Das Schibboleth der Psychoanalyse: Freuds Passagen der Schrift [1. Aufl.] 9783839408773

Der vorliegende Band fragt unter dem titelgebenden Stichwort des »Schibboleths« nach den Zugangsmöglichkeiten zur Psycho

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Das Schibboleth der Psychoanalyse: Freuds Passagen der Schrift [1. Aufl.]
 9783839408773

Table of contents :
INHALT
I. Nach Freud
II. Fünf Frauen. Studien über Hysterie
III. Das Buch der Wünsche. Die Traumdeutung
IV. Listige Mütter und zornige Söhne. König Ödipus
V. Too much in the son. Freuds Hamlet
VI. An der Quelle des Ich. Zur Einführung des Narzißmus
VII. Narziss und Niobe. Trauer und Melancholie
VIII. Im Hades. Jenseits des Lustprinzips
IX. Der dumme August. Das Ich und das Es
X. Unerlöste Geister. Der Mann Moses
Literaturverzeichnis

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Achim Geisenhanslüke Das Schibboleth der Psychoanalyse

Literalität und Liminalität hrsg. v. Achim Geisenhanslüke und Georg Mein | Band 8

2008-04-17 12-33-18 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0336176387417564|(S.

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Achim Geisenhanslüke (Dr. phil.) lehrt Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Regensburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Literaturtheorie, philosophische Ästhetik und vergleichende Literaturwissenschaft.

2008-03-07 09-55-46 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02f3172839204644|(S.

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Achim Geisenhanslüke Das Schibboleth der Psychoanalyse. Freuds Passagen der Schrift

2008-03-07 09-55-46 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02f3172839204644|(S.

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Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2008 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Achim Geisenhanslüke Satz: Christian Steltz Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-877-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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INHALT

I. Nach Freud 7

II. Fünf Frauen. Studien über Hysterie 17

III. Das Buch der Wünsche. Die Traumdeutung 31

IV. Listige Mütter und zornige Söhne. König Ödipus 45

V. Too much in the son. Freuds Hamlet 71

VI. An der Quelle des Ich. Zur Einführung des Narzißmus 91

VII. Narziss und Niobe. Trauer und Melancholie 103

VIII. Im Hades. Jenseits des Lustprinzips 115

IX. Der dumme August. Das Ich und das Es 129

X. Unerlöste Geister. Der Mann Moses 139

Literaturverzeichnis 151

I. N A C H F R E U D 150 Jahre nach dem Tod ihres Begründers hat es die Psychoanalyse in Deutschland schwer. »Psychoanalytisches Denken ist aus den Curricula der akademischen Psychologie weitgehend verschwunden« 1 , notiert Rainer Krause in dem im Gedenkjahr 2006 erschienenen Freud-Handbuch. Ähnliches gilt für andere geisteswissenschaftliche Disziplinen wie Philosophie, Soziologie oder Literaturwissenschaft. Konnte Freud lange Zeit weit über den Horizont der Psychologie hinaus als Stichwortgeber für theoretische und empirische Untersuchungen fungieren, so scheint das Potential der Psychoanalyse als allgemeine Kultur- und Literaturtheorie weitgehend ausgeschöpft zu sein. Selbst auf den ersten Blick der Psychoanalyse nahe stehende Denker wie Gilles Deleuze, Félix Guattari oder Michel Foucault haben sich in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts auf programmatische Weise von Freud verabschiedet. 2 Jacques Derridas Aufruf »Vergessen wir nicht die Psychoanalyse« 3 klingt vor diesem Hintergrund wie eine gut gemeinte, alles in allem aber hilflose Erinnerung an die Möglichkeit, dass es in Freuds Denken vielleicht doch noch Momente gibt, die Beachtung verdienten. Schon in seinem appellativen Charakter überantwortet Derridas Geste Freud dem Vergessen, vor dem es die Psychoanalyse gleichzeitig retten will. Das Schweigen, das sich über die Geschichte der Psychoanalyse gelegt hat, ist um so bemerkenswerter, als Freud selbst unter dem platonischen Stichwort der Anamnese eine Theorie des Erinnerns vorgelegt hat, die dem eigenen Anspruch nach dazu prädestiniert ist, Prozesse des Vergessens sinnvoll zu deuten. Freuds ebenso faszinierenden wie umstrittenen Erklärungen zufolge beruht das Vergessen, das die Psychoanalyse nun selbst bedroht, auf einem komplexen Spiel von Widerständen, mit denen die junge Wissenschaft schon in ihren Anfängen zu kämpfen hatte. 1 2

3

Hans-Martin Lohmann/Joachim Pfeiffer (Hg.), Freud-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2006, S. 297. Vgl. Achim Geisenhanslüke: »Freud aus Frankreich. Psychoanalyse und Postmoderne«, in: Kodikas/Code. Ars Semeiotica Volume 23 (2000), S. 275-286. Jacques Derrida: Vergessen wir nicht – die Psychoanalyse!, Frankfurt/Main 1998, S. 7. 7

DAS SCHIBBOLETH DER PSYCHOANALYSE

So hält Freud 1913 in Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung, seiner Kampfschrift gegen Adler und Jung, einleitend fest, »daß es das unvermeidliche Schicksal der Psychoanalyse ist, den Menschen zum Widerspruch zu reizen und zu erbittern« (GS X, 45). Die Rede von der Unvermeidlichkeit und Schicksalhaftigkeit, mit der die Psychoanalyse sich in die Konfrontation mit Widerständen schicken müsse, unterstreicht nicht nur auf dramatische Weise, dass Freud der Welt mit der Psychoanalyse ein Kind geschenkt hat, an dem diese sich nicht so recht erfreuen kann. Der Hinweis auf den unerhörten Reiz zum Widerspruch, der die Genese der Psychoanalyse seit ihren Anfängen begleite, wird darüber hinaus zum Prüfstein des Anspruches der eigenen Theorie, lässt sich doch selbst der Widerspruch gegen die Psychoanalyse auf diese Weise als ihre geheime Anerkennung verstehen. In ähnlicher Weise wie Hegel,4 dem in der Umkehrung von Spinozas Satz, jede Bestimmung sei eine Negation, zugleich alle Negation zur Bestimmung gerät, setzt sich Freud dem Vorwurf aus, er gründe seine Theorie auf eine totalitäre Geste, wenn er gerade den Widerstand gegen die Psychoanalyse zum geheimen Antrieb des psychoanalytischen Denkens erklärt. Am spektakulärsten kommt der Herrschaftsanspruch der Psychoanalyse in der Auslegung der Verneinung zum Ausdruck, wenn der Psychoanalytiker sich die Freiheit nimmt, Aussagen des Patienten geradewegs in ihr Gegenteil zu kehren: »Oder ›Sie fragen, wer diese Person im Traum sein kann. Die Mutter ist es nicht.‹ Wir berichtigen: Also ist es die Mutter.« (GS XIV, 11) Angesichts dieser Vorgehensweise, die keinen Skrupel zu scheuen scheint, gerät die Psychoanalyse unter den Verdacht, noch die erbitterten Gegner durch plumpe Manöver auf die eigene Seite ziehen zu wollen. Wie soll sich selbst der wohlmeinende Skeptiker gegen eine Theorie zur Wehr setzen, die auch in der bestimmten Zurückweisung ihres Wahrheitsanspruches nur die Einstimmung in die geheimen Gesetze der Verdrängung und des Unbewussten erkennen will? Nicht wenigen erscheinen die Winkelzüge des Traumdeuters daher als nichtsnutzige Scharlatanerien und hohepriesterliche Beschwörungsformeln, die jeden Anspruch auf Wissenschaftlichkeit vermissen lassen. Auch für diejenigen, die sich der Psychoanalyse ganz und gar verschließen wollen, hält Freud in seiner Schrift Zur Geschichte der psychoanalytischen Bewegung jedoch ein Abschiedswort bereit: »Ich kann nur mit dem Wunsche schließen, daß das Schicksal allen eine bequeme Auffahrt bescheren möge, denen der Aufenthalt in der Unterwelt der Psychoanalyse unbehaglich geworden ist. Den anderen möge es gestattet sein,

4

Vgl. Jacques Lacan: »Zur ›Verneinung‹ bei Freud«, in: Schriften III, Weinheim/Berlin 1986, S. 173-219. 8

NACH FREUD

ihre Arbeit in der Tiefe unbelästigt zu Ende zu führen.« (GS X, 113) Dass sich, wer mit der Psychoanalyse nichts anzufangen wisse, doch gefälligst zum Teufel scheren solle, scheint nur vordergründig die unverblümte Empfehlung Freuds zu sein. Wenn Freud von der »Unterwelt der Psychoanalyse« spricht, dann wird vielmehr deutlich, dass sich die traditionelle Topik von himmlischer Wahrheitssuche und höllischer Abfahrt in die Tiefe verschoben hat. Auf einer metaphorischen Ebene, die sich all seinen Texten einschreibt, beschwört Freud die Arbeit der Psychoanalyse als die einer archäologischen Tiefenwissenschaft, deren Bohrung nicht nur in die geschichtete Tiefe des menschlichen Charakters, sondern in die Unterwelt als dem Reich der Toten führt. All seine Freunde, so bemerkt Freud in der Traumdeutung in der Erinnerung an einen um ein Jahr älteren Neffen, der seine späteren Bindungen auf entscheidende Art und Weise geprägt habe, seien Inkarnationen dieser ersten Gestalt, »Revenants« (GS II, 487). Was der Psychoanalyse auf ihrem Weg in die Tiefe begegnet, sind eben solche Revenants, Widergänger aus einer Welt, die keine Veränderungen zu kennen scheint und die selbst unzugänglich bleibt. An diesen unbehaglichen und unheimlichen Ort schattenhafter Wesenlosigkeit zu gelangen, ist das ebenso erstrebte wie unmögliche Ziel der Psychoanalyse, ein Unterfangen, das Freuds Technik zugleich mit der Topik literarischer Unterweltsfahrten verbindet. Mit der Erfindung der Psychoanalyse begibt sich Freud in die abgelagerten Tiefenschichten einer Unterwelt, deren Erforschung von der Traumdeutung über Jenseits des Lustprinzips bis zu Der Mann Moses immer wieder aufs Neue beginnt, ohne dass ein ein für alle Mal befriedigendes Ergebnis abzusehen wäre. Der Widerstand gegen die Psychoanalyse resultiert nicht allein aus dem Reiz zum Widerspruch, den Freud früh als Anreiz für die eigene Arbeit diagnostiziert, er resultiert zugleich aus der Angst vor der infektiösen Berührung mit der in der menschlichen Psyche vergrabenen Welt der Toten und dem Wunsch nach einem Leben, das sich von den Gesetzen des Todes frei wissen will. Sich auf Freud einlassen heißt daher noch immer, sich auf die Suche nach einem unzugänglichen Ort zu machen, der Heimat wie Exil der Psychoanalyse gleichermaßen markiert. In dem Maße, in dem die Psychoanalyse sich mit einer Tiefenstruktur auseinandersetzt, die sich jedem offenen Zugang verwehrt, sieht sich die Auseinandersetzung mit Freuds Schriften außerordentlichen Schwierigkeiten ausgesetzt. Eine besondere Rolle kommt in diesem Zusammenhang der Funktion der Sprache in der Psychoanalyse zu. Wie kaum ein anderer Denker seiner Zeit hat Freud sich in seinen Schriften um ein äußerstes Maß an Klarheit und Transparenz bemüht. Der Grund für die Schwierigkeiten, die sich dem Leser Freuds trotzdem bieten, liegt nicht

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DAS SCHIBBOLETH DER PSYCHOANALYSE

etwa, wie Freud selbst es manchmal bedauernd nahe legte, in seiner mangelhaften Darstellungskraft, sondern in dem eigentlichen Gegenstand der Psychoanalyse, dem Unbewussten. Wie immer das Unbewusste auch definiert wird: Auf jeden Fall handelt es sich um eine Instanz, die sich sowohl dem Licht der Vernunft als auch der Ordnung sprachlicher Transparenz auf eigentümliche Weise entzieht. Wenn die Aufklärung, in deren Tradition Freud trotz des romantisch anmutenden Begriffs des Unbewussten steht, 5 auf klare Begrifflichkeit, definitorische Trennschärfe und widerspruchsfreie sprachliche Darstellung angewiesen ist, dann verkörpert das Unbewusste zunächst eine unheimliche Macht, die sich dem Bewusstsein entzieht und der Forderung nach wissenschaftlicher Klarheit gegenüber als unzugänglich erweist. Daher stellt sich für die Psychoanalyse vor aller Auseinandersetzung mit konkreten Manifestationen des Unbewussten die Frage, wie der Umgang mit einer Instanz aussehen kann, die sich als solche nicht aufweisen lässt und notwendig undurchdringlich bleibt. Das grundlegende Problem, das sich der Psychoanalyse stellt, ist ein Erkenntnis- und ein Darstellungsproblem, das das Verhältnis der Sprache zu ihrem Gegenstand betrifft, da sich das Unbewusste weder definieren noch einfach nennen lässt. Wie der amerikanische Philosoph Donald Davidson gezeigt hat, rührt Freud mit der Einführung des Begriffs des Unbewussten und dem damit verbundenen Erkenntnisproblem an eine Frage, die das Verhältnis von Irrationalität und Vernunft auf grundsätzliche Weise betrifft. Von einem der einflussreichsten Vertreter des sprachanalytischen Denkens wäre vielleicht zu erwarten, dass er Freuds Denken als unzulänglichen Tribut an die Ordnung des Irrationalen abtut und sich in die lange Tradition der Freudverächter einreiht. Aber das Gegenteil ist der Fall: »Irrationalität ist ein Versagen innerhalb des Hauses der Vernunft« 6 , stellt Davidson einleitend fest, um zu dem Schluss zu kommen: »In dieser Hinsicht hat Freud, wie schon oft angemerkt wurde, die Anzahl und Vielfalt der Phänomene, die als rational angesehen werden können, sehr vermehrt: Es stellt sich heraus, daß wir für unsere Vergesslichkeiten, Versprecher und übertriebenen Ängste Gründe haben.« 7 Davidson zufolge besteht die keineswegs gering zu schätzende Leistung der Psychoanalyse darin, Gegen5

