Textgeneratoren auf ihre »verborgene Bedeu159 160 161
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G. Perec: Entretien, S. 29. Vgl. Georges Perec: »Anmerkungen über das, was ich suche«, in: ders., In einem Netz gekreuzter Linien, S. 9-11, hier S. 10. Siehe dazu auch Claudette Oriol-Boyer: »Le voyage d’hiver. (Lire/écrire avec Perec)«, in: Cahiers Georges Perec. Nr. 1, S. 146-169. Am Rande sei bemerkt, dass die Rahmenhandlung der Erzählung gegen Ende des Jahres 1945 spielt und das Motiv des Verschwindens, die Repräsentationen von Abwesenheit, das Illusionäre und das Scheitern von Darstellung die Thematiken des Krieges, des Todes und des Schreibens gleichmaßen bestimmen. Diese Konstellation bestimmt ebenso die Romane »La Vie mode d’emploi« wie alle anderen Texte Perecs. Zu einer exemplarischen strukturell Lektüre siehe David Bellos: »Perec et Saussure. A propos de La Vie mode d’emploi«, in: M. Ribière (Hg.), Parcours Perec, S. 91-96; oder auch Jean-François Chassay: Le Jeu des coïncidences dans La Vie mode d’emploi de Georges Perec, Bordeaux 1992.
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tung« hin untersucht, um das »réseau sou-jacent« 163 mit Blick auf einen unterstellten »autobiotexte« zu entziffern. Dass der Roman »La Vie mode d’emploi« kybernetisch als »Maschine«, semiotisch als Zeichenprozess, kulturanthropologisch als Archiv menschlichen Wissens beschrieben wird, 164 unterstreicht, wie sehr sich dieser Roman in einer metaliterarischen Position präsentiert, die Literatur als Potenzialität versteht, und es von daher herausfordert, mögliche Konzeptionen von Literatur auf diese als theoretische Idee und Virtualität literarischer Konkretisationen verstandene Literatur zu projizieren. Dass es strukturalistische, semiotische und kultursemiotische Lektüren sind, welchen der Roman unterzogen wird, ist zugleich darauf zurückzuführen, dass es die Modelle von Schrift als Struktur, semiotisches System und Kulturtechnik sind, von denen ausgehend sich die Idee einer »littérature potentielle« und »littérature théorique« sowie eine Konzeption von écriture entwickelt hatte. Vor diesem Hintergrund, diese Figuren der Reflexion von Schrift, Text und Literatur – zugleich Figuren zur Ordnung der Dinge in der Experimentalkultur – zur Methode des Romans umfunktionierend, ist der Roman zugleich Reflexion der Konstruktion kultureller Aufzeichnungssysteme. Ein Aspekt dessen ist die Verschränkung von Wissenschaft und Literatur, der Jean François Chassay mit Blick auf »La Vie mode d’emploi« detailliert nachgegangen ist: »[…] science et littérature sont liées comme s’il s’agissait d‘un ruban de Mœbius.« 165 Chassay beschreibt mittels aus den Naturwissenschaften übernommener Begriffe und Konzepte in einer strukturalen und kybernetisch-systemischen Lektüre den Roman als spielerische Organisation des Zufalls – auf dem Hintergrund einer epistemologischen Situation, die durch den Zweiten Weltkrieg einen Einschnitt erfahren habe, in dessen Folge das historische Wissen zum Irrationalen abweiche, phantastisch und spielerisch werde, 166 wodurch sich erkläre, so Chassay, dass das als Kompendium angelegte und realistisch beschriebene Universum des Romans mehr und mehr phantastisch werde. 167 »L’imaginaire et le savoir historique se combinent pour créér un évolutionnisme qui concerne non seulement les objets de l’immeuble et ses habitants, mais qui charrie de proche en proche des bribes de l’histoire de l’humanité.« 168
Geschichte, Erinnerung, conditio humana, Zeit und Raum erscheinen als unmöglich zu rekonstituierende; Perec inventarisiere in seinem Roman die Fragmente. Chassay arbeitet mit Terminologien aus der Kybernetik, Informations- und Computertheorie, um aufzuzeigen, wie weit der Roman, den er in einer wissenschaftspoetischen Tradition neben Musils Romanfragment »Der Mann ohne Eigenschaften« stellt, die Vorstellung einer nachgeschichtlichen Zirkularität, das Scheitern cartesianischer Methodik, die Problematik von 163
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Siehe insb. Anne Roche: »L’auto(bio)graphie«, in: Cahiers Georges Perec. Nr. 1, S. 65-79; oder auch Dominique Bertelli: »transPhormER/Ecrice«, in: Georges Perec. écrire/transformer, S. 159-168. Siehe Anm. 157. J.-F. Chassay: Le Jeu des coïncidences, S. 119. Wie in dieser epistemologischen Situation das Wissen ein phantastisches und spielerisches wird, zeigt Alain Goulet in seinem Aufsatz »La Vie Mode d’emploi. Archives en jeu«, auf den auch Chassay sich bezieht. Vgl. J.-F. Chassay: Le Jeu des coïncidences, S. 89f. A. Goulet: »Archives en jeu«, S. 196.
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Kohärenzfiktionen und Beobachterkonstruktionen sowie die Erfahrung neuer Raum- und Zeitkonfigurationen zur Darstellung bringt. »La Vie mode d’emploi« entwerfe auf der Höhe der technisch-wissenschaftlichen Diskurse seiner Zeit das Szenario einer Lebenswelt, in welcher Kontingenz, das Ende verbindlicher Sinngeschichten und jetzt-zeitiges Posthistoire durchschlagen. Der Roman »La Vie mode d’emploi« führt vor, dass eine Epistemologie als Archäologie, wie Foucault sie in den Blick nahm, keine Ordnung der Dinge mehr zu rekonstruieren vermag. Statt dessen inszeniert der Roman Wissen als intermediäres Feld von Systematik und Phantastik – und zeigt darin, dass der ’patapyhsische Roman als Inszenierung des spielerischen Oszillierens zwischen Wissenschaft und Kunst das eigentliche Zentralmedium kultureller Wissensorganisation in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts ist. Im Spiel der medialen Repräsentationsformen zwischen Archäologie und Kybernetik, zwischen Wissenschaft und Phantastik und in der medienästhetischen Reflexion der Aufschreibesysteme und ihrer Grenzüberschreitungen wird der Roman zu einem der wenigen prototypischen Romane einer offenen, durch Paradoxien, Dissonanzen und Zusammenbrüche gekennzeichnet, epistemischen Situation, als den ihn Karl Ludwig Pfeiffer hervorhebt. 169 Gegen Kittlers nachrichtentechnisch verstandene »Aufschreibesysteme« führt Pfeiffer einen prozessorientierten Begriff des Schrift-Mediums Literatur ins Feld, in dem System und Aktivität einander immer wieder durchkreuzen. 170 Darüber hinaus unterstreicht Pfeiffer die in der Literatur bereitgestellten semantischen Potenziale in ihrer Funktion für die kulturelle Imagination und setzt darin einen weiten Literaturbegriff an, Literatur verstehend als »unerhörte mediale wie kognitive Vielfalt dessen, was man in einen kaum Sammelbegriff zu nennenden Etikett zusammenzuziehen sich immer wieder genötigt sieht.« 171 Hinsichtlich des Romans konstatiert Pfeiffer: »Vielleicht überleben also beispielsweise die Romane als Texte, deren Schreiben den Entwurfscharakter problematischer kognitiver Aktivitäten paradigmatisch entfaltet.« 172 Sich dem reduktionistischen Griff gesellschaftlicher Semantiken und literaturwissenschaftlicher Versuche des »konsistenzstiftende[n] Zuendelesen[s]« entziehend, habe George Perec, »beziehungsvoll genug, seiner puzzleartigen Durchmischung biographischer, kriminalistischer, deskriptiver, wissenschaftlicher ... Textsorten den Titel Das Leben. Gebrauchsanweisung (1978, dt. 1982) und den Untertitel Romane gegeben.« 173 Anhand des Romans »La Vie mode d’emploi« wird deutlich, dass Literatur nicht nur, wie eine medientechnisch orientierte Literaturwissenschaft nahe legt, die Verarbeitung von Wissensdaten und das Umschreiben wissenschaftlicher Diskurse unternimmt, sondern sie rückt diese Transformationen und ihre medialen Erscheinungsformen ins Zentrum der Aufmerksamkeit und setzt die imaginären und phantastischen Potenziale solcher intermediären Grenzüberschreitungen reflektierend in Szene. In diesem Sinne lässt sich an169 170
171 172 173
Siehe K.L. Pfeiffer: »Dimensionen der ›Literatur‹«. »Unterläuft oder überspielt ›literarisches‹ Schreiben Grenzen und Zwänge historischer Aufschreibesysteme und technischer Kommunikationsmedien? In der Geschichte der Schrift selbst — in ihrem Doppelcharakter als System und Aktivität — ist dieser Gegensatz selbst schon zum Topos geronnen.« Ebd., S. 731. Siehe dazu auch Kapitel 1, S. 24f. der vorliegenden Arbeit. Ebd., S. 736. Ebd., S. 757. Ebd., S. 758.
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3. EXPERIMENTELLE ÄSTHETIK DER SCHRIFT. GEORGES PEREC
hand des Romans »La Vie mode d’emploi« die Ergänzung der semiotischmaterialen und medientechnischen Betrachtungen um die Dimension des Ästhetischen deutlich machen: Die Geister werden nicht ausgetrieben, 174 sondern die Gespenster Calvinos, die anthropologisch-ästhetischen Implikationen der Zeichenprozesse, stellen sich in den unterschiedlichen Reflexionsfiguren des Romans zur Schau – insbesondere in den Figuren des trompe l’œil. Die Reflexion kulturtechnischer Praktiken des Romans »La Vie mode d’emploi« lässt sich exemplarisch anhand der Tätigkeit des Sammelns nachvollziehen. Insofern das Sammeln in einer Kultur, die sich als Informationsgesellschaft versteht und von semiotischem Recycling lebt, als anachronistisches Tun erscheint, wird Perec zum musealen Führer durch Orte und Dinge seiner Zeit, sammelt und versammelt, was der Literatur sonst als ephemer, heterogen und unwürdig erscheint – so stellt ihn das Magazine littéraire in einem ihm gewidmeten Dossier vor. 175 Der Roman wird zum »catalogue d’une vie«, 176 zum »roman encylopédique de ›science-humaines-fiction‹«. 177 Zu einem Ordnungssystem wird der Roman weniger durch die Vielzahl genannter Objekte und Dinge als durch seine paratextuelle Organisation, welche mit Listen, Grafiken, Schlagwortsystemen und Fußnoten arbeitet – wobei nicht nur letztere sich bei genauem Hinsehen als »fausses notes« und damit trügerische Ordnung erweisen: 178 »Non pas comme d’autres, cette œuvre s’attaque à la matérialité du livre, à la dénégation de son support matériel mais parce qu’en exploitant des possibilités paratextuelles inusitées dans les œuvres de fiction, elle déplace ce qui fait notre logique de la lecture, en particulier en ce qui est de l’instanciation du discours littéraire.« 179
Diese Inszenierung eines Kunst und Wissenschaft wechselseitig deplatzierenden Spiels verweist darauf, dass schon die dem Roman zugrunde liegenden Pläne zwischen Systematik und Phantastik oszillieren – entsprechend dem Typus Perecs als »écrivain joueur«: »Dédaignant la littérature au décamètre,
174 175
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179
Siehe: F.A. Kittler (Hg.).: Austreibung des Geistes. Georges Perec mode d’emploi. (dossier), in: Magazine littéraire 193 (1983), S. 12-38. Paul Fournel hebt in der Einführung die Einzigartigkeit dieses »esprit organisateur« hervor und bezeichnet »La Vie mode d’emploi« als »cathédrale des mots«. Paul Fournel: »Présentation«, in: Magazine littéraire 193 (1983), S. 12-13, hier S. 13. Siehe H. Mathews: »Le catalogue d’une vie«. D. Bellos: »Perec et Saussure«, S. 95. Bellos weist darauf hin, dass er den Begriff »science-humaines-fiction« von Philippe Lejeune entliehen hat. Dieser Terminus verweist auf das intermediäre experimentalkulturelle Feld, in dem sich der Roman im Spiel von Wissenschaft und Phantastik verortet. Siehe dazu Vincent Colonna: »Fausses notes«, in: Cahiers Georges Perec. Nr. 1, S. 96-109. Fußnoten sind Diskussionsraum, gehören zu den Texträndern: »[...] on n’ecrit pas dans les marges, surtout dans l’imprimerie [...]«, so das Zitat J.F. Lyotards, das Vincent Colonna seinem Aufsatz voranstellt. Die Funktion der Fußnote bzw. der »falschen Anmerkung« in »La Vie mode d’emploi« sieht Colonna unter anderem in einer Deplazierung der LektüreLogik, damit in einer wissenskontraproduktiven Strategie; dadurch steht Perec, so Colonna, in einer Traditionslinie mit Schriftstellern wie Rabelais, Sterne, Poe, Hoffmann, Larbaud, Mallarmé, Butor und Ricardou. V. Colonna: »Fausses notes«, S. 108.
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il trouve, dans la règle ou le développement de certains jeux ingénieux, les fondements d‘un plan romanesque ou d‘une structure spéculative.« 180 Eine entscheidende Rolle spielt in dieser Hinsicht das Konzept des clinamen, welches Perec sich beziehend auf Lukrez, zu einem grundlegenden Element seiner Poetik und Praxis macht. 181 Der Fehler im System, die Funktionsstörung, ist ein Element, das die strengen mathematisch und logisch arbeitenden Oulipisten von »Literaten« wie Calvino trennt, welche im Klinamen das genuin anthropologische, menschliche Moment ausmachen, einerseits den intentionalen Eingriff des Autors, andererseits den Einbruch des Nicht-Logischen, Nicht-Erklärbaren, Zufälligen, Irrationalen. Das Klinamen verkörpert daher die Schwelle von Systematik und Phantastik, »ce ›clinamen‹ qui, seul, peut faire du texte une véritable œuvre d’art.« 182
Das Puzzle-Spiel als poetologische Reflexionsfigur »Alors, si vous voulez, il y a, en ce qui me concerne, une image de la littérature qui se dessine et qui serait l’image d’un puzzle.« 183
Der Roman als Ensemble komplex selbstreflexiver Figurationen findet seine zentrale Verkörperung im Puzzle-Spiel. Das Puzzle ist eine Figur für Literatur als Produktions- und Kommunikationsmodell, darüber hinaus in seiner kombinatorischen Methode ein Metamodell, 184 das die den Roman konstruierenden Figurationen zusammensetzt. »Il y avait cette image de puzzle qui était tout le temps en train, comme si le livre était lui même un puzzle et les pièces de la maison des chapitres devant se relier les uns aux autres, même si on ne voyait pas, chaque fois, exactement comment cela se combinait. […] C’est parti d‘un détail du roman d’Agatha Christie, les Dix Petits Nègres, ou une jeune fille est accusée d’avoir laissé un enfant se noyer dans la mer.« 185
Ist das Puzzle auf einer ersten Ebene eine organisierende Struktur wie andere Spiele oder Kreuzworträtsel 186 – wie Perec selber beschreibt, er habe während sechs Jahre dieses Projekts Ideen, Wörter und Situationen gesammelt 187 180 181
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Jacques Bens: »Un écrivain joueur«, in: Cahiers Georges Perec. Nr. 4, S. 7576, hier S. 75f. Nach diesen Klinamen und beabsichtigten Fehlern im System fahnden zahlreiche Arbeiten zu Perec; siehe bspw. Andrée Chauvin: »Le Jeu des erreurs ou Métamorphoses minuscules«, in: Georges Perec. écrire/transformer, S. 87-110. I. Calvino: »Prose et anticombinatoire«, S. 331. G. Perec: »Pouvoirs et limites«, S. 36. Warren F. Motte beschreibt Perecs Puzzle-Begriff vor dem Hintergrund einer Poetik des Experimentellen als postmodernes Spielkonzept und ordnet das Puzzle als Kommunikationsmodell sowie den dazugehörigen Roman der Metaliteratur zu. Siehe: W.F. Motte: The Poetics of Experiment; ergänzend auch das Kapitel »Die Metaposition des postavantgardistischen Romans« in: Christian Schärf: Der Roman im 20. Jahrhundert, Stuttgart, Weimar 2001, S. 184-189. G. Perec: Entretien, S. 9f. Die Zusammenhänge zwischen den Rätselformen und den »literarischen« Texten zeigt insb. Hans Hartje: »De l’évidence. Georges Perec. (dossier)«, in: Magazine littéraire 316 (1993), S. 67-69. Vgl. G. Perec: Entretien, S. 25.
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3. EXPERIMENTELLE ÄSTHETIK DER SCHRIFT. GEORGES PEREC
–, so lenkt es in zweiter Instanz die Aufmerksamkeit auf die Schnittstellen des kombinatorischen Prozesses, wie das Vorwort des Romans »La Vie mode d’emploi« die Kunst des Puzzles, »l‘art du puzzle«, 188 beschreibt: Inhaltliche, semantische Gesichtspunkte außen vor lassend, stellt Perec die »subtilité de la découpe« in den Vordergrund, die er anhand einer Typologie verschiedener Formen von Puzzleteilen veranschaulicht. 189 Diese Schwellenbereiche der Grenzen und Anschlüssen sind es, die das Puzzle zu einem um Differenzen und Ambivalenzen erweiterten strukturalistischen bzw. kombinatorischen Modell machen, dem Muster des Kriminalromans vergleichbar – zumal »puzzle« im Englischen Geheimnis (frz. »enigme«) bedeutet –, insofern die aus zwei zuvor diskreten Elementen zusammengepasste sinnhafte Einheit zugleich »source d’erreurs, d’hesitation, de désarroi et d’attente« 190 ist, sodass die (Re-)Konstruktion zu einem Prozess permanenter Re-Strukturierung und zögernder Irritation wird – als vergleichbaren Prozess, einen Weg zu durchlaufen, einen Raum abstecken, tastend eine Strecke markierend, beschreibt Perec das Verfertigen seiner Bücher, unaufhörlich den Augenblick hinausschiebend, in dem das ungreifbare Bild, das er sich von der Literatur macht, greifbar würde, ähnlich wie ein Puzzle, das ein für alle Mal abgeschlossen wäre. 191 Doch das Puzzle bleibt unabschließbarer Prozess, ist ein trügerisches Spiel: »[…] l’espace organisé, cohérent, structuré, signifiant du tableau sera découpé non seulement en éléments inertes, amorphes, pauvres de signification et d’information, mais en éléments falsifiés, porteurs d’informations fausses […].« 192
In kommunikationstheoretischer Perspektive ist das Puzzle Figur einer trügerischen Interaktion, vergleichbar der Dialogstruktur von Sphinx und Ödipus im Kreuzworträtsel: »L’art du puzzle commence avec les puzzles de bois découpés à la main lorsque celui qui les fabrique entreprend de se poser toutes les questions que le joueur devra résoudre lorsque, au lieu de laisser le hasard brouiller les pistes, il entend lui substituer la ruse, le piège, l’illusion […].« 193
188 189 190 191
192 193
Georges Perec: »Préambule«, in: ders., La Vie mode d’emploi, S. 17-20. Dieser Text wid zu Beginn des 44. Roman-Kapitels wörtlich wiederholt. Vgl. G. Perec: »Préambule«, S. 18f. Ebd., S. 18. Vgl. Georges Perec: »Anmerkungen über das, was ich suche« (Anm. 160), S. 11. »Wie Borges’ Bibliothekare von Babel, die nach dem Buch suchen, das ihnen den Schlüsel zu allen anderen liefern soll, so schwanken wir zwischen der Illusion des Vollendeten und dem Rausch des Nichtfaßbaren. Im Namen des Vollendeten wollen wir glauben, daß es nur eine einzige Ordnung gibt, die uns ermöglicht, auf Anhieb zum Wissen zu gelangen; im Namen des Nichtfaßbaren wollen wir denken, daß Ordnung und Nichtordnung zwei gleiche Wörter sind, die den Zufall bezeichnen. Es kann aber auch sein, daß beide Lockmittel sind, Augentäuschungen, dazu bestimmt, den Verschleiß der Bücher und der Syteme zu verschleiern.« Georges Perec: »Kurze Anmerkungen über die Kunst und die Art und Weise seine Bücher zu ordnen«, in: ebd., S. 25-33, hier S. 33. G. Perec: »Préambule«, S. 19. Ebd.
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Perec erweitert die Idee der écriture mittels der Puzzle-Figur zu einem interaktionistischen Kommunikationsmodell 194 und führt die Puzzle-Spieler als strategisch handelnde Figuren ein, allerdings nicht als logisch, sondern als trügerisch agierende: »On en déduira quelque chose qui est sans doute l’ultime vérité du puzzle: en dépit des apparences, ce n’est pas un jeu solitaire: chaque geste que fait le poseur de puzzle, le faiseur de puzzle l’a fait avant lui; chaque pièce qu’il prend et reprend, qu’il examine, qu’il caresse, chaque combinaison qu’il essaye et essaye encore, chaque tâtonnement, chaque intuition, chaque espoir, chaque découragement, ont été décidés, calculés, étudiés par l’autre.« 195
In der Reflexionsfigur des Puzzle-Spiels konstruiert Perec ein Modell, das den Entwurfscharakter dissonanter, problematischer kognitiver Aktivitäten veranschaulicht, in dem Aspekte der Kommunikation, des Kognitiven, des Medialen und Kulturellen zusammenführt werden. Der Titelbegriff des »Lebens« ist in eben diesem Horizont zu verstehen, integriert phänomenologische und anthropologische, kommunikationstheoretische und kulturpoetische Dimensionen: »La vie c’est l’ensemble des choses matérielles. Tout ce qui a été fabriqué par l’homme depuis qu’il existe avec les moyens de communication, c’est-à-dire la transmission par la parole, l’activité mentale, l’activité intellectuelle. C’est ça la vie. […] Dans le langage, dans l’activité humaine, il y a au départ un besoin qui est de transmettre ces connaissances, de connaître ce qui vous entoure, de jouer avec, c’est une manière de la maîtriser, de l’interpréter et de rêver dessus. Tout ceci constitue la vie et cette activité d’écriture pour moi est une manière continuelle de me définir par rapport au monde dans lequel je suis, en essayant de le comprendre, en essayant de jouer avec, en essayant de l’interpréter, de le dominer par la parole.« 196
Anhand der Figur des Puzzle-Spiels lässt sich beobachten, wie eine Sinngeschichte der Schrift und der Literatur theoretische und interdisziplinäre Modelle heranzieht, um die Phänomene und Funktionsweisen der Schrift und der Literatur sowie poetologische Positionen in synkretistischer Integration diverser Methoden und Modelle zu bestimmen. Im Puzzle-Spiel konvergieren oulipistische Schrift-Theorie und Konzeptionen der écriture, es lässt sich eine Entwicklungsgeschichte rekonstruieren, die von mathematischen und kybernetischen Modellen ausgehend, strukturalistische und poststrukturalistische Theorien aufgreift sowie kommunikationstheoretische, kulturpoetische und medienanthropologische Argumentationen integriert. 197 Die Puzzle-Figur 194
195 196 197
Inwiefern diese Idee von Literatur als kommunikatives Modell von Produktion und Lektüre funktioniert, zeigt sich auch in den zahlreichen Leserreaktionen, die Perec auf seinen Roman erhielt, bis hin zu einem Puppenhaus, das die Erbauer der Romanfigur Elisabeth Winckler gewidmet haben. Vgl. G. Perec: Entretien, S. 10f. G. Perec: »Préambule«, S. 20. Georges Perec/Ewa Pawlikowska: »Entretien«, in: Littératures 7 (1983), S. 69-78, hier S. 74. Parallele Entwicklungen sind in der Literaturwissenschaft zu verfolgen: Aufbauend auf das rudimentäre Kommunikationsmodell von Shannon/Weaver
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3. EXPERIMENTELLE ÄSTHETIK DER SCHRIFT. GEORGES PEREC
verdeutlicht den Zusammenhang von Schrift, Kommunikation und Lebenswelt als performativen Prozess medialer und kultureller Entwürfe – entsprechend einer Auffassung von Kulturtechniken als »in Lebensformen verankerte routinierte Verfahren von Sprachspielen«, wie Sybille Krämer es einem Beitrag über den Zusammenhang zwischen Medien, Sprache und Kulturtechniken formuliert. 198 Kulturtechniken als Spiele zu verstehen, impliziert einen theatralen und inszenatorischen Aspekt, auf den beispielsweise Gerhard Neumann hinweist, indem er kulturelle Prozesse »als ein Spiel von Simulakren« beschreibt, 199 im Rückgriff auf Caillois und Schiller als Spiel, in dem der Mensch sich selbst die Regeln gibt und sich im Spiel selbst beobachtet.200 Diese Selbstbeobachtung, wie Medien bzw. Schrift spielerisch Sinn und Kultur in Szene setzen, unternimmt der Roman »La Vie mode d’emploi« – so in den durch die Figur Bartlebooth zusammengesetzten Puzzles. Diese Puzzles sind Aquarelle, die Bartlebooth während einer Weltumrundung an den entferntesten Häfen gemalt und anschließend zu Puzzleteilen hat zerlegen lassen. Das Puzzle-Spiel wird damit zur Rekonstruktion von Bildern einer fremden Welt, zum Modell medialer und kultureller Erfahrungskonstruktion. Muster des Reiseromans und der Abenteuerliteratur aufgreifend, inszeniert der Roman Entdeckungsszenen, die als Inbegriff des Theaters menschlicher Erkenntnis zu verstehen sind und als Urszenen von Kultur. Im Puzzle-Modell werden diese Entdeckungsszenen als kulturelle und mediale reflektiert, schließen sich phänomenologische und ästhetische Aspekte, Fragen der Wahrnehmungsdispositive und Lebensweltkonstruktionen zusammen. In diesem Sinne funktioniert der Roman als Medium der Inszenierung und Reflexion medialer, lebensweltlicher bzw. kultureller Konstruktionen. 201 An dieser Stelle lässt sich parallel zu oulipistischer und ’pataphysischer Poetik ein Spiel-Begriff beobachten, der ausgehend von mathematischen, kybernetischen und automatentheoretischen über strukturalistische, systemische und semiotische Modelle bei Perec zu einem kulturellen, performativen und medienanthropologischen Spiel-Konzept wird.
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greifen Bense und Moles Ansätze der Informationstheorie für die Textanalyse und Literaturtheorie auf. Konstruktivistisch und kognitionstheoretisch ausgerichtete Ansätze entwickelnd diese Grundlage weiter. Siehe Rusch, G.: Autopoiesis, Literatur, Wissenschaft. Als Bindeglied und zugleich medientheoretische Weiterentwicklung fungiert S.J. Schmidt: Kognitive Autonomie und soziale Orientierung. Zu einer Medien- und Kulturgeschichte literarischer Kommunikation siehe A. Assmann: »Metamorphosen der Hermeneutik«. Zur Kulturpoetik siehe die gleichnamige Zeitschrift. Siehe Sybille Krämer: »Über den Zusammenhang zwischen Medien, Sprache und Kulturtechniken«, in: Werner Kallmeyer (Hg.), Sprache und neue Medien. Berlin, New York 2000, S. 31-56, hier S. 39. Gerhard Neumann/Sigrid Weigel: »Einleitung der Herausgeber«, in: dies. (Hg.), Lesbarkeit der Kultur, S. 9-16, S. 16. Dieser Band »Lesbarkeit der Kultur« schließt an an folgenden Sammelband an: G. Neumann (Hg.): Poststrukturalismus. Siehe Gerhard Neumann: »Ein fast unendliches Spiel«, in: Heinrich Bosse/Ursula Renner (Hg.), Literaturwissenschaft. Einführung in ein Sprachspiel. Freiburg i. Br. 1999, S. 7-15. Siehe dazu auch eine phänomenologisch orientierte literarische Anthropologie, wie sie mit dem Namen Wolfgang Iser verbunden ist, der ebenfalls das Modell des Spiels aufgreifend, das Entwerfen möglicher Welten in einem Prozess der Interaktionen von Fiktivem, Realem und Imaginärem, im Spiel von Mimesis und Performanz beschreibt. W. Iser: Das Fiktive und das Imaginäre.
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Mit Blick auf die literarturtheoretische Entwicklung und mit Blick auf den Spiel-Begriff lässt sich die von Gumbrecht formulierte Symptomfunktion des écriture-Konzepts bezüglich der jeweiligen zeitgenössischen Theoriebildung in Geistes- und Kulturwissenschaften unterstreichen. Perecs Puzzle-Bild ist in diesem Sinne symptomatisch für die Reflexion eines Schrift-Begriffs, der Schrift als Prozess medialer Verkörperungen und kultureller Entwürfe versteht. Allerdings, und diesbezüglich lässt sich an Karl Ludwig Pfeiffer anschließen, beschreibt Perec in der Puzzle-Figur nicht nur Schreiben und Text, Kommunikation und Kognition, Literatur und Kultur als strategisches interaktives Spiel, sondern er führt vor, dass das Spiel nicht aufgeht, er inszeniert nicht allein das Puzzle, sondern setzt sein Scheitern in Szene: Bartlebooth stirbt mit einem w-förmigen Puzzle in der Hand vor einer x-förmigen Lücke. Die Täuschungen und Strategien des Puzzle-Machers sind vom Spieler nicht zu durchschauen, Lektüren, Interpretationen gehen fehl. Die Inszenierung dieses Trügerischen und der Zusammenbrüche sinnhafter Konstruktionen durchzieht den Roman in allen seinen Facetten, wird nicht nur in der programmatischen Einleitung zur Kunst des Puzzles beschrieben, sondern Inkompatibilitäten und Inkohärenzen werden auf struktureller, semiotischer und erzählerischer, grafischer und paratextueller Ebene vorführt. Diese Differenzialität und Durchstreichung kohärenter Sinnbildungen ist symptomatisch für einen écriture-Begriff wie ihn die postrukturalistische und dekonstruktivistische Schrift-Philosophie entwirft, wie ihn exemplarisch Derrida in der Auseinandersetzung mit Searle als durch Dissemination bzw. Polysemie, Zitathaftigkeit und Iterierbarkeit geprägt skizziert. 202 Dass die Puzzle-Figur eine Entwicklungsgeschichte von Schrift- und Textkonzeptionen integriert, spiegelt sich in der Forschungsliteratur zu »La Vie mode d’emploi« wider, die darin symptomatisch für die analoge Entwicklung der Literaturtheorie und ihre Fokussierung auf unterschiedliche Konzeptionen von Schrift und die daraus abgeleiteten strukturalistischen und differenztheoretischen Interpretationen ist: Neben textstrukturellen und semiotischen Lektüren, welche intra- und intertextuelle Dimensionen sowie Zitatpraktiken aufzeigen und oftmals auf die Beschreibung der »métaphore métatextuelle« als grundlegendes Organisationsprinzip zulaufen, 203 stehen dekonstruktivistisch ausgerichtete Versuche, die die Komplexität des Perec’schen Textes bzw. seine »pratique scripturale« in der Lektüre nachzubilden versuchen. 204 Bernard Magné weist allerdings darauf hin, dass Perecs Schreibpraxis sich zwar auf eine de202 203
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Siehe J. Derrida: »Signatur, Ereignis, Kontext«. Siehe bspw. Ewa Pawlikowska: »Citation, prise d’écriture«, in: Cahiers Georges Perec. Nr. 1, S. 213-231. Pawlinowska verweist gegen Ende ihres Aufsatzes auf Magné und seine maßgebliche Deutung der »métaphore textuelle«; siehe B. Magné: »Le Métatextuel«; siehe dazu auch: Bernard Magné: »Le puzzle mode d’emploi. Petit propédeutique à une lecture métatextuelle de La Vie mode d’emploi de Georges Perec«, in: ders., Perecollages, S. 3360. Magné erläutert insb. die Puzzle-Metapher in ihrer metatextuellen Funktion, d. h. in ihrer autorepresentativen Funktion, die Struktur des Romans widerzuspiegeln. Der Band »écrire/transformer« der »Etudes littéraires« steht exemplarisch für diese dekonstruktivistischen Relektüren des Romans als »schreibbarer Text«. Bernard Magné geht in seinen »Perecollages«, ausgehend von einer an der Kunst des Puzzles orientierten strukturalistischen Lektüre, unter anderem der Konnexion von »Ecriture et déconstruction« in den Texten Georges Perecs nach; vgl. B. Magné: Perecollages, S. 231-238.
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konstruierte Sprache beziehe – »L’activité fictionelle et scripturale suppose un éspace langagier préalablement déconstruit«205 –, die aber nicht auf zeitgenössische poststrukturalistische Sprachphilosophie zurückzuführen sei, sondern auf die antike Weltanschauung, wie sie mit dem Namen Epikur verbunden ist, den auch Perec selber in einem Interview zitiert: »Le monde fonctionne, parce qu’au début il y a un déséquilibre.« 206 Diese Akzentverschiebung, die Magné vornimmt, rückt die phänomenologischen und anthropologischen Implikationen einer Schrift-Konzeption, die Sinnbildung als trügerische vorstellt, in den Vordergrund. Diesen Aspekten der Vieldeutigkeit, Heterogenität und Zitathaftigkeit medialer und kultureller Entwürfe von Lebenswelten unterstreicht auch der Phänomenologie Bernhard Waldenfels, der das selbstreflexive Potenzial der Literatur und insbesondere des modernen Romans hervorhebt und die literarischen Sprachspiele zum Modellfall lebensweltlicher Konstruktion erklärt: »Das Spiel mit den Grenzen erzeugt eigentümliche Paradoxien eben dann, wenn die Grenzen nicht festliegen, sondern in Eigenbewegung geraten. [...] Man spricht und schreibt an den Grenzen über die Grenzen.« 207 Literatur wird zum exemplarischen Experiment mit der Wirklichkeit, setzt die Inkohärenzen und Dissonanzen der Weltund Sinnkonstruktionen in Szene. Dass der Roman und, wie anhand von Perecs Puzzle-Modell nachvollziehbar, damit die Konzeption von Schrift bzw. écriture zum Modellfall lebensweltlicher Konstruktion wird, zeigt symptomatisch eine veränderte Konzeption von Wirklichkeit an, wie sie sich durch die wissensgeschichtliche Orientierung zu Medien und Kultur vollzieht. Literatur wird insofern zum Modellfall, als es die Konnexion von Systematik und Phantastik, die spielerische Organisation von Fiktivem, Realem und Imaginärem vorführt, reflektiert und in Szene setzt. Diese Spiele phantastischer Wissensorganisationen und Sinnwelten seien im postmodernen Roman insbesondere vor dem Hintergrund der Diskussionen um Realismus und Experiment zu beobachten, erläutert auch Christian Schärf in seiner Betrachtung zum Roman im zwanzigsten Jahrhundert und hat dabei insbesondere Borges, Calvino und Perec im Blick. Das Phantastische, seit Don Quichotte das Gebiet romanesker Fiktion, trete im Spannungsfeld von Kombinatorik und Phantastik wieder in den Vordergrund. 208 Experiment, Spiel und Phantastik verknüpft in dem Roman »La Vie mode d’emploi« nicht nur die Figur des Puzzle-Spiels, sondern die Konnexion von Medialem und Imaginärem verkörpert auch die Figur des Mäanders, die das letzte der Puzzle Bartlebooths veranschaulicht: »Il représente un petit port des Dardanelles près de l’embouchure de ce fleuve que les Anciens appelaient Maiandros, le Méandre« (VME, 574): »Au-delà, sur toute la partie droite de l’aquarelle, loin déjà à l’intérieur des terres, les ruines d’une cité antique apparaissent avec une précision surprenante: miraculeusement conservé pendant des siècles et des siècles sous les couches d’alluvions charriées par le fleuve sinueux, le dallage de marbre et de pierre taillée des rues, des demeures et des temples, récemment mis à jour, dessine sur le 205 206 207 208
Ebd., S. 232. G. Perec/E. Pawlikowska: »Entretien«, S. 70. B. Waldenfels: Die Vielstimmigkeit der Rede, S. 184; siehe auch ders.: »Experimente mit der Wirklichkeit«. Siehe Christian Schärf: »Kombinatorik, Performativität und das Ende der Fiktionen«, in: ders., Der Roman im 20. Jahrhundert, S. 177-178.
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SZENEN DER SCHRIFT sol même une exacte empreinte de la ville: c’est un entrecroisement de ruelles d’une étroitesse extrême, plan, à l’échelle, d’un labyrinthe exemplaire fait d’impasses, d’arrière-cours, de carre-fours, de chemins de traverse, enserrant les vestiges d’une acropole vaste et somptueuse bordée de restes de colonnes, d’arcades effondrées, d’escaliers béants ouvrant sur des terrasses affaissées, comme si, au cœur de ce dédale presque déjà fossile, cette esplanade insoupçonnable avait été dissimulée exprès, à l’image de ces palais des contes orientaux où l’on mène la nuit un personnage qui, reconduit chez lui avant le jour, ne soit pas pouvoir retrouver la demeure magique où il finit par croire qu’il n‘est allé qu’en rêve. Un ciel violent, crépusculaire, traversé de nuages rouge sombre, surplombe ce paysage immobile et écrasé d’où toute vie semble avoir été bannie.« (VME, 575)
Der Mäander wird hier zur selbstreflexiven Figur der Genese und der Entzifferung von Schrift und Literatur, 209 verbindet die Vorstellung archäologischer Arbeit, rekonstruierenden Ordnens und phantastischer Imagination. 210 Die Dimensionen des Topografischen und des Pikturalen, Bilder des Architektonischen, der Raum und seine Durchquerung, sind Figuren, die auch das Motto des Romans formuliert: »L’œil suit les chemins que lui ont été ménagés dans l’œuvre.« (VME, 17) Diese Metapher räumlicher Bewegung macht Perec zur zentralen Figur für den Prozess der Schrift: »Si vous voulez, je peux définir mon écriture comme une espèce de parcours […].« 211 Mäander, »polygraphe du cavalier«, Labyrinth und Puzzle veranschaulichen Schrift als prozessuale, dynamische und zugleich topografische Struktur. 212 Diese Dimension räumlicher Strukturierung einerseits und die Reihe
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Vgl. Benoît Peeters: »Échafaudages«, in: Cahiers Georges Perec. Nr. 1, S. 178-192. Peeters zeichnet Perecs Schreiben in einem Modell nach, das von einer Praxis der Schrift (écriture) ausgeht, über die Schrift der Lektüre (écriture de la lecture) zur Lektüre (lecture) führt, und sieht den Mäander als Figur dieser Genese der Schrift. In seinem dreistufigen Modell der Lektüre, das auf einer ersten Ebene einen realistischen Roman annimmt, auf der zweiten Ebene die Struktur verortet, liegt auf der dritten Ebene die Entzifferung, die geduldige Auslegung. Vergleichbar dem Turm zu Babel oder der Figur der Spirale wird, so Peeters, die mäandrische Figur zur Fabel ihrer eigenen Entzifferung. Bernard Magné zieht in seinem Aufsatz »Un puzzle de 100 pièces« (in: Magazine littéraire 193 (1983), S. 29-31) die Verbindung dieses Roman-Puzzles zur potenziellen Literatur über den Raum des Textes. Diese Erkundung des Raumes vergleicht Marc Sagnol mit Walter Benjamins Archäologie der Moderne. Die archäologische Methode wird bei Perec und Benjamin zu einer Arbeit des Sammelns und Kartografierens. Marc Sagnol: »Des Passages Parisiens à la rue Simon-Crubellier. A propos de quelques motifs benjaminiens chez Perec«, in: Littératures 7 (1983), S. 91-98. Sagnols Aufsatz zu einigen Motiven bei Benjamin und Perec bezieht sich auf diese archäologische Tätigkeit des Sammelns, auf das Miniaturistische und Enzyklopädische, auf die mises en abyme und die unendlichen Wiederholungen selbstähnlicher Modelle einer immergleichen Welt; Sagnol verweist schließlich auf das Puzzle und die Geste des Allegorikers, den beiden eine topografische Wahrnehmung zugrunde liegt. G. Perec: »Pouvoirs et limites«, S. 36. Siehe Zitat zu Anm. 134. Ergänzen lassen sich diese Figuren durch das »mobile Labyrinth«, eine das prozessuale Moment des Topografischen unterstreichende Form des TextLabyrinths; siehe dazu Monika Schmitz-Emans: »Text-Labyrinthe. Das Laby-
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3. EXPERIMENTELLE ÄSTHETIK DER SCHRIFT. GEORGES PEREC
selbstähnlicher Figuren andererseits setzen sich im Roman in einer Vielzahl von Modellen fort, beispielsweise in den phantastischer Landkarten und Weltkarten. Der Roman wird nach und nach zu einem Spiegelkabinett von Modellen der Schrift und der Literatur als Vermessung phantastischer Territorien. Die Karte steht hier exemplarisch für die Konstruktion von Wissen und Weltbildern in der Interaktion sinnlicher Anschauung (Reise), medialer Gestaltung, hier durch grafische Künste (Karte), und wissenschaftlicher Aufzeichnungs- bzw. Erkenntnissysteme (Topografie, Geografie). Dieses topografische Modell lässt sich auch der Vermessung von Bedeutungen auf der Ebene der Schrift zugrunde legen, wie Deleuze und Guattari es für die écriture als Spiel von Karte und Territorium entwickelt haben, das Wolfgang Iser für die Relation von Signifikant und Signifikat im fiktionalen Sprachgebrauch durchdenkt: »Denn die Sprache verhält sich zu den von ihr bezeichneten Gegenständen etwa so, wie eine Landkarte zu den durch sie topographierten Territorien. Danach wären alle Sprachzeichen als solche abstrahierende ›Abbilder‹ von dem, was sie durch ihre Beziehung bezeichnen. Wenn dieses Verhältnis durch den fiktionalisierten Signifikanten unter Spielbedingungen rückt, ergeben sich weitreichende Veränderungen. Der gespaltene Signifikant muß nun das ganze Verhältnis von Karte und Territorium tragen.« 213
Im Horizont der Fiktion entwirft der Signifikant das Signifikat, organisiert das Verhältnis von Karte und abgebildetem Territorium. Der in diesem Sinne gespaltene Signifikant erzeugt ein Vorstellungsterritorium bzw. eine »potenzielle Variabilität des Vorstellungsterritoriums, dessen Konturierung nicht festgelegt, sondern immer nur in wechselnden Nuancierungen erspielt werden kann.« 214 Dieses Spiel ist selbstreflexiv, insofern die Zeichenhandlung im Modus des Fiktiven die – in medienorientierter Perspektive – für alle Sprachhandlungen gültige Interaktionen des Imaginären, Fiktiven und Realen modellhaft verkörpert. Der Karte und Territorium organisierende Signifikant wird so zum Modell medial erzeugter Weltentwürfe und führt den Vollzug, in Sprache über Sprache zu reden, vor: »Nur als Spiel ist Meta-Kommunikation über Sprachhandlung möglich [...]. Das Sprachspiel des gespalteten Signifikanten präsentiert sich daher als Vollzug einer Sprachhandlung und deren Inszenierung zugleich.« 215 Ausgehend von der Reflexion fiktiver Sprachhandlungen entwirft Iser eine medienästhetische Perspektive auf eine den eigenen Vollzug und die eigene Gestaltung in Szene setzenden Sprache bzw. Schrift. Perecs Figuren der Schrift und der Literatur erweisen sich insofern als medienästhetische Reflexionsfiguren, als sie beispielsweise Kartografie als Dispositiv von Bewegung beschreiben 216 und so den Vollzug, das Performative, die generative Seite des Entwerfens von Sinnwelten und die Arten der Hervorbringungen in den Vordergrund stellen und in den unterschiedlichen Dimensionen des Romans zur Anschauung bringen.
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rinth als Beschreibungsmodell für Texte«, in: K. Röttgers/dies. (Hg.), Labyrinthe, S. 135-166. Siehe dazu das Kapitel: »Das Spiel von Karte-Territorium-Relation«, in: W. Iser: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 426-430, hier S. 427f. Ebd., S. 429. Ebd., S. 430. Siehe dazu auch G. Brandstetter: »Figur und Inversion«.
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SZENEN DER SCHRIFT
Über diese Figuren wird der Roman zu einem Theater der sich selbst vorführenden Schrift. Exemplarisch wird dies in der grundlegenden Konstellation von Reisen und Kartografieren, Schreiben und Bewegung, die Perec als spielerische Transgression von Räumen, Gattungen und textuellen Aufzeichnungssystemen in Szene setzt. 217 Schriftliche und literarische, theatrale und kulturelle Performanz funktionieren nach vergleichbaren Mustern der Inszenierung von Bedeutungsspielen. Einerseits ist »La Vie mode d’emploi« als prototypischer Reise-Roman lesbar, im Sinne einer literarischen Gattung wie als Muster der Organisation kultureller Bedeutungen oder als medienästhetische Reflexionsfigur, andererseits wird in diesen Modellen auch die Grenze zwischen Gelingen und Misslingen der Zeichenprozesse, der Organisation von Schrift und literarischen Mustern vorgeführt. Schon das traditionelle Muster des Reiseromans funktioniert nicht: Bartlebooths’ Reisen thematisieren keinen Kontakt mit fremden Welten, die Aquarelle können nicht als Medien der kulturellen Konstruktion dienen, da sie als einziges Motiv Häfen abbilden und Perec eingangs die Unwichtigkeit des auf einem Puzzle Abgebildeten betont. Fokussiert wird die Konstruktion sprachlicher, literarischer oder kultureller Bedeutung, die Schwellenbereiche auf der Ebene der materiellen Organisation, die Muster der Schrift und der Literatur, die medialen Organisationsprozesse. Schrift und Literatur inszenieren sich als Transgressionsformen medialer Verkörperung. Neben der Vielfalt romanesker Genres, die der Roman verarbeitet, steht eine komplexe paratextuelle Organisation, die im Anhang eine Reihe von grafischen, tabellarischen und systematischen Textformen, beispielweise einen grafischen Aufriss des Hauses oder eine Liste von Schlagwörtern präsentiert, die unterschiedliche Organisationsformen des Literarischen und mögliche Formen der Lektüre, Dynamik und topografische Organisationen im Textkonvolut vorstellen: »C’est un livre avec lequel on joue, je crois, comme on joue avec un puzzle. C’est pour cette raison qu’il y a un index à la fin. Pour que l’on puisse reconstituer soi-même des histoires ou suivre des histoires qui ne sont pas entièrement racontées.« 218 Perecs Konzeption von Schrift und Literatur erweist sich in dieser Perspektive als topografisch, vergleichbar Calvinos Formulierung: »Das Buch ist in erster Linie Figur – die Spielkarten des Tarock – und an zweiter Stelle geschriebenes Wort«. 219 Die Figur des Puzzle-Spiels lässt sich über ihre symptomatische Funktion, zeitgenössische Konzeptionen von écriture und Literatur sichtbar zu machen, als medienästhetische Figur verstehen, insofern sie, als grundlegendes 217
218 219
Eine dieser schriftlichen und textuellen Organisation von Spielen des Fiktiven, Realen und Imaginären vergleichbare Organisation des Schwellenbereichs von cultural performance und theatraler Aufführung fokussieren theaterwissenschaftliche Theorien des Performativen. Siehe R. Schechner: Theater-Anthropologie; E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen; dies./D. Kolesch (Hg.): Die Kulturen des Performativen; E. Fischer-Lichte u.a. (Hg.): Performativität und Ereignis; dies. (Hg.): Theatralität und die Krisen der Repräsentation. Für das Genre des Reiseromans beschreibt Ottmar Ette die Organisation von Raum und Dynamik, Reisen und Schreiben in der Grenzüberschreitung: Ottmar Ette: Literatur in Bewegung. Raum und Dynamik grenzüberschreitenden Schreibens in Europa und Amerika, Göttingen 2001. G. Perec: Entretien, S. 11. Calvino, Italo: »Nachbemerkungen von Italo Calvino für die deutsche Ausgabe«, in: ders., Das Schloß, darin sich Schicksale kreuzen, Berlin 2000, S. 133-140, hier S. 133.
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3. EXPERIMENTELLE ÄSTHETIK DER SCHRIFT. GEORGES PEREC
Prinzip des Romans »La Vie mode d’emploi«, diese Konzeptionen von Schrift in den unterschiedlichsten strukturellen, semiotischen und materiellen Formen verkörpert, reflektiert und im Vollzug zeigt. Das Differenzielle, Trügerische, Spielerische und Performative sind Aspekte der Medialität der Schrift. Literatur als ästhetische Praxis macht diese Aspekte sichtbar und führt sie – demonstrierend und selbstreflexiv – vor. In Perecs Poetik und Ästhetik kommt dabei der Frage nach der Repräsentationsproblematik, der Frage nach Fiktion und Täuschung besondere Aufmerksamkeit zu. Die im Folgenden beschriebene Ästhetik des trompe l’œil ist dabei als Figur medialer Reflexion zu verstehen. Die zwei zentralen Szenen, der tote Bartlebooth mit dem nicht passenden Puzzleteil in der Hand und das kaum skizzierte Bild des Roman-Gebäudes auf der Leinwand des ebenfalls verstorbenen Malers Valènes, bilden den Ausgangspunkt der Überlegungen zu trompe l’œil, Fiktion und Simulation.
3.2.3 Ästhetik des trompe l’œil »Une grande toile carrée de plus de deux mètres de côté était posé à côté de la fenêtre, réduisant de moitié l’espace étroit de la chambre de bonne où il [Valène; P.G.] avait passé la plus grande partie de sa vie. La toile était pratiquement vierge: quelques traits au fusain, soigneusement tracés, la divisant en carrés réguliers, esquisse d’un plan en coupe d’un immeuble qu’aucune figure, désormais, ne viendrait habiter.« (VME, 580)
Die Schlüsselszenen des Romans, die Inkohärenz von Puzzleteil und verbleibender Lücke sowie die nur mit wenigen skizzenhaften Strichen bedeckte Leere auf der Leinwand des Malers Valène, verweisen auf die den Roman grundlegend durchziehenden Thematiken der Repräsentation und der Imagination. Das um das Puzzle-Spiel entworfene Lebensprojekt der Figuren Bartlebooth und Winckler verdeutlicht grundlegende Aspekte dieser Repräsentationsproblematik. Nach einem geregelten Programm verfolgt Bartlebooth sein um ein einziges »künstlerisch-existenzielles« Projekt organisiertes Leben: fünf Jahre lang erlernt er die Techniken des Aquarellmalens, zwanzig Jahre bereist er nach einem genauen Zeitplan die Welt, um die Häfen der Welt in einem vorgegebenen Format zu malen und an Winckler zu senden, welcher aus den Blättern Puzzles zu je 750 Teilen (de)konstruiert, die Bartlebooth in den darauf folgenden zwanzig Jahren wieder zusammensetzt, sodass die Aquarelle anschließend wieder von ihrem Untergrund gelöst, zu ihrem Entstehungshafen zurückgebracht und dem Meer übergeben werden können. »Aucune trace, ainsi, ne resterait de cette opération qui aurait, pendant cinquante ans, entièrement mobilisé son auteur.« (VME, 154). Nicht die Weltumrundung, traditionelles Initiationsmotiv des Reise- und Abenteuerromans, und nicht die abgebildeten Häfen stehen im Vordergrund, sondern das Puzzle-Programm. 220 Ziel dieses Projektes ist:
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»›Ce ne sont pas les aquarelles qui m’intéressent, c’est ce que j’en veux faire.‹ ›Et que voulez-vous en faire?‹ ›Mais des puzzles, bien-sûr‹, répondit sans la moindre hésitation Bartlebooth.« (VME, 152)
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SZENEN DER SCHRIFT »de saisir, de décrire, d’épuiser, non la totalité du monde — projet que son seul énoncé suffit à ruiner — mais un fragment constitué de celui-ci: face à l’inextricable incohérence du monde, il s’agira alors d’accomplir jusqu’au bout un programme, restreint sans doute, mais entier, intact, irréductible.« (VME, 152)
Für dieses offensichtlich und bewusst arbiträre Programm werden drei leitende Prinzipien formuliert: das moralische, das Projekt verfolge kein anderes Ziel als den Selbstzweck, das logische, es werden, um den Zufall auszuschließen, identische Ereignisse in einem abstrakten Raum-Zeit-Koordinatensystem produziert, und das ästhetische Prinzip eines sich mit fortschreitender Erfüllung des Projektes vollziehenden Auslöschungsprozesses: »le projet se détruirait lui même au fur et à mesure qu’il s’accomplirait; sa perfection serait circulaire: une succession d’événements qui, en s’enchaînant, s’annuleraient: parti de rien, Bartlebooth reviendrait au rien, à travers des transformations précises d’objets finis.« (VME, 153)
Reise, Roman und Schrift werden als Programmierung von Ereignissen vorgestellt, wobei nicht die Ereignisse oder ihre Ereignishaftigkeit im Vordergrund stehen, sondern der Verkörperungsprozess von Generierung und Auslöschung, die Perfomativität medialer Gestaltungsprozesse von Ereignissen wird ins Zentrum der ästhetischen Reflexion und Inszenierung gerückt. Perec entwirft eine Ästhetik des Medialen und des Performativen, wie sie Dieter Mersch in seinem Band »Ereignis und Aura« vorstellt und in Verbindung mit Performativität als »Akt, Vollzug, Setzung« das Ereignishafte als gemeinsames Moment von Medialität und Performativität hervorhebt. 221 Diese Kategorie der Ereignishaftigkeit, nicht nur von Bedeutungsgeschehen sondern auch von Wahrnehmung, wird in eine Ästhetik eingebunden; die Theorie des Wahrnehmungsaktes, der aisthetik, wird als Ereignisästhetik entworfen. Die Programmatik des Puzzle-Projekts lässt sich an die aktuellen phänomenologisch orientierten Diskurse zu Wahrnehmung und Medialität und die in diesen Mediendiskursen zu beobachtende Metaphorik des Medialen 222 anschließen, die das Mediale als Differenzfigur denken, als »differentielles Spiel des Erscheinen-Lassens«: »Medialität hieße Gestaltwechsel durch Gestaltentzug zu exponieren und zu konfigurieren – ein Zwischenraum zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem, in dem sich – stets anders – eben dieses ›Zwischen‹ re-präsentiert.« 223 Die Konzeption von Schrift und Literatur als Inszenierung von Ereignissen und ihren Gestaltungsprozessen bildet den Mittelpunkt dessen, was sich heute unter dem Begriff des Medienästhetischen als Inszenierung medialer Wahrnehmungsereignisse beschreiben lässt. 224 221 222 223 224
Siehe D. Mersch: Ereignis und Aura; ergänzend E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen. Siehe G.C. Tholen: Die Zäsur der Medien. G.C. Tholen: »Überschneidungen«, S. 20. Umstritten ist, wie sehr dieses »Zu-Erscheinen-Geben« als intentionale Inszenierung oder als Ereignis im Sinne eines passiven Geschehens, Widerfahrens, und damit als Ermöglichung amedialer Erfahrung zu verstehen ist. Dieter Mersch — und daher greift er auf Walther Benjamins Begriff des Auratischen zurück — geht von einem Zusammenspiel von »Medialität sinnlicher Erscheinungen und der Möglichkeit eines Hervorspringens ›amedialer‹ Momente« aus. D. Mersch: Ereignis und Aura, S. 20. Auf diese Spannung hin
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3. EXPERIMENTELLE ÄSTHETIK DER SCHRIFT. GEORGES PEREC
Der Prozess der Puzzle-Konstruktion – verallgemeinert: mediale Verkörperungsprozesse – werden nicht als rein logische vorgestellt, wie man es von einem Rätsel und seinem Lösungsprozess erwarten würde, sondern als Akt physisch-emotionaler Grenzerfahrung: »D’ordinaire, d’ivresses en abattements, d’exaltations en désespoirs, d’attentes fiévreuses en éphèmeres certitudes, le puzzle se complétait dans des délais prévus […].« (VME, 401). Diese affektiven Momente des Ästhetischen und der (textuellen) Verkörperung nähern Perecs Programmatik der »Lust am Text« Roland Barthes’ an: »Die Lust am Text, das ist jener Moment, wo mein Körper seinen eigenen Ideen folgt – denn mein Körper hat nicht dieselben Ideen wie ich.« 225 Die Komplemetarität von Logik und Ästhetik in einem von Unsicherheiten und Ambivalenzen geprägten Konstruktions- und Wahrnehmungsprozess macht der Roman in seinen unterschiedlichen Dimensionen deutlich. Es ist eine Zeichnung W.E. Hills, die zugleich ein junges Mädchen und alte Frau zeigt – und als solche für gestalttheoretische Fragen, Wahrnehmungs- und Kognitionstheorie als zentrale Figur herangezogen wird –, die Schwellenbereiche der Wahrnehmung und des Erscheinenlassens veranschaulicht und zugleich die Unsicherheit von Wahrnehmungskonstruktionen vor Augen führt. Auf diese Figur wird im Roman im Zusammenhang mit der Reflexion der Interaktion von Puzzle-Konstrukteur und Puzzle-Spieler verwiesen (vgl. VWE, 400): Wie ein Schachspieler versucht Bartlebooth die ihm von Winkler gestellten Täuschungen und Fallen zu erkennen, die einzelnen Puzzleteile im virtuellen Zusammenhang des Ganzen zu sehen, was ihn zwingt, potenzielle Leerräume und mögliche Formen des Puzzleteils je nach Drehung zusammenzudenken, ein Wahrnehmungsprozess, in dem das Sehen und die Imagination interagieren. Im Rückgriff auf diese trügerische Figur W.E. Hills wird das Puzzle-Projekt zu einem Prozess des »voir autrement«, Wahrnehmungen werden als Operationen des »déplacement« beschrieben (vgl. VME, 400). In der Perec-Forschung wird die Figur Hills als semiotisches MetaZeichen gedeutet, das die »infinité de lectures plurielles« 226 veranschauliche, unterstützt durch eine rezeptionsästhetische Sicht auf das fast leere Gemälde Valènes, das zu einem Bild für die in der Lektüre zu ergänzenden Leerstellen des Textes wird: »c’est sans doute à chaque lecteur d’investir cet espace, de se l’approprier, de l’apprivoiser, de le rendre, très précisement, habitable.« 227 Diese semiotisch-konstruktivistischen Argumentationen – auch in ihrer medienästhetischen Ergänzung – konvergieren in einer Poetik des Potenziellen: »tout n’est pas permis, tout redevient possible«.228 Das Puzzle in seiner trügerischen Gestaltung wie auch die zwischen zwei Anschauungen oszillierende Figur W.E. Hills lassen sich als Figuren einer Poetik und einer Ästhetik des trompe l’œil verstehen. Michel Foucault beschreibt das trompe l’œil als Figur einer Repräsentationsordnung, die sich im Umbruch befindet. Anfang des siebzehnten Jahrhunderts, wie Foucault es in seiner Archäologie der Humanwissenschaften beschreibt, wird Ähnlichkeit nicht mehr als Form des Wissens, sondern als An-
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sieht er die Praxis der performativen Künste, bei John Cage, Joseph Beuys und anderen, ausgerichtet. R. Barthes: Die Lust am Text, S. 26. Bernard Magné: »Préface«, in: G. Perec, La Vie mode d’emploi, S. 7-10, hier S. 10. Ebd. Ebd., S. 9.
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lass des Irrtums empfunden, das Zeitalter der Ähnlichkeit findet seinen Abschluss. »Hinter sich läßt es nur Spiele, deren Zauberkräfte um jene neue Verwandtschaft der Ähnlichkeit und der Illusion wachsen. Überall zeichnen sich Gespinste der Ähnlichkeit ab, aber man weiß, daß es Chimären sind. Es ist die privilegierte Zeit des trompe l’œil, der komischen Illusion, des Theaters, das sich verdoppelt und ein Theater repräsentiert, des Quiproquo, der Träume und Visionen. Es ist die Zeit der Sinnestäuschungen, die Zeit in der die Metaphern, die Vergleiche und die Allegorien der poetischen Raum der Sprache definieren.« 229
Die Epochen des Barock und des Manierismus sind die Zeiten des Trügerischen und Verräterischen, der Figuren des Imaginären und Manischen – Ähnlichkeiten zur epistemischen Situation Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts erscheinen nicht zufällig. 230 Theoriegeschichtlich aufschlussreich weist Horst Bredekamp beispielsweise auf die Affinität Niklas Luhmanns zur Kunsttheorie und insbesondere zur Epoche des Manierismus hin: »Ihr Leitbegriff ist der disegno, die Linie, die zwischen Gedankenkunst und Realisierung vermittelt und zugleich das Konzept von der Umsetzung trennt. Im disegno erkannte Luhmann die früheste Formulierung seiner eigenen Annahme, dass das Ziehen von Unterscheidungslinien die Grundlage jeder Differenzierung sei: ›[...] An sich ist es nichts anderes als ein Sonderfall der Aufforderung Spencer Browns: »draw a distinction«. [...] Wie nie zuvor wird in jener ersten Welle der Kunstreflexion sichtbar, daß das Sichtbarmachen auf eine Grenzziehung zum unsichtbar Bleibenden hinausläuft. Kunst schließt ein, was sie ausschließt, indem sie Form gewinnt.‹« 231
Im Bezug auf Umberto Eco lässt sich Postmoderne nicht als Epochenbegriff, sondern als Geisteshaltung einer manieristischen Ästhetik verstehen: »Man könnte, geradezu sagen, daß jede Epoche ihre eigene Postmoderne hat, so wie man gesagt hat, jede Epoche habe ihren eignenen Manierismus (und vielleicht,
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231
M. Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 83f. Siehe bspw. Achille Bonito Oliva: Die Ideologie des Verräters. Manieristische Kunst — Kunst des Manierismus, Köln 2000. Solche historischen Genealogien lassen sich nicht nur in stil- und ideengeschichtlicher Perspektive ziehen, sondern auch in medientheoretischer Hinsicht, wie der Bredekamp-Schüler Stefan Römer in einer Analyse künstlerischer Strategien des Fake — im Sinne von »Täuschung«, »Verschleierung«, »Heucheln«, »Vortäuschen«, »Erfinden« — als Kritik der Dichotomie von Original und Fälschung unternimmt; vgl. Stefan Römer: Künstlerische Strategien des Fake. Kritik von Original und Fälschung, Köln 2000, S. 14. Römer versteht unter Fake eine künstlerische Strategie, die sich von vornherein selbst als Fälschung bezeichnet. Siehe ergänzend Horst Bredekamp: »Der Manierismus der Moderne. Zur Problematik einer kunsthistorischen Erfolgsgeschichte«, in: Joachim Jäger/Klaus-Peter Schuster(Hg.), Das Ende des XX. Jahrhunderts. Standpunkte zur Kunst in Deutschland, Köln 2000, S. 277-198. H. Bredekamp: »Der Manierismus der Moderne«, S. 277; Bredekamp zitiert N. Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft, S. 426f., vgl. auch S. 73.
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3. EXPERIMENTELLE ÄSTHETIK DER SCHRIFT. GEORGES PEREC ich frage es mich, ist postmodern überhaupt der Name für Manierismus als metahistorische Kategorie).« 232
Für eine medienästhetische Fragestellungen sind diese Überlegungen insofern aufschlussreich, als die Barock, Manierismus und Postmoderne durchziehende Poetik des Trügerischen – die ihre Zentralfigur im trompe l’œil findet – die Momente des Selbstbezüglichen, die Reflexion von Wahrnehmungsereignissen, das Inszenatorische und Theatrale herausstreicht, die als Dimensionen einer Ästhetik des Medialen verstanden werden können und als solche Aufschluss über écriture und Literatur geben – wie es sich hier exemplarisch an Georges Perec und seinem Roman »La Vie mode d’emploi« nachvollziehen lässt. Diese Figuren der Sinnestäuschung erscheinen als symptomatisch für eine Repräsentationskrise, wie sie Foucault anhand des Velasquez-Bildes »Las Meninas« exemplarisch rekonstruiert. Das Gemälde inszeniert einen Bildraum und ein Schauspiel wechselseitiger Blicke und Beobachtungen, ein Spiel mit Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, »ein ganzes komplexes Netz von Unsicherheiten, Austauschungen und Ausweichungen.« 233 »Vielleicht gibt es in diesem Bild von Velasquez gewissermaßen die Repräsentation der klassischen Repräsentation und die Definition des Raums, den sie eröffnet. Sie unternimmt es in der Tat, sich darin in all ihren Elementen zu repräsentieren, mit ihren Bildern, den Blicken, denen sie sich anbietet, den Gesichtern, die sie sichtbar macht, den Gesten, die die Repräsentation entstehen lassen. Aber darin, in dieser Dispersion, die sie auffängt und ebenso ausbreitet, ist eine essentielle Leere gebieterisch von allen Seiten angezeigt: das notwendige Verschwinden dessen, was sie begründet, — desjenigen, dem sie ähnelt, und desjenigen, in den Augen dessen sie nichts als Ähnlichkeit ist. Dieses Sujet selbst, das gleichzeitig Subjekt ist, ist ausgelassen worden. Und endlich befreit von dieser Beziehung, die sie ankettete, kann die Repräsentation sich als reine Repräsentation geben.« 234
Dieses Interpretation des Velasquez-Bildes, einer Repräsentation, die sich als Repräsentation zeigt und in Szene setzt, lässt sich auf das Bild des Malers Valènes übertragen. Auf die Frage, ob der Roman nicht die Geschichte eines Buches sei, antwortet Perec: »Voilà, c’est pour ça qu’à la fin il ne reste rien. On se trouve devant un tableau non peint.« 235 Wie eine Poetik der Durchstreichung und der Auslöschung in moderner Dichtung eine Vielzahl an Figurationen kennt und diese sich mit Blick auf écriture als Praxis der Aufschiebung eines dezentrierten und anwesend abwesenden Sinns beschreiben lassen, wie es ausführlich Monika Schmitz-Emans in ihrer Studie zu Schrift und Abwesenheit untersucht hat, 236 so scheint auch »La Vie mode d’emploi« als komplexe Inszenierung von Ordnungen der Repräsentation, die sich in ihren Verkörperungen und Vollzügen »als reine 232
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H. Bredekamp: »Der Manierismus der Moderne«, S. 292; Bredekamp zitiert Umberto Eco: »Nachschrift zum ›Namen der Rose‹«, München, Wien 1987, S. 77. M. Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 32. Ebd., S. 45. G. Perec: Entretien, S. 23. Siehe M. Schmitz-Emans: Schrift und Abwesenheit.