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»Freud war und blieb ein loyaler Sohn der Aufklärung«, H.-M. Lohmann/J. Pfeiffer (Hg.), Freud-Handbuch, S. 12. In ähnlicher Weise argumentiert Renate Schlesier: »Die Psychoanalyse verstand sich von Anfang an als ein aufklärerisches Unternehmen.« In: Mythos und Weiblichkeit bei Sigmund Freud, Frankfurt/Main 1990, S. 165. Donald Davidson, »Paradoxien der Irrationalität«, in: Probleme der Rationalität, Frankfurt/Main 2006, S. 285-315, hier S. 285. Ebd. S. 289. 10

NACH FREUD

stände und Sachverhalte beschreibbar gemacht zu haben, denen der Status der logischen Rationalität bisher verweigert worden war. Das Reich des Erklärbaren ist durch Freud enorm erweitert worden. Hysterie, Traum und Versprechen erscheinen in diesem Kontext als unterschiedliche Phänomene, an denen sichtbar gemacht werden kann, dass auch die Paradoxe der Irrationalität wissenschaftlich zugänglich gemacht werden können. Damit sind die Schwierigkeiten, die die sprachliche Darstellung betreffen, allerdings noch nicht gelöst. Davidsons Plädoyer für Freud hebt zu Recht die rationalen, aufklärerischen Anteile der Psychoanalyse hervor. Offen bleibt jedoch die Frage, wie es der Psychoanalyse gelingen kann, über etwas zu sprechen, das sich nicht sagen lässt, ohne in die Abgründe der literarischen Sprache oder die Ideenaufschwünge der Philosophie zu versinken. Den Hintergrund von Freuds Erfahrungshorizont bildet weder die philosophische Frage nach der Angemessenheit von Erkenntnis und Gegenstand noch das literarische Beharren auf dem Topos des Unsagbaren, sondern Probleme der Praxis, die sich unter anderem darin zeigen, dass es den Patienten offenbar nicht ohne Hilfe gelingt, die Sprache zu finden, die ihre Probleme lösen könnte. In diesem Sinne ist die Psychoanalyse vor allem eine Suche nach einer angemessenen Sprache, die therapeutisch das leisten kann, was dem bewussten Erkennen verwehrt bleibt. Die Voraussetzung der Herausbildung der psychoanalytischen Methode ist der vielkommentierte Bruch mit der Hypnose und der Einführung der talking cure, die Hinwendung zur Sprache als dem eigentlichen Gegenstand der Analyse. Wenn Freud seinen französischen Lehrer Charcot als einen Seher, »ein visuel, ein Seher« (GS I, 22), würdigt, dann handelt es sich bei ihm selbst um einen Hörer. Das Sprechen und das Hören, nicht das Sehen, stehen im Zentrum der Psychoanalyse. Die Sprache der Psychoanalyse muss daher versuchen, ihrem Gegenstand, dem Unbewussten, Rechnung zu tragen. »Man hat die Verpflichtung, sich jener Währung zu bedienen, die in dem Lande, das man durchforscht, eben die herrschende ist, in unserem Falle der neurotischen Währung« (GS VIII, 238), hält Freud fest, um die Trennung zwischen der Sprache der Psychoanalyse und ihrem Gegenstand aufzuheben. Wie Samuel Weber gezeigt hat, tritt an die Stelle einer selbstverständlichen eine »problematische« Lektüre, die auf der Vermutung beruht, »daß die Macht und Wirkungsweise des Unbewussten notwendig auch für die Schriften Freuds – die das Unbewusste theoretisch erschlossen haben – bestimmend sein müssen.« 8 Freuds Schriften – darauf hat Jacques Lacan 8

Samuel Weber: Freud-Legende. Vier Studien zum psychoanalytischen Denken. Vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage, Wien 2002, S. 14. 11

DAS SCHIBBOLETH DER PSYCHOANALYSE

immer wieder hingewiesen, um unter dem Stichwort »retour à Freud« seine eigenen, keineswegs umstandslos mit Freud zu vereinbarenden Konsequenzen zu ziehen –, sind nicht einfach Texte über das Unbewusste, sondern zugleich Texte, die vom Unbewussten gekennzeichnet sind. Wenn Samuel Weber von einer problematischen Lektüre spricht, dann legt er nahe, aus Freuds sprachlicher Darstellungsform Konsequenzen zu ziehen, die nach einer neuen und anderen Art des Lesens verlangen, einer Art des Lesens, die sich der Währung der Psychoanalyse bedient. Der Leser Freuds sieht sich daher gleich mit mehreren Schwierigkeiten konfrontiert: mit der Sprache der Psychoanalyse, die nicht einfach eine wissenschaftliche Objektsprache ist, sondern zugleich auf die sprachlichen Bedingungen der eigenen Erkenntnisleistung reflektiert, sowie mit den Widerständen, denen die Analyse seit ihren Anfängen ausgesetzt war. Wenn der Widerstand nach Laplanche/Pontalis all das verkörpert, das den Zugang zum Unbewussten verhindert, 9 dann verbinden sich die grundsätzliche Ablehnung der Psychoanalyse durch ihre Gegner und die therapeutische Funktion des Widerstandes als wichtigster Ansatz der psychoanalytischen Methode zugleich zu einer eigentümlichen Problemkonstellation, aus der heraus Freud eine neue Interpretationstechnik ableitet. Freuds Überlegungen nehmen ihren Ausgang von der Einsicht, dass der Widerstand zwar zunächst ein Hindernis bedeutet, das sich gegen den Zugang zum Unbewussten richtet, dass der Widerstand jedoch auf der anderen Seite erst den Zugang zum Unbewussten eröffnet. Auf diese Weise wird der Widerstand gegen den Anspruch der Psychoanalyse geradezu zu ihrem Einfallstor. 10 Am deutlichsten sichtbar wird die Kraft des Widerstandes im Phänomen der Übertragung, die den Analytiker mit Eigenschaften ausstattet, die der Patient dem Unbewussten entlehnt. Beruht die Übertragung auf der Wiederholung infantiler Mechanismen, die der Patient dem Arzt vorzuenthalten versucht, so liegt ihr der ebenso unhintergehbare wie vergebliche Versuch zugrunde, den Analytiker in seiner Arbeit zu täuschen. Das Gespräch zwischen dem Analytiker und seinem Patienten ist durchdrungen von wechselseitigen Täuschungsmanövern, die die Übertragung bis zur ultimativen Form des Betrugs, der Liebe, steigern. Die Übertragungsliebe repräsentiert den letzten und äußersten Versuch, den Gesprächspartner zu hintergehen, um ihn auf einen anderen Weg zu führen als den, der die ersehnte und zugleich gefürchtete Heilung bringen könnte. In diesem Sinne, der Freud mit dem listigen Briefschreiber Kafka verbindet, ist 9

Vgl. Jean Laplanche/J.-B. Pontalis: Vocabulaire de la psychanalyse, Paris 1997, S. 420-423. 10 Vgl. Jacques Derrida, »Widerstände«, in: Vergessen wir nicht – die Psychoanalyse, Frankfurt/Main 1998, S. 128-178. 12

NACH FREUD

Liebe heillos, Bestandteil eines Aktes der Verführung, der verbirgt, indem er offen zu legen scheint und offen legt, um zu verbergen.11 Ist die Übertragung als zentraler Bestandteil des Widerstandes zu verstehen, dessen Ziel in der Täuschung des Analytikers durch ein Spiel der Verführung besteht, so ist die Analyse selbst zum Widerstand gegen die Übertragung aufgerufen. Wenn der Widerstand aber nicht allein das Verhältnis des Patienten zum Analytiker betrifft, sondern ebenso die Beziehung des Lesers zu Freud, dann muss auch die Deutung Freuds dem Spiel von Widerstand und Übertragung Rechnung tragen. Die kritische Auseinandersetzung mit Freud sieht sich daher von Beginn an mit der Tatsache konfrontiert, dass der Text Widerstände aufbaut, an denen zugleich neue Lesbarkeiten entstehen. Die scheinbar selbstgewisse Position des Lesers Freud erfährt damit von vorneherein eine Erschütterung: Der Leser, der sich mit Freuds Texten beschäftigt, wird auf eine schwer abzusehende Weise selbst von den Texten Freuds gelesen. Ist die Übertragung zwischen Leser und Autor notwendiger Bestandteil des Lesens und der damit verbundenen Deutungsversuche, die Übertragung aber gleichzeitig ein Mittel der Täuschung, dann stellt sich die Frage, wie eine Auseinandersetzung mit Freud möglich wird, die dem wechselseitigen Spiel der Verstellung Rechnung tragen kann. Der Vorschlag der folgenden beruht darin, anhand der mythologischen und literarischen Figuren, die sich bei Freud finden lassen, den Übertragungsformen nachzugehen, mit denen sich der Erfinder der Psychoanalyse selbst in seinen Texten eingelassen hat. Bei Freud, das ist vielfach betont worden, geht es um den Fall »eines besonderen Zusammentreffens von Wissenschaftsentwurf und literarischer Autorschaft« 12 , das auch die Frage nach dem Verhältnis von Psychoanalyse und Literatur auf besondere Weise stellt: »Dass Freuds Werk, völlig unbeschadet seiner widersprüchlichen Rezeption, immer wieder die Rückkehr zu den Texten einfordert und einfordern wird, beruht auf nichts anderem als auf der literarischen Autorschaft Freuds.« 13 Im Mittelpunkt der Arbeit steht damit keineswegs ein biographisches Interesse. Im Sinne des von Samuel Weber vorgeschlagenen Begriffs geht es im Folgenden vielmehr um eine problematische Lektüre Freuds, die sich zunächst an den mythologischen und literarischen Namen orientiert, die in seinem Werk eine zentrale Rolle spielen, an Figuren wie Ödipus, Hamlet, Narziss und Moses. »For it is undeniable that ›literature‹ occupies a rela11 Zur List bei Kafka vgl. Achim Geisenhanslüke: Masken des Selbst. Aufrichtigkeit und Verstellung in der europäischen Literatur, Darmstadt 2006. Die vorliegende Studie zu Freud knüpft an die dort vorgelegte Analyse der Verstellung an. 12 H.-M. Lohmann/J. Pfeiffer: Freud-Handbuch, S. 237. 13 Ebd. 13

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tively privileged place in psychoanalytical theory« 14 , betont Jean-Michel Rey. Lesbar wird die Geschichte Freuds, die zugleich die Geschichte der Psychoanalyse ist, als eine literarische »Arbeit am Mythos« 15 , der trotz aller Widerstände gegen sie kein Ende beschieden sein kann, da Erinnern und Vergessen sich wechselseitig überlagern und keinen Abschluss zulassen. Wenn die Entwicklung der Psychoanalyse bei Freud im Mittelpunkt der folgenden Darstellung steht, dann hat die Auseinandersetzung mit seinem Werk zugleich der Tatsache Rechnung zu tragen, dass es sich dabei nicht allein um eine Form wissenschaftlichen Fortschritts handeln kann. Freuds metapsychologische Überlegungen aus den zwanziger Jahren weisen vielmehr darauf hin, dass sich die Momente der Entwicklung und der Wiederholung auf eine eigentümliche Art und Weise überlagern. Für die Auseinandersetzung mit Freud bedeutet dies, dass sich die Psychoanalyse auch in unterschiedlichen Phasen mit ein und demselben Problem auseinandersetzt, ohne eine ein für allemal zufrieden stellende Lösung präsentieren zu können. Das scheinbare Defizit der Psychoanalyse verkehrt sich jedoch in sein Gegenteil, wenn deutlich wird, dass gerade in der Zurückweisung philosophischer Wahrheitsansprüche und theologischer Erlösungsversprechen das Neue der Psychoanalyse besteht. Auch der literarische Charakter, der Freuds Werk unbestritten zukommt, ist in diesem Zusammenhang weniger Lösung denn Ausdruck eines grundsätzlichen Problems, das die Psychoanalyse betrifft. Als Wissenschaft verweigert sich die Psychoanalyse auch der Literatur, die Freud in Der Dichter und das Phantasieren in das Reich der kindlichen Wunschträume verbannt. Der literarische Charakter von Freuds eigenen Schriften kann jedoch zugleich als Ansatzpunkt für eine Deutung dienen, die den Zusammenhang von Psychoanalyse und Literatur nicht aus Freuds – im Übrigen wenig ergiebiger – Theorie der Kunst ableitet. Im Zentrum der Untersuchung stehen daher nicht Freuds Schriften zur Literatur wie etwa seine einschlägigen Aufsätze Der Dichter und das Phantasieren oder Das Unheimliche, sondern die theoretischen Schriften, in denen die Literatur einen eigenwilligen Platz einnimmt. Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist der frühe Entwurf der Studien über Hysterie im Kontext der literarischen Form der Novelle. In einem zweiten Schritt wendet sich die Untersuchung der Traumdeutung als verdeckter Autobiographie Freuds zu. Die Auseinandersetzung mit der griechischen Mythologie, die in der Traumdeutung vor allem im Ödipuskomplex eine zentrale Rolle 14 Jean-Michel Rey: »Freud’s writing on writing«, in: Shoshana Felman (Hg.), Literature and Psychoanalysis. The Question of Reading: Otherwise, Baltimore and London 1980, S. 301- 328, hier S. 301. 15 Vgl. Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos, Frankfurt/Main 1979. 14