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Repräsentation geben«. Insofern das Bild Valènes das Haus hätte repräsentieren sollen, in dem die im Roman erzählten Geschichten spielen, wird es zu einer selbstreferentiellen Figur des Romans im Roman, werden die im Roman erzählten Geschichten imaginär, zu dem, dass sie per se schon fiktiv sind. Es ist demnach nicht nur ein allgemeines Repräsentationsproblem, das sich hier zeigt und das Gestaltformen wie das trompe l’œil zu Figuren der Inszenierung medialer Verkörperungsprozesse macht, sondern es stellt sich im Speziellen die Frage, was angesichts eines phantastisch strukturierten Umfelds – es sei an die Dinge als Topoi der Faszination erinnert – aus der Fiktion wird. Das Fiktionale stellt Perec einerseits den in »La Vie mode d’emploi« aufgegriffenen Wissensdiskursen gegenüber: »le texte n’est pas producteur du savoir mais producteur de fiction [...].« 237 Im Einklang mit oulipistischer Poetik lässt sich Fiktion weniger als Differenz fiktiver und nicht-fiktiver Aussagen beschreiben, wie es die analytische Sprachwissenschaft unternimmt und woran sich literatuwissenschaftliche Versuche zum Teil orientieren, 238 sondern eher vor dem Hintergrund einer semantischen Theorie möglicher Welten, die potenzielle Welten in den Blick nimmt, 239 oder im Sinne einer symbolischen Untersuchung unterschiedlicher Weisen der Welterzeugung. 240 Perec formuliert ein Fiktionsverständnis, das sich mit Iser als anthropologisches beschreiben lässt: »[D]ans cette vie il existe un besoin continuel qui est la production de fiction, un besoin que je pourrais dire — universel, même s’il ne se traduit pas toujours par la production des choses écrites. Cela peut se traduire par la danse, par des pratiques magiques, par le tatouage sur le corps, par des interprétations de ce qui disent les feuilles des arbres, de ce que dit le feu. […] Dans le langage, dans l’activité humaine, il y a au départ un besoin qui est de transmettre ces connaissances, de connaître ce qui vous entoure, de jouer avec, c’est une manière de la maîtriser, de l’interpréter et de rêver dessus. Tout ceci constitue la vie et cette activité d’écriture qour moi est une manière continuelle de me définir par rapport au monde dans lequel je suis, en essayant de le comprendre, en essayant de jouer avec, en essayant de l’interpréter, de le dominer par le parole.« 241
Einerseits auf die Weisen der Fiktionserzeugung fokussiert, 242 andererseits Fiktion als Einstellung zur Welt im Modus des Potenziellen und des Als-ob 237 238 239
240 241 242
Georges Perec, zit. nach Marcel Bénabou: »Vraie et fausse érudition«, in: M. Ribière (Hg.), Parcours Perec, S. 41-48, hier S. 41. Siehe bspw. Jürgen H. Petersen: Fiktionalität und Ästhetik. Eine Philosophie der Dichtung, Berlin 1996. Siehe auch den Beitrag Umberto Ecos zur Fiktionalität: »Report on Session 3: Literature and Arts«, in: Sture Allén (Hg.), Possible Worlds in Humanities, Arts and Sciences, Berlin, New York 1989, S. 343-357. Siehe Nelson Goodman: Weisen der Welterzeugung, Frankfurt/M. 1984. G. Perec/E. Pawlikowska: »Entretien«, S. 74. Zusammenzudenken wären Aleida Assmanns Ansatz einer historischen Rekonstruktion der Fiktion als Differenz — als semiotische Differenz zwischen Realität und Fiktion — mit ihrer Konzeption der wilden Semiose, das heißt des Stierens auf die Materialität der Zeichen; Aleida Assman: »Fiktion als Differenz«, in: Poetica. Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft 21 (1989), S. 239-260; ergänzend dies.: Die Legitimität der Fiktion. Ein Beitrag
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beschreibend, liegt Perecs Fiktionalitätsdiskurs eine Figur zugrunde, wie sie Iser als Spiel des Fiktiven, Realen und Imaginären beschreibt. 243 Anders als Iser, der das Ästhetische als selbstreflexive Inszenierung des Spiels von Fiktivem, Realem und Imaginärem versteht, beschreibt Aleida Assmann die ästhetische Dimension des Fiktionalen für die Moderne dergestalt, dass sich in der Moderne eine existenzielle Differenzierung von Sein und Schein als positiv verstandener Möglichkeitsentwurf darstelle und das Ästhetische als eigene, andere Wirklichkeit zur Frage der Intensität des Erlebens in Augenblicksund Grenzerfahrungen werde. Assmann macht den Unterschied zwischen Moderne und Postmoderne darin fest, dass die Postmoderne diese heroische Geste einer Ästhetik des Augenblicks verabschiede und das Problem der Differenz zwischen Fiktion und Nicht-Fiktion aus den Augen verliere. 244 Mit Blick auf die postmoderne Literatur, für die Perec stehen kann, scheint die Kategorie des Fiktionalen nicht obsolet, sondern in ein Spiel von Imagination und Medialität überführt, die Aufmerksamkeit richtet sich auf mediale Techniken des Imaginären. Das Ästhetische ist dabei nicht mehr Gegenentwurf, sondern – in medienästhetischer Perspektive – innerstes Prinzip einer Ereignisästhetik, die Schwellenbereiche medialer Gestaltungsformen in Szene setzt. Nicht Augenblickserfahrung, sondern – um den theatralen Charakter einer sich selber zeigenden Repräsentation wissend – Inszenierungen medialer Ereignisse und Erscheinungen treten in den Vordergrund. »Oui, cela pourrait commencer ainsi, ici, comme ça, d’une manière un peu lourde et lente, dans cet endroit neutre qui est à tous et à personne, où les gens se croisent presque sans se voir, où la vie de l’immeuble se répercute, lointaine et régulière. De ce qui se passe derrière les lourdes portes des appartements, on ne perçoit le plus souvent que ces échos éclatés, ces bribes, ces débris, ces esquisses, ces amorces, ces insidents ou accidents qui se déroulent dans ce que l’on appelle les ›parties communes‹, ces petits bruits feutrés que le tapis de leine rouge passé étouffe, ces embryons de vie communautaire qui s’arrêtent toujours aux paliers.« (VME, 21)
Diese Konstruktion und Inszenierung einer narrativen Szene, »Oui, cela pourrait commencer ainsi«, ist als Technik zu verstehen, einen Ereignisraum zu konstruieren, in dem ein präsentisches Geschehen, im Sinne des epischen Präteritums – quasi dramatisch –, vorgeführt wird. Das romanesk Fiktionale wird in diesem Sinne zu einer Technik zur »Produktion von Präsenz«, zur
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zur Geschichte der literarischen Kommunikation, München 1980; dies.: »Die Sprache der Dinge. Der lange Blick und die wilde Semiose«, in: H.U. Gumbrecht/K.L. Pfeiffer (Hg.), Materialität der Kommunikation, S. 237-251. Siehe ergänzend dazu auch Gérard Genette: Mimologiken. Reise nach Kratylien, München 1996. Siehe dazu auch Hans Blumenberg: »Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Roman«, in: Hans Robert Jauß (Hg.), Nachahmung und Illusion, München 1964, S. 9-27; umfassend den Band: Dieter Henrich/Wolfgang Iser (Hg.): Funktionen des Fiktiven, München 1983. Insbesondere vor dem Hintergrund einer medien- und kulturtheoretischen Reorientierung der Geisteswissenschaften erhalten die Fragen nach Mimesis und Fiktion, Illusion und Simulation neue Bedeutung. Siehe zu diesem Zusammenhang Elena Esposito: »Fiktion und Virtualität«, in: S. Krämer (Hg.), Medien Computer Realität, S. 269296. Vgl. A. Assmann: »Fiktion als Differenz«, S. 260.
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»Herstellung auffälliger Gegenwart«. 245 Die explizite Setzung eines fiktionalen Rahmens lässt sich selber als Inszenierung einer Ereignishaftigkeit verstehen, welche die semiotische Konstruktion (des Romanesken, Fiktionalen) zu einer performativen Aktion macht. 246 Eine Dimension, die in all diesen Diskursen und Theorien zur Repräsentation, zu Fiktion und Täuschung, bei Foucault, Iser und Perec mit diskutiert ist, ist das Anthropologische, um das auch eine medienästhetische Perspektive zu erweitern wäre. 247 Die Reduktion des Pariser Wohnhauses, dessen Geschichten der Roman auf 800 Seiten erzählt, auf die fast weiße Leinwand des Malers Valène, die Tatsache, dass viele der Zimmer, von welchen die Erzählungen ihren Ausgang nehmen, leer stehen, sowie die zahlreichen Katastrophen, Morde und Selbstmorde lassen die Frage nach der anthropologischen Dimension des Romans als problematische erkennen. Der Roman als Inszenierung möglicher Welten und kultureller Imaginationen erweist sich als Theater humaner Katastrophen, Leerstellen und Abwesenheiten. Perec äußert sich in einem Interview mit Gabriel Simony 1981 zur anthroplogischen Perspektive des Romans »La Vie mode d’emploi«. 248 Auf die Frage, »Mais cela peut paraître pétrifié, comme une vie immobile« 249 erklärt Perec diese Erstarrung zum Zentrum des Romans, insofern die erzählten Geschichten einen Zeitraum von 75 Jahren und den in den Reisen durchmessenen weiten Raum der Erdteile umfassen, die aktuelle Situation des Romans jedoch ein eingefrorener Augenblick ist, etwa um acht Uhr abends am 23.6.1975 in der rue Simon-Crubellier Nummer 11: »Le moment où Bartlebooth est en train de mourir. En fait, à partir de cette unique seconde on a fait tout exploser, comme quelqu’un qui se souvient de toute sa vie avant de mourir.« 250 Diese Situation verkörpert auch der tote Bartlebooth: »Bartlebooth qui voudrait être comme un dieu, qui a un pouvoir sur les autres mais qui, finalement, va être mis en échec. Toutes les autres histoires, je le reconnais, ressemblent à ce qui est pour moi la vie, c’est-à-dire une énergie considérable... [...] Pour rien... qui va s’achever dans la mort. Et après qu’est-ce qui en reste? Il reste des objets.« 251
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H.U. Gumbrecht: »Produktion von Präsenz«, S. 74. Auf diese Komplexe ist auch die Aufmerksamkeit der Theatralitätsforschung gerichtet, die in phänomenologisch orientierter Richtung Ansätze einer Ästhetik des Medialen entwirft. Siehe dazu E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen; dies. (Hg.): Ästhetische Erfahrung; dies. u.a. (Hg.): Wahrnehmung und Medialität; dies. u.a. (Hg.): Performativität und Ereignis; D. Mersch: Ereignis und Aura. Siehe dazu H. Pfotenhauer: Literarische Anthropologie; W. Iser: Das Fiktive und das Imaginäre; K.L. Pfeiffer: Das Mediale und das Imaginäre. Siehe dazu Christa Bevernis: »Zum Bild des Menschen im französischen Gegenwartsroman. Michel Tournier — J.M.G. Le Clézio — Georges Perec. Schreibweisen und Sehweisen«, in: Weimarer Beiträge 31 (1985), S. 15891613. Gabriel Simony, in: G. Perec: Entretien, S. 16. Siehe ähnlich zum Tod als den Roman organisierendes Zentrum Katja Rech-Pietschke: Die Semiologie des transparenten Gebäudes. Raum — Zeit — Tod bei Lesange, Zola, Butor und Perec, Frankfurt/M. u.a. 1995. Gabriel Simony, in: G. Perec: Entretien, S. 16f. Ebd., S. 18.
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3. EXPERIMENTELLE ÄSTHETIK DER SCHRIFT. GEORGES PEREC
Dieser Befund liest sich als Kommentar zu Foucaults Archäologie der Humanwissenschaften, nach der der Mensch eine Erscheinungsform bestimmter Ordnungen der Sprache, der Dinge und des Wissens gewesen sei, die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts ihr Ende finde. »Tatsächlich hat unter den Veränderungen, die das Wissen von den Dingen und ihrer Ordnung, das Wissen der Identitäten, der Unterschiede, der Merkmale, der Äquivalenzen, der Wörter berührt haben — kurz in mitten all der Episoden der tiefen Geschichte des Gleichen —, eine einzige, die vor anderthalb Jahrhunderten begonnen hat und sich vielleicht jetzt abschließt, die Gestalt des Menschen erscheinen lassen. [...] Der Mensch ist eine Erfindung, deren junges Datum die Archäologie unseres Denkens ganz offen zeigt. Vielleicht auch ihr baldiges Ende. Wenn diese Dispositionen verschwänden, so wie sie erschienen sind, wenn durch irgendein Ereignis, dessen Möglichkeit wir höchstens vorausahnen können, aber dessen Form oder Verheißung wir im Augenblick noch nicht kennen, dieses Dispositionen ins Wanken gerieten, wie an der Grenze des achtzehnten Jahrhunderts die Grundlage des klassischen Denkens es tat, dann kann man sehr wohl wetten, daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.« 252
Foucaults Archäologie der Humanwissenschaften richtet den Blick auf die Repräsentationssysteme und Ordnungen des Wissens, welche die Idee des Menschen ermöglicht haben. Vergleichbar ist das Programm Bartlebooths, die sein Lebensprojekt konstituierenden Puzzles spurlos an den Häfen ihrer Entstehung verschwinden zu lassen: »Si l’on peut parler d’un échec global, ce n’est pas à cause de ces petit décalages, mais parce que réellement, concrètement, Bartlebooth ne parvint pas à mener à terme sa tentative en respectant les règles qu’il s’était données: il voulait que le projet tout entier se referme sur lui-même sans laisser de traces, comme une mer d’huile qui se referme sur un homme qui se noie, il voulait que rien, absolumment rien n’en subsiste, qu’il n’en sorte rien que le vide, la blancheur immaculée de rien, la perfection gratuite de l’inutile [...]. Il est difficile à dire si le projet était réalisable.« (VME, 462)
Das Scheitern dieses Projektes und die Anlehnung der Namensgebung Bartlebooths an Herman Melvilles Protagonisten Bartleby, den Schreiber, lässt die anthropologische Lesart und die Frage nach der Rolle der Schrift noch einmal in einem etwas veränderten Licht erscheinen. Der Protagonist der 1853 erschienenen Erzählung Melvilles, Bartleby, ein Schreiber in einer Anwaltskanzlei, verweigert höflich, aber bestimmt zunehmend den Dienst mit der einzigen Erklärung »I would prefer not to« als Antwort auf jegliche Aufforderung. Die Schilderung dieser Kommunikations- und letztlich Handlungsverweigerung erfährt der Leser durch die verzerrte Perspektive des verstörten Ich-Erzählers, des eigentlich rational denkenden Notars, der das Rätsel Bartleby zu ergründen versucht. Das letzte Gerücht, von dem der Erzähler zu berichten weiß, ist, Bartleby habe im Washingtoner »Dead Letter Office«, in dem nicht zustellbare Briefe landen, als Angestellter gearbeitet. »Dead
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M. Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 462.
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Letters! Does it not sound like dead men? [...] On errands of life, these letters speed to death. Ah, Bartleby! Ah, humanity!« 253 Der Schreiber arbeitet in einem nicht mehr kommunikativen System der unzustellbaren Briefe, er selber verweigert Kommunikation und Handlung bis zur Immobilität oder »pétrification«, der Notar ist in seiner Unmöglichkeit, das Geschehen zu deuten, ein unsicherer Erzähler. Nicht nur wird hier das System von Bedeutungskonstruktionen als unsicheres vorgeführt, sondern der an Schrift gebundene Diskurs von Humanität – wie ihn der Schreiber Bartleby auch mit Blick auf den abschließenden Ausruf verkörpert – wird hier Mitte des neunzehnten Jahrhunderts als fragiles Diskurssysten vorgeführt. Mit Andreas Steffens lässt sich die anthropologische Dimension des Perec’schen Romans in seiner Nähe zu Foucault und in seinem Bezug auf Bartleby als Teil eines seit den sechziger/siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts veränderten anthropologischen Diskurses lesen. Nach dem Verschwinden des Menschen in den Tiefen des Archivs, wie Steffens Foucaults Diskursanalyse der Humanwissenschaften auf den Punkt bringt, zeichnet sich – insbesondere mit Vilém Flussers Entwurf des Subjekts als Projekt 254 – eine Wiederkehr des Menschen, eine »Rückkehr aus der Menschenleere« ab.255 Diese beobachtet Steffens als Wende zum Phänomenologischen und zum Medialen in den Fragen nach den Techniken und Formen des Erscheinens eines menschlichen Selbstentwurfes. An Perecs Geschichte der pétrification lässt sich, ausgehend von einer Konzentration auf die Repräsentationssysteme und Formen medialer und kultureller Gestaltung, eine Neudefinition des Lebendigen und Humanen aus semiotischer und medienästhetischer Perspektive ablesen: Perec bennent als Movens des Romans »La Vie mode d’emploi« die »passion«: »C’est un livre, qui parle beaucoup de la passion, de la passion des gens pour les choses inutiles.« 256 »Je crois qu’ils ont tous quelque part une obsession, et qu’il y a quelque part une obsession qui les fait vivre.« 257 Den Roman als semiotisches und kulturanthropologisches Projekt verstehend, stellt Perec Passion und Obsession und damit das Ästhetische an den Ursprung der Schrift, das Dynamische und Affektive, Energetische und Sinnliche: »L’homme non seulement n’est plus un sujet métaphysique, mais ne parvient plus guère à être un sujet épistemologique. […] tous ces Don Quichottes modernes qui
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Herman Melville: Bartleby, Stuttgart 1985, S. 66. Siehe dazu Kapitel 4.4, S. 284f. der vorliegenden Arbeit. Steffens nennt als zentrale Werke einer »Rückkehr aus der Menschenleere«, wie er das letzte Kapitel seines Buches überschreibt, Michel Foucaults »Les mots et les choses« (dt. Die Ordnung der Dinge), Theodor W. Adornos »Negative Dialektik« und Hans Blumenbergs »Legitimität der Neuzeit«, alle 1966 erschienen. Vgl. Andreas Steffens: Philosophie des 20. Jahrhunderts oder Die Wiederkehr des Menschen, Leipzig 1999, S. 269. Steffens unterstreicht den Zusammenhang der »Wiederkehr des Menschen« — so der Untertitel dieses Buches zur philosophischen Anthropologie — mit der Phänomenologie (ebd., S. 271), was auf die, bei Steffens nicht mehr erläuterte, Rolle des Medial Turn für die philosophische Anthropologie hinweist. G. Perec: Entretien, S. 17. Ebd., S. 23. »[...] il reste cette espèce de folie que chacun à en soi.«
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3. EXPERIMENTELLE ÄSTHETIK DER SCHRIFT. GEORGES PEREC s‘épuisent à reparcourir le champ des connaissances anciennes et oubliées et à réassembler les pièces de puzzles disloqués.« 258
Der Hinweis auf Don Quichotte bezeichnet den Beginn des Diskurses literarischer Fiktionalität der Neuzeit, den Alain Goulet bei Perec zu einem Ende kommen sieht. Vergleichbar dem in der Repräsentationsproblematik verstrickten Ritter, der die Arbitrarität aller Zeichen übersieht, steht derjenige, welcher sich mittels archäologischer Lektüren in Dingen und Lebensgeschichten zu orientieren versucht, einem inkohärenten, frangmentierten und phantastischen Bild gegenüber: »Valène, parfois, avait l’impression que le temps s’était arrêté, suspendu, figé autour d’il ne savait quelle attente. L’idée même de ce tableau qu’il projetait de faire et dont les images étalées, éclatées, s’étaient mises à hanter le moindre de ses instants, meublant ces rêves, forçant ses souvenirs, l’idée même de cet immeuble éventré montrant à nu les fissures de son passé, l’écroulement de son présent, cet entassement sans suite d’histoires grandioses ou dérisoires, frivoles ou pitoyables, lui faisait l’effet d’un mausolée grotesque dressé à la mémoire des comparses pétrifiés dans des postures ultimes tout aussi insignifiantes dans leur solennité ou dans leur banalité […].« (VME, 163)
Das Prinzip des semiotischen trompe l’œil konstituiert sich auch in den Figuren des Romans: »C’est un livre autour de trois vieillards«, 259 die in ihrer Funktion als Gedächtnisarchive unglaubwürdig sind. Perceval Bartlebooth erweist sich schon in seinem Namen als kultureller Hybrid aus dem Graalsritter Parzival, Melvilles Bartleby und Larbauds Barnaby. 260 Gaspar Winckler ist eine in den Werken Perecs immer wieder auftauchende Figur, die ihren Namen mit demjenigen Valènes und Perecs vertauscht – »Il y a un toutefois que j’aime plus que les autres, Winckler, l’artisan qui fabrique les puzzles. [...] En plus c’est un nom que j’aivais choisi comme pseudonyme à une époque. [...] Non, je me trompe, c’est Valène qui j’avais choisi.« 261 Winckler ist auch der Name des Erzählers in dem autobiographischen Text »W ou le souvenir d’enfance«, der allerdings seinen Namen von einem ertrunkenen Kind übernommen hat. Der Vorname Gaspar assoziiert darüber hinaus das namenlose Findelkind Kaspar Hauser. Perecs Winckler ist immer auch der Fälscher, 262 der in »La Vie mode d’emploi« Bartlebooth tödliche Fallen stellt – kann ein Puzzle, dem ein y-förmiges Teil fehlt und ein x-förmiges übrig bleibt, ein anderes als ein gefälschtes sein? Die Figuren des Romans sind somit nicht mehr humanistische Individuen oder psychologische Personen, sondern verkörpern als mit unsicheren Namen benannte Fälscher-Figuren den Übergangsstatus vom Subjekt zum Projekt – um es vorgreifend mit Vilém Flusser zu formulieren.
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A. Goulet: »Archives en jeu«, S. 200. G. Perec: Entretien, S. 17. Vgl. ebd., S. 19. Ebd., S. 18. Siehe Perecs frühes Werk: Gaspard pas mort, späterer Titel: Le Condottiere. »[...] dans la version finale, le héros Gaspar Winckler, est un faussaire de génie qui ne parvient pas à fabriquer un Antonello de Messine [...].« Georges Perec: W ou le souvenir d’enfance, Paris 1975, S. 142.
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Bartlebooth, der gescheiterte Prototyp des modernen Menschen, des sich in der Begegnung mit dem Fremden konstituierenden Ich, als Weltenreisender und Abenteurer, als experimenteller und methodischer Mensch, als Künstler und Puzzle-Spieler, scheitert nicht an sich und aus sich heraus, sondern an seinem Gegenüber Winckler. Vor dieser ambivalenten Konstellation ist Perecs Aussage zu verstehen: »Bartleby est une sorte de Proces à l’envers, ce qui est beaucoup plus fort. Au sein d’un monde évident, tangible, solide, prudent, organisé, serin, seirein, sans contradictions apparentes, où les affaires, les hommes, l’église, la justice, l’argent, les relations humaines, vont pour le mieux, apparaît un individu à contre-courant.« 263
Dieser Brief endet – aufschlussreich – in Gekrakel, in der Materialität der Schrift-Linie: »Mais le lien de notre commune humanité me jeta dans la consternation... oh ! youm’haniti Bart/leby ybeltrab« 264 Wie der Roman Archäologie als »mausolée grotesque« (VME, 163) betreibt, bilden Bartlebooth und das Puzzle ein gebrochenes Gedächtnismedium, das durch die Struktur des trompe l’œil auch insofern geprägt ist, als die Aufmerksamkeit auf das Trägermedium, auf die Materialität der Puzzlestücke gerichtet wird und dadurch – vergleichbar der von Aleida Assmann beschriebenen »wilden Semiose« 265 – der Sinn verstellt und das kommunikative Spiel in seiner trügerischen und illusionären Struktur vorgeführt wird. »[...] les puzzles étaient encore liés à des bouffées de souvenirs, des odeurs de varech, des bruits de vagues se fracassant le long de hautes digues, des noms lointains [...]. Pour Bartlebooth, il n’était plus que les pions biscornus d’un jeu sans fin dont il avait fini par oublier les règles, ne sachant même plus contre qui il jouait, qu’elle était la mise, quel était l’enjeu, petits bouts de bois dont les découpes capricieuses devenaient objets de cauchemars, seules matières d’un ressassement solitaire et bougon, composantes inertes, ineptes et sans pitié d’une quête sans objet. Majunga, ce n’était ni une ville ni un port, [...] c’était seulement sept cent cinquante imperceptibles variations sur le gris, bribres incompréhensibles d’une enigme sans fond, seules images d’un vide qu’aucune mémoire, aucune attente ne viendraient jamais combler, seuls supports de ses illusions piégées.« (VME, 163)
Dieser anthopologischen Schwellensituation entspricht die Konzeption einer repräsentationskritischen écriture, die als Täuschungsbild funktioniert.
Die Ästhetik des trompe l’œil und die Ordnungen des Visuellen Die Kritik an einem Schrift-Begriff, der als funktionierendes Repräsentationssystem begriffen würde, wird bei Perec auch über die intermediale Relation zwischen Schrift und Bild vorgeführt.
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Georges Perec: »Lettre inédite«, in: Littératures 7 (1983), S. 61-68, hier S. 67 Ebd., 68. Siehe A. Assmann: »Die Sprache der Dinge«.
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3. EXPERIMENTELLE ÄSTHETIK DER SCHRIFT. GEORGES PEREC
Das von Jules Verne entliehene Motto »Regarde de tous tes yeux, regarde« (VME, 15) sowie das von Klee übernommene Motto »L’œil suit les chemins qui lui ont été ménagés dans l’œuvre« (VME, 17) verweisen auf visuelle Ordnungen zwischen Phantastik und Abstraktion, auch mit Blick auf nicht-figurative Kunst. Das Visuelle wird nicht als Abbildungssystem vorgestellt, sondern als Medium nicht repräsentationeller Formen. 266 Die Leistung des Nicht-Figurativen, so Perec in einem Aufsatz über die Malerei Paul Klees, sei die Wiedergabe der Welt, ohne auf Mittel der Repräsentation zurückzugreifen, »redre compte du monde sans passer par la représentation«. 267 Die Kultur, so Perec, beruhe auf Distanzierungen. Das Schreiben, so lässt sich schließen, erscheint als nicht-figurative Technik der Weltvermittlung, deren repräsentierende, bildliche Potenziale im Roman permanent gestört und unterlaufen werden. »Sprache und Malerei verhalten sich zueinander irreduzibel: vergeblich spricht man das aus, was man sieht: das, was man sieht, liegt nie in dem, was man sagt; und vergeblich zeigt man durch Bilder, Metaphern, Vergleiche das, was man zu sagen im Begriff ist.« 268 »Une grande toile carrée de plus des deux mètres de côté était posée à côté de la fenêtre, réduisant la moité l’espace étroit de la chambre de bonne où il avait passé la plus grande partie de sa vie. La toile était pratiquement vierge: quelques traits au fusain, soigneusement tracés, la divisaient en carrés réguliers, esquisse d’un plan et coupe d’un immeuble qu’aucune figure, désormais, ne viendrait habiter.« (VME, 580)
Wie Foucault auf die Unübersetzbarkeit zwischen Rede und Bild hinweist, so zeigt auch Perec auf den der romanesken Fiktion zugrunde liegenden Plan: Valènes Leinwand, die nur die Grundrisse eines Hauses skizziert, die der letzten Textpassage gegenübergestellte Zeichnung, die den Aufriss des Hauses zeigt, sowie die Erzählungen des Romans »La Vie mode d’emploi« erweisen sich als in Schrift und Bild umgesetzte Gestaltungsformen eines zugrunde liegenden Konzeptes. Der sich an den Haupttext anschließende Anhang aus Schlagwortverzeichnis, Chronologie, Auflistung einiger im Roman erzählter Geschichten, Inhaltsverzeichnis und Liste von Werken des Autors sowie die im Text integrierten visuellen Elemente, seien es Kreuzworträtsel, Schilder, Listen, Ornamente etc. verweisen auf die Bandbreite der zwischen Abbildung und Abstraktion interagierenden Repräsentationssysteme Bild und Schrift, Text und Buch in ihrer Materialität, machen bei Listen beispielsweise die fließenden Übergänge textueller und grafischer Medialitäten sichtbar und lenken die Aufmerksamkeit vor allem auf die Irreduzibilität von Semantik und Materia-
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Siehe bezüglich der Forschung zum Verhältnis der Texte Perecs zur Malerei, insb. zu Perec und Paul Klee, das Cahier Georges Perec Nr. 6. L’œil d’abord... Georges Perec et la peinture, Paris 1996. Darin werden in unterschiedlichen Aufsätzen Fragen des Realismus und der Repräsentation erörtert. Georges Perec: »Défense de Klee«, in: Cahiers Georges Perec. Nr. 6, S. 1626, hier S. 18. M. Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 38.
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lität der Zeichen, auf den trügerischen und phantastischen Prozess der Bedeutungsbildung und der Interpretationsakte einer Lektüre. Dieser Plan und seine Gestaltungsformen greifen über den Roman »La Vie mode d’emploi« hinaus: Die ein Jahr nach dem Roman erschienene Erzählung »Un cabinet d’amateur« 269 übersetzt die einzelnen Kapitel des Romans »La Vie mode d’emploi« jeweils in ein Bild der Sammlung eines Kunstkabinetts, sodass im Zusammenspiel von Roman und Erzählung transmediale Übergänge zwischen Text und Bild inszeniert werden – allerdings wiederum nur fehlerhaft, insofern die Miniaturisierung des Kabinetts in einem der Bilder nicht in allen Details mit der Vorlage übereinstimmt und so diese Analogieverfahren innerhalb des visuellen Systems wie in der Überführung textueller in visuelle Repräsentationen als verfälschende präsentiert werden. Dieses Motiv der Fälschung wird zur Grundlage einer weiteren Arbeit Perecs, »L’Œil ébloui«, 270 in der er in Zusammenarbeit mit dem Fotografen Cuchi White trompe l’œils an Gebäuden vorführt, aufgemalte Fenster und Türen, die durch ihren Illusionismus das Auge des Betrachters täuschen. Perec liefert zu Cuchis Fotos einen Text, der sich als Poetik des trompe l’œil lesen lässt: »[C]’est une façon de peindre quelque chose de manière que cette chose ait l’air non peinte, mais vrai; ou, si l’on préfère, c’est une peinture qui s’efforce d’imiter à s’y méprendre le réel.« 271
Diese Idee einer sich als Realität ausgebenden Imitation, einer intendierten und inszenierten Täuschung, veranschaulicht Perec auch in den Wandbildern, welche die Wohnräume des Hauses in »La Vie mode d’emploi« schmücken und die die Wand hinter den Bildern vergessen machen. 272 Das trompe l’œil ist eine »tromperie dont nous sommes des victimes«, eine »pratique mystificatrice«, 273 eine Praxis der Täuschung, die Perec im Rückgriff auf den Kulturwissenschaftler Roger Caillois als Spiel beschreibt und diese spielerische Sinnestäuschungen auf die Bereiche des Traums, der Unsicherheit und der »réalité nocturne« überträgt, die, wie das trompe l’œil, einen hyperrealen Effekt erzeugen und darin »presque plus vrai que la vie« zu sein scheinen: »En ce sens, les trompe-l’œils fonctionnent un peu comme les mots croisées: ils posent une question dont la reponse est toute entière contenue dans l’énoncé qui la formule [...] mais qui demeure énigmatique tant que l’on a pas opéré le minuscule glissement de sens qui la résoud dans son évidence comparable. Ce qui, dans les trompe-l’œils, correspond à ce glissement du sens constitue un langage (ou même un métalangage) qui transpose sur le mur à peindre les signes pertinents de
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Ins Deutsche übersetzt: Ein Kunstkabinett. Geschichte eines Gemäldes, Frankfurt/M. 1992. Erschienen 1981. Georges Perec/Cuchi White: L’œil ébloui, Paris 1981, o. S. Siehe dazu das Kapitel »murs« in: G. Perec: Espèces d’espaces, S. 55. Ähnliche Überlegungen zum Illusionspotential von Wänden stellt Flusser in seinem Essay »Wände« an; in: Dinge und Undinge. Phänomenologische Skizzen, München, Wien 1993, S. 27-32. Siehe auch Kapitel 4, Anm. 130 dieser Arbeit. G. Perec/C. White: L’œil ébloui, ohne Seitenzählung.
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3. EXPERIMENTELLE ÄSTHETIK DER SCHRIFT. GEORGES PEREC la tridimensionnalité, une sorte de rhétorique de la spatialité fictive [...]. Le trompe l’œil est une énigme sans réponse. Les méandres de notre regard […].« 274
So wie Foucault anhand Magrittes Bildern »Ceci n’est pas une pipe« die ambivalenten semiotischen Übergänge, die Transformationen von Bildlichkeit und Schriftlichkeit in der Figur des Kalligramms untersucht, 275 so schließen sich über die Figur des trompe l’œil Bildhaftigkeit und Textualität in Perecs Roman zu Formen zusammen, die spielerisch die Schwellenbereiche medialer Transformationen inszenieren. In diesem Sinne ist auch die im Roman »La Vie mode d’emploi« zu beobachtende Erzähltechnik zu verstehen, eine Geschichte als Animation eines Standbildes zu beleben, wie zahlreiche Erzählungen ihren Ausgang in der Beschreibung eines Zimmers oder eines Bildes, eines Objektes oder eines Dokumentes nehmen. So setzt Perec ein komplexes System visueller, textueller und romanesker Ordnungsmuster ins Spiel, die Illusionsräume entwerfen, die einander zugleich immer wieder unterlaufen. 276 Diese Ästhetik des trompe l’œil als spielerische Inszenierung von Sinnestäuschungen, von medialen Sinn- und Verkörperungsprozessen bildet den Rahmen für eine auch sowohl anthropologisch wie medientheoretisch verstandene Frage nach Autorschaft. Autorschaft stellt sich in medienästhetischer Perspektive als reflektierte Selbstinszenierung einer Autorfigur dar. Eine Lesart des Romans »La Vie mode d’emploi« auf diese Frage hin legt schon das Vorwort Bernard Magnés nahe, das als Motto von Luc Etienne die Formulierung »Ce repère Perec... « 277 entleiht: »Roman du jeu, sans aucun doute, et, plus surprenant et jusqu’ici rarement perçu: roman du Je.« 278 Da »La Vie mode d’emploi« zeitgleich mit der Arbeit an »W ou le souvenir d’enfance« entstanden ist, weist Magné auf feine, kaum zu bemerkende Fäden einer anderen Geschichte hin, die sich in die formale Konstruktion spinnen. 279 274 275 276
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Ebd. Siehe M. Foucault: Dies ist keine Pfeife. In diesem Spiel von Zeichensystemen und Bedeutungen, das erstens ein trügerisches ist und zweitens zugleich als solches in unterschiedlichsten Figuren gespiegelt und vorgeführt wird, sind die Grenzräume von Verkörperungstechniken und Verkörperungen ambivalente. »How can we know the dancer from the dance?«, ist die Frage, die Paul de Man seiner Studie zu den Allegorien des Lesens zugrunde legt und die sich auch auf das trompe l’œil übertragen lässt. Mit dieser Formulierung beschreibt de Man insbesondere den performativen Aspekt von Medialität, Medium und Effekt nicht voneinander trennen zu können. An diesem Bild lässt sich auch der Begriff der Verkörperung anschaulich machen und in seiner Übertragbarkeit auf Schrift und Literatur verdeutlichen. Hier lässt sich an die von Gumbrecht und Pfeiffer hervorgehobene Relation von Sinn und Verkörperung anschließen, die als Leitfrage für eine kultur- und medienwissenschaftliche Geisteswissenschaft angeboten wird. Bernard Magné: »Préambule«, in: M. Ribière (Hg.), Parcours Perec, S. 9-11, hier S. 7. Ebd., S. 9. »Ainsi, pour le lecteur, au-delà du plaisir [...] à travers les échos d’histoires où s’entrecroisent existences brisées, familles éclatées, abandons inexplicables, violences et tendresses, exils et disparitions, derrière la petite silhoutte de Serge Valène, le peintre qui ›serait lui-même dans le tableau‹, entouré de ›la longue cohorte de ses personnages‹, se dessineront peut-être les fils tenus, fragiles, presque imperceptibles d’une autre histoire avec,
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Über die in der Forschung untersuchten formalen Verschlüsselungen von biographischen Hinweisen Perecs hinausgehend, ist es insbesondere die Ästhetik des trompe l’œil mit ihren inszenierten Spielräumen von Sinn und Verkörperung und ihren trügerischen medialen Transformationen, die es bezüglich der Frage nach der Konstruktion von Autorschaft im Hinterkopf zu behalten gilt. In diesem Sinne ist auch der Hinweis zu Beginn des Romans zu verstehen: »L’amitié, l’histoire et la littérature m’ont fourni quelques-uns des personnages de ce livre. Toute autre ressemblance avec des individus vivants ou ayant réellement ou ficitivement existé ne saurait que coïncidence.« (VME, 13)
Wie der Roman ein Universum von Geschichten und Schreibweisen als paratextuelles und architextuelles, intertextuelles und intermediales Spiel in Szene setzt, so ist auch die Erzählerstimme in diesen Spielraum des Realen, Fiktiven und Imaginären eingebunden. Mit fortschreitender Lektüre entpuppt sich die Erzählerstimme als zu dem Maler Valène gehörig: »Valène, parfois, avait l’impression que le temps s’était arrêté, suspendu, figé autour d’il ne savait qu’elle attente. L’idée même de ce tableau qu’il projetait de faire et dont les images étalées, éclatées, s’étaient mises à hanter le moindre de ses instants, meublant ses rêves, forçant ses souvenirs, l’idée même de cette immeuble éventré montrant à nu les fissures de son passé, l’écroulement de son présent, cet entassement sans suite d’histoires grandioses ou dérisoires, frivoles et pitoyables, lui faisait l’effet d’un mausolée grotesque dressé à la mémoire de comparses pétrifiées dans des postures ultimes tout aussi insignifiants dans leur solennité ou dans leur banalité, comme s’il avait voulu à la fois prévenir et retarder ces morts lentes ou vives qui, d’étage en étage, semblait vouloir envahir la maison toute entiere: [...]. Et lui, bien sûr, lui, Valène, le plus ancien locataire de l’immeuble.« (VME, 164) »Un jour surtout, c’est la maison entière qui disparaîtra, c’est la rue et le quartier entiers qui mourront.« (VME, 165)
Wie das Puzzle-Programm weder als Verkörperungsmedium für das LebensProjekt Bartlebooths funktioniert noch als Gedächtnismedium, so bleibt auch der Roman letztlich Idee des Erzählers und zugleich ältesten Bewohners Valènes, das heißt der Roman funktioniert nicht mehr als romaneskes und fiktionales Erzählmodell und nicht mehr als Erinnerungsmedium, sondern wird zu einer Idee und einem metaliterarischen Konzept reduziert. Der Roman wird zu einer komplexen Figuration selbstreflexiver literarischer Spiele. Der Entwurf der Figur Georges Perecs wird vor dem Horizont solcher selbstreflexiver Spiele von Repräsentationssystemen unternommen: »[L]a reproduction d’un portrait du Quattrocento, un homme au visage à la fois énerinextricablement echevêtrés aux ›romans‹ et à leur construction formelle, ses silences, ses vides, ses pièges et ses méandres. Histoire dont l’écrivain, à lepoque même élaborait La Vie mode d’emploi, avait livré quelques épisodes majeurs dans W ou le Souvenir d’enfance.« Ebd.
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gique et gras, avec une toute petite cicatrice au-dessus de la lèvre supérieure« (VME, 294) ist das Porträt eines Mannes mit der Narbe, das in den Texten Georges Perecs immer wieder als Autoporträt und als Identifikationsbild auftaucht und so auch im Roman »La Vie mode d’emploi« ein inszeniertes Selbstbild Georges Perecs widerspiegelt. 280 Ausgehend von diesem inszenierten Porträt stellt sich die Frage nach Autorschaft und nach Figuren menschlicher Selbstreferenz im Horizont der Reflexionen von Medialität.
3.3 Entwurf einer anthropologischen Ästhetik der écriture 3.3.1 Topografische Ordnungen Wie sind im Horizont einer Ästhetik des trompe l’œil und darin reflektierten trügerischen Ordnungen des Wissens und der Repräsentation medienanthropologische Dimensionen von Schrift und Literatur sowie Figuren menschlicher Selbstreferenz zu denken? Perec entwirft eine anthropologische Perspektive wiederum ausgehend von Erkundungen der Materialität der Zeichen und der Medialität der Schrift. In einer Reihe von Texten, die er als soziologische zusammenfasst, 281 erkundet Perec in kultursemiologischer und anthropologischer Perspektive Ordnungen von Räumen und Dingen. Den kulturgeschichtlichen Hintergrund bilden die Veränderungen der Lebensweisen und Lebenswelten – »Nous étions cinéphiles [...] western, thriller, comédies américaines« 282 –, der Wahrnehmungsmuster und Erfahrungsmodi in den sechziger und siebziger Jahren: »Le Living, le happening, Cunnigham, l’Oulipo, la guérilla du Tiers-Monde, les rêveries californiennes, les utopies picturales et littéraires –, 68 était la vulgarisation d’une subversion intellectuelle. « 283 Angesichts dieser postmodernen Sozialisierung mit den Mythen und Medien der Alltags- und Trivialkultur erscheint die phänomenologische Lebenswelt als semiotisches und mediales Konstrukt. Die konkreten Dinge einerseits und die Zeichen einer sich selbst simulierenden Welt andererseits scheinen zwei unterschiedlichen me280
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Siehe zu Techniken und Konventionen der Inszenierung künstlerischer Selbstbilder auch: Hans Robert Jauß: »Kritische Nachbemerkungen. Zur Entdeckung des Individuums in der Porträtmalerei«, in: Manfred Frank/Anselm Haverkamp (Hg.), Individualität, München 1988, S. 599-605; Max Imdahl: »Relationen zwischen Poträt und Individuum«, in: ebd., S. 587-598; siehe zur Problematik der Individualität auch die übrigen Beiträge des Bandes. »Die erste Form dieser Fragestellungen kann man die ›soziologische‹ nennen: mit welchen Augen sieht man den Alltag; sie ist der Ausgangspunkt von Texten wie Die Dinge, Träume von Räumen, Versuch einer Beschreibung einiger Pariser Orte sowie der Arbeit mit dem Team der Zeitschrift Cause commune um Jean Duvignaud und Paul Virilio.« G. Perec: »Anmerkungen über das, was ich suche« (Anm. 160), S. 9f. Neben der soziologischen nennt Perec die autobiographische, die oulipistische und die romanhafte Fragestellung. Als weitere Horizonte seines Schreibens benennt Perec die Welt, die ihn umgibt, die eigene Geschichte, die Sprache und die Fiktion. Ebd., S. 10. Georges Perec zit. nach J. Neefs/H. Hartje: Georges Perec, S. 58. J. Duvignaud: Perec ou la cicatrice, S. 52.
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dienkulturellen bzw. epistemischen Epochen anzugehören. Das befremdliche Gegenüberstehen von Dingen und Zeichen, die in der französischen Theorieszene der sechziger und siebziger Jahre aus Semiologie und Psychoanalyse, Soziologie und Medienkritik 284 in einer Logik des Tausches und des Begehrens zusammengeschlossen werden, erzeugt ein Gefühl von Desorientierung und Weltfremdheit. 285 In einem existenzialistisch geprägten und doch als Gegenentwurf zu Sartres Engagement zu lesenden Rückzug aus der massenmedialen Lebenswelt in eine Existenzlosigkeit, »l’inexistence«, 286 bringt die 1967 erschienene Erzählung »Un homme qui dort« den Topos der Gleichgültigkeit zur Darstellung: »Un homme qui dort, c’est les lieux rhétoriques de l’indifférence, c’est tout ce que l’on peut dire à props de l’indifférence.« 287 Ein junger Mann verfällt in seinem Zimmer, die meiste Zeit in seinem Bett verbringend, in einen Dämmerzustand, verliert den Kontakt zur Welt, reflektiert, imaginiert, phantasiert. Das dem Text vorangestellte und von Kafka entliehene Motto beschreibt diesen Rückzug als Wahrnehmungsexperiment: »Il n’est pas nécessaire que tu sortes de ta maison. Reste à table et écoute. N’écoute même pas, attends seulement. N’attends même pas, sois absolument silencieux et seul. Le monde viendra s’offrir à toi pour que tu le démasques, il ne peut faire autrement, extasié, il se tordra devant toi. Franz Kafka (Meditations sur le péché, la souffrance, l’espoir et le vrai chemin.)« 288
Der Wahrnehmung werden Oberflächen zu Zeichenmustern, deren Materialität und Sinnhaftigkeit sich dissoziieren: »les murs, les plafonds, comme s’ils étaient des toiles dont tu suis sans fatigue les dizaines, les milliers de chemins toujours recommencés, labyrinthes inexorables, texte que nul ne saurait déchiffrer, visages en décomposition.« 289 Im Schwellenbereich der Verkörperung zwischen sinnfreier Materialität und sinnhafter Referenzialität, im Zwischenfeld von Erzählstimme und an ein »du« gerichtete (Selbst-)Anrede gerät auch das Subjekt in eine Auflösung, wird zu einem Potenziellen: »Tu préfères être la pièce manquante du puzzle.« 290 Diese Reflexion des Subjekts als semiotische Leerstelle partizipiert an dem seit Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts geführten anthropologischen Diskurs der Weltfremdheit, aufgrund dessen, wie Andreas Steffens es darstellt, sich eine explizite philosophische Anthropologie erst etabliert. 291 Ausgangspunkt ist die Verschiebung in den Ordnungen der Repräsentation, insofern die Medien der Wahrnehmung als dem (Selbst-)Bewusstsein und den Konstruktionen von Lebenswelt vorgeschaltet oder als integraler Bestandteil dieser reflektiert werden. 284 285
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Genannt seien in diesem Zusammenhang die mit den Namen Lacan und Baudrillard verbundenen Diskurse. Diese Kluft spiegelt sich in der Gegenüberstellung von ideologie- und medienkritischen Analysen einerseits, wie sie Günther Anders, Adorno/Horkheimer, Jean Baudrillard und Neil Postman vertreten, und medienutopischen Beschreibungen und Praktiken mit und im Anschluss an McLuhan — wie sie auch die Pop-Kunst bestimmen — andererseits. Georges Perec: Un homme qui dort, Paris 1967, S. 55. G. Perec: »Pouvoirs et limites«, S. 37. G. Perec: Un homme qui dort, S. 9. Ebd., S. 56. Ebd., S. 45. Siehe A. Steffens: Die Wiederkehr des Menschen.
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Exemplarisch steht dafür Peter Sloterdijks Philosophie der Weltfremdheit. 292 Sloterdijk beschreibt Weltfremdheit als psychodynamische und anthropologische Disposition, von der aus die Medien des Selbst- und Weltvorstellens, insbesondere Sprache und Schrift, in den Blick genommen werden. Ist der Bezugspunkt der Konstruktionen von Lebenswelten die Fremdheit, so gilt es eine Sprache für diese Bodenlosigkeit zu finden. Hier stellt Sloterdijk der Abstraktion rationaler Weltbilder, der »kopernikanischen Mobilmachung«, wie sie beispielsweise in kybernetischen Weltentwürfen ihren Ausdruck findet, eine »ptolemäische Abrüstung« gegenüber, die den Schein des Sinnlichen wieder in ihr Recht setzt. Sloterdijks »ptolemäische Trugbilder« einer körperverankerten, »amimetischen kopernikanischen Ästhetik« finden in Perecs Ästhetik des trompe l’œil ihren Vorläufer. 293 Sloterdijks Kritik theoretischer Bodenlosigkeit, fokussiert eine Dimension des Affektiven und Energetischen, die auch Perec in der Idee der »Obsession« und der »Passion« formuliert. In den Horizont einer solchen Konzeption des Ästhetischen als aisthesis, als auf den trügerischen sinnlichen Schein gerichtete Wahrnehmungspraxis, wie sie Sloterdijk in seinem medienanthropologischen Essay beschreibt, fügt sich Perecs Wahrnehmungsexperiment ein. Wenn auch die Erzählung das Ästhetische nicht in eine Sprache der Begeisterung und affektiv-energetische Dimension der Schrift umsetzt, wie es Sloterdijks Essayistik unternimmt, so zeichnen sich bei Perec in der Zusammenknüpfung von Phänomenologie und Anthropologie Fragen der Medialität und der Korporalität ab, wie sie in einer als aisthesis begriffenen Ästhetik Sloterdijks ausformuliert werden. Wie eine phänomenologisch orientierte Anthroplogie sich als Frage nach der Materialität der Zeichen, nach den Medien und den Dimensionen des Körperlichen darstellt, lässt sich an den als soziologisch eingestuften Texten Perecs nachvollziehen. Als zentrale Problemstellung formuliert Perec: »Peut-être s’agit-il de fonder enfin notre propre anthropologie« 294 : »Nous dormons notre vie d’un sommeil sans rêves. Mais où est-elle, notre vie? Où est notre corps? Où est notre espace?« 295 Methode ist, nicht das Exotische, sondern das »InfraOrdinäre«, 296 die alltäglichen Dinge in ihrem lebensweltlichen Gebrauch zu
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Siehe Peter Sloterdijk: Weltfremdheit, Frankfurt/M. 1993. Siehe Peter Sloterdijk: Kopernikanische Mobilmachung und ptolemäische Abrüstung. Ästhetischer Versuch, Frankfurt/M. 1987. Georges Perec: »Approches de quoi?«, in: ders., L’infra-ordinaire, Paris 1989, S. 9-13, hier S. 11. (»Annäherung an was?«, in: ders., Warum gibt es keine Zigaretten beim Gemüsehändler?, Bremen 1991, S. 7-10). Der Text erschien zuerst in der Zeitschrift »Cause commune«, Nr. 5 (Februar 1973), S. 3-4. Eine Liste weiterer Aufsätze Perecs, die er in der Zeitschrift »Cause commune« veröffentlicht hat: Georges Perec: »Bibliographie approximative (dactylogramme)«, in: Cahiers Georges Perec. Nr. 1, S. 307-322. G. Perec: »Approches de quoi?«, S. 11 (Anm. 294). Duvignaud berichtet, Virilio habe den Begriff des Infra-Ordinären erfunden, »pour évoquer ce labyrinthe de sens et de familiarité dont ne se préoccupent guère ni les pouvoirs ni les acteurs de l’histoire.« J. Duvignaud: Perec ou la cicatrice, S. 51. »Virilio vient de l’école spéciale d’architecture. La genèse et la mutation des formes le fascinent, telles quelles obéissent aux invitations guerrières, politiques, et rarement au tout-venant de la vie.« Ebd., S. 50f.
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befragen: »Warum gibt es keine Zigaretten beim Gemüsehändler?« 297 Zwischen ontologischen und ästhetisch-poietischen Impulsen changierend, fragt Perec nach einer Sprache des Infra-Ordinären, wobei schon die für die deutsche Übersetzung gewählte Überschrift des Essays zu einer Anthropologie des Infra-Ordinairen, »Warum gibt es keine Zigaretten beim Gemüsehändler?«, eine psychodynamische Disposition der Verwunderung und des Schelmischen in Szene setzt und bezüglich der Sprache des Weltvorstellens in Richtung einer sloterdijkschen Schreibweise des Affektiven und der Begeisterung weist: »Comment parler des ces ›choses communes‹, comment les traquer plutôt, comment les débusquer, les arracher à la gangue dans laquelle elles restent engluées, comment leur donner un sens, une langue: qu’elles parlent enfin de ce qui est, de ce que nous sommes.« 298
Perecs Anthropologie des Infra-Ordinairen leiste, so Andreas Steffens in einem Beitrag zu Motiven anthropologischer Ästhetik in der französischen Gegenwartsphilosophie, insofern »diese Arbeit menschlicher Selbstbegründung«, als »wir im denkenden Umgang mit der Kunst diesen Punkt einer elementaren Verwunderung« erreichen können. 299 Als Arbeit an einer Sprache der Verwunderung und Erkundung der Medien des Weltvorstellens und der kulturellen Erfahrungsbildung lassen sich die »Deux cent quarante-trois cartes postales en couleurs véritables«300 verstehen, ein Text, der 42 Grußtexte von Ansichtskarten als Kombination rhetorischer Topoi und stereotyper Postkarten-Formulierungen auflistet. Vergleichbar der Kunst, die objets trouvés im musealen Raum einem irritierten Blick aussetzt, stellt Perec Sprachformeln der Anverwandlung des Fremden und Exotischen in den repetitiven Wahrnehmungsmustern der Urlaubsgrüße aus. Die Reisebewegung als topografische Durchquerung wird in die kombinatorische und spielerische Abfolge der Textabsätze und Postkartentexte verlegt. In der Serialität wird das Komische, Karnevaleske und Trügerische dieser Behauptungen des Paradiesischen und Pittoresken, dieser Konstruktionen von Räumen und Erfahrungen, dieser Projektionen von Entdeckungsszenen und Erlebniswelten in Szene gesetzt. 297
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So die Grundfrage, welche für die deutsche Übersetzung als Titel der Sammlung »L’infra-ordinaire« gewählt wurde. G. Perec: Zigaretten beim Gemüsehändler, S. 10. Die Frage ist dem Eingangstext »Approches de quoi?« entnommen: »Pourquoi ne trouve-t-on pas de cigarettes dans les épiceries?« G. Perec: »Approches de quoi?« (Anm. 294), S. 13. Ebd., S. 11. Andreas Steffens: »›Warum gibt es keine Zigaretten beim Gemüsehändler?‹. Motive einer anthropologischen Ästhetik in der französischen Gegenwartsphilosophie«, in: Weimarer Beiträge 14 (1998) H. 1, S. 104-117. Steffens beschreibt Perecs Anthropologie des Infra-Ordinären als »Rückwendung auf das Unmittelbare der Existenz«. Einen Schritt auf das Selbst hin, so Steffens, hätten wir mit Perecs »Anthropologie der Unmittelbarkeit« gemacht, wenn wir angesichts von Fragen wie »Warum gibt es keine Zigaretten beim Gemüsehändler« uns fragten, »wie wir bloß auf diese Frage zuerst mit dem Lachen der Dummheit hatten reagieren können, für die es nicht eine Frage gibt.« Ebd., S. 115f. Georges Perec: »Deux cent quarante-trois cartes postales en couleurs véritables«, in: ders., L’infra-ordinaire, S. 33-67. (»Zweiundvierzig Postkarten in Echtfarbdruck«, in: ders., Zigaretten beim Gemüsehändler, S. 27-59).
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Wie Projektionen von Räumen und Lebensräumen, die kulturellen Imaginationen der Großstadt beipielsweise, in Ordnungen der Schrift und der Sprache verankert sind, führt Perec in seinem Entwurf einer Semiotik der Stadt anhand der Metropole London vor: »Même si Londres n’est plus depuis longtemps la plus grande métropole du monde, elle reste encore le symbole du monde, elle reste encore le symbole même de ce qu’est une ville: quelque chose de tentaculaire et de perpétuellement inachevé, un mélange d’ordre et d’anarchie, un gigantesque microcosme où est venu s’agglomérer tout ce que les hommes ont produit au cours de sciècles. Un simple fait de langage rend compte de cette exacerbation citadine: là où les Français n’ont plus guère de sept mots pour dédigner ce que d’un terme générique on appelle une rue (rue, avenue, boulevard, place, cours, impasse, venelle), les Anglais en ont au moins vingt (street, avenue, place, road, crescent, row, lane, mews, gardens, terrace, yard, square, circus, grove, greens, houses, gate, ground, way, drive, walk etc.) […].« 301
Perecs Text, eine Mischung von Erinnerung, Reiseführerwissen, literarischen Remineszenzen und allgemeinen Reflexionen, präsentiert sich analog der strukturellen Dynamik des Stadtraumes als Wucherung von Schreibweisen zur Stadt. Die Poetik der Stadt erweist sich als Ordnungsprozess, als Kartografierung eines mobilen Stadtraumes, wie ihn Georges Perec und der Architekt Paul Virilio in ihren Spaziergängen wahrnehmen und erfahren: »Sie laufen lange durch Paris und beide sind Städter, Bewohner der bewegten Ausbreitungen der Straßen, der vielfältigen Blicke, die sich kreuzen, Plätze, an welchen man das Leben lernt.« 302 Perecs »Perec/rinations«, 303 eine Sammlung unterschiedlicher Rätsel, die sich auf die Topografie und Geschichte Paris beziehen, lassen sich als Handlungsanweisungen zur Erkundung der Stadt und als eine Art Reiseführer verstehen, insofern sie beispielsweise nach verschiedenen Wegen durch die Stadt fragen, etwa entlang der Anfangsbuchstaben von Straßennamen. Topografie wird zur Entdeckungsreise, wobei es die sprachlichen Strukturen sind, welche die topografische Konstruktion bestimmen und das Rätsel in seiner kommunikativen und interaktiven Struktur zum Modell alltäglicher lebensweltlicher Konstruktionen machen. Den Aufzeichnungssystemen semiotischer Ordnungen und kultureller Imaginationen wendet sich Perec mit Blick auf seinen Schreibtisch zu, der als 301
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Georges Perec: »Promenades dans Londres«, in: ders., L’infra-ordinaire, S. 77-87, hier S. 78f. (»Spaziergänge in London«, in: ders., Zigaretten beim Gemüsehändler, S. 67-7). Zur Konstruktion der Stadt Paris in »Un homme qui dort« schreibt Georges Dumas: »La lecture de Perec nous suggère de voir la ville (cet exemple priviligié de spatialité construite), c’est voir à partir de soi-même, c’est voir en soi-même. La ville de Paris n’existe pas sans la totalité de ceux et celles qui, souvent à leur propre insu, projettent sur elle leurs images de Paris.« Denis Dumas: »Georges Perec: Paris, vu de l’interieur«, in: Lendemains 52 (1989), S. 17-25, hier S. 23. Siehe zu einer Poetik der Stadt auch Klaus R. Scherpe(Hg.): Die Unwirklichkeit der Städte. Großstadtdarstellungen zwischen Moderne und Postmoderne, Reinbek b.H. 1988. J. Duvignaud: Perec ou la cicatrice, S. 51. Georges Perec: Perec/rinations, Paris 1997. Posthum von Bernard Magné herausgegeben.
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prototypisches Modell für Instrumente und Systeme der Wissensordnungen in einer Schriftkultur steht, für ein experimentalkulturelles System und seine technischen und symbolischen Ordnungen, Ort der Generierung und Verarbeitung von Zeichen und Aufzeichnungssystemen ist: »Au premier plan, se détachant nettement sur le drap noir de la table, se trouve une feuille de papier quadrillé, de format 21 x 29,7, presque entièrement couverte d’une écriture exagérément serrée, et sur laquelle on peut lire: le bureau sur lequel j’écris est une ancienne table de joaillier, en bois verni [...].« 304
Ausgehend von der Materialität der Schrift in Form eines mit Tinte bedeckten Papiers, inszeniert Perec in »Still life/Style leaf« Schwellenbereiche von Ordnungen der Schrift, Ordnung der auf dem Schreibtisch befindlichen Dinge 305 und Ordnungen des Wissens – in selbstreflexiver Konstellation die Ordnungen der Schreibszene zugleich schreibend entwerfend. Dieses Schreibprojekt stellt Perec als anthropologisches und poetologisches vor: »Genauer gesagt, es ist wieder einmal eine Art und Weise, meinen Raum abzustecken, eine etwas umständliche Annäherung an meine tägliche Erfahrung, eine Möglichkeit über meine Arbeit zu sprechen, über meine Geschichte, über meine Sorgen, das Bestreben, etwas zu erfassen, das zu meiner Erfahrung gehört, nicht als spätere Reflexion, sondern im Augenblick ihres Zustandekommens.« 306
Nicht die Inventur, sondern die Schreibszene als Akt der Verkörperung, Verkörperung als Ereignis der Medialisierung wird in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt. Die Inszenierung dieses Schwellenbereiches stellt mit Hans Ulrich Gumbrecht Aspekte einer dem sinnkulturellen System der Repräsentation entgegensetzten Präsenzkultur in den Vordergrund, im Horizont derer es Begriffe wie »Zeichen«, »Ereignis«, »Spiel« und »Theater« umzudefinieren gelte. 307 An der Oper als »spezifischen Typus der Produktion von Präsenz«, als »Technik zur Herstellung auffälliger Gegenwart« 308 geschult, sieht Gumbrecht das präsenzkulturelle Dispositiv durch die körperliche Orientierung im Raum geprägt, durch die Ununterscheidbarkeit von Form und Substanz im 304
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Georges Perec: »Still life/Style leaf«, in: ders., L’infra-ordinaire, S. 107119, hier S. 113. (»Still life/Style leaf«, in: ders., Zigaretten beim Gemüsehändler, S. 92-102). Seine konstitutive Rolle für die Erkundung der Experimentalkultur erhält der Schreibtisch als Modell der Organisation von Wissen, insbesondere in Folge der von Vannemar Bush entworfenen MemexMaschine, Vorläufer des Computers und dem Modell des Schreibtischs nachempfunden. Siehe P. Lévy: »Die Erfindung des Computers«. Siehe auch Georges Perec: »Anmerkungen hinsichtlich der Gegenstände die auf meinem Schreibtisch liegen«, in: ders., In einem Netz gekreuzter Linien, S. 15-20. Ebd., S. 20. Vgl. H.U. Gumbrecht: »Produktion von Präsenz«, S. 64. Gumbrecht beobachtet, dass sich die Dimension der »Präsenz« in den philosophischen Diskussionen zur Ästhetik im zwanzigsten Jahrhundert zunehmend durchsetzt. Gumbrecht geht von einer grundlegenden Unterscheidung zwischen sinnkultureller »Repräsentation« und präsenzkultureller »Re-Präsentation« aus. Vgl. ebd., S. 66. Wie Zeit die dominante Dimension einer Sinnkultur sei, so werde Präsentkultur vornehmlich durch den Raum, durch körperliche Orientierungen im Raum bestimmt. Vgl. ebd., S. 67. Ebd., S. 74.
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Zeichen, durch die fehlende Differenz von »Alltagsernst« und Spiel bzw. Fiktion bestimmt, durch den Normalfall von nicht mehr als theatraler zu bezeichnender »Verkörperung (die Strukturierung einer Substanz durch Form)« 309 sowie durch ein »Oszillieren zwischen Wahrnehmung und Sinn, zwischen der Dimension von Präsenz und der Dimension von Absenz.« 310 Perecs Poetik reflektiert diese Ereignishaftigkeit im Raum der Schrift, nimmt Schrift in ihren präsenzkulturellen Dimensionen in den Blick. An der metonymischen Verschiebung 311 beispielsweise führt Perec die Konnexion von sprachlichem Spiel und kultureller Bedeutungsbildung, der (performativen) Strukturierung der Substanz durch Form, der Ununterscheidbarkeit von logischen und phantastischen Ordnungen vor: »Il y a longtemps que le mot ›bureau‹ ne fait plus penser à la bure, cette grosse étoffe de laine brune dont on faisait parfois des tapis de table mais qui servaient surtout à confectionner des robes de moine, et qui continue d’évoquer, aus moins autant que la haire et le cilice, la vie rugueuse et rigoureuse des Trappistes ou des anachorètes. Par métonymies successives, on est passé dudit tapis de table à la table à écrire elle-même, puis de ladite table à la pièce dans laquelle elle était installée, puis à l’ensemble des meubles constituant cette pièce, et enfin aux activités qui s’y exercent, aux pouvoirs qui s’y rattachent, voire même aux services qui s’y rendent [...].« 312
Der präsenzkulturelle Aspekt des Schreibaktes als Raumerkundung wird in Perecs Projekt »Tentative d’épuisement d’un lieu parisien« 313 noch deutlicher, écriture wird als Schreibszene, als in die Lebenswelt ausgreifende Szenerie des Schreibens präsentiert: »Il s’est installé au café de la Mairie, place Saint-Sulpice, et il décompose l’espace visible, avec la même furie de classifier ce qui paraît une vision fellinienne de la ville qui, à l’investigation de Virilio, le conduira à Espèces d’espaces.« 314
In dem 1974 erschienenen Band »Espèces d’espaces«, der Konnexionen von Räumlichkeit und Schreibakt in unterschiedlichsten Textformen und Schreibweisen auslotet, 315 wird deutlich, dass der Raum nicht nur ein durch den Be309 310 311
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Ebd., S. 69. Ebd., S. 76. Inwiefern diese metonymische Verschiebung und die aus ihr resultierenden Differenzen als fundamentale Erfahrung das Schreiben Perecs organisieren — wie es sich auch im zweisprachigen Titel »Still life/Style leaf« wiederspiegelt — zeigt Magné auch anhand der hebräischen Buchstaben in den Texten Perecs auf. Siehe Bernard Magné: »Bout à bout tabou: about Still life/Style leaf«, in: M. Ribière (Hg.), Parcours Perec, S. 97-108. Georges Perec: »Le Saint des Saints«, in: ders., L’infra-ordinaire, S. 89-95, hier S. 89. (»Das Allerheiligste«, in: ders., Zigaretten beim Gemüsehändler, S. 77-82). Das Projekt ist beschrieben in J. Duvignaud: Perec ou la cicatrice, S. 54. Ebd. Siehe dazu auch die grundlegende Studie Gaston Bachelard: Poetik des Raumes, München 1960. Bachelard schließt in seiner Poetik des Raumes an Emil Staigers Studie »Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters« an. Die Einbildungskraft des Dichters erforschend, geht Bachelard den Bildern räumlicher Strukturen als plötzliches Hervortreten von Bildern im poetischen Akt nach,
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obachter projizierter ist, sondern dass für das Schreiben über den Raum der Raum selber integraler Teil des Schreibaktes ist. Auf Ebene der Materialität der Schrift lotet die auf der ersten Seite präsentierte Figur – ein von einer schwarzen Linie umrahmtes weißes Quadrat mit der Unterschrift »Figure 1. Carte de l’océan (extrait de Lewis Carroll, La chasse au snark)« – das Zusammenspiel von gezeichneter Linie, abgegrenzter Räumlichkeit, Zeichenhaftigkeit der Schrift und Imagination phantastischer Räume aus. Es ist die Anfänglichkeit der Schrift, in ihrer Materialität und Zeichenhaftigkeit Unterscheidungen zu markieren, die Perec ins Bild setzt. Vergleichbar dem Aleph in seiner mythopoetischen Potenzialität verweist Perec hier auf die Räumlichkeit der Schrift in ihrer semiotischen Potenzialität. Eine weitere Schreibweise der Inszenierung von Raum präsentieren die auf der folgenden Textseite angeordeten Begriffe aus dem semantischen Feld »espace«, die in ihrer vertikalen Reihung Schrift als räumliche Organisation von Worten in Szene setzen. Das Vorwort setzt mit einer Reflexion über Abgrenzung von Raum als Anfänglichkeit der Schrift ein: »L’objet de ce livre n’est pas exactement le vide, ce serait plutôt ce qu’il y a autour, ou dedans (cf. Fig. 1). Mais enfin, au départ, il n’y a pas grand chose: du rien, de l’impalpable, du pratiquement immatériel: de l’étendue, de l’extérieur, ce qui est à l’extérieur de nous, ce au milieu de quoi nous nous déplaçons, le milieu ambiant, l’espace alentour.« 316
Von der Materialität und Medialität der Schrift ausgehend, lenkt Perec zur anthropologischen Funktion einer Schrift als Ordnungs- und Orientierungstechnik über: »Bref, les espaces sont multipliés, morcelés et diversifiés. […] Vivre, c’est passer d’un espace à un autre, en essayant le plus possible de ne pas se conger.« 317
In Form eines kurzen Dramas in drei Akten 318 wird die Etablierung eines Zentrums im leeren Raum und damit der Prozess der Besiedelung und Zivilisation – ein (militärisches) Zelt wird aufgeschlagen – durch eine Stimme aus dem Off beobachtet und beschrieben. Das sich anschließende zweistrophige Gedicht »Chanson enfantine des Deux-Sèvres (Paul Eluard, Poésie involontaire et poésie intentionelle.)« 319 zählt immer kleiner werdende räumliche Strukturen auf, die Stadt, die Straße, das Haus etc., und kehrt diese Ordnung in der zweiten Strophe um.