NACH FREUD

spielt, erweitert die Analyse um Hesiods Theogonie und den Sophokleischen König Ödipus als dem von Freud selbst als solches gekennzeichneten »Schibboleth« der Psychoanalyse. Shakespeares Hamlet, den Freud in seinen Briefen und der Traumdeutung dem Ödipus an die Seite stellt, dient als Übergang zum Problem des Narzissmus bei Ovid und Freud, wobei die Einführung des Narzissmus zugleich zum Thema des Verhältnisses von Trauer und Melancholie überleitet, wie es sich paradigmatisch im Werk Hölderlins zeigt. Dass Erfahrungen der Trauer und Melancholie für Freuds Spätwerk prägend sind, bestätigt Jenseits des Lustprinzips in der Form einer katábasis, einer Unterweltsfahrt, an deren Ende eine IchTheorie steht, die Freud in Das Ich und das Es ausführt. Den Schluss der exemplarischen Auseinandersetzung, die damit keineswegs beansprucht, alle Stationen der Werkgeschichte gleichermaßen zu beleuchten, steht die testamentarische Schrift Der Mann Moses. Das Schibboleth, das der Arbeit im Titel vorsteht, ist nicht nur eine Reminiszenz an die Arbeit der Dekonstruktion, die Jacques Derrida an Paul Celans Gedichten auf virtuose Weise vorgeführt hat. Im Mittelpunkt von Derridas Auseinandersetzung mit Celan steht, neben vielem anderen, der Zusammenhang von Beschneidung und Judentum, das philosophische Problem der Datierung und Wiederholung von Ereignissen sowie das der Signatur als Zeichen einer Enteignung des Namens, die die Arbeit der Dekonstruktion bestimmt. Der Begriff des Schibboleths, der in Freuds Werk an verschiedenen Orten fällt, markiert im Kontext der vorliegenden Arbeit den Versuch, ein Passwort zu finden, das den Eingang in den Kosmos Freuds erlaubt. Dabei ergeben sich jedoch zugleich auch Differenzen zu Derridas Vorgehen. Paul Celans Zitat des No pasarán aus dem Spanischen Bürgerkrieg in seinem Gedicht Schibboleth versteht Derrida als eine selbstreferentielle Form der Chiffrierung, die notwendig ins Leere läuft: »Schibboleth chiffriert nicht etwas, es ist nicht nur eine Chiffre und damit der Schlüssel zum Gedicht; es ist jetzt von der ihm ›außenwohnenden‹ Bedeutung her, in welcher es aufbewahrt, die Chiffre der Chiffre, die chiffrierte Manifestation der Chiffre als solcher« 16 , schreibt Derrida, um das Schibboleth Celans in der Tradition Lacans als eine Form der metonymischen Verschiebung zu kennzeichnen, die um einen Ort der Leere kreist, der von keiner Interpretation einholbar ist. Die vorliegende Arbeit folgt der Dekonstruktion in der metonymischen Verschiebung des Schibboleths der Psychoanalyse, und so wenig wie Derrida im Anschluss an Peter Szondi einen hermeneutischen Schlüssel zu Celan finden will, so wenig geht es hier um einen hermeneutischen Schlüssel, der das Tor zur Psychoanalyse ein für allemal aufsperren

16 Jacques Derrida: Schibboleth: für Paul Celan, Wien 1986, S. 59f. 15

DAS SCHIBBOLETH DER PSYCHOANALYSE

könnte. Was die Arbeit aber deutlich machen will, ist nicht »der bedeutungs-lose Unterschied als Bedingung für die Bedeutung« 17 , als den Derrida das Schibboleth im Zeichen der Schriftlichkeit des Unbewussten versteht. 18 Im Folgenden geht es vielmehr darum, einen Zugang zu Freuds Texten zu finden, der ihren literarischen Charakter zu berücksichtigen versucht, weil sich gerade in ihm der Wahrheitsgehalt der Theorie einversenkt hat, ein Wahrheitsgehalt, der im doppelten Sinne des Wortes – bei Celan zwischen Freud und Kafka – ständig »passiert«: Frankfurt, September Blinde, lichtBärtige Stellwand. Ein Maikäfertraum Leuchtet sie aus. Dahinter, klagegerastert, tut sich Freuds Stirn auf, die draußen hartgeschwiegene Träne schießt an mit dem Satz: ›Zum letztenmal Psychologie.‹ Die SimiliDohle Frühstückt. Der Kehlkopfverschlusslaut singt. 19

17 J. Derrida: Schibboleth, S. 63. 18 Vgl. Jacques Derrida: »Freud und der Schauplatz der Schrift«, in: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt/Main 1976, S. 302-350. 19 Paul Celan: Gesammelte Werke. Zweiter Band, Franfurt/Main 1986, S. 114. 16

II. F Ü N F F R A U E N . S T U D I E N

ÜBER

HYSTERIE

»Ein intimer Freund und ein gehaßter Feind waren mir immer notwendige Erfordernisse meines Gefühlslebens; ich wußte beide mir immer von neuem zu verschaffen, und nicht selten stellte sich das Kindheitsideal so weit her, daß Freund und Feind in dieselbe Person zusammenfielen« (GS II, 487), so beschreibt Freud in der Traumdeutung die Geschichte seiner ambivalenten Freundschaften. Seine Bemerkung ist ebenso als Rückblick auf die 1895 gemeinsam mit Josef Breuer veröffentlichten Studien über Hysterie wie als verdeckter Kommentar zu der Kooperation mit Wilhelm Fließ, dem Geburtshelfer der Traumdeutung, zu werten. Breuer, Fließ, Jung, Rank – die Liste von Freuds komplizierten und meist in Enttäuschungen endenden Freundschaften ließe sich fast beliebig fortsetzen. Dass Freund und Feind für Freud zusammenfallen, gibt im Blick auf die Studien über Hysterie zugleich den Anlass zur Frage, ob die Männerfreundschaft mit Breuer und später mit Fliess nur zufällig oder für die Geschichte der Psychoanalyse wesentlich gewesen ist. In jedem Fall scheint es so zu sein, dass Freud für die Redaktion seiner beiden ersten großen Schriften, den Studien über Hysterie und der Traumdeutung, den Beistand von befreundeten und deutlich älteren Männern nötig hatte. Dem Begründer der Psychoanalyse ist dieser Sachverhalt natürlich nicht entgangen, und so hat Freud die Zusammenarbeit mit Breuer und Fließ mit der von Fließ selbst vertretenen Annahme in Zusammenhang gebracht, derzufolge der Mensch eigentlich ein bisexuelles Wesen sei, das männliche wie weibliche Anteile in unterschiedlichen Mischverhältnissen gleichermaßen in sich vereinigt. Lässt sich das Verhältnis zu Breuer und Fließ in Übereinstimmung mit Freuds eigener Darstellung als Zeichen einer latenten Homoerotik deuten, so bleibt zunächst offen, welche Rolle Freud in dem von ihm beschriebenen Spiel der Geschlechterverteilung übernimmt: die des Mannes oder die der Frau. Auch wenn Freud selbst sich für die weibliche Rolle entschieden zu haben scheint und sich selbst immer wieder als den Empfangenden beschreibt, bleiben die Grenzen zwischen den Geschlechtern im Rahmen der Annahme von der Bisexualität des Menschen doch verschwommen: Aus einem anderen Blickwinkel erscheinen Breuer und Fließ als die Musen, die den

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DAS SCHIBBOLETH DER PSYCHOANALYSE

tatkräftigen Mann Freud erst zu den Studien über Hysterie und zur Traumdeutung befähigt haben. Wie immer die Geschlechterzuordnung im Falle Freuds und seiner Männer auch vorzunehmen ist, deutlich wird schon in der Kooperation mit Breuer, die am Beginn der offiziellen Geschichte der Psychoanalyse steht, dass der Frage nach dem kulturellen Grund der Geschlechter in der Psychoanalyse eine zentrale Rolle zukommt. Dass die Frage nach der Ordnung der Geschlechter nicht ohne Bedeutung für die Psychoanalyse ist, zeigen die Studien über Hysterie, dem »Urbuch der Psychoanalyse« 1 , so Ilse Grubrich-Simitis, noch auf andere Weise. Denn schließlich handelt es sich um Studien, die zwei Männer an fünf Frauen gemacht haben. Insofern knüpfen die Studien über Hysterie zunächst an ganz traditionelle Geschlechtsmuster an: Die Hysterie vertreten die Frauen, die Wissenschaft dagegen die Männer. Frauen scheinen für Freud und die Psychoanalyse zunächst nur als mehr oder weniger willfährige wissenschaftliche Gegenstände zu existieren. »Die in seinem Werk auffällig fehlbelichtete Weiblichkeit« 2 ist von der Forschung entsprechend häufig hervorgehoben worden, und Renate Schlesier zieht aus der Fehlbelichtung der Weiblichkeit bei Freud die entsprechende Folgerung, die Negation des Geschlechts müsse »in seiner Theorie zu der Konsequenz führen, daß das Geschlechtsverhältnis nur mißlingen kann« 3 , wobei sie zugleich betont, »das dennoch ›Authentische‹ der Freudschen Weiblichkeits-Konstruktion besteht aber in dem Aufzeigen der realen Widerstände, die einem gelingenden Geschlechterverhältnis entgegenwirken.« 4 Das »Unbehagen der Geschlechter« 5 scheint die Psychoanalyse seit ihrer anfänglichen Auseinandersetzung mit der Hysterie vor einige Probleme zu stellen. Die Identifikation von Hysterie und Frau, von der Breuers und Freuds Studien über Hysterie zeugen, hat eine lange Tradition, die schon in der Begriffsgeschichte angelegt ist, in der der Begriff der Hysterie immer wieder auf den uterus, die Gebärmutter, zurückgeführt worden ist. Gerade das Organ, das die Frau im traditionellen Sinne als Mutter qualifiziert, hat der nervösen Erkrankung den Namen gegeben. Die Hysterie schien um die Jahrhundertwende also vor allem ein weibliches Phänomen zu sein, das mit einer Störung der Erfüllung der traditionellen Rol1

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Ilse Grubrich-Simitis: Urbuch der Psychoanalyse. Hundert Jahre Studien über Hysterie nach Josef Breuer und Sigmund Freud, Frankfurt/Main 1995, S. 85. H.-M. Lohmann/J. Pfeiffer: Freud-Handbuch, S. 51. R. Schlesier: Mythos und Weiblichkeit bei Sigmund Freud, S. 12. Ebd., S. 13. Vgl. Judith Butler: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt/Main 1991. 18

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lenmuster der Frau als Mutter einhergeht. Freuds Folgerung »die Sexualität spiele als Quelle psychischer Traumen und als Motiv der ›Abwehr‹, der Verdrängung von Vorstellungen aus dem Bewußtsein, eine Hauptrolle in der Pathogenese der Hysterie« (GS I, 77), lässt den hysterischen Körper entsprechend von vorneherein als einen erotisierten Körper erscheinen. So ist es auch kein Wunder, dass die fünf Fallgeschichten, die Breuer und Freud vortragen, in unterschiedlicher Weise von den Schwierigkeiten berichten, die die mit dem traditionellen Rollenverständnis der Frau einhergehen. Anna O., der bekannteste, aber auch der einzige Fall Breuers, Emmy von N., Miss Lucy R., Katharina, Elisabeth von R. sowie die nicht in den Studien aufgenommene Cäcilie M. dienen zugleich als Beleg für Freuds aufsehenerregende These, dass das zeitgenössische Phänomen der Hysterie auf die Sexualität zurückgeht. Zu den Besonderheiten der Freudschen Darstellung in den Studien über Hysterie zählt jedoch zugleich die Tatsache, dass die Namen der Protagonistinnen durch Pseudonyme ersetzt werden: Anna O. ist Bertha Pappenheimer, Emmy von N. heißt mit bürgerlichem Namen Fanny Moser, Elisabeth von R. Ilona Weiss, Cäcilie M. ist die Barnoness Anna von Lieben. Auch wenn die Rücksicht auf den Schutz des Privatlebens im Vordergrund gestanden haben mag: Freud rekurriert auf ein Verfahren der Fiktionalisierung, das die Studien über Hysterie von Beginn an in einen Zwischenbereich von Wissenschaft und Kunst versetzt. Freud bezeichnet seine Studien daher auch nicht zufällig als Novellen: »und es berührt mich selbst noch eigentümlich, daß die Krankengeschichten, die ich schreibe, wie Novellen zu lesen sind, und daß sie sozusagen des ernsten Gepräges der Wissenschaftlichkeit entbehren.« (GS I, 227) Der Begriff der Novelle legt nahe, dass Freuds Darstellung in den Studien über Hysterie eine Affinität zur Literatur aufweist, eine Familienähnlichkeit mit Autoren wie Schnitzler oder Musil, der unter anderen Voraussetzungen als Freud mit seinen Drei Frauen ebenfalls einen Zyklus vorgelegt, in dem unterschiedliche Figurationen des Weiblichen vorgeführt werden. 6 Die zyklische Darstellung, die Musils Tryptichon mit Freuds Fallgeschichten verbindet, ist bereits in der Form der Novelle angelegt. »Zyklisch angelegte Kurzform offenen Erzählens mit betontem Geschehnismoment« 7 , die durch »Zuspitzung auf ein markantes Mittelpunkt-