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die in Bezug zu den psychoanalytisch verstandenen Archetypen stehen. Siehe zu diesen Verflechtungen von Ontologie und Phänomenologie, Poetik und Ereignisästhetik die zusammenfassende Darstellung in der Einleitung Bachelards; vgl. ebd., S. 9-34. Georges Perec: »avant-propos«, in: ders., Espèces d’espaces, S. 14-13, hier S. 13. Ebd., S. 14. G. Perec: Espèces d’espaces, S. 15. Perec gibt zu dem kurzen dreiaktigen Drama folgenden Hinweis: »(Auteur inconnu. Appris vers 1947, remémoré en 1973.)«. Ebd., S. 16.
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3. EXPERIMENTELLE ÄSTHETIK DER SCHRIFT. GEORGES PEREC
Perec führt in unterschiedlichsten Schreibweisen écriture als Entwerfen räumlicher Strukturen vor, wobei die in Szene gesetzten Formen der écriture zugleich in ihrer kulturellen Konventionalisierung ausgestellt werden. Grafische Figur, textuelles Schriftbild, Drama und Kinderlied zeigen auf je eigene Weise den Prozess materieller und kulturell codierter Verkörperungen räumlicher Strukturen und machen deutlich, dass dieser Prozess der Formung des Raumes immer ein spielerischer und theatraler ist. Das Selbstreflexive dieser Schrift-Inszenierungen unterstreicht auch der Titel des sich anschließenden Textes, »la page« sowie das vorangestellte Motto »J’écris pour me parcourir. Henri Michaux«; in unterschiedlichen Variationsformen wird die Formel »J’écris« wiederholt: »J’écris: je trace des mots sur une page«. Im Sinne einer präsenzkulturellen Ästhetik wird hier der Akt der Schrift als Vollzug in Szene gesetzt. Der Text gestaltet, was er semantisch besagt und performativ ausstellt, dabei die Buchseite bzw. die Materialität des Geschriebenen als nachträgliche grafische Spur eines Schreibaktes ausstellend: »Avant, il n’y avait rien, ou presque rien; après, il n’y a pas grand-chose, quelques signes, mais qui suffisent pour qu’il y ait un haut et un bas, un commencement et une fin, une droite et une gauche, un recto et un verso.« 320 Die Besiedelung des Raumes durch die Materialität der Schrift steht am Ursprung der Schrift. »J’écris: j’habite ma feuille de papier, je l’investis, je le parcours. Je suscite des blancs, des espaces (sauts dans le sens: discontinuités, passages, transitions.« 321 Das Motiv der Reise bezeichnet die Praxis des Schreibens, fortschreitend Unterscheidungen zu markieren, darin Differenzen zu generieren, Übergänge und Überschreitungen. Die Materialität der Kommunikation und Grenzen medialer Verkörperungen auslotend, beschreibt Perec die Ränder, »J‘écris dans la marge...«. 322 »Il y a peu d’évènements qui ne laissent au moins une trace écrite. Presque tout, à un moment ou un autre, passe par une feuille de papier […] où sur n’importe quel autre support de fortune […] sur lequel vient s’inscrire ces divers éléments qui composent l’ordinaire de la vie: cela va en ce qui me concerne […] d’une adresse prise au vol […] de notes prises à une quelconque conférence au gribouillage instantané d’un truc pouvant servir (un jeu de mots, un jet de mots, un jeu de lettres, ou ce qu’on appelle communement une ›idée‹), d’un ›travail‹ littéraire (écrire, qui, se mettre à sa table et écrire, se mettre devant sa machine à écrire et écrire, écrire pendant toute une journée, ou pendant toute une nuit, esquisser un plan, mettre des grands i et des petits a, faire des ébauches, mettre un mot à coté d’un autre, regarder dans un dictionnaire, recopier, relire, raturer, jeter, réécrire, classer, retrouver, attendre que ça vienne, essayer d’arracher à quelque chose qui aura toujours l’air d‘être un barbouillis inconsistant quelque chose qui ressemble à un texte, y arriver, ne pas y arriver, sourire (parfois), etc.) à un travail tout court (élémentaire, alimentaire): cocher dans une revue donnant, dans le domaine des sciences de la vie (life sciences), le sommaire de quasiment toutes les autres, les titres susceptibles d’intéresser les chercheurs dont je suis censé as-
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Ebd., S. 18. Ebd., S. 21. Ebd.
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SZENEN DER SCHRIFT surer la documentation bibliographique, rédiger des fiches, rassembler des références, corriger des épreuves, etc. Et cetera.« 323
Schreiben wird als Projekt permanenten Arbeitens an der Schrift vorgestellt, von der gezeichneten Linie über die mittels Zeichen strukturierten Räume bis zum Entwerfen kultureller Orientierungen – insofern der Schrift die Potenzialität aller möglichen Welten eignet: »L’espace commence ainsi, avec seulement des mots, des signes tracés sur la page blanche. Décrire l’espace: le nommer, le tracer […]. L’aleph, ce lieu borgésien où le monde entier est simultanement visible, est il autre chose qu’un alphabet?« 324
Schrift wird als kartografischer Akt präsentiert, die Deixis – »il y a« – als Mittel der räumlichen Positionierung vorgeführt, Schreiben bezeichnet als ein »simulacre d’espace, simple prétexte à nomenclature: mail il n’est même pas necessaire de fermer les yeux pour que cet espace suscité par les mots, ce seul espace de dictionnaire, ce seul espace de papier, s’anime […].« 325 Die Verwunderung an den Ursprung der Schrift setzend, entwirft Perec eine Konzeption von Schrift als Raum organisierende und anthropologische Technik. Schrift stellt er als Simulation topografischer Strukturen vor, als Materialität und Imagination zusammenschließende Medialität der Schrift. Eine weitere Perspektive auf die Konnexion von Schrift und Raum lässt sich über die Frage nach der Dimension des Körpers gewinnen. In enger Anlehnung an Vilém Flussers philophisch-poetische Reflexion über das Bett, den Schlaf und die Sprache der Dichtung, »Das Bett«, 326 entfaltet das Kapitel »le lit« in »Espèces d’espaces«, einsetzend mit einer ironischen Variation auf den ersten Satz der »Recherche du temps perdu«, »Longtemps je me suis couché par écrit. Parcel Mroust«, eine phänomenologische Reflexion über das Bett als Möblierung und Lebensraum, vergleichbar den Essays über Büro und Schreibtisch. Sich auf die Studie des Anthropologen Marcel Mauss über »les techniques du corps« beziehend, 327 wird der Körper in seinem Beteiligt323 324 325 326
327
Ebd. Ebd. Ebd., S. 22. Perec verweist auf das Erscheinen dieses Essays von Vilém Flusser in der Zeitschrift »Cause Commune«, Nr. 5 (1973), S. 21-27; vgl. G. Perec: Espèces d’espaces, S. 29. Dieser Essay ist abgedruckt in: V. Flusser: Dinge und Undinge, S. 89-109. Im Blick auf diese »Techniken des Körpers«, die Marcel Mauss in »Soziologie und Anthropologie« untersucht hat, worauf Perec sich bezieht, gelte es, eine »Geschichte unseres Körpers« zu rekonstruieren, um die »Kultur, die unsere Gesten und unsere Haltungen geformt hat«, zu verstehen. Georges Perec: »Lesen: sozio-physiologischer Abriß«, in: ders., In einem Netz gekreuzter Linien, S. 87-101, hier S. 87. Am Beispiel eines »sozio-physiologischen Abriß des Lesens« unternimmt Perec »so etwas wie eine Ökonomie der Lektüre unter ihren ergologischen (Physiologie, Muskelarbeit [...])« und »sozioökologischen (raum-zeitliche Umgebung) Aspekten.« Ebd., S. 88. Perec beschreibt die Bewegung von Augen, Stimme und Lippen, Händen und Haltungen im Lektüreprozess und visiert in weiterer Perspektive eine Typologie der Lesesituationen an: »Wie wirkt sich dieses Zerhacken des Textes aus, diese vom Körper, von den anderen, von der Zeit, vom Grollen des Kollektivlebens unterbrochene Aufnahme?« Ebd., S. 100f. An die Anmerkungen über das Lesen schließt der Text »Betrachtungen über Brillen« an, welcher diverse ethnografische, anthropologische, soziale, physiologische, historische, linguisti-
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3. EXPERIMENTELLE ÄSTHETIK DER SCHRIFT. GEORGES PEREC
sein an Lektüre und an den Akten Phantasierens in den Blick genommen, wie in »Un homme qui dort« oder auch in dem Michel Leiris entlehnten Zitat »Lit = île« 328 angedacht, das auf das Bett als Ort des Anderen verweist, auf das Exotische als ethnografisches Phantasma, die Insel als Projektionsfläche von Wünschen und Träumen. Wie die Schrift Simulation räumlicher Strukturen ist, so sind Lebensräume illusionär geschaffene Orte der Imagination von Lebenswelten. Neben dem Traum ist die Erinnerung eine Körpertechnik und Imagination verbindende Praxis, wie sie Perec mit dem Projekt, alle Schlafstätten in Erinnerung zu rufen, 329 in Angriff nimmt: »La seule certitude coenesthésique de mon corps dans le lit, la seule certitude topographique du lit dans la chambre, réactive ma mémoire […]«. 330 Am Ursprung der Idee des Körpergedächtnisses als Erinnerungsraum steht der durch die Bewegung des Körpers organisierte Raum: »C’est sans doute parce que l’espace de la chambre fonctionne chez moi comme une madeleine proustienne […].« 331 In dieser leibzentrierten Perspektive wird das anthropologische Projekt einer Aneignung von Raum als Lebenwelt weiterentwickelt: »Habiter une chambre, qu’est-ce que c’est? Habiter un lieu, est-ce se l’approprier? Qu’est-ce que s’approprier un lieu? A partir de quand un lieu devient-il vraiment vôtre?« 332 Einen aufschlussreichen Grenzfall der Entwürfe von Lebensräumen 333 stellt der Versuch dar, einen nutzlosen Raum zu denken, der daran scheitert, dass es nicht-definierte Räume nicht geben kann, da der anfängliche Akt der Abgrenzung von Raum keinen unmarkierten Raum zulasse: »Le langage lui-même, me semble-t-il, s’est avéré inapte à décrire ce rien, ce vide, comme si l’on ne pouvait parler que de ce qui est plein, utile, et fonctionnel. […] Comment penser le rien? Commen penser le rien sans automatiquement mettre quelque chose autour de ce rien, ce qui en fait un trou, dans lequel on va s’empresser de mettre quelque chose, une pratique, une fonction, un destin, un regard, un besoin, un manque, un surplus...?« 334
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sche Diskurse über Brillen inszeniert, ausgehend von der Schwierigkeit, dass Perec kein Brillenträger ist. Das Sehen mache den Körper als Instanz der Wahrnehmung deutlich; das Sehen erklärt Perec als körpertechnische Bewegung im Raum, mittels derer ein Gesichtsfeld konstruiert wird, das der Raumorganisation zugrunde liegt. Wie Perec es für andere Raumkonatruktionen auslotet, funktioniert auch der Entwurf des Sehraums als Operation der Grenzziehung. Siehe Georges Perec: »Betrachtungen über die Billen«, in: ders., ebd., S. 104-116. G. Perec: Espèces d’espaces, S. 26. Siehe Georges Perec: »Drei wiedergefundene Zimmer«, in: ders., In einem Netz gekreuzter Linien, S. 21-24. G. Perec: Espèces d’espaces, S. 33. Ebd., S. 34. Ebd., S. 36. Siehe auch den Entwurf von Lebensräumen in dem Kapitel »L’appartement«, (vgl. ebd., S. 42f.), als in Form von Listen verzeichnete Kombination aus Wohnräumen, Uhrzeiten, Familienmitgliedern und alltäglichen Handlungen, die einander zugeordnet werden. In dieses Modell, in dem familiäre Kultur und ihre Lebenswelt durch die Zuordnung von Bewegungen in Räumen und Zeiten organisiert sind, führt Perec den Grenzfall einer Wohnung ein, deren Räume nach Wochentagen benannt sind. Ebd., S. 47, 48.
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Was im Semantischen nicht möglich ist, lässt sich auf Ebene der Materialität der Schrift, im Grafischen, veranschaulichen oder auch in der Figur eines Gedankenexperiments, den nutzlosen Raum als phantastisches Modell, als alle anderen Räume organisierenden, als Potenzialität von Räumlichkeit zu denken: »Ce n’était pas plus difficile, en somme, que pour les lecteurs de La Bibliothèque de Babel de trouver le livre donnant la clé des autres.« 335 Vor dem Hintergrund dieser Potenzialität räumlicher Ordnungen, konzipiert Perec Schreiben als Akt des Entwerfens räumlicher Ordnungen und stellt in immer neuen Formen die typografischen, intermedialen und grammatischen Möglichkeiten der Schrift aus, topografische Strukturen und Lebensräume zu organisieren. 336 Phänomenologische, semiotische und performativen Dimensionen der Schrift interagieren im Horizont dieser medienanthropologischen Poetik der Raumes. Der Roman »La Vie mode d’emploi« wird in den Rahmen dieses Projektes der Erkundung von Räumen eingebunden, einerseits indem Türen und Wände als Schwellenbereiche und Grenzüberschreitungen vorgestellt werden und Perec die Imagination des hinter den Wänden Verborgenen – »Etant donné un mur, que se passe-t-il derrière?« 337 – als fundamentalen Akt romanesker Phantasie und Fiktion beschreibt: »Je mets un tableau sur un mur et ensuite j’oublie qu’il y a un mur. […] Les tableaux effacent le murs. Mais les murs tuent les tableaux.« 338 Darüber hinaus stellt das Kapitel »immeuble« die dem Romanprojekt zugrunde liegende architektonische Planskizze vor. 339 Literatur und Schreiben werden als auf Akte des Entwerfens räumlicher Strukturen und lebensweltlicher Ordnungen begründet vorgeführt, die Schreibweisen der »Espèces d’espaces« inszenieren aus immer neuen Perspektiven das Ereignis topografisch-medialer Verkörperung. Ansichtig gemacht werden Schwellenbereiche der Formierung von Sinn im räumlich gedachten und Raum orientierenden Akt der Schrift: »Se forcer à écrire ce qui n’a pas intérêt […].« 340 »Se forcer à épuiser le sujet, même si ça a l’air grotesque, ou futile, ou stupide.« 341 335 336
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Ebd., S. 48. Unter dem Titel »Emménager« präsentiert Perec Verben, die Handlungen bezeichnen, die im Zusammenhang mit dem Beziehen einer neuer Behausung stehen. Vgl. ebd., S. 50f. Die Aufzählung, die mit den drei Verben »s’installer«, »habiter« und »vivre« endet, verdeutlicht die grammatische Form der Verben als Tätigkeitswörter, zeigt die Eroberung des Raumes als Lebensraum aus der körperlichen Bewegung heraus, veranschaulicht Sprache als Kulturtechnik. In etwas abgewandelter Weise stellt der Text »Von einigen Anwendungen des Verbs wohnen« (In: In einem Netz gekreuzter Linien, S. 12-14) Antworten auf die Frage nach dem Wohnort vor — »Ich wohne in Frankreich […] Ich wohne in Europa […] Ich wohne auf dem Planeten Erde« —, spielt potenzielle Situationen durch, in welchen diese Antworten angemessen sein könnten, wobei die logische Fortführung dieser Reihe in einer Science-Fiction-Szenerie endet: »Befände ich mich hingegen irgendwo in der Gegend des Arcturus oder des KX1809B1 [...].« Ebd., S. 14. G. Perec: Espèces d’espaces, S. 55. Ebd. Das Kapitel »immeuble« (ebd., S. 57-63) beschreibt ein »Projet de roman«, die Skizze eines Pariser Wohnhauses, dessen Fassade abgenommen ist, sodass alle Zimmer gleichzeitig sichtbar sind — eine der vier Grundfiguren des Romans »La Vie mode d’emploi«. Ebd., S. 71.
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3. EXPERIMENTELLE ÄSTHETIK DER SCHRIFT. GEORGES PEREC »Continuer. Jusqu’à ce que le lieu devienne improbable [...], jusqu’à ne plus comprendre ce qui se passe ou ce qui ne se passe pas, que le lieu tout entier devienne étranger, que l’on ne sache même plus que ça s’appelle une ville, une rue, des immeubles, des trotttoirs... « 342
Angesichts der Unsicherheit und Phantastik des Semantischen und Referentiellen wird die Aufmerksamkeit auf die Materialität der Schrift verlagert, in der Präsentation der Materialität wird Schreiben als Akt und Aktualität gesetzt, als Bewegung und Körpertechnik: »j’écris lentement, très lentement, le plus lentement possible, je trace, je dessine chaque lettre, chaque accent, je vérifie les signes de ponctuation […].« 343 In dieser Distanzierung wird Schrift zum Medium der Weltfremdheit bzw. zum Medium einer per se als phantastische konstruierten Welt. Vor dem Horizont dieser dem Oszillieren von Sinn und Verkörperung inhärenten Phantastik macht Perec sein Schreibprojekt zu einem umfassenden, in den Lebensvollzug ausgreifenden Akt der Schrift, in dem Raum und Zeit, Aktualität und Erinnerungstechnik verbunden werden. Einem Algorithmus folgend, nimmt Perec sich vor, während zwölf Jahre zwölf Orte in Paris, an denen er gewohnt hat oder mit welchen ihn besondere Erinnerungen verbinden, aufzusuchen, um sie einmal direkt von Ort zu beschreiben und einmal aus dem Gedächtnis den Ort zu rekonstruieren, und so Erinnerungsräume zu gestalten: »Je m’éfforce alors de décrire le lieu de mémoire […]«. 344 Dieses Projekt »Les lieux« bildet in der Rekonstruktion von Erinnerung und der Sichtbarmachung von Zeit die Grundlage für Perecs »autobiographisches Schreiben«: »ce que j’attends, en effet, n’est rien d’autre que la trace d’un triple viellissement: celui des lieux eux-mêmes, celui de mes souvenirs, et celui de mon écriture.« 345 Wird Schrift als Technik räumlicher Organisation zum Medium lebensweltlicher Entwürfe, so wird sie zugleich, den zeitlichen Verlauf reflektierend und im Prozess der Schrift ansichtig machend, zum rememorativen Medium. Dabei geht es nicht um das zu Rekonstruierende, sondern um die Bewegung des Erinnerns und um das Imaginäre dieses Prozesses: Den utopischen Heimaträumen – »alternative nostalgique (et fausse): Ou bien s’enraciner, retrouver, ou façonner ses racines«346 – stellt Perec das mouvement gegenüber, die Bewegung, das Nomadische, die Durchquerung dezentrierter, heimatloser Räume, das ein permanentes Reorganisieren fordert, wie sie prototypisch die transitorischen Orte der Großstadt verkörpern: »Je suis un homme de villes; je suis né, j’ai grandi, et j’ai vécu dans des villes. Mes habitudes, mes rythmes et mon vocabulaire sont des habitudes, des rythmes et un vocabulaire d’homme de villes.« 347 Raum konstruiert sich als variabler in der Grenzüberschreitung: »Parcourir le monde, le sillonner en tous sens, ce ne sera jamais qu’en connaître quelques ares, quelques arpents […].« 348 In me341 342 343 344 345 346 347 348
Ebd., S. 73. Ebd., S. 74. Ebd., S. 75. Ebd., S. 76. Siehe dazu auch den Text: Georges Perec: »Rund um Beaubourg«, in: ders., Zigaretten beim Gemüsehändler, S. 60-66. G. Perec: Espèces d’espaces, S. 77. Ebd., S. 96. Ebd., S. 94. Ebd., S. 105.
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dienanthropologischer Perspektive beschreibt Perec Raum und Welt als durch menschliche Autoren und Konstrukteure medientechnisch geschaffene: »[…] le monde, non plus comme un parcours sans cesse à refaire, non pas comme une course sans fin, un défi sans cesse à reveler, non pas comme le seul prétexte d’une accumulation désespérante, ni comme illusion d’une conquête, mais comme retrouvaille d’un sens, perception d’une écriture terrestre, d’une géographie dont nous avons oubliés que nous sommes les auteurs.« 349
In den Vordergrund treten dabei immer wieder die Schwellenbereiche von Methodik und Phantastik als den medientechnischen Konstruktionen inhärente Dynamik, hier in der Formulierung Calvinos, die Perec zitierend aufgreift: »Si bien que le monde et l’espace semblaient être le miroir d’un de l’autre et l’un et l‘autre minutieusement historiée de hiéroglyphes et d’idéogrammes, et chacun d’eux pouvait aussi bien être ou ne pas être un signe […].« 350
Das letzte Kapitel in »Espèces d’espaces« führt in prototypischer Weise das im Spiel vollzogene Entwerfen von Bedeutungsräumen vor: in essayistischer Schreibweise werden Zahlen und Schriften, Textformen und Stile, Zitate und Diskurse, Narratives und Reflexionen gemischt und inszenieren sich so als permanente Grenzüberschreitungen realer, fiktiver und imaginärer Räume, als Durchquerungen im Raum der Schrift. Der letzte Text weitet die Frage nach dem unbwohnbaren Raum auf den konkreten historischen Raum aus: Der Text »l’inhabitable« präsentiert eine Aufzählung menschenfeindlicher Orte, gefolgt von einem Brief vom 6. November 1943 zur Bepflanzung der Krematorien im Konzentrationslager Auschwitz. Diesen historischen Lebensräumen des Terrors wird einerseits die Utopie stabiler Ordnungen gegenüber gestellt, andererseits die Fragilität permanent zu rekonstruierender Lebensräume: »J’aimerais qu’il existe des lieu stables, immobiles, intangibles, intouchés et presque intouchables, immuables, enracinés; des lieux qui seraient des références, des points de départ, des sources: […] De tels lieux n‘existent pas, et c’est parce qu’ils n‘existent pas que le lieux devient question, cesse d’être évidence, cesse d’être incorporé, cesse d’être approprié. L’espace est un doute: il me faut sans cesse le marquer, le désigner; il n’est jamais à moi, il ne m’est jamais donné, il faut que j’en fasse la conquête. Mes espaces sont fragiles: le temps va les user, va les détruire: rien ne ressemblera plus à ce qui était, mes souvenirs me trahiront, l’oubli s’infiltrera dans ma mémoire, je regarderait sans les reconnaître quelques photos jaunis aux bords tout cassés […]. L’espace fond comme le sable coule entre les doigts. Le temps l’emporte et ne m’en laisse que des lambeaux informes: Ecrire: essayer méticuleusement de retenir quelque chose, de faire survivre quelque chose: arracher quelques bribes précises au vide qui se creuse, laisser, quelque part, un sillon, une trace, une marque ou quelques signes.« 351 349 350 351
Ebd., S. 105. Ebd., S. 108. Ebd., S. 122f.
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Schreiben wird zur medienanthropologischen Praxis, zur Markierung von Lebensräumen und zur Reflexion und Inszenierung des Aktes der Markierung. Literatur ist immer Abenteuer- und Reiseliteratur in dem Sinne, Welten, die immer phantastische und illusionäre sind, zu erschaffen. Ergänzt werden die in »Espèces d’espaces« skizzierten Konzeptionen und Praktiken der Schrift durch den Band »Penser/Classer«, 352 in dem die Ansätze einer Schrift als Prozessualität, rhetorische Praxis, Körpertechnik und selbstreflexive Inszenierung in unterschiedlichen Schreibformen fortgeführt werden. Die Dichotomie von »Denken/Ordnen« verlagert die Konzeption der écriture auf die Ebene des Kognitiven, markiert, insbesondere in dem titelgebenden Text, die Schwelle von Sinn/Verkörperung. 353 Der Text präsentiert sich als Ansammlung von Wortlisten, Formulierungen, heterogenen Absätzen, das zum Nummerieren der verschienen Abschnitte benutzte Alphabet hält sich an die Reihenfolge des Auftretens der jeweiligen Buchstaben des Alphabets in der französischen Übersetzung der 7. Erzählung aus »Wenn ein Reisender in einer Winternacht« von Italo Calvino. 354 Im Oszillieren von Ordnung und Desorientierung führt Perec das Trügerische, den »taxonomischen Schwindel«, 355 der Konnexion von Denken und Ordnen vor: »Mäander inmitten der Wörter; ich denke nicht, sondern ich suche meine Worte: in dem Haufen muß es doch eins geben, das kommt, um diese Unschlüssigkeit, dieses Zögern, dieses Hin und Her, das später ›etwas besagen möchte‹, deutlich einzukreisen. Es ist auch und vor allem eine Sache der Montage, der Verzerrung, der Verdrehung, der Umwege, des Spiegels, mit andern Worten, der Floskel wie der folgende Absatz nachweisen möchte.« 356
Dass der Schwindel der Materialität der Schrift inhärent ist, die im Oszillieren von Materialität und Sinn die Orientierungsleistungen des Kognitiven nachbildet, führt das metonymische Sprachspiel vor: »›Denken/Ordnen‹ zum Beispiel läßt mich denken an ›lenken/borden‹ oder auch an ›schwenkend horten‹ oder auch an ›schenk’n Orden‹. Ist es das, was man denken nennt?« 357
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In deutscher Übersetzung: G. Perec: In einem Netz gekreuzter Linien. Dieser Sammelband fasst Texte zusammen, die Perec in den Jahren 1976 bis 1982 veröffentlicht hat. Der Text setzt in Szene, »den Gedanken auf das ihn begründende Ungedachte zurückzuverweisen, so wie das Geordnete auf das zu Ordnende (das Unnennbare, das Unsagbare), das zu verbergen es sich unablässig bemüht...« Georges Perec: »›Denken/Ordnen‹«, in: ders., In einem Netz gekreuzter Linien, S. 117-137, hier S. 119. Vgl. ebd., S. 136. Um einen Eindruck dieses heterogenen Essays zu geben, sei der erste Absatz zitiert: »D) Kurze Inhaltsangabe. Kurze Inhaltsangabe — Methoden — Fragen — Die Welt als Puzzle — Utopien — Zwanzigtausend Meilen unter den Meeren — Vernunft und Denken — Die Eskimos — Die Weltausstellung — Das Alphabet — Die Klassifizierungen — Die Hierarchien — Wie ich ordne — Borges und die Chinesen — Sei Shônagon — Die unsagbaren Freuden der Aufzählung — Das Buch der Rekorde — Niedrigkeit und Unterlegenheit — Das Lexikon — Jean Tardieu — Wie ich denke — Über Aphorismen — »In einem Netz gekreuzter Linien« — Verschiedenes — ?« Ebd., S. 117. Ebd., S. 121. Ebd., S. 134. Ebd., S. 133.
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SZENEN DER SCHRIFT
Perecs Ästhetik der Schrift ist ein Beispiel nach-metaphysischer SchriftKonzeption, wie Sloterdijk sie in seinen philosophischen Essays zu beschreiben und vorzuführen unternimmt. In phänomenologischer, semiotischer und medialer Perspektive inszeniert Schrift sich als Wahrnehmungsdispositiv, als Zeichenprozess und Akt medialer Verkörperungen. Wie Sloterdijk an eine aktuelle, seit den achtziger Jahren virulente Ästhetik als aisthesis anschließt, so lässt sich auch die auf Täuschungen und Simulationen bezogene Ästhetik Perecs als Medienästhetik der Schrift beschreiben. Die Theatralität lebensweltlicher bzw. autobiographischer Konstruktionen lässt sich in einem in Zusammenarbeit von Georges Perec und Harry Mathews entstandenen Text nachvollziehen, »Roussel et Venise. Esquisse d’une géographie mélancolique«, 358 in dem das In-Szene-Setzen einer autobiographische Lektüre als phantastische topografische Ordnung beobachtet und vorgeführt wird. Mit dem Begriff der Verkörperung, dem der Psychoanalyse entlehnten Terminus der »incorporation«, 359 beschreiben Perec und Mathews das Phantasma einer verdrängten Trauer, das sie in der Struktur der Texte Roussels gespiegelt finden. »L’œuvre de Roussel est, pensons-nous, commémoration unique de ses autres voyages, non de ceux qu’il fait dans sa vie publique, mais de ceux qui prirent place dans le ›système topologique secret‹ où il avait enfoui la perte de son objet unique: Ascanio. Le lieu de cette topographie est Venise.« 360
Nach einem vorgeblich aufgefundenen Schriftstück Roussels konstruieren Mathews und Perec in philologischer Editionsarbeit dieses »geheime topologische System« Venedig, das den Werken Roussels unterliege. Perec und Mathews führen die pseudo-philologische Rekonstruktion einer Lebensepisode und eines Werkstücks eines realen Autors vor, zeigen die Arbeit biographischer Interpretation und inszenieren die Konstruktion eines sinnhaften Zentrums, das entweder der Verlust eines Menschen oder ein geheimes Erlebnis in Venedig sein könnte: »L’architecture urbaine de Venise est théâtre et n’est que théâtre: un trompe-l’œil […].« 361 »Ces dérives d’itinéraire [...] font de Venise cet espace onirique dont Roussel put tirer la mappemonde de son œuvre, les sites et les axes de ses livres [...].« 362 Der Stadtraum Venedig ist eine theatrale Projektion, wie die Welten der Bücher imaginäre sind und die zugrunde gelegte biographische Karte eine phantastische ist: »il n’y a pas de mystère Roussel, son œuvre ne constitue pas une enigme à résoudre; c’est notre lecture seule, notre soif d’explications [...] qui suscite autout d’elle cette impression d’un secret à forcer.«363 In diesem Sinne wird auch die zuvor angestellte philologische Rekonstruktion und
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Zuerst erschienen in: L’Arc 68 (1977), S. 9-25; abgedruckt in: G. Perec: Cantatrix Sopranica L. et autres écrits scientifiques, Paris 1991, S. 73-115; deutsche Übersetzung: Roussel und Venedig. Entwurf zu einer melancholischen Geographie, Berlin 1991. Vgl. H. Mathews/G. Perec: Roussel et Venise, S. 84f. Ebd., S. 87. Ascanio war der sechzehnjährige Sohn einer Freundin, den Roussel auf einer Venedigreise kennengelernt hatte und der im darauf folgenden Jahr verstorben ist. Vgl. ebd., S. 80f. Ebd., S. 88. Ebd., S. 90. Ebd., S. 106.
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3. EXPERIMENTELLE ÄSTHETIK DER SCHRIFT. GEORGES PEREC
autobiographische bzw. psychoanalytische Lektüre in ihrem illusionären Charakter entlarvt: »Toute explication Roussel achoppe en fin de compte sur la seule évidence d’une méthode infinie. Que cette piéce hypothétique dont nous avons tenté de décrire l’éventuelle genèse soit l’ultime et posthume métonymie d’un séjour vénitien autour duquel se serait organisé le phantasme d’écriture, renvoie, non à l’illusion d’un discours qui prétendrait dire Roussel, mais, finalement, à l’émotion incomparablement rousselienne qui saisit le voyageur lorsque, arrivant devant les Apostoli, il découvre pour la première fois la ville dont Roussel fut l’architecte mental.« 364
Perec führt vor, dass das Phantasma bzw. das Imaginäre der Schrift auf die zugrunde gelegte Konzeption und Praxis von Schrift zurückzuführen ist. Angesichts des der Schrift und ihre Entwürfe inhärenten taxonomischen Schwindels, des theatralen Illusionismus und der Poetik des trompe l’œil stellt sich die Frage, wie Schrift als Medium autobiographischen Schreibens, das Perec als einen der Horizonte seiner Arbeit angibt, funktionieren könnte.
3.3.2 Autobiographie als phantastische Topografie. »W ou le souvenir d’enfance« Die Interpretation scheitert an der Evidenz ihrer Methode, hatten Perec und Mathews bezüglich der topologisch-biographischen Lektüre Roussels konstatiert, eine Beobachtung, die auch auf die Auseinandersetzung Perecs mit der Psychoanalyse übertragbar ist. 365 In dem Beitrag »Orte einer List« 366 , erschienen in einer dem Thema »List« gewidmeten Ausgabe der Zeitschrift »Cause ommune«, konstruiert Perec eine Schreibszene in der Konnexion von Schrift, Psychoanalyse, Archäologie und Autobiographie – Jean-Yves Pouilloux spricht von einer »mise en scène de la parole« 367 : »Ich wollte schreiben, ich mußte schreiben, ich mußte im Schreiben, durch das Schreiben die Spur dessen wiederfinden, was gesagt worden war […].« 368 Die im Horizont von Psychoanalyse und Poststrukturalismus der siebziger Jahre nur noch als diffe-
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Ebd., S. 107. Perec hatte sich mehrfach psychoanalytischen Behandlungen unterzogen. Der Artikel »Orte einer List« (in: In einem Netz gekreuzter Linien, S. 46-56) bezieht dich auf die Sitzungen in dem Zeitraum von Mai 1971 bis Juni 1975. Georges Perec: »Orte einer List«, in: ders., In einem Netz gekreuzter Linien, S. 46-56. Der Beitrag erschien zuerst in: Cause commune 1 (1977 ), S. 77-88. Jean-Yves Pouilloux: »Une écriture en trompe l’œil«, in: Cahiers Georges Perec. Nr. 4, S. 19-25, hier S. 45. Pouilloux weist darauf hin, dass dem trompe l’œil und der psychoanalytischen Arbeit die analoge Funktion zukomme, das nicht Sagbare zu evozieren. Pouilloux beschreibt die Arbeit Perecs als »transcription«. Pouilloux kann damit stellvertretend für die breite Richtung der Perec-Forschung stehen, die die textuellen Strukturen als Spuren der psychisch-existenziellen Dimension deutet, eine Konstruktion, die Perec in der Reflexion der psychoanalytischen Praxis in Szene setzt. Zu einer psychoanalytischen Lesart Perecs siehe auch Anita Miller: Peinture et projet d’anamnese, in: Cahiers Georges Perc. Nr. 6, S. 56-79. Miller verbindet eine an Freud ausgerichete Interpretation mit Magnés Ansatz des Autobiographems und erklärt Perecs Schreiben als Übersetzung in eine andere Sprache. G. Perec: »Orte einer List«, S. 46.
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renzielle gedachten Konzeptionen von écriture und Subjekt 369 werden bei Perec unter dem Signum der List und der Täuschung, im Spiel von Materialität der Zeichen und phantastischer Imagination zusammengeführt: »Die List umgeht etwas, doch wie umgeht man die List? Frage als Falle, Frage als Vorwand, noch vor dem Text, um jedesmal den unvermeidlichen Augenblick des Schreibens hinauszuzögern. Jedes Wort, das ich niederschrieb, war nicht etwa ein Anhaltspunkt, sondern ein Umweg, ein Anlaß, vor mich hinzuträumen. In diesen fünfzehn Monaten habe ich über den Wort-Mäandern geträumt, wie ich vier Jahre lang auf der Couch vor mich hingeträumt und dabei die Friese und Risse an der Decke betrachtet habe.« 370
Der von einer Erzählerstimme in der ersten Person verfasste (autobiographische) Bericht »Orte einer List« und die Erzählung »Un homme qui dort« entwerfen dieselbe Schreibszene, inszenieren écriture als Ereignis des Aufschiebens – »Eines Tages würde ich anfangen zu reden, würde ich anfangen zu schreiben«, 371 als »Ort des Zögerns, der Illusionen und der Streichungen«. 372 Deutlich wird die Szenographie eines Arrangements von Schrift als Erinnerungsarbeit und Geschichtstechnik entwickelt: »So versank ich, auf der Couch liegend, […] vier Jahre lang in diese geschichtslose Zeit, in diesen nicht existierenden Ort, der der Ort meiner Geschichte, meines noch abwesenden Wortes werden sollte.« 373 Die mit der zeitgenössischen Theorie der écriture konzipierte Choreographie der Signifikanten zeigt in ihrer Theatralität ihren spielerischen, selbstreferentiellen und illusionären Charakter: »Leichtfüßig lief ich über die allzu gut markierten Wege meiner Labyrinthe. Alles bedeutete etwas, alles war miteinander verknüpft, […] der große Walzer der Signifikanten, die ihre liebenswürdigen Ängste abspulten.« 374
Die in dem Roman »La Vie mode d’emploi« zu einem virtuosen Spiegelkabinett gestalteten Trugbilder scheinen auch mit Blick auf autobiographisches Schreiben, auf Archive, Gedächtnismedien und Erinnerungstechniken, unhintergehbar: »Von da an wurde alles Mißtrauen, meine Wörter ebenso wie sein [des Psychoanalytikers; P.G.] Schweigen, ein langweiliges Spiegelspiel, in dem die Bilder sich unaufhörlich ihre Möbius’schen Girlanden zuwarfen […]. Wo war das Wahre? Wo war das Falsche? Als ich zu reden, etwas von mir zu sagen, diesen inneren Clown anzugehen versuchte, der so gut mit meiner Geschichte jonglierte, diesen Taschenspieler, der sich so wunderbar Illusionen über sich selber zumachen wußte, hatte ich sofort den Eindruck, daß ich im Begriff war, wieder mit dem gleichen Puzzle anzufangen, als ob ich, weil ich eine nach der anderen alle möglichen Kombinationen
369 370 371 372 373 374
Siehe zu einem einführenden Überblick das Kapitel »Jacques Lacan und die Psychoanalyse«, in: S. Münker/A. Roesler: Poststrukturalismus, S. 10-13. G. Perec: »Orte einer List«, S. 47. Ebd. Ebd. Ebd., S. 51. Ebd., S. 52.
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3. EXPERIMENTELLE ÄSTHETIK DER SCHRIFT. GEORGES PEREC ausgeschöpft hatte, eines Tages zu dem Bild finden könnte, das ich suchte. Gleichzeitig folgte so etwas wie der Bankrott meines Gedächtnisses: ich hatte auf einmal Angst vor dem Vergessen, als ob ich nichts, es sei denn, ich schriebe alles auf, von dem dahinfließenden Leben zurückbehalten könnte.« 375
Wie Perec Passion und Obsession der pétrification entgegensetzt, so wird auch hier Schrift zu einem Medium des Affektiven, insofern – in medienästhetischer Perspektive – Dimensionen des Emotionalen und Affektiven in die Konzeption von Schrift eingehen und in der écriture wiederum ansichtig gemacht werden: »Diese sinnlose Angst, meine Spuren zu verlieren, war begleitet von einer Wut, zu bewahren und zu ordnen.« 376 In dieser affektiven Disposition wird das Zeichen an den Körper rückgebunden, wird im Begriff der Gebärde die Semiotik der Schrift und des Leibes verknüpft: »Über diesen unterirdischen Ort habe ich nichts zu sagen. Ich weiß, daß es ihn gegeben hat und daß seine Spur von nun an in mir und in den Texten, die ich schreibe, angelegt ist. Es dauerte solange, bis meine Geschichte sich zusammenfügte: sie wurde mir eines Tages voller Überraschung, voller Verwunderung, sehr heftig als eine in ihren Raum rekonstruierte Erinnerung, als eine Gebärde, eine wiedergefundene Wärme geschenkt.« 377
Im Horizont einer List der Schrift in ihrer Kontingenz, Dezentrierung und Ambivalenz von Sinnbildungen verlagert Perec mit dem Begriff der Gebärde die Konstruktion der Geschichte und des Selbstentwurfes ins TheatralPerformative und macht sie zu Inszenierungen sinnlich-physiologischer und körperlicher Ausdruckspotenziale. Den Inszenierungen nach psychoanalytischem bzw. autobiographischem Skript folgend, konvergieren die beiden in der Perec-Forschung auszumachenden Tendenzen strukturalistischer und biographischer Lesarten in einer gemeinsamen autobiographischen Interpretation, wie Bernard Magné unterstreicht und wie es sich an zahlreichen Beispielen aufzeigen ließe. 378 Die 375 376 377 378
Ebd., S. 53. Ebd., S. 54. Ebd., S. 56. Siehe B. Magné: »Préambule«; siehe bspw. Eric Béaumatin: »Présentation: ›L’homme et l’œuvre‹ ou comment en sortir«, in: Cahiers Georges Perec. Nr. 4, S. 9-13; auch die im Cahiers Georges Perec Nr. 6 versammelten Aufsätze zur Thematik der Malerei und des Visuellen argumentieren zumeist somiotisch und erklären die sich in Schrift und Malerei spiegelnden Strukturen als metatextuelle Figuren, die ihren Erklärungswert im Blick auf die Biographie entfalten. Motte beispielsweise geht Perecs »poétique de la lettre« bezüglich jüdischer Wurzeln in Zeichenformen und Schreibweisen nach: »Concluons la lettre chez Perec revoie aux origines.« Warren F. Motte: »Embellir les lettres«, in: Cahiers Georges Perec. Nr. 1, S. 110-124, hier S. 122. Auch Jacques Roubaud und Bernard Magné schlagen vergleichbare Lektüren der »auto(bio)textes« — eine von Philippe Lejeune entlehnte Bezeichnung — Perecs vor. Magné stellt den Zusammenhang einer oulipistischen Texttheorie und einer »écriture du moi« vor: »[C]’est à partir de ces règles biographiquement motivés que le texte s’élabore [...].« Bernard Magne: »Georges Perec. Oulibiographe«, in: P. Kuon (Hg.), Oulipo — poétiques, S. 41-62, hier S. 45. »L’oulibiographie pouvant alors se définir comme le sousensemble de l’autobiotexte en relation avec les pratiques oulipiennes.« Ebd., S. 46. Beispielhaft macht Magné seine These an der nummerischen
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strukturalistischen Lesarten zur »oulibiographie« oder zum »auto(bio)texte« arbeiten implizit oder explizit nach einer von Wittgenstein entliehenen und hier mit Roubaud formulierten Erklärung: »[C]e sont des jeux de langage qui étaient pour lui forme de vie.« 379 Diese Lesart unterstellt einen SchriftBegriff, der eine strukturelle Analogie von Signifikantenordnung, Sinngeschichte und Lebensgeschichte stiftet. 380 In den Untersuchungen der dezidiert autobiographischen Schriften werden textstrukturelle, biographische und psychoanalytische Aspekte in Beziehung gesetzt. Der dem autobiographischen Schriften zugeordnete Text »W ou le souvenir d’enfance« wird in zahlreichen Ansätzen einer Analyse unterzogen, die eine als sprachspielerische vorgestellte oulipistische Produktionsästhetik zu einer autobiographischen Interpretationstechnik umfunktioniert, sodass, eine oulipistische Autobiographie rekonstruierend, eine quasi-kabbalistische Auslegung nummerischer und literaler Strukturen hinsichtlich biographischer Fakten vorgenommen wird. 381
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Struktur des Textes »W ou le souvenir d’enfance« fest, welcher in 37 Kapitel unterteilt ist, wobei Magné die Zahl 37 mit Perecs Geburtsdatum, dem 7. März, in Verbindung setzt. Komplexere nummerische Strukturen werden als Verweise insbesondere auf den Tod der Mutter gelesen, Magné lenkt in diesem Zusammenhang die Aufmerksamkeit auf die Zahlen 11 und 43, angesichts der Tatsache, dass Cyrla Perec am 11. Februar 1943 offiziell für verstorben erklärt worden war. Vgl. ebd., S. 48. Jacques Roubaud: »Le démon de la forme«, in: Magazine littéraire 316 (1993), S. 65-57, hier S. 66. Siehe dazu neben den strukturalistischen ganz zentral psychoanalytische Interpretationsansätze. Marthe Coppel-Batsch stellt »W ou le souvenir d’enfance« als Beispiel für die Verbindung von Psychoanalyse und Literatur vor, sieht dieses Werk als Schlüssel für das gesamte Schreiben Percs, das sie als von der psychoanalytischen Erfahrung geprägt betrachtet. Sie bezieht sich auf Perecs Aussage, während der ersten psychoanalytischen Kur noch zu Jugendzeiten das grundlegende Phantasma der Geschichte von W entwickelt zu haben. Folglich erscheinen ihr die Texte, vergleichbar der psychoanalytischen Rede, als Manifestierungen eines subtilen Spiels, das Träume und Realität verbinde, zentral beispielsweise in der Phantasie der KZ-ähnlichen Insel W, die auf den Tod der Mutter im KZ bezogen sei. Hebt Coppel-Batsch auch den illusionären Charakter jeglicher rememorierender Konstruktion hervor, so verfolgt sie die inszenatorischen Potenziale der Schrift nicht weiter, sondern stellt eine psychoanalytische Deutung vor. Siehe Marthe Coppel-Batsch: »Georges Perec, romancier de la psychoanalyse«, in: Les Temps modernes 54 (1999), S. 190-203. Wenn Coppel-Batsch auch das Illusorische der Rekonstruktionen betont, so macht sie als zentrales Thema den intimen Skandal der Verbindung von sexuellen Phantasmen und dem tragischen Schicksal der Mutter aus. Hierin schließt sie sich der klassischen psychoanalytischen Literaturinterpretation an, den Text als psychologischens Dokument im Blick auf die Psyche des Autors zu analysieren. Des Weiteren spricht sie der Psychoanalyse in ihrer rituellen Praxis die Fähigkeit zu, Perec eine magische Wiederbegegnung mit seiner Kindheit zu erlauben. Sie deutet das Schreiben als therapeutische Praxis, die Trennung von der Mutter zu überwinden. Siehe bspw. Philippe Lejeune: »Une autobiographie sous contrainte«, in: Magazine littéraire 316 (1993), S. 18-21. Lejeune versteht die Texte »Je me souviens« und »W ou le souvenir d’enfance« als Beispiele oulipistischer Autobiographien. Ergänzend Helga Rabenstein: »Décomposition — Composition: le double mouvement de W ou le souvenir d’enfance«, in: P. Kuon (Hg.), Oulipo — poétiques, S. 31-40. Rabenstein geht der Strukturierung eines autobiographischen Textes nach, »der unter einem Netz von Wörtern, Namen, Zahlen die biographische Leere bedeckt, aus der er entstanden ist […].«; sie führt zahlreiche Figuren an, die wie das umgedrehte W beispielsweise auf den Tod (Mort, Mémoire, Mots) verweisen. Siehe dieszüglich auch B. Magné: »Georges Perec. Oulibiographe«; Bernard-Olivier Lancelot: »Présentation
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3. EXPERIMENTELLE ÄSTHETIK DER SCHRIFT. GEORGES PEREC
In semiotischer Lesart lässt sich beispielsweise ein Netz multipler Verweisungen um eine zentrale Leerstelle rekonstruieren, die auf die Abwesenheit der Eltern bzw. den Tod der Mutter bezogen sei.382 Solche strukturellen, semiotischen und biographischen Konstellationen beschreibt Magné mit dem Roland Barthes’ entliehenen Begriffs des »auto(bio)graphems«, 383 ein Terminus, den Anne Roche aufgreift und den autobiographischen Text als dramatische und theatrale Sprachform beschreibt.384 Mit diesem Verweis auf das Theatrale der autobiographischen Schrift wäre dem immer Inszenatorischen einer als mediale Verkörperung zwischen einer Ordnung der Zeichen und den Figuren menschlicher Selbstreferenz gedachten Schrift nachzugehen. Einen zentralen Beitrag zur Erforschung der autobiographischen Schriften Perecs hat Philippe Lejeune in der Aufarbeitung der Genese der autobiographischen Projekte Georges Perecs geleistet. 385 Lejeune rekonstruiert in »La mémoire et l’oblique« die Entstehung insbesondere der Texte »W ou le souvenir d’enfance« und »Lieux«, stellt die frühen, nicht zur Ausführung gekommenen Arbeiten, wie die geplante Familienchronik »L’Arbre«, Entwürfe zu einem Roman »L’Age« und das unvollendet gebliebene Projekt »Lieux« vor, er verfolgt die frühen Selbstporträts und Formen autobiographischen Schreibens in unterschiedlichen Lebensphasen und zeigt die Verflechtungen mit Erzählungen, Romanen, Aufsätzen und Essays auf. Als Muster des autobiographischen Schreibens benennt Lejeune das Projekt »Lieux«: »Lieux est la matrice de tout travail autobiographique entre 1969 et 1975.« 386 Damit stellt er eine Idee autobiographischen Schreibens als geplanten, diskontinuierlich durchgeführten Prozess der Rekonstruktion von Gedächtnisorten (»lieux de mémoire«) vor, der nicht mit einem Text abzuschließen wäre, sondern in der Schreibdynamik die Dimensionen von Raum und Zeit intergriert und anschaulich macht, wie Perec formuliert hatte: »[…] ce que j’attends, en effet, n’est rien d’autre que la trace d’un triple viellissement: celui des lieux eux-mêmes, celui de mes souvenirs, et celui de mon écriture.« 387 In der Alternierung einer vor Ort entstandenen Erkundung wie einer aus dem Gedächtnis rekonstruierten Erinnerung der besuchten Orte wird das Ereignis der Schrift, die Aktualität des Schreibaktes als Mitschrift und Nachschrift zum eigentlichen Fokus. Das Geschriebene ist Dokument dieses Projektes und
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sous forme de montage ou l’état de manque«, in: Littératures 7 (1983), S. 23-30. Lancelot untersucht insbesondere grafische, geometrische Figuren in den Texten Perecs. »Toute la construction de Perec, toute son écriture repose sur cette rupture qui est absence et néant.« Ebd., S. 27. Siehe bspw. Bernard Magné: »Les structures dans W ou le souvenir d’enfance, in«: Cahiers Georges Perec. Nr. 2, W ou le souvenir d’enfance: une fiction, Paris 1988, S. 39-55. Magné zeigt ein weites Feld von lexikalischen, typologischen und topologischen Korrespondenzen auf, die als Spuren der zugrunde liegenden Biographie gelesen werden. Vgl. B. Magné: »Les structures dans W«. Vgl. A. Roche: »L’auto(bio)graphie«; dies.: »SouWenir d’enfance«, in: Magazine littéraire 193 (1983), S. 27-29; dies.: W ou le souvenir d’enfance de Georges Perec, Paris 1996. Siehe Philippe Lejeune: La mémoire et l’oblique: Georges Perec autobiographe, Paris 1991; ders.: »Les projets autobiographiques de Georges Perec«, in: M. Ribière (Hg.), Parcours Perec, S. 49-68; ders.: »La genèse de W ou le souvenir d’enfance«, in: Cahiers Georges Perec. Nr. 2, S. 119-153. Einen zentralen Beitrag zu einer strukturalistischen Autobiographieforschung hat Lejeune mit seiner Studie »Le pacte autobiographique« geleistet. Siehe Ph. Lejeune: La mémoire et l’oblique, S. 146. G. Perec: Espèces d’espaces, S. 77.
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stellt in seiner jährlichen Sukzession das eigene Altern und damit das Altern der Erinnerungen und der Orte zur Schau. An Perecs Formen autobiographischen Schreibens erweitert Lejeune seinen in »Le pacte autobiographique« entwickelten strukturalistischen Ansatz zur Autobiographie um die Dimensionen des Prozesshaften und Pragmatisch-Performativen. Medienästhetisch formuliert steht hinter »Lieux« und den autobiographischen Projekten Perecs eine Idee von Schrift als Präsenzmedium bzw. inszeniertes Präsenzmedium, als Zur-Schau-Stellung des Ereignisses medialer Verkörperung, als Reflexion von Schrift im Moment ihrer Entstehung und ihres Vollzuges, als an den Körper des Schreibenden gebundene Gegenwärtigkeit in Raum und Zeit. Anders als das Theater bewahrt Schrift das Flüchtige des Vollzuges auf, oszilliert in diesem Sinne zwischen Präsenz und Absenz. Aus der aktuellen Autobiographieforschung 388 lassen sich Ansätze einer medienästhetisch orientierten Perspektive gewinnen: Zurückgreifend auf das Feld der literarischen Anthropologie, 389 mit Blick auf die Materialität der Kommunikation, auf Konzeptionen des phänomenologisch Leiblichen und Dimensionen sinnlicher Erfahrung unternimmt beispielsweise Gerhard Rupp körper- und medienorientierte Lesarten autobiographischer Texte und medialer Selbstentwürfe in der deutschen Literatur der siebziger Jahre und spricht von einer »Ersetzung des Schreibens durch pragmatisch-authentische Kontexte«. 390 Nicht auf das Dokumentarische orientiert und aufschlussreicher für die Problematik der Medialität ist eine dekonstruktivistische Perspektive auf Schrift und Autobiographie, wie sie Derrida als Antwort auf den verstorbenen Freund Paul de Man und seine »Autobiographie als Maskenspiel« 391 in 388
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Die erste umfassende »Geschichte der Autobiographie« wurde durch den Dilthey-Schüler Georg Misch verfasst. Die zentralen Forschungsarbeiten zur Autobiographie der dreißiger, fünfziger und siebziger Jahre, insb. Dilthey, Misch, Pascal, Aichinger, Starobinski und Lejeune, finden sich auszugsweise versammelt in: G. Niggl (Hg.): Die Autobiographie. Einen einführenden Überblick geben M. Wagner-Engelhaaf: Autobiographie; M. Holdenried: Autobiographie. Wie sich die Anthropologie als neue populäre Wissenschaft des achtzehnten Jahrhunderts mit dem »ganzen Menschen« als einem leib-seelischen Ensemble beschäftigt, das Sinnliche und die Vernuft in eine Verbindung von Leib und Seele umdeutend, so ist sie darin mit der sich gleichzeitig entwickelnden Ästhetik verschwistert, die Subjektivität in ihren konkreten Erscheinungsformen in ihr Recht setzt. »Die Verbindung von Literatur und Anthropologie ereignet sich etwa im modernen Roman und gemäß der Romantheorie der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, im Drama und — vor allem — in der Autobiographie. [...] Was Wunder, daß Literatur ihrerseits sich als Anthropologie sui generis versteht, nämlich als einen authentischen, durch Selbsterfahrung und Selbstreflexion gewonnenen Aufschluß über die Natur des Menschen.« Helmut Pfotenhauer: Literarische Anthropologie. Selbstbiographien und ihre Geschichte — am Leitfaden des Leibes, Stuttgart 1987, S. 1. Der Funktionswandel der Autobiographie an der Epochenschwelle 1770 aus der pragmatisch gebundenen Rhetorik zu einem Medium individueller Selbstreflexion vollzieht sich auch auf der Ebene der Materialität, so konstatiert Gerhard Rupp. Mit dem Wandel zu einer quasi-ästhetischen Manifestation des totalisierenden Ichs geht eine Zunahme »sprechender« (literarischer) »körperlicher« Thematiken einher, welchen Rupp in einer dreiphasigen Geschichte der Autobiographie der Neuzeit nachgeht. Siehe G. Rupp: »KörperKonzept und sinnliche Erfahrung«. Paul de Man: »Autobiographie als Maskenspiel«, in: ders., Die Ideologie des Ästhetischen, Frankfurt/M. 1933, S. 131-145.
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»Mémoires. Für Paul de Man« 392 formuliert. Mit Lévinas eine Dimension des Ethischen unterstreichend, unternimmt Derrida Schreiben als »Trauerarbeit«, eine »Bewegung […], durch die eine verinnerlichende Idealisierung Körper und Stimme des anderen, sein Gesicht und seine Person in sich hineinnimmt, übernimmt, ideal und quasi-buchstäblich verschlingt.« 393 Als vergleichbare rememorative Praxis beschreibt Perec in der seinen Eltern gewidmeten Kindheitserinnerung »W ou le souvenir d’enfance« 394 die Genese seines Schreibens aus dem Verschwinden der Eltern: »Je n’écris pas pour dire que je ne dirai rien, je n’écris pas pour dire que je n’ai rien à dire. J’écris: j’écris parce que nous avons vécu ensemble, parce que j’ai été un parmi eux, ombre au milieu de leurs ombres, corps près de leurs corps; j’écris parce qu’ils ont laissé en moi leur marque indélébile et que la trace en est l’écriture: leur souvenir est mort à l’écriture; l’écriture est le souvenir de leur mort et l’affirmation de ma vie.« (W, 59)
Das Ereignis der Schrift wird zum Akt der Erinnerung, die Schrift wird zur Reflexion und Verkörperung imaginierter Körperlichkeit, um so mehr als Perec darauf hinweist: »Ma mère n’a pas de tombe.« (W, 57) Vor diesem Hintergrund lässt sich ein Schrift-Begriff annehmen, der nicht nur strukturell in Formen der Leere auf die Abwesenheit und den Tod der Eltern verweist, sondern als Praxis des Schreibens Geste desjenigen ist, der lebt, und zugleich Geste einer Trauerarbeit ist. In dieser Perspektive lassen sich einzelne Aspekte des Textes »W ou le souvenir d’enfance« näher in den Blick nehmen. Das Buch alterniert zwei Erzählungsstränge: die autobiographische Rückschau des Erzählers Perec auf seine Kindheit und die in der Kindheit ausgedachte Geschichte »W«, Geschichte einer auf der Insel »W« angesiedelten sportlich-kämpferischen, KZ-ähnlich organisierten Gesellschaft. 395 Diese Konstruktion wirft klassische Fragestellung der zwischen Historie und Fiktion eine Zwitterstellung einnehmenden Gattung der Autobiographie auf, spielt in den Schwellenbereichen von Realem und Fiktivem, Imaginärem und Phantastischem, 396 führt Vorstellungen von Geschichte, Archäologie, mythischer 392 393 394 395
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Jacques Derrida: Mémoires. Für Paul de Man, Wien 1988. Ebd., S. 58f., zit. nach T. Böning: »Dichtung und Wahrheit«, S. 349f. Die Widmung »Pour E« liest sich im Französischen homophon zu dem Personalpronomen »eux«, »pour eux« also wie »für sie« (2. Person Plural). Siehe dazu Muriel Philibert: Kafka et Perec: Clôture et lignes de fuite. Fontenay 1993. Zum Aspekt der Grausamkeit auch Claude Burgelin: »Perec et la cruauté«, in: Cahiers Georges Perec. Nr. 1, S. 31-52; Warren F. Motte: »Jeux mortels«, in: Georges Perec. écrire/transformer, S. 43-52. Die Erzählung erschien zuerst als Forsetzunggeschichte in der Quinzaine littéraire und anschließend überarbeitet als Buch. Zu der Frage nach Fakt und Fikion siehe insb. Cahiers Georges Perec Nr. 2: W ou le souvenir d’enfance: une fiction. Es stehen sich wieder die zwei Richtungen der Perec-Forschung gegenüber, die textstrukturellen versus biographischen bis psychoanalytischen Interpretationen, wie es auch Bénabou und Pouilloux im Vorwort skizzieren. Die versammelten Aufsätze sind nach textstrukturellen Kriterien eingeteilt: Peritext, Text, Intertext, Text und Vortext. Zur Genese der Erzählung siehe Ph. Lejeune: La genèse de »W ou le souvenir d’enfance«. Zur Fiktionsproblematik siehe Mireille Ribière: »L’autobiographie comme fiction«, in: Cahiers Georges Perec. Nr. 2, S. 25-38. Es ist diese Unsicherheit von Realität und Phantastik, die Perec in der Schrift inszeniert, beispielsweise in-
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Zeit und Gegenwärtigkeit zusammen. Archäologie und Geschichte werden, in den Rahmen der Kinderphantasie eingefügte, zu phantastischen: »Celui qui pénétra un jour dans la Forteresse n’y trouvera d’abord qu’une succession de pièces vides, longues et grises. [M]ais il faudra qu’il poursuive longtemps son chemin avant de découvrir, enfouis sand les profondeurs du sol, les vestiges souterrains d’un monde qu’il croira avoir oublié: des tas de dents d’or, d’alliances, de lunettes, des milliers et des milliers de vêtements en tas, des fichiers poussiérreux, des stocks de savon de mauvaise qualité...« (W, 218)
Wie diese Verschiebung des Historischen ins Phantastische, so verweist auch die Verlagerung von Erinnerung in eine mythische Zeit auf eine fundamentale Geschichtlosigkeit bzw. Bodenlosigkeit von Geschichte. Der viel zitierte Satz Perecs »Je n’ai pas de souvenirs d’enfance« (W, 13) ist einerseits in Bezug zu sehen zu seiner Aussage, die Vorkriegszeit gehörte einer mythischen Zeit an, 397 sowie andererseits zu der in ihrer Faktizität jegliche individuelle Kindheitserfahrung und -erinnerung substituierenden Geschichte: »une autre histoire, la Grande, l’Histoire avec sa grande hache, avait déjà répondu à ma place: la guerre, les camps.« (W, 13) Modelle der Entwicklungs- und Bildungsgeschichte des Individuums substituierend, wird der Selbstentwurf an die Konzeption eines Schreib-Projektes gebunden und mit der Idee von Schrift als rememorativem Prozess verknüpft: »[…] le projet d’écrire mon histoire s’est formé presque en même temps que mon projet d’écrire.« (W, 35) Dass diese aus der Perspektive der Medialität von Selbstentwürfen unternommene Rekonstruktion nur eine phantastische sein kann und eine, die in ihrem inszenatorischen Charakter und ihrer Theatralität letztlich nur ihre Methode vorführt, darauf verweist Perec mit der Anmerkung, die Kindheitsphantasie »W« sei ihm während eines Aufenthaltes in Venedig wieder eingefallen. Wie in »Roussel et Venise« entwirft Perec mit der Insel W eine »melancholische Geographie«, eine phantastische Topografie des Terrors. Verflochten mit den trügerischen Entwürfern einer Kartografierung der eigenen Kindheit anhand von verbliebenen Fotos, Schriftstücken und Erinnerungen wird die Schrift zur Reflexion phantastischen Erinnerns:
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dem er der wiedergefundenen Kindheiterinnerung Fußnoten anfügt, in denen er das Berichtete in Frage stellt: »Je ne sais qu’elle est l’origine de ce souvenir que rien n’a jamais confirmé.« (W, 53). Die Episoden werden als aus literarischen Quellen zusammenphantasierte Episoden entlarvt (vgl., S. 56), die dadurch ebenso imaginär werden wie die Insel W, über deren Entstehen es »de nombreuses variantes« (W, 90f.) gibt. »Lorsque j’évoque des souvenirs d’avant-guerre, il se réfèrent pour moi à une époque appartenant au domaine d’un mythe: ceci explique qu’un souvenir puisse ›objectivement‹ faux [...].« Georges Perec: »Post-scriptum«, in: ders., Je me souviens, S. 119. Vergleichbar dazu ist die Aussage: »Longtemps j’ai cherché les traces de mon histoire, consulté des cartes et des annuaires, des monceaux d’archives. Je n’ai rien trouvé et il me semblait parfois que j’avais rêvé, qu’il n’y avait eu qu’un inoubliable cauchemar.« (W, 10) An anderer Stelle betont Perec die Unbrauchbarkeit von Informationen für sein autobiographisches Projekt: »je dispose d’autres renseignements concernant mes parents; je sais qu’ils ne me seront d’aucun secours pour dire ce que je voudrais en dire.« (W, 58)
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3. EXPERIMENTELLE ÄSTHETIK DER SCHRIFT. GEORGES PEREC »Une fois de plus, les pièges de l’écriture se mirent en place. Une fois de plus, je fus comme un enfant qui joue à cache-cache et qui ne sait pas ce qu’il craint ou désire le plus: rester caché, être découvert.« (W, 14) »Il y aurait, là-bas, à l’autre bout du monde, une île. Elle s’appelle W. […] une tache vague et sans nom dont les contours imprécis divisaient à la peine la mer et la terre.« (W 89, 90)
Als Grenzüberschreitung an den Schwellen der Verkörperung entwirft sich der Schreibakt und mit ihm die Erinnerungslandschaft, das sich selbst schreibende Ich: »W ne ressemble pas plus à mon fantasme olympique que ce fantasme olympique ne ressemblait à mon enfance. Mais dans le réseau qu’ils tissent comme dans la lecture que j’en fais, je sais que se trouve inscrit et décrit de chemin que j’ai parcouru, le cheminement de mon histoire et l’histoire de mon cheminement.« (W, 14)
Auch in der Aufzeichnung von Zeit, im Bild des Weges, wird Schrift zu einer Figur menschlicher Selbstreferenz, zu einem Medium der Verkörperung menschlicher Selbstentwürfe in projizierten Erinnerungsszenen, die permanent ihre eigene mediale Konstruktion reflektieren. Schrift als Markierung von Territorien, als szenischen Entwurf der Territorialisierung denkend, führt »W« den Entwurf eines unbewohnbaren Raumes vor. 398 Wie die Systeme und Strukturen des Terrors beschrieben werden, so zeigt Schrift das Terroristische, das im Gebrauch der Zeichen liegt und im Zusammenspiel von Sinn und Verkörperung erzeugt wird. »Pendant des années, j’ai dessiné des sportifs aux corps rigides, aux facies inhumains; j’ai décrit avec minutie leurs incessants combats; j’ai énuméré avec obstination leurs palmarès sans fin.« (W, 219)
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Die Insel W wird zur Allegorie jeglicher Terrorsysteme: als konstitutiver Teil des Systems wird der Zufall deutlich, der Schicksals- und Aberglaube generiert, das Komische und Groteske werden zu Symptomen des Grauens, die Inszenierung ist integraler Bestandteil des Terrors, offensichlich gemacht wird die Rhetorik der Herren und der Opfer — die Herrensprache wird durch das deutsche Idiom und den Befehlston charakterisiert: »Schnell, los Mensch« (W, 220; im Original deutsch) —, »Courir courir sur les cendrées, courir dans les marais, courir dans la boue. Courir, sauter, lancer les poids. Ramper. S’accroupir, se relever. Se relever, s’accroupir. Très vite, de plus en plus vite. Courir en rond, se jeter à terre, raper, se relever, courir.« (W, 215) Perec veranschaulicht den Terror als System, der jeglichen Lebensraum und jegliche Lebensaktivität zum »struggle for life« (W, 119) umfunktioniert. Der systematische Terror ist individuelle Erfahrung und kollektive Geschichte, darüber hinaus anthropologische Situation, insofern als der Wille zum Sieg als elementarer Lebenstrieb vorgeführt wird (vgl. W, 120): »Plus vite, plus haut, plus fort. Lentement, au fil des mois de la Quarantaine, la fière devise olympique se grave dans la tête des novices. Très peu tentent de se suicider, très peu deviennent vraiment fous. Quelques-uns ne cessent de hurler, mais la plupart se taisent, obstinément.« (W, 190)
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Wie das Terroristische in der Verkörperung angelegt wird, der Performanz der Zeichen inhärent ist, unterstreicht Perec in einer Rezension zu Robert Antelmes Text »L’espèce humaine«, dessen Fähigkeit, in den Beschreibung des Alltäglichen des KZ-Lebens das Grauen spürbar zu machen, Perec hervorhebt, in der strengen Nüchternheit des Textes das Systematische des Terrors widerzuspiegeln. 399 Die Verkörperungsformen des Terroristischen inszeniert Perec in den Zwischenräumen materieller Ordnungssysteme der Schrift, sei es in einem buchstabenspielerischen drame alphabétique »Les horreurs de la guerre«, sei es in der Rhetorik der Kriegssatire »Quel petit vélo...«, sei es in einem Brief zur Bepflanzung eines KZs. An die das Ungesagte und Unbezeichnete eingrenzende und damit markierende Materialität der Schrift, wie sie exemplarisch die Figur der »Carte de l’océan (extrait de Lewis Carroll, La chasse au snark)« zu Beginn der Textsammlung »Espèces d’espaces« zeigt, knüpft Perec in seiner Reflexion einer autobiographischen Schreibweise an: »Je ne sais pas si je n’ai rien à dire, je sais que je ne dis rien; je ne sais pas si ce que j’aurais à dire n’est pas dit parce qu’il est indicible (indicible n’est pas tapi dans l’écriture, il est ce qui l’a bien avant déclenché); je sais que ce que je dis est blanc, est neutre, est singe une fois pour toutes d’un anéantissement une fois pour toutes. C’est cela que je dis, c’est cela que j’écris et c’est cela seulement qui se trouve dans les mots que je trace, et dans les lignes que ces mots dessinent, et dans les blancs que laisse apparaître l’intervalle entre les lignes […].« (W, 59)
Die eingeklammerten drei Pünktchen – »(...)« (W, 85) – bilden eine exemplarische Figur dieser Markierung, stellen den Akt der Markierung als prototypischen Akt medialer Verkörperung, als Zusammenspiel von Materialität und Imagination zur Schau. Die Reflexion von Markierung ist nicht nur auf die Konstruktion von Geschichte und Erinnerung bezogen, 400 sondern wird auf einen weiteren Kernbereich der autobiographischen Fragestellung, auf die Problematik des Namens als identifizierende Markierung des Subjekts übertragen. Wie Judith Butler, um die zentrale Ideengeberin einer aktuellen Identitätstheorie zu zitieren, 401 Identität als zugeschriebene und performativ generierte beschreibt, so führt Perec in unterschiedlichen Aspekten den Prozess der Performanz identitätsstiftender Zeichen vor: In der Geschichte »W« wird die Namenszuweisung der Athleten nach einem kombinatorischen System an ihren sportlichen Erfolg gebunden, sodass Identifikation zu einer auf das sportliche Terrorsystem bezogenen Zuschreibung wird. Der Name des Erzählers in »W ou le 399
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Siehe G. Perec: »Robert Antelme«. »W ou le souvenir d’enfance« ist auch als Beitrag zu einer Literatur des Holocaust zu lesen. Dazu Catherine Dana: Fictions pour mémoire: Camus, Perec et l’écriture de la shoa, Paris 1998. Zu Konstruktion von Erinnerung und Geschichte aus kultur- und medientheoretischer Perspektive siehe Anselm Haverkamp/Renate Lachmann (Hg.): Memoria. Vergessen und Erinnern, München 1993; Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999; dies.: »Das Gedächtnis der Orte«, in: dies./A. Haverkamp (Hg.), Stimme, Figur. Kritik und Restitution in der Literaturwissenschaft, Stuttgart 1994, S. 17-35. Zentral wurde für die Identitätsdiskussion Judith Butler: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Frankfurt/M. 1997.
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souvenir d’enfance«, Gaspar Winckler, verkörpert das Ambivalente und Trügerische der Identität durch die Behauptung, der Erzähler habe den Namen von einem ertrunkenen Kind angenommen, und durch die Verknüpfung verschiedener Figuren in unterschiedlichen Texten Perecs unter diesem Namen, die sich zudem als Fälscher und Betrüger verdächtig machen. 402 Bezüglich der eigenen Familiengeschichte führt Perec das Spiel der Namen in den Wandlungen der Schreibung und Aussprache des Familiennamens »Perec« vor, insbesondere nach der Übersiedlung aus Polen nach Frankreich, das eine identitätsstabilisierende Funktion des Familiennamens verhindert 403 und stattdessen den Prozess performativer Transformationen des Namenszeichens in den Vordergrund stellt. 404 Die Sinngeschichte der Namensschrift wird zum Spiel zwischen medialen Verkörperungen und potenzieller Identitätsgeschichte. Wie Derrida die Unterschrift als aufschiebende Bewegung der Wiederholung und Differenz beschreibt, 405 veranschaulicht Perec das Trügerische der Performanz des Namenszeichens an der Figur des angeblich hebräischen Buchstabens gammeth, den Perec als ersten Buchstaben seines Namens erkennt (vgl. W, 23) und der als geometrische Form in unterschiedlichen Gestaltungen vielen Texten Perecs eingeschrieben ist. 406 In einer exemplarischen Reihe führt Perec den Transformationsprozess von Zeichenformen und Identifikationen vor: Ausgehend von der Figur des »X«, die das Oszillieren von Sinn und Verkörperung wie keine andere zur Schau stellt – »c‘est l’unique substantif dans la langue à n’avoir qu‘une lettre unique, unique en ceci qu’il est le seul à avoir la forme de ce qu‘il désigne« (W, 105) –, führt Perec die Transformation in die kulturgeschichtlich und mythopoetisch vielfach codierte Figur des Kreuzes vor, auch in die Form des Hakenkreuzes, die zu dem hebräischen Buchstaben gammeth wird, der sich in einen Davidstern wandelt.
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Siehe zur Verflechtung der Namen in den Texten und Autoporträts Perecs: Anm. 262, 263. »Ecrire pour y chercher asile, écrire pour y graver son nom, c’est ainsi que Perec vivait son travail d’écrivain: rassembler les pièces éparses (traces) de son enfance.« Ewa Pawlinowska: »La colle bleue de Gaspar Winckler«, in: Littératures 7 (1983), S. 79-88, hier S. 80. Die Signatur, die Roland Barthes in »Variations sur l’écriture« als Aneignunspraxis beschreibt — Schrift wird in diesem Akt zur »expression d’une identité et la marque d’une propriété« (R. Barthes: »Variations sur l’écriture«, S. 1558) — misslingt. Nachdem Perec verschiedene Varianten des Familiennamens angeführt hat, resümiert er: »Cette explication signale, plus qu’elle n’épuise, toute l’élaboration fantasmatique, liée à la dissimulation patronymique de mon origine juive, que j’ai faite autour du nom que je porte que je repère, en outre, la minuscule différence du nom et sa prononciation [...].« (W, 52) Hinsichtlich des Namens seiner Mutter zeigt sich dieselbe Verwirrung: »J’ai fait trois fautes d’orthographe dans la seule transcription de ce nom: Szulewicz au lieu de Schulewitz.« (W, 55) Bernard Magné bringt die Namensproblematik in Verbindung zur jüdischen Legende des Golem, wodurch sich eine Brücke zur Frage nach der Rolle der Schrift und der Buchstaben schlagen lässt. Der Buchstabe als poietische Macht, als Medium von Präsenz und Abwesenheit, Leben und Tod, wie ihn auch die kabbalistische Tradition existenziell und spirituell funktionalisiert, findet in der Legende des Golem seine erzählerische Ausformulierung. Siehe dazu auch Bernard Magné: »Noms naufragés«, in: Littératures 7 (1983), S. 141-150. Vgl. J. Derrida: »Signatur, Ereignis, Kontext«, S. 314. Siehe dazu Philippe Lejeune: »La Lettre hébraïque. Un premier souvenit en sept versions«, in: Georges Perec. écrire/transformer, S. 121-134.
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SZENEN DER SCHRIFT »Mon souvenir n’est pas souvenir de la scène, mais souvenir du mot, seul souvenir de cette lettre devenue mot, de ce substantif unique dans la langue à n’avoir qu’une lettre unique, unique aussi en ceci qu’il est le seul à avoir la forme de ce qu’il désigne [...], mais signe aussi du mot rayé nul — la ligne des x sur le mot que l’on n’a pas voulu écrire —, singe contradictoire de l’ablation [...] et de la multiplication, de la mise en ordre (axe des X) et de l’inconnu mathématique, point de départ enfin d’une géométrie fantasmatique dont le V dédoublé constitue la figure de base et dont les enchevêtrements multiples tracent les symboles majeurs de l’histoire de mon enfance: deux V accolés par leur pointes dessinent un X; en prolongeant les branches du X par des segments égaux et perpendiculaires, on obtient une croix gammée ( ) elle-même facilement décomposable par une rotation de 90o d’un des segments en
su son coude inférieur en signe
; la superposition
XX
de deux V tête-bêche aboutit à une figure (
) dont il suffit de réunir horizonta-
lement les branches pour obtenir une étoile juive (). C’est dans la même perspective que je me rappelle avoir été frappé par le fait que Charlie Chaplin, dans le Dictateur, a remplacé la croix gammée par une figure identique (au point de vue de ses segments) affectant la forme de deux X entrecroisés ( ).« (W, 106)
Von der mimologischen Faszination des Zeichens »X« ausgehend,407 führt Perec die phantastische Geometrie der Zeichen vor, das Spiel medialer Verkörperungen als materielles und strukturelles, performatives und identifikatorisches, kulturelles und imaginäres. Perec führt vor, wie in einer nach-metaphysischen Kabbala in Lebensformen konventionalisierte Sprachspiele Sinn als täuschenden, irrationalen und phantastischen generieren.408 »Désormais, les souvenirs existent, fugaces ou tenaces, futiles ou pesants, mais rien ne les rassemble. Ils sont comme cette écriture non liée, faite de lettres isolées incapables de se souder entre elles pour former un mot, qui fut la mienne jusqu’à l’âge de dix-sept ou dix-huit ans, ou comme ces dessins dissocies, disloqués, dont les éléments épars ne parvenaient presque jamais à se relier les uns aux autres, et dont, à l’époque de W, entre, disons, ma onzième et ma quinzième année, je couvris de cahiers entiers: personnages qui rien ne rattachait au sol qui étaient censés les supporter, navires dont les voilures ne tenaient pas aux mâts, ni les mâts à la coque, machines de guerre, engins de mort, aéroplanes et véhicules aux mécanismes improbables, avec leurs tyères déconnectées, leurs filins interrompues, leurs roues tournant dans le vide; les ailes des avions se détachaient du fuselage, les jambes des athlètes étaient séparées des troncs, les bras séparés des torses, les mains n’assuraient aucune prise.« (W, 93)
Diese zerstückelten Körper machen Körperinszenierungen nach dem Modell der Schrift als Reflexion von Verkörperungsprozessen deutlich. Diese Auf407 408
Siehe dazu G. Genette: Mimologiken. Siehe auch Michael Sheringham: French Autobiography. Devices and Desires. Rousseau to Perec, Oxford 1993. Sheringham erläutert, dass, insofern Perecs Zeichen-Figuren vorführen, dass sie ohne festen Interpretationscode bedeutungslos sind, das Schreiben als »memento mori« zu verstehen ist: »In W writing of memory becomes an encrage, which provides an ancrange, an anchorage, a place of inscription for the traces of a scandalous absence which writing cannot redeem but whose place it can mark forever.« Ebd., S. 326.
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3. EXPERIMENTELLE ÄSTHETIK DER SCHRIFT. GEORGES PEREC
merksamkeit für das Leibliche verschiebt den Blick auf die zahlreichen Autoporträts, die Perec als Medium des Selbstentwurfes in seinen Texten in Szene setzt.
Das Autoporträt als Medium menschlicher Selbstentwürfe In diese Richtung der Inszenierung von Körpern, die nach dem Muster der Schrift an ihren fragmentierten Grenzen Markierungen und Prozesse der Verkörperung ansichtig machen, fügt sich das Selbstporträt als Medium des Selbstentwurfes. Es ist eine der Schrift vergleichbare Linie, eine Narbe, die Perec immer wieder als Identifikationsmerkmal und unveränderliches Kennzeichen präsentiert. Modell ist das »Portrait d’un homme dit Le Condottiere« von Antonello da Messina (vgl. W, 142), das Perec im Louvre entdeckt und dessen Figur, den Codottiere, Perec zum Namensgeber seines ersten Romans macht, »Gaspard pas mort«, später »Le Condottiere« genannt; Held ist Gaspar Winckler, »un faussaire de génie qui ne parvient pas à fabriquer un Antonello de Messine et qui est amené, à la suite de cet échec, à assassiner son commanditaire.« (W, 142) 409 Das Porträt und die Narbe setzen sich in »Un homme qui dort« und anderen Texten Perecs fort, zudem bemerkt Perec auf der Oberlippe des Schauspielers, der in dem Film »Un homme qui dort« die Hauptfigur spielt, dieselbe Narbe: »c’était un simple hasard, mais il fut, pour moi, secrètement déterminant.« (W, 143) »Elle est devenue une marque personelle, un signe distinctif« (W, 141). Dieses ganz persönliche Zeichen, das Unterscheidungsmerkmal wird zu einer trügerischen Technik und einem medialen Prinzip, Verwandtschaft zu generieren, Stella Béhar spricht von einer »autographie sérielle« 410 . Der Frage der medialen Konstruktion von Gesichtern geht nicht nur die kunstgeschichtliche Forschung nach, sondern in anthropologischer Hinsicht nimmt Peter Sloterdijk Gesichtlichkeit und ihre Medialisierung in den Blick. 411 Sloterdijk skizziert eine medienanthropologische Geschichte der Gesichtlichkeit, der »Protraktion«, 412 die in der Gegenwart angesichts der Ersetzung des menschlichen Gegenübers durch »Monitore, Kameras, Märkte, Evalkuationsgremien« zum Stillstand gekommen zu sein scheint oder »ange409
410
411
412
Siehe dazu Georges Perec: »Extraits inédits de textes de jeunesse: Les Barques, Le Condottiere ou le dernier des gestes et La Procession. Phantasme«, in: M. Ribière (Hg.), Parcours Perec, S. 18-24; dazu Ewa Pawlinowska: »Premières tentatives d’écriture: l’inachevé, le fragmentaire«, in: ebd., S. 13-17; ergänzend Patrizia Molteni: »Faussaire et réaliste: le premier Gaspard der Georges Perec«, in: Cahiers Georges Perec. Nr. 6, S. 56-79. Stella Béhar: Georges Perec: écrire pour ne pas dire, New York u.a. 1995, S. 203. Béhar konstatiert für die Kindheitserinnerung »W ou le souvenir d’enfance« eine Entwicklung von der Selbsterkundung zur Autographie und verfolgt diese Autographie als serielle in »La Vie mode d’emploi«. Siehe Peter Sloterdijk: »Zwischen Gesichtern«, in: ders., Sphären I, Blasen, Frankfurt/M. 1998, S. 141-209; ergänzend G. Deleuze/F. Guattari: »Das Jahr Null — Gesichtlichkeit«; Thomas Macho: »Vision und Visage. Überlegungen zur Faszinationsgeschichte der Medien«, in: W. Müller-Funk/H.U. Reck (Hg.), Inszenierte Imagination, S. 87-108. Aus Perspektive der Historischen Anthropologie dazu Christian Wulf (Hg.): Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie, Weinheim, Basel 1997. Zur Bildanthropologie siehe Hans Belting: Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst, München 2000. Peter Sloterdijk: Sphären I, S. 166.
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SZENEN DER SCHRIFT
fangen hat, am Menschengesicht das Unmenschliche, Außermenschliche hervorzuheben«. 413 Dieser »Zug zum Ausdruck von Zuständen jenseits des Ausdrucks, zum anderen der Umbau des Gesichts zur posthumanen Prothese« 414 beschreibt eine Situation der Konnexion von Medialem und Anthropologischem, wie sie auch in der Philosophie des zwanzigsten Jahrhunderts reflektiert wird, die sich nach Andreas Steffens als grundlegend anthropologische darstellt, zu nennen wären Namen wie Günther Anders oder Vilém Flusser. Der Zug zum Unmenschlichen in der Fazialkunst ließe sich auf die Krise in der Konzeption des neuzeitlichen Subjekts zurückführen, auf das Verschwinden des Menschen »wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand.« 415 Das verletzte Gesicht wird zur Identifikationsfigur: »Mit einer schönen Wunde kam ich auf die Welt; das war meine ganze Ausstattung«. 416 In seiner biographischen Arbeit »Perec ou la cicatrice« geht Duvignaud der Konnexion von Schrift und Identifikation nach, der Genese der Schrift und den Selbstreflexionen, die er zur zentralen Aktivität des Perec’schen Schreibprozesses erklärt. 417 Schrift als Medium des Selbstentwurfes beschreibt Duvignaud im Bezug auf das Phänomen der »Anamorphose«, einer Wahrnehmungsverzerrung mittels optischer Apparate im siebzehnten Jahrhundert. Den Spiegel hier nicht als abbildendes, sondern als kritisches und analytisches Instrument heranziehend, verdeutlicht Duvignaud den selbstreflexiven, medialen und trügerischen Charakter der Schrift und der aus ihr generierten Entwürfe menschlicher Selbstreferenz. 418 Auf die »Verwandlung« bzw. die Praxis der Metamorphose bei Kafka hinweisend, schließt Duvignaud seine Argumentation mit der These: »Il [Perec; P.G.] ne suggère pas une esthétique nouvelle, mais une pratique de l’écriture.« 419 Die anthropologische Problematik der Gesichtlichkeit wird in den durch Deformationen, Narben und Wunden gekennzeichneten Selbstporträts als medienästhetische Fragestellung reflektiert. Die Narbe lässt sich auch als Reflexion von Medialität verstehen, – um mit Perecs selbstreflexiven Modellen zu sprechen – als Stoßstelle zwischen zwei nicht zueinander passenden Puzzleteilen und damit als Reflexionsfigur für die Grenzüberschreitungen und Transformationen im Prozess medialer Verkörperung.
413 414 415 416 417
418
419
Ebd. Ebd. M. Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 462. Franz Kafka, zit. nach P. Sloterdijk: Sphären I, S. 222. »C’est la genèse de ce travail de Perec sur lui-même qu’on tente ici de suivre.« J. Duvignaud: Perec ou la cicatrice, S. 7. Mit Verweis auf einen frühen Text Perecs, »Je m’avance masqué«, erklärt Duvignaud, die Narbe sei für Perec zu einem Stigma geworden, mit Blick auf das Gemälde von Antonello da Messina zu einem Verwandtschaftszeichen, Zeichen einer phantastischen Verwandtschaft. Siehe dazu auch Valérie Marin la Meslé: »En remontant la cicatrice«, in: Magazine littéraire 316 (1993), S. 22-23. »La fiction n’est elle pas comparable à ce qu’on appelait, au XVIIe siècle, l’anamorphose? La déformation arbitraire par quelque instrument d’optique de la visible apparence commune. Les miroirs ont alors beaucoup servi. Le miroir est, déjà, une altération du paysage qu’il ne copie jamais vraiment: dans sa surface close, il analyse. On sait ce qu’il en fut pour l’art de peindre — cosa mentale. L’écriture n’échappe pas à ce détournement des perspectives ›naturelles‹, dès que l’on prend quelque distance avec le ›clair-obscure de la vie quotidienne‹ [...].« J. Duvignaud: Perec ou la cicatrice, S. 41. Ebd., S. 49.
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3. EXPERIMENTELLE ÄSTHETIK DER SCHRIFT. GEORGES PEREC
Die Narbe ist – anthropologische, mediale und ästhetische Dimensionen zusammenführend – Form des Körpergedächtnisses und Reflexion dieser Gedächtnisbildung, wobei der Schmerz zum zentralen Organisationsmoment von Erinnerungsszene und Körper wird. 420 Die auf die Figur der Narbe bezogene Schrift wird bei Perec zum Zeichen einer Erinnerungsgeste: »l’écriture est le souvenir de leur mort et l’affirmation de ma vie.« (W, 59) Das Zeichen der Narbe wird in unterschiedlichen Erzählungen, Figuren und Bildern wiederholt, wird zum Körperbild, mittels dessen nicht nur die Medialität des Anthropologischen reflektiert wird, sondern in performativer Perpektive auch mediale Verkörperungen der Schrift als Medialität einer imaginierten Körperlichkeit, als Medialisierung des Körpergedächtnisses in der schreibenden Erinnerungsarbeit vorgestellt werden. Wie der Linguistic Turn in der Autobiographieforschung die Materialität der – differenztheoretisch – verstandenen Schrift zur Grundlage einer Analyse autobiographischen Schreibens macht, 421 so bezieht auch Hans Rudolf Picard 1978, also fast zeitgleich mit Perec, den existenziell verstandenen autobiographischen Selbstentwurf auf seine medialen Bedingungen, stellt eine »existenziell reflektierende Autobiographie im zeitgenössischen Frankreich« als »in Bewegung begriffener, unabgeschlossener Selbstentwurf des Autobiographen« vor, als »existentielles Fragen«, als »Akt des Erinnerns«. 422 Kunst sei als »vitalphilosophischer Vorgang existentieller Reflexion« zu verstehen, »sowohl als ästhetisches Gegenüber und Medium der Spiegelung als auch vor allem als Prozeß ihrer einen Herstellung«, als »ethisch verstandener Kommunikationsversuch«. 423 Existentialistische, phänomenologische und anthropologische Dimensionen werden wie bei Perec mit Perspektiven des Physiologischen und Affektiven sowie des Medialen zu einer Matrix autobiographischen Schreibens zusammengeführt, die als Reflexion im Horizont 420
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Siehe zum Körpergedächtnis auch folgende Stelle: »Je crois que la scène toute entière s’est fixée, s’est figée dans mon esprit: image pétrifiée, immuable, sont je garde le souvenir physique, jusqu’à la sensation de mes mains agrippant les barreaux, jusqu’à l’impression du métal froid contre mon front quand il se posa sur la barre d’appui de la balustrade.« (W, 154) Siehe zu Schrift und Körpergedächtnis auch D. Kamper: »Der Geist tötet«. Exemplarisch für poststrukturalistisch reflektierte Autobiographieforschung: Manfred Schneider: Die erkaltete Herzschrift. Der autobiographische Text im 20. Jahrhundert, München, Wien 1986; darin insb. die Kapitel: »Das alte und das neue Gedächtnis« und »Der autobiographische Text ohne polizeiliche Funktion«, in denen Schneider für die gegenwärtige Situation, seit Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, das Aufgehen des Gedächtnisses der Moderne in Medien- und Zeichentheorie konstatiert. An die nachrichtentechnische Argumentation Kittlers und Assmanns, Erinnerung und Gedächtnis als technische Speichermedien zu begreifen, einerseits anschließend und andererseits an Derridas Spiel der Zeichen, beobachtet Schneider die Unhintergehbarkeit der Textualität als Bedingung des Paktes »ich bin jener Sprechakt...«, welcher, den symbolischen Raum organisierend, zum absoluten Text wird. Die Frage nach der Selbstkonstitution stellt sich hinsichtlich des autobiographischen Schreibens zugleich als Frage nach Autorschaft. Schneider führt diese auf Lejeunes Ansatz des autobiographischen Paktes zurück und bestimmt sie, in der Rezeption poststrukturalistischer Ansätze, als Funktion von Textualität, als dem Text inhärentes autoritäres Moment, als Sprechakt. Hans-Rudolf Picard: »Die existentiell reflektierende Autobiographie im zeitgenössischen Frankreich (1978)«, in: G. Niggl (Hg.), Die Autobiographie, S. 520-538, hier S. 536. Ebd., S. 537. Picard referiert insb. auf Michel Leiris’ autobiographisches Projekt »L’âge d’homme«.
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SZENEN DER SCHRIFT
des Ästhetischen vorgestellt wird. In medienästhetischer Perspektive formuliert, unternehmen Schrift und Literatur die Reflexion und Inszenierung einer solchen Konstellation autobiographischen Schreibens bzw. des Entwerfens von Figuren menschlicher Selbstreferenz. Literatur wird dabei zum Archiv potenzieller Selbstentwürfe des Menschen im Zeitalter der Buchkultur: »[…] cent autres épisodes, pas entiers de l’histoire ou simples tournures de phrases dont il me semble, non seulement que je les ai toujours connus, mais plus encore, à la limite, qu’ils m’ont presque servi d’histoire: source d’une mémoire inépuisable, d’un ressassement, d’une certitude: les mots étaient à leur place, les livres racontaient des histoires […]. [J]e lis peu, mais je relis sans cesse Flaubert et Jules Verne, Roussel et Kafka, Leiris et Queneau; […] et chaque fois avec la même jouissance, que je relise vingt pages, trois chapitres ou le livre entier: celle d’une complicité, d’une connivence, ou plus encore, au-delà, celle d’une parenté enfin retrouvé.« (W, 193)
Aufschlussreich ist auch die Rolle der Fotografien in »W ou le souvenir d’enfance«: »Cette autobiographie de l’enfance [›W ou le souvenir d’enfance‹, P.G.] s’est faite à partir de despcriptions de photos, de photographies qui servaient de relais, de moyens d’approche d’une réalité dont j’affirmais que je n’avais pas le souvenir.« 424
Ähnlich hat Roland Barthes in seine Autobiographie »Über mich selbst« Familienfotos integriert und in seinem medienphänomenologischen Essay »Die helle Kammer« ein Denken von Medialität und inszenierter Körperlichkeit vorgelegt. 425 Barthes reflektiert Fotografie als »Theater der Abwesenheit«426 und Inszenierung eines rememorativen Wahrnehmungsereignisses. Im Begriff des punctum beschreibt Barthes die Ereignishaftigkeit und das Imaginäre des Wahrnehmungsaktes. »So wird PHOTOGRAPHIE für mich zu einem bizarren Medium, zu einer neuen Form der Halluzination: falsch auf der Ebene der Wahrnehmung, wahr auf der Ebene der Zeit: eine gemäßigte, in gewisser Weise bescheidene, geteilte Halluzination (auf der einen Seite ›das ist nicht da‹, auf der anderen ›aber das ist sehr wohl dagewesen‹): ein verrücktes, ein vom Wirklichen abgetriebenes Bild.« 427
Insbesondere in der Porträt-Fotografie stellt Barthes in der emphatischen Evidenz des Es-ist-so-gewesen die Performanz imaginärer Körper als augenblickshaftes und affektives Geschehen vor. 428 Diese inszenierte Ereignishaf424
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Georges Perec: »Le travail de la mémoire (entretien avec Frank Venaille)«, in: ders., Je suis né, Paris 1990, S. 81-94, hier S. 84. (»Gedächtnisarbeit«, in: ders., Geboren 1936, Bremen 1993, S. 76-80). Siehe auch Kapitel 1.4, S. 52-57 der vorliegenden Arbeit. G. Neumann: »Theatralität der Zeichen«, S. 110. R. Barthes: Die helle Kammer, S. 126. »[...] punctum, das meint auch: Stich, kleines Loch, kleiner Fleck, kleiner Schnitt — und Wurf: Wurf der Würfel. Das punctum einer Photographie, das
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tigkeit des Gewesenen oszilliert zwischen Realem, Fiktivem und Imaginärem wie Roland Barthes’ autobiographische Schreibweise, die in handschriftlichen Dokumenten, Zeichnungen und essayistisch-reflektierernden Textpassagen das Ereignis des Schreibens als Imaginäres der Schrift in Szene setzt: »Hier wird man also […] nur die Figuration einer Vorgeschichte des Körpers finden — von diesem Körper, der sich auf die Arbeit, auf die Wollust des Schreibens hin bewegt. […] Das Imaginäre von Bildern wird also an der Schwelle zum produktiven Leben […] zum Stillstand gebracht. Ein anderes Imaginäres tritt dann nach vorn: das des Schreibens.« 429
Neben der Konzeption von Fotografie als Reflexion einer gewesenen Ereignishaftigkeit und als rememorative Geste reflektiert Perec auch diese auf die Medialität der Schrift übertragene Idee einer Körperlichkeit des Schreibenden als Imaginäres der Schrift in dem Hinweis auf eine Handschrift der Mutter, die sich auf der Rückseite einer Fotografie findet: »ce serait alors le seul exemple que j’aurais de son écriture (je n’en ai aucun de celle de mon père).« (W, 74) Als Probe einer Handschrift wird Schrift zur Geste, zum Medium inszenierter Körperlichkeit, zur Ausstellung einer vorgängigen Ereignishaftigkeit des Schreibaktes in Zeit und Raum, die an der Schriftprobe ansichtig werden. Schreibweisen des Autobiographischen erweisen sich als Erkundung von Figuren menschlicher Selbstreferenz, als Reflexion medialer Entwürfe von Selbstbildern und Körperbildern, als Konzeptionierung einer Medienästhetik der Schrift, als Inszenierung einer Ereignishaftigkeit des Gewesenen wie des Körperlichen. Die gewesene Stimme wie die gewesene Handschrift werden als Imaginäres der Schrift in unterschiedlichen Verkörperungsformen der Schrift ansichtig gemacht.
3.3.3 Schrift als Geste einer Erinnerungspraxis Die Problematik autobiographischen Schreibens, wie sie in »W ou le souvenir d’enfance« deutlich wird, verweist auf eine anthropologische Unsicherheit, wie sie sich als Endphase neuzeitlicher Subjektphilosophie darstellt bzw. als Konsequenz aus erkenntniskritischer Reflexion und ästhetischpraktischer Auslotung der Erfahrung der Mediatisiertheit der Lebenswelten und Selbstentwürfe. Diese als »Medial Turn« bezeichnete epistemologische Rekonfiguration des wissenschaftlichen, technischen und künstlerischen Feldes zeigt Auswirkungen auch hinsichtlich kollektiver Konstruktionen wie Erinnerung und Geschichte. Der in den Kindheitserinnerungen berichtete langjährige Irrtum, Hitler sei am 7. März 1936 in Polen einmarschiert (vgl. W,
429
ist jenes Zufällige an ihr, das mich besticht (mich aber auch verwundet, trifft).« Ebd., S. 36. »Nun weiß ich auch, daß es noch ein anderes punctum (ein anderes ›Stigma‹) gibt als das des ›Details‹. Diese neue punctum, nicht mehr eines der Form, sondern der Dichte, ist die ZEIT, ist die erschütternde Emphase des Noemas (›Es-ist-so-gewesen‹), seine reine Abbildung.« Ebd., S. 105. Die Fotografie »führt das Abbild bis an jenen verrückten Punkt, wo der Affekt (Liebe, Leidenschaft, Trauer, Sehnsucht und Verlangen) das Sein verbürgt.« Ebd., S. 124. R. Barthes: Über mich selbst, S. 8.
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SZENEN DER SCHRIFT
31), verweist auf die fehlende Verankerung von Erlebnisgeschichte und Historie. »Longtemps j’ai cherché les traces de mon histoire, consulté des cartes et des annuaires, des morceaux d’archives. Je n’ai rien trouvé et il me semblait parfois que j’avais rêvé, qu’il n’y avait eu qu’un inoubliable cauchemar.« (W, 10)
Die zunehmende Dokumentation des Geschehenen geht mit dem Wegfall eines übergreifenden Ordnungssystems einher, die Fragmentierung und Phantastik des Gedächtnisses erscheint als Symptom einer umfassenden Unmöglichkeit, Sinngeschichte herzustellen: »[C]e qui caractérise cette époque, c’est avant tout son absence de repères: les souvenirs sont des morceaux de vie arrachés au vide [...] Il n’y avait ni commencement ni fin. Il n’y avait plus de passé, et pendant très longtemps il n’y eut plus non plus d’avenir; simplement ça durait [...].« (W, 93f.)
In einer als posthistorisch zu charakterisierenden Situation werden Vergangenheit und Zukunft nicht mehr als in einen sinnhaften Ablauf eingebundene Kohärenz erfahren, sondern als Folge singulärer Ereignisse. 430 Erst in ihrer Aufzeichnung werden diese Ereignisse in eine raum-zeitliche Ordnung und den Zusammenhang einer Lebenswelt gebracht, selbstreferenziell auf diese Medialisierung verweisend und die Unsicherheit und das Trügerische jeder medialen Konstuktion reflektierend, auch derart, dass die Grenzen zwischen phantasierter Erinnerungen und nachträglicher Realisierung durchlässig sind: »J’ai oublié les raisons qui, à douze ans, m’ont fait choisir la Terre de Feu pour y installer W: les fascistes de Pinochet se sont chargés de donner à mon fantasme une ultime résonance: plusieurs îlots de la Terre de Feu sont aujourd’hui des camps de déportation.« (W, 220)
Diese in »W ou le souvenir d’enfance« betriebene Erkundung von Schreibweisen und Medien des Erinnerns und des Entwerfens einer autobiographischen Kindheitserzählung ist Teil eines umfassenden autobiographischen Schreibprojektes, das neben »W ou le souvenir d’enfance« unter anderem die Texte »L’Arbre« und »Lieux« hätte umfassen sollen, die, wie Lejeune ausführlich dokumentiert hat, im Prozess der permanenten Erarbeitung und Umarbeitung gehalten wurden. Beispielhaft sind die unterschiedlichen Textsorten und Gestaltungsformen der Schrift – »brouillon, nouvelle, récit oral, projet de roman, lettreprogramme, autoportrait, article de journal, argument d’un livre, texte écrit pour radio 431 –, die Philippe Lejeune 1990 in dem Band »Je suis né« ver430
431
Die Idee des Posthistoire, des Verschwindens der Geschichte, ist eine der zentralen in der postmodernistischen Debatte. Die geschichtsphilosophischen Aspekte des Forschritts und der Sinnhaftigkeit des Geschehens lösen sich in der beschleunigten Variation des Immergleichen auf — kurzgesagt. Siehe weiterführend: Lutz Niethammer: Posthistoire. Ist die Geschichte zu Ende?, Reinbek b.H. 1989. Philippe Lejeune: »(Vorwort)«, in: G. Perec, Je suis né, S. 7-8. hier S. 7f. Die Textes des Bandes »Je suis né« »suivent le temps d’une vie de la nais-
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3. EXPERIMENTELLE ÄSTHETIK DER SCHRIFT. GEORGES PEREC
sammelt; einleitend relektiert Lejeune Fragestellungen und Programmatiken autobiographischen Schreibens. Der Eingangstext »Je suis né« 432 ist ein Auszug aus autobiographischen Vorentwürfen zu »W ou le souvenir d’enfance«, es sind datierte Notizen, die die Formulierung »Je suis né« als das autobiographische Schreiben initiierenden Topos reflektieren, als grammatikalische Urszene – »On remarque d’abord qu’une telle phrase est complète, forme un tout«433 –, die zum Ausgangspunkt der Genese der Schrift und der Literatur wird: »J’en ai fait la matière d’un mauvais roman intitulé J’avance masqué [...].« 434 In der Rekonstruktion fiktiver und phantastischer Identifikationsprozesse werden autobiographische Entwürfe als konventionalisierte und leicht zu durchkreuzende Sprachspiele deutlich: »Je suis né le 25. décembre 0000. Mon pére était, diton, ouvrier charpentier.«435 Den Fokus auf die Arbeit des Schreibens und die Schwellenbereiche von Medialisierung und imaginierter Sinngeschichte verschiebend, wird autobiographisches Schreiben zu einer autoreflexiven Tätigkeit: »La question […] ›comment continuer?‹.« 436 »[...] écrire sur déjà 3 pages de ce carnet que je ne continue pas... Ou bien il y a une suite, ou bien il n’y en a pas... Ou bien il y a une suite racontable, ou bien il n’y en a pas.« 437 »[...] mécanismes d’écriture, artifices rhétoriques. Aucune pudeur ne me retient [...]. Je recule peut-être devant l’ampleur de la tâche [...] m’enfermer [...] dans le monde clos de mes souvenirs, ressassés jusqu’á la satiété ou l’encœurement.« 438
Im Horizont der Reflexion des Autobiographischen setzt Perec eine Schreibszene als Spiegelkabinett, nach der Struktur der trompe l’œils und trügerischen Wiederholungen des Kunstkabinetts, als Reihe selbstähnlicher Figuren der Schrift, als sich permanent selbst in Szene setzenden Schreibprozess. Ausgehend von der Idee der Schrift als Reihung selbstähnlicher Figuren und ausgehend von der Prämisse eines Schreibens als Erinnerungspraxis, als Inszenierung des Imaginären der gewesenen Ereignishaftigkeit seiner Eltern und ihres Todes, entwirft Perec unterschiedliche Gestaltungen der Schrift als solche Erinnerungspraxis. Der Text »les lieux d’une fugue«, der das Fortlaufen eines Elfjährigen erzählt und 1976 von Perec unter dem gleichnamigen Titel verfilmt wurde, schließt in einer Reflexion des grammatikalischen Transformations- und Identifikationsprozesses zwischen Er- und Ich-Erzählung an die Frage, wie
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sance à la mort. Ils montrent (en pratique ou théorie) comment Georges Perec envisageait l’autobiographie: oblique, multiple, éclatée et en même temps tournant sans fin autour de l’indicible.« Ebd., S 8. G. Perec: »Je suis né«, in: ders., Je suis né, S. 9-14. (»Ich bin geboren«, in: ders., Geboren 1936, S. 9-14). Ebd., S. 9. Ebd. Ebd., S. 10. Ebd., S. 11. Ebd., S. 12. Ebd., S. 14.
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weiterzuschreiben wäre, an: »Lorsque, vingt ans plus tard, il entreprit de se souvenir (lorsque, vingt ans plus tard, j’entrepris de me souvenir), tout fut d’abord opaque et indécis.« 439 Als Erinnerungtechnik wird eine Aufzählung von Objekten vorgestellt, ein kulturelles Archiv wie es vergleichbar den Romanen »Les Choses« und »La Vie mode d’emploi« zugrunde liegt. Darüber hinaus wird der Prozess des Schreibens als Urszene autobiographischer Schrift verdeutlicht, als Inszenierung des schreibenden Autors als Imaginäres des Schrift. Dieses Imaginäre scheint in der Transformation der Personalpronomina auf: »Et il demeura tremblant, un long moment, devant la page blanche. (Et je demeurai tremblant, un long moment, devant la page blanche).« 440 Zudem ist es das Imaginäre des Körperlichen, das Schrift zu einer autobiographischen Schrift bzw. zur Inszenierung von Autorschaft macht. 441 Diese Dimensionen des Emotionalen und Affektiven, die Schrift als Schrift einer Autorschaft in Szene setzt, hebt Perec in einer Rede hervor, »Le saut en parachute«, 442 die er am Ende einer Versammlung der Gruppe Arguments am 10.1.1959 gehalten hatte: »Il me semble […] qu’il ne soit pas possible de se réfugier par exemple dans le nihilisme, ou même dans l’intellectualisme, qu’il ne soit même plus possible d’intellectualiser! On est en face du vide, et d’un seul coup il faut se jeter.« 443
In dieser Rede skizziert Perec den ideengeschichtlichen Kontext seiner Konzeption von Schrift, Autobiographie und Sinngeschichte und stellt gegen den zeitgenössischen theoretischen Intellektualismus in Frankreich den Primat des Affektiven und Sinnlichen, des trügerischen Scheins und Ästhetischen, das Prinzip der Leidenschaft als eine Lebenspraxis, die angesichts der Bodenlosigkeit das Springen praktiziert. »Il était nécessaire de sauter, nécessaire de se jeter afin d’être persuadé que ça pouvait peut-être avoir un sens, et que ça pouvait peut-être avoir des répercussions que même soi-même on ignorait.« 444
Es ist diese medienanthropologische und medienästhetische Bodenlosigkeit, die sich in den selbstreflexiven Spielen der Schrift spiegelt und die mediale Selbstentwürfe zu Trugbildern macht: »Comment faire, uns fois de plus, pour échapper à ces jeux de miroir à l’intérieur desquels une ›autoportrait‹ ne sera plus que le niène reflet d’une conscience bien
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Georges Perec: »Les lieux d’une fugue«, in: ders., Je suis né, S. 15-31, hier S. 30. (»Orte einer Flucht«, in: ders., Geboren 1936, S. 15-32). Ebd., S. 31. Autobiographie und Autorschaft lassen sich in einer medienästhetischen Perspektive als vergleichbare Selbstentwürfe einer schreibenden Instanz betrachten. Siehe zur Theorie der Autorschaft: A. Assmann: »Schrift und Autorschaft«; F.Ph. Ingold/W. Wunderlich (Hg.): Der Autor im Dialog; F. Jannidis u.a. (Hg.): Texte zur Theorie der Autorschaft. Georges Perec: »Le saut en parachute«, in: ders., Je suis né, S. 33-45. (»Der Sprung mit dem Fallschirm«, in: ders., Geboren 1936, S. 33-46). Ebd., S. 43. Ebd., S. 44.
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3. EXPERIMENTELLE ÄSTHETIK DER SCHRIFT. GEORGES PEREC élaguée, d’un savoir bien poli, d’une écriture soigneusement docile? Portrait de l’artiste en singe savant: puis-je dire ›sincèrement‹ que je suis un clown?« 445 »J’attendais, pout être, que les autres me désignent, m’identifient, me reconaissent. Mais pourquoi par l’écriture? […] L’écriture dit qu’elle est là, et rien d’autre, et nous revoilà dans ce palais de glaces où les mots se renvoient les uns les autres, se répercutent à l’infini sans jamais rencontrer autrechose que leur ombre.« 446
Perec artikuliert in der Gegenüberstellung der Selbstreflexivität der Schrift und der Phänomenalität der Dinge eine Grundkonstellation, wie sie die Mediendebatte seit ihren Anfängen bis in die Diskussionen der Virtuellen Realität prägt: »Il faudra bien, un jour, que je commence à me servir des mots pour démasquer le réel, pour démasquer ma réalité. C’est sans doute, aujourd’hui, ainsi que je peux dire ce qu’est mon projet. Mais je sais qu’il ne pourra aboutir tout à fait que le jour où, une fois pour toutes, nous aurons chassé le Poète de la cité: le jour où nous pourrons, sans rire, sans avoir, une fois de plus, l’impression d’une dérision, d’un simulacre ou d’une action d’éclat, prendre une pioche ou une pelle, un marteau-piqueur ou une truelle, ce n’est pas tellement que nous aurons fait quelques progrés (car ne n’est certainement plus à ce niveau que les choses se mesureront), c’est que notre monde aura enfin commencé à se libérer.« 447
Das Ansinnen wäre, das selbstreflexive Spiel in den Hintergrund zu drängen, den Poeten aus der Stadt zu vertreiben, um Schrift als kommunikatives Medium wiederzugewinnen. So könnte Schrift die Möglichkeit zukommen, »pour démasquer ma réalité«. 448 Diese Grundproblematik der Medialität und des Ästhetischen prägt auch die Arbeiten Vilém Flussers und Rainald Goetz’ entscheidend, ist der Ausgangspunkt einer verschärften Medienreflexion einerseits und der Auseinandersetzung mit der dokumentarischen Materialität der Schrift andererseits. Die Gattung der Traumberichte, die Perec in »Le rêve et le texte« 449 erläutert und in dem 1973 erschienenen Band »La boutique obscure. 124 rêves« versammelt, wird zu einer weiteren Methode der Erkundung einer zwischen Realität und Imagination angesiedelten Phänomenalität; die Traumberichte stellen weitere Formen der Gestaltung von Schrift als im weiteren Sinne autobiographisches Medium vor, sind in den rekonstruierten Traumszenen Erinnerungstheater. Nicht nur als Beispiel psychoanalytischer Schreibtechnik oder als mise en scène einer psychoanalytischen Schrift sind die Traumtexte
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Georges Perec: »Les gnocchis de l’automne ou Réponse à quelques questions me soncernant«, in: ders., Je suis né, S. 67-79, hier S. 69. (»Die Gnocchis des Herbstes oder Antworten auf einige Fragen die mich betreffen«, in: ders., Geboren 1936, S. 67-75). Dieser Text wurde zuerst unter dem Titel »Autoportrait« in der Zeitschrift »Cause commune«, Nr.1 (Mai 1972), S. 1920 veröffentlicht. Ebd., S. 72f. Ebd., S. 73f. Ebd., S. 73. Georges Perec: »Le rêve et le texte«, in: ders., Je suis né, S. 75-79. (»Der Traum und der Text«, in: ders., Geboren 1936, S. 76-80).
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zu deuten, wie es Roger Bastide im Nachwort von »La boutique obscure« unternimmt, 450 sondern »[M]on expérience de rêveur devint donc, par la force des choses, seule expérience d’écriture: ni révélatin de symboles, ni déferlement du sens, ni éclairage de la vérité […], mais vertige d’une mise en mots, fascination d’un texte qui semblait se produire tout seul […].« 451
Wenn auch der Vergleich zur psychoanalytisch inspirierten surrealistischen »écriture automatique« nahe zu liegen scheint, versteht Perec diese Experimente jedoch nicht als Inszenierung eines Unterbewussten, sondern als Erkundung von Schreibmöglichkeiten im Rahmen seines Programm des Weiterschreibens. 452 In den Traumberichten wird Schrift außrdem in wieder neuer Form zur Inszenierung des imaginierten Körpers. »La Boutique obscure. 124 rêves« fasst thematisch organisierte Traum-Texte zusammen, der Titel erschien als erster und letzter Band der Reihe »Cause commune«, gegründet im Rahmen der von Jean Duvignaud und Paul Virilio geleiteten gleichnamigen Zeitschrift, und macht darin Traum und Aufzeichnung von Traumtexten vergleichbar der Erinnerung als ein Programm der Konstruktion von zwischen Realität, Imagination und Phantastik oszillierenden Lebenswelten deutlich. 453 Lektüre und Interpretation, Imagination und Symbolisierung, Transformation und Konstruktion sind Mechanismen, die in den kurzen Texten thematisiert und in Szene gesetzt werden. Die phantastischen Traumszenen sind wie die aus der Kindheit erinnerte Erzählung »W« Teil einer Gedächtnisarbeit, folgen der Leitfrage »Comment naît un souvenir?« 454 : »Donc, si tu veux, il y a trois aspects dans ce travail sur la mémorisation. D’abord la quotienneté complétement mise à plat, ensuite la recherche de ma propre histoire d’une manière traditionelle et puis enfin cette mémoire fictionelle. Il y en a même un quatrième, qui serait du domaine, comment dire! De ›l’encryptage‹, de l’inscription complétement cryptée, et qui serait la notation d’éléments de souvenirs dans une fiction comme La Vie mode d’emploi mais à usage pratiquement interne.« 455
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Roger Bastide: »Postface«, in: Georges Perec, La boutique obscure. 124 rêves, Paris 1973, ohne Seitenzählung. G. Perec: »Le rêve et le texte« (Anm. 449), S. 77. Diesen Punkt hebt auch Daphné Schnitzer hervor, die eine Lektüre des Traumberichts »puzzles« in drei Schritten vorstellt, wobei sie zuerst die Themen des Textes als kulturelles Wissen untersucht, dann eine freudianische Analyse unternimmt und drittens eine Interpretation der Poetik vorstellt, in der sie die Regulation der Schrift durch Textmaschinen wie Homophonien in den Vordergrund stellt. Siehe Daphné Schnitzer: »Une écriture oulipojuive? Le cas de La Boutique obscure de Georges Perec«, in: P. Kuon (Hg.), Oulipo — poétiques, S. 63-76. Viele der Traumszenen sind auf den urbanen Raum Paris bezogen und darin dem Roman »Les Choses« sowie der Erzählung »Un homme qui dort« verbunden. Darauf weist insb. Dumas hin: D. Dumas: »Georges Perec«. G. Perec: »travail de la mémoire« (Anm. 424), S. 81. Ebd., S. 86.
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3. EXPERIMENTELLE ÄSTHETIK DER SCHRIFT. GEORGES PEREC
Insbesondere die Produktion eines fiktionalen Gedächtnisses, in Form einer symptomatischen Rede wie in den Traumtexten vorgeführt, zeigt Erinnerung als rhetorische Rede: »Tampons dans la Topique« 456 . Diese Idee der lieux communs verbindet topografische, kultursemiotische und mnemotechnische Aspekte: »cette notion de ›lieux rhétoriques‹, qui me vient de Barthes, est au centre de la représentation que je me fais de mon écriture […].« 457 Perecs Reflexion der Konstruktion von Erlebniswelt, Geschichte und Erinnerung in Form rhetorischer Gemeinplätze, also im Spiel der Sprachszenen, erweist sich als Beitrag zur Untersuchung der wechselnden Medien des kulturellen Gedächtnisses und lässt sich insofern als Beitrag zu einer Sinngeschichte der Schrift lesen, als deutlich wird, dass es bestimmte Konzeptionen von Text und Schrift sind, die Schrift zu einem Gedächtnismedium machen. Die Medien des kulturellen Gedächtnisses untersucht auch die aktuelle medienorientierte Kulturgeschichte 458 differenziert bezüglich der Schrift als Gedächtnismedium unterschiedliche Konzeptionen, sei es den Mythos der Renaissance von »Schrift als lebendige Emanation des Geistes«, 459 sei es die Idee der Schrift als Spur, sei es die Auflösung der Erinnerung in Abfall: »Überhaupt scheint die Situation des kulturellen Gedächtnisses im digitalen Medienzeitalter dadurch gekennzeichnet zu sein, daß Erinnern und Vergessen immer mehr ihre Trennschärfe verlieren. Damit würde sich die Struktur des kulturellen Gedächtnisses dem Unbewussten annähern, in dem es ja jene klare Unterscheidung nicht gibt. Dieser Zustand ist von Joyce vorweggenommen worden, der die Indifferenz von Erinnern und Vergessen in seinem Universum unbewußter sprachlicher Produktivität nicht zuletzt über Versprecher, Sprachspiele und puns vermittelte. Er war es auch, der uns daran erinnert hat, daß das Wort für Buchstabe ›letter‹ einen nahen Verwandten hat, nämlich Abfall: ›litter‹.« 460
Perecs Begriff der Schrift als Gedächtnismedium steht zwischen einer als Spur vorgängiger Ereignisse oder als Reinszenierung dieser Ereignishaftigkeit verstandenen Schriftlichkeit und einem in den Figuren des trompe l’œil und den Sprachspielen veranschaulichten Oszillieren zwischen Vergessen, Erinnern und Erfinden, wie es Aleida Assmann bei Joyce beobachtet. Die als Gedächtnismedium funktionalisierte Schrift lässt sich mit Blick auf die von Perec in den Vordergrund gestellten rhetorischen Gemeinplätze differenzierter beschreiben, insofern die Topoi nicht nur die kulturelle Überlieferung von Bedeutungen und Sprachszenen in den lieux communs meinen, sondern die mnemotechnischen Praxis einer topografischen Bewegung folgt und Erinnerung als kartografische Rekonstruktion erfolgt.
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G. Perec: »Je suis né« (Anm. 432), S. 12. Georges Perec: »Lettre à Maurice Nadeau«, in: ders., Je suis né, S. 51-66, hier S. 56. (»Brief an Maurice Nadeau«, in: ders., Geboren 1936, S. 50-66). In diesem Brief beschreibt Perec detailliert seine autobiographischen Projekte. Siehe bspw. Aleida Assmann: »Texte, Spuren, Abfall. Wechselnde Medien des kulturellen Gedächtnisses«, In: H. Boehme/K.R. Scherpe (Hg.), Literatur und Kulturwissenschaften, S. 96-104. Ebd., S. 99. Ebd., S. 110.
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In historischer Perspektive beobachtet Aleida Assmann die Verlagerung vom »Gedächtnisort« zum »Gedächtnis der Orte«. 461 Assmann beschreibt, wie sich im indexalischen Gestus des Zeigens sich der Erinnerungsakt der Gedächtnisorte vollzieht. Die nicht mehr ortsgebundene Gedächtniskunst, so Assmann, funktioniert in der kulturellen Zeichenpraxis mittels Repräsentationstechniken, die insbesondere in Bezug auf die Vernichtung der europäischen Juden »vergessene Orte« als »Narben«, »Lücken«, in Form einer »memory of absence« darstellen und mit Praktiken der Spurensicherung einhergehen. Über die Narbe als Figur einer »memory of absence« hinaus, reflektiert Perec Techniken der Spurensicherung bzw. des Spurenlegens als Arbeit an den Ordnungen der Sprache und der Schrift: »Et ce que je cherce à travers l’écriture, c’est de laisser des traces de ma mémoire, d’où, peut-être, ma passion pour les dictionnaires; car les dictionnaires, c’est la mémoire des hommes.« 462 Der Konstruktion von Erinnerungsräumen folgend, nimmt Assmann die Basismetapher der »Schrift« in den Blick und verweist auf das selbstreflexive Moment einer als Medien- und Gedächtnisbegriff verstandenen Schrift, insofern der Medienbegriff selbst metaphorisch geworden sei, wenn eine Gedächtnislandschaft als Palimpsest gelesen wird. 463 Inwiefern die Konzeption von Schrift die Programmatik des Erinnerungsprozesses bestimmt, lässt sich auch bei Perec ablesen, der Gedächtnislandschaften bzw. Erinnerungsbilder und -szenen nicht als Palimpseste, sondern als Trugbilder, phantastische Geografien und als Theater inszenierter Schreibszenen vorstellt. Die Konstruktion eines Erinnerungsraumes lässt sich exemplarisch an Perecs Text »Rue Vilin«, Teil des Projektes der »Lieux«, nachvollziehen. 464 Folgend dem Programm, durch wiederholtes Besuchen und Beschreiben eines Ortes Raum, Zeit und Schreiben zu verbindet, beobachtet Perec den sukzessiven Verfall der rue Vilin, in der seine Mutter gewohnt und gearbeitetet hatte. Der vom Ende her zum Anfang der Straße hin fortschreitende Verfall von Geschäften, Wohnhäusern und Grundstücken korrespondiert mit den von Jahr zu Jahr kürzer werdenden Beschreibungen der Straße, die dadurch die Auslöschung der Lebenswelt in der Reduktion der Schrift augenfällig machen, zugleich den Prozess des Vergessens zur Anschauung bringen, dabei Schrift zur Erinnerungsgeste für das Auslöschen der Mutter machen. Diese Chronologie und Topografie des Verschwindens in der reduzierten Kartografie erweist sich als supplementäre Praxis zu einer produktiven Erinnerungspraxis, die als imaginäre und phantastische Geografie betriebenen wird. Die Komplemetarität dieser Gedächtnistechniken wird durch die Beschreibung des Programms der »Lieux« in »W oder die Kindheitserinnerung« unterstrichen. Der Band »Je suis né« versammelt unterschiedliche Reflexionen und Schreibweisen der Gedächtnisarbeit, unter anderem verweist Perec antwortend auf die Frage »Comment naît un souvenir« auf die von Joe Brainard entwickelte Methode des »I remember«. Dieses Muster serieller Aufzählung übernimmt Perec für seinen Text »Je me souviens. Les choses communes« 465 und inszeniert in der Auflistung von Dingen und Ereignissen kollektive Erinnerung der Nachkriegszeit, zeigt in der formelhaften Aufzählung Erinne461 462 463 464 465
Siehe A. Assmann: »Das Gedächtnis der Orte«. G. Perec/E. Pawlikowska: »Entretien«, S. 76. Siehe A. Assmann: Erinnerungsräume. Siehe Georges Perec: »La rue Vilin«, in: ders., L’infra-ordinaire, S. 15-32. Siehe G. Perec: Je me souviens.
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rungsarbeit als Rhetorik der Gemeinplätze und führt die Performativität der in dieser Rhetorik vollzogenen Erinnerungsarbeit vor, die nach dem Tod Perecs von Harry Mathews zu einer Geste der Trauerarbeit umfunktioniert ihre Fortsetzung findet. 466 Mit Joe Brainard wird eine ideengeschichtliche und medienkulturelle Brücke in die Pop-Kunst und die amerikanische Postmoderne geschlagen, die Alltagskultur und Trivialmythen in den Blick nimmt, die Medialität der Bilder reflektiert, mediale Transfomationen der Zeichen in Szene setzt, Schreiben als Kunst medial generierter Oberflächen betreibt. Die Hinwendung zum Alltäglichen und zur Materialität der Sinnkonstruktionen wird in der französischen Szene auch durch eine Semiotik der »Mythen des Alltags« und durch die Geschichtswissenschaft der Annales unternommen, die sich der Lebenswelt und den entsprechenden Diskursen und Wissenstechniken zuwenden. Perec bezieht sich explizit auf die Techniken der amerikanischen Pop-Kunst zur Erkundung der medientechnischen Inszenierungen des kulturell Imaginären. Die verdeckte Inszenierung alltäglicher oder biographischer Momente in Texten beschreibt Perec in Anlehnung an William Burroughs‘ Technik des »Cut-up« als »›cut-off‹ biographique« 467 . Borroughs, der die Collagetechnik der Bildenden Kunst der Moderne auf die Literatur der Postmoderne überträgt, beschreibt mit dem Begriff des Cut-up eine transmediale Montagetechnik. Diese Montagepraxis ist auf eine Vorstellung von Medialität bezogen, in der Kognition, Kommunikation und Materialität insofern verschränkt sind, als Wahrnehmungen als eingeschriebene Spuren in Form von Engrammen im Gehirn gespeichert seien und sich diese Engramme mittels Medientechniken wie Tonbändern oder Schrift in Form aufgezeichneter Sprache sichtbar machen und manipulieren ließen. 468 Umgekehrt formuliert wird Schrift zur Inszenierung der im Gehirn eingezeichneten Wahrnehmungs- und Erinnerungsspuren. Ähnlich formuliert Perec Schrift als Spur gewesener Ereignishaftigkeit: »Tout le travail d’écriture se fait toujours par rapport à une chose qui n’est plus, qui peut se figer un instant dans l’écriture, comme une trace, mais qui a disparu.« 469
Es ist vor allem das Ereignis der Schrift im Schreibprozess, das in der Schrift als Spur reinszeniert wird, die eigene Ereignishaftigkeit wird zum Imaginären der Schrift. Wie Roland Barthes mit dem Begriff des »punctum« die Insze466
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Roland Brasseur bedient sich der Schreibmatrix »Je me souviens«, um die dekontextualisierten Erinnerungen Perecs einer jüngeren Generation zu vermitteln. Roland Brasseur: Je me souviens de Je me souviens. Notes pour Je me souviens de Georges Perec à l’usage des generations oublieuses, Paris 1998. Harry Mathews funktionalisiert die Praxis des »je me souviens« für seine Trauerarbeit in: Der Obstgarten. G. Perec: »Le travail de la mémoire« (Anm. 424), S. 87. Burroughs Theorie und Praxis der »Tonband-Methode«, das heißt die Manipulierbarkeit der im Gehirn eingeschriebenen Erfahrungen, Erinnerungen, Spuren, Engramme durch den Mitschnitt und die Rekombination von Tonbandaufnahmen, ist in dem Essay »Die unsichtbare Generation« dargelegt, der durch den Abdruck in der von Rolf Dieter Brinkmann und Ralf-Rainer Rygulla herausgegebenen Anthologie »Acid« seinen Weg in die deutsche Szene fand. Willliam S. Burroughs: »Die unsichtbare Generation«, in: Rolf Dieter Brinkmann/Ralf-Rainer Rygulla (Hg.), ACID Neue amerikanische Szene, Reinbek b.H. 1983., S. 166-174. G. Perec: »Le travail de la mémoire« (Anm. 424), S. 91.
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nierung einer vorgängigen körperlichen Anwesenheit, die Ereignishaftigkeit des »Es ist da gewesen« beschreibt, oder auch vergleichbar Burroughs, der in seinen Cut-up-Texten die Einschreibung und das Umschreiben kognitiver Gedächtnisspuren inszeniert, so erkundet Perec Schreibweisen an der Schwelle von physiologischer Aktivität und Ereignishaftigkeit der Schrift, so beispielsweise in dem Projekt »Tentative d’inventaire des aliments liquides et solides que j’ai ingurgités au cours de l’année mil neuf cent soixantequatorze«. 470 Auf popliterarische Mitschreibe-Projekte vorausdeutend, wird Schrift zur Inszenierung eines Ereignisses der Aufzeichnung, die Aufzeichnung ist eine theatrale Aktion, in der körperliche Präsenz, zeitliche Aktualität und die Ausstellung des Vergehens der Zeit zusammentreffen. Schrift wird zu einer medialen Form, in der sich dieses Ereignis der Aufzeichnung verkörpert. Über diesen Rahmen eines Theaters imaginierter Ereignishaftigkeit hinausgehend, wird Schrift in Form einer kommunikativen Geste zu einem kommunikativen Ereignis: Das Projekt »Je me souviens« beschreibt Perec als Bewegung, »[u]n mouvement qui, partant de soi, va vers les autres. C’est ce que j’appelle la sympathie, cette espèce de projection et, en même temps, d’appel!« 471 Hier artikuliert Perec, über alle selbstreflexiven Spiegelungen der Schrift hinausreichend, eine Vilém Flusser vergleichbare Ethik des Kommunikativen, eine Ethik des Dialogischen. Diese ethische Dimension der Erinnerungsarbeit unterstreicht Perec auch in einer Rezension zu Robert Antelmes »L’espèce humaine«: »La littérature commence ainsi, lorsque commence, par le langage, dans le langage, cette transformation, pas du tout évidente et pas du tout immédiate, qui permet à un individu de predre conscience, en exprimant le monde, en s’adressant aux autres.« 472
Perec hebt als Antelmes »L’espèce humaine« einerseits hevor, die Negation als grundlegendes Prinzip des Konzentrationslagers, den Mangel an Referenzpunkten in eine Methode der Schrift übertragen zu haben, andererseits, das Bewusstsein des eigenen Körpers als irreduzible Totalität der zerstörerischen Macht gegenübergestellt zu haben. Dieses Bewusstsein des eigenen Körpers wird zum Imaginären einer als Gedächtnismedium konzipierten Schrift. So auch in der Fokussierung der Narbe als Ausgangspunkt diverser Autoporträts und fingierter Selbstbilder, in dem auf zwölf Jahre angelegten Beobachtungs- und Erinnerungsprojekt der »Lieux«. Die inszenierten Bewegungung des Schreibaktes und die Ordnungen der Schrift sind Techniken zur Herstellung eines imaginierten Körpergedächtnisses und phantastischer Erinnerungsräume:
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Georges Perec: »Tentative d’inventaire des aliments liquides et solides que j’ai ingurgités au cours de l’année mil neuf cent soixante-quatorze«, in: ders., L’infra-ordinaire, S. 97-106. (»Versuch einer Bestandsaufnahme der flüssigen und festen Nahrungsmittel, die ich im Verlauf des Jahres neunzehnhundertvierundsiebzig hinuntergeschlungen habe«, in: ders., Zigaretten beim Gemüsehändler, S. 83-91). Ebd., S. 93. G. Perec: »Robert Antelme«, S. 114.