6 7

Vgl. Marja Rauch: Vereinigungen. Frauenfiguren und Identität in Robert Musils Prosawerk, Würzburg 2000. Horst Thomé/Winfried Wehle: »Novelle«, in: Harald Fricke (Hg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Band II. H-O, Berlin/New York 2000, S. 725-731, hier S. 725. 19

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ereignis des menschlichen Verhalten als Kasus aufwirft« 8 , so führen Horst Thomé und Winfried Wehle den Begriff im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft ein. Um einen Zyklus handelt es sich im Reigen der fünf Frauen, die alle auf das eine Problem der Sexualität verweisen, um ein offenes Erzählen, da nur ein Ausschnitt aus dem Leben gezeigt wird, um ein betontes Geschehnismoment, da Freud im Unterschied zu Breuer auf eine präsentische Erzählform zurückgreift, um ein Mittelpunktereignis, insofern die Analyse eine Urszene als Ursprung der Krankheit rekonstruiert, um einen Kasus, da es sich um Fallgeschichten handelt, die die Einzelanalyse mit dem Allgemeinen verbinden. Hat Goethe die Novelle darüber hinaus in einer ebenso eingängigen wie missverständlichen Form als »unerhörte Begebenheit« 9 bezeichnet, so handelt es sich bei Freuds Fallgeschichten nicht nur um unerhörte Begebenheiten, weil die Sexualität als Quelle der Hysterie angegeben wird, unerhört sind die Begebenheiten, weil erst der Analytiker derjenige ist, der die Patientinnen »erhört«, indem er sich ihrer Sprache und ihrer Sexualität zuwendet. Freuds Bezeichnung der Studien über Hysterie als Novellen ist weniger eine Anbiederung an die Literatur als vielmehr ein Zeichen dafür, dass sich seine Analysen nicht allein in ihrem wissenschaftlichen Gehalt erschöpfen. So kann es auch nicht verwundern, dass Freud im Kontext der Annäherung von wissenschaftlicher Fallstudie und literarischer Novelle auf einen Begriff zurückgreift, der über eine lange Tradition in der Geschichte der Poetik verfügt, den Begriff der Katharsis. Die Psychoanalyse sei die »Technik der ›kathartischen Methode‹« (GS I, 77f.), bemerkt Freud, um die Hysterie damit in die Nähe der Tragödie zu rücken. Die Verknüpfung der Hysterie mit der Tragödie, die schon Charcots theatralische Inszenierung der Hypnose nahe gelegt hatte, ist oft unterstrichen worden, und so hat Martin von Koppenfels vorgeschlagen, die Studien über Hysterie seien »geradezu als Entwurf einer aristotelischen Affekttherapie zu lesen.« 10 Im Unterschied zu Charcot aber, dessen halb öffentliche Inszenierung der Hysterie die Krankheit in ein Bühnenstück verwandelt, das ausgewählte weibliche Fälle vor ausgewählten männlichen Kollegen produzieren, besteht Freuds Interesse Koppenfels zufolge darin, die Tragödie in Prosa zu verwandeln. Freuds eigenen ernüchternden Worten zufolge besteht das Ziel der Analyse in nichts anderem als dem Versuch, ihr »hysterisches Elend in gemeines Unglück zu verwandeln« (GS I, 312). Das hysterische Elend, das die tragischen Schauspielerinnen auf der Büh8 Ebd., S. 726. 9 Ebd. 10 Martin von Koppenfels: Immune Erzähler. Flaubert und die Affektpolitik des modernen Romans, München 2007, S. 44. 20

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ne der Hysterie ausagieren, will der Analytiker auf den Boden der Prosa zurücksetzen. Auch wenn Freud an einer Affekttherapie arbeitet, die wesentliche Begriffe und Erfahrungen der dramentechnischen Tradition der Poetik verdankt, so besteht das Ziel der kathartischen Methode darin, die tragische Rolle durch eine prosaische zu ersetzen – eine Heilung, die dem Fall des tragischen Helden gleichkommt, der seiner Krankheit, aber auch seiner besonderen Fähigkeiten beraubt wird. Von daher ist es kein Wunder, dass sich Patientinnen wie Anna O. ihr Leben lang gegen den Heilungserfolg der Psychoanalyse gewehrt haben, indem sie sich gerade auf die eigene Macht der Simulation berufen: Die Hysterie nur simuliert zu haben, der Heilung gar nicht bedürftig gewesen zu sein, bedeutet in diesem Zusammenhang, das Theater und mit ihm das hysterische Elend der Prosa und dem gemeinen Unglück vorzuziehen. Der Geschichte der Anna O. kommt im Rahmen der Frage nach der Genese der Psychoanalyse eine besondere Bedeutung zu. Der Fall geht bereits auf das Jahr 1880 zurück. Kopfschmerzen, Sehstörungen, Halluzinationen, Lähmungserscheinungen und Sprachstörungen, die schließlich dazu führen, dass die Patientin nur noch Englisch redet, machen die Behandlung erforderlich. Im Laufe der zeitraubenden Analyse gelingt Breuer die Rückführung der hysterischen Symptome auf eine Urszene, in der Anna O. eine schwarze Schlange auf ihren Vater zukriechen sieht und vor Angst stumm und gelähmt bleibt. Die Sprach- und Bewegungsstörungen der Patientin erscheinen von nun an als hilflose Wiederholungen dieser Urszene, deren Erinnerung durch den Erfolg der Psychoanalyse zur Heilung geführt haben soll. Keine Fallgeschichte ist berühmter und zugleich umstrittener als die der Anna O. Die Kritiker Breuers und Freuds bringen mehrere Argumente in Anschlag, die die Heilung der Patientin und damit den Erfolg der Psychoanalyse in Frage stellen. Am einschlägigsten ist der Einwand von Mikkel Borch-Jacobsen, der feststellt, es sei »doch schlicht und einfach falsch, daß sie dadurch von ihren Symptomen befreit worden wäre.« 11 Borch-Jacobsen kann sich darauf berufen, dass nicht alle Symptome verschwanden, wie Breuer und Freud vorgeben, dass Breuer eine schwere Morphiumabhängigkeit seiner Patientin zu verantworten hat, und darüber hinaus, dass Berta Pappenheimer ihren eigenen Angaben zufolge nur simuliert habe. Wenn der Fall Anna O. so etwas wie die Geburtsstunde der Psychoanalyse markiert, dann versetzt er die junge Wissenschaft in eine beängstigende Nähe zum aufschneiderischen Schwindel. Die Kritik an Breuers Umgang mit seiner Lieblingspatientin kam jedoch nicht allein

11 Mikkel Borch-Jacobsen: Anna O. zum Gedächtnis. Eine hundertjährige Irreführung, München 1997, S. 20. 21

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von außen. In einem Brief an Stefan Zweig vom 2. Juni 1932 schreibt Freud: Am Abend des Tages nachdem alle ihre Symptome bewältigt waren, wurde er wieder zu ihr gerufen, fand sie verworren, sich in Unterleibskrämpfen windend. Auf die Frage, was mit ihr sei, gab sie zur Antwort: Jetzt kommt das Kind, das ich von Dr. Br. habe. In diesem Moment hatte er den Schlüssel in der Hand, der den Weg zu den Müttern geöffnet hätte, aber er ließ ihn fallen. Er hatte bei all seinen großen Geistesgaben nichts Faustisches an sich. 12

Freuds Darstellung der Behandlung zählt längst zu den Legenden der Psychoanalyse, von denen nicht sicher ist, ob sie dem Reich der Fiktion oder dem der historischen Tatsachen entspringen. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang aber gar nicht die Frage, ob es sich um eine bloße Legende handle, mit der Freud die Verantwortung auf Breuer schiebt. Weitaus aufschlussreicher ist die Tatsache, dass Freud sich in seinem Brief auf doppelte Weise mit dem Mythos der gebärenden Mutter auseinandersetzt: der Geburt des – im Kontext der biblischen Generationsfolge von Anna und Josef unmöglichen, in Freuds eigener Familienkonstellation aber durchaus denkbaren – gemeinsamen Kindes von Anna O. und Josef Breuer im Rahmen der Simulation von Berta Pappenheimer, die Breuer zur Flucht genötigt habe, sowie der Geburt der Psychoanalyse aus der Erkenntnis heraus, der Wunsch nach einem gemeinsamen Kind entspringe jener Übertragung, die den Weg zum Unbewussten öffne. Aufschlussreich ist darüber hinaus das Bild, auf das Freud zurückgreift: Breuer fällt der Schlüssel aus der Hand, »der den Weg zu den Müttern geöffnet hätte«. In Anspielung auf den zweiten Teil des Faust erklärt Freud das Unbewusste metaphorisch zu einer Instanz, die er den Müttern gleichsetzt. Dass Breuer »nichts Faustisches an sich« habe, spricht dem einstigen Freund zudem die Männlichkeit ab, von der sich Freud in den Studien über Hysterie noch anregen ließ. Wie Faust auf dem Weg zu den Müttern des Seins, so macht sich Freud auf die Suche nach dem verlorenen Schlüssel, um das Reich des Unbewussten zu öffnen. »Le père de la psychoanalyse ne saurait être que Freud, ce héros né de lui-même« 13 , kommentiert Sarah Kofman. Als Höhepunkt der Beziehung von Breuer und Freud markiert die Veröffentlichung der Studien über Hysterie zugleich den Punkt, an dem sich ihre Wege trennen und Freuds männlicher Eroberergeist den Sieg über den flüchtigen Freund davonträgt.

12 Sigmund Freud: Briefe 1873-1939. Ausgewählt und herausgegeben von Ernst und Lucie Freud, Frankfurt/Main 1980, S. 428. 13 Sarah Kofman: Pourquoi rit-on? Freud et le mot d’esprit, Paris 1986, S. 24. 22

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Freuds eigene Fallgeschichten stehen wie Breuers Anna O. ganz im Zeichen der gemeinsam erarbeiteten Affekttherapie, die sich auf die Ergründung eines traumatischen Erlebnisses konzentriert, das zugleich als Auslöser der psychischen Erkrankung gewertet wird. Insofern besteht der erste Schritt der analytischen Kur in der Anamnese des Traumas, von dem Freud behauptet: »Als solches kann jedes Erlebnis wirken, welches die peinlichen Affekte des Schreckens, der Angst, der Scham, des psychischen Schmerzes hervorruft« (GS I, 84). Wiederum im Einklang mit der antiken Poetik der Tragödie führt Freud den Begriff des Traumas auf die Präsenz starker Affekte zurück, die die Kur wie die aristotelische Katharsis durch Erinnerung zur Abfuhr zu bringen versucht: Wir fanden nämlich, anfangs zu unserer großen Überraschung, daß die einzelnen hysterischen Symptome sogleich und ohne Wiederkehr verschwanden, wenn es gelungen war, die Erinnerung an den veranlassenden Vorgang zu voller Helligkeit zu erwecken, damit auch den begleitenden Affekt wachzurufen, und wenn dann der Kranke den Vorgang in möglichst ausführlicher Weise schilderte und dem Affekt Worte gab. (GS I, 85)

Dem Affekt Worte geben: Wie Martin von Koppenfels festgehalten hat, steht der »zusammen mit Josef Breuer verfaßte Erstling als einziges der größeren Werke Freuds ganz im Zeichen des Affekts.« 14 Mit fast dem gleichen Recht könnte behauptet werden: ganz im Zeichen der Sprache. Wie die Tragödie, so will die Psychoanalyse helfen, den Affekten eine Sprache zu verleihen, indem sie »dem eingeklemmten Affekte derselben den Ablauf durch die Rede gestattet« (GS I, 97). Besteht der antiken Poetik zufolge die Aufgabe von Epos und Tragödie gerade darin, Affekte in Worte zu kleiden, wie die Geschichte vom Zorn Achills oder dem Wahnsinn des Ajax auf unterschiedliche Weise zeigen, so scheint sich die Psychoanalyse zunächst einer ähnlichen Aufgabe zu verschreiben wie die Literatur. Das Ziel ihrer Bemühungen gilt jedoch nicht dem Affekt selbst, sondern der ihn begleitenden Erinnerung: Durch den Weckruf des Affekts Erinnerungen freizusetzen, ist der Weg der kathartischen Kur, den Freud in den Studien zur Hysterie einschlägt. »Affektloses Erinnern ist fast immer völlig wirkungslos« (GS I, 85), hält Freud fest. In den Studien über Hysterie stellt Freud im Unterschied zu seinen späteren Schriften den Affekt in das Zentrum der Katharsis, um aus dem Dreieck von Affekt, Sprache und Erinnerung eine neue Form der Therapie zu erarbeiten, deren Probanden fast ausschließlich aus Frauen aus der bürgerlichen Schicht Wiens bestehen. 14 M. von Koppenfels: Immune Erzähler, S. 41. 23