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In der Interaktion von Schrift, Fotografie und Film entwirft Perec in seinem letzten Projekt ein fiktionales Gedächtnis, »une mémoire qui aurait pu m’apartenir«. 474 Mit Robert Bober dreht Perec einen Film über Ellis Island, die vor New York liegende Insel, die von 1880 bis 1940 als Auslesezentrum für Einwanderer diente, unter denen sich insbesondere jüdische Immigranten befanden. Die Geschichte dieser Einwanderer wird für Perec und Bober zu einer potenziellen, »que nous aurions pu connaître, qui était quelque part inscrit dans notre possible« 475 : »C’est donc un travail sur la mémoire et sur une mémoire qui nous concerne, bien qu’elle ne soit pas la nôtre, mais qui est, comment dire!, à côté de la nôtre, et qui nous détermine presque autant que notre histoire.« 476
Dem Text »Ellis Island. Description d’ un projet« 477 stellt Perec ein Zitat aus Kafkas »Amerika« voran, welches den Blick auf die Freiheitsstatue beschreibt: »On eût dit que le bras qui brandissait l’épée s’était levé à l’instant même, et l’air libre soufflait autour de ce grand corps.«478 Mittels dieses Zitats positioniert Perec das Projekt in einen Zwischenraum von Dokumentation, fiktionalem Gedächtnis und Phantastik: »Etre émigrant, c’était peut-être très précisement cela: voir une épée là où le sculpteur a cru, en toute bonne fois, mettre une lampe.« 479 In herausragender Weise macht der Prozess der Einwanderung nach Amerika das Funktionieren und Fabrizieren von Imaginationen deutlich: »En somme, Ellis Island ne sera rien d’autre qu’une usine à fabriquer des Américains […]«. 480 Diese Perspektive greift der Untertitel der deutschen Ausgabe auf und benennt die Veröffentlichung des für den Film zusammengetragenen Materials, Bilder und Interviews, als »Geschichten von Ellis Island oder wie man Amerikaner macht«. 481 Vergleichbar der
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G. Perec: »Le travail de la mémoire« (Anm. 424), S. 89f. Ebd., S. 86. Ebd. Ebd. Georges Perec: »Ellis Island. Description d’un projet«, in: ders., Je suis né, S. 95-103. (»Ellis Island. Beschreibung eines Projekts«, in: ders., Geboren 1936, S. 95-103). Ebd., S. 95. Ebd. Ebd., S. 97. Georges Perec/Robert Bober: Geschichten von Ellis Island oder wie man Amerikaner macht, Berlin 1997. Die deutsche Ausgabe folgt der erweiterten Neuausstattung von 1994. Die französische Ausgabe trägt einen anderen Untertitel: Récits d’Ellis Island. Histoires d’errance et d’espoir. Der Band versammelt eine Beschreibung des historischen Ortes Ellis Island, einen historischen Abriss der Einwanderungszeit, einen Bildteil historischer Aufnahmen, »Standortbestimmungen«, für Perec typische Aufzählungen von Personen, Orten, Tätigkeiten, die als Dokumentation zu den Dreharbeiten dienen, und
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medialen Praxis der Traumfabrik Hollywood lässt sich an Ellis Island die Konstruktion einer kollektiven Sinngeschichte ablesen: »il est pour moi le lieu même de l’exil, c’est-à-dire le lieu de l’absence de lieu, le lieu de la dispersion.« 482 Ellis Island wird zur modellhaften Dramaturgie einer konstruierten Identität vor dem Hintergrund der philosophisch-anthropologischen Obdachlosigkeit sowie der sozio-kulturellen Entwurzelung des Menschen der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts: Durch die Überquerung des Pazifiks, die Gesundheitsprüfung und das Einlassen in die neue Heimat wird das Muster eines Initiationsritual in eine neue Identität vollzogen. »En ce sens, il me concerne, me fascine, m’implique, me questionne, comme si la recherche de mon identité passait par l’appropriation de ce lieu dépotoir […]«. 483 Es ist die jüdische Identität als Prototyp einer durch Exil und Auslöschung, Zuschreibung und Wiederaneignung gekennzeichneten Identifizierung, die Perec hier reflektiert: »Ce qui se trouve là, ce ne sont en rien des racines ou des traces, mais le contraire: quelque chose d’informe, à la limite du dicible, que je peux nommer clôture, ou scission, ou cassure, et qui est pour moi très intimement et très confusement lié au fait même d’être juif.« 484
Es werden Parallelen zu dem Denken Vilém Flussers deutlich, der von ihm beschriebenen existenziellen Bodenlosigkeit, der Erfahrung des brasilianischen Exils, der Reflexion des »Jude-Seins«, 485 der Tätigkeit des Entwerfens von Lebenwelten und der Konzeption von Subjekten als Projekte. Jude-Sein wird bei Flusser zum Inbegriff einer migratorischen, »postmodernen« Identität, 486 wie auch der Literaturwissenschaftler Leslie A. Fiedler in seinem Artikel »Über die Postmoderne, 1969« den prototypischen postmodernen Menschen als »Neuen Juden«, als »Amerikaner im Geiste« bezeichnet: Dieses Volk, »das durch die Wüsten der inneren Öde wandert, auszieht aus jenem ägyptischen Exil der Selbstentfremdung, in dem wir uns alle befinden, zu einem Gelobten Land, das sich noch niemand von uns vorstellen kann. Diese neuen Juden […] brauchen nicht Juden zu sein; wahrscheinlich müssen sie Amerikaner sein […] Amerikaner im Geiste, denn, wie wir schon lange bemerkt haben, andere hat es nie gegeben.« 487
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die als »Erinnerungen« überschriebenen Interviews mit Immigranten und ihren Familien. G. Perec: »Ellis Island. Description d’un projet« (Anm. 477), S. 98. Ebd. Ebd., S. 99. Siehe insb. Vilém Flusser: Jude sein. Essays, Briefe, Fiktionen. Hg. v. Stefan Bollmann und Edith Flusser, Berlin, Wien 2000. Siehe Vilém Flusser: Von der Freiheit des Migranten. Einsprüche gegen den Nationalismus. Hg. v. Stefan Bollmann, Berlin, Wien 2000. Leslie A. Fiedler: »Überquert die Grenze, schließt den Graben!«, in: Jörg Schröder (Hg.), Mammut, März-Texte 1&2. 1969-1984, Herbstein 1984, S. 673-697, hier S. 687. Fiedler bezieht sich in dieser Schilderung auf Leonard Cohen und seinen Roman »Die schönen Verlierer«, den er als Beispiel postmoderner Literatur vorstellt.
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3. EXPERIMENTELLE ÄSTHETIK DER SCHRIFT. GEORGES PEREC
Zwischen dieser Situation des Nomadentums in einer illusionären Welt und der Erfahrung der Reorganisation der kulturell-religiösen Sinngeschichte durch die Vernichtung, die zur ausschlaggebenden Referenz des »JudeSeins« wird, situiert sich Perecs Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und Identität. »Je ne sais pas précisément ce que c’est qu’être juif, ce que ça me fait d’être juif. C’est une évidence, si l’on veut, mais une évidence médiocre, une marque, mais une marque qui ne me rattache à rien de précis, à rien de conret: ce ne pas un signe d’appartenance, ce n’est pas lié à une croyance, à une religion, à une pratique, à une culture, à un folklore, à une histoire, à un destin, à une langue. Ce serait plutôt une absence, une question, une mise en question, un flottement, une inquiétude: une certitude inquiète derrière laquelle se profile une autre certitude: celle d’avoir été désigné comme juif, et parce que juif victime, et de ne devoir la vie qu’au hasard et qu’à l’exile.« 488
Aus dieser Fremdzuschreibung, die keiner kulturellen oder individuellen Erfahrung entspricht, resultiert eine Differenz, »le sentiment ténu, mais insistant, insidieux, incontournable, d’être quelle part étranger par rapport à quelque chose de moi-même, d’être ›différent‹, mais non pas tellement différent des ›autres‹ que différent des ›miens‹ […].« 489 Diese Unterbrechung einer Tradierungsfolge, die als Enteignung, »dépossession«, erfahren wird – wie sie vergleichbar den in die USA immigrierenden Juden wiederfährt –, ist die Ausgangsposition, die Ursache und Bedingung des fiktionalen Gedächtnisses: »Ce que je suis allé chercher sur Ellis Island c’est l’image même de ce point de non-retour, la conscience de cette rupture radicale. Ce que j’ai voulu interroger, metttre en question, mettre à l’epreuve, c’est mon propre enracinement dans ce non-lieu, cette absence, cette brisure sur laquelle se fonde toute quête de la trace, de l’Autre.« 490
In dieser Perspektive erscheint der Roman »La Vie mode d’emploi« als Experiment des Romans in der literarisch-kulturellen Ortlosigkeit, als »fiktionaler Roman«; »Espèces d’espaces« wird zu einem Konstruktionsversuch von Raumordnungen in der Ortlosigkeit, den Zwischenraum entwerfend, den UnOrt markierend, in der Befragung des nicht bewohnbaren Raumes mündend. In diesen Entwürfen des Ortes entbundener Lebensräume stellt Perec eine anthropologische, kommunikative und ethische Dimension der Schrift vor, das Schreiben als auf den »Anderen« hin gerichtete Praxis bzw. Geste. »Mais à travers l’approche de cette île abandonnée, à travers le dialogue que j’ai tenté de nouer avec quelques-uns de ceux — Juifs et Italiens — qui passèrent jadis par Ellis Island, il me semble que je suis par instants arrivé à faire résonner quelques-uns de ces mots qui sont pour moi inexorablement attachés au nom même de Juif: le voyage, l’attente, l’espoir, l’incertitude, la différence, la mémoire, et ces
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G. Perec: »Ellis Island. Description d’un projet« (Anm. 477), S. 99f. Ebd., S. 101. Ebd., S. 102.
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SZENEN DER SCHRIFT deux concepts mous, irréparables, instables et fuyants, qui se renvoient sans cesse l’un l’autre leurs lumières tremblotantes, et qui s’appellent Terre natale et Terre promise.« 491
Die Form der Interviews, mit denen Perec in »Ellis Island« arbeitet und in denen er Schrift als Medium der Kommunikation in Szene setzt, ist insofern bemerkenswert, als auch Flusser seine Autobiographie »Bodenlos« in Dialoge mit befreundenten Menschen überführt und somit das Dialogische als zentrales Anliegen des Schreibens ausstellt. Wie Perec aus dem Spiel der Schrift-Ordnungen herkommend eine medienästhetische Reflexion der Schrift als sich selbst reflektierendes Spiegelkabinett entwirft und einen Ausweg in einer Konzeption von Schrift als kommunikativer Geste sucht, Literatur zum Ort dieser Konzeptionen und Praktiken machend, lässt sich an Vilém Flusser eine Reflexion der Schrift beobachten, die expliziter auf der Horizont einer sich wandelnden medienkulturellen Situation bezogen ist und sich als dezidiert medienphilosophische darstellt. Da dieses Denken von Schrift als Medialität enger auf das Ästhetische und Literarische bezogen ist, als auf den ersten Blick anzunehmen wäre, lassen sich überraschende Überschneidungen und wechselseitige Beleuchtungen zwischen den Entwürfen des Literaten Perec und denjenigen des Philosophen Vilém Flusser beobachten. Schrift und Literatur lassen sich in der Zusammenschau von Perec und Flusser aus jeweils zwei unterschiedlichen Perspektiven vor demselben medienkulturellen Hintergrund in den Blick nehmen. Diese Reflexionen werden zur Grundlage des Schreibens in der Gegenwart, wie es sich exemplarisch an den Projekten Rainald Goetz’ nachvollziehen lässt.
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Ebd., S. 102f.
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4. M E D I E N P H I L O S O P H I S C H E Ä S T H E T I K SCHRIFT. VILÉM FLUSSER
DER
»Und die Geschichte der Schrift beginnt mit der Erfindung der Schrift nicht, weil die Schrift die Ereignisse festhält, sondern weil die Schrift die Ereignisse erst ermöglicht.« 1
Das Nachdenken über Medienästhetik bzw. der Entwurf einer medienästhetischen Perspektive auf Schrift und Literatur lässt sich auf Reflexionen der Medien und des Medialen gründen, wie sie die aktuelle Medienphilosophie rekonstruiert und reformuliert. 2 Für die Literaturwissenschaft sind dabei Ansätze einer Philosophie der Schrift sowie die Frage nach der Konnexion von Medien/Medialität und Ästhetik von besonderem Interesse. Eine medienphilosophisch orientierte Ästhetik bildet den zentralen Hintergrund einer medienästhetisch ausgerichteten Betrachtung von Schrift und Literatur. Vilém Flusser (1920-1991) erweist sich als einer der avanciertesten Denker auf diesem Gebiet: Ausgehend von Arbeiten zur Sprachphilosophie entwickelt er eine Phänomenologie der Medien. Deren Fundament bildet eine Philosophie der Schrift, die im Kern eine Ästhetik der Schrift ist. »Ich bin zum Schriftsteller berufen, und infolgedessen ist die Sprache das Gebiet meiner Suche. [...] Die Sprache präsentiert sich mir als Spiel, dessen Bedeutung ich suche.« 3
An den Arbeiten Flussers lässt sich rekonstruieren, wie die Konzeptionen von Schrift und Ästhetik den Diskurs über Medien und Medialität bestimmen. Die Selbstaussagen in seinem Essay »Auf der Suche nach Bedeutung«, 4 sich als »Schriftsteller« präsentierend, Sprache als Spiel betrachtend, dessen Bedeutung er suche, verweisen auf das Ästhetische und das Literarische als Orientierungshorizont des medienphilosophischen Denkens wie der medienphilosophischen Praxis. Für die Literaturwissenschaft stellt Flusser zudem eine Verbindung zwischen den beiden zentralen medien- und kulturtheoretischen Begründungsdiskursen her: Einerseits betreibt er – vergleichbar Jacques Derrida – die medienphilosophische Reflexion als »textuelle Praxis«, als »Medienessayismus«, als »performative Medienphilosophie der Schrift und des Schrei1
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3 4
Vilém Flusser, zit. in: Jörg Albrecht: »Vom Ende der bürgerlichen Kultur. Ein Gespräch mit Vilém Flusser«, in: Volker Rapsch (Hg.), Über Flusser. Die FestSchrift zum 70. von Vilém Flusser, Mannheim o. J., S. 35-44, hier S. 40f. Siehe zu Medienphilosophie und Literaturwissenschaft die entsprechende Sektion in dem Band: C. Ernst/P. Gropp/K.A. Sprengard (Hg.): Perspektiven interdisziplinärer Medienphilosophie. Vilém Flusser: »Auf der Suche nach Bedeutung«. http://equivalence.com/labo r/lab_vf_autobio.shtml vom 10.08.2004, o. S. Diese autobiographische Skizze entstand während der Monate Oktober und November 1969 in São Paulo und wurde 1975 in der Reihe »Tendenzen der aktuellen Philosophie in Brasilien in Selbstbildnissen« Nr. 27 im Verlag Edicoes Loyola publiziert.
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SZENEN DER SCHRIFT 5
bens«, und somit als ästhetische Praxis der Schrift; und andererseits bezieht er das Denken der Medien auf Kommunikation und Kognition, wie es auch Richtungen einer systemtheoretisch orientierten Literaturwissenschaft unternehmen, und greift darin Modelle und Denkansätze auf, die auch die experimentelle Literatur, die Oulipisten und ’Pataphysiker, ebenso die PopLiteratur seit den sechziger Jahren, zur Begründung ihrer Praxis von Schrift und Literatur heranziehen. Für eine Untersuchung von Schrift und Literatur in medienästhetischer Perspektive ist Vilém Flusser daher in mehrfacher Perspektive grundlegend: erstens hinsichtlich der Konnexion von Schrift, Medialität und Ästhetik, zweitens hinsichtlich der Schreibweisen einer medienästhetischen Praxis der Schrift, drittens bezüglich der Bedeutung der Dichtung für die Konzeption einer Medienphilosophie der Schrift und bezüglich der Relevanz literarischer Muster in seiner Praxis spielerischer – philosophischer und essayistischer – Bedeutungserzeugung.
4.1 Von der Sprachphilosophie zu einer Theorie der Medien Vilém Flussers sprachphilosophische Reflexionen, die sich als Grundlage seiner Theorie der Medien skizzieren lassen, gehen von einer ästhetisch orientierten Perspektive auf Sprache aus: »Ich liebe ihre Schönheit, ihren Reichtum, ihr Geheimnis und ihren Charme. Ich bin nur wirklich, wenn ich spreche, schreibe, lese, oder wenn sie in mir flüstert um ausgesprochen zu werden. Aber auch, weil sie symbolische Form ist, Wohnort des Seins, welcher verhüllt und enthüllt, Weg, der mich mit anderen verbindet, Feld der Unsterblichkeit, ›aere perennius‹, Material und Instrument der Kunst.« 6
In dem Essay »Auf der Suche nach Bedeutung«, der Flussers (sprach-)philosophisches Selbstverständnis deutlich macht, beschreibt – und betreibt – Flusser Sprache als hybrides Konzept, als Praxis der Hybridisierung, führt phänomenologische und anthropologische, ethische und ästhetische Perspektiven – im Duktus der Faszination – zusammen: 7 »Die Sprache ist mein Repertoire und meine Struktur, mein Spiel, Modell aller meiner Modelle, sie ist offen und öffnet mich dem Nichtgesagten. Sie ist mein Engagement, in ihr realisiere ich mich, und durch sie gleite ich in Richtung ihres Horizonts und ihres Fundaments, zur Stille des Unsagbaren. Sie ist meine Form der Religiosität. Und — vielleicht — auch die Form, durch die ich mich verliere.« 8 5 6 7
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C. Ernst: »Gespenst, Phantom, Wiedergänger«, S. 68. V. Flusser: »Auf der Suche nach Bedeutung«. »Wie Nietzsche, Kierkegaard und viele andere nahm sich Flusser nicht vor, ein philosophisches System aufzubauen. Sein Denken ist ein großzügiges fließendes Gewebe, gewoben aus alten und neuen Maschen, im Vertrauen auf die Kette, die die Sprache bildet — das Haus des Seins, wie es Heidegger nennt. Seine Vertiefung in die verschiedenen Strömungen der Phänomenologie brachte ihn zur Sprachphilosophie […].« Maria Lília Leao: »Vilém Flusser und die Freiheit des Denkens«, in: V. Rapsch (Hg.), Über Flusser, S. 9-14, hier S. 12. V. Flusser: »Auf der Suche nach Bedeutung«, o. S.
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4. MEDIENPHILOSOPHISCHE ÄSTHETIK DER SCHRIFT. VILÉM FLUSSER
Flusser skizziert Sprache als auf die performativen Prozesse fokussiertes Modell der Bedeutungserzeugung, als Modell medialer Verkörperung, wobei diese Verkörperungen als faszinierende, sinnliche, ästhetische Akte zu denken sind, wie es, weniger philosophisch argumentierend denn performativ das enthusiastische Sprachspiel vollziehend, vorgeführt wird. Zentrum dieser Sprachphilosophie und -praxis ist die Kunst: »Das Problem liegt anderswo und zwar in der Kunst.« 9 Unter Berufung auf Rilke und Kafka verdeutlicht Flusser die Dichtkunst, einer Konzeption von »Poesie als dem Unsagbaren« 10 folgend, als Reflexion an den Grenzen der Sprachphilosophie: »Die beiden Prager reisten in zwei verschiedenen Fahrzeugen dem gleichen Ziel entgegen, das auch das meine ist. Ich beuge mich vor den zwei Riesen, die als Ganzes meine Modelle sind.« 11 Angelehnt an den »Asket« der Sprache Kafka und ihren »Orgiast« Rilke wird Dichtung zu einer Form von Sprache, die Artikulation ästhetischer Erfahrung ist; diese Dichtung wird zur Inszenierung der (medialen) Grenze von Sprache und sinnlichem Erleben. In phänomenologischer Perspektive Kunst als Artikulation ästhetischen Erlebens und als Reflexion dieser Verkörperungsprozesse setzend, wird das Ästhetische zum Modellfall des Entwerfens von Lebenswelten: »Ich habe von Husserl gelernt, daß Leben nicht entdecken ist, sondern Sinngeben.« 12 »Also wären Wissen, Wirklichkeit und Wahrheit einfache Sprachaspekte.« 13 Literatur wird zur exemplarischen Praxis des Welt Entwerfens in der Sprache. Milton Vargas zitierend, präzisiert Flusser, dass »Literatur der Ort ist, wo der Sinn der Realität sich artikuliert.« 14 Flussers Weg von einer phänomenologisch ausgerichteten Sprachphilosophie über die Informationstheorie zu einer Kommunikations- und Medienphilosophie geht von der Frage nach den Grenzen der Sprache aus und ist an einer Reflexion des Ästhetischen und der Dichtung orientiert.15 Auch Flussers Auseinandersetzung mit experimenteller Dichtung, mit den »Ingenieuren der 9 Ebd. 10 Ebd. 11 Ebd. Eine Hauptstoßrichtung des Modernismus fortsetzend, wird die Verknüpfung von Schrift und Sinn zum Faszinosum: Wie Kafkas Schreiben sich aus der Spannung zwischen medialer und kultureller Praxis generiert und dabei deutlich wird, wie die Prozessualität des Schreibens der Unveränderlichkeit der Schrift bzw. des Heiligen Textes diametral entgegen steht, zeigt C. Schärf: Heilige Schrift. 12 V. Flusser: »Auf der Suche nach Bedeutung«, o. S. 13 Milton Vargas: »Vilém Flusser in Brasilien«, in: V. Rapsch (Hg.), Über Flusser, S. 15-22, hier S. 16. 14 Zit. nach ebd., S. 19. Siehe zu diesem Komplex der Vermittlung von Sprache und Realität eines der ersten Bücher Flussers »Lingua e realidade«. Das im Text wiedergegebene Zitat wird folgendermaßen fortgeführt: »Und der Sinn der Realität ist unter bestimmten Gesichtspunkten ein Synonym für Religiosität. Real ist das, woran wir glauben.« Zu einer theologischen Lesart Flusser siehe Elisabeth Neswald: Medien-Theologie. Das Werk Vilém Flussers, Wien 1998. 15 Milton Vargas erläutert diese Suche Vilém Flussers als Gegenentwurf zu der als leeres Geschwätz empfundenen philosophischen und wissenschaftlichen Kommunikation. »Es hatten sich nicht nur wissenschaftliche und technische Sprachen in eine Art leeren Geredes verwandelt, sondern auch die Philosophie mit ihren sterilen Diskussionen über analytische und existenzielle Aspekte der Realität war hinabgestürzt in eine ansurde, allgemeine Sinnlosigkeit. Deshalb war es notwendig, sowohl Wissenschaft als auch Philosophie zu verwerfen und nach einer anderen Form der Konversation zu suchen.« M. Vargas: »Vilém Flusser in Brasilien«, S. 18.
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SZENEN DER SCHRIFT 16
Dichtung« Max Bense und der konkreten Poesie, ist auf die Beobachtung dieser Schwellenbereiche bezogen, »noch immer auf den Fäden der Sprache die Maschen des Auswegs zur Nicht-Sprache suchend.« 17 In dieser Stoßrichtung nähert sich Flusser der Kommunikationstheorie – an der auch die experimentelle Literatur die poetologische Konzeption ihrer Arbeit orientiert –, denn diese, so Flusser, »öffnet einen ganz neuen Zugang zum Problem Sprache.« 18 »Die Philosophen interessieren sich weniger für die Struktur der Sprache und konzentrieren sich immer mehr auf ihren kommunikologischen Aspekt. […] Plötzlich bekommen wir Zutritt zu ethischen und ästhetischen Problemen, zu denen wir — infolge des formalen und logischen Aspekts der Philosophie — lange Zeit keinen Zutritt hatten. […] [D]ie Diskussion der Kommunikation bringt die Formalisten und Existentialisten zusammen.« 19
Vor dem Hintergrund der Reflexionen zu Phänomenologie, Ästhetik und Literatur entwickelt Flusser seinen Ansatz einer »Kommunikologie« genannten Kommunikationstheorie: »Die Theorien der Information und Kommunikation sollen genauso wie die ästhetischen als Sprachen und somit als Schöpfer von Realitäten angesehen werden.« 20 Theorien der Wissenschaft, Philosophie und Ästhetik versteht Flusser, ebenso wie Literatur, als Praktiken des Entwerfens von Lebenswelten und Realitäten. Wie die Konzeptionen der experimentellen Literatur und die Arbeiten der Werkstatt für potenzielle Literatur 21 sind auch Flussers Reflexion der Sprache und seine Theorie der Kommunikation in ein intermediäres und experimentalkulturelles Feld eingebunden, in dem sich Modelle und Methoden unterschiedlicher Gebiete aus Wissenschaft, Technik und Kunst überschneiden. So verkreuzt er in seiner »Kommunikologie« 22 kybernetische und medientechnische, phänomenologische und ästhetische Überlegungen: »Der Zweck der menschlichen Kommunikation ist, uns den bedeutungslosen Kontext vergessen zu lassen, in dem wir vollständig einsam und incommunicado sind, nämlich jene Welt, in der wir in Einzelhaft und zum Tode verurteilt sitzen: die Welt der ›Natur‹.« (K, 10)
Geistes- und naturwissenschaftliche Perspektiven zusammenführend, 23 beschreibt Flusser Kommunikation in informationstheoretischer und zugleich anthropologischer Perspektive, sich des aus der Thermodynamik stammenden 16 17 18 19 20 21 22
V. Flusser: »Auf der Suche nach Bedeutung«, o. S. Ebd. Ebd. V. Flusser: Zwiegespräche, S. 9. Im Folgenden mit der Sigle »Z« abgekürzt. Vilém Flusser; zit. in M. Vargas: »Vilém Flusser in Brasilien«, S. 20. Siehe dazu Kapitel 2 und 3 der vorliegenden Arbeit. Flussers Konzept der Kommunikologie verbindet phänomenologische, anthropologische, ethische und ästhetische Dimensionen, wie es ausführlich in dem gleichnamigen Band »Kommunikologie« darlegt und vorgeführt ist (Hg. v. Stefan Bollmann und Edith Flusser, Frankfurt/M. 1998. Im Folgenden mit der Sigle »K« abgekürzt). 23 »Wichtig ist dabei festzuhalten, daß es keinen Widerspruch gibt zwischen der interpretativen und der erklärenden Annäherung an die Kommunikation [...].« (K, 14)
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4. MEDIENPHILOSOPHISCHE ÄSTHETIK DER SCHRIFT. VILÉM FLUSSER
und zu einer transdisziplinären Metapher gewordenen Begriffs der Entropie bedienend, als negentropische Tätigkeit des Menschen, Kommunikation sei »ein Prozeß der gegen die allgemeine Tendenz der Natur in Richtung Entropie läuft« (K, 13). Sich den Kulturtechniken der Kommunikation zuwendend, differenziert Flusser Organisationsformen von Kommunikation und leitet aus unterschiedlichen Diskurs- und Dialogstrukturen eine Diagnose der gegenwärtigen kommunikationskulturellen Situation ab, die er als »ein wissenschaftlich und technisch manipulierbares Zerreden und ›Sensationalisieren‹ der verteilten Information« (K, 48) beschreibt.24 Unsere gegenwärtige Kommunikationskultur charakterisiert Flusser als von oben nach unten organisierten Fluss spezialisierten und hermetischen Expertenwissens, das in der Massenkommunikation »sensationell«, also effektorientiert und affektiv verteilt werde. Flussers Kommunikationstheorie stellt Fragen nach Organisationsformen und Apparaten, nach der Materialität der Kommunikation und den Techniken kultureller Sinnentwürfe. Zugleich ist sie eine selbstreflexive Erkundung wissenschaftlicher, philosophischer und ästhetischer Kommunikation. Diese Kommunikationsformen sind, entsprechend der diagnostizierten Kommunikationsverhältnisse, zwischen Expertenwissen und sensationalisiertem Massendiskurs angesiedelt und somit als zugleich hermetisch-unverständlich und effektorientiert charakterisiert. Die Frage, inwiefern Wissenschaft, Ästhetik und Philosophie derartige Diskursverhältnisse widerspiegeln, wird vor dem Hintergrund der von Flusser skizzierten Geschichte der Symboltechniken deutlich. Die von Flusser entworfene Entwicklungsgeschichte von Bild, Schrift und Technobild ist den Problemstellungen der konkreten und visuellen Poesie vergleichbar, der mythopoetischen Begründungsszenerie der Gruppe Oulipo zum Zusammenhang der Kulturtechniken Schrift und Zahl oder den experimentellen Erkundungen mathematischer und alphabetischer, visueller und akustischer Symboltechniken, wie sie die Mitglieder Oulipos und Georges Perec unternommen haben. Phänomenologische und kulturtechnische Argumentation verbindend, stellt Flusser Kommunikationscodes als Gesten der Einstellung zur Welt vor. 25 Die Vermittlung von symbolischen Codes einerseits und Kultur und Lebenswelt andererseits wird über die Einbildungskraft oder Imagination geleistet, »die Fähigkeit, Phänomene in zweidimensionale Symbole zu verschlüsseln und diese Symbole zu lesen.« 26 Bild, Schrift und Technobild stellt 24 »Dennoch ist das gegenwärtige Ineinandergreifen von Amphitheater und Netz, von Massenmedien und Konsensus in Geschichte und Vorgeschichte ohne Parallele. Unser Amphitheaterdiskurs ist keine Fortsetzung des Theaterdiskurses, sondern des Baumdiskurses der Wissenschaft und Technik, und unser Konsensus keine weltweite Ausbreitung der ursprünglichen Dorfgemeinschaft, sondern ein wissenschaftlich und technisch manipulierbares Zerreden und ›Sensationalisieren‹ der verteilten Information.« (K, 48) 25 An Husserl und Heidegger anschließend versteht Flusser den Mensch als »eksistierenden«, dem Welt nur mediatisiert gegeben ist. In historischer Perspektive deutet Flusser die Geschichte der kommunikativen Codes als Stufen zunehmender Entfremdung von »Welt« (vgl. K, 107). Siehe auch Vilém Flusser: »Eine neue Einbildungskraft«, in: V. Bohn (Hg.), Bildlichkeit, S. 115-126 26 Vilém Flusser: »Das Bild«. (1989). http://www.servus.at/ilias/flusser.htm vom 10.08.2004. Traditionelle Bilder beschreibt Flusser als Orientierungstafeln, auf denen Symbole in Form von Skizzen angeordnet sind, welche die
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SZENEN DER SCHRIFT
Flusser als zunehmend abstraktere symbolische Codes vor, wobei die jeweils neue Kulturtechnik immer dann entwickelt wird, wenn die vorangehende selbstreflexiv wird und ihre Materialität in den Vordergrund tritt, sei es im Umschlagen der bildlichen Imagination in Halluzination und »Idolatrie«, sei es in dem Moment, in dem das Begriffliche unverständlich und die Texte unvorstellbar und halluzinatorisch werden. Diese Stufe der »Textolatrie« zeige sich, so Flusser, in den Schriftreligionen und -ideologien beispielsweise des Christentums und des Marxismus. 27 Die sich aktuell aus dem Symbolsystem der Texte entwickelnden Technobilder (vgl. K, 137-150) beschreibt Flusser als »Programme«, als den Ideogrammen vergleichbare Bilder, die Begriffe bedeuten, »Flächen, die mit Symbolen bedeckt sind, welche Symbole linearer Texte bedeuten« (K, 139), beispielsweise das Symbol »P« für »Parken erlaubt«, Kurven in Statistiken, aber auch Filme, Fernsehen, Supermärkte, Plakate, Fotografien, Design usf. In diesem Sinne ließen sich auch die Programmierungen der oulipistischen Literatur als Technobilder verstehen, als Programme und modellhafte Gestaltungen, die literarische Strukturen und Operationen anzeigen und Texte bedeuten. In einem Verbund aus ApparatOperator – ein Funktionskomplex Mensch und Maschine – werden lineare Texte, beispielsweise die Geschichten der Philosophie, die Erzählungen der Religion, die Narrative der Politik und die Mythen der Kunst, in nachgeschichtliche Programme umcodiert, die sich in Technobildern darstellen. 28 An dieser Schwelle sieht Flusser die aktuelle Entwicklung: Die Methode des Verhältnisse zwischen den Gegenständen der Welt vorstellen. In handlungsorientierter und leibzentrierter Perspektive versteht Flusser diese abstrahierende Einstellung zur Welt als »Geste«. Den ontologisch und epistemologischen Standpunkt der Bilder, ihre widersprüchlichen Konnotationen und ihren »verstellenden« Charakter kritisierend, setzt die Geste des linearen Schreibens den Abstraktionsprozess fort, insofern sie die Symbole linear auffädelt, die imaginären Beziehungen durch begriffliche ersetzt, wodurch eine abstraktere, eindimensionale, diskursive Denkebene erreicht ist, welche die Welt methodisch behandelbar macht, technisch, wissenschaftlich und historisch. Flusser steht damit in der Nachfolge klassischer Medientheorien, bspw. der Schriftlichkeitsforschung, die den psychodynamischen, sozialen und kulturellen Folgen der Technologisierung des Wortes nachgeht, erinnert sei an Harold Innis, Walter Ong, Jack Goody, Marshall McLuhan, Erik A. Havelock. Bezüglich der Bilder sind es die Kunstgeschichte und aktuelle Bildanthropologie um Hans Belting sowie die Arbeiten zum Pictorial und Iconic Turn — siehe Christa Maar/Hubert Burda (Hg.): Iconic turn. Die neue Macht der Bilder, Köln 2004 —, die den erkenntnistheoretischen und kulturanthropologischen Implikationen der Bilder entwerfenden Praxis des Menschen nachgehen. 27 Vgl. V. Flusser: »Das Bild«. 28 Siehe dazu insb. die Skizze d 5 (K, 153). Ergänzend dazu Flussers Aufsatz: »Das Politische im Zeitalter der technischen Bilder«, in: ders., Die Revolution der Bilder. Der Flusser-Reader zu Kommunikation, Medien und Design, Mannheim 1995, S. 134-140. Die Konsequenzen der Mediatisierung der Politik werden inzwischen auch in der politischen Wissenschaft diskutiert, bspw. von Thomas Meyer, der Ästhetisierung und Theatralisierung als Strategien einer mediatisierten Politik beschreibt; siehe Thomas Meyer: Mediokratie. Die Kolonisierung der Politik durch die Medien, Frankfurt/M. 2001. »Es bleibt auch eine offene Frage, ob die Vorherrschaft der Mediokrität der durchschnittlichen Inhalte medialer Kommunikation unwiderruflich mit der Dominanz der medialen Kommunikationsregeln verbunden ist oder eher ein Kennzeichen ihrer gegenwärtigen Verfassung im Übergang zu einer reiferen Kommunikationsgesellschaft darstellt.« Ebd., S. 12. Flusser sieht eine vergleichbare Situation, skizziert die Alternativen einer entweder programmierten und totalitären oder einer dialogischen und telematischen Informationsgesellschaft.
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4. MEDIENPHILOSOPHISCHE ÄSTHETIK DER SCHRIFT. VILÉM FLUSSER
an die Schrift gebundenen prozessualen Begreifens von Welt wird durch das strukturale und mehrdimensionale Kodieren der Technobilder abgelöst. Den Übergang einer Schriftkultur in die Kultur der Technobilder beobachtet Flusser anhand der Konzeptualisierung des Bildlichen und daran, dass Texte phantastisch und imaginär werden: »Seitdem Bilder nicht mehr Welt vermitteln und Texte nicht mehr Bilder, seitdem beide opak geworden sind, funktionieren sie als einander reflektierende Spiegel, und zwar so, daß sie dabei von den Technobildern in die Winkel des Bewußtseins verdrängt werden. Dieses Überbieten der Imagination durch Konzeption und der Konzeption durch Imagination, bei welcher Bilder ›konzeptuell‹ werden (conceptual art) und Texte ›imaginär‹ (Science-Fiction), ist ein wichtiger Aspekt dessen, was gewöhnlich ›Krise der Kunst‹ genannt wird.« (K, 161)
Das Konzeptuelle der Kunst und das Fiktive und Imaginäre der Texte stellt Flusser als Symptome einer Repräsentationskrise dar, die Georges Perec mit dem Bild des trompe l’œil veranschaulichte und in einer Poetik des Trugbildes vorführte. In dieser Perspektive erscheint Perecs Roman »Das Leben Gebrauchsanweisung« als Symptom einer Krise der Textolatrie, insofern die hypertrophe Vermehrung der Texte, die in der Gattungsbezeichnung »Romane« verdeutlicht ist, die Entwertung des Romans als sinnhafte Vermittlung von Welt und Text anzeigt. Der Roman als Poetik des trompe l’œil lässt sich zudem als Symptom einer »ideographischen« (K, 142) Wende verstehen, auch mit Blick auf die Transformation des Textuellen ins Bildhafte in der Erzählung »Das Kunstkabinett«, in dem einzelne Kapitel des Romans als Bilder einer Sammlung veranschaulicht werden. Der Roman als Puzzle unterschiedlicher zugrunde liegender Figuren wäre Technobild, Komputation von Begriffen und Programmen. Das transformatorische Oszillieren von Konzeptualität und Imagination ist in Flussers Metapher der einander reflektierenden Spiegel wie in Perecs Figur des trompe l’œil deutlich gemacht. Damit tritt das Ästhetische als ptolemäisches Spiel mit sinnlichen Wahrnehmungen und trügerischen Verkörperungen von Realitäten und Welten in den Vordergrund. Diesen textuellen Trugbildern setzt Flusser die Sprache des Numerischen entgegen und zeichnet, wie die mathematisch orientierten Zweige Oulipos und wie Sybille Krämer in ihren Thesen zur Entwicklung operativer Symbolsysteme, 29 die Geschichte der Zahlencodes in Auseinandersetzung mit alphabetischen, logischen und erkenntnistheoretischen Ordnungen nach: 30 Wie die natürliche Sprache sich als ungeeignet erweise, die Welt wissenschaftlich zu beschreiben, wie es in der logischen Sprachphilosophie evident werde, so entwickelten sich parallel in der Wissenschaftsgeschichte mathematische Verfahren zur Beschreibung der Welt, von der Geometrie über die Differentialgleichung bis hin zu Wahrscheinlichkeitsrechnung und Topologie, die in verschiedenen nicht-sprachlichen und neuerdings computergestützten Repräsentationssystemen darstellbar sind: 29 Vgl. S. Krämer: »Kalküle als Repräsentation«. Siehe Kapitel 2.2.1, S. 77 der vorliegenden Arbeit. 30 Der Sammelband »Literatur im Informationszeitalter«, herausgegeben von Dirk Matejowski und Friedrich Kittler, stellt Vilém Flussers Aufsatz »Die Auswanderung der Zahlen aus dem alphanumerischen Code« allen anderen voran (S. 914), wodurch den Überlegungen Flussers zu Schriftkultur und visueller Kultur tendenziell ein grundlegender Charakter zugesprochen wird.
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SZENEN DER SCHRIFT »Man kann mit Worten nicht sagen, was die Wurzel aus minus zwei ist, mit Farben aber kann man es mit absoluter Genauigkeit ausdrücken. […] Gleichzeitig würde der Farbcode eine Sprache repräsentieren, die international wäre, weil sie nicht nur alle gesprochenen Sprachen durchkreuzen würde, sondern auch die ganze Wissenschaft und Kunst.« (Z, 30f.)
Die Symptome einer Krise der Kunst positiv wendend, lassen sich mittels neuer visueller Repräsentationstechniken »konzeptuelle Kompositionen« (Z, 31) generieren, deren Konsequenz Flusser in der Nivellierung des Unterschieds zwischen Wissenschaft und Kunst sieht (vgl. Z, 31). Den Programmen der Technobilder liegen numerische Codes zugrunde, die sich in diversen Repräsentationssystemen transformieren und gestalten lassen: »Wer des Zahlencodes mächtig ist, kann alternative Welten komputieren.« 31 Lösen diese numerisch generierten Bilder die Buchstaben als Träger der kulturellen Information und Sprache und Schrift als grundlegende Techniken der Entwürfe von Lebenswelten ab, stellt sich die Frage nach den Konsequenzen für die schriftbasierten Wissenschaften, für Literatur und Philosophie. Inwiefern würde – die kommunikologische Argumentation aufgreifend – sich eine auf konzeptuellen Kompositionen basierende Wissenschaft, Literatur oder Philosophie durch fachspezifische Hermetik und effektorientierten Sensationalismus auszeichnen? Die Schnittstelle dieser Aspekte liegt in der Reflexion der Medien. Den phänomenologischen und kultursemiotischen Ansatz einer Geschichte der Symboltechniken weitet Flusser zu einer Geschichte der apparativen Repräsentationstechniken und zu einer Theorie der Einzelmedien aus. Medien versteht Flusser dabei als apparative Techniken und nimmt deren erkenntnistheoretische, anthropologische, ethische und ästhetische Konsequenzen in den Blick. Fotografie beschreibt Flusser als erste Bildtechnik, die nach den optischen, chemischen und technischen Programmen des Apparats Bilder modelliere, die in diesem Sinne als Technobilder zu verstehen seien, 32 nicht als Abbildungen der Welt, sondern als »konzeptuelle Kompositionen« (Z, 31) – vergleichbar der littérature potentielle und der littérature théorique 33 –, ebenso wie die Bilder des Films und des Fernsehens, wie Computerbilder und Hologramme. 34 Gegenüber bisherigen Theorien der Fotografie, wie sie Walter
31 V. Flusser: »Die Auswanderung der Zahlen«, S. 13. 32 Siehe zur Fotografie folgende Texte Vilém Flussers: K, 181-189; Für eine Philosophie der Photographie, Göttingen 1994; Ins Universum der technischen Bilder, Göttingen 1992; Standpunkte. Texte zur Fotografie. Göttingen 1996. 33 Siehe Kapitel 2.2.3 der vorliegenden Arbeit. 34 Bezüglich des Films bemerkt Flusser, dass, anders als ein Geschichtenerzähler, der Filmproduzent »Komponist der Geschichte« sei, insofern er über sämtliche potenzielle Zeitstrukturen verfügt und, Linearität und Kausalität transzendierend, Geschichtlichkeit komputiert. Vgl. Vilém Flusser: Medienkultur. Hg. v. Stefan Bollmann, Frankfurt/M. 1997, S. 92 (im Folgenden abgekürzt mit der Sigle »M«). Als weiteres Beispiel zieht Flusser das Fernsehen heran, dessen Bilder nicht Wirklichkeit abbilden, sondern Erlebnismodelle liefern: »Alle Programme sind im Grunde Werbung.« (M, 109) Zum Telefon siehe den für den Band »Kursbuch Medienkultur« ausgewählten Text Flussers: Die Geste des Telefonierens.
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4. MEDIENPHILOSOPHISCHE ÄSTHETIK DER SCHRIFT. VILÉM FLUSSER
Benjamin, Roland Barthes oder Susan Sontag entwickelt haben, 35 stellt Flussers Konzeption einen radikalen Neuansatz dar: »Mit seinen Sätzen zur Fotografie hat Vilém Flusser Entscheidendes für ein neues Selbstverständnis dieses Faches gesagt [...]. Sie komputieren neue geschichtliche 36 Möglichkeiten, sie sind Entwürfe, nicht Dokumente. «
Bilder werden in Flussers Argumentation zu Programmierungen alternativer Welten, zu konzeptuellen und imaginären Entwürfen, zu phantastischen und sensationellen Szenarien, zu ästhetischen Erlebnismodellen. Welche Auswirkungen hat dies für schriftbasierte Bedeutungserzeugungen, für Wissenschaft und Philosophie? Wie sind Wissenschaft und Philosophie dieser Medien und Medialität zu denken? Wie ist eine Medienphilosophie vorzustellen, die selbstreflexiv die eigenen Voraussetzungen in den Blick nimmt, die Schwellensituation zwischen einer schriftbasierten und einer bildorientierten Medialität reflektiert? In welchen Formen gestaltet eine selbstreflexive Medienphilosophie Schwellenphänomene wie das Phantastische der Texte und die Konzeptualisierung der Bilder? Inwiefern wird Medienphilosophie dadurch zur Medienästhetik?
4.2 Medienphilosophie und Ästhetik Vilém Flusser ist neben Marshall McLuhan und Günther Anders, Paul Virilio und Jean Baudrillard einer der avanciertesten Denker einer Geschichte der Medien und Theorie der Medialität. Er steht exemplarisch für einen Diskurs der Philosophie, der sich unter dem Stichwort des Medial Turn, in Auseinandersetzung mit phänomenologischen und symboltheoretischen Ansätzen, der Reflexion der Medien und der Medialität zuwendet. Reinhard Margreiter brachte diesen Begriff des Medial Turn in die Diskussion ein und schlägt eine »Philosophie des ›Medial Turn‹« als »Reformulierung einer ›philosophy of mind‹« vor: 37 Es gelte, die in Fortführung der Bewusstseinsanalyse Edmund Husserls formulierten Problemstellungen einer Philosophie des Geistes auf die Frage nach Realität und Medialität zu beziehen. Münker/Roesler/Sandbothe beschrieben in allgemeinerer Weise den Medial Turn der Philosophie als Hinwendung zu den Fragen der Medialität der Medien wie der Medialität der Philosophie. 38
35 Siehe Walter Benjamin: »Kleine Geschichte der Photographie«, in: ders., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt/M. 1969, S. 45-64; R. Barthes: Die helle Kammer; Susan Sontag: Über Photographie. Frankfurt/M. 1997. 36 Gottfried Jäger: »Freiheit im Apparatekontext«, in: V. Flusser, Die Revolution der Bilder, S. 223-224, hier S. 223. 37 Siehe Reinhard Margreiter: »Medienphilosophie als Reformulierung einer ›philosophy of mind‹«, in: Winfried Löffler/Edmund Runggaldier (Hg.), Vielfalt und Konvergenz der Philosophie, Wien 1999, S. 520-524; ders.: »Realität und Medialität. Zur Philosophie des ›Medial Turn‹«, in: Medien Journal. Zeitschrift für Kommunikationskultur. Themenheft: Medial Turn. Die Medialisierung der Welt 23 (1999), S. 9-18. 38 Siehe Stefan Münker: »After the Medial Turn. Sieben Thesen zur Medienphilosophie«, in: ders./A. Roesler/M. Sandbothe (Hg.), Medienphilosophie, S. 16-
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SZENEN DER SCHRIFT
Josef Rauscher differenziert mit Blick auf die Diskussionen einer sich konstituierenden Medienphilosophie zwei Richtungen: einerseits die an einer Phänomenologie der Einzelmedien ausgerichtete Reflexion von Medialität, 39 andererseits eine »systematische Aufkonstruktion einer Medienphilosophie auf ontologischer Basis«, 40 für die Namen wie Rorty, Derrida, Deleuze und Lyotard stehen, aus deren Zeichen-, Sprach- und Schrift-Philosophien medienphilosophische Argumentationen abgeleitet werden. 41 Derart werde Medienphilosophie zur Fundamentaldisziplin, insofern Formen der Vernunft, 42 Begriffe und ihre Welt entwerfenden Praktiken als Medien verstanden und zum Gegenstand der Medienphilosophie und der Reflexion der Medialität werden – womit Medienphilosophie zugleich selbstreflexiv die Formen philosophischen Denkens in den Blick zu nehmen hätte, sodass »die Vermittlungsleistung der Philosophie wie ihre mediale Präsentation praktisch und pragmatisch ins Spiel kommt«: 43 »Akzidentelle Umstände, die den Begriff tingieren, etwa in der Frage danach, ›Wer spricht?‹, ›Unter welchen Umständen geschieht etwas?‹ oder ›Was alles von dem, was der Präsentation dient, findet als unbedacht Relevantes Eingang in die Mitteilung?‹ erweisen sich als fundamental. Spuren. In der Aufmerksamkeit auf Randphänomene der Thematisierung philosophischer Fragen in ihrer performativen Realisierung statt in deren theoretischer Valenz treffen sich dabei Derrida und Deleuze mit Baudrillard.« 44
Insbesondere anhand der Philosophie Derridas lassen sich diese beiden medienphilosophischen Lesarten rekonstruieren: einerseits eine aus den Begriffen der Dekonstruktion – différance, Wiederholung, Spur – abgeleitete Theorie der Medien, andererseits eine auf die Praxis der Dekonstruktion und das Konzept des »Medienessayismus« ausgerichtete Deutung: 45
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26; sowie dies.: »Vorwort. Beantwortung der Frage: Was ist Medienphilosophie«, in: ebd., S. 7-9. Siehe J. Rauscher: »Einleitung (Philosophie)«. Rauscher konstatiert, das philosophische Nachdenken über Kommunikationsmedien führe »zwangsläufig zu einer Rückwendung von der Theorie der Medien zur Reflexion von Medialität im Allgemeinen auf der Basis einer Phänomenologie der Einzelmedien.« Ebd., S. 21. Ebd. »Derridas Überlegungen liegen dabei sicher jenseits der theoretischen und pragmatischen Fundierungsversuche einer Disziplin Medienphilosophie. Doch sie sind fundamental, nicht nur in seiner Fassung des Problems der Sprache, die über die Schrift, in einer Aufdeckung der letzteren als eines verdeckten Ursprungs, begriffen werden sollte. Derrida liefert dabei mehr als eine klassische, exemplarische Betrachtung des Mediums Schrift. Die Frage nach dem ›Begriff‹ als dem Medium philosophischer Auseinandersetzung geht bei Derrida über in eine Frage nach einem so konkret gedachten Begreifen — so spricht er vom Begreifen der Sprache durch das (grammatische) Subjekt Schrift —, dass die ganze Logik des Begriffs ›Zeichen‹ aufgehoben wird, damit aber die Logik allgemein.« Ebd., S. 22. Siehe dazu Matthias Vogel: Medien der Vernunft. Eine Theorie des Geistes und der Rationalität auf Grundlage einer Theorie der Medien, Frankfurt/M. 2001. J. Rauscher: »Einleitung (Philosophie)«, S. 19. Ebd., S. 22. Siehe zu einer Analyse medienphilosophischer Lektüren der Dekonstruktion: C. Ernst: »Gespenst, Phantom, Wiedergänger«.
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4. MEDIENPHILOSOPHISCHE ÄSTHETIK DER SCHRIFT. VILÉM FLUSSER »Diese Lesart ist performativ-pragmatischer Art. Sie rekurriert darauf, wie Dekonstruktion ihre Einsichten artikuliert. Sie betont, dass die Dekonstruktion textuelle Praxis ist. Die Dekonstruktion bleibt nicht auf Ebene der Theorie. Dekonstruktion formuliert sich wesentlich als Lese- und Schreibweise, also als Medienpraxis. Dekonstruktion hat einen, von dem Wie ihrer Frage zu begründenden, performativen Zug.« 46
Vilém Flusser steht gleichermaßen exemplarisch sowohl für eine phänomenologisch orientierte Philosophie der Kommunikationsmedien als auch für eine performative Medienphilosophie. In der Rezeption seiner Schriften und Denkansätze lassen sich die zentralen Motive, die unterschiedlichen Entwicklungen, Fragestellungen und Methoden medientheoretischer und medienphilosophischer Diskurse ablesen. 47 Frank Hartmann macht Flusser zur Leitfigur und zum Stichwortgeber seiner historisch rekonstruierenden Medienphilosophie, die eine Entwicklungslinie von Sprachphilosophie und Sprachkritik über die Reflexion unterschiedlicher Kommunikationsmedien zur Analyse der aktuellen Technokultur zieht – und stellt Flusser insofern als Vertreter der ersten Lesart vor, einer Medienphilosophie, die von der Reflexion der Einzelmedien zur Reflexion der Medialität übergeht. 48 Diese Technik und Anthropologie, Erkenntnistheorie und Ethik verbindende Argumentation ist symptomatisch für eine experimentalkulturelle Situation, in der kybernetische und informationstheoretische, kognitionswissenschaftliche und computertechnische Diskurse zu einer phänomenologischen, kulturdiagnostischen und anthropologischen Medientheorie zusammengeschlossen werden. Auch in dieser wissenschaftskulturellen Hinsicht ist Flusser symptomatisch für medienphilosophische Diskussionen. In der Idee der
46 Ebd., S. 67. 47 Siehe bspw. das von Andreas Müller-Pohle und Bernd Neubauer zusammengestellte Flusser-Glossar, »Flusser-Glossar«. European Photography 50, 13 (1992) H. 2. Auch: http://equivalence.com/labor/lab_vf_glo_d.shtml vom 10.08.2004. Siehe ergänzend die Darstellungen zu Flussers Kommunikationstheorie in medientheoretischen Einführungsbänden, bspw. Bernd Rosner: »Telematik. Vilém Flusser«, in: D. Kloock/A. Spahr (Hg.), Medientheorien, S. 7798. 48 Flussers Konzeption einer neuen Einbildungskraft, der Technoimagination, setzt Frank Hartmann als zentrale medienphilosophische Denkfigur, insofern sie den medienkulturellen Wandel aus der Gutenberg-Galaxis ins Universum der technischen Bilder reflektiere. Vgl. Frank Hartmann: »1. Kapitel — Mediale Existenz. Ausgangspunkte«, in: ders., Medienphilosophie, Wien 2000, S. 1629; hier insb. Kapitel 1. 4. Technoimagination, S. 23-26. Frank Hartmann stellt Flusser als Vertreter einer phänomenologisch und informationstheoretisch orientierten Philosophie der Kommunikationsmedien im Zeitalter mediologischer Umbrüche vor — unter dem Stichwort einer »diskursiven Epistemologie« (Siehe Frank Hartmann: »13. Kapitel — Pendeln von Punkt zu Punkt. Flussers diskursive Epistemologie«, in: ders., Medienphilosophie, S. 278-298) —, für die insbesondere Flussers Band »Medienkultur« steht. Hartmann erklärt mit Flusser Kommunikationsphilosophie zur Fundamentaldisziplin, darin der Aussage Flussers folgend: »Darum bildet die Theorie der Kommunikation eine Art Brennpunkt der theoretischen Überlegungen hinsichtlich unserer kulturellen Lage. Man kann ohne Übertreibung sagen, daß ihr jene Rolle zukommt, die früher die Philosophie spielte.« (K, S. 242)
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SZENEN DER SCHRIFT 49
Telematik beispielsweise werden physikalische Modelle der Feldtheorie auf die Beschreibung einer Gesellschaftsstruktur übertragen, um die technische, automatische Umstrukturierung eines kommunikativen Beziehungsfeldes zu beschreiben: 50 »Was Flusser damit vorgedacht hat, ist eine anthropologische Wende der Kommunikations- und Medientheorie.« 51 Einer der am deutlichsten ausgeprägten Diskurse, die die aktuelle medienphilosophische Reflexion bestimmen, ist die Frage einer Epistemologie des Informationszeitalters, die Frage nach der wirklichkeitsgenerierenden Funktion der Neuen Medien, 52 die mit den Begriffen der Derealisierung und der Oberfläche, 53 der Simulation und des digitalen Scheins 54 unternommen wird. »Praktisch gesagt, Bilder sind eine Art, die Wirklichkeit wahrzunehmen, und Bilder werden als Wirklichkeit wahrgenommen. Trotzdem ist es das Ziel jeder ontologischen Analyse, Wirklichkeitsebenen zu unterscheiden, und zwischen der ›Wirklichkeit tout court‹ — was immer das sein mag — und der Fiktion zu unterscheiden.« (M, 115)
49 Anhand des Begriffs der »Telematik« lässt sich die von Hartmann beschriebene Verschränkung von Medientechnik und Epistemologie nachvollziehen. Siehe Vilém Flusser: »Auf dem Weg zur telematischen Gesellschaft« (M, 143-182). Ergänzend: B. Rosner: »Telematik«; Ingeborg Breuer u.a.: »Utopie der telematischen Gesellschaft. Zur Medien- und Kulturphilosophie Vilém Flussers«, in: dies., Welten im Kopf. Profile deutscher Gegenwartsphilosophie, Hamburg 1996, S. 79-91. Der Begriff der Telematik schließt die Begriffe Telekommunikation und Informatik zusammen und meint sowohl medientechnisch ein »Umschalten der Bündel in Netze« und ein »Reversibilisieren der Kabel« (M, 74) als auch einhergehend damit bestimmte Diskurs- und Dialogformen, und zwar die Gestaltung der Produktion und Verteilung von Information als dialogischer und netzwerkartiger Prozess. Aus dem weiten Pool der Literatur zur Netz-Kultur sei herausgegriffen Frank Hartmann: »14. Kapitel — Netz-Kultur. Leben im Datenstrom«, in: ders., Medienphilosophie, S. 305-327. An diesen netzwerkartigen Prozess sind soziale Organisations- und Denkformen angeschlossen, die auf den Begriff der »telematischen Informationsgesellschaft« gebracht werden. Siehe dazu auch J. Albrecht: »Vom Ende der bürgerlichen Kultur.« Für Flusser bezeichnet dieser Begriff der telematischen Informationsgesellschaft nicht nur die nachindustrielle Epoche des Informationszeitalters, sondern auch anthropologisch »jene Daseinsform, in der sich das existentielle Interesse auf den Informationsaustausch mit anderen konzentriert [...].« (M, 143). 50 »Daher kann das Wort ›Telematik‹ als eine Technik zum selbstbewegten Näherrücken von Entferntem gedeutet werden.« (M, 145) Kommunikation wird als proxemische Relation gedacht: »Nähe ist danach nicht Funktion irgendeiner räumlichen und zeitlichen Entfernung, sondern Funktion der Zahl und Intensität der Beziehungen [...].« (M, 146) 51 Stefan Bollmann: »Vorwort des Herausgebers«, in: V. Flusser, Medienkultur, S. 7-18, hier S. 17. Anthropologisch weitergedacht wird auch die phänomenologische Idee eines Entwerfens von Lebenswelten in Richtung von Kommunikation als Möglichkeit des dialogischen Selbstentwurfes: »Telematik: Vorrichtungen zum automatischen Näherbringen von Menschen, damit sich diese wechselseitig überhaupt erst verwirklichen mögen, um nicht in irgendeinem Selbst verkapselte bloße Möglichkeiten zu bleiben.« (M, 147) 52 Siehe S. Krämer (Hg.): Medien, Computer, Realität. 53 Siehe auch Vilém Flusser: Lob der Oberflächlichkeit. Für eine Phänomenologie der Medien, Mannheim 1993. 54 Siehe Vilém Flusser: »Digitaler Schein«, in: ders., Medienkultur, S. 202-215. Dazu auch Florian Rötzer (Hg.): Digitaler Schein, Frankfurt/M. 1991.
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4. MEDIENPHILOSOPHISCHE ÄSTHETIK DER SCHRIFT. VILÉM FLUSSER
Flusser entwirft einen wegweisenden Diskurs über Medialität, den er unter dem Stichwort »Husserl angewandt an Telematik« 55 unternimmt: »von den Dingen weg, hin zu den Informationen« (M, 185). »Die dingliche Umwelt ist uninteressant geworden, das Interesse hat sich auf die Dokumente verschoben. Es sind die Dokumente, die Formen, die Modelle, die gegenwärtig beginnen, das Konkrete der Umwelt auszumachen.« (M, 189)
Exemplarisch stehen dafür die apparativ erzeugten Technobilder, die als Programme oder wissenschaftliche Modelle zu verstehen sind, die der Technik zugrunde liegen und in den Bildern anschaulich werden: »Gleichungen der Optik, der Chemie, der Mechanik und ähnliche werden mittels Fotoapparaten als Bilder sichtbar [...].« (M, 76) Es sind demnach die Programmierungen technischer Apparate, dieser apparativen Zusammenschlüsse von Mensch und Maschine, die sich selbstreflexiv in den Technobildern widerspiegeln. Diese Technobilder schaffen »eine neue Gesellschaftsstruktur und damit auch Realitätsstruktur […]. Und die neuen, synthetischen Bilder, in denen abstraktes Denken ansichtig und hörbar wird und die im Verlauf des neuen kreativen Dialogs hergestellt werden, sind nicht nur ästhetisch, sondern auch ontologisch und epistemologisch weder mit guten alten noch mit den gegenwärtig uns umspülenden Bildern vergleichbar.« (M, 75)
Diese Idee einer als »postmodern« (M, 197) zu bezeichnenden Situation, in der ein Abstraktionsprozess von Dingen in Programme, Formen und Modelle umgekehrt wird und Informationen in Form von Bildern gestaltet werden, basiert unter anderem auf dem diesen Vorstellungen zugrunde liegenden Diskurs vom Computer als Meta-Medium, in dem abstrakte Informationen, Bits und Bytes, zu konkreten Bildern komputiert werden, 56 ein Diskurs, der für das Nachdenken über Medien und Medialität, Realität und Virtualität zentral ist, insbesondere bezüglich der These eines mediologischen Umbruchs in eine digital culture, von textuellen zu numerischen Methoden der Welterzeugung: »Die Welt ist zwar unvorstellbar und unbeschreiblich, dafür aber kalkulierbar geworden.« (M, 203) Angesichts dieser Setzung des Computers als Technik des spielerischen und phantastischen Komputierens, als Technik des Imaginären – »Das Imaginäre ersetzt das Reale« (M, 140) –, lässt sich umgekehrt von einem Imaginären des Technisch-Medialen sprechen. 57 So zeigt es sich auch in der anthropologischen Wendung des Computer-Modells: »Übrig bleibt, daß alles digital ist, daß also alles als eine mehr oder weniger dichte Streuung von Punktelementen, von Bits, angesehen werden muß. [...] Wir ha55 Vilém Flusser: Vom Subjekt zum Projekt. Menschwerdung. Hg. v. Stefan Bollmann und Edith Flusser, Frankfurt/M. 1998, S. 279. der Band wird im Folgenden mit der Sigle »SPM« abgekürzt. 56 Wie das Bild des Commputers den Diskurs der Medienwissenschaften bestimmt, lässt sich exemplarisch in folgendem Beitrag nachvollziehen: Norbert Bolz: »Ulysses Flusser«, in: V. Flusser, Die Revolution der Bilder, S. 229-231. Zu den Hintergründen dieses Diskurses siehe Eric Davis: Myth, Magic and Mysticism in the Age of Information, New York 1998. 57 Zur Inszenierung des Imaginären siehe K.L. Pfeiffer: Das Mediale und das Imaginäre; W. Müller-Funk/H.U. Reck (Hg.): Inszenierte Imagination.
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SZENEN DER SCHRIFT ben uns selbst — unser ›Selbst‹ — als eine derartige ›digitale Streuung‹, als eine Verwirklichung von Möglichkeiten dank dichter Streuung zu begreifen.« (M, 212)
Perspektiven einer kognitiven Wahrnehmungstheorie skizzierend, verknüpft Flusser Vorstellungen aus Computertheorie und Neurowissenschaft: die (Techno-)Bild gewordenen Programme, dieser »Realismus der Formen, der Ideen« (M, 191), simuliere die Aktivitäten des Zentralnervensystems, in dem die von den Sinnen gemeldeten Reize »elektromagnetisch und chemisch prozessiert und dann zum konkreten Erlebnis [...] komputiert« (M, 198) werden. Aspekte einer Philosophie des Geistes, der Kognitionswissenschaft und der Medientheorie werden bei Flusser im Horizont des Zentralbegriffs Komputieren zu einer Theorie digitaler Simulation bzw. computergestützten Entwerfens von Realitäten und Ereignissen verknüpft (vgl. M, 198): »Man bedenke aber, wie das Herstellen immer konkreterer Erlebnisse vor sich geht. Man entwirft Szenarii auf den Computerschirmen, zum Beispiel einen Zusammenstoß mit einem Holztisch (oder einen Krieg am Golf, aber das Tischbeispiel ist bequemer).« (M, 200) 58
Kern dieser Aspekte medienphilosophischen Denkens ist die Dimension des Ästhetischen: »Wonach trachtet die Postmoderne? Nach schöpferischem formalen Erleben und Erkennen.« (M, 201) Flussers Überlegungen zu medialen und ästhetischen Welterzeugungen lassen an Calvinos Reflexionen zu Kybernetik und Gespenstern denken; Flusser formuliert: »Entweder sind die alternativen Welten ebenso real wie die gegebene oder die gegebene ist ebenso gespenstisch wie die alternativen.« (M, 202) Medialität, Imagination und Ästhetik werden zusammengedacht: »Wenn der kindliche Wunsch nach ›objektiver Erkenntnis‹ aufgegeben sein wird, dann wird die Erkenntnis nach ästhetischen Kriterien beurteilt werden.« (M, 214) Hier zeichnet sich explizit ein aus der phänomenologischen und epistemologischen Reflexion von Medialität abgeleiteter medienästhetischer Diskurs ab: »So gesehen nämlich ist die Buntheit unserer Szene eine Manifestation einer neuen Art, der Welt und dem Leben darin einen Sinn zu geben. Die Buntheit unserer Wände, Konserven und Socken ist die Folge einer neuen Art die Welt zu kodifizieren — also einer neuen Art zu denken, zu fühlen und zu wollen. Aus dieser Sicht ist es überflüssig, betonen zu wollen, daß die Buntheit der Socken nicht nur ein ästhetisches Phänomen ist, sondern daß es sich dabei um ein Symptom für eine grundlegende Kulturrevolution handelt.« (K, 264)
Vor diesem Hintergrund – die Ästhetisierung der Lebenswelten mit den frei komputierbaren Erlebniswelten zu erklären – ließe sich Georges Perecs Ro58 Flusser stellt auch die Frage nach der politische Dimension dieser Medienphilosophie, nach den Mechanismen der Macht: »Eine Elite, deren hermetische Tendenz sich laufend verstärkt, entwirft Erkenntnis-, Erlebnis- und Verhaltensmodelle mit Hilfe sogenannter ›künstlicher Intelligenzen‹, welche von dieser Elite programmiert werden, und die Gesellschaft richtet sich nach diesen für sie unlesbar aber befolgbaren Modellen.« (M, 53)
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4. MEDIENPHILOSOPHISCHE ÄSTHETIK DER SCHRIFT. VILÉM FLUSSER
man »Die Dinge« als Erzählung von Technobildern lesen: Die von Perec als Topoi der Faszination beschriebenen Dinge lassen sich als einer Schriftkultur nicht mehr analysierbare und kritisierbare, sondern ästhetisch funktionierende Programme deuten. Mit diesen spielerischen und phantastischen medialen Programmierungen entwirft Vilém Flusser eine Medienphilosophie des Potenziellen: »Es ist klar, dass die grammatische Form der Welt nicht das Real, sondern das Potential ist.« 59 Das Erleben dieser in programmierenden Akten hergestellten Welt ist ein ästhetisches: »Es beruht auf einem formalen, kalkulatorischen, strukturalen Bewußtsein, für das ›real‹ all das ist, was konkret erlebt wird (aisthestai = erleben). Insofern die alternativen Welten als schön empfunden werden, insoweit sind sie auch Realitäten, innerhalb derer wir leben.« (M, 215)
Wie Guy Debord den Charakter einer Mediengesellschaft als spektakulären beschrieben hat, 60 so unterstreicht auch Flusser den theatralen Charakter des
59 Neben dieser kommunikationsphilosophischen Argumentation, wie sie sich hier als medienphilosophische und medienästhetische nachzeichnen lässt, gibt es bei Flusser sehr früh eine andere Reflexionsrichtung, die ebenfalls dem Schein der Phänomene nachgeht, ein mystisch-religiöser Diskurs, der seine Spuren auch in den Beiträgen der zur Medienkultur hinterlässt: »Wir stehen nicht vor einem Rätsel, sondern mitten in einem Geheimnis: im Mysterium des Absurden. Und dieses Geheimnis versuchen wir nicht mehr zu entziffern — es ist unlesbar — sondern wir versuchen, ihm einen Sinn zu verleihen — darauf unsere eigenen Zeichen zu projizieren. In unserem neu emportauchenden Weltbild gibt es keine Hintergründe: Die Welt ist darin eine Vordergründige, nichts verbergende Oberfläche.« (M, 236). »Wie kam man eigentlich auf die Idee, die Welt als hintergründig anzusehen — wo man doch nichts sieht als die Vordergründe? Aus Mißtrauen. Die Erscheinungen täuschen, sie sind ein Blendwerk des Teufels.« (M, 224) In seiner Publikation »Die Geschichte des Teufels« (Göttingen 1996. 1957/58 in Brasilien geschrieben und dort 1965 unter dem Titel »A história do diabo« erschienen, erzählt die Geschichte des Teufels als Geschichte des Fortschritts. Anhand der sieben Todsünden werden Wisenschaft, Technik, Politik, Wirtschaft, Kunst und Philosophie als Triebkräfte des Fortschritts skizziert) beschreibt Flusser den Schein der Phänomene, den »Schleier der Maya« (ebd., S. 150) als Welt erhaltendes und erzeugendes Prinzip: »Wir werden das Göttliche so verstehen, daß es wirkt in der Welt der Phänomene, um diese aufzulösen und zu erlösen, das heißt zum ›Ding an sich‹, zum reinen zeitlosen Sein zu reduzieren. Der Teufel aber wirkt in der Welt, um die Phänomene zu erhalten, um zu verhüten, daß sie zur Noumena werden. […] Vom Standpunkt der phänomenalen Welt ist der Teufel das erhaltende Prinzip […].« Ebd., S. 9. Wie in der medienphänomenologischen Argumentation so formuliert Flusser auch hier eine anthropologische Dimension des aktiven Entwerfens von Lebenswelten: »Die Sinne sind also nicht Organe zum Betrachten der Welt, sondern zu ihrem Erschaffen.« Ebd., S. 150. »Es ist klar, dass die grammatische Form der Welt nicht das Real, sondern das Potential ist.« Ebd., S. 158. Wie im medienphilosophischen Diskurs Wissenschaft und Kunst als Modelle entwerfende gleichgesetzt werden, so ist auch hier Wissenschaft nicht Erkenntnis, sondern bewusstes Erschaffen (vgl. ebd., S. 158): »Der Schleier der Illusion ist gebrochen, die Wissenschaft ist bewußte Komposition, die Natur ist zur Musik geworden. Und die Philosophie hat sich erübrigt, denn Selbsterkenntnis ist nun identisch mit der Metaphysik, und Logik und Ethik haben sich aufgelöst in Ästhetik.« Ebd., S. 159. 60 Siehe Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels, Berlin 1996.