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Die fünf Frauen, die die Studien über Hysterie präsentieren, sind daher zugleich Beweise für den engen Zusammenhang von Sprache und Affekt. In fast allen Fällen spielt das Sprechen eine zentrale Rolle. Cäcilie M. alias Anna von Lieben, die Freud als seine »Primadonna« bezeichnet hat und die zugleich die Rolle einer »Patientin und Lehrmeisterin« 15 einnahm, verrät dem Schüler und Lehrer sowohl den Rapport von Hysterie und Sexualität als auch die damit verbundene Bedeutung der Sprache: Sie klagt über Schmerz in der rechten Ferse, der lesbar wird als Angst, das rechte Auftreten in der Gesellschaft zu verfehlen, ihre Gesichtsneuralgie ist verkörperlichter Ausdruck der Redewendung »einen Schlag ins Gesicht« zu bekommen, so wie ihre Herzprobleme auf den »Stich ins Herz« 16 zurückführen. Gesichtsverzerrungen, Tics und ein eigentümliches Schnalzen und Stottern bestimmen auch die Geschichte von Emmy v. N., einer vierzigjährigen Witwe, die wie Bertha Pappenheimer mit einem Reichtum gesegnet war, der ihre Geschichte »einem klassischen Kriminalroman« 17 vergleichbar macht: Auf der einen Seite steht der Streit um das immense Vermögen mit der Familie ihres verstorbenen Mannes, auf der anderen Seite die neurotische Erkrankung der Witwe, deren Grund in Erinnerungen an den Tod zahlreicher Geschwister, der Mutter und schließlich des eigenen Mannes wenige Tage nach der Geburt einer Tochter waren. So führt Freud das auffällige Schnalzen der Patientin auf die Angst zurück, die Tochter während der Wache an ihrem Krankenbett zu wecken. Wiederum richtet sich das Augenmerk des Analytikers in besonderem Maße auf die Sprache, wie auch im Falle Lucy R., die als Gouvernante in einem Haus lebt und dem Versprechen der toten Mutter nachkommt, sich um die Kinder zu kümmern – ein Versprechen, das sie zugleich in die unerfüllte Liebe zum Hausherren führt. Unerfüllte Liebe steht auch im Mittelpunkt der Geschichte Elisabeth von R.s alias Ilona Weiss, deren Schmerz Freud als einen »wollüstigen Kitzel« (GS I, 198) deutet, der auf die Verbindung zwischen dem Leiden der Patientin und ihren erotischen Wünschen hinweist: Die Schmerzen beim Gehen haben ihre Ursache in der Angst, »alleinstehend« zu bleiben, wobei die verbotene Liebe dem Schwager ihrer Schwester gilt. In Anspielung auf die doppelte Bedeutung von Sprache und Eros inszeniert Freud die Heilung seiner Patientin abschließend in der Darstellung eines Tanzes: »Im Frühjahr 1894 hörte ich, daß sie einen Hausball besuchen werde, zu welchem ich mir Zutritt verschaffen konnte, und ich ließ mir die Gelegenheit nicht entgehen, 15 Lisa Appignanesi/John Forrester: Die Frauen Sigmund Freuds, München/Leipzig 1994, S. 123. 16 Vgl. ebd., S. 128. 17 Ebd., S. 130. 24

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meine einstige Kranke im raschen Tanze dahinfliegen zu sehen. Sie hat sich seither aus freier Neigung mit einem Fremden verheiratet.« (GS I, 226) Die Metapher des Tanzes dient Freud zur Beschreibung eines Heilungserfolges, der die psychische wie die gesellschaftliche Seite gleichermaßen umfasst. Der Analytiker rückt dabei selbst in eine fast schon zwielichtige Rolle: In dem Abschlussbericht, den Freud nicht ohne innere Zufriedenheit gibt, steht die Frau zwischen zwei Fremden: dem, den sie aus »freier Neigung« geheiratet hat, und dem Analytiker, der sich unerkannt zum Ball »Zutritt verschaffen konnte«. In Freuds detektivischen Novellen ist die Rollenverteilung nicht immer eindeutig: Der Analytiker übernimmt die Rolle des Lehrers ebenso wie die des Schülers, die des Fremden wie die des Freundes, die des Detektivs wie die des Täters. Das gilt in besonderer Weise für die Krankengeschichte, die schon auf den ersten Blick aus dem Rahmen der Wiener Gesellschaft fällt, die die anderen Fallgeschichten bestimmt: Katharina alias Aurelia Kronich, der »vielleicht romanhaftesten aller Krankengeschichten Freuds« 18 , wie schon Appignanesi/Forrester bemerkt haben. Romanhafte Züge gewinnt der Sonnenaufgang der Psychoanalyse in der Geschichte Katharinas gerade durch die vielfältigen Abweichungen, die den Fall kennzeichnen. Hatte Freud in den Studien über Hysterie einleitend betont, die »Erfahrungen entstammen der Privatpraxis in einer gebildeten und lesenden Gesellschaftsklasse« (GS I, 77), so fällt Katharina auf doppelte Weise aus dem psychoanalytischen Schema heraus. Zum einen zählt das »Alpenkind« Aurelia Kronich nicht zur gebildeten und lesenden Gesellschaftsklasse, zum anderen Fall entfaltet Freud den Fall nicht in seiner städtischen Privatpraxis, sondern auf dem Land. Gerade die Veränderungen des gewohnten Ambientes machen den erzählerischen Reiz der Geschichte aus, der schon in den ersten Worten zur Geltung kommt: In den Ferien des Jahres 189* machte ich einen Ausflug in die Hohen Tauern, um für eine Weile die Medizin und besonders die Neurosen zu vergessen. Es war mir fast gelungen, als ich eines Tages von der Hauptstraße abwich, um einen abseits gelegenen Berg zu besteigen, der als Aussichtspunkt und wegen seines gut gehaltenen Schutzhauses gerühmt wurde. Nach anstrengender Wanderung oben angelangt, gestärkt und ausgeruht, saß ich denn, in die Betrachtung einer entzückenden Fernsicht versunken, so selbstvergessen da, daß ich es erst nicht auf mich beziehen wollte, als ich die Frage hörte: ›Ist der Herr ein Doktor?‹ (GS I, 184)

Freuds Geschichte der Katharina beginnt wie ein Kriminalroman, in dem der Psychoanalytiker die Rolle des Detektivs übernimmt, der seine Meis18 Ebd., S. 151. 25

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terschaft gerade an einem Ort beweist, der nicht dazu vorbestimmt zu sein scheint. Die Einführung der Fallgeschichte ist von mehreren Momenten geprägt, die Aufmerksamkeit verlangen. Wie Freud in den Studien zur Hysterie nicht müde wird zu wiederholen, ist die Heilung der hysterischen Erkrankung an die Leistungen der Erinnerung gebunden. In den ersten Worten seiner Geschichte stellt Freud dagegen das Motiv des Vergessens in den Mittelpunkt: Er habe den Ausflug unternommen, um »die Medizin und besonders die Neurosen zu vergessen.« Dem erschöpften Analytiker sollen die Ferien Erholung von seinen Fällen bieten. Nicht der Patient, der Analytiker sucht in den Bergen das Vergessen. Hinter der zunächst pittoresk anmutenden Darstellung der Reise in die Berge verbirgt sich der Nachklang einer Krisenerfahrung, die in der hohen Welt der Gebirge überwunden worden scheint. Das erhabene Motiv der Gebirgswelt spielt daher eine gewichtige Rolle in Freuds Darstellung. Meist hat er die Psychoanalyse als einen Abstieg in die Tiefe, als eine symbolische Reise in das Reich der Erinnerung und des Todes, dargestellt: »So gelangte ich bei dieser ersten vollständigen Analyse einer Hysterie, die ich unternahm, zu einem Verfahren, das ich später zu einer Methode erhob und zielbewußt einleitete, zu einem Verfahren der schichtweisen Ausräumung des pathogenen psychischen Materials, welches wir gerne mit der Technik der Ausgrabung einer verschütteten Stadt zu vergleichen pflegten.« (GS I, 201) Freud stellt die Psychoanalyse metaphorisch in den Kontext der Archäologie, um die eigene Arbeit in den Kontext der Tiefensuche zu stellen. Im Falle Katharinas greift Freud auf eine konträre Metaphorik zurück: Im Mittelpunkt steht der Aufstieg und der damit verbundene befreite Blick, der seit Petrarcas Aufstieg zum Mont Ventoux zum festen Bestand des europäischen Bildungsdenkens zählt. 19 Der Aufstieg dient dabei zugleich als Metapher des Lebensweges, demzufolge Freud sein Ziel nur durch Abweichung vom Hauptweg erreicht habe. »Und es gehen die Menschen hin, zu bewundern die Höhen der Berge und die gewaltigen Fluten des Meeres und das Fließen der breitesten Ströme und des Ozeans Umlauf und die Kreisbahnen der Gestirne – und verlassen dabei sich selbst.« 20 So lautet der Satz, den Petrarca auf dem Mont Ventoux in seinem Exemplar der augustinischen Confessiones findet, um zu sich selbst zurück zu finden. Darum geht es auch Freud, der nach eigener Aussage ganz »selbstvergessen« auf dem Berg verharrt, bis ihn die Frage, ob er ein Doktor sei, »zur Selbstbesinnung« (GS I, 184) führt. Selbstvergessen 19 Vgl. Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Ausgabe, Frankfurt/Main 1996, S. 397. 20 Francesco Petrarca: Die Besteigung des Mont Ventoux, Stuttgart 1995, S. 25. 26

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und Selbstbesinnung markieren die beiden Extreme, zwischen denen Freud sich bewegt. Die auf den ersten Blick idyllische Darstellung der Berglandschaft ist zugleich ein Seelenportrait, das von einer Krise Zeugnis ablegt, die den zukünftigen Begründer der Psychoanalyse in seiner Lebensmitte gepackt hat und die in der scheinbar unschuldigen Natur der Berge gerade dadurch bewältigt wird, dass sich die Unschuld als Trug erweist. Das Mittel, durch das Freud die Krise meistert, ist das der Ironie: »Da war ich also wieder in den Neurosen, denn um etwas anderes konnte es sich bei dem großen und kräftigen Mädchen mit der vergrämten Miene kaum handeln. Es interessierte mich, daß Neurosen in der Höhe über 2000 Metern so wohl gedeihen sollten, ich fragte also weiter.« (GS I, 185) Petrarcas Neugierde lässt Freud aus der Selbstvergessenheit treten. Die metaphorische Darstellung, dass Neurosen auch in der alpinen Welt »so wohl gedeihen«, lässt den Analytiker zugleich als einen Sammler seltener Spezies erscheinen, als einen Blumenpflücker, der in den Bergen etwas anderes sucht als unmittelbare erotische Erfüllung. Der Fall selbst scheint Freud vor keine großen Probleme zu stellen. In gewisser Weise dient er daher als Selbstversicherung, was mit den Mitteln der Analyse alles zu leisten ist. Katharina schildert Erstickungsnot und Angstanfälle sowie die Vision eines grauslichen Gesichts als Beweggründe für ihre unmittelbare Ansprache an den Arzt, dessen Beruf sie am Eintrag ins Fremdenbuch erschlossen hat. Der ihm zugedachten Rolle kommt Freud auf besondere Art und Weise nach: »Die Hypnose zwar wagte ich nicht in diese Höhen zu verpflanzen, aber vielleicht gelingt es im einfachen Gespräch. Ich mußte glücklich raten. Angst bei jungen Mädchen hatte ich so oft als Folge des Grausens erkannt, das ein virginales Gemüt befällt, wenn sich zuerst die Sexualität vor ihm auftut.« (GS I, 186) Freud bleibt in seiner Darstellung der botanischen Metaphorik treu und illustriert die Fortschritte der Psychoanalyse, indem er die Hypnose durch das einfache Gespräch ersetzt. In Übereinstimmung mit der grundsätzlichen These der Studien über Hysterie, die Sexualität bilde die Quelle der Neurose, erzählt Katharina daraufhin, wie sie den Onkel beobachtet habe, der sich ihrer Cousine genähert habe und markiert damit zugleich den Beginn ihrer hysterischen Symptome. Eine erste Dramatisierung erfährt der Fall, als im Gespräch deutlich wird, dass der Onkel auch ihr nachgestellt habe. Freud führt die Angstanfälle auf eine weiter zurückliegende Szene zurück, als der Onkel sich zu ihr ins Bett legen wollte. Seine Ausführungen begleitet Freud mit einer merkwürdigen Mischung aus Reserve und Zufriedenheit: »ich denke mir das Richtige, aber ich kann nicht weiter in sie dringen; ich bin ihr ohnehin Dank dafür schuldig, daß sie soviel leichter mit sich reden läßt als die