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SZENEN DER SCHRIFT
postmodernen ästhetischen Erlebens. Das Leben des Menschen, so prognostiziert er, »[...] wird kein Drama mehr sein, das eine Handlung hat, sondern es wird ein Schauspiel sein, das ein Programm hat. […] Nicht Arbeiter, Homo faber, sondern Spieler mit Formen, Homo ludens, ist der Mensch der undinglichen Zukunft.« (M, 188)
Die auf das Ästhetische fokussierte Medienphilosophie fragt nicht mehr erkenntniskritisch, sondern pragmatisch nach den Wirkungen und Effekten: »Inzwischen hat sich gezeigt, daß auch für das kalkulierende Denken die sogenannte Wirklichkeit aus Punkten besteht, daß also alle Objekte, die wir sehen, auch Komputationen sind […]. [D]as ontologische Interesse richtet sich nicht mehr auf die Wirklichkeit, sondern auf die Wirkung. […] Die sogenannten ›Simulacren‹, die wir auf dem Fernseh- oder dem Computerschirm sehen, sind wirklich in dem Sinn, dass sie wirken. Wir müssen endlich aufhören, ewig nach dem ›Ding an sich‹ zu fragen statt nach der Effektivität.« (Z, 57)
Insofern alle Programme der Schriftkultur wie Geschichte, Religion, Philosophie und Wissenschaft in der postmodernen Sichtweise als Programmierungen offenbar werden, lösen sich die Grenzen von Wissenschaft und Ästhetik auf. Einer der grundlegenden Impulse dieser Argumentation sind die zwischen Mathematik und Kunst angesiedelten computergestützten Visualisierungen mathematischer, fraktaler Gleichungen: »Die Wissenschaftler sind Computerkünstler avant la lettre, und das Ergebnis der Wissenschaft besteht nicht in irgendeiner ›objektiven Erkenntnis‹, sondern in Modellen zum Behandeln des Komputierten. [...] Das wirklich Neue aber ist, daß wir von jetzt an die Schönheit als das einzig annehmbare Wahrheitskriterium begreifen müssen: ›Kunst ist besser als Wahrheit‹. An der sogenannten Computerkunst ist das bereits jetzt ersichtlich: Je schöner der digitale Schein ist, desto wirklicher und wahrer sind die projizierten alternativen Welten.« (M, 214f.)
Nachdem die beiden von Josef Rauscher skizzierten Richtungen der kommunikationsphilosophischen und ontologisch orientierten medienphilosophischen Diskussionsfelder sowie zentrale Argumentationsfiguren anhand der Überlegungen Flussers nachgezeichnet werden konnten, lässt sich auch die selbstreflexive Wendung nachvollziehen, die – vor dem Hintergrund einer ästhetisch und theatral verstandenen Praxis medialen Entwerfens von Erlebniswelten – eine Wendung in eine medienästhetische Praxis bedeutet. Inwiefern Flussers eigene Argumentation nicht als wissenschaftliche, sondern als ästhetische – im Sinne eines Wissenschaft und Ästhetik zusammendenkenden Verständnisses – zu begreifen wäre, als Entwerfen neuer Standpunkte und Perspektiven, deutet sich in seiner Beschreibung der phänomenologischen Methode an: »Die phänomenologische Methode ist im Grunde eine spezifische Schau der Dinge, die darauf abzielt, an ihnen Aspekte zu erkennen, welche der üblichen Sicht durch Gewohnheit verdeckt sind.« (M, 104) Wie Rauscher es für die performativen medienphilosophischen Diskurse Rortys, Deleuzes, Baudrillards und Derridas formuliert hat, ist auch bei Flus244
4. MEDIENPHILOSOPHISCHE ÄSTHETIK DER SCHRIFT. VILÉM FLUSSER
ser die philosophische Reflexion von Sprache Konvergenz- bzw. Ausgangspunkt eines medienphilosophischen Diskurses, der seine eigene Präsentationsweise mit bedenkt: »Die Meinung, daß sich das philosophische Interesse auf das Problem der Sprache konzentriert, ist ganz allgemein: vom formellen wie vom strukturellen, vom ästhetischen wie vom existentiellen Standpunkt aus besehen.« (Z, 8)
Hier lässt sich der Bogen zurück zur Konzeption von Sprache bei Flusser schlagen, wie sie zu Beginn des Kapitels skizziert wurde: Das Hybride der Sprache, die zwischen logischer und mystischer, wissenschaftlicher und künstlerisch-dichterischer Sprache oszilliert, wird modellbildend für die Idee von Medialität als die Grenzen zwischen dem Wissenschaftlichen und Ästhetischen überschreitende Programmierung und wird modellbildend für die philosophische Arbeit: »Die Sprache bleibt — trotz konzentrierter Arbeit — weiter mysteriös. Wir können nicht klar zwischen Beobachtungssätzen und theoretischen Sätzen unterscheiden, und das verwischt unser Verständnis von Wissenschaft und Kunst. Wir wissen nicht, was ein Eigenname und was eine Beschreibung ist, und das trübt die Grenzen des Sagbaren. Wir können die Verschiedenheiten der Grammatiken nicht ›erklären‹ und folglich auch nicht die verschiedenen Weltanschauungen, die uns die einzelnen Sprachen bieten.« (Z, 8)
Insofern die Reflexion von Sprache zum Modell einer Philosophie der Medien wird, wendet sie sich selbstreflexiv zu einer theatralen und ästhetischen Praxis. Die wissenschaftstheoretische bzw. -historische Schwelle von Sprachphilosophie und Medienphilosophie spiegelt sich exemplarisch in der von Flusser konstruierten symboltechnischen und medienkulturellen Schwelle von Schriftkultur und Technobildkultur. Flusser leitet aus seiner Idee der Philosophie als Kommunikologie, die aus einer Reflexion von Sprache als dialogischem Medium hervorgeht, 61 Überlegungen zu einzelnen Kommunikationsmedien ab: Telefon und die bildgenerierenden Apparate werden in der »Kommunikologie« als apparative Konkretisierungen der Dialog- und Diskursformen vorgestellt. Die Fotografie spielt dabei eine herausragende Rolle, nicht nur als erstes Technobild und weil an ihr die von Josef Rauscher beschriebene Konkretisierung einer allgemeinen Reflexion von Medialität der Kommunikationsmedien anhand von Einzelmedien deutlich wird, sondern weil die Geste der Fotografie, 62 das heißt der Zugriff auf die Welt, zum Modell für die phänomenologische Methode wird, als »Suche nach einem geeigneten Standpunkt« (K, 181). Die phänomenologische Methode, analog der »ruckartigen«, »quantelnden« Bewegung des Fotografen (vgl. K, 183), wird als technoimaginäre Methode
61 Siehe dazu insb. das erste Kapitel der »Kommunikologie« (S. 16-72) zu Kommunikationsstrukturen, Diskurs- und Dialogformen. 62 Siehe K, 181-189 sowie das Kapitel: »Die Geste des Fotografierens«, in: Vilém Flusser: Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Frankfurt/M. 1997, S. 100118.
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vorgestellt und der Geste einer schriftkulturellen Philosophie entgegengesetzt. Die gesamte medienphilosophische Argumentation, das Modell postmoderner Epistemologie, wird auf die Praxis des Fotografierens projiziert, Fotografie und Phänomenologie werden zur leitenden Idee einer technoimaginären, komputierenden, äshetischen Praxis medialen Weltentwerfens: Der »arithmetischer Charakter des Fotoapparates« (K, 184), die Produktion distinkter Bilder, verkörpere die Struktur des Komputierens der nachgeschichtlichen Programme. Fotografie und Philosophie werden explizit wechselseitig transformierbar gemacht, sie treffen sich in der »Geste des Schauens, der theoria« (G, 118). Da es aber nicht mehr um ein hinter den Erscheinungen liegendes Erkenntnisinteresse geht, stellt Flusser die Frage, ob nicht dank der Fotografie die »Unterscheidung zwischen Kunst und Philosophie durcheinandergeraten« (G, 118) sei. Flusser unternimmt hier die Rückwendung der medienphilosophischen Reflexion auf die Philosophie. Flussers Verständnis von Fotografie als Operation im Feld von Wahrscheinlichkeiten, als Medium möglicher Sehweisen, 63 korrespondiert mit seiner Auffassung vom komputierenden Denken als Veränderung der Welt als Möglichkeitsfeld 64 und mit seinen Ansichten zu seiner philosophischen Tätigkeit als Projizieren möglicher Szenarien: »[W]as ich versuche zu tun, ist, die gegenwärtigen Tendenzen so gut wie möglich zu konstatieren und dann ein klein wenig nach vorne zu projizieren. Ich hoffe, daß nichts von dem, was ich sage, utopisch ist, sondern daß alles, was ich sage, jetzt angelegte Möglichkeiten sind.« (Z, 34)
Nicht die Frage nach medialer Wahrnehmung und Wirklichkeit als ein »Jenseits des Bildschirms«, wie sie die Massenmedienforschung und die ideologiekritische Medienphänomenologie beispielsweise eines Günter Anders oder 63 Diese Perspektive lässt sich kunstgeschichtlich im Bezug auf die AvantgardeFotografie rekonstruieren, die in »Fotografien des Möglichen« die Apparatur sowie Wahrnehmungskonventionen auslotet — vergleichbar der potenziellen Literatur. Vgl. Hernert Molderings: »Mögliche Welten. Konzeptuelle Fotografie von Marcel Duchamp bis Anna und Bernhard Blume«, in: Joachim Jäger/PeterKlaus Schuster (Hg.), Das Ende des XX. Jahrhunderts. Standpunkte zur Kunst in Deutschland, Köln 2000, S. 243-265. Diese möglichen Welten der konzeptuellen Fotografie sind Realisierungen von in Programmen angelegten Möglichkeiten. Diese ästhetische Strategie der potenziellen Kunst lässt sich historisch wie über die Grenzen der Kunstformen hinweg beobachten. Herbert Molderings bezieht sich in einem Aufsatz zur konzeptuellen Fotografie, erschienen in einem Sammelband zu Positionen der Kunst im zwanzigsten Jahrhundert, auf die experimentelle Poetik, konstatiert, »dass Fotografien des Möglichen immer auch poetische Fotografien sind«, wobei er den Bergiff »poetisch« explizit auf eine moderne Lyrik im Anschluss an Hugo Friedrich bezieht, »auf Rimbaud, Lautréamont und ganz besonders auf Mallarmé«. Der Zusammenschluss von »in einem hohen Maße intellektuell gesteuerter Phantasie, […] Erfindung von Dingbeziehungen, die aller realen Ordnung entrückt sind, Sichtbarmachung des Geheimnishaften am Vertrauten« (ebd., S. 161f.) benennt eben die Konvergenz von Formalismus und Mystizismus, der auch Flusser auf der Spur ist und sie auch die Untersuchungen der Werkstatt für potenzielle Literatur wie Georges Perecs beschäftigte. 64 »Flusser skizziert dazu das komputierende Denken, dessen Anspruch einer neuen Einbildungskraft die Kultur vor die neue Aufgabe stellt, die Welt als Möglichkeitsfeld zu verändern.« F. Hartmann: Medienphilosophie, S. 297.
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Theodor W. Adorno 65 stellen, nimmt Flusser in den Blick, sondern wie bildgenerierende Apparate als dialogische Kommunikationsmedien Lebens- und Ereigniswelten entwerfen (vgl. K, 200-204). Film und Video beispielsweise beschreibt Flusser als Zeit restrukturierende Techniken (vgl. K, 196-200): Wie einerseits der Filmcutter durch Schere und Klebstoff Geschichte in ihrem Ablauf erst konstruiere, so funktioniere andererseits der Monitor des Videos aufgrund der Möglichkeit, Videobänder beliebig abspielen zu können, »wie ein Spiegel gegenwärtiger oder vergangener Ereignisse« (K, 198). Medienstrukturell beschreibt Flusser Figuren, die dem Puzzle und dem trompe l’œil vergleichbar sind. Wie Perecs Auseinandersetzung mit den Fragen nach Zeit und Geschichte, nach Medien als Repräsentationstechniken selbstreferentiell zu den Materialitäten der Medien zurückführte, so beschreibt auch Flusser die Bilder der Medien als Veranschaulichung ihrer Programme, und da die Programme, die wissenschaftlich-technischen Modelle, der alphanumerischen Kultur entstammen, spiegeln sich in ihnen schriftkulturelle Begriffe bzw. numerische Programme und die zu Technobildern komputierten Begriffe. Technobilder sind veränderte mediale Verkörperungsformen von Begriffen, von Schrift und schriftkulturellen Diskurssystemen. Die Modelle für die Prozesse und Transformationen medialer Verkörperungen, Puzzle und trompe l’œil, das Komputieren und die einander reflektierenden Spiegel, bilden auch für Flusser die grundlegenden Figuren der Medialität. Perec und Flusser veranschaulichen mit diesen Figuren die Medialität der Schrift, der Sprache und des Bildes, die intermedialen Transformationen des Schriftlichen, Sprachlichen und Bildlichen. Wie Perec diese Figuren in literarischen Texten in Szene setzt, so etabliert Flusser sie als Grundmodelle medienphilosophischen Denkens. Perec wie Flusser entwickeln erstaunlich vergleichbare Ideen von Schrift und Medialität – beide entwerfen Schrift im Horizont medienästhetischer Figuren. Puzzle und trompe l’œil erscheinen als Gestaltungsformen für Medialität bzw. Figurationen der Reflexion von Medialität – als Gestaltungsform einer Konzeption von Medialität und damit in erweitertem Sinne als »Design«. 66 Flusser fasst in dem Begriff Design, sich auf die enge Beziehung der Begriffe »Maschine«, »Technik«, »ars« und »Kunst« stützend, als »ungefähr jene Stelle, an welcher Kunst und Technik (und daher wertendes und wissenschaftliches Denken) zur gegenseitigen Deckung kommen, um einer neuen Kultur den Weg zu ebnen.« 67 Insofern erscheint Design als Grenzphänomen 65 Siehe exemplarisch Theodor W. Adorno: »Prolog zum Fernsehen«, in: ders., Eingriffe. Neun kritische Modelle, Frankfurt/M. 1974, S. 69-80; Günther Anders.: Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München 1968. 66 Siehe dazu auch D. Matejowski: »Von der Sinnstiftung zum Informationsdesign?« 67 Vilém Flusser: Vom Stand der Dinge. Eine kleine Philosophie des Design, Göttingen 1997, S. 10, 11. (Im Folgenden angekürzt mit der Sigle »D«) Vergleichbar Flussers »Vom Stand der Dinge. Eine kleine Philosophie des Design« formuliert Max Bense 1971 eine Studie zum Design in informationstheoretischer Perspektive unter dem Titel »Zeichen und Design«, erschienen in der Reihe Kybernetik und Information, eine »semiotische Ästhetik«, die als Bindeglied zwischen potenzieller Literatur und Medienphänomenologie vermitteln kann. Benses Intention ist die Ausweitung der aus der numerischen Ästhetik hervorgegangenen semiotischen Ästhetik auf die Gebiete der Texttheorie, Design und Umweltgestaltung. Designobjekte, architektonische und werbegrafische
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zwischen Kunst, Technik und Wissenschaft, zwischen Natur und Kultur, 68 und daher, so Flusser, »beginnt der Boden unter den Füßen zu wanken«, »wenn die Frage nach dem Design an die Stelle der Frage nach der Idee tritt [...].« (D, 12) Mittels der Idee des Designs überführt Flusser die philosophische Argumentation in eine medienphilosophische und artikuliert damit einen fundamentalen philosophiegeschichtlichen Bruch, den er als mediales Selbstreflexivwerden der Philosophie vorstellt: Die platonische Philosophie der wahren Formen, der Ideen, werde insofern zu einer medienphilosophischen, als »wir selbst die Erscheinungen designen« (D, 16): »man kann alle ewigen Formen, alle unveränderlichen Ideen als Gleichungen formulieren, diese Gleichungen aus dem Zahlencode in Computercodes übertragen und in Computer füttern.« (D, 16) Design meint das Anschaulichmachen abstrakter Ideen und Modelle und wirft darin eine Fragestellung auf, welche auch zwischen Wissenschaftstheorie und Kunst diskutiert wird, die Frage nach der Veranschaulichung wissenschaftlicher Denkmodelle 69 – und die sich zugleich als Frage nach den Formen des Philosophierens stellt, Philosophie so in direkte Nähe von Wissenschaftstheorie und Kunst rückt. Im Begriff des Designs lassen sich potenzielle Literatur, Technobilder und Philosophie annähern, insofern sie als Programme zum Gestalten von Bildern und Szenen zu verstehen sind, nach Algorithmen, wissenschaftlichen Programmen oder phänomenologischer Methode, im Sinne des Designs sind sie pragmatische Handlungsmodelle: »Die erkenntnistheoretische Frage lautet: Sind Experimente impertinent, weil sie vom Fenster aus (von der Theorie her) durchgeführt werden? Oder muß man durch die Tür, um zu erfahren (›phänomenologisch‹)? Fenster sind keine verläßlichen Instrumente mehr.« (M, 161)
An dieser Stelle kommt die Erlebnisdimension ins Spiel, insofern programmierte Oberflächen als Erlebnismodelle zu verstehen sind, Literatur als Handlungsanweisung entworfen wird, Design eine handlungspragmatische Dimension zugeschrieben wird. Die Medienphilosophie, wie Flusser sie als Design von Ideen entwirft, steht in einem intermediären Feld aus Wissenschaft, Ästhetik und Kunst, wobei sich zur näheren Betrachtung des Aspektes der Kunst ein Blick in die Medienkunst anbietet 70 – zumal sich in dieser eine vergleichbare Annäherung
Objekte beschreibt Bense als zwischen Technik und Kunst positionierte Artefakte, deren »technischen« bzw. »ästhetischen Zustand« es zu bestimmen bzw. berechnen gelte. 68 Diese Zwitterstellung von Objekten nimmt auch der Wissenschaftstheoretiker Bruno Latour immer wieder in den Fokus, in »Wir sind nie modern gewesen« (Frankfurt/M. 1995) wie in »Das Parlament der Dinge« (Frankfurt/M. 2002). 69 Siehe dazu bspw. H.-J. Rheinberger/M. Hagner/B. Wahrig-Schmidt (Hg.): Räume des Wissens. 70 Josef Rauscher weist auf die Nähe der Begriffe Medienphilosophie und Medienkunst hin: »Das Feld der Medienphilosophie insgesamt wird daneben von literaturtheoretischen, bildwissenschaftlichen, ästhetischen und medienspezifischen Arbeiten gekennzeichnet, die entweder mit einer Ersetzung des Begriffs der Künste durch den der Medien operieren — wie Ludwig K. Pfeiffer in Das Mediale und das Imaginäre — oder bekannte Fragen einer Semiotik der Kunst und Dichtkunst aufgreifen und die Differenzen der einzelnen Künste als
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von theoretischer, philosophischer und ästhetischer Reflexion beobachten lässt. Mit dem Stichwort der »Hybridkultur« beleuchtet Hans Ulrich Reck dieses intermediäre Feld von Wissenschaft, Kunst und Philosophie, dessen Metadiskurs des Hybriden und Ästhetischen Reck auf eine selbstreflexive Wendung der (Geistes-)Wissenschaft und Künsten zu ihren Materialitäten und Medien zurückführt. 71 Die Zusammenschau medienphilosophischer und medienkünstlerischer Perspektive erweist sich auch im Hinblick auf die Untersuchung der medienorientierten Ästhetik der Pop-Kunst und Pop-Literatur als wegweisend. Die Begriffe der Medien und der Kunst amalgamierend, schließt Medienkunst Medientechnik und Ästhetik-Diskurse zusammen und ist derart inzwischen zum Gegenstand der Kunstwissenschaft geworden. 72 Als »technische Ermöglichung zentraler Utopien der Avantgarde […] definiert sich Medienkunst […] als Fortführung und Überbietung der Avantgarde«, so Bazon Brock. 73 Analog lasse sich der ästhetische Diskurs der Medienkunst als Verlängerung der kulturellen, sozialen, technischen und ästhetischen Entwicklungen und Diskurse des Modernismus verstehen. 74 Diese Anbindung des Mediendiskurses an die Kunst der Experimentalkultur, 75 sei es im (futuristischen, expressionistischen, dadaistischen) Modernismus oder in der experimentellen Ästhetik der fünfziger und sechziger Jahre, in ihrer Wissenschaftspoetik einerseits und materiellen, medientechnischen Auslotung andererseits, wird in der Linie von der Werkstatt für potenzielle Literatur hin zur Medienphilosophie Vilém Flussers und darüber hinaus bis in die popkulturelle Gegenwartsliteratur hinein deutlich. 76 In einer Konstellation von experimenteller Kunst, Medientechnik und ästhetischer Theorie konstituiert sich ein Mythos Medienkunst, der sich anhand von Kunstdiskur-
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Differenzen der Medien in den Blick nehmen.« J. Rauscher: »Einleitung (Philosophie)«, S. 23. »Hybridkultur bedeutet eine Verbindung von ursprünglich getrennten Kontexten und Bereichen zu einem Neuen, das gerade nicht eine Auflösung der Elemente in einem synästhetisch geschlossenen Gesamtkunstwerk bewirkt, sondern die in ihren Trennungsmomenten noch erkennbare Anordnung, das Dispositiv einer Montage darstellt, die von ihrem Effekt her nicht mehr in diese Teile zerlegt werden kann — es sei denn, sie gehe in Rekonstruktion über, womit sie aber aufhört, Montage zu sein.« Hans Ulrich Reck: »Entgrenzung und Vermischung: Hybridkultur als Kunst der Philosophie«, in: Irmela Schneider/ Christian W. Thomsen (Hg.), Hybridkultur. Medien Netze Künste, Köln 1997, S. 91-117, hier S. 91. So bspw. am Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM), Karlsruhe. Bazon Brock: »Uchronische Moderne — Zeitform der Dauer«, in: Peter Gendolla u.a. (Hg.), Formen interaktiver Medienkunst, Frankfurt/M. 2001, S. 205217, hier S. 205. Dass Formen aktueller Medienkunst in einem Feld von Kontinuitäten und Bezügen stehen, ist ein Argument, das die Kunstwissenschaft gegen den innovatorischen Anspruch der Medienkunst ins Felde führt. Siehe zur Verortung der Medienkunst insb. das Vorwort der Herausgeber in: P. Gendolla u.a. (Hg.): Formen interaktiver Medienkunst, S. 7-11. Zur Fortsetzung der Experimentalkultur nach 1945 siehe Kapitel 2 der vorliegenden Arbeit. Es lässt sich in vergleichbarer Weise in der performance art eine deutliche Traditionslinie von der modernistischen Aktionskunst über die Kunstformen der Happenings der sechziger/siebziger Jahre bis zu interaktiver und computergestützter Kunst der neunziger ziehen. Siehe R. Goldberg: Performance Art; Thomas Dreher: Performance Art nach 1945. Aktionstheater und Intermedia, München 2001.
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sen nachvollziehen lässt, die sich insbesondere im Umfeld der Computerkunst entwickeln. 77 Insofern Medienkunst auf eine modernistische Entgrenzung des Kunstbegriffs zurückgeht und ihre Wurzeln in einer »konzeptuellen Selbstkritik der Kunst und einer Umformung des Kunstwerks in neue Erlebnisweisen« hat – »[d]as willkürlich ›vergessen‹ zu haben, macht den Kern des ›Mythos Medienkunst‹ aus« –, 78 so ist ihr zugleich das selbstreflexive Moment, die Fokussierung auf ihre Materialität und Medialität konstitutiv; das heißt der Medienkunst ist eine medienästhetische Reflexion inhärent. 79 Vor diesem Hintergrund, der in der vorliegenden Arbeit skizzierten und durch Hans Ullrich Reck kunstgeschichtlich rekonstruierten Linie der Überkreuzungen von Wissenschaft, Technik und Kunst, situiert sich Flussers Konzeption von Design sowie seine Wissenschaft und Kunst verschmelzende Medienästhetik. Flusser rekonstruiert eine Entwicklungslinie der »exakten Kunst«, die er in einer Renaissance-Ästhetik, im Rückgriff auf die gemeinsame Wurzel von Technik und Kunst, verankert (vgl. Z, 63) und im Begriff des Designs und der Verschmelzung von Ästhetik und Wissenschaft in Denken und Praxis der Medien münden sieht. Vor dieser Kunst, Medienpraxis und ästhetische Reflexion ineins führenden Argumentation bestimmt Flusser das Künstlerische als die »transappara77 Siehe auch Hans Ulrich Reck: »Mythos Medienkunst. Überliefertes und Unerledigtes im Gebiet der Bildenden Künste«, in: Kunstform International 157 (2001), S. 258-265. Auch Reck weist auf die Geschichte experimenteller Kunst hin, wie sie bspw. an der Hochschule für Gestaltung Ulm von Ende der fünfziger Jahre bis in die siebziger Jahre als wissenschaftliche Kunst betrieben wurde — vergleichbar der Werkstatt für potenzielle Literatur. Diese Geschichte der elektronischen Künste, in der Musik wie in der technisch unterstützten Simulation poetischer Sprache, rekonstruiert auch S.J. Schmidt; siehe S.J. Schmidt: Der Kopf, die Welt, die Kunst. Schmidt spekuliert auf einen möglichen Anstoß, den die Computerlyrik der sechziger Jahre für die Entwicklung einer Medienpoesie hätte geben können, insb. in dem Kapitel: Computerlyrik — eine vertane Chance: »Medienpoesie nicht im Sinne einer neuen Gesamtkunstwerk-Konzeption, sondern im Sinne einer temporalisierten (ad hoc)Beziehung verschiedenartigster Medien, Materialien und Methoden« (ebd., S. 301). Mit Blick auf die Literatur im Internet lässt sich konstatieren, dass die Tradition der konkreten und oulipistischen Literatur, d.h. der Computerlyrik der fünfziger bis siebziger Jahre als Vorgeschichte der digitalen Literatur bzw. der Internetliteratur rekonstruiert wird; siehe auch den Absatz zu Oulipo, Informatik und Medienkunst, Kapitel 2.2.3, S. 98-105 der vorliegenden Arbeit. Siehe dazu E. Aarseth: Cybertext. Dass Flusser in dieser Forschung zur elektronischen Medienkunst gesehen wird, macht auch folgender Beitrag deutlich: Herbert W. Franke: »Computer in der bildenden Kunst«, in: V. Rapsch (Hg.), Über Flusser, S. 183-192. Siehe ergänzend Hans-Peter Dimke: »Von der Kunst der Verwendung alltäglicher Anwenderprogramme«, in: ebd., S. 201-204. 78 H.U. Reck: »Mythos Medienkunst«, S. 265. 79 Mit Blick auf den Mythos Medienkunst konstatiert Hans Ullrich Reck die Verschiebung der Grenzen zwischen wissenschaftlichem und künstlerischem Gebrauch nicht nur, sondern kritisiert einerseits die »Verpflichtung naturwissenschaftlicher Ergebnisse auf die Theatralisierung der Sinne«, andererseits die »Verführung durch eine geordnete Maschinenwelt für die Vorstellung einer automatisierten Poesie-Produktion« seit den sechziger Jahren (ebd., S. 262). Medienkunst sieht Reck in einer klassischen Kunstdefinition verhaftet: Kunst als »Domäne intelligenten Hervorbringens, denkender Poiesis«, ihre Ästhetik zurückreichend bis in den deutschen Idealismus Hegels als »Ontologie planvoller Entäußerung« (ebd.). Auch hier wird der Brückenschlag von experimenteller Kunst und Literatur zu Medienkunst, Medienästhetik und Medienphilosophie deutlich.
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tische Bilder«, die das den Apparaten eingeschriebene Programm überlisten und den Apparat »zwingen etwas zu tun, für das er nicht gebaut ist« (M, 78). Diese an das anthropologische Moment gebundene Definition lässt an den Rückgriff Calvinos und Perecs auf das Prinzip des Klinamen denken. Im exprimentellen Umgang mit den Apparaten seien »Bilder zu schaffen, die quer zur Bilderflut stehen.« (M, 78) Flusser, Calvino und Perec scheinen mit einer Stimme zu sprechen: »Es geht im Gegenteil darum zu zeigen, was an der menschlichen Imagination einzigartig ist, unersetzlich und nicht simulierbar.« (M, 81) Im Kontext einer Medienkunst, die sich als Zusammenführung von ästhetischer Reflexion und medialer Praxis versteht, wird Kunst über das anthropologische Moment bestimmt. Wie ist eine – schriftverankerte – Philosophie zu denken, die diese Reflexionen der Medienkunst fortsetzt, die Medienreflexionen zu einem konstitutiven Teil des Philosophierens macht? Vilém Flussers Argumentation folgend und im Rückgriff auf die Entwicklungsgeschichte der Symboltechniken, müsste Philosophie die mediologischen Brüche zwischen Schrift und Technobild widerspiegeln. Inwiefern sind die Schreibweisen der Philosophie als Symptome einer Durchdringung der Schriftkultur mit dem Technoimaginären und Technomedialen zu begreifen bzw. werden als solche in Szene gesetzt? Die Frage nach den Techniken der Einbildungskraft ermöglicht, die Aspekte der Medienreflexion und der Philosophie als mediale Praxis zu verbinden – von besonderem Interesse ist dabei die Medientechnik der Schrift. Die Geschichte der menschlichen Einbildungskraft 80 schreibt Flusser in Bezug auf Veränderungen der Symbol- und Medientechniken. Die Codes der menschlichen Kommunikation Bild, Schrift und Technobild erklärt Flusser als symbolische Gesten der Einbildungskraft, sich ein zunehmend abstrakteres Bild der Welt zu machen. Phänomenologisch und anthropologische Argumentation verbindend, »erscheint die Einbildungskraft als eine komplexe, absichtsvolle (›intentionelle‹) Geste, mit welcher sich der Mensch zu seiner Lebenswelt einstellt.« (E, 115) Schrift, das Symbolsystem der Philosophie, ist zwischen den beiden Bildformen, Abbild und Technobild, angesiedelt: »Die erste Art von Bildern vermittelt zwischen dem Menschen und seiner Lebenswelt, die zweite vermittelt zwischen Kalkulationen und ihrer möglichen Anwendung in der Umwelt.« (E, 123) Schrift ist auf diese zwei Formen der Bildlichkeit bezogen ist, insbesondere stellt sie sich aktuell als Übergangsschwelle zu den Technobildern dar. Diese Bilder der neuen Einbildungskraft sind nicht mehr »Abbildung von Sachverhalten« – wie es die zwischen Begriffen und ihren Vorstellungsgehalten vermittelnde Schrift war, im Anschluss an die Szenen vermittelnde erste Bildlichkeit –, sondern die Bilder der neuen Einbildungskraft sind Abbildungen von »Kalkulationen«: »Wie diese neue, konkretisierende, bildermachende Geste vor sich geht, kann beim Synthetisieren von Computerbildern beobachtet werden.« (E, 123) »Ein eindrucksvolles Beispiel für diese neue Ansicht bieten die Bilder der sogenannten ›fraktalen Gleichungen‹: es geht um Abbilder von Kalkulationen, welche 80 Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf den Artikel: V. Flusser: »Eine neue Einbildungskraft«, (im Folgenden abgekürzt mit der Sigle »E«). Siehe dazu auch Dietmar Kamper: Zur Geschichte der Einbildungskraft, München 1981; ders.: Zur Soziologie der Imagination, München 1986; ders.: Unmögliche Gegenwart. Zur Theorie der Phantasie, München 1995.
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SZENEN DER SCHRIFT außerordentlich komplexe und ›selbstähnliche‹ (sagen wir: chaotische) Systeme analysieren. Solche Kalkulationen ergeben außerordentlich unerwartete (informative, ›schöne‹) Bilder, und man kann mit ihnen praktisch endlos spielen.« (E, 124)
Diese Computerbilder, die Visualisierungen mathematischer Gleichungen vorstellen, werden durch die Transformierbarkeit numerischer in bildhafte Muster zum Prototyp einer Ästhetik von Bildgebungsverfahren, die nichtbildhafte Programme anschaulich machen; zugrunde liegt die Idee des Digitalen, die Vorstellung der Virtualität von Programmierungen und ihren potenziellen bildhaften Visualisierungen. 81 Den Übergang aus einer Schriftkultur, deren Begriffe unvorstellbar geworden sind, in eine Technoimagination, die diesen Begriffen wieder Bilder zuweist, beschreibt Vilém Flusser als Übersetzung abstrakter Modelle in Bilder in Form freier, spielerischer Visualisierungen. Die Konzept der Medialität wird hier als Übersetzung zwischen den unterschiedlichen Einbildungsformen vorgestellt, beispielsweise als Transformierbarkeit von schriftkulturellen Begriffen in eindimensionale Bits, die wiederum beliebig in Visualisierungen konkretisiert bzw. verkörpert werden können. 82 Diese Transformierbarkeit wird zu einem umfassenden semiotischen und medientechnischen Modell, auch für das Philosophieren, das heißt die Formen des Denkens und die Organisation philosophischer Sprache bzw. philosophischer Schreibweisen, und wird so zur Grundlage einer pragmatisch-performativen Dimension der Medienphilosophie, die als ästhetischer Hybrid zwischen Wissenschaft und Kunst betrieben wird. »Aber was uns jetzt existentiell angeht, ist der mühselige Sprung aus dem Linearen ins Nulldimensionale (ins ›Quantische‹) und ins Synthetisieren (ins Komputieren), den wir zu leisten haben. Die an uns gestellte Herausforderung ist, den Sprung in die neue Einbildungskraft zu wagen.« (E, 125)
Einbildungskraft ist als bildmediale Verkörperungspraxis zu verstehen, wobei die Prozesse der Gestaltung in den Vordergrund rücken. Die Idee der neuen Einbildungskraft beschreibt eine Poetik der Potenzialität, insofern die Potenzialität der Gestaltungsformen im Vordergrund steht und insofern als Ziel der neuen Einbildungskraft angegeben wird, »aus gegebenen Möglichkeiten Unerwartetes herauszuholen (und zwar im Dialog mit anderen), wobei die Verwirklichung dieses Unerwarteten durch Behandlung
81 Wie es in weiten Teilen der Medienphilosophie zu beobachten ist, ist es auch hier das so genannte und jeweils neue Medium, an welchen sich die Reflexion von Medien und Medialität entzündet. Es ist der Computer und seine algorithmische Arbeitsweise, der Oulipo die Methode und das Vorstellungsbild der Kombinatorik lieferte und bei Flusser in Form des Komputierens zu einem Modell für Organisationsweisen von Wahrnehmung und Bewusstsein, Kommunikationscodes und Medientechniken, für phänomenologisches Denken und essayistische Schreibweisen wird. Zu Einbildungskraft und Bildlichkeit siehe insbesondere die Beiträge von E. Lobsien, W.J.T. Mitchell und G. Agamben in dem von Volker Bohn herausgegebenen Band: Bildlichkeit. 82 Hier ließe sich auch eine auf diese Medialität als Übersetzungsprozess fokussierte neue Theorie des Intermedialen anknüpfen. Vgl zu aktuellen Ansätzen der Intermedialitätsforschung J.E. Müller: »Intermedialität«; J. Paech: »Intermedialität«; W. Füger: »Wo beginnt Intermedialität?«
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4. MEDIENPHILOSOPHISCHE ÄSTHETIK DER SCHRIFT. VILÉM FLUSSER der gegenständlichen Welt nur als eine Art von Begleiterscheinung erlebt wird.« (E, 124) 83
Ist Einbildungskraft als Idee einer Potenzialität an Gestaltungsformen zu verstehen, so werden die Realisierungen zu spielerischen Gestaltungsprozessen. Vergleichbar der Idee theoretischer Literatur, deren ästhetische Dimension sich in der Reflexion und Ausstellung der vielfältigen Gestaltungen der zugrunde liegenden Programme der Schrift zeigt, wird Flussers Medienphilosophie zu einer selbstreflexiven theoretischen Philosophie, deren ästhetische Dimension sich gleichermaßen in der Reflexion und Ausstellung der vielfältigen Gestaltungen der zugrunde liegenden Programmierung der Schrift zeigt. Die diese neue Einbildungskraft gestaltende Philosophie wäre demnach als »reine Ästhetik« zu betreiben, aus »Freude am Spiel mit reinen ›Formen‹« (E, 125), nicht mehr als Theorie oder als Kritik, sondern als Spiel mit Formen, Programmen und Bildern – »erst dann kann Homo faber von Homo ludens abgelöst werden.« (E, 125). 84 Im Blick auf Oulipo lässt sich eine ideengeschichtliche Linie ziehen von der Integration mathematischer und informationstheoretischer Modelle in die Vorstellung von Sprache und Schrift, wie es die Linguistik unternommen hat, auf die sich die Literatur wiederum bezieht, über die Vorstellung des Funktionierens eines Computers als algorithmische Maschine, die eben auch Sprache prozessiert, bis zu einer Ausweitung dieser Vorstellungen des Algorithmischen und Computertechnischen bei Flusser zu einer umfassenden epistemologischen und philosophischen Metapher. Diese ideengeschichtliche Rekonstruktion einer Geschichte von Sprach- und Technikreflexion ist es, die den Diskursen von Medien und Medialität zugrunde liegt, wie sich hier an Flusser, beispielsweise über die Argumentation des Phänomenologischen und der Einbildungskraft, nachvollziehen lässt. Vor diesem Hintergrund verortet sich eine Theorie und Praxis der Schrift, die aufgrund der sie umgebenden Argumentation – experimentalkulturell bei Oulipo, philosophisch bei Flusser – zu einer ästhetischen Theorie der Schrift bzw. zu einer Ästhetik der Schrift entwickelt wird. Flusser entwirft seine Ästhetik der Schrift angesichts der mit Blick auf die Neuen Medien formulierten Ästhetik des Technoimaginären. Wie ist diese Ästhetik der Schrift auf dem Weg in die Technobildkultur vor83 »Die eigentliche Absicht ist, unerwartete Situationen aus einem gegebenen Feld von Möglichkeiten herauszuholen. Die eigentliche Intentionalität hinter der neuen Einbildungskraft ist das, was die Tradition die ›reine Ästhetik‹ (l’art pour l’art) nannte. Daher lässt sich sagen, was die neue von der alten Einbildungskraft unterscheidet, ist die Tatsache, daß sich in ihr die in der alten angelegte ›reine Ästhetik‹ entfaltet und daß sie dies tun kann, weil die neue Einbildungskraft auf einem nicht mehr zu überbietenden Abstraktionsstandpunkt steht, von dem aus völlig durchkritisierte und durchanalysierte Bilder entworfen werden können. Anders gesagt: erst wenn man Bilder von Kalkulationen macht und nicht mehr von Sachverhalten (und sollten diese Sachverhalte noch so ›abstrakt‹ sein), kann sich die ›reine Ästhetik‹ (die Freude am Spiel mit ›reinen Formen‹) entfalten; erst dann kann Homo faber von Homo ludens abgelöst werden.« (E, 125) 84 Hat die Werkstatt für potenzielle Literatur ihre Idee theoretischer Literatur auch präziser aus einer experimentalkulturellen Szene abgeleitet, so weitet Flusser eine ähnliche Idee auf die gesamte medial-kulturelle Situation aus und reflektiert philosophie-, technik- und medienhistorische wie ästhetische Konsequenzen.
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zustellen? Inwiefern wird die Schrift, deren Begriffe unvorstellbar geworden seien, von Technoimaginärem, von spielerischen programmierten Szenarien, durchsetzt?
4.3 Medienphilosophie der Schrift »Der Schreibende ist ein Zeichensteller, ein Zeichner, ein Designer, ein Semiologe [...].« 85
Aus der Perspektive der mediologischen Schwellensituation entwirft Vilém Flusser in dem Text »Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft?« (1987) eine Theorie der Schrift, die neben dem écriture-Begriff symptomatisch für die geisteswissenschaftliche, philosophische und kulturwissenschaftliche Wende zu den eigenen medialen Techniken und Praktiken ist – gerade insofern sich diese als Wende zum Ästhetischen und zum Performativen erweist. Die Widmung des Buches »Für Abraham Moles, den Entdecker und Erforscher der Nachschrift« verortet die Phänomenologie der Schrift und die Konzeption der Schriftkultur in einem ideengeschichtlichen Kontext, in dem die Informationsästhetik in ihrer Revision der Schrift als Informationstechnik diese einer mathematischen Behandlung erschlossen hat und eine Konzeption von Schrift als Kombination diskreter Informationen entworfen hat. Diese Schrift-Konzeption scheint über die Kulturgeschichte einer linearen Symboltechnik Schrift hinauszuweisen und wird von Flusser als Übergangsphänomen einer alphanumerischen in eine numerisch-komputierende Kulturtechnik vorgestellt. Diesen Schwellenbereich am Ende des Buchzeitalters, aus der alphanumerischer Schriftkultur in die Kultur der Technobilder, nimmt Vilém Flusser in der Fragestellung »Hat Schreiben Zukunft?« in den Blick: 86 »Das Schreiben über die Schrift ist selbst als eine Art von Nachdenken anzusehen, nämlich als der Versuch, mittels neuer Gedanken bereits das Schreiben betreffende gedachte Gedanken zu ordnen, diesen gedachten Gedanken nachzuspüren und dies dann niederzuschreiben. Das ist die hier vorliegende Absicht.« (S, 9)
Das Schreiben über die Schrift ist dabei – anders als das Schreiben über Einbildungskraft und Kommunikationsmedien – ein selbstreflexiver Akt. Der Gutenberg’schen Schrift-Konzeption, der linearen Diskursivität der Texte, die in einer »inflatorischen Dekaden[z]« (Z, 70) der Textprodutkion ihr Umschlagen in die Textolatrie anzeige – »Verleger und Schreibende 85 Vilém Flusser: Die Schrift. Hat Schreiben Zukunft?, Göttingen 1992, hier S. 22 (im Folgenden mit der Sigle »S« abgekürzt). 86 Der Band »Die Schrift« versammelt Kapitel zu paratextuellen Phänomenen des Schreibens wie »Inschriften«, »Aufschriften« oder »Unterschrift«, zur Materialität des Schreibens wie »Buchstaben« oder »Bücher« und zu Formen des Geschriebenen wie »Briefe«, »Zeitungen«, »Skripte«, insbesonders kulturgeschichtliche Aspekte wie »Buchdruck«, »Papierhandlungen« oder »Schreibtische« und mit der Schrift verbundene Praktiken wie »Entzifferungen« und »Umcodieren«. Dieser Ansatz lässt sich als Weiterführung medienhistorischer Arbeiten, auch im Anschluss an Barthes’ »Variations sur l’écriture«, oder auch an Georges Perecs Reflexionen zum Schreibtisch, sehen.
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scheinen nur noch Funktionäre dieses Betäubungsbetriebes zu sein« (S, 45) –, stellt Flusser den »synkopischen« Text gegenüber: »Ein Text ist synkopisch, wenn es sich selbst immer wieder widerspricht und dabei doch lückenlos voranfließt. Ein solcher Text ergreift den Leser, weil er gegen den Herzschlag angeht, ihn zu Widerspruch reizt, ihn wider Willen mitreißt. Ein solcher Text ist tatsächlich jene geballte Faust, die durch die anästhesierenden Medien dringt, um zu informieren. [...] Sie [diese Texte; P.G.] berechtigen zu einiger Hoffnung, nämlich daß nicht alle Texte dem emportauchenden Universum der technischen Bilder zum Opfer fallen.« (S, 48)
Dieser synkopische Text ist die Anwendung des technoimaginären Komputationsmodells auf die Theorie der Schrift, es wird eine exemplarische Textgestalt einer Schrift vorgestellt, die in der Methode der Programmierung diskreter Informationseinheiten spielerisch Bedeutungsszenarien entwirft: »Der Leser entnimmt dem Gelesenen nicht mehr einen Sinn, sondern er ist es, der dem Gelesenen einen Sinn gibt. Für die neuen Leser (und die künstlichen Intelligenzen) gibt es dort draußen und hier drinnen keine Zeichen, die irgend etwas bedeuten: Nichts steht dahinter. [...] Die Mosaiken sind Fiktionen, Figuren, Finten, und sie sind alle die Wirklichkeit, innerhalb derer wir nach Aufgabe der veralteten Lesarten zu leben haben. [...] Es geht bei diesem Übergang aus den alten Lesarten in die neue um den Sprung aus dem historischen, wertenden, politischen Bewußtsein in ein kybernetisches, sinngebendes, spielerisches Bewußtsein. Mit diesem Bewußtsein wird künftig gelesen werden.« (S, 85)
Die Figur des »Puzzle[s]« (S, 85) verbindet die – beider unter anderem informationstheoretisch und kybernetisch begründeten – Schrift-Konzeptionen Perecs und Flussers, die sich mit dieser Figur den Strukturen, Prozessen und Medialitäten der Schrift zuwenden; Flusser unterstreicht, es sei von der »konkreten Gegenwart des Geschriebenen« (S, 93) auszugehen. Parallel zur Geschichte der symbolischen Codes Schrift und Bild rekonstruiert Flusser eine Geschichte der schriftkulturellen Medientechniken: Bücher und Briefe seien als Prototypen einer schriftkulturellen Textform anzusehen, die sich durch ein Zwischen-den-Zeilen-Lesen auszeichne, seien »Modell für die höchste Form allen Lesens von Texten« (S, 105); Zeitungen dagegen als vergängliche Gedächtnisse kündigten die Verquickung von funktionalem Apparat, Information und Macht an, wie sie die Medien des Technoimaginären auszeichne. 87 Der Schreibtisch wird bei Flusser wie bei Perec zu einem wissenskulturellen System, Anlass zur Reflexion der medialen Kulturtechniken. 88 Flusser wird der Schreibtisch zur Figur der Schwellensituation zwischen schriftkultureller und apparativer Medienepistemologie:
87 Zu den politischen und ethischen Implikationen der Technobilder, zur »totalitäre[n] Entpolitisierung« (K, 73), siehe bspw. das Kapitel »Technobilder« (K, 63-73). 88 Siehe G. Perec: »Still life/Style leaf« (Kap. 3, Anm. 304); ders.: »Anmerkungen hinsichtlich der Gegenstände die auf meinem Schreibtisch liegen« (Kap. 3, Anm. 305).
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SZENEN DER SCHRIFT »Setze ich mich an den Schreibtisch, um ihn mir anzuschauen (anstatt zu schreiben) [...] dann weht er mich kalt an. Vor allem aus zwei Gründen: Weil zwei Antischreibzeuge auf ihm stehen — nämlich Telefon und Radio, zwei außerirdische Invasoren im Universum des Schreibens —, und weil die Macht der Feder — die eine Machtform des unbändigen ›Geistes‹ sein will — sich als an die Tücke des Schreibzeugs gebunden ausweist.« (S, 127)
Die von Flusser beschriebene fundamentale kulturelle Umbruchsituation, die auch in der Kritik am Begriff des »Geistes« manifest wird, erweist sich als symptomatisch für die kultur- und medienwissenschaftlichen Revisionen der Geisteswissenschaften, die sich etwa zeitgleich gleichermaßen ihres Schriftund Textbegriffes zu versichern suchen, insofern die Befragung der Schrift, angestoßen durch die Konfrontation mit den neuen Medientechniken, sich – hier quasi in einer kulturellen Schreibtisch-Urszene – als Wende zu den Materialitäten der Schrift darstellt und sich zu einer Kulturgeschichte der Materialitäten der Schrift entwickelt, Schreibgeräte, Techniken und Formen der Schrift und eine Vielzahl von Aspekten des Schrift-Phänomens in den Blick nimmt, zum Beispiel In- und Aufschriften, Über- und Unterschriften, gesprochene Sprachen und Papierhandlungen, Skripte und Digitale. »Richtet man die Aufmerksamkeit auf das übrige Zeug auf dem Tisch, dann wird die Definition des Schreibens als Symbolmanipulation fragwürdig. Kämpfe ich tatsächlich beim Schreiben gegen weiches Zeug (Software) wie Buchstaben und die von ihnen gemeinte Sprache, oder habe ich mich nicht vor allem mit der hartnäckigen Sturheit zerrissener Farbbänder, eingeklemmten Heftern und hoffnungslos verlegten Papieren zu befassen?« (S, 128)
Die Reflexion der Kulturtechnik Schrift ist Symptom der medienkulturellen Wende: »Selbstzweckwerdung aller Mittel und Überflüssigkeit aller Zwecke meint ›Medienkultur‹.« (S, 130) Das selbstreflexive Moment des Schreibens über das Schreiben wird als Widerständigkeit empfunden, die sich in der beschriebenen Spannung zwischen Schrift und Sprache widerspiegelt: »Die Stimmung des buchstäblichen Schreibens ist der Liebeskampf zwischen Schreibendem und Sprache (›odi et amo‹).« (S, 37) »Der Schreibende kämpft, mit seinen Lettern bewaffnet, gegen eine sich wehrende Sprache.« (S, 41) Diese selbstreflexive Widerständigkeit wird als Symptom der medienkulturellen Schwellensituation einer diskursiven Textualität zu einer synkopischen Schriftform gedeutet. Die Diskurse einer digitalen und technoimaginären Medienkultur überträgt Flusser auf die Schrift und entwirft damit eine neue Schrift-Konzeption als Praxis des Komputierens, vergleichbar den oulipistischen Sprachtheoretikern, die in Auseinandersetzung mit Informatik und Computerlinguistik neue Schriftformen entwickelt haben. Schrift und Texte werden in diesem medienkulturellen Diskurs als Programme und »Gebrauchsanweisungen« (S, 58) verstanden. Durch zufällige Wahl derselben Begriffe zeigt sich die gemeinsame zugrunde liegende ideengeschichtliche Szene der experimentellen Literatur und der medienphilosophischen Reflexion, die Schrift nach-hermeneutisch und mit Blick auf die materiellen und medialen Techniken der Bedeutungserzeugung neu konzipieren.
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4. MEDIENPHILOSOPHISCHE ÄSTHETIK DER SCHRIFT. VILÉM FLUSSER
Ausgehend von dieser veränderten Konzeption von Schrift als Programmierung beschreibt Flusser hybride Texte, welche eine Mischform der alten und der neuen Schrift-Konzeption vorstellen, beispielsweise die sogenannten »Skripte«, »Prä-Texte« wie Radio- oder Drehbuchtexte, die nicht für Leser geschrieben sind, sondern Programme für Apparate darstellen: »Sie geben vor, Texte zu sein, während sie tatsächlich Bildprogramme sind [...].« (S, 134) Mediengeschichtlich führt Flusser modernistische Vorläufer dieser Schrift im »Telegrafenstil« an und verweist damit auf eine Tradition von Textformen, die sich in einem Zwischenfeld von Diskursivität und Programmierung situieren, das heißt die zugleich schriftkulturelle Strukturen und Modelle medienapparativer Strukturen reflektieren und aufweisen. Flusser ordnet seine Schrift-Konzeption damit in eine Tradition ein, in der Diskurse zur Schrift technische und wissenschaftliche Diskurse der umgebenden Experimentalkultur aufgreifen. Hierin zeigt sich der selbstreflexive Charakter des Schreibens über das Schreiben, das seine eigene Methodik und Argumentationskonstruktion offen legt. Die Idee eines Schreibens als »Quanteln« (S, 135) greift ebenso wie die Reflexion des Quantelns der neuen Bildmedien und medialen Apparate auf physikalische Modelle zurück, die die traditionellen geisteswissenschaftlichen und sprachphilosophischen Beschreibungen ablösen. Mit den Schlagwörtern »Relativität und Quanten« beschreibt Flusser »die elektromagnetische Epoche« und konstruiert exemplarisch für andere Medien- und Kulturphilosophen einen Diskurs, der bis heute virulent ist. Neben dem physikalischen wird der neurowissenschaftliche Diskurs aufgegriffen, die beide auf gemeinsame kybernetische Wurzeln zurückgehen. 89 Gegenüber den fünfziger Jahren hat sich dieser medientechnische und anthropologische Argumente verbindende Diskurs insbesondere um das Denken des Digitalen erweitert, das »Komputieren« als Bilden von »Mosaikstrukturen aus Punktelementen« löst das universelle Modell des Algorithmus ab (vgl. S, 143). 90 Nicht nur die Kategorien von Realität und Fiktion, sondern auch Zeit und Raum werden mittels des Komputationsmodells reformuliert: »›Zukunft‹ und ›Möglichkeit‹ werden Synonyme, ›Zeit‹ wird bedeutungsgleich mit ›Wahrscheinlichwerden‹, und ›Gegenwart‹ wird zur Verwirklichung von Möglichkeiten in Form von Bildern.« (S, 147)
89 »Mindestens zwei Dinge sind für dieses Umlernen des Denkens charakteristisch. Erstens, daß wir nur Bilder und nichts als Bilder denken, denn alles, was wir Wahrnehmung nennen — seien es äußere oder innere —, sind nichts als im Hirn komputierte Bilder. Zweitens, daß das Denken kein kontinuierlicher, diskursiver Vorgang ist: Das Denken ›quantelt‹.« (S, 142) Zu den kybernetischen Wurzeln der neurowissenschaftlichen Wurzeln siehe bspw. folgende, eine frühe Brücke schlagende Schrift: N. Wiener/J. P. Schade (Hg.): Nerve, brain and memory models. 90 »Die Apparate simulieren diese Gehirnfunktion. Was wir auf ihren Schirmen sehen, sind simulierte Vorstellungen, seien es Bilder von Gegenständen der Welt (Häuser, Bäume, Menschen), seien es Bilder von inneren Gehirnvorgängen (Gleichungen, Projektionen, Phantasien, Absichten, Wünsche). Aus den Bildern selbst ist nicht zu ersehen, ob sie Äußeres (das angeblich Wirkliche) oder Inneres (das angeblich Fiktive) vorstellbar machen. Aber das ist auch den Gehirnvorstellungen nicht anzusehen. Ob diese ontologische Unterscheidung zwischen wirklich und fiktiv, diese Bilderkritik, überhaupt möglich ist — und, falls möglich, sinnvoll wäre —, das eben stellt das Hinausprojizieren der Gehirnfunktionen auf Apparate in Frage.« (S, 143)
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Entsprechend diesem Modell entwirft Flusser eine Kulturtechnik »digitalen Schreibens«, das Lesen und Schreiben als »aktives Knüpfen von Querverbindungen zwischen den verfügbaren Informationselementen« (S, 150) versteht. Flusser greift hier die für den gesamten medienkulturellen Diskurs zentrale Metapher des Netzes auf: »Er liest nicht eine Zeile entlang, sondern er spinnt seine eigenen Netze.« (S, 151) Wie es angesichts der auf dem Komputationsmodell bzw. digitalen Modell aufbauenden Einzelmedientheorien des Films und des Videos zu beobachten war, liegt der Fokus einer solchen medientheoretischen Reflexion auf den Transformationsprozessen von Begriffen und Bildern, schriftkulturellen und technokulturellen Schwellenbereichen. Medienphilosophie wird damit zu einer »Übersetzungstheorie«, zu einer Reflexion und Inszenierung der Transformationsprozesse linearer in netzartige Formen der Schrift. Flusser konstatiert, dass erste Experimente mit zwischen Schrift und Bild übersetzenden hybriden Texten wie »›gadgets‹, infantile Spiele« (S, 154) wirkten – wie auch die Arbeiten der Oulipisten auf einen ersten Blick als Nonsense erscheinen mögen –; sie sind aber als Einübung in eine veränderte medienkulturelle Situation zu verstehen. Als vergleichbares »gadget« ist die Publikation des Textes »Die Schrift« auch in Diskettenform zu verstehen. Die elektronische Version solle den Text, so Flussers Ansinnen, in ein dialogisches Medium transformieren, in welchem er palimpsestartig von neuen Überlegungen und Auflagen überlagert werden könnte. 91 Für die Fragestellung nach Schrift und Literatur sowie die Frage nach einer Medienästhetik der Schrift ist das Kapitel »Dichtung« das zentrale. »Unsere Literatur ist nicht monumental (wie etwa die mesopotamische), sie verlangt nicht nach Bedachtsamkeit und Kontemplation. Sie ist dokumentarisch, wie will unterrichten und belehren. Nicht Weise will unsere Literatur, sie will Doktoren. Sie wurde schnell geschrieben, um schnell gelesen zu werden. Und diese Geschwindigkeit ist eine der Erklärungen für die Dynamik des immer noch anschwellenden Stroms von Literatur, in dem wir schwimmen.« (S, 21)
Dieser narrativen Literatur stellt Flusser Formen komputierender Dichtung gegenüber, wie sie exemplarisch in den Arbeiten von Oulipo und Georges Perec, den Konzeptionen S.J. Schmidts und den experimentellen Computerdichtungen unternommen werden. Norbert Bolz bringt es in seinem Aufsatz zu Flusser auf das verkürzte Schlagwort, das Weltalter der Literatur werde durch das Weltalter der Algorithmen abgelöst: 92
91 Vergleichbare Vorstöße unternehmen heute um CD-Roms ergänzte Buchpublikationen. Das Medium Internet hätte die von Flusser anvisierte Textdynamik technisch ermöglicht, CD-Roms zum Buch sind heute ergänzendes Medium, das dem Leser einen eigenständigen Umgang mit dem Text ermöglicht (copy and paste) und über den Text hinausgehend zusätzliche Materialien speichert; Martin Giesecke verbindet in »Mythen der Buchkultur« Buch, CD-Rom und Internet-Auftritt. Aus der heutigen Perspektive ist der Vorstoß Flussers nicht als dilettantisch abzuwerten, sondern entspricht der spielerischen Umgangsweise mit neuen Medien. 92 »Und wir nehmen heute Abschied von den linearen Aufschreibesystemen, die man Kultur oder Geist genannt hat. Jene Scheidelinie zwischen Alphabetischem und Digitalem [...] trennt das Weltalter der Literatur vom Weltalter der Algorithmen.« N. Bolz: »Ulysses Flusser«, S. 230.
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4. MEDIENPHILOSOPHISCHE ÄSTHETIK DER SCHRIFT. VILÉM FLUSSER »Programmierte Literatur wäre eine Situation, in der alle Texte zuerst auf Vorschriften zurückgeführt wären, um dann von künstlichen Intelligenzen komputiert zu werden. Daß auf diese Weise außerordentlich wirksame Erkenntnis- und Erlebnismodelle hergestellt würden, ist an den bereits verfügbaren synthetischen Bildern erkenntlich. Die binär, digital codierten Erkenntnismodelle, von einfachen statistischen Kurven bis zu komplexen Darstellungen ganzer Theorien, die da auf den Bildschirmen aufleuchten, stellen an Eindrücklichkeit und Ausdrücklichkeit alle wissenschaftlichen, alphanumerisch codierten Texte in den Schatten.« (S, 62f.)
Nicht nur stellt Flusser in diesem Kapitel Überlegungen zu zukünftigen Formen von Dichtung an, die den Projekten der experimentellen, mit Computern arbeitenden Literaten sehr nahe stehen, sondern, in viel grundlegenderer Weise, vollzieht er hier eine literarische Wendung seiner gesamten Medienphilosophie. Auf die fundamentale Unterscheidung von »Dichtung und Nachahmung (›poiesis‹ und ›mimesis‹)« (S, 72) zurückgehend, wird Dichtung für Flusser zum Synonym für das poietische Entwerfen und damit zum Vorbild der »neuen« Einbildungskraft: »Dichten ist das Herstellen von Erlebnismodellen« (S, 73), und Dichtung ist damit das Modell der »neuen«, »postmodernen« Medientechniken. Flusser löst die computergenerierten Bilder aus ihrem Kontext und beschreibt diese als Formen von Dichtung: Diese »außerordentlich starken Erlebnismodelle sind in erster Linie als programmierte Dichtung und Fiktion, erst dann als ›bildende Kunst‹ zu betrachten.« (S, 63) Zu beobachten ist hier deutlich das Eingehen des kulturellen und literarischen Imaginären einer Schriftkultur, der Idee von Dichtung als Poiesis, in die Konzeption der »neuen« Medien. 93 Der Dichter als »Schöpfer von neuartigen Erlebnismodellen« (S, 71) wird zum Prototypen des »homo ludens« der spielerisch organisierten Medienkultur. »Ihre Sprachschöpfung steht im Dienst einer erst emportauchenden Technik, und die sprechenden und singenden Bilder, die sie herstellen (und ja auch bereits herstellen), werden sich der Sprache neben anderen, augenfälligeren Codes bedienen.« (S, 71) »Und die Dichter, die noch Kassetten und Schallplatten schaffen, werden Videoclips programmieren, weil sie nicht tatsächlich ›Dichter‹ (an der Sprache engagiert) sind, sondern weil sie Schöpfer von neuartigen Erlebnismodellen sind.« (S, 71)
Dem entspricht eine veränderte Vorstellung des Dichters, der damit nicht mehr »Autor«, sondern »Permutator« (S, 76) ist, wie es sich für eine ganze Tradition sprachexperimenteller Dichtung rekonstruieren lässt. Medientheorie, Schriftphilosophie und Poetologie fokussiert Flusser unter explizitem Rückbezug auf eine literarische Traditionslinie, in deren Mittel-
93 Zu imaginären Potenzialen der Schrift siehe auch Jean-Marie Apostolidès: »Der Bereich des Imaginären«, in: H.U. Gumbrecht/K.L. Pfeiffer (Hg.), Schrift, S. 125-136.