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prüden Damen in meiner Stadtpraxis« (GS I, 192). Ganz im Rahmen eines Gesellschaftsromans des 19. Jahrhunderts setzt Freud der Prüderie der Stadt die Einfachheit der Provinz gegenüber. Dass er »nicht weiter in sie dringen« kann, verweist allerdings darauf, dass sich der Zugriff der Psychoanalyse von dem des Onkels zunächst nicht so sehr unterscheidet, mit der gewichtigen Ausnahme, dass der gute Onkel Freud im Unterschied zum bösen Onkel das Reden über Sexualität an die Stelle der Sexualität selbst gesetzt hat. Nicht sexuelle Befriedigung sucht der ältere Herr in den Bergen, er will reden und zuhören: »Ich hoffe, die Aussprache mit mir hat dem in seinem sexuellen Empfinden so frühzeitig verletzten Mädchen in etwas wohlgetan; ich habe sie nicht wiedergesehen.« (GS I, 193) Wohltun wollte der Onkel seiner Nichte auch, als er ihr sagte, »sei still, du weißt ja nicht, wie gut das is.« (GS I, 190) Die Geschichte der Katharina zeigt, wie schmal und abgründig der Weg ist, den Freud in den Studien über Hysterie beschreitet, um den Gipfel seiner therapeutischen Kunst zu erreichen. Die Besonderheit der Analyse besteht darin, dass der Fall trotz aller aus dem Rahmen fallenden Begleitumstände die Hauptthese von Breuer und Freud bestätigt, den Zusammenhang von Hysterie und Sexualität: »In dieser Hinsicht ist der Fall Katharina ein typischer; man findet bei der Analyse jeder auf sexuelle Traumen begründeten Hysterie, daß Eindrücke aus der vorsexuellen Zeit, die auf das Kind wirkungslos geblieben sind, später als Erinnerung traumatische Gewalt erhalten, wenn sich der Jungfrau oder Frau das Verständnis des sexuellen Lebens erschlossen hat.« (GS I, 194) Insofern bietet der Fall eine glanzvolle Bestätigung von Freuds Thesen, ein Sieg, den die Psychoanalyse auf ihr fremdem Terrain errungen hat und der Freud aus seiner Krise zu befreien wusste. Die Einfachheit des Falles Katharina macht deutlich, dass die Psychoanalyse auf dem richtigen Weg ist und Freud in seiner Arbeit fortfahren kann. Allerdings erhält der Fall zuvor noch eine letzte Zuspitzung, die erst in einer später eingesetzten Fußnote erfolgt, die über die wahren Familienverhältnisse aufklärt. Nach so vielen Jahren getraue ich mich die damals beobachtete Diskretion aufzuheben und anzugeben, daß Katharina nicht die Nichte, sondern die Tochter der Wirtin war, das Mädchen war also unter den sexuellen Versuchungen erkrankt, die vom eigenen Vater ausgingen. Eine Entstellung wie die an diesem Falle von mir vorgenommene sollte in der Krankengeschichte durchaus vermieden werden. Sie ist natürlich nicht so belanglos für das Verständnis wie etwa die Verlegung des Schauplatzes von einem Berge auf einen anderen. (GS I, 195)

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Freud nennt Diskretion als Grund für die »Entstellung«, die er vorgenommen habe. Der Begriff der Entstellung wird nicht nur in der Traumdeutung eine zentrale Rolle spielen. Im Rahmen der literarischen Darstellungstechnik Freuds verweist er zugleich auf das Moment der Täuschung, das das Verhältnis von Autor und Leser der Fallgeschichten betrifft, dem wesentliche Dinge vorenthalten werden. Strategien der Verstellung kennzeichnen nicht nur den Patienten, der sich der Analyse durch den Widerstand entziehen möchte, sie betreffen ebenso den Analytiker, der nur das weitergibt, was er für richtig hält. »In seinem Buch spielt Freud fortwährend Verstecken mit dem Leser« 21 , kommentiert John Forrester Freuds Vorgehen in der Traumdeutung. Das gleiche gilt für die Studien über Hysterie. So kann es nicht verwundern, dass die Psychoanalyse ihr besonderes Augenmerk auf Fragen der Verkleidung richtet: »Die wichtigsten Aufklärungen kommen häufig mit der Ankündigung als überflüssiges Beiwerk, wie die als Bettler verkleideten Prinzen der Oper.« (GS I, 281f.) Bettler oder Prinz: In der Traumdeutung nimmt das Thema der Verkleidung von Wünschen eine zentrale Stellung ein. Wenn das scheinbar überflüssige Beiwerk der Analyse den Weg öffnet, dann wird zugleich deutlich, dass sich die Psychoanalyse den Verkleidungen anpassen muss, indem sie den Weg von der Peripherie zum Zentrum zu dem ihren macht: »Es ist ganz aussichtslos, direkt zum Kerne der pathogenen Organisation vorzudringen« (GS I, 296), stellt Freud fest, um statt dessen vorzuschlagen, es bleibe nichts übrig, »als sich zunächst an die Peripherie des pathogenen psychischen Gebildes zu halten.« (GS I, 296) Der Weg von der Peripherie zum Zentrum, einem Zentrum allerdings, das als solches nie ohne das Beiwerk der Peripherie zur Erscheinung kommt, ist der Weg, den Freud in den Studien über Hysterie einschlägt und in der Traumdeutung weiterführt. Daher empfiehlt er dem Leser in der Weiterführung der Metapher des Weges aus der Geschichte Katharinas auch, das Studium der Psychoanalyse mit dem der Studien zur Hysterie zu beginnen: »Auch weiß ich für jeden, der sich für die Entwicklung der Katharsis der Psychoanalyse interessiert, keinen besseren Rat als den, mit den ›Studien über Hysterie‹ zu beginnen und so den Weg zu gehen, den ich selbst zurückgelegt habe.« (GS I, 80) Einen idealen Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse verkörpern die Studien über Hysterie, da sie über das Verhältnis Aufschluss geben, das die Psychoanalyse zu ihrem Gegenstand einnimmt: als männlicher Diskurs über die weibliche Hysterie und als literarische Darstellung eines wissenschaftlichen Problems, das Freud in 21 John Forrester: »Portrait eines Traumlesers«, in: Lydia Marinelli/Andreas Mayer (Hg.), Die Lesbarkeit der Träume. Zur Geschichte von Freuds ›Traumdeutung‹, Frankfurt/Main 2000, S. 9-36, hier S. 23. 29

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seiner nächsten großen Schrift, der Traumdeutung, in die Abgründe des Selbst führen wird.

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III. D A S B U C H D E R W Ü N S C H E . DIE TRAUMDEUTUNG

Nachdem die Zusammenarbeit mit Breuer beendet war, stellt Freud die weitere Entwicklung der Psychoanalyse nicht ohne Verklärungen ganz als seine eigene Leistung dar. Die tendenziell mystifizierende Darstellung des eigenen Weges kulminiert in der Kennzeichnung der Traumdeutung als einem Jahrhundertbuch: »Die Psychoanalyse ist sozusagen mit dem zwanzigsten Jahrhundert geboren; die Veröffentlichung, mit welcher sie als etwas Neues vor die Welt tritt, meine ›Traumdeutung‹, trägt die Jahreszahl 1900.« (GS XIII, 405) Nicht nur stehe das Erscheinen der Traumdeutung mit der Jahreszahl 1900 genau auf der Schwelle der beiden Jahrhunderte. 1 Freud zufolge markiert die Traumdeutung selbst so etwas wie eine Schwelle, die den Zugang zur Psychoanalyse eröffnen oder auch verhindern kann. So schreibt Freud in Neue Folge der Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse: »Die Traumlehre ist seither auch das Kennzeichnendste und Eigentümlichste der jungen Wissenschaft geblieben, etwas, wozu es kein Gegenstück in unserem sonstigen Wissen gibt« (GS XV, 6), ein »Schiboleth« (GS XV, 6). Mit der Kennzeichnung der Traumdeutung als Schibboleth will Freud die Einzigartigkeit seines Jahrhundertbuches noch einmal unterstreichen und zugleich auf die verborgenen jüdischen Quellen der Psychoanalyse eingehen: »Es ist vielleicht auch kein bloßer Zufall, daß der erste Vertreter der Psychoanalyse ein Jude war« (GS XIV, 110), heißt es in der Schrift Die Widerstände gegen die Psychoanalyse. Als Schibboleth will Freud die Traumdeutung verstanden wissen, da sie über die Zuordnung zu den Anhängern oder den Gegnern der Psychoanalyse entscheidet. In ähnlicher Weise wie Jacques Derrida die Dichtung Paul Celans mit dem hebräischen Begriff des Schibboleths unter das Zeichen von Beschneidung, Datierung und Chiffrierung gestellt hat, 2 steht die Traumdeutung

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Das Buch ist bekanntlich bereits im November 1899 erschienen. Vgl. Jacques Derrida: Schibboleth: für Paul Celan, Wien 1986. 31

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an der Schwelle des Jahrhunderts als Passwort, das an den Fluten des Jordan über Leben und Tod entscheidet. 3 Dass es in der Traumdeutung um die Frage von Leben und Tod geht, zeigt Freuds Zusatz aus der zweiten Auflage, sein Jahrhundertbuch sei zugleich die Reaktion auf den Tod des Vaters. »Für mich hat dieses Buch nämlich noch eine andere subjektive Bedeutung, die ich erst nach seiner Beendigung verstehen konnte. Es erwies sich mir als ein Stück meiner Selbstanalyse, als meine Reaktion auf den Tod meines Vaters, also auf das bedeutsamste Ereignis, den einschneidendsten Verlust im Leben eines Mannes.« (GS II, X) Die Selbstanalyse Freuds verbindet sich nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Ödipuskomplexes in der Traumdeutung mit der Auseinandersetzung mit dem toten Vater. Ilse Grubrich-Simitis hat die Traumdeutung daher als eine »mosaikartige Tiefen-Autobiographie« 4 , als »sein persönlichstes, als quasi-autobiographisches Buch« 5 bezeichnet. Als Reise zum toten Vater gewinnt die Traumdeutung zugleich die Qualitäten einer literarischen katábasis, einer Hadesfahrt, die Freud in Jenseits des Lustprinzips weiterführt. 6 Die erneute Verquickung von literarischen und wissenschaftlichen Momenten im Werk Freuds, die an die Studien über Hysterie anschließt, verdeutlicht noch einmal, wie sehr die Psychoanalyse mit der Traumdeutung als einem Werk, das sich dem Schlafen und Erwachen widmet, von der Auseinandersetzung mit Schwellen und Übergängen geprägt ist. Die Bedeutung der Traumdeutung als einer symbolischen Hadesfahrt, die Freud unternimmt, indem er sich in das Reich des Schlafes und des Traums hinab begibt, flankiert noch das Motto des Buches: »Flectere si nequeo superos, acheronta movebo« (Weigern’s die droben, so werd ich des Abgrunds Kräfte bewegen). Der untergründigen Bedeutung des Mottos für die gesamte Traumdeutung ist Jean Starobinski nachgegangen. »Dieser Vers Vergils stellt, wie wir wissen und noch genauer sehen werden, in einer mächtigen Allegorie den Umweg dar, den die Kraft des

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Vgl. die ursprüngliche Bedeutung von Schibboleth als Kennwort im Alten Testament im Buch Richter, Kapitel 12, Vers 5ff. Ilse Grubrich-Simitis: »Vorbemerkung«, in: Jean Starobinski/Ilse Grubrich-Simitis/Mark Solms: Hundert Jahre ›Traumdeutung‹ von Sigmund Freud. Drei Essays, Frankfurt/Main 2000, S. 7-9, hier S. 7. Ilse Grubrich-Simitis: »Metamorphosen der ›Traumdeutung‹. Über Freuds Umgang mit seinem Jahrhundertbuch«, in: J. Starobinski/I. Grubrich-Simitis/M. Solms: Hundert Jahre ›Traumdeutung‹ von Sigmund Freud, S. 49100, hier S. 67. Vgl. Isabel Platthaus: Höllenfahrten. Die epische katábasis und die Unterwelten der Moderne, München 2004. 32

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Begehrens einschlägt, wenn der ›gerade Weg‹ ihr ›versperrt‹ ist« 7 , hält Starobinski fest, um die Bewegung der Psychoanalyse als Abstieg in eine Tiefe zu fassen, die durch das Vergilzitat zugleich als eine moderne Form der katábasis erscheint. Wie Starobinski deutlich macht, verbindet sich das Motiv der Hadesfahrt bei Freud mit dem Bild wissenschaftlichen Fortschritts, das Freud einleitend bemüht, wenn er den Weg der Psychoanalyse zugleich als einen Aufstieg zu einer Anhöhe angibt: Wenn man einen engen Hohlweg passiert hat und plötzlich auf einer Anhöhe angelangt ist, von welcher aus die Wege sich teilen und die reichste Aussicht nach verschiedenen Richtungen sich öffnet, darf man einen Moment lang verweilen und überlegen, wohin man sich zunächst wenden soll. Ähnlich ergeht es uns, nachdem wir diese erste Traumdeutung überwunden haben. Wir stehen in der Klarheit einer plötzlichen Erkenntnis. Der Traum ist nicht vergleichbar dem unregelmäßigen Ertönen eines musikalischen Instruments, das anstatt von der Hand des Spielers, von dem Stoß einer äußerlichen Gewalt getroffen wird, er ist nicht sinnlos, nicht absurd, setzt nicht voraus, daß ein Teil unseres Vorstellungsschatzes schläft, während ein anderer zu erwachen beginnt. Er ist ein vollgültiges psychisches Phänomen, und zwar eine Wunscherfüllung… (GS II, 127)

Mit der Traumdeutung scheint Freud auf der Höhe seines Schaffens angekommen zu sein. Starobinski, der Freuds Darstellung mit Descartes’ Erkenntnisanspruch vergleicht, hebt in diesem Zusammenhang hervor: »Das Bild ist stets das eines fortschreitenden Ganges zu neuen Entdeckungen, zu Horizonten, die sich auf immer umfassendere Unternehmungen öffnen.« 8 Hinter dem optimistischen Bild des wissenschaftlichen Fortschritts und der damit verbundenen »Klarheit einer plötzlichen Erkenntnis« öffnet sich aber zugleich eine weitaus düstere Darstellung, die das einleitend zitierte Bild des Hohlwegs als Metapher für Freuds Lebenskrise, Didier Anzieu zufolge für eine »Krise der Lebensmitte« 9 , deuten kann. Mit dem Bild des Hohlwegs, der Anhöhe und den unterschiedlichen, sich verzweigenden Wegen, die sich dem Betrachter eröffnen, verweist Freud auf die unterschiedliche Bedeutung der Schwelle als 7

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Jean Starobinski: »Acheronta movebo. Nachdenken über das Motto der ›Traumdeutung‹«, in: J. Starobinski/I. Grubrich-Simitis/M. Solms: Hundert Jahre ›Traumdeutung‹ von Sigmund Freud, S. 11-48, hier S. 14. J. Starobinski: Acheronta movebo, S. 12. Didier Anzieu: Freuds Selbstanalyse und die Entdeckung der Psychoanalyse, München/Wien 1990, S. 4. Beim Erscheinen der Traumdeutung war Freud bereits 45 Jahre alt. Daher finden sich in den Träumen, die in das Buch Eingang gefunden haben, immer wieder Reflexionen auf mangelnden beruflichen Erfolg und das eigene Versagen. 33

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Übergang von wissenschaftlicher Erkenntnis und autobiographischer Reflexion des eigenen Lebensweges im Kontext einer Krisenerfahrung, die neben Vergils Aeneis zugleich auf Dantes Göttliche Komödie verweist: »Nel mezzo del cammin di nostra vita, Mi ritrovai per una selva oscura« 10 , mit diesen Worten hatte Dante die Lebensmitte zu Beginn seines Textes in den Kontext des drohenden Verirrens im Walde gestellt. Vor diesem Hintergrund erscheint die Traumdeutung im Dickicht der Lebensmitte als der verzweifelte Versuch, Orientierung zu gewinnen, indem die Schwelle zur Unterwelt aufgehoben wird und der Abstieg in das dunkle Reich der Träume beginnt. In ähnlicher Weise wie Dante zu Beginn seiner Göttlichen Komödie sucht Freud in der Traumdeutung mit dem Motto aus der Aeneis die symbolische Begleitung Vergils, um seinen Abstieg in die Unterwelt zu beginnen, einen Abstieg, der zugleich auf die Höhe neuester wissenschaftlicher Erkenntnis führen soll. Der Gegenstand seiner Untersuchung, der Traum, erscheint in diesem Zusammenhang selbst als ein Schwellenphänomen, als ein transitorischer Ort zwischen den beiden Polen des Einschlafens und des Erwachens und als symbolischer Stellvertreter für die Schattenwelt der Toten, deren bedrohlicher Macht Freud zu begegnen sucht, indem er den Traum als eine Wunscherfüllung ausgibt. Als Jahrhundertbuch und als Schibboleth markiert die Traumdeutung eine Schwelle, die ihr gegenständliches Korrelat in dem Begriff des Unbewussten gefunden hat, das als Raum, indem die Gesetze von Kausalität, Raum und Zeit nicht länger gelten (vgl. GS X, 286), selbst eine Instanz markiert, in der sich die Grenzen der Logik auflösen und die Unterscheidung zwischen Wachen und Träumen allmählich aufgehoben wird. So dient der Begriff des Unbewussten der Psychoanalyse als Prüfstein allen wissenschaftlichen Fortschrittes, der mit der noch jungen Wissenschaft verbunden ist, bis die Auseinandersetzung mit den Folgen des Ersten Weltkrieges eine neue Konzeption des psychischen Apparates notwendig machen wird. Wenn Freud von einem Schibboleth spricht, das den Zugang zur Psychoanalyse öffne, so erscheint als Passwort seiner Arbeiten zunächst der Begriff des Unbewussten. Mit der Traumdeutung beansprucht Freud, den Königsweg zum Unbewussten eingeschlagen und das richtige Passwort zur Hand zu haben: »Die Traumdeutung aber ist die Via regia zur Kenntnis des Unbewußten im Seelenleben.« (GS II, 613) Als Königsweg zum Unbewussten fungiert der Traum, der Freud den Zugang 10 Dante Alighieri: La Divina Commedia, a cura di Tomasio Di Salvo, Bologna 1985. In der deutschen Übersetzung: »Wohl in der Mitte unseres Lebensweges / geriet ich tief in einen dunklen Wald, / so dass vom graden Pfade ich verirrte.« Dante Alighieri: Die göttliche Komödie. Ins Deutsche übersetzt von Ida und Walther von Wartburg, Zürich 1963, S. 47. 34

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zu jenem dunklen Bereich eröffnet, der sich als Unbewusstes dem Bewussten notwendigerweise entzieht. Der wissenschaftliche Fortschritt, den Freud mit dem Erscheinen der Psychoanalyse für sich in Anspruch nimmt, wenn er die Erkenntnis formuliert, der Traum sei ein »vollgültiges psychisches Phänomen, und zwar eine Wunscherfüllung« (GS II, 127), führt vor dem Hintergrund der von Freud selbst angesprochenen autobiographischen Dimension seines Jahrhundertbuches zugleich zu der Frage, was Freud selbst sich wünscht, wenn er den Traum als Wunscherfüllung kennzeichnet. Nicht nur die These, der Traum sei eine Wunscherfüllung, korrespondiert mit Freuds persönlicher Wunscherfüllung, mit der Traumdeutung den Königsweg zur Psychoanalyse eingeschlagen zu haben. In dem Maße, in dem der Aufstieg zu den Höhen der Wissenschaft in Freuds Werk mit dem metaphorischen Abstieg in die Tiefe des Unbewussten verbunden ist, stellt sich zugleich die Frage, welche Motive den Analytiker in die Tiefe der Unterwelt führen. Die literarischen Beispiele der katábasis, auf die Freuds Traumdeutung rekurriert, Homer, Vergil, Dante, geben eine relativ klare Antwort auf die Frage nach dem Wunsch, der hinter dem Abstieg in die Unterwelt steht: Die Hadesfahrt dient der Suche nach Orientierung, nachdem der richtige Weg verloren ist. Im zehnten Buch der Odyssee begibt sich der homerische Held in die Unterwelt, um vom Seher Teiresias Aufschluss über den Weg zu erhalten, der seinen Irrfahrten ein Ende bereiten kann und ihn nach Hause führt. In ähnlicher Weise sucht Dante mit der Hilfe Vergils, der seinen Äneas ebenfalls in die Unterwelt geschickt hatte, in der Göttlichen Komödie den Weg, der ihn aus seiner anfänglichen Verirrung befreien kann. Im Anschluss an Homer, Vergil und Dante lässt sich die Traumdeutung als eine moderne Form der katábasis lesen, da sie die Frage nach dem Königsweg der Psychoanalyse mit der autobiographischen Suche nach dem richtigen Lebensweg verbindet. Als Autobiographie ist die Traumdeutung in Jean Pauls Worten eine ›Selberlebensbeschreibung‹, ein Buch, in dem Freud sein eigenes Leben verarbeitet. Das Moment der Selberlebensbeschreibung kommt vor allem in den vielen Träumen zur Geltung, die Eingang in den Text gefunden haben und die zu großen Teilen von Freud selbst stammen. Das Festhalten der Träume im Medium des Buches verweist daher zugleich auf den Zusammenhang von Schrift und Identität, der der Autobiographie zugrunde liegt. Als schriftliches Zeugnis, das das eigene Leben dokumentiert, ist die Autobiographie untrennbar mit einem Wahrheitsanspruch verbunden, der sich an der Person des Schreibers selbst festmachen lässt. Wie Philippe Lejeune herausgearbeitet hat, liegt der literarischen Form der Autobiographie ein »Pakt« zwischen Autor und Leser zugrunde, der in der Iden-

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tität von Autor, Erzähler und Protagonist ruhe, die die Autobiographie von anderen Formen der Prosa unterscheide. 11 Der autobiographische Pakt gibt dementsprechend ein Versprechen, das die Authentizität und die Wahrheit des Erlebten garantieren soll. Wenn die Biographen sich auch irren können, der Autor des eigenen Lebens lügt nicht. Gegen diesen Anspruch der Authentizität, den die Autobiographie erhebt, hat Paul de Man Einspruch eingelegt, indem er die Autobiographie als »defacement«, als ein Maskenspiel ausgibt, in dem der Autor sein Gesicht eher verliert denn gewinnt: »Die Bedeutung der Autobiographie besteht dann nicht darin, daß sie eine verläßliche Selbsterkenntnis liefert (was sie auch gar nicht tut), sondern darin, daß sie auf schlagende Weise die Unmöglichkeit der Abgeschlossenheit und der Totalisierung aller aus tropologischen Substitutionen bestehenden textuellen Systeme demonstriert« 12 . Der Prozess der Verschriftlichung erscheint im Kontext der Dekonstruktion als sprachliche Abweichung von der Forderung nach authentischer Wiedergabe des eigenen Lebens, die Darstellung als Verzerrung der von Augustinus eingeführten Herzensschrift der Autobiographie. Dass die Autobiographie keineswegs die Wahrheit liefere, sondern eine tiefere Form textuellen Verbergens darstelle, hat Freud selbst anhand von Goethes Autobiographie erläutert: Wenn die Psychoanalyse sich in den Dienst der Biographik begibt, hat sie natürlich das Recht, nicht härter behandelt zu werden als diese selbst. Die Psychoanalyse kann manche Aufschlüsse bringen, die auf anderen Wegen nicht zu erhalten sind, und so neue Zusammenhänge aufzeigen in dem Webermeisterstück, das sich zwischen den Triebanlagen, den Erlebnissen und den Werken eines Künstlers ausbreitet. Da es eine der hauptsächlichsten Funktionen unseres Denkens ist, den Stoff der Außenwelt psychisch zu bewältigen, meine ich, man müßte der Psychoanalyse danken, wenn sie auf den großen Mann angewendet zum Verständnis seiner großen Leistung beiträgt. Aber ich gestehe, im Falle von Goethe haben wir es noch nicht weit gebracht. Das rührt daher, daß Goethe nicht nur als Dichter ein großer Bekenner war, sondern auch trotz der Fülle autobiographischer Aufzeichnungen ein großer Verhüller. Wir können nicht umhin, hier der Worte Mephistopheles zu gedenken: ›Das Beste, was du wissen kannst, Darfst Du den Buben doch nicht sagen.‹ (GS XIV, 550)

Das Beste, was du wissen kannst, darfst du den Buben doch nicht sagen: Die Grenzen, die der Autobiographie gesetzt sind, gelten nicht nur für 11 Vgl. Philippe Lejeune: Der autobiographische Pakt, Frankfurt/Main 1994. 12 Paul de Man: »Autobiographie als Maskenspiel«, in: Die Ideologie des Ästhetischen, Frankfurt/Main 1993, S. 131-146, hier S. 134f. 36