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punkt Mallarmé steht (vgl. S, 76) und die auf die Materialität der Schrift ausgerichtet ist. Das Kapitel zur Dichtung macht deutlich, dass Flussers Medienreflexion zwei Argumentationslinien zusammenführt: erstens die informationstheoretische und durch das Digitale inspirierte Vorstellung des Komputierens und zweitens die Vorstellung einer neuen Einbildungskraft, die auf die Idee der Dichtung, der Poiesis, als Herstellen von kulturellen Wahrnehmungsdispositiven und Erlebnismodellen zurückgeht: »Dichten ist das Herstellen von Erlebnismodellen, und ohne solche Modelle würden wir beinahe nichts wahrnehmen können.« (S, 73) Diese Zusammenführung bildet den Ursprung einer Medienphilosophie, die Medialität als Potenzialität transmedialer Verkörperungen versteht: »Selbstredend kann man die gesprochene Sprache unter das oben Bedachte subsummieren und sagen, auch die Dichtung im engeren Sinn, die Dichtung als Sprachspiel, werde sich dank Querschaltungen der Medien in Form von sprechenden Bildern mächtig entfalten. Wir hätten davon nicht nur eine mächtige poetische Schaffenskraft in Bild und Musik, vielleicht auch in der Sprache zu erwarten.« (S, 75)
Angesichts dieser Schriftphilosophie, die Dichtung zu einem Grundmodell der neuen Medientechnik erklärt, stellt sich die Frage nach den Formen und Funktionen des – per se dichterischen – Schreibens in der neuen Medienkultur. Angesichts von Kulturtechniken, die als spielerisches Entwerfen von Erlebnismodellen zu begreifen sind, stellt sich zudem die Frage nach den Arbeiten und Schreibweisen einer post-schriftkulturellen und technoimaginären Philosophie. Dieser Frage nimmt sich Flusser in einem ersten Schritt mit Blick auf die Kritik an, die für eine intellektuelle Textpraxis der Schriftkultur als charakteristische anzusehen ist, allerdings problematisch wird, sobald das hermeneutische Zwischen-den-Zeilen-Lesen angesichts einer permutierenden BilderSchrift nicht mehr greift. Wie das Alphabet die ersten Bilder durch die Diskursivierung des Mythischen kritisierte, so können die in den neuen Bildern synthetisierten Pixel nicht de-konstruiert bzw. diskursiviert werden, das heißt sie können nicht mehr auf die ihnen zugrunde liegenden kritischen Begriffe und numerischen Modelle zurückgeführt werden: »Die alte Kritik, diese Auseinanderbrechen von Solidem, würde sich in gähnenden Intervallen, im Nichts verlieren — und dazu noch völlig vergebens. Denn es ist ja von vornherein klar, daß es im Neuen nichts Solides gibt, das etwa kritisiert werden könnte. Eine ganz andere kritische Methode ist hier vonnöten, und zwar jene, die mit dem Begriff der ›Systemanalyse‹ nur annähernd benannt wird. Dafür ist jedoch das alphabetische Denken untauglich.« (S, 149)
Diese neue Kritik – und dies ist wegweisend für die Vorstellung einer medienphilosophischen Schriftpraxis und vorausblickend auf die Praxis popästhetischen Schreibens von Bedeutung – wäre als synkopische Textpraxis, als spielerisches Entwerfen von Szenarien zu denken:
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4. MEDIENPHILOSOPHISCHE ÄSTHETIK DER SCHRIFT. VILÉM FLUSSER »Die Kommunikationstheorie schließt die Theorie der Entscheidung und der Spiele mit ein. Sie schließt die Kunst ein, in einem neuen Sinn. Als ich das entdeckte, war mir, als ob ich Barrieren durchbrochen hätte. Plötzlich sah ich ein neues, unüberblickbares Arbeitsgebiet vor mir ausgebreitet. Das Gebiet der Kritik als Übersetzung von Spielen. Das Feld der Freiheit. Tatsächlich: Kritik als Transzendenz der Spiele, infolgedessen Meta-Sprache. Als ob die losen Figuren meiner früheren Phasen durch diese Formulierung des Problems eine Struktur gefunden hätten, in der sie mit Disziplin und Phantasie in Zukunft ein Ganzes bilden könnten. Was ist Religiosität anderes, als die Möglichkeit zu wissen, dass ich spiele? Die Motivation der Kritik ist Religiosität. Mir vollkommen bewußt, was ich tat, führte mich dies zur Kritik als Übersetzung und als Philosophie. ›Kritik‹ — immer noch — im Sinne Kants, auch im etymologischen Sinn von ›kriein‹,›kriterion‹, ›krisis‹. Ich begann, meinen Umstand zu verstehen und ihn als Summe von Spielen zu erleben — festgelegt und zwecklos, Enthüllung und Verhüllung des Nicht-Festgelegten und NichtSpielbaren. Als Wege, die sich kreuzen und wieder kreuzen, flüchtige und umkehrbare Hierarchien bildend, als Systeme, die nicht nur aufeinander, sondern auch nach außen weisen. Kurz, als Sprachen, die nicht nur sprechen, sondern auch sagen — was Eco die ›estruruta ausente‹ nennt.« 94
Die neue Kritik hat – analog der Kritik der Idolatrie durch die diskursive, aufklärerische Schriftkultur – die Kritik der »Textolatrie« zu leisten, die Kritik des »folgsamen Lesens«, der »Treue zum Buchstaben« (S, 90). Wie aber wäre eine solche Textkritik als »Übersetzung von Spielen« vorzustellen? Die hermeneutische Praxis und die Dialektik der Aufklärung als Kritik am Mythos enden – und darin wird wieder die medienkulturelle Schwellensituation deutlich – in einer funktionslos kreisenden Bewegung: »Alle, auch die kritischen Texte sind kritisch entzifferbar geworden, und alle Zeilen wenden sich gegen sich selbst, um wie Uroboros den eigenen Schwanz zu fressen.« (S, 91) Erster Schritt und Konsequenz der medienphilosophischen und kulturwissenschaftlichen Wendung zu den Materialitäten der Schrift ist das selbstreflexive Bewusstsein, dass Schrift als Konstruktion und Inszenierung kontingenter Bedeutungen funktioniert: »daher ist das Gefühl der Absurdität des Schreibens, das viele Schreibende erfasst und ihnen im Nacken sitzt, nicht nur auf äußere Tatsachen wie Textinflation und Emportauchen geeigneter Codes zurückzuführen. Es ist vielmehr eine Folge des Bewusstwerdens des Schreibens als Engagement und als ausdrückende Geste. [...] Dieses ›trotzdem‹ steht als unsichtbarer Titel über allen gegenwärtig geschriebenen Texten.« (S, 91f.) 95
Dem neuen Schriftbegriff, der neuen Kritik und philosophischen Praxis ist eine theatrale Dimension eigen, Schrift wird zu einer selbstreflexiven Geste,
94 V. Flusser: »Auf der Suche nach Bedeutung«, o.S. 95 Dieser funktionslos gewordenen Kritik stellt Flusser zwei neue Funktionen der Schrift gegenüber, das Private und das politisch Engagierte: »Man schreibt aus zwei Gründen: einem privaten Motiv (seine Gedanken ordnen) und einem politischen (andere informieren).« (S, 922)
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zu einer auf sich selbst, die zugrunde liegenden Programme bzw. konstituierenden Diskurse zeigenden Geste. »Gemeint ist hingegen, daß nur derjenige das Recht hat, über die Schrift zu schreiben, der zuvor unterschrieben hat, was alles im Schreiben verborgen ist, der daran engagiert ist, und der nachher unterschreiben wird, was alles verloren gehen würde. Nur jener hat das Recht, nicht nur über das Schreiben, sondern darüber hinaus ins Nichtmehrschreiben zu schreiben.« (S, 13)
Insofern Schrift die Transformationsprozesse von Bild, Schrift und Technobild reflektiert und in Szene setzt, kommt ihr eine dramatische Dimension zu. Dieses theatrale Spiel als Vorführung der eigenen Medialität, der medialen Gestaltungsprozesse und Schwellenbereiche ist Ausgangspunkt einer neuen Schrift, Kritik und Philosophie. Insofern das Wie der medialen Präsentation für die Bedeutungserzeugung konstitutiv ist und das Spiel der Schrift als Entwerfen von Erlebnisszenarien gedacht ist, sind Schrift, Kritik und Philosophie als medienästhetische Praktiken zu verstehen. Flussers Text »Die Schrift« inszeniert sich als medienästhetischer Akt: Sie ist »Nachschrift« und »Museum« 96 der schriftkulturellen Textualität, zugleich Prototyp des medienkulturellen Diskurses nicht nur bezüglich der Thesen, sondern auch der Argumentationsweise, insofern Begriffe, Narrative und Bilder der Interaktion Technik, Kunst und Wissenschaft assoziativ, synkopisch gereiht und vorgeführt werden. Sie ist zurückweisende und vorausweisende Geste: »Also senkt sich der Vorhang über die Bühne, auf welcher sich das Drama der Schriftkultur, jener Kampf des Geistes gegen die Mächte des Obskurantismus abgespielt hatte.« (S, 155) In dieser szenischen Form bringt Flusser nicht nur den Mythos der Schriftkultur zur Aufführung, sondern dieses szenische Modell macht den Text zu einem Hybrid zwischen Diskurs-Kultur und digitaler Clip-Ästhetik bzw. computergenerierten Szenarien und Fiktionen, wie Flusser sie in »Angenommen. Eine Szenenfolge« entwirft. Aleida Assmann, 97 die Flussers Text als Beitrag zu einer Mythologie der Buchkultur vorstellt, wie sie Michael Gisecke umfassend analysiert hat, 98 er96 Flusser antwortet in einem Interview auf die Frage, ob er mit seinem Buch »Die Schrift« auch ein »Museum« konstruiere zustimmend. (Vgl. Z, 70) 97 Siehe Aleida Assmann: »Rezension zu Vilém Flusser ›Die Schrift‹«, in: Poetica 20 (1988), S. 284-288. Assmann stellt den von Flusser beschriebenen »Strukturwandel der Kommunikation« als Geschichte einer Beziehung von Kulturtechnik und Bewusstseinsgeschichte vor, wie es bspw. folgendes Zitat Flussers formuliert: »Jede dieser Zeichenarten [Buchstaben, Zahlen; P.G.] fordert den Schreibenden auf, nach der ihr entsprechenden Denkart zu denken [...].« (S, 26) 98 Siehe Michael Giesecke: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, Frankfurt/M. 1991; ders.: Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft. Trendforschungen zur kulturellen Medienökologie, Frankfurt/M. 2002. Zur Rolle der Buchwissenschaft in den aktuellen Diskussion der Medienphilosophie siehe C. Ernst/K.A. Sprengard: »Einleitung (Buchwissenschaft und New Media Studies)«; E. Fischer: »Sinn und Eigen-Sinn«. Zum Austausch der Buchwissenschaft mit aktuellen Theoriebildungen siehe York Gothart Mix: »Der Text und seine Medialisierung. Literatur- und Buchwissenschaft im Kontext der postmodernen Theoriediskussion«, in: Weimarer Beiträge 15 (1999) H. 1, S. 94-112.
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klärt diese theatrale Dimension der Schrift textarchäologisch: »Letzte Texte, ob es sich nun um Schlussworte, Vermächtnisse, Testamente oder Nekrologe handelt, besitzen ihre eigene Weihe; sie sind pathetischer, apodiktischer, radikaler als andere Texte.« 99 Flussers »(Nicht-mehr-)Buch« überbrücke den »Abgrund zwischen alter Schriftkultur und neuer Medienwelt«, »inszeniert die Schwelle zwischen Gestern und Morgen«. 100 Auch die evozierte »Aufmerksamkeit«, das Ziel des »exponierten« Schreibens, wie Assmann betont, macht »Die Schrift« zu einem Teil einer Kultur, in der Medien nach der Logik der Aufmerksamkeitsökonomie funktionieren. Assmann zieht angesichts der »bewußtlos und ohnmächtig konsumierte[n] Bilderflut« eine Parallele zwischen der »postmodernen elektronischen Situation« und dem »idolatrischen Ägypten«. 101 Letztlich zielt Assmann auf das Performative der Sätze Vilém Flussers, insofern »ihre Rhetorik selbst ein Motor jenes ersehnten oder gefürchteten Umschlags ist«. 102 Darin unterstreicht Assmann, was auch in der vorangegangenen Argumentation angeklungen ist, dass Flusser nicht nur eine Medienphilosophie der Schrift entwirft, sondern diese auch in eine Textpraxis umsetzt und somit eine performativ-pragmatische Medienphilosophie vorführt. »Die Schrift« ließe sich als in Ansätzen unternommenes Beispiel einer Kritik als »Übersetzung von Spielen« lesen. »Die Überlegungen zu diesem Text legen nahe, daß es im Grunde nur zwei Ausbruchsrichtungen aus der Schrift gibt: zurück zum Bild oder vorwärts zu den Zahlen. Zurück zur Imagination oder vorwärts ins Kalkulieren. Bei diesen Überlegungen stellt sich heraus, daß diese beiden hinterrücks ineinander münden können: Zahlen lassen sich zu Bildern komputieren. Man kann aus dem textuellen Schriftdenken in eingebildete Kalkulationen auszubrechen versuchen. Gelänge dies, dann wäre das rechnerische und imaginative Denken im textuellen aufgehoben. Schriftsteller hätten dann Mathematiker und Bildermacher verschluckt, verdaut und sich dadurch selbst auf eine neue Denkebene gehoben. Das ist hier nicht gelungen.« (S, 159)
Aus dem »textuellen Schriftdenken in eine eingebildete Kalkulation auszubrechen«, das rechnerische und imaginative Denken im textuellen aufzuheben, wird der Weg, den Flussers Schreibweisen beschreiten – so wie es Oulipo in den Formen potenzieller Literatur und Perec in seinem aus nichtsprachlichen Modellen aufgebauten Roman »Das Leben Gebrauchsanweisung« zugleich als »Mathematiker und Bildermacher« vorgeführt haben. »Die Schrift« inszeniert sich – auch in ihren assoziativen, etymologischen und phänomenologischen Betrachtungen – als dramatischer letzter Akt der Schriftkultur. »Das eben ist das Dramatische am essayistischen Denken: Es kennt seine eigene Inkompetenz und wendet sich an Kompetentere, um den Versuch fortzuführen.« (S, 160) Einen Kompetenteren findet Flusser beispielsweise in Louis Bec, Zoologe und Videokünstler, mit dem zusammen er neue Formen hybriden Schreibens auslotet. 99 100 101 102
A. Assmann: »Rezension«, S. 285. Ebd. Ebd., S. 287. Ebd., S. 288.
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Mit Perspektive auf die Schrift stellt sich die Frage, welche Formen hybriden Schreibens Flusser entwirft, welche Gestaltungen der Schrift entwickelt werden, das Denken der Medien selbstreflexiv auf Sprache und Schrift rückwendend – beispielsweise um die phänomenologische Methode, zur Methode der Technoimagination erklärt, in medienästhetischer Perspektive als spielerische, trügerische, gestaltende Praxis in Szene zu setzen. Wie gestaltet sich Schrift als Design zwischen Wissenschaft und Kunst? Wie ist Schrift als technoimaginäre – theatrale, ereignisorientierte, sensationelle – Praxis vorzustellen? Der Text »Vampyroteuthis infernalis« lässt sich als exemplarische Inszenierung des Technoimaginären lesen, führt Schrift in ihrer theatralen Dimension vor, zeigt sie als hybride ästhetische Praxis zwischen Wissenschaft und Kunst. Die vorliegende Arbeit konzentriert sich auf diesen Text, da an ihm in besonderem Maße deutlich wird, wie eine aus dem Modell der Dichtung hervorgegangene Konzeption von Schrift und Medialität wegweisend auch für die ästhetischen Formen einer Pop-Kultur wird, die gleichermaßen mediale Hybride einer technoimaginären Ästhetik entwirft.
4.4 Inszenierung medienästhetisch reflektierter Verkörperungsformen der Schrift Eine Philosophie, die als fundamental gedachte Medienphilosophie die eigenen Formen und Praktiken in den Blick nimmt, steht vor der Herausforderung, Schreibweisen zu finden, die der Medienkultur des Technoimaginären gerecht werden. Flusser nähert sich dieser Perspektive von der Wissenschaftsphilosophie her: »Ich habe als Dozent für Wissenschaftsphilosophie zu unterrichten begonnen und mich vor allem für die Wissenschaft als einen Diskurs interessiert. Es hat mich nicht interessiert, was die Wissenschaft aussagt, sondern wie sie das aussagt. « (Z, 85)
Flusser beschreibt, wie ihn die Diskrepanz zwischen schriftlichen und mathematisch-algorithmischen Aufzeichnungstechniken zu der Frage nach den Bildern und nach der Kunst führte – eine vergleichbare Wendung zu den Aufzeichnungssystemen kennzeichnet die aktuelle Wissenschaftsgeschichte. 103 Aus dieser Reflexion von Schrift, Bild und Zahl in Wissenschaft und Kunst entwickelte Flusser, wie er in einem Gespräch 1991 schildert, die Ausarbeitung einer Kommunikationstheorie zu einem wissenschaftlichen Forschungszweig (vgl. Z, 85). Ausgehend von »der Analyse eines spezifischen Diskurses, nämlich des wissenschaftlichen«, interessierte sich Flusser für »den Umbruch in der Struktur des Denkens, den eine Umcodierung, zum Beispiel aus Buchstaben in synthetische Bilder, zur Folge hat.« (Z, 85) Als Techniken medialer Sinnentwürfe haben Wissenschaft und Philosophie Teil an diesem spielerischen Entwerfen von Ordnungen, Wissensräumen und Lebenswelten:
103
Siehe bspw. M. Hagner: Ansichten der Wissenschaftsgeschichte.
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4. MEDIENPHILOSOPHISCHE ÄSTHETIK DER SCHRIFT. VILÉM FLUSSER »Ich habe es wirklich ernst genommen, daß ich, wenn ich die Welt kalkulieren und danach komputieren kann, imstande bin, alternative Welten zu herzustellen. [...] Das faszinierte mich an der Komputation: aus dem Chaos die Ordnung herauszuschöpfen. [...] [Z]u den meisten Zeiten wurde geglaubt, daß man die Ordnung entdeckt. Man hat gemeint, daß die Wahrheit eine Entdeckung — aletheia —, eine Entdeckung der Ordnung ist, daß die Welt, oberflächlich gesehen, chaotisch ist, aber daß ihr eine Ordnung zugrunde liegt, die wir durch irgendwelche Fähigkeiten entdecken können. Jetzt sind wir der umgekehrten Meinung. Wir meinen, daß die Welt im Grunde chaotisch ist und daß wir diese Ordnungen jetzt nicht entdecken, sondern zuerst in die Welt hineinprojiziert haben, um sie dann wieder herauszufischen, und dabei vergessen haben, daß wir sie hineinprojiziert hatten.« (Z, 83f.)
Für den Wissenschaftsphilosophen Flusser bleibt Wissenschaft das »Paradigma für alle Methoden«, Grundlage für Technik und Kunst, insofern »Technik angewandte Wissenschaft« sei und »Kunst als angewandte Wissenschaft« zu verstehen, wobei er »die Wissenschaft als eine Theorie der Kunst« erklärt. Eine vergleichbare Zusammenführung von Wissenschaft und Kunst hatte Queneau im Horizont des Spiels unternommen: »[...] we can say that science oscillates between art and game, while art oscillates between game and science [...].« 104 Inwiefern wird nicht im Rahmen einer ’pataphysischen Wissenschaft, sondern im Horizont medienphilosophischen Denkens Kunst und Wissenschaft verkreuzt, und in welchen Schreibformen wird diese Hybridpraxis verkörpert? Die proklamierte Wendung von Wissenschaft und Philosophie zur Projektionstechnologie erklärt Flusser zu einem philosophiegeschichtlichen Paradigmenwechsel, von einer schriftkulturell verankerten, platonischen Schau der hinten den Erscheinungen liegenden Ideen – »Diese Ansicht heißt griechisch Theorie« (Z, 227) – zu einem, der technoimaginären Bildkultur adäquaten, »mit Bildern arbeitenden Philosophie« (Z, 228). »Man kann alle ewigen Formen, alle unveränderlichen Ideen als Gleichungen formulieren, diese Gleichungen aus dem Zahlencode in Computercodes übertragen und in Computer füttern. Der Computer kann seinerseits diese Algorithmen als Linien, Flächen und (etwas später) als Volumina im Schirm und in Hologrammen aufleuchten lassen.« (D, 16f.)
Eine Philosophie, die mittels programmierter Bilder, die als Gestaltungen abstrakter Modelle zu begreifen sind, es unternimmt, aus dem »textuellen Schriftdenken in eine eingebildete Kalkulation auszubrechen« (S, 159), ist – im Rückgriff auf die Argumentation des Bandes »Die Schrift« – eine nach dem Modell der Dichtung funktionierende Philosophie, eine spielerisch entwerfende, eine dichterische Philosophie. Wie aber wäre eine solche zu praktizieren? Einerseits geht es darum, die schriftkulturelle durch die technoimaginäre Einbildungskraft zu ersetzen und andererseits stellt sich die Frage nach Möglichkeiten bildmedialer Übersetzungen philosophischer Reflexionen. Welche mediale und materielle Form hat eine solche Philosophie? Welche Formen
104
R. Queneau: »The Place of Mathematics«, S. 76.
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SZENEN DER SCHRIFT
der Schrift? Inwiefern wird Schrift als ästhetische Praxis präsentiert? Wie nahe stehen diese Formen der Dichtung? Ansätze einer solchen mit Bildern arbeitenden Philosophie, einer Zusammenführung von philosophischer Reflexion und wissenschaftlich-technisch generierten bildmedialen Erscheinungsweisen, präsentiert die Schrift »Vampytreuthis infernalis. Eine Abhandlung samt Befund des Institut scientifique de recherche paranaturaliste« (1987) von Vilém Flusser und Louis Bec. 105 Die Schrift positioniert sich in einem intermediären Feld aus Wissenschaft, Technik und Kunst, als Hybrid zwischen zoologischem Sachbuch und phantastischer Science-Fiction-Literatur. 106 Flusser stellt diese Form von »Kunst als angewandte Wissenschaft« als Exaktheit der Phantasie zwischen Wissenschaftlichkeit und Ästhetik vor. »Und der dritte Grund, warum ich das geschrieben habe: weil ich Unwahrscheinlichkeiten suche. Und zwar suche ich Unwahrscheinlichkeiten nicht wie ein Science -Fiction-Mensch, sondern ich versuche, wissenschaftlichen Aussagen treu zu bleiben, aber diese Aussagen auf die Spitze zu treiben. So habe ich, glaube ich, in diesem Buch die Erkenntnisse der Biologie und der Neuropsychologie nicht aufgegeben, sondern ich habe sie radikal so angewandt, daß sie ins Unwahrscheinliche reichen.« (Z, 91f.)
Vergleichbar den wissenschaftsphantastischen Arbeiten des Collège de ’Pataphysique präsentiert sich das Wissenschaftliche Institut für paranaturalistische Forschung, gegründet von Louis Bec, dem »Zoosystemiker«, der zugleich dessen einziger Diplomierter und Vorsitzender ist, 107 als Wissenschaft imaginärer Lösungen, inszeniert Schwellenbereiche von Systematik und Phantastik vergleichbar Georges Perecs Studie »Das Soprano-Project« 108 . Der Künstler Louis Bec ist es auch, der die wissenschaftlichen Befunde zu der in Flussers Text beschriebenen Spezies des Vampyroteuthis nachträglich grafisch umgesetzt hat und so die Idee der transmedialen Übersetzung, einer »mit Bildern arbeitenden Philosophie«, realisiert. Text und Bild, wie Flusser später erklärt, gehen »gemeinsam das Problem von zwei Seiten aus« an (Z, 91). Der Vampyroteuthis ist insofern ein »Biomorph« (Z, 45), der Gestalt nicht nur in der schriftlichen, sondern auch der zeichneri105
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Wobei darauf zu verwiesen ist, dass die Spezies des Vampyroteuthis infernalis tatsächlich existiert. Vilém Flusser/Louis Bec: Vampyroteuthis infernalis. Eine Abhandlung samt Befund des Institut Scientifique de Recherche Paranaturaliste, Göttingen 1993. Der Text wird im Folgenden mit der Sigle »V« abgekürzt. Der Untertitel dieser Studie lautet »Abhandlung samt Befund des wissenschaftlichen Instituts für paranaturalistische Forschung. Bei den Befunden handelt es sich um gezeichnete Aufschnitte und Teilansichten eines krakenartigen Wesens samt Beschriftung und Stempel, einschließlich eines Briefes des Wissenschaftlichen Instituts für paranaturalistische Forschung an Andreas Müller-Pohle und Volker Rapsch aus dem Immatrix Verlag bezüglich der auf die Vorarbeiten Vilém Flussers aufbauenden Ergebnisse der Forschungen zum Vampyreuthis, deren zoologische, epistemologische und ästhetische Bedeutung mit dem Schreiben bestätigt und unterstrichen wird.« Vgl. Louis Bec: »Cephalopodiquement votre«, in: V. Rapsch (Hg.), Über Flusser, S. 62-66, hier S. 62. Siehe dazu Kapitel 3.1.3, S. 146f. der vorliegenden Arbeit.
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4. MEDIENPHILOSOPHISCHE ÄSTHETIK DER SCHRIFT. VILÉM FLUSSER
schen Fiktion des Computerkünstlers Louis Bec annimmt. »Das Neue ist nicht das Vieh, es ist auch nicht die Methode, sondern es ist das Erlebnis einer möglichen Zusammenarbeit zwischen diskursiver und imaginärer Vernunft, aus der etwas Neues entsteht.« (Z, 45) Flusser entwirft mit der Untersuchung des Vampyrototeuthis eine alternative Humanwissenschaft, vergleichbar der chinesischen Enzyklopädie Borges’, die Foucault zum Ausgangspunkt seiner Archäologie der Humanwissenschaften gemacht hat. 109 Flusser skizziert, quasi als Gegenbild zu einer Archäologie, eine Futurologie der Humanwissenschaft, eine phantastische Anthropologie, baut ein Gedankenexperiment als »Spiel mit verzerrten Spiegeln« (V, 12f.) auf. Entsprechend der phänomenologischen Methode, die Flusser im Blick auf die technoimaginäre Medientechnik der Fotografie als Standpunktwechsel beschrieben hat, unternimmt die Studie eine Perspektivverschiebung des Wissenschaftlichen und Philosophischen ins Phantastische. Den Vampyroteuthis als Lebensform einer technoimaginären, immateriellen Kultur vorstellend, wird dieser Standpunktwechsel zu einem Ausbruch der diskursiven in eine mit Bildern und spielerischen Imaginationen arbeitenden Philosophie. Dabei geht es nicht um ein freies Phantasieren, sondern Flusser greift biokybernetische und soziobiologische, neurowissenschaftliche und erkenntnistheoretische Diskurse auf, die sich in den letzten Jahrzehnten als zentrale Impulse für kulturwissenschaftliche und medienphilosophische Diskurse erwiesen haben. 110 In der Vorstellung des Kulturisationsprozesses als zunehmende Weltfremdheit und Alienation trifft sich Flusser mit Sloterdijks Thesen zur Hominisation und zu den menschlichen Anthropotechniken: 111 »Daß wir beide [Vampyroteuthis und Mensch; P.G.] Produkte eines absurden Zufalls sind, ist uns phänomenal anzusehen. Wir sind schlecht programmierte Wesen voller Defekte. [...] Wir sind beide aus dem Lebensbereich Vertriebene: er in den Abgrund, wir auf die Oberfläche der Kontinente. Unsere ursprüngliche Heimat, nämlich der Strand, haben wir beide verloren. Wir leben beide in Grenzsituationen. Wir ›ek-sistieren‹ beide.« (V, 25)
Mensch und Vampyroteuthis als Grenzphänomene humanistischer Diskurse deutend, greift Flusser in diesem Gedankenexperiment des Vampyroteuthis epistemologische Fragestellungen, Denkfiguren und das kulturell Imaginäre 109 110
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Vgl. M. Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 17f. Evolution sei die biologisch-organische Realisierung »einige[r] im ursprünglichen Programm enthaltene[r] Möglichkeiten. [...] ›Geist‹ ist ein Aspekt dieser zufälligen Verdeutlichung des unerschöpflichen Lebensprogramms in immer komplexer werdenden Organismen (Phänotypen). Wenn wir also im Vampyroteuthis — in Analogie zu uns selbst — ein geistiges Wesen erkennen, dann erkennen wir die blinde Sturheit des Würfelspiels ›Leben‹ [...].« (V, 25) Die gesellschaftliche Struktur der Vampyroteuthis vergleicht Flusser mit der Organisation des Bienenstaats und des Ameisenhaufens und nimmt damit den Forschungsansatz der Soziobiologie eines Edward O. Wilson vorweg, der gleichermaßen auf systemtheoretischer Grundlage Parallelen zwischen zellulärer, organischer und sozialer Organisation zieht. E.O. Wilson: Die Einheit des Wissens. »Der Preis, der wir zu zahlen hatten, ist der des vom Boden gewährten Schutzes. Sein Preis ist Verbannung in den Abgrund. Wir sind der Erde, er dem Himmel entfremdet. Analoge Alienation.« (V, 24)
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SZENEN DER SCHRIFT
einer Medienkultur am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts auf. 112 Der Vampyroteuthis ist die Projektion des Menschen in einer technoimaginären Medienkultur, der »im Widerschein des selbstausgestrahlten Lichts« (V, 21) lebt und über einen Code der Hautfärbung kommuniziert, eine »Kommunikationsmethode, die an unsere gegenwärtigen Medien erinnert« (V, 22). »Was wir ersehen ist nicht die Welt selbst, sondern eine Spiegelung der Sonnenstrahlen durch die Dinge. Die Welt erscheint nur, sie kann uns daher täuschen. Wir müssen hinter die Erscheinungen greifen, um die Dinge vom Schleier des Lichts zu befreien (aletheia = Entschleierung = Wahrheit). Die Welt des Vampyroteuthis dagegen erscheint nicht, sie ist dunkel. Er selbst bestrahlt sie mit seinen Anschauungsformen. Erst seine Lichtorgane erzeugen die Erscheinungen, die Phänomene. Eine solche Welt kann nicht täuschen, denn sie ist eine selbsterzeugte Täuschung. Daher sind wir Menschen geborene Platoniker, und wir müssen Kant kritisch ausarbeiten. Hinter den Erscheinungen stehen für uns Realitäten, und erst die Kritik der reinen Vernunft läßt uns diese Realitäten unerreichbar werden. Vampyroteuthis sind geborene Kantianer, sein Plato kommt später.« (V, 37)
Vampyroteuthische Kommunikation, Philosophie und Kunst sind projizierende Tätigkeiten, selbsterzeugte Täuschungen. Der philosophische Entwurf kreist um die Reflexion der Kunst, darin die Theorie der Kunst als Grundlage wissenschaftlichen und philosophischen Arbeitens unterstreichend. Ausgehend von der Beschreibung der menschlichen Kunst zieht Flusser eine Linie zu einer technoimaginären Medienästhetik. Die Kunst der Menschen sei noch der Materialität und ihrer mnemotechnischen Funktion verhaftet, sei »Methode, künstliche Gedächtnisse herzustellen« (V, 54): »Wir erleben und erkennen in Funktion von Marmor, von Filmstreifen, von Buchstaben einer geschriebenen Sprache. [...] Die materiellen, unbelebten Gegenstände (Steine, Knochen, Buchstaben, Zahlen, Musiknoten) modellieren alles menschliche Erleben und Erkennen.« (V, 54)
Dem gegenüber steht eine entwerfende, interaktive Kunst des Technoimaginären:
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Flusser verarbeitet Gedanken des Psychologen Wilhelm Reich, dessen Thesen transformatorische und hybridisierende Übertragungen technischer und kommunikationstechnischer Vorstellungen und Bilder auf den Organismus und die Psyche darstellen. Dieser Bereich des »Pseudo-« bzw. Populärwissenschaftlichen ist — vergleichbar der Science-Fiction — als symptomatische Verarbeitungen des kulturellen Imaginären zu verstehen. Mit Reich untermauert Flusser einerseits seine informationstheoretische Stammesgeschichte — »Der Organismus ist ein geschichtetes Gedächtnis, das aus überlagerten Verdrängungen aufgebaut ist« (V, 27) —, andererseits die (negative) Utopie des »permanente[n] Orgasmus« (V, 27), der einhergeht mit Kannibalismus und Selbstmord. Auch für die Diskurse der Pop-Kunst und Pop-Literatur ist Wilhelm Reich Ideengeber; siehe bspw. Rolf Dieter Brinkmann: »Lebwohl Dr. Wilhelm Reich«, in: ders., Standphotos. Gedichte 1962-1970, Reinbek b.H. 1980, S. 257f.
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4. MEDIENPHILOSOPHISCHE ÄSTHETIK DER SCHRIFT. VILÉM FLUSSER »Es ist Vergewaltigung des anderen, um im anderen unsterblich zu werden: Kunst als Strategie der Vergewaltigung, des Hasses; Kunst als Täuschung, als Fiktion, als Lüge; Kunst als trügerischer Schein, also als ›Schönheit‹ — und dies alles in der Stimmung des Orgasmus.« (V, 56)
Das Moment des Affektiven und Ekstatischen, das die neue Kunst auszeichnet, in der sich wissenschaftliches, philosophisches und künstlerisches Entwerfen treffen, tritt auch als zerstörerischer Impuls auf. Flusser rekonstruiert die menschliche Kunst auf eine Traditionslinie zurückgreifend, ausgehend von der Dichotomie »ars« und »techne«, die sich aufspaltet in Technik als das Schaffen von Information einerseits und »das nichtmechanisierbare Informieren von Gegenständen« andererseits, »das, was die bürgerlich-industrielle Gesellschaft von nun ab ›Kunst‹ nannte, um es, dem täglichen Leben entrissen, in Museen und anderen glorifizierten Gettos in Form von Werken aufzubewahren.« (V, 57) Von hier aus skizziert er den Weg in eine medienästhetische Praxis der immateriellen Kultur: »Es ist nicht zu leugnen: Wir müssen in der gebotenen Schilderung der vampyroteuthischen Kunst die Grundzüge unserer eigenen wieder erkennen. Nichts ist uns fremd an diesem schöpferischen, orgiastischen Betrügen. Und nicht nur ist es uns nicht fremd, sondern wir sind eben daran, unsere Kunst zu vampyroteuthisieren, dem grundlegenden Irrtum unserer Kunst die Stirn zu bieten, den verschlungenen Umweg über materielle Objekte aufzugeben, dem Kunstwerk zu entsagen und eine immaterielle, intersubjektive Kunst zu wagen. Wir haben das Vertrauen zu den materiellen Objekten als künstliche Gedächtnisse verloren und beginnen, einen anderen Typ von Künstlichen Gedächtnissen her- und immaterielle intersubjektive Mediationen aufzustellen. Zwar sind diese Medien nicht Lichtorgane auf unserer Haut, aber sie sind auch elektromagnetisch. Eine vampyroteuthische Revolution ist im Gange.« (V, 56)
Die Zukunft der Kunst ist die »vampyroteuthische« Medientechnik der elektronischen bildergenerierenden Apparate: »der Mensch verwirklicht sich von nun ab im Ausarbeiten neuer, immaterieller Informationen, das heißt in jener Tätigkeit, die ›Verarbeitung von Software‹ genannt wird.« (V, 57) Die Kultur des Immateriellen beschreibt Flusser als spielerisch gestaltende Form der Informationsverarbeitung, als künstlerische Praxis: »Es handelt sich um eine Kultur des Trugs, des Als-Ob, des Falschen. Man könnte sie auch eine Kultur der Kunst im weitesten Sinne nennen.« (V, 46) Das Künstlerische und Trügerische, Mediale und Affektive werden im Horizont einer »Kultur der Kunst«, einer Kultur des Immateriellen zusammengeschlossen: Die Vampyroteuthiskultur sei gekennzeichnet durch ihr mediales »Licht- und Farbenspiel«, ihren »orgiastischen, orphischen, künstlerischen Charakter«: »Während der Betrachtung dieser Kultur werden wir vom Schwindel der Schönheit erfasst, und zwar vom Schwindel im doppelten Sinn des Wortes: Eine verführerische Kultur aus Farben, Lichtern, Formen, Liebkosungen, die auf allen Ebenen des Daseins zum Orgasmus führt, auch zum philosophischen. Sie verschleiert den Willen zum Töten. Verschleiert, wenngleich in anderen Formen, auch unsere Kultur den Tod? Vampyroteuthis ist Betrüger. Für ihn ist der Gegensatz zur Wahrheit
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SZENEN DER SCHRIFT nicht Irrtum, sondern Lüge. Wir philosophieren, um aus dem Irrtum zur Wahrheit zu gelangen. Er philosophiert, um immer vollständiger lügen zu können. Wie es aussieht, liegen Welten zwischen seinem und unserem Philosophieren.« (V, 47)
Für diese trügerische Kultur entwirft Flusser eine eigene Methode philosophischen Denkens: Der in einer kritisierbaren, schriftkulturellen, »zweifelhaften« Welt verfolgten philosophischen Methode des »Zweifelns« steht die »überraschende« Welt des Vampyroteuthis gegenüber: »Vampyroteuthisches Denken ist aristotelisches Staunen.« (V, 37) »Theorie im Sinne platonischer Kontemplation ewiger Formen ist ihm undenkbar. Die auf ihn einstürzende Welt überrascht ihn immer wieder durch die Wandelhaftigkeit und Plastizität ihrer Impakte. Seine Theorie, sein philosophischer Blick ist nicht kontemplativ, sondern orgiastisch: nicht philosophische Ruhe, sondern philosophischer Taumel.« (V, 39)
Angesichts dieses Entwurfes einer kommunikativen, künstlerischen und philosophischen Gegenwelt bzw. in die nahe Zukunft projizierten Utopie, gestaltet Flusser die futuristische Erzählung in Form einer Fabel: »Fabeln wurden noch nie richtig geschrieben, wenn Sie unter Fabel den Versuch verstehen, Tiere zu Wort kommen zu lassen, damit sie von ihrem Standpunkt aus beginnen, den Menschen zu kritisieren.« (Z, 229). Die Fabel präsentiert sich als Diskurs einer an der Schwelle zur neuen Bildkultur stehenden und einer schriftkulturellen Kritik nicht mehr zugänglichen Philosophie. Die Grundfrage der Fabel benennt Flusser in einem Interview folgendermaßen: »Wie kann ich die gegenwärtige Kultursituation kritisieren, ohne in einen transzendenten theoretischen Raum auszuweichen.« (Z, 91) Als Antwort stellt Flusser – mit Heidegger, Merleau-Ponty und Bachelard (vgl. V, 34f.) – den phänomenologischen Standpunktwechsel vor: »Was, wenn ich mir das Gegenteil vom Menschen vorstelle und von dessen Standpunkt aus dann unsere Gesellschaft und unsere eigene Lebensweise betrachte?« (Z, 91) 113 Dieses philosophische Verfahren stellt sich in der gewählten Form der zwischen Wissenschaft und Fiktion oszillierenden Fabel als phantastische Phänomenologie dar: »Zwar geht es dabei um ein ›metaphorisches‹ Unternehmen, wir versuchen, uns aus unsrer Welt in die seine hinüberzutragen, nicht aber um ein ›transzendierendes‹ Unternehmen: Wir versuchen nicht, die Welt zu überspringen, sondern in eine andere Welt hinüberzuwechseln. Nicht um eine ›Theorie‹ handelt es sich also, sondern um eine ›Fabel‹. Es handelt sich darum, aus der tatsächlichen Welt in eine fabelhafte Welt hinüberzuwechseln.« (V, 36)
Flusser unternimmt hier eine phantastische Projektion, wie er sie in der Studie zur »Schrift« als Entwerfen alternativer Erlebnismodelle, als Dichtung und als solche als Modell einer technoimaginären Medienpraxis vorgestellt hat: 113
Kommunikationsphilosophisch formuliert Flusser: »Ein Gespräch mit Vampyroteuthis ist ein Tauchen ins Ungewohnte. [...] Erst aus dem Ungewohnten heraus wird das gewohnte ersichtlich und der Versuch möglich, es zu ändern. Das ist das Motiv zum Gespräch mit dem Vampyroteuthis.« (V, 34).
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4. MEDIENPHILOSOPHISCHE ÄSTHETIK DER SCHRIFT. VILÉM FLUSSER »Ich habe die jetzt existierenden Kraken als Anthropoiden angesehen und aus diesen eine Krake sapiens sapiens herausprojiziert. [...] Ich habe mir überlegt, wie die Welt aussehen müsste, wenn man sie aus der Tiefsee ansieht. Die Erde würde ganz anders aussehen. Das ist eine Art Philosophie. Man geht nicht von oben oder transzendent und nicht von unten oder strukturell vor, sondern man geht von der Seite aus. Es ist ein Seitensprung des Philosophierens.« (Z, 230)
Dieser Seitenspung des Philosophierens ist eine Liaison mit der Literatur. Abraham Moles 114 nimmt Flussers Textformen unter dem Begriff der Philosophiefiktion in den Blick und fokussiert insbesondere die Zusammenführung von Science-Fiction und Phänomenologie, wobei er Phänomenologie durch ihre »Beziehung zum Befremdlichen« charakterisiert, den Willen, »das Befremdende und daher Bemerkenswerte zu erfassen.« 115 In dieser Perspektive einer Phänomenolgie der Verwunderung trifft sich Flusser mit Georges Perec, der seine neue Anthropologie des Infra-Ordinären ebenfalls aus dem Impuls des Erstaunens und des Schelmischen unternimmt. 116 Wie Perecs essayistische Fiktionen so erkundet Flussers Gedankenexperiment imaginäre Möglichkeitsräume und erweitert so den Haushalt des kulturellen Imaginären: »Flusser und Bec erweitern das Feld unserer Träume.« 117 An den Kreuzungen von Technik und Wissenschaft, Philosophie und Kunst entwirft Flusser in hybriden Schreibweisen über das Argumentative hinausgehende literarisch-phantastische Szenen. Dieses Zwischenfeld von Philosophie und Literatur lässt sich über Flussers Begriff von Dichtung als spielerisches Entwerfen von Erlebnismodellen rekonstruieren, das sich als zentrale künstlerische und mediale Praxis einer immateriellen Kultur darstellt und somit als Praxis avancierter, technomedialer Philosophie präsentiert wird. Dichtung und Philosophie konvergieren vor dem Hintergrund eines medienphilosophischen Diskurses, der alle Kommunikationstechnologien und Phänomene als »dichterische«, das heißt frei spielerisch und als täuschend entworfene beschreibt. »Unser Interesse an Objekten beginnt zu schrumpfen, wir sind dabei, Medien herzustellen, durch welche hindurch wir menschliche Gehirn vergewaltigen, um sie zum Speichern immaterieller Informationen zu zwingen. Wir bilden Chromatophora aus (Fernsehen, Video, synthetische Bilder, mit deren Hilfe die Sender die Empfänger lügnerisch verführen — eine Strategie, die in Zukunft zweifellos ›Kunst‹ genannt werden wird, falls man nicht entscheiden wird, diesen Begriff aufzugeben.)« (V, 58) 118 114 115 116
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Abraham Moles: »Philosophiefiktion bei Vilém Flusser«, in: V. Rapsch (Hg.), Über Flusser, S. 53-61. Ebd., S. 55. »Comment parles des ces ›choses communes‹, comment les traquer plutôt, comment les débusquer, les arracher à la gangue dans laquelle elles restent engluées, comment leur donner un sens, une langue: qu’elles parlent enfin de ce qui est, de ce que nous sommes.« G. Perec: »Approches de quoi?« (Kapitel 3, Anm. 294), S. 11. A. Moles: »Philosophiefiktion«, S. 61. »Daher die Neigung zu einer immateriellen Welt der permanenten Fluktuation von Informationen, die bei ihm Züge einer Utopie annimmt, in aller Doppeldeutigkeit des Wortes: als Ortlosigkeit und als Bild einer schönen Welt, die allen Möglichkeiten offen steht. Sein eigenes konjekturales, hypothetisches, tentatives oder spielerisches Denken gleicht dieser projizierten Welt
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Flussers Texte generieren unablässig Formulierungen, Szenen, Erzählungen als selbstreflexive Inszenierung der Schrift unter technomedialen Bedingungen. Wie das mythische Erzählen sind Flussers Texte repetitiv, Narrative werden wieder und wieder variiert, unablässig werden aus den Diskursen der Virtuellen Realität und den Potenzialitäten technomedialer Apparate neue futuristische Szenarien entworfen. Zentral ist nicht die Argumentation, sondern die Inszenierung einer Technoimagination, das Oszillieren zwischen Wissenschaft und Kunst im Ästhetischen. Die für eine projizierte immaterielle Kultur kennzeichnenden Momente des Abenteuerlichen, Ekstatischen und Orgiastischen gilt es zu evozieren: »Die Seifenblasen, die wir vom kosmetischen Engagement erwarten können und die wir ihm bereits jetzt verdanken, sind nämlich derart abenteuerlich, daß sie alles vorher Hergestellte in den Schatten stellen. All diese Simulakren wie Computergebilde, Hologramme, lebende Chimären, aus Nervenfasern gewobene künstliche Intelligenzen, dank Drogen gezielt erzeugte Träume oder ›tele-präsente‹ Orgasmen sind zwar Seifenblasen, die das absurde Brodeln bezeugen und nicht leugnen, aber sie sind zugleich auch wirksam und in diesem Sinn ›wirklicher‹ als alles vorangegangene, das sie simulieren.« 119
Diese aus einer mathematisch-techoimaginären Einbildungskraft generierten Formen sind als Entfaltungen einer »reinen Ästhetik« zu verstehen, wie Flusser in seinem Aufsatz zur neuen Einbildungkraft »reine Ästhetik« als »Freude am Spiel mit ›reinen Formen‹« beschrieben hatte (vgl. E, 125). Die sich in kalkulatorisch generierten Formen entfaltende digitale Ästhetik benennt Flusser als »die Ästhetik der reinen Vernunft« (Z, 39), als »reine Ästhetik« (Z, 40): »Das ist meine Futurologie, daß wir in Zukunft in Welten leben werden, die dem reinen Denken entsprungen sind.« (Z, 40) Vor diesem Hintergrund einer immateriellen, trügerischen, zu gestaltenden Kultur werden Wissenschaftler, Philosophen und Künstler gleichermaßen zu Designern: »Als Substantiv meint es [das englische Wort ›Design‹; P.G.] unter anderem ›Vorhaben‹, ›Plan‹, ›Absicht‹, ›Ziel‹, ›böswilliger Anschlag‹, ›Verschwörung‹, ›Gestalt‹, ›Grundstruktur‹, und all diese und andere Bedeutungen stehen mit ›List‹ und ›Hinterlist‹ in Verbindung. Als Verbum (to ›design‹) meint es unter anderem ›etwas aushecken‹, ›vortäuschen‹, ›entwerfen‹, ›skizzieren‹, ›gestalten‹, ›strategisch verfahren‹.« (D, 16)
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der ungebrenzten, wenn auch auf kommunikative Prozesse eingeschränkten Welt der Möglichkeiten: Es experimentiert, sozusagen als Transzendentalismus der der Imagination, unter den Bedingungen der Möglichkeit dessen, was wäre, wenn dies oder jenes der Fall ist. Noch sein Verständnis von Kunst als einer Weise, Informationen möglichst dauerhaft zu speichern, weswegen sie immer ein ›Kampf gegen den Widerstand des Objekts‹ sei, verrät seine gnostische Einstellung, die den Widersacher in einer dem Verfall preisgegebenen Materialität und Körperlichkeit sieht.« Florian Rötzer: »Mobilität und Katastrophe«, in: V. Rapsch (Hg.), Über Flusser, S. 85-99, hier S. 87. Vilém Flusser: »Schönheit im Diminutiv. Von postmoderner Kosmetik«, in: ebd., S. 184-189, hier S. 189.
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Design wird zur kulturellen, philosophischen und dichterischen Projektionstechnik, bezeichnet Prozesse medialer Verkörperungen, wird in diesem Sinne Theorie und Praxis medialer Welterzeugungen. In der medienphilosophischen Argumentation werden mit Blick auf die medientechnischen Weisen der Welterzeugung Philosophie, Fiktion und Wissenschaft gleichgesetzt. In diesem Sinne ist plausibel, dass Friedrich Kittler aus den Überlegungen Vilém Flussers zur Medienkultur schließt, dass »Medienwissenschaft, wenn es sie gäbe, den Platz zu besetzen hätte, den einstmals, unter scheinbar medienlosen, weil alphabetischen Bedingungen, die Philosophie besetzt hielt.« 120 Die mediale Praxis, Erlebnismodelle zu designen, zeichnet sich durch das Durchdringen von Realem, Fiktivem und Imaginärem aus, wie es Flusser in seiner Art des Philosophierens, das immer wieder ins Futuristische und Phantastische umschlägt, vorführt: »Man nehme eine Form, irgendeine, und zwar irgendeinen numerisch artikulierbaren Algorithmus. Man füttere diese Form durch einen Computer in einen Plotter. Die derart ersichtlich gewordene Form fülle man so dicht wie möglich mit Partikeln. Und siehe da, es entstehen Welten. Jede dieser Welten ist ebenso wirklich wie die des ZNS (also die bisher unsere), insofern es gelingt, die Formen ebenso dicht zu füllen, wie dies das ZNS leistet. [...] Wirklich ist, was anständig, tüchtig, gewissenhaft in Formen hineincomputiert ist; und unwirklich ist (zum Beispiel träumerisch und illusorisch), was schlampig computiert ist.« (D, 20)
Der medienphilosophische Diskurs und die Reflexion des Dichterischen werden im Zeichen des Technoimaginären, des Immateriellen und des Designs zu einer medienästhetischen Perspektive zusammengeschlossen. Die Entstehungsgeschichte des Vampyroteuthis wird zum Modellfall technoimaginären Projizierens. Während Flusser die Exaktheit der wissenschaftlichen Fakten betont – »Alles an ihm ist biologisch wahr« (Z, 230) –, hebt Bec die Entstehung dieser »Halluzination«, 121 dieses »Hirngespinst[s]«, 122 als dialogische Projektion hervor: »Eines Tages jedoch – ich glaube, es war ein Samstag – hat sich plötzlich im Zentrum unserer Diskussion ein cephalopodisch geformtes Objekt materialisiert.« 123 Diese gedankliche Materialisierung konkretisiert Bec in bildhafter Form, darin exemplarisch einen Prozess der Verkörperung techoimaginärer Einbildungskraft nachvollziehend: »Bilder dieses Wesens drängten sich mir auf, mit unglaublicher Gewalt.« 124 Diese Phantasie als »Gestaltwerdung eines Dialogs« 125 begreifend, beschreibt Flusser den »Zoosystemiker« Bec als Designer virtueller Welten: »Seither versucht der Zoosystemiker, nicht in die Darwinsche Falle — die einteilende Authentifizierung der objektiven Zoologie — zu tappen; er modelli(si)ert
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Friedrich Kittler: »Ein Bote aus Alteuropa«, in: V. Flusser, Die Revolution der Bilder, S. 225. Siehe ergänzend Friedrich Kittler: »Unter dem Diktat der Zeit«, in: V. Rapsch (Hg.), Über Flusser, S. 151-168. Louis Bec: »Cephalopodiquement votre«, in: ebd., S. 62-66, hier S. 63. Ebd., S. 65. Ebd., S. 63. Ebd., S. 64. Ebd., S. 65.
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SZENEN DER SCHRIFT vielmehr selbst, systematisch und wachsam, die eigenen cephalopodischen Viecher.« 126
Kommunikologie und Design schließen sich zu einer medienästhetischen Perspektive des Entwerfens phantastischer Welten zusammen. Die Idee einer projektiven Modellierung, die zu verstofflichen, zu gestalten und materialisieren wäre, wird hier insofern deutlich, als der Vampyroteuthis zu einer abstrakten medienphilosophischen Idee wird, die sich in unterschiedlichen Diskursen sowie Bild- und Textformen materialisieren kann: »Er selbst [der Vampyroteuthis; P.G.] veranstaltet Expeditionen und taucht für uns überraschend an ungeahnten Orten auf: in den Taten des Nazismus, in der Denkart der Kybernetik, in den Texten der logischen Analyse, in einigen theologischen Texten, um nur einige relativ rezente Beispiele anzuführen.« (V, 60)
Den Vampyrotheutis stellt Flusser als Prototyp eines konzeptuellen Cyborg vor und visiert die Animierung des künstlich entworfenen Organismus im Hologramm an: »Dieses Hologramm produzieren wir zuerst in der Fläche, dann erst stellen wir es in den Raum und beginnen, es zu animieren. Und dann lebt das Vieh.« (Z, 82) Wie sehr diese Vorstellung exemplarisch für eine aus der Buchkultur entwickelte Vision der Informationstechnologie ist, lässt sich mit Giesecke verdeutlichen: »Mehr als um die Abbildung der Wirklichkeit geht es heute um deren kreative Veränderung. ›Ideen werden Wirklichkeit‹.« 127 »Am Ausgang des Buchdruckzeitalters hat sich das Interesse von der Modellierung der sichtbaren Welt in Bildern und sprachlichen und mathematischen Beschreibungen hin zur Visualisierung von Ideen und Metaphern verschoben.« 128
Das Philosophieren mit Bildern wird als selbstreflexive Praxis zu einer medienkünstlerischen Arbeit. »Kopernikus ist nicht wahrer als Ptolemäus, sondern lediglich bequemer.« (Z, 84) Michael Giesecke beschreibt die künstlerische Reflexion und Praxis der Neuen Medien als denjenigen Ort, an welchem die Diskurse der Medien produziert werden. »Die ersten Indizien über die Entwicklungsrichtung konnte man damals und kann man heute wieder in den experimentellen Arbeiten der Künstler finden. Installationen, Hyperfiction, Netzästhetik, Performance, Videoclips treten neben die klassischen Ausdrucksformen von Bild, Text und Film. Spielerisch lotet man die Möglichkeiten der neuen Medien aus und denkt und gestaltet dabei vermutlich, was für die Produktions- und Erkenntnisweise der entwickelten Informationsgesellschaft einmal typisch werden wird.« 129
Aus diesen intermedialen Räumen zwischen Wissenschaft und Kunst entstehen eine konzeptualisierte Kunst und eine ästhetische Praxis, die die Phänomenalität der Medien zugleich beschreiben, reflektieren und vorführen. 126 127 128 129
Ebd., S. 66. M. Giesecke: Mythen der Buchkultur, S. 319. Ebd. Ebd., S. 300.
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Im Horizont einer technoimaginären Phänomenalität der Bilder und Szenarien wird das Phantastische in der »Überwindung des wissenschaftlichen durch fabelhaftes Denken« (V, 62) zum Modus von Wissenschaft und Philosophie, und damit wird Philosophie zu phantastischer Phänomenologie und als solche ästhetische Theorie. Es geht, wie in der ’Pataphysik, um »ein geradezu mythisches Modell für die in uns noch nicht verwirklichten Möglichkeiten« (V, 62). »So taucht er [der Vampyroteuthis; P.G.] auf aus dieser Fabel (metaphorisch), aus Aquarien (annähernd), aus den Erzählungen von Schiffe verschlingenden Seeschlangen (mythisch), aus unseren Träumen (freudianisch), aus Taten der jüngsten Vergangenheit (ideologisch). Auch taucht er auf aus unseren utopischen Vorstellungen vom Neuen Menschen — als Haß, der in Liebe umschlägt, als permanenter Orgasmus, als die Verwirklichung des Daseins: im Aufgehen im Anderen. Wer beide Seiten seines Auftauchens gleichzeitig sieht, der sieht seine eigene Gegenseite, nämlich sich selbst in zwei einander gegenüberstehenden Spiegeln. Wem das gelingt, der hat diese Fabel gelesen. Einander spiegelnde Spiegel — ist das nicht die Absicht einer jeden Fabel?« (V, 63)
Als ästhetische Theorie und literarisch-dichterische Praxis wird Philosophie zu einer performativen Praxis, zu einem Erlebnismodell, wie Flusser es skizziert: »Ist es nicht das Erlebnis des Philosophierens, daß Sie in einer Art des Denkens verfangen sind, in der Sie von Überraschung zu Überraschung schreiten? Meint das nicht Aristoteles, wenn er sagt, daß die Menschen einst und jetzt aus Überraschung begonnen haben zu philosophieren?« (Z, 229) Die bei Flusser als philosophischer Taumel und bei Perec als taxonomischer Schwindel beschriebenen Effekte sind auf den selbstreflexiven Charakter der ästhetischen Form zurückzuführen: »So hat die Welt, in die ich geworfen wurde, um da zu sein, einen Spiegelcharakter.« (V, 59) Diese Reflexion wird in die Form der zwischen Philosophie und Literatur oszillierenden, phantastischen Fabel gebracht. Es ließen sich auch an weiteren Arbeiten Flussers Konnexionen von Schrift-Konzeption, inszenierter Schreibweise und philosophischer Praxis nachvollziehen, im Rahmen der vorliegenden Arbeit kann allerdings nicht detaillierter auf die unterschiedlichen Schreibweisen Vilém Flussers eingegangen werden. Wie sich für Flusser der Entwurf einer phantastischen Philosophie als Spiegel einer Konzeption von Schrift herleiten ließ, so ist auch für die Praxis der popkulturellen Kunst zu beobachten, wie das Denken der Medien neue mediale Gestaltungen, neue Formen und Praktiken der Schrift hervorbringt. In den Inszenierungen der Pop-Literatur sind die Reflexionen der Schrift in Auseinandersetzung mit den elektronischen, bildmedialen und technoimaginären Medien abzulesen. Die Medienkunst der Pop-Kultur, im Folgenden für die Literatur präzisiert, erweist sich – wie die philosophische Phantastik Flussers – als Inszenierung einer technoimaginären Ästhetik der Medien, der Schrift. Angesichts der hybriden und ästhetischen Praktiken des Medialen, die sich als selbstreflexive Verkörperungsprozesse erweisen, wird der Perspektivwechsel, den die Einbeziehung Flussers in den Rahmen der Fragestellung zu Schrift und Literatur in medienästhetischer Perspektive unternimmt, unter275
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strichen. Gemeint ist der Perspektivwechsel, nicht von einem literarischen Werk aus auf die Schrift zu blicken, sondern umgekehrt das Literarische als medienästhetische Verkörperungspraxis der Schrift in den Blick zu nehmen und das Literarische als den Ort der Reflexion und Inszenierung medialer Verkörperungsformen der Schrift zu begreifen. Diese – im Raum des Literarischen erkundeten und gestalteten – Schreibweisen werden zum Bezugspunkt all jener schriftmedialen Praktiken, beispielsweise der Philosophie, die sich selbstreflexiv ihrer eigenen Materialität und Medialität zuwenden. In Auseinandersetzung mit den literarischen Inszenierungen der Schrift und den Schreibweisen der Literatur wird Schrift als ästhetische Praxis entdeckt, die auch den angrenzenden schriftbasierten Diskursen zugrunde liegt. In diesem Sinne ist das Denken der Schrift in den unterschiedlichen Medien und Künsten in seiner selbstreflexiven Befragung auf das Literarische als medienästhetische Praxis der Schrift bezogen. Inszenierungen medienästhetisch reflektierter Verkörperungsformen der Schrift ließen sich an zahlreichen der Texte Flussers nachvollziehen. Aus Gründen der Fokussierung der zentralen Argumentationslinie, sollen hier nur einige Überlegungen angeschnitten werden. Die Szenenfolge »Angenommen« (1989) könnte insofern als exemplarisch für eine hybride, technoimaginär orientierte Schrift vorgestellt werden, als sie als Vor-Schrift für eine mögliche Realisierung als Video-Clip gedacht ist. Die Szenen greifen traditionelle literarische Formen der Reise- und Abenteuerliteratur wie der Science-Fiction auf und veranschaulichen darin die in medienphilosophischer Perspektive entwickelte Theorie der Schrift und Praxis des Schreibens als ästhetische und literarische, zeigen, wie das Dichterische als freies Entwerfen von Szenarien – selbstreflexiv gewendet – zum Kern medialer Ästhetik wird. Diese Präsentation medial selbstreflexiver Schreibweisen macht Flusser für eine Arbeit zu Schrift und Literatur in medienästhetischer Perspektive zu einer zentralen Figur. Er führt auf dem Hintergrund seiner Medienphilosophie der Schrift medienästhetisch reflektierte Formen des Schreibens vor. Dabei greift er traditionelle Formen literarischen Schreibens in medienästhetischer Perspektive auf und veranschaulicht das Phantastische und Performative des Entwerfens medialer Welten, zeigt das Dramatische und Ereignishafte medialer Verkörperungen. Literarische Formen der Abenteuererzählung, der Legende und des Mythos werden zu medienästhetischen Modellen, Modelle einer Vorstellung von Medialität als ereignishafte, dramatische und selbstreflexive Praxis. So wird Flussers – schriftbasierte und ins Bildliche ausgreifende – medial reflektierte Phänomenologie zu einer Dramaturgie, in eine Schrift überführt, die – als dichterische – Erlebnismodelle entwirft, alternative erlebbare (ästhetische) Welten imaginiert und projiziert. Dichtung und Philosophie konvergieren im Horizont des Medienästhetischen zu Praktiken ereignishafter medialer Gestaltung und Konkretisierung. Diese Formen einer die eigenen Vollzüge und Präsentationsformen reflektierenden Medienphilosophie führt Flusser insbesondere auch in seinen Essays vor, die ihren Ausgang von einer phänomenologischen Befragung der »Dinge und Undinge« nehmen und die symbolischen und medialen Erzeugungen des Phänomenalen, die Weisen der Welterzeugung auf die Probe stellen, und darin den phantastischen Ordnungen der Dinge vergleichbar sind, die Georges Perec in seinen Erkundungen
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des Infra-Ordinairen entwirft. 130 Vorgeführt wird Schrift als Praxis des Entwerfens phantastischer Ordnungen, es werden Bedeutungsszenarien vorgestellt, Schrift wird in ihrer performativen, inszenatorischen und dramatischen Dimension in Szene gesetzt. 131 »Aber wir werden dann eben die Grenzen erleben, die dem Taumel, der Trunkenheit, dem ›trip‹ errichtet sind, und zwar dem Taumel als Kultur ›tout court‹, denn Massenkultur ist für uns dann mit Kultur synonym, und Grenzen, die von der Unkultur errichtet sind. Und unsere Reaktion auf dieses Grenzerlebnis wird ein erneutes Untertauchen in den Taumel sein [...].« 132
Flusser wird zum Link zwischen dem ästhetischen Taumel, dem Schwindel, von dem auch Perec angesichts der ambivalenten und vagen Konstruktionen von Welt spricht, und dem Trip, der Inszenierung einer psychedelischen Reise in phantastische mediale Erlebniswelten. Der Essay wird zu einer theatralen Praxis, zur Inszenierung des Affektiven und Ereignishaften, des Faszinierenden und Abenteuerlichen. 133 Der homo viator 134 wird Flusser zum Modell dieser abenteuerlichen Erlebnisweise, Verkörperung des in permanenter Faszination neuer Erfahrungen lebenden bzw. sich selbst entwerfenden Typus. Deutlich wird die theatrale Dimensionen dieses Selbstbildes in den fotografischen Inszenierungen, insbesondere in den vorgestellten Gesten und Körperbildern Flussers, als Lehrer, Dialogpartner und Intellektueller, wie sie der autobiographischen Schrift »Bodenlos« beigefügt sind und Philosophie als Verkörperungsakt kommunikativer Handlungen in Szene setzen. 135 130
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Weitere Überschneidungen zwischen Perec und Flusser ergeben sich bezüglich des Phänomens der »Wand«, die sowohl Perec in dem Kapitel »murs« seines Bandes »Espèces d’espaces« als auch Flusser in einem Essay »Wände« zum Anlass der Reflexion des Trügerischen, von Oberflächlichkeit und Theatralität wird. »Les tableaux effacent les murs. Mais les murs tuent les tableaux. [...] On purrait écrire sur les murs [...], mais on ne le fait que très rarement.« G. Perec: Espèces d’espaces, S. 55. »Und reißt man eine der vier Wände heraus und verwandelt damit das Zimmer in eine Bühne, dann werden die meisten menschlichen Werke für den Außenstehenden zu Bestandteilen eines absurden Theaters.« Vilém Flusser: »Wände«, in: ders., Dinge und Undinge, S. 27-32, hier S. 31. Eine Vielfalt philosophischer und poetischer Schreibweisen führt Flusser in dem Essay »Das Bett« (in V. Flusser: Dinge und Undinge, S. 89-109) vor, der seinen Ausgang von dem Macbeth-Zitat »To bed, to bed...« nimmt und das Poietische als Gestaltung unterschiedlicher Perspektiven, Redeweisen und Verkörperungsformen, beispielweise Grenzdiskurse des Affektiven, vorführt. Vilém Flusser: »Straßenlampen«, in: ders., Dinge und Undinge, S. 33-46, hier S. 44. »Ein Essay ist folgendes: ein Versuch, das Resultat einer Arbeitshypothese aufzudecken, ohne am Resultat interessiert zu sein. Es interessiert nur das, was sich während des Versuchs zeigt. [...] Dem Autor kommt es nur darauf an, daß während des Schreibens ganz neue, unerwartete Aspekte um Vorschein kommen. [...] So wie immer war das wirkliche Motiv die Faszination, die die Erfahrung, von denen berichtet wird, ausgeübt haben.« Vilém Flusser: Vogelflüge. Essays zu Natur und Kultur, München, Wien 2000, S. 121. Vilém Flusser: »Wege«, in: Vogelflüge, S. 7-15, hier S. 13; ders.: »Naturalmente«, in: ebd., S. 119-130, hier S. 130. Von einer performativen Philosophie, dem Philosophen auf der Bühne, berichten all jene, die Flusser in Aktion erlebt haben, bspw. Dietmar Kamper: Körper-Abstraktionen. Das anthropologische Viereck von Raum, Fläche, Linie
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Dieses in Formen der Präsenzkultur verankerte Modell einer (performativen) Philosophie als ästhetischer Akt begründet Flusser in seinen anthropologischen Schriften »Vom Subjekt zum Projekt« wie in der philosophischen Autobiographie »Bodenlos«. Flusser entwirft eine »Anthropologie der Anmaßung« 136 , eine »Vermessenheit«, die »vom Messen her in den Griff zu bekommen« wäre 137 und darin die Brücke von der anthropologischen Topologie Perecs zu den medialen Vermessungen Rainald Goetz’ schlägt. Die Situation des Absurden und Bodenlosen gelte es, als unangemessene und vermessene Situation zu begreifen, als Differenz zwischen einem schriftkulturellen Subjekt-Mythos und einer veränderten medienkulturellen Situation, in der die Erzählungen der Schriftkultur noch archivarisch verwaltet werden, aber unanschaulich und unverständlich geworden sind. In dieser Übergangssituation sei das Vermessene, das heißt das nicht Angemessene, als Ausgangspunkt zu denken, um von dort aus Anmaßungen vorzunehmen. Sind Geschichte und Anthropologie als mediale Dramaturgien schriftkultureller Programme erkannt, funktionieren sie als technomediale Imaginationen, spielerisch, ästhetisch, insofern diese Gestaltungen zugrunde liegender Begriffe und Programme nach ästhetischen Reizwerten und Effekten strukturiert sind; so wird »Menschheitsgeschichte« zum »TV-Drama«: »Kann es ein schöneres TVProgramm geben?« 138 Flusser entwirft eine Medienanthropologie in der Perspektive seiner medienästhetischen Reflexionen; Anthropologie wird als Selbstreflexion der Praktiken medialer Verkörperung unternommen. Vergleichbar Perecs in Auseinandersetzung mit seiner jüdischen Herkunft entworfenen autobiographischen Schriften »W« und »Ellis Island« stellt auch Flusser seine philosophische Autobiographie als performativen Akt der Zeugenschaft vor; exemplarisches Modell einer vermessenen Anthropologie ist die Schilderung des Prager Jude-Seins, 139 wie Flusser es in einem ersten Teil der autobiographischen Schrift »Bodenlosigkeit« unternimmt. Dem gegenüber stellt er ein diese Form überwindendes Existenzmodell, in einer »Wendung ins Projizieren« (SPM, 23), den sich selbst entwerfenden Intellektuellen, für den Brasilien zu einem topografischen und kulturellen Experiment wird. 140 Dieser Selbstentwurf wird, in Dialogen und Fotografien, in seiner theatralen Dimension deutlich gemacht, wird als Beispiel sensationeller
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und Punkt, Köln 1999, S. 5: »Flusser führte vor, was die aktuelle Obsession seines Denkens war. [...] Er ging in vier Schritten zurück und performierte mit seinem Körper die historischen und biographischen Körper-Abstraktionen, die er auch in seinen späten Schriften immer wieder schreibend darstellte.« »[E]s ist jetzt der Mensch selbst, welcher die Messungen vornimmt, um aus der Welt Systeme herzustellen. Diese Anthropologie lässt sich, mit einem Wort, die Anthropologie der ›Anmaßung‹ nennen [...].« Vilém Flusser: Nachgeschichte. Eine korrigierte Geschichtsschreibung. Hg. v. Stefan Bollmann und Edith Flusser, Düssseldorf 1993, S. 315. Ebd., S. 325. Ebd., S. 262. Siehe V. Flusser: Jude sein. »Von den Furien der Ereignisse wurde ich nach Brasilien geschleudert — wo es eine modellierbare, sehr amorphe, eine in jeder Hinsicht, auch im ontischen Sinne, hungrige und durstige Situation gibt. Ich wurde in einem noch modellierbaren und anpassungsfähigen Alter nach Brasilien geschleudert, so daß ich de letzten dreißig Jahre auf der Suche nach mir selbst in Brasilien und auf der Suche nach Brasilien in mir selbst verbracht habe. Wenn Leben heißt, sich zu orientieren, lebte ich intensiv, das heißt philosophisch.« V. Flusser: »Auf der Suche nach Bedeutung«, o. S.
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Anthropologie vorgestellt: Entwerfen heißt »[s]ich-Einlassen auf ein geradezu berauschendes Abenteuer. Es ist eine Lust, hier und jetzt zu leben.« (SPM, 56) Im Erspielen möglicher Erlebnismodelle wird der Selbstentwurf zur potenziellen Anthropologie. Schrift wird zur ästhetischen Anthropotechnik, zum poietischen Akt, in dem der experimentelle Mensch sich spielend entwirft, entsprechend dem Erlebnismodell eines »Dasein[s] in spielerischer Selbstvergessenheit [...] als das für den Menschen charakteristische Dasein.« (SPM, 157) Der spielerische Akt der entwerfenden Verkörperung ist »›reines‹ Kontemplieren, Komponieren, Komputieren, ›reine‹ Poesie« (SPM, 159). Wie sehr Existenzmodelle als spielerische Szenen der Schrift entworfen werden, verdeutlicht das Zu-Wort-Kommen der Bodenlosigkeit: »[D]as Wort »absurd« bedeutet ursprünglich »bodenlos«, im Sinn von »ohne Wurzel«. [...] Es ist die Absicht des folgenden Buches, diese Stimmung zu bezeugen. [...] Die sinnlose Kreisbewegung, mit dem Nichts als Hintergrund, ist die Stimmung des absurden Lebens. [...] Das Wort »absurd« bedeutet auch »bodenlos«, im Sinn von »ohne vernünftige Basis«. Etwa wie der Satz bodenlos ist, der behauptet, zwei mal zwei sei vier um sieben Uhr abends in São Paulo. Es ist ein Beispiel eines absurden Denkens. [...] Dieses schwindelnde Gefühl ist die Stimmung des absurden Denkens. Das folgende Buch wird sie bezeugen.« 141
Flussers Theorie der »Gesten«, 142 die er als Meta-Theorie der Kommunikation konzipiert, unterstreicht die Aspekte der Selbstreflexion, des Theatralen und die Performanz der Verkörperung als Ausgangspunkt medialer Gestaltungen. Anknüpfend an die Überlegungen zur Schrift in der gleichnamigen Studie würde dies bedeuten, dass auch Schrift als in Materialität erstarrte Körpergeste und selbstreflexives Zeigen auf den Verkörperungsprozess zu verstehen wäre. Die medienästhetische Reflexion fokussiert Flusser, indem er auf die Reflexionen der eigenen Medialität in gestischen Ausdrucksformen, semiologischen Prozessen verweist: »Das Gestikulieren ist in letzter Zeit auf seltsame Weise ›bewußter‹ (das heißt sich seiner Technizität bewusster) geworden als früher.« (G, 235) Deutlich sei dies insbesondere im künstlerischen Kontext, in Formen medial reflektierter Kunst wie »body expression«, »happening«, »living theatre« und »action painting« (G, 235), in denen die interessefreien Gesten sich selbstreflexiv als kommunikative, materielle und spielerische in Szene setzen. Es sind Praktiken einer ereignisorientierten Ästhetik des Perfomativen, der Reflexion und Inszenierung von Prozessen der Verkörperung und Medialisierung, welche zum ausgezeichneten Gegenstand einer auf Performanz, Medialität und Inszenierung fokussierten Theorie der Gesten werden. Zentral ist in den performativen Künsten wie in Flussers Semiologie der Gesten die Frage nach den Prozessen medialer Verkörperungen, den materiellen Gestaltungen eines Bedeutungsgeschehens: »Denn nicht, daß sie ›frei‹ ist, macht eine Bewegung zur Geste, sondern daß sich in ihr eine Freiheit ›irgendwie‹ ausdrückt. Und ›irgendwie‹ bedeutet: ›mit irgendeiner Technik‹.« (G, 236) Flussers Theorie der Gesten reflektiert die theatrale Praxis der Er141 142
Vilém Flusser: Bodenlos. Eine philosophische Autobiographie, Frankfurt/M. 1999, S. 9f. V. Flusser: Gesten. Im Folgenden abgekürzt mit der Sigle »G«.
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zeugung von Wahrnehmungsszenen und erweitert die Phänomenologie derart um eine theatrale Semiotik: »In der aktiven Bewegung meines Arms stelle ich den Schmerz dar, und in diesem Sinne ist es gemeint, daß ich etwas durch meine Geste ausdrücke.« (G, 12) Gesten sind selbstreferentielle, theatrale Zeichen, die »das ausdrücken und artikulieren, was sie symbolisch darstellen.« (G, 12). In dieser – hier nur angerissenen – Theorie der Gesten stellt Flusser Ansätze einer medienästhetischen Semiologie vor, versteht Zeichenprozesse als mediale, aisthetische und szenische Verkörperungsprozesse. Ein ausführlicherer Blick bietet sich auf die Geste des Schreibens an. Die selbstreflexive Wende vollzieht die Semiologie als Lektüre der Zeichen einer als Text gedachten Kultur in der Analyse der Geste des Schreibens. Flusser skizziert eine Schreibszene: »Es handelt sich darum, ein Material auf eine Oberfläche zu bringen (zum Beispiel Kreide auf schwarze Tafel), um Formen zu konstruieren (zum Beispiel Buchstaben).« (G, 32) Flusser entwirft, vergleichbar Roland Barthes’ »Variations sur l’écriture«, Oulipos Neandertalerszene und Leroi-Gourhans Studie »Le mot et la geste«, 143 eine kultur- und medienanthropologische Szenerie: »Vor einigen tausend Jahren hat man damit begonnen, die Oberflächen mesopotamischer Ziegel mit zugespitzten Stäben einzuritzen, und das ist der Tradition zufolge der Ursprung der Schrift.« (G, 32) Parallel zur grammatologischen Wende und den Konzeptionen der écriture nimmt Flusser die Materialität und kultursemiologische Bedeutung der Geste Schrift in den Blick: Schrift als »Inskription«, als »eindringende, eindringliche Geste« (G, 32), und verweist darauf, dass die Materialität dieser Kulturtechnik oft ausgeblendet bleibe (vgl. G, 32f.). Flusser bietet sich, vergleichbar Derrida, Barthes oder Campe, als Anknüpfungspunkt einer semiologisch orientierten Medienästhetik der Schrift an. Flusser reflektiert neben den materiellen und medientechnischen auch grammatologische, semiotische und performative Dimensionen der Schreib-Szene: »Um schreiben zu können, benötigen wir — unter anderem — die folgenden Faktoren: eine Oberfläche (Blatt Papier), ein Werkzeug (Füllfeder), Zeichen (Buchstaben), eine Konvention (Bedeutung der Buchstaben), Regeln (Orthographie), ein System (Grammatik), ein durch das System der Sprache bezeichnetes System (semantische Kenntnis der Sprache), eine zu schreibende Botschaft (Ideen) und das Schreiben.« (G, 33)
In den Werkzeugen der Schrift schließt Flusser Materialität, Grammatologie und Körperlichkeit der Schrift zusammen. Eine »phänomenologische Analyse der Schreibmaschine« (G, 34) würde erlauben – analog der von Perec unternommenen Phänomenologie des Schreibtischs als Schreibszene 144 – die Geste des Schreibens als medienkulturelle Szene zu rekonstruieren: »Die 143 144
Siehe A. Leroi-Gourhan: Hand und Wort. Siehe G. Perec: »Still life/Style leaf« (Kap. 3, Anm. 304). Seine konstitutive Rolle für die Erkundung der Experimentalkultur erhält der Schreibtisch als Modell der Organisation von Wissen, insbesondere in Folge der von Vannemar Bush projizierten Memex-Maschine, Vorläufer des Computers und dem Modell des Schreibtischs nachempfunden. Siehe P. Lévy: »Die Erfindung des Computers«. Siehe Anm. 770 dieser Arbeit. Vorausverwiesen sei auch auf die Schreibtisch-Szenen bei Rainald Goetz.
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Schreibmaschine [...] ist also die Materialisierung einer ganzen Dimension der westlichen Existenz im 20. Jahrhundert« (G, 35). 145 Insofern die Szene der Schreibmaschine zugleich die Linearität der Alphabetschrift und die Geste des Komputierens zur Anschauung bringt, ist sie eine Zur-Schau-Stellung der medienkulturellen Umbruchsituation, die Flusser in seinen medienphilosophischen Überlegungen skizziert. Auch die Arbeiten der experimentellen Literatur sieht er als Gesten dieser ins Technoimaginäre ausbrechenden Schrift: »Die konkrete Poesie, dieses Bestreben, die Schrift zweidimensional zu machen, ist eigentlich nur mit der Maschine möglich. Die Freiheit liegt nicht in der (auch mit einer Füllfeder möglichen) Missachtung der Regeln, sondern in deren (mit einer Maschine möglichen) Veränderung.« (G, 34)
Die in der medienhistorischen Literaturforschung untersuchte Konnexion von Medientechnik und Poetik der Literatur 146 formuliert Flusser aus medienästhetischer Perspektive. Die phänomenologische Analyse der Geste des Schreibens ist zugleich Inszenierung dieser Geste, Präsentation phänomenologischer Essaysistik, die an den Körper und die Intentionalität des Schreibenden rückgebunden ist und derart – in Form einer Geste – den Akt der Schrift und den Körper der Schrift/des Schreibenden mit entwirft. Über die medienkulturelle Figur der Schreibmaschine schließt Flusser Körpergeste, materielle Ordnung der Schrift und Denken zusammen: »Die Maschine schlägt mit ihren Hämmern auf die Oberfläche, und das Tippen ist somit eine eindringendere, in spezifischer Weise graphischere Geste als das Schreiben mit einer Füllfeder. Schreiben ist eine der Phänomenalisierungen des Denkens. Auf einer Maschine zu tippen ist eine offenkundigere Form des Denkens als das Schreiben mit einer Füllfeder, einem Stück Kreide oder einem Bleistift. Es ist die kennzeichnendste Geste des Schreibens.« (G, 35)
Vergleichbare Auslotungen der »orthographischen, grammatikalischen, semantischen, informatorischen, kommunikologischen und sonstigen Kriterien« (G, 35) der Textproduktion unternimmt die Literatur, sei es die experimentelle Poesie, beispielsweise die potenzielle Literatur, sei es die so genannte Pop-Literatur, beispielsweise in der Figur Rolf Dieter Brinkmanns, der, um die Semantik der Wörter außer Kraft zu setzen, die materielle Oberfläche des in die Schreibmaschine gespannten Papiers durchlöchert und damit die haptische Qualität der Schrift in einer aggressiven grafischen Geste in Szene setzt. 147 Flussers medienphilosophische Reflexion skizziert eine me-
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Siehe Martin Stingelin: »Kugeläußerungen. Nietzsches Spiel auf der Schreibmaschine«, in: H.U. Gumbrecht/K.L. Pfeiffer (Hg.), Materialität der Kommunikation, S. 326-341; Stingelin schließt an vergleichbare Überlegungen Kittlers in den »Aufschreibesystemen« an. Siehe bspw. H. Segeberg: Literatur im technischen Zeitalter; D. Matejowski/F. Kittler (Hg.): Literatur im Informationszeitalter. Siehe Rolf Dieter Brinkmann: Erkundungen für die Präzisierung des Gefühls für einen Aufstand: Träume. Aufstände/Gewalt/Morde. REISE ZEIT MAGAZIN. Die Story ist schnell erzählt. (Tagebuch), Reinbek b.H. 1987; ders.: Schnitte, Reinbek b.H. 1988.
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dienreflexive Schreibszene, wie sie der Literatur im zwanzigsten Jahrhundert zugrunde liegt. Flusser beschreibt die Geste der Schrift als materiellen Gestaltungsprozess, »wenn die Virtualität auf den Widerstand der Wörter stößt« (G, 36). Damit fokussiert Schrift insbesondere die Schwellenprozesse der Verkörperungsakte, wird zur Inszenierung grammatischer und semiologischer Grenzüberschreitungen und in diesem Sinne zu einer medienreflexiven und medienästhetischen Praxis. Wie Roland Barthes die Inszenierung einer Stimmlichkeit der Rede in der Schrift reflektiert hat, so wird auch für Flusser Schrift zu einer widerstreitenden Szene zwischen den Ordnungen der Schrift und der Stimmlichkeit der Wörter, die im Aussprechen medial zu »tönenden Körpern und Schwingungen in der Luft« (G, 37) werden: »Die Dialektik in der Geste des Schreibens spielt zwischen den Wörtern einer sotto voce geflüsterten Sprache und mir.« (G, 38) Analog der akustischen Realisierung versteht Flusser den Schreibprozess als grafische Verkörperung: »Eben das macht die Schönheit des Schreibaktes aus: er realisiert die Wörter. Schriftsteller zu sein heißt nicht notwendig, auch Redner zu sein. Ein Barde ist kein Dichter. Gegen die Schrift lehnen sich die Wörter in anderer Weise auf als gegen die Rede.« (G, 38)
Der Schriftsteller wird zu einem Designer der Schrift: »Das Auszudrückende drückt sich im Verlauf dieses Spiels aus: es realisiert sich.« (G, 38) Diese Idee des Schreibens als Akt der Realisierung von Schrift in unterschiedlichsten materiellen, grammatologischen und materialen Formen bestimmt zentral das Verständnis des Schriftstellers in einer medienkulturellen Szene seit Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts. Diese Konzeption steht der Konzeptkunst nahe wie den performativen Künsten, macht die Zusammenführung von konzeptionellem Experiment und Aktion deutlich. Die Figur des Schriftstellers, des Arbeiters hinter der Schrift, wird zu einer Konzeption von Gestalter, von Kommunikationsdesigner, der die Inszenierung eines Schreibstils betreibt, der zugleich zu einem persönlichen Stil wird: »Mein Stil ist die Art wie ich schreibe, das heißt, er ist meine Geste des Schreibens. Le style, c’est l’homme.« (G, 39) Über den Begriff des Stils und der Geste werden Verkörperung der Schrift und Verkörperung des Schriftstellers als Gestaltungsformen in einer Schreibszene zusammengeschlossen. Die Geste der Schrift als Geste des sich selbst entwerfenden Menschen, so argumentiert Flusser seine medienkulturelle Theorie der Entwicklung symbolischer Codes fortführend, ist eine dokumentarische, archivarische, überholte angesichts der neuen medienkulturellen Szene aus apparativ generierten synthetischen Bildern: die »Geste des Schreibens ist im Begriff, eine archaische Geste zu werden, durch die sich eine Seinsweise äußert, die durch die technische Entwicklung überholt ist.« (G, 39) »Archaische Existenzen, in denen die Wörter der geflüsterten Sprachen mit derartiger Stärke und Verführungskraft laut werden, daß sie der Versuchung nicht widerstehen können, sie zu schreiben. [...] Für sie sind die Sprachen und ihre Virtualitäten dermaßen reich, daß alle Literaturen der Welt noch kaum begonnen haben, sie ans Licht zu bringen, und beim Schreiben für die von arte povera keine Rede
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4. MEDIENPHILOSOPHISCHE ÄSTHETIK DER SCHRIFT. VILÉM FLUSSER sein kann. Sie wissen, daß Schreiben nicht mehr der Mühe wert ist. Sie tun es trotzdem. Ihr Motiv besteht weder darin, die anderen zu informieren, noch darin, das kollektive Gedächtnis zu bereichern, obwohl sie das behaupten könnten. Das ist absurd: sie können nicht besonders gut leben, ohne zu schreiben, denn ohne das Schreiben hat ihr Leben nicht viel Sinn. Für diese archaischen Existenzen gilt: scribere necesse est, vivere non est.« (G, 40)
Die potenzielle Literatur und die experimentelle Poetik wie auch die so genannte Pop-Literatur arbeiten an diesen Verkörperungen der Schrift als inszenierte Praxis medialer Selbstreflexion. Angesicht der neuen Medientechniken wird eine Ästhetik der Schrift entwickelt, die Schrift in ihrer Medialität reflektiert und in Szene setzt. Als Hintergrund dieser medienästhetischen Praxis wird eine medienkulturelle Szene der Schrift entworfen. Schrift wird zur performativen Selbstinszenierung, zu einer auf die eigenen Vollzüge zeigenden Geste. Diese Geste ist zugleich Symbol der sie intentional hervorbringenden Produktionsinstanz des Schriftstellers und Gestalters, ist als solche medienanthropologische Geste. Flusser entwirft in einer medienästhetischen Perspektive eine medienkulturelle Szene und eine Konzeption von Schrift, in der die Geste des Schreibens zu einer Selbstinszenierung der Schrift und der Aktion des Schreibens wird; Schreiben wird zur performativen Geste. Flusser denkt Schrift nicht nur als medienästhetische Praxis, sondern betreibt die (schrift-)philosophische Reflexion als mediale Praxis im Rahmen einer performativen Ästhetik der Schrift. Flusser entwirft damit eine Perspektive für eine ereignisorientierte Ästhetik der Schrift, wie sie die literarischen Schreibweisen der Gegenwart erkunden und in Szene setzen.
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5. M E D I E N Ä S T H E T I K D E R P O P -L I T E R A T U R . RAINALD GOETZ 5.1 Pop-Literatur als medienästhetische Reflexion von Schrift und Literatur 5.1.1 Pop-Literatur als medienästhetische Praxis In einem Umfeld der kulturellen Reflexion neuer Medientechniken Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts entwickelt Vilém Flusser Perspektiven einer Medienästhetik der Schrift und betreibt Philosophie als Szenographie von Verkörperungsereignissen der Schrift. Auf literarischem Gebiet ist es die so genannte Pop-Literatur, die Literatur von der medienästhetischen Praxis der Schrift her versteht und, am Rande der Gutenberg-Galaxis, die Medialität der Schrift in Auseinandersetzung mit elektronischen Medientechniken und computergenerierten synthetischen Technobildern reflektiert. 1 Der gemeinsame Hintergrund von Medienphilosophie und Pop-Literatur ist das experimentalkulturelle Feld kybernetischer, kommunikationstheoretischer und kognitionswissenschaftlicher Ausrichtung, vor dessen Hintergrund Ansätze einer ästhetischen Theorie des Medialen sowie experimentelle mediale Praktiken entworfen werden. Dieser Bezug der Pop-Kultur auf die Medienreflexion lässt sich für die Literatur an Leslie A. Fiedler, Rolf Dieter Brinkmann und Rainald Goetz exemplarisch deutlich machen. Die Traditionslinie, die sich für die Pop-Literatur ausgehend von den performativen Künsten des Modernismus, in Dadaismus und Surrealismus, über die experimentelle Poetik der konkreten Poesie einerseits und die französische Theorie der écriture andererseits bis in die amerikanische Beat-Bewegung der sechziger Jahre und aktuell in die Slam Poetry-Bewegung ziehen 1
Zu Theorie und Geschichte der Pop-Literatur siehe folgende Beiträge: Johannes Ullmaier: Von Acid nach Adlon und zurück. Eine Reise durch die deutschsprachige Popliteratur, Mainz 2001. (+ CD); Moritz Baßler: Der deutsche PopRoman. Die neuen Archivisten, München 2002; Thomas Ernst: Popliteratur, Hamburg 2001; Georg M. Oswald: »Wann ist Literatur Pop?«, in: Wieland Freund/Winfried Freund (Hg.), Der deutsche Roman der Gegenwart, München 2001, S. 29-44; Diedrich Diederichsen: »Pop – deskriptiv, normativ, emphatisch«, in: Literaturmagazin 37 (1996), S. 36-44; Harald Hartung: »Pop als ›postmoderne‹ Literatur. Die deutsche Szene: Brinkmann und andere«, in: Neue Rundschau 82 (1971), S. 723-742; Jost Hermand: Pop International. Eine kritische Analyse, Frankfurt/M. 1971; Vagelis Tsakiridis (Hg.): Prosa der Beatund Pop-Generation, Düsseldorf 1969; J. Schröder (Hg.): Mammut; Peter Kemper/Thomas Langhoff/Ulrich Sonnenschein (Hg.): »alles so schön bunt hier«. Die Geschichte der Popkultur von den Fünfzigern bis heute, Stuttgart 1999; Pierre Bourdieu: »Sagten Sie ›populär‹?«, In: Gunter Gebauer /Christoph Wulf (Hg.), Praxis und Ästhetik. Neue Perspektiven im Denken Pierre Bourdieus, Frankfurt/M. 1993, S. 72-92; John Fiske: Populäre Texte, Sprache und Alltagskultur, in: Andreas Hepp/Rainer Wimmer (Hg.), Kultur — Medien — Macht. Cultural Studies und Medienanalyse, Opladen, Wiesbaden 1999, S. 67-86; Ralf Hinz: Zur Kritik der Urteilskraft wissenschaftlicher und journalistischer Rede über populäre Kultur, Opladen, Wiesbaden 1998.
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lässt – wie sie Thomas Ernst skizziert 2 und wie sie auch in der Argumentationslinie in der vorliegenden Arbeit von der deutschen und französischen experimentellen Literatur über die Medienphilosophie hin zu Rolf Dieter Brinkmann und Rainald Goetz deutlich wird –, lässt sich als Tradition medialer Selbstreflexion und Inszenierung performativer und transmedialer Verkörperungspraktiken verstehen. 3 Collage-Techniken in Plakatgedichten der futuristischen parole in libertà wie des Lettrismus, das dadaistische poème gymnastique Huelsenbecks 4 und die surrealistische écriture automatique, die Konstellationen und grafischen Gestaltungen der visuellen Poesie wie die psychedelischen Cut-up-Texte der Beat-Generation und insbesondere W.S. Borroughs sind Beispiele für diese Entwicklungslinie medienästhetischer Reflexionen und medialer Inszenierungen von Schrift und Literatur. Leslie A. Fiedler propagiert in seinem für das Denken der literarischen Pop-Kultur und Postmoderne wegweisenden Manifest »Überquert die Grenze, schließt den Graben. Über die Postmoderne, 1969« 5 die Ablösung der literarischen Moderne und des europäisch-abendländischen Kulturmonopols durch eine postmoderne Literatur – die wiederum mediale Techniken modernistischer Kunst aufgreift und weiterentwickelt –, deren Ziel der »Traum, die Vision, die extasis« 6 sei, »gleichermaßen zu Hause in der Welt der Technologie und im Reich des Wunders.« 7 Literatur wird – analog der elektronisch erzeugten Musik – zur Praxis einer neuen Sensibilität durch das »involvment«, die Einübung in die medial generierten Oberflächen. 8 Die massenmedial erzeugten Trivialmythen des Alltags, aus Western, Science-Fiction und Pornografie, werden zu den synthetischen Identifikationsbildern einer auf dem Phantasma des »Amerikaners im Geiste« 9 – »denn wie wir schon lange bemerkt haben, andere hat es nie gegeben« 10 – basierenden Kultur. PopKultur und Postmoderne lassen sich als Reflexionen und spielerische Praktiken der medialen Generierung phantastischer und ästhetischer Erlebniswelten verstehen, als Erkundung technoimaginärer Welterzeugungen.
2 3
T. Ernst: Popliteratur. Siehe zu diesem Komplex der Verknüpfung von Pop und Medienpraxis auch Forschungen der Cultural Studies, bspw. R. Hinz: Cultural Studies und Pop; Andreas Hepp: Cultural Studies und Medienanalyse. Eine Einführung, Opladen, Wiesbaden, 1999; A. Hepp/R. Wimmer (Hg.): Kultur — Medien — Macht; auch David Jay Bolter/Richard Grusin: Remediation. Understanding New Media, Cambridge, Massachusetts, London 1999. 4 Siehe den Hinweis auf Huelsenbecks poèmes gymnastiques in Otto F. Best: »Einleitung (Dadaismus)«, in: ders. (Hg.), Expressionismus und Dadaismus, Stuttgart 1996, S. 289-292, hier S. 291. 5 Der zuerst im Playboy erschienene Artikel Leslie A. Fiedlers »Cross the Border — close the gap« löste in Deutschland eine literaturästhetische Debatte aus. Die Beiträge sind dokumentiert in: Uwe Wittstock (Hg.): Roman oder Leben. Postmoderne in der deutschen Literatur, Leipzig 1994, S. 65-77. 6 L.A. Fiedler: »Überquert die Grenze«, S. 694. 7 Ebd., S. 696. 8 Siehe bspw. Rolf Dieter Brinkmanns Aufsatz »Einübung einer neuen Sensibilität«, in: Maleen Brinkmann (Hg.), Rolf Dieter Brinkmann, Literaturmagazin 36 (1998). (Sonderheft), S. 147-156, in dem er in einer Vermischung von Gedanken und Zitaten Fiedlers, McLuhans, Susan Sontags und eigener Ideen programmatisch eine sensuelle und sinneserweiternde Kunstpraxis verkündet. 9 L.A. Fiedler: »Überquert die Grenze«, S. 697. 10 Ebd.
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5. MEDIENÄSTHETIK DER POP-LITERATUR. RAINALD GOETZ »Der spielerisch-ironische Experimentalismus der Postmoderne ist versiegt, Pluralismus, Performativität und Kombinatorik haben ihren basalen Reiz verloren. Die Vorstellung fiktiver Welten ist zu einem zweifelhaften Unternehmen geworden, während die Idee ästhetischer Totalität von einer technologisch-medialen Idee eines Weltnetzes abgelöst wird.« 11
Den postmodernen Roman nicht primär als semiotisches, sondern mediales Spiel verstehend, ist er Reservoir der Imaginationen einer elektronischen, digitalen, technoapparativen Kultur und Reflexion ihrer medialen Erzeugungen. »So anachronistisch der Begriff ›Roman‹ heute auch erscheinen mag, so liegt doch an seinem Grund das gesamte Potential zur Aktivierung aller nur denkbaren und in den vergangenen Jahrhunderten realisierten narrativen Sprachspiele. [...] Denn der moderne Roman ist das größte Arsenal an Gestalten, Motiven und imaginären Strukturen, die das Abendland bereithält, und somit Ausgangspunkt zu einem offenen und produktiven Umgang mit den fundamentalen Gesten der Literatur.« 12
Zugleich sind postmoderner Roman und Pop-Literatur Symptom für das Imaginäre der Medien. Perecs phantastische Archive und groteske Mausoleen des Romans »Das Leben Gebrauchsanweisung« im Horizont des trompe l’œil, die Spiegelfiguren und täuschenden Autoporträts erweisen sich als Symptome für das Imaginäre einer Medienkultur, die Wahrnehmungsweisen und Welterzeugungen als fundamental ästhetische, illusionäre und simulatorische erfährt, gleichermaßen ein Reich der Technologie und des Wunders. Zu einer der zentralen Fragen wird in diesem Kontext die Imagination eines eigenen medialen Körpers, der – fokussiert auf Wahrnehmung und sinnliches Erleben – ausgehend von Reflexionen des Medialen und des Kognitiven entworfen wird. »Vielleicht also überleben beispielsweise die Romane als Texte, deren Schreiben den Entwurfscharakter problematischer kognitiver Aktivitäten paradigmatisch entfaltet. [...] Damit könnten neue/alte Spielräume einer transitorischen Inszenierung anthropologischer Potentiale, einer sinnlichen Materialität, etwa in Form der ›Körperphantasie‹, freigeschrieben werden. Dies aber hätte unter den Bedingungen moderner Techniken zu geschehen.« 13
Rolf Dieter Brinkmann ist der Vermittler zwischen der US-amerikanischen Szene und der deutschen Pop-Literatur. An seinen Arbeiten lässt sich nachvollziehen, wie Schrift und Literatur als medienästhetische Reflexionen und Praktiken im Horizont einer postmodernen Pop-Kultur unternommen werden und wie sie zugleich symptomatisch für das Imaginäre einer Medienkultur im Zeitalter der Technobilder sind.
11 C. Schärf: Der Roman im 20. Jahrhundert, S. 192. 12 Ebd., S. 194. 13 K.L. Pfeiffer: »Dimensionen der ›Literatur‹«, S. 757.
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5.1.2 Popliterarische Erkundungen (trans-)medialer Dimensionen der Schrift. Rolf Dieter Brinkmann Im Prozess der Rekonfigurationen von Technik, Wissenschaft und Kultur, wie sie sich in den sechziger und siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts vollziehen, entwickelt Rolf Dieter Brinkmann (1940-1975) 14 intermediale Formen der Schrift, die sich als Kristallisation seiner Reflexionen von Medialität und Literatur verstehen lassen. 15 Seine Arbeiten an den Grenzen von Sprache, Schrift und Literatur sind Symptome eines fundamentalen Wandels des Mediensystems, der Wahrnehmungsmuster und Repräsentationsweisen. Das Phänomen der Bildlichkeit steht im Zentrum der Arbeiten Brinkmanns, und schon darin sind sie Symptom einer massenmedialen Kultur des Audiovisuellen, wie Vilém Flusser es mit dem Begriff der Technobilder benennt. In der Reflexion des Bildlichen werden phänomenologische, mediale und kognitive Perspektiven zusammengeführt und finden ihren ersten Ausdruck im »Neuen Realismus« der Kölner Schule, in deren Umfeld Brinkmann 1962 an die Öffentlichkeit tritt, 16 einer an filmischen Mitteln und den Techniken des Nouveau Romans orientierten Schreibweise der Aufzeichnung von Alltagsrealität – wie auch Georges Perec zu Beginn seiner literarischen Aktivitäten sich mit der Frage eines neuen Realismus auseinandersetzte und in Abgrenzung zum Nouveau Roman nicht in Richtung einer Nachbildung medialer Bildtechniken ging, sondern ausgehend von phänomenologischen Reflexionen Experimentalisierungen der Ordnungsmuster der Schrift unternahm. Brinkmann distanziert sich von diesem, wie er sagt »aus Werbegründen« 17 erfundenen Schreibprogramm des Neuen Realismus der Kölner Schule, radikalisiert aber seine Auseinandersetzung mit den Medien Film und Fotografie und entwickelt unterschiedlichste Schreibweisen, die das Zusam14 Bezüglich eines Überblicks über die Forschung zu Rolf Dieter Brinkmann siehe folgende Beiträge: Sibylle Späth: Rolf Dieter Brinkmann, Stuttgart 1989; Rolf Dieter Brinkmann. Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur 71 (1981); M. Brinkmann: Rolf Dieter Brinkmann; Gunter Geduldig/M. Sagurna (Hg.): Too much — das lange Leben des Rolf Dieter Brinkmann, Aachen 1994; Ursula Schlüssler/Gunter Geduldig (Hg.): /:Vechta! Eine Fiktion!/. Der Dichter Rolf Dieter Brinkmann. Ausstellungskatalog, Osnabrück 1996; Gunter Geduldig/Claudia Wehebrink: Bibliographie Rolf Dieter Brinkmann. Verzeichnis der veröffentlichten Druckschriften — Primär- und Sekundärliteratur, Bielefeld 1997; Gudrun Schulz/Martin Kagel (Hg.): Rolf Dieter Brinkmann. Blicke ostwärts — westwärts. Beiträge des 1. internationalen Symposions zu Leben und Werk Rolf Dieter Brinkmanns. Vechta 2001. 15 Siehe dazu auch Petra Gropp: »Rolf Dieter Brinkmann. »... und tarnen das ganze als Kunst!« Intermedialität als Strategie der Schrift im Prozess kultureller Rekonfigurationen«, in: C. Schärf (Hg.), Schreiben, S. 175-193. 16 Brinkmann tritt mit der Erzählung »In der Grube« in der von dem damaligen Kiepenheuer&Witsch-Lektor Dieter Wellershoff herausgegebenen Anthologie »Ein Tag in Stadt« an die Öffentlichkeit. Dieser Text wie auch andere Erzählungen sind abgedruckt in dem Band: Rolf Dieter Brinkmann: Erzählungen. In der Grube. Die Bootsfahrt. Die Umarmung. Raupenbahn. Was unter die Dornen fiel, Reinbek b.H. 1985. 17 Rolf Dieter Brinkmann: Briefe an Hartmut 1974-1975, Reinbek b.H. 1999, hier S. 126. Im Folgenden im Text zitiert mit der Sigle »BaH« und Seitenzahl.
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menspiel von Sprache und Wahrnehmung, Wörtern und Bewusstseinsvorgängen, Schrift und Kognition erkunden: »Was passiert denn in einem noch so scheinbar winzigsten Augenblick? Wie sind da die Vorgänge? Welche Wörter steuern die Wahrnehmung?« (BaH, 74) Ziel ist: »Aufzeigen und Verändern einer Schaltung im Kopf« (BaH, 57). Brinkmanns erste Erzählungen sind als »großes Wortgeflecht« 18 angelegt, als begriffliches, motivisches, bildliches Assoziationsgefüge, das nicht über die Logik der Erzählfolge funktioniert, sondern die als assoziative gedachte Bewusstseinstätigkeit nachbildet. Wörter werden zu Auslösern von Bildvorstellungen, in medientechnischer Hinsicht vergleichbar Flussers Idee von der Transformierung unanschaulich gewordener Begriffe in Technobilder, hinsichtlich der Vorstellung von Medialität vergleichbar wahrnehmungspsychologischen Reiz-Reaktions-Schemata. Diese Auflösung des Wortes in eine bildliche Wahrnehmungsszene führt exemplarisch das Gedicht »Schnee« 19 vor, das Geschriebene wird Auslöser eines Imaginationsereignisses: »Schnee: wer / dieses Wort zu Ende / denken könnte / bis dahin / wo es sich auflöst / und wieder zu Wasser wird // das die Wege aufweicht / und den Himmel in / einer schwarzen // blanken Pfütze/spiegelt, als wär er / aus nicht rostendem Stahl // und bliebe / unverändert blau.«
Zur Fokussierung dieser bildgenerierenden Potenziale der Schrift greift Brinkmann auf Traditionen der Bildenden Kunst zurück, die Evokation phantastischer Vorstellungen im Surrealismus oder das fixierte Bild im Stillleben, und nähert sich darüber einer fotografischen Ästhetik, wie es im Vergleich der Gedichte »«Le fils de l’homme»« (St., 322), »Nature morte« (St., 50) 20 und »Photographie« (St., 52) deutlich wird: «Le fils de l’homme» Der Mann sieht einen Apfel.
18 Brinkmann erläutert in einem Nachwort zu seinen Erzählungen: »Ich hatte beim Schreiben die Vorstellung eines Ineinander- und Umeinanderkreisens, die Vorstellung von einem großen Wortgeflecht, das die wechselseitige Durchdringung von Bewußtsein und passiver Aufnahme, von Gegenwart und Erinnerung deutlich machen sollte. Dazu mußte die übliche Ordnung der Syntax mitunter aufgegeben werden. Innerhalb des Satzes ließ ich mehrmals die sprachliche Gebärde vom Schreiber auf die Person und zurück auf die Handlung überwechseln. Dabei ergaben sich notwendige Wiederholungen, Überschneidungen und Worthäufungen.« R.D. Brinkmann: Erzählungen, S. 409. 19 R.D. Brinkmann: Standphotos, S. 40. Im Folgenden im Text zitiert mit der Sigle »St.« und Seitenzahl. 20 Siehe auch die Gedichte »Schlaf, Magritte« (Rolf Dieter Brinkmann: Westwärts 1&2. Gedichte, Reinbek b.H. 1999, S. 32) und »‹Le fils de l‘homme›« (St., 322), die eine surrealistische Bilderwelt in die Sprachbewegung transponieren. Diese ausgehend von Grenzphänomenen der Malerei entstandenen Gedichte, wie bspw. »Nature morte« (St., 50), gehen über die Untersuchung des poetischen Potenzials von Sprache, bildkünstlerische Phänomene in literarische Muster umzusetzen, hinaus, sie reproduzieren mit sprachlichen Mitteln einen vergleichbar ambivalenten Status der Repräsentation, ein semiotisches Oszillieren zwischen »realistischen« und phantastischen Beschreibungen, Vorstellungen und Imaginationen.
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SZENEN DER SCHRIFT Der Apfel ist grün. (Weil dieser Apfel vollkommen grün ist, kriegt der Mann den Apfel aus seinem Gesicht nicht wieder weg.)
Nature morte
Photographie
Ein Hund, der stillsteht, ohne Gesicht. Ein Apfel ist verfault. Die Zeitung von gestern.
Mitten auf der Straße die Frau in dem blauen Mantel.
Schrift wird – im Rückgriff auf die kulturellen Konventionen der Bildenden Kunst oder die neueren Diskurse der Fotografie – zum Medium des VorAugen-Stellens einer Szene, bei gleichzeitigem Verweisen auf den Prozess der Medialisierung durch die medialen Brüche zwischen den im Titel genannten Medientechniken und der Schrift. Das Medium der Fotografie wird in seiner Technik des Snap-shot zu einem Modell, in dem Wahrnehmung, Medialität und Welterzeugung in der Idee momenthafter Verkörperungen bildlicher Szenen zusammengeführt werden, das zugleich als medienkulturelles Modell einer durch augenblickshafte und hybride Bildfolgen geprägten Umwelt funktioniert: 21 »Kurzzeitgedächtnisszenen — — — ›epiphanien‹ manchmal, wie das dann bei Joyce heißt [...] und die Frage ist ja, ob in diesem gegenwärtigen Zivielisations und Kulturzustand ein sogen. Langzeitgedächtnis überhaupt noch nötig und nützlich 22 ist!!!?« (BaH, 75)
Diese Poetik des Snap-shot liegt auch der Idee der I-do-this-I-do-thatGedichte Frank O’Haras zugrunde, die Brinkmann ins Deutsche überträgt 23 und die Vorbild der Alltagsgedichte und einer Ästhetik »direkten« Aufschreibens, Notierens und Skizzierens sind, der Inszenierung eines präsenti21 Zu Snap-shot und Augenblicksästhetik siehe Bruno Hillebrand: Ästhetik des Augenblicks. Der Dichter als Überwinder der Zeit — von Goethe bis heute, Göttingen 1999; zu Brinkmann das Kapitel: »Endspiel und Postmoderne. Alles geht und nichts entgeht der Beliebigkeit. Vom Augenblick zum Mausklick«, S. 138-147. Ergänzend Burglind Urbe: Lyrik, Fotografie und Massenkultur bei Rolf Dieter Brinkmann, Frankfurt/M. 1985. 22 Die Zitate Brinkmanns, in denen Interpunktion, Typografie und grammatikalisch eigenwillige Schreibungen zu einem Charakteristikum des Textes werden, sind in der Form des Originals bzw. einer dieser nachgebildeten Gestaltung wiedergegeben und im vom Fließtext abgesetzten Zitat nicht voin Anführungszeichen umschlossen; ebenso werden zitierte Gedichte nicht in Anführungszeichen gesetzt. 23 Siehe den von Brinkmann herausgegebenen und übersetzten Band: Frank O’Hara: Lunch Poems und andere Gedichte. Aus dem Amerikanischen übersetzt und mit einem Essay von Rolf Dieter Brinkmann. Einleitung von Ted Berrigan, Köln 1969. Siehe darin auch den einleitenden Essay Rolf Dieter Brinkmanns: »Die Lyrik Frank O’Haras«, S. 62-75.
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schen »Hier« und »Jetzt«, wie es eines der prägenden Merkmale der PopLiteratur ist: 24 Gedichte, die »eigentlich nicht die Tendenz haben, mehr zu sagen, als sie sagen, wirklich, als das, was auf dem Blatt Papier steht, für einen Moment« (BaH, 58). Dieser Inszenierung einer Augenblickswahrnehmung liegt eine argumentative Verbindung von Medientechnologie und Kognition zugrunde, die über die Erfahrungsdimension geschaffen wird. Diese Vorstellung von medial evozierten, momenthaften Erfahrungen basiert auf Modellen von Bewusstseinstätigkeiten, die neurophysiologische Prozesse als elektrische Ströme denken – die Wirkung von Musik »hängt wohl mit Schwingungen und Gehirnwellen zusammen!« (BaH, 92) – oder als Leinwand, auf die Bilder und Vorstellungen projiziert werden, derart dass Gedichte als Projektionstechnologien verstanden werden, »›Schnappschüsse‹ des Augenblicks, (was über den Bildschirm des Bewußtseins geht)« (BaH, 125). Musik, Fotografie und Film sind die Modelle der medialen Erschließung neuer sinnlicher Potenziale, analog den Drogen zur Öffnung der »doors of perception« gedacht. Um Schrift zu einer vergleichbaren Bildtechnik zu machen, wird der Blick einerseits auf die Materialität des Mediums gelenkt und andererseits auf die Phänomenologie der phantastischen Bildwelten. Es ist die Inszenierung des Technischen der B-Movies, dieser »oft rohen, ungebrochen gemachten Filme« (BaH, 41), die Brinkmann als Ursprung des Befremdlichen in der Aufzeichnung alltäglicher Details erscheint und daher für ihn die Intensität des Eindrucks ausmacht und das er in der Schrift durch den Zeilenumbruch und das Druckbild seiner Gedichte darstellt, deren materiale Ebene er somit in den Vordergrund rückt: »Ich wollte wirklich einen rohen, unmittelbaren Effekt haben, und keinen Kunsteffekt, der dann Kunst so vorne rausstellt.« (BaH, 41) 25 Das Schreiben in Bildern, so Brinkmanns Programm 26 – das an Flussers »Philosophieren in Bildern« erinnert – stellt die Materialität der Schrift heraus und macht die Verkörperungstechnik der Schrift zu einer den Technobildmedien vergleichbaren Projektionstechnologie des Phantastischen und Imaginären, wie Fiedler es mit dem Zuhausesein im Reich der Technologie 24 Siehe: Ecklhard Schumacher: Gerade Eben Jetzt. Schreibweisen der Gegenwart, Frankfurt/M. 2003. Zu Brinkmann das Kapitel: »›...jetzt, jetzt, jetzt ad infinitum!‹ Rolf Dieter Brinkmanns Poetologie«, S. 57-109. 25 Früh fasziniert von amerikanischen B-Movies, wie bspw. den Streifen Russ Meyers, und von den filmischen Experimenten Andy Warhols unternimmt Brinkmann eigene Versuche mit der 8mm-Kamera, es entstehen die Kurzfilme »Atomic Man«, »Tot« und »Portrait« und unzählige Fotoschnappschüsse für einen geplanten Fotoroman. 26 Weitere technische und ästhetische Phänomene der Medien Film und Foto, die Brinkmann in literarische Experimente umsetzt, lassen sich in dem Prosastück »Picadilly Circus« nachvollziehen, welches Formen eines »Schreibens in Bildern« fortsetzt. Der Text ist Andy Warhols achtstündigem, mit feststehender Kamera aufgenommenem Film »Empire« nachempfunden und zeichnet in Quasi-Echtzeit einen die Reklamewände entlanggleitenden Blick nach, in: Rolf Dieter Brinkmann: Der Film in Worten. Prosa. Erzählungen. Essays. Hörspiele. Fotos. Collagen. 1965-1974, Reinbek b.H. 1982, S. 65-71. Nicht in Form einer »Bildbeschreibung«, sondern in der Oszillation der Referenzebenen setzt das Prosastück »Der Auftrag« (in: ebd., S. 54-60) Andy Warhols filmische Ästhetik um, denn der Text lässt nicht erkennen, inwieweit es sich um eine drehbuchähnliche Beschreibung einer Filmszene, eine rein imaginierte Handlung oder die Beobachtung eines realen Geschehens handelt, so zum Beispiel in der Nachstellung der berühmten Duschszene aus Hitchcocks Film »Psycho«.
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und des Wunders formuliert hatte und wie Brinkmann es mit Blick auf Andy Warhols Film »Chelsea Girls« beschreibt: »Beim ›Leben‹ mit diesem Film (während er abläuft) löst sich unmerklich das vorgegebene Empfinden von der angenommenen eigenen Realität auf — die Unterscheidung, was imaginär ist, das auf der Leinwand Projizierte oder man selbst, verwischt sich [...] in einer permanenten Fluktuation scheint mal das außen Gezeigte auf der Leinwand, mal man selber imaginär [...].« 27
In dem Gedicht »Einfaches Bild« (St., 124) setzt sich das beispielsweise so um, dass Schrift in der Inszenierung als Filmstreifen, den Leseblick vertikal dynamisierend, zu einem »Film in Worten« wird, eine Bildfolge auf den »inneren Bildschirm« projizierend zu einem »Gehirn‹film›« (BaH, 74). Das Gehirn nicht nur als mediale Oberfläche, als Leinwand, denkend, sondern zugleich als affektives Organ, wird die als filmische in Szene gesetzte Schrift zum »Erlebnisgedicht« und »Bewußtseinsgedicht« (BaH, 49), das auf die physische, kognitive Lebendigkeit zielt: »Gegenwart und Sinnlichkeit und Lust« (BaH, 74). Einfaches Bild Ein Mädchen in schwarzen Strümpfen schön, wie sie herankommt ohne Laufmaschen. Ihr Schatten auf der Straße ihr Schatten an der Mauer. Schön, wie sie fortgeht in schwarzen Strümpfen ohne Laufmaschen bis unter den Rock.
27 In der Kölner Rundschau vom 28.12.1968; zit. nach S. Späth: Rolf Dieter Brinkmann, S. 36.
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Das sinnliche Moment wird, wie in Brinkmanns Popgedichten – den Film-, Star- und »Comic Gedichten« (BaH, 130) insbesondere des Gedichtbands »Piloten« – deutlich, den technisch generierten Bildern und Slogans der Massenmedienkultur zugeschrieben, den imaginären Welten der Pop-Ikonen aus Zelluloid und Agfacolor. Es ist die Werbe- und Hollywoodästhetik, welche in der Pop-Kunst nachgebildet wird, die Serialität apparativ reproduzierter Images, die sich in Gedicht-Titeln wie »Cinemascope«, »Von Walt Disney«, »Von C&A«, »Populäres Gedicht Nr. 11«, »Synthetisches Gedicht 7.2. 1968«, »Ra-ta-ta-ta für Bonney & Clyde etc.« niederschlägt.28 Brinkmann schließt hier eng an Leslie A. Fiedler an und ergreift in der Debatte, die sich im Anschluss an die Veröffentlichung des Aufsatz »Überquert die Grenze, schließt den Graben! Über die Postmoderne 1969« entwickelt, als einziger für Fiedler und die neue Pop-Kunst Partei. In dem Beitrag »Angriff aufs Monopol. Ich hasse alte Dichter« erklärt Brinkmann, Pop meine jene Sensibilität der schöpferischen Produkte, die den »jetzt erreichten Stand der technisierten Umwelt […] als ›natürliche Umwelt‹« 29 nimmt: »Stochern Sie einfach im Gerümpel herum, vielleicht finden Sie da die Antwort« (ACID, 389). Pop meint die mediale und ästhetische – auf Wahrnehmung, Gestaltung und Affekte zentrierte – Praxis der subversiven Aneignung und Transformation der in den Massenmedien zirkulierenden Zeichen und Bilder. 30 Medien werden als Techniken zur Erzeugung imaginärer, phantastischer und ästhetischer Welten, zugleich als Techniken zur Erzeugung affektiver Erregungen gedacht, mittels derer sich direkt auf die Physiologie des Körpers, die sinnlichen und kognitiven Prozesse einwirken lasse. Brinkmann entwickelt unterschiedlichste intermediale Verfahren, um Literatur analog der filmischen und technoimaginären Ästhetik zu einer subversiven Einübung in die elektronisch-medientechnisch generierten Oberflächen zu machen. In dem Gedichtband »Godzilla« (St., 161-182) beispielsweise druckt Brinkmann, inspiriert von Tom Clark, erotische, sich der dirty speech bedienende Gedichte auf Plakate für Unterwäschenwerbung und benennt diese Serie nach »Godzilla«, dem Trash-Monster aus japanischen Animationsfilmen. Diese »›optisch‹ orientierten Gedichte« (BaH, 126) funktionieren als Imaginationsreiz; die nach dem Hollywood- und Peepshow-Muster organisierte mediale
28 Brinkmann wird zum Vermittler der amerikanischen Underground-Szene in Deutschland insbesondere durch Übersetzungen und die Herausgabe der Anthologie »ACID. Neue amerikanische Szene« (im Folgenden mit der Sigle »ACID« abgekürzt), die Künstler und Theoretiker von Pop und Postmoderne wie Marshall McLuhan, William S. Burroughs, Andy Warhol, Künstler der New York School und des Black Mountain College versammelt. In einem einleitenden Essay »Der Film in Worten« (ACID, 381-399) stellt Brinkmann detailliert die Literatur, die Arbeiten der Kunstszene und die gesellschaftspolitischen Ideen vor, erklärt die die Kunstformen überschreitenden Strategien der Subversion, wie zum Beispiel die Technik des plagiarism, »mach es neu und setz deinen Namen darunter«, den Aktionismus als Praxis der Kunst (bspw. »dial a poem«) zielend auf »neue Denk-, Hör-, Seh- und Empfindungsweisen« (ACID, 396), weist im Besonderen auf die Reaktualisierung avantgardistischer Praktiken hin, die über die amerikanische Transformation unter den Bedingungen der Massenmedienkultur nach Europa reimportiert werden. 29 Rolf Dieter Brinkmann: »Angriff aufs Monopol. Ich hasse alte Dichter«, in: U. Wittstock (Hg.), Roman oder Leben, S. 65-77, hier S. 71. 30 Zu Rolf Dieter Brinkmann und Pop-Kultur siehe J. Schäfer: Pop-Literatur.
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Oberfläche wird durch die Sprache sowohl unterstützt als auch durchkreuzt durch Assoziationen, die diese obszönen Bilder unterlaufen. »[…] Er fickte sie von hinten in den Kopf und sie hatte die Vision von einer Kuh, die auf der Spitze eines Berges steht, kurz bevor die Sonne endgültig untergeht.« (Romanze II, St., 175)
Brinkmann entwickelt in den in dem Band »Standphotos. Gedichte 19621970« zusammengefassten Gedichten die unterschiedlichsten Gestaltungen der Interaktion von Bild und Text. 31 Die Gedichte praktizieren den »Einstieg in die Oberfläche der Bilder« 32 , entsprechend dem Schlagwort »Aktion ist mitten-in-dem-Bild-sein«, 33 insbesondere jene Gedichte, die sich durch ihren »ikonografischen Charakter« auszeichnen – »das bezieht sich auf die strukturelle Eigenart [der] Gedichte, die in kleinen überschaubaren Szenen geschrieben sind ... ruckweise ... in geschlossenen Bildpartikeln, ein Comic, der sich immer weiter fortsetzt [...].« 34 Diese »gesamtpersönliche Beteiligung« 35 des Mitten-in-dem-Bild-Seins ist als Überlebensstrategie zu begreifen, denn »wir leben in der Oberfläche von Bildern, ergeben diese Oberfläche, auf der Rückseite ist nichts – sie ist leer [...].« 36 In eindringlichen Formeln beschwört Brinkmann die veränderte Praxis einer Existenzform in Jetzt-Zeit: »Das geringste Nachlassen der Aufmerksamkeit führt zum Tod [...].« 37 Diese als Einübung in medial strukturierte Existenzweisen formulierte Verschränkung von Medientechnologie, Wahrnehmungs- und Bewusstseinstechnik erweist sich als symptomatisch für eine experimentalkulturelle Szene, 31 Von den Gedichten »Kaffeetrinken (1)« (St., 306), »Kaffeetrinken (2)« (St., 307) und »Liedchen« (St., 212) existiert neben der Textfassung eine Umsetzung in comichafte Zeichnungen, in welchen die Handschrift zu einem eigenständigen grafischen Element auf der zur Leinwand gewandelten Papierseite wird und dazu beiträgt, dem Text neue sinnliche Qualitäten zu eröffnen. In seinen Gedichtband »Die Piloten« (St., 187-280) integriert Brinkmann ComicStrips, welche das Eindringen der Kitschcomics in das Gebiet der Hochkultur ironisch aufgreifen und die Resistenz der Kitschleute gegen die Realität des Todes thematisieren. Unter die Kategorie der Comic-Gedichte fällt auch die Nacherzählung eines Undergroud-»Comix«, das Batman-Gedicht »Comic No. 2« (St., 266f.), welches mit den Zeilen beginnt: »Hinter den / Wänden von / Gotham-City // wird schwer / gewichst. / Jeder für sich / und Batman und / Robin für uns alle. // […]«. Es »bezieht sich auf den Schwulensex der SupermanBatman-Comicserie« (BaH, 131), bringt in der Ironisierung des amerikanischen Heldenbildes auch eine politische Protesthaltung — in Zeiten des Vietnamkrieges — zum Ausdruck. 32 Rolf Dieter Brinkmann: »Notizen 1969 zu amerikanischen Gedichten und zu dieser Anthologie«, in: ders. (Hg.), Silverscreen. Neue amerikanische Lyrik, Köln 1969, S. 8-32, hier S. 12. 33 R.D. Brinkmann: »Die Lyrik Frank O’Haras«, S. 63. 34 Ebd., S. 79f. 35 Ebd. 36 Ebd., S. 69. 37 Ebd., S. 66.
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die das Funktionieren der Medien und der Kognition analog denkt – die ursprünglichen Konnexionen von Kybernetik und Kognitionsforschung sind noch herauszuhören: 38 »Gedanken und Bilder im Kopf werden ja auch durch elektrische Stromstöße oder besser mit elektr Impulsen über die Hirnrinde gejagt – also mit Lichtgeschwindigkeit, elektrizitätsgeschwindigkeit« (BaH, 137). Diese Konnexion wird zum Zielpunkt eines auf das Affektive und das Erleben ausgerichteten Schreibens: »Der spätere Kampf um das eigene Bewusstsein geht darum, inwieweit die Barrieren der Wörter durchbrochen werden können, und damit die in Sprache fixierten Sinnzusammenhänge, bis in die eigene Vergangenheit zurück. // Das ist die neue Grenze, man könnte auch sagen der neue Westen, es ist die Grenze, sich mit dem 39 Gehirn zu beschäftigen, die Programme, die verbal sind.«
Das Gehirn als Ort der Verarbeitung sinnlicher Wahrnehmung, als Organ der Imaginationskraft und als Speicher eingeschriebener Gedächtnisbilder wird zum Ziel der medialen Praxis. Um – in Anlehnung an Marshall McLuhan und R.D. Laing – die »Auswirkungen der neuen technischen Apparate« 40 auf das Bewusstsein zu erkunden, wird William S. Burroughs experimentelle Tonband-Methode – das Aufnehmen, Zerschneiden und Umstellen gesprochener Sprache, das zu einem Aufbrechen und kreativen Gestalten von Wahrnehmungsmustern und Bewusstseinstätigkeiten führen soll – 41 zu einer wegweisenden Praxis für die anvisierten »Ausbrüche in eine unbekannte psychische 38 Das diesen Vorstellungen einer Verschaltung von Sprache und Kognition zugrunde liegende Bild des Gehirns und seiner Funktionen, welches an dieser Stelle noch vage und rein intuitiv formuliert scheint, wird später durch die Schriften R.D. Laings, Wilhelm Reichs und anderer in den schziger Jahren populärer Wissenschaftler fundiert und konkretisiert. An dieser Stelle wird deutlich, wie die wissenschaftliche Perspektive, hier auf die Neurophysiologie rekurrierend, die Sprachkonzeption und damit den Entwurf von Literatur als Präsentation sprachlicher Prozesse beeinflusst. Das aus beispielsweise den Schriften des »Nerven-Experten Holger-Hydén« entnommene Wissen über das Funktionieren des Gehirns, über die Veränderungen der chemischen und molekularen Strukturen durch ein Erlebnis, auf das sich Brinkmann in einem »Nachtrag zu dem Gedicht über Graham Bonney etc.« (St., 279-280) bezieht, wird im Hinblick auf eine Kunst fruchtbar gemacht, deren Ziel es ist, auf eben diese kognitiven Bereiche direkt einzuwirken. Erinnerung, verstanden als ein »nebelhafter Abtast-Mechanismus«, finde veränderte molekulare Strukturen wieder, umgekehrt seien die »Verknüpfungen von tausend Zusammenhängen — sozialen, psychologischen, historischen, biographischen, geographischen — im Bewusstsein« durch gezielte Sprach- und Bildprojektionen manipulierbar. Die Verschränkung von Medientechnologie und Bewusstseinstechnik ist in den in ACID veröffentlichten Texten »Die neuen Mutanten« von Leslie A. Fiedler (ACID, 16-30) und »Akademie 23 — eine Entwöhnung« (ACID, 363-366) sowie »Die unsichtbare Generation« von William S. Burroughs (ACID, 166-173) vorgezeichnet und wird im Slogan vom »›break-down‹ als ›break-through‹« (R.D. Brinkmann: »Notizen 1969«, S. 12) zugespitzt. 39 Rolf Dieter Brinkmann: »Notizen und Beobachtungen vor dem Schreiben eines zweiten Romans (1970/74)«, in: ders., Der Film in Worten, S. 275-296, hier S. 276. 40 R.D. Brinkmann: »Angriff«, S. 72. 41 Die schon genannte Tonband-Theorie beschreibt Burroughs in seinem Aufsatz »Die unsichtbare Generation« (ACID, 166-173). Siehe dazu vergleichend Andy Warhols Wahrnehmungsexperimente mit zwei Filmspulen, beschrieben von Gregory Battcock: »Vier Filme von Andy Warhol« (ACID, 294-307).
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SZENEN DER SCHRIFT
Dimension: ungezielte Vorstöße von Kosmonauten des Inneren in ein anderes Land«. 42 Zur Aufgabe der Literatur wird »die Eroberung des Inneren Raums: durch ein Abenteuer des Geistes, die Erweiterung der psychischen Möglichkeiten des Menschen«. 43 »Die Zukunft der schriftstellerischen Tätigkeit liegt nicht in der Orientierung an der Zeit, sondern am Raum.« 44 Schreiben wird zu einer Praxis der Experimentalkultur, in der Erlebnisweisen als phantastische erfahren werden und Technologie und Imagination sich zu einer der Science-Fiction ähnlichen Szene verbinden. 45 »Traum« und »Raumfahrt« werden zu kulturellen Metaphern, um das Irreale, das imaginäre Potenzial der Umstrukturierung der Interpretationswelten zu benennen. »Noch nie hat es eine Zeit gegeben in der die naivsten wie die gebildetsten Geister sich so deutlich bewußt waren, daß die Vergangenheit droht, jeden Augenblick aus der Gegenwart zu entschwinden, die ihrerseits im Begriff scheint, in die Zukunft zu enteilen.« 46 Verstärker, Tonbandgerät und Xerox sind die Medientechniken der neuen Chronotopologie, Medien der seriellen Reproduktion, Zeit-und-Raum-Maschinen, transmediale Cut-up-Technologien, sind die technischen Apparate der neuen Kunst. Die aus der Collage der Bildenden Kunst und der Montage des Films entlehnte Cut-up-Technik wird zu einer transmedialen Praxis der Schrift: »Zerschneiden und Umstellen geschriebener Worte gibt dem Schreiben eine neue Dimension, die es dem Schreiber ermöglicht, Bilder in kinematischer Variation auftreten zu lassen. Unter der Schere verlagern Images ihren Sinn, Geruch und Bilder werden zu Sound, Licht wird zu Sound, Sound verwandelt sich in etwas Bewegliches.« 47
Ziel ist, die von konventionellen Bildern und Ordnungsmustern der Sprache und Schrift konditionierten Wahrnehmungen, Bewusstseinsprozesse und Erlebniswelten zu reorganisieren: »Ich habe mich bemüht, das zwanghaft sich einstellende Wort auszulöschen und es zu ersetzen durch das freigewählte Image erfahren als Illusion ist nichts wahr also alles erlaubt.« 48 Brinkmann inszeniert Formen der Schrift als Bewusstseinstechnologie, neben den Gedichten insbesondere den Essay, den er als Zusammenschneiden heterogener und konträrer Sprachszenen und Bildeindrücke beschreibt: »Das Buch in Drehbuchform ist der Film in Worten«. 49 Filmische Medien42 R.D. Brinkmann: »Angriff«, S. 76. Brinkmann übernimmt diesen Hinweis auf die Forschungen R.D. Laings aus Leslie A. Fiedlers Essay »Die neuen Mutanten« (ACID, 16-30). 43 R.D. Brinkmann: »Angriff«, S. 76. 44 William S. Burroughs: »Die Zukunft des Romans«, in: J. Schröder (Hg.), Mammut, S. 145-146, hier S. 146. 45 Leslie A. Fiedler beschreibt in seinem Essay »Die neuen Mutanten«(ACID, 1630) die Entwicklung aller Formen von Pop-Kultur zu Science-Fiction, bezieht auch veränderte politische und soziale Praktiken mit ein. 46 R.D. Brinkmann: »Angriff«, S. 75. 47 William S. Burroughs: »Die Cut-up-Methode des Brion Gysin«, in: Marcel Beyer/Andreas Kramer (Hg.), William S. Burroughs, Eggingen 1995, S. 15-28, hier S. 15, 17. 48 William S. Burroughs; zit. in: »Anmerkungen, Materialien, Nachweise. Zusammengestellt von Ralf-Rainer Rygulla«, ACID, S. 400-415, hier S. 403. 49 R.D. Brinkmann: »Der Film in Worten« (Anm. 28), S. 381. Mittels diverser Strategien praktizieren medial hybride Formen wie der mit Bildern durchsetzte
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5. MEDIENÄSTHETIK DER POP-LITERATUR. RAINALD GOETZ
technologie wie Modelle des Kybernetischen stehen Pate für die Idee des Essayistischen, das Brinkmann als »ein zärtliches Treiben von winzigen Lichtpunkten auf einer Schalttafel« 50 und somit als adäquate Äußerungsform des elektronischen Zeitalters setzt. Im Bild der Schalttafel verbindet er Medialität und Kognition, beschreibt den Essay als mediale Simulierung und Stimulierung von Bewusstseinsprozessen, als technoide Organisation der Imagination, 51 als Organisation phantastischer Lebenswelten – »und tarnen das ganze als Kunst!«. 52 Diese Bezeichnung einer Gangsterstrategie verdeutlicht, dass es nicht mehr um Literatur und Kunst geht, wie Brinkmann und die gesamte Pop-Kunst immer wieder unterstreichen, sondern dass Schrift als mediale Praxis im Horizont einer ästhetischen Theorie verstanden wird. Zentrale Verkörperungsformen von Schrift als Bewusstseinstechnik sind Gestaltungen des »Wort&Bild-Delirium[s]«, 53 das kognitive Zusammenbrüche in Szene setzt. Elliptische, asyntaktische und asemantische Fügungen von heterogenem Sprachmaterial inszenieren schizophrenes Sprechen, den »›break-down‹ als ›break-through‹«, grafische Zeichen wie Schrägstriche, drei Pünktchen, Klammern markieren den medien- und bewusstseinstechnischen »Cut«: »[...] während hierzulande oft genug von literarischer Kritik her betont wird, daß der Autor soundso soundso lange an seinen Sätzen gearbeitet habe (haha!): das Irrenhaus im Kopf hat wenigstens eine Hausordnung? ›Ordnung! Ordnung! Papa is coming... ‹ (Theodore Roethke) ... die schöne Eleganz des Verrückten ... ›Seriously I have this mental (smuh!) illness / which causes me to do things‹« (Ron Padgett)...« 54
Das Arbeiten an den Grenzen von Verständlichkeit, Lesbarkeit und Sichtbarkeit erscheint als Gangsterstrategie im Kampf gegen die Wahrnehmung, Bewusstsein und Körperverhalten strukturierenden audiovisuellen Technologien der Massenmedien. Dieses Modell findet seine Veranschaulichung in Bildern und Szenen wie kollabierende Gehirnzellen, 55 die »mind parasites«, »modju«, 56 »NovaViren«, die sich einer Zuordnung zu wissenschaftlichen oder fiktionalen Konzepten entziehen.
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Essay oder das aus Textteilen, Bildern, Gedichtfragmenten, Zeitungsausschnitten zusammengeklebte Collage-Gedicht das Zerschneiden der Wörter und Vorstellungsbilder; siehe exemplarisch Rolf Dieter Brinkmann: »Vanille. Für Linda Maleen Ulrike 1969«, in: J. Schröder (Hg.), Mammut, S. 106-140. R.D. Brinkmann: »Der Film in Worten« (Anm. 28), S. 388. Christian Schärf beschreibt das Essayistische, wie es in de