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Goethe, sondern auch für Freud selbst. Wie im Falle von Goethes Dichtung und Wahrheit überschreibt die sprachliche Fiktion den Text der Wahrheit. Im Maskenspiel der Autobiographie liest sich Freuds Traumdeutung als Schibboleth der Psychoanalyse und als Schlüssel zu Freuds Selbst nur im Kontext eines Spiels der Verhüllungen, der Umwege und der Verstellungen, die es unmöglichen machen, länger von unverhüllter Wahrheitssuche zu sprechen. Und so gilt auch für die Auseinandersetzung mit der autobiographischen Dimension der Traumdeutung, dass es die Kritik noch nicht weit gebracht hat. Dass sich Freuds Traumdeutung nicht der »Herzensschrift« 13 öffnet, mit der Augustinus die Tradition der Autobiographie begründet hatte, ist zunächst der Scheu vor einer vollständigen Selbstentblößung geschuldet, die das Aufzeichnen der eigenen Träume mit sich bringen könnte. Freud betont einleitend, dass der Hauptgegenstand seiner Deutungskunst die eigenen Träume seien: »Somit bin ich auf meine eigenen Träume angewiesen als auf ein reichliches und bequemes Material, das von einer ungefähr normalen Person herrührt und sich auf mannigfache Anlässe des täglichen Lebens bezieht.« (GS II, 109) Hatte der biblische Joseph mit der Kunst geglänzt, die eigenen und die Träume der anderen sinnvoll zu deuten, so konzentriert sich Freud auf die eigenen Träume. Der Vorteil, der damit gewonnen ist, betrifft das Verhältnis des Traums zu dem in ihm verarbeiteten Material, das Freud im Fall der Selbstanalyse bekannt ist. Der Nachteil besteht in der Gefahr der Indiskretion gegenüber dem eigenen Seelenleben: »Man hat eine begreifliche Scheu, soviel Intimes aus seinem Seelenleben preiszugeben, weiß sich dabei auch nicht gesichert vor der Mißdeutung der Fremden. Aber darüber muß man sich hinaussetzen können.« (GS II, 110) Das Offenbaren der eigenen Träume bedeutet nicht nur einen Verstoß gegen die Diskretion, es lädt auch zur Fehldeutung durch die anderen ein. Freud fordert den Leser daher dazu auf, sich ganz und gar mit dem Träumer zu identifizieren: »Ich werde also einen meiner eigenen Träume hervorsuchen und an ihm meine Darstellungsweise erläutern. Jeder solche Traum macht einen Vorbericht nötig. Nun muß ich aber den Leser bitten, für eine ganze Weile meine Interessen zu den seinigen zu machen und sich mit mir in die kleinsten Einzelheiten meines Lebens zu versenken, denn solche Uebertragung fordert gebieterisch das Interesse für die versteckte Bedeutung der Träume.« (GS II, 110) Das Phänomen der Übertragung hatte Freud in den Schriften über Hysterie noch auf das Verhältnis des Arztes zur Patientin bezogen. In der Traumdeutung erweitert er den Begriff, indem er ihn auf das Ver13 Vgl. Manfred Schneider: Die erkaltete Herzensschrift. Der autobiographische Text im 20. Jahrhundert, München 1986. In den Kontext von Schneiders Analysen wäre auch Freuds Traumdeutung zu stellen. 37

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hältnis von Autor und Leser überträgt. Hatte sich in den Studien über Hysterie ein männlicher Diskurs konstituiert, der über die weibliche Hysterie räsonniert, so etabliert die Traumdeutung einen autobiographischen Pakt mit dem Leser im Sinne Lejeunes. Freud stellt jedoch von Beginn an klar, dass der Preisgabe des eigenen Seelenlebens, die mit dem autobiographischen Pakt einhergeht, bestimmte Grenzen gesetzt sind. Freuds Autobiographie ist daher keineswegs durch den Versuch einer rückhaltlosen Selbstentblößung gekennzeichnet, wie es zum Beispiel bei Rousseau der Fall ist, der »un homme dans toute sa vérité de la nature« 14 präsentieren will. An die Stelle der natürlichen Wahrheit, der sich Rousseau anvertraut, tritt bei Freuds Versuch, den Traum zu verstehen, ein Spiel des Verschweigens und Verbergens. Als Selbstanalyse präsentiert die Traumdeutung ein Ich, das nicht nur schläft, sondern sich im Traum und im Wachen vor dem Zugriff anderer wie vor dem eigenen beständig versteckt. Freud gibt daher noch einen zweiten Grund dafür an, dass die Traumdeutung nicht den einfachen Weg zur Wahrheit wählt. Die Offenbarung des eigenen Seelenlebens wird nicht nur durch die Scheu gehemmt, durch ein kulturelles Gefühl der Scham, das das Selbst schützt, sondern zugleich durch die Instanz, die in der Selbstanalyse erst entdeckt werden soll: das Unbewusste, das sich im Traum zeigt und zugleich verbirgt. Vor diesem Hintergrund hat Freud immer wieder betont, der Zusammenhang von Verdrängung und Unbewusstem markiere das Zentrum der Psychoanalyse: »Man kann von der Verdrängung wie von einem Zentrum ausgehen und alle Stücke der psychoanalytischen Lehre mit ihr in Verbindung bringen.« (GS XIV, 56) Im Zentrum der psychoanalytischen Lehre, die damit in eine Vorbildrolle für die Dekonstruktion rückt, die diese nie wirklich anerkannt hat, steht die Verdrängung jedoch zugleich in einer eigentümlichen Position: Ständig in Bewegung, markiert die Verdrängung ein Zentrum, das dezentral strukturiert ist, das in alle möglichen Richtungen drängt, ohne selbst ein Zentrum zu kennen. Mit der Verdrängung regiert im Zentrum der Psychoanalyse eine Macht, die sich dem Zugriff des Bewusstseins in einem Spiel der Verstellungen beständig entzieht. Wenn Freud über die Verdrängung notiert, »daß ihr Wesen in der Abweisung und Fernhaltung vom Bewußten besteht« (GS X, 250) und darüber hinaus betont, »Verdrängung und Unbewußtes seien in so großem Ausmaße korrelativ« (GS X, 250), dass sie sich kaum unterscheiden lassen, dann ist die Verdrängung als »Mittelding zwischen Flucht und Verurteilung« (GS X, 248) nur insofern im Zentrum der Psychoanalyse, als sie dieses Zentrum unaufhörlich verschiebt. Als autobiographischer

14 Jean-Jacques Rousseau: Les Confessions I, Paris 1959, S. 33. 38

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Text ist die Traumdeutung daher von dem Versuch Freuds geprägt, sich in der Selbstanalyse – zwischen Flucht und Verurteilung – zu verhüllen wie zu zeigen. »Wenn man den Vergleich nicht allzu strenge durchführt, kann man sagen, die Verdrängung verhält sich zu den anderen Abwehrmethoden wie die Auslassung zur Textentstellung, und in den verschiedenen Formen dieser Verfälschung kann man die Analogien zur Mannigfaltigkeit der Ichveränderung finden.« (GS XIV, 82) Als Autobiographie, in deren Mittelpunkt die Arbeit der Verdrängung steht, praktiziert Freuds eigener Text eine Entstellung, die das Unbewusste zugleich als eine Instanz markiert, die keinen authentischen Ort der Wahrheit mehr markiert, sondern den Hort zahlreicher Verfälschungen, die die Geschichte des Ichs bestimmen. Nicht nur der Gegenstand der Psychoanalyse, auch die Traumdeutung selbst verschreibt sich einer Strategie der Verstellung, die im Herzen des autobiographischen Schreibens wirksam bleibt. Es kann daher auch nicht verwundern, dass Freud das Moment der Entstellung in das Zentrum der Traumarbeit gestellt hat. Zwar ist der Traum für Freud ein sinnvolles Gebilde und insofern ein hermeneutisches Vorgehen geboten: Einen Traum zu deuten heißt »seinen ›Sinn‹ angeben« (GS II, 100). Paul Ricœur hat den Traum daher in einer allegorischen Lesart als einen Ort der Bedeutung anzusprechen versucht, »wo in einem unmittelbaren Sinn ein anderer Sinn sich auftut und zugleich verbirgt« 15 . Für Ricœur besteht die Hermeneutik Freuds im Anschluss an die Tradition des 18. Jahrhunderts in der »Wiederherstellung des Sinns« 16 . Das Besondere an Freuds Hermeneutik ist aber gerade, dass dieser Sinn immer nur in der Form der Entstellung, immer nur als anderer, zugänglich ist. Nicht umsonst ist Freud in seiner Psychopathologie des Alltagslebens, die den Untertitel: »Über Vergessen, Versprechen, Vergreifen, Aberglaube und Irrtum« trägt, der Vorsilbe »ver-« (GS IV, 268) nachgegangen: »Die gleiche Zusammensetzung mit der Vorsilbe ›ver-‹ deutet für die meisten dieser Phänomene die innere Gleichartigkeit an« (GS IV, 268), schreibt Freud über die alltäglichen Phänomene des Vergessens, Versprechens und Vergreifens. Das Gleiche gilt für die Prinzipien der Traumarbeit. In dem Maße, in dem Strategien der Verstellung und der Verkleidung den Traum regieren, sind auch die wichtigsten Momente des Traums Verstellungen: Verdichtung und Verschiebung als Prinzipien der Traumarbeit, als, wie Freud formuliert, »die beiden Werkmeister, deren Tätigkeit wir die Gestaltung des Traumes hauptsächlich zuschreiben dürfen.« (GS II, 313) Das Verstehen des Traums ist an die Formen der Ver- und Entstellung gekoppelt, die die lakonische Arbeit 15 Paul Ricœur: Die Interpretation. Ein Versuch über Freud, Frankfurt/Main 1974, S. 19. 16 P. Ricœur: Die Interpretation, S. 41. 39

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der Verdichtung und die dezentrierende Macht Verschiebung kennzeichnet: »Die Traumverschiebung ist eines der Hauptmittel zur Erzielung dieser Entstellung.« (GS II, 314) Samuel Weber hat in Freuds Definition der Traumarbeit daher »eine Strategie der Verstellung und Täuschung« 17 am Werk gesehen, die über den Begriff der Darstellung hinausgeht: »Die entscheidende Struktur des Traums liegt nicht im semantischen Inhalt der ›latenten‹ Traumgedanken, sondern in der besonderen Form, welche die Traumarbeit diesen Gedanken aufprägt. Die Kennzeichen dieser ›besonderen Form des Denkens‹ werden von Freud in dem Begriff Entstellung zusammengefasst, einem Begriff, der nur dann richtig verstanden werden kann, wenn er in Gegensatz zu dem Begriff der Darstellung gebracht wird.« 18 Das Besondere an Freuds Begriff der Entstellung, so Weber, sei die Tatsache, dass der Traum nicht zu einer von der Entstellung freien Form des Ursprungs zurückführe: Der Traum »entstellt selbst den Prozeß dieser Entstellung.« 19 Im Zentrum der psychoanalytischen Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Traums stehen mit den sprachlichen Momenten der Verdichtung und der Verschiebung, die Jacques Lacan auf die rhetorischen Figuren der Metapher und der Metonymie zurückgeführt hat, 20 dementsprechend Strategien der Entstellung und Verstellung, denen der Analytiker nachgeht, indem er das eigene Seelenleben entdeckt und darin zugleich verhüllt. Einen Traum zu verstehen bedeutet für die Psychoanalyse daher zunächst, den Wegen der Entstellung nachzugehen. Das demonstriert Freud am Traum von Irmas Injektion: Eine große Halle – viele Gäste, die wir empfangen. – Unter ihnen Irma, die ich sofort beiseite nehme, um gleichsam ihren Brief zu beantworten, ihr Vorwürfe zu machen, daß sie die ›Lösung‹ noch nicht akzeptiert. Ich sage ihr: Wenn du noch Schmerzen hast, so ist es wirklich nur deine Schuld. – Sie antwortet: Wenn du wüßtest, was ich für Schmerzen jetzt habe im Hals, Magen und Leib, es schnürt mich zusammen. – Ich erschrecke und sehe sie an. Sie sieht bleich und gedunsen aus; ich denke, am Ende übersehe ich doch etwas Organisches. Ich nehme sie zum Fenster und schaue ihr in den Hals. Dabei zeigt sie etwas Sträuben wie die Frauen, die ein künstliches Gebiß tragen. Ich denke mir, sie hat es doch nicht nötig. – Der Mund geht dann auch gut auf, und ich finde rechts einen großen Fleck, und anderwärts sehe ich an merkwürdigen krausen Gebilden, die offenbar den Nasenmuscheln nachgebildet sind, ausgedehnte weißgraue Schorfe. – Ich rufe schnell Dr. M. hinzu, der die Untersuchung wiederholt und bestätigt… Dr. M. sieht ganz anders aus als sonst; er ist sehr bleich, 17 18 19 20

S. Weber: Freud-Legende, S. 28. Ebd., S. 86. Ebd., S. 87. Vgl. Jacques Lacan: »Das Drängen des Buchstabens im Unbewussten oder die Vernunft seit Freud«, in: Schriften II, Weinheim/Berlin 1986, S. 15-59. 40

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hinkt, ist am Kinn bartlos… Mein Freund Otto steht jetzt auch neben ihr, und Freund Leopold perkutiert sie über dem Leibchen und sagt: Sie hat eine Dämpfung links unten, weist auch auf eine infiltrierte Hauptpartie an der linken Schulter hin (was ich trotz des Kleides wie er spüre)… M. sagt: Kein Zweifel, es ist eine Infektion, aber es macht nichts, es wird noch Dysenterie hinzukommen und das Gift sich ausscheiden… Wir wissen auch unmittelbar, woher die Infektion rührt. Freund Otto hat ihr unlängst, als sie sich unwohl fühlte, eine Injektion gegeben mit einem Propylpräparat. Propylen… Propionsäure… Trimethylamen (dessen Formel ich fettgedruckt vor mir sehe)… Man macht solche Injektionen nicht leichtfertig… Wahrscheinlich war auch die Spritze nicht rein. (GS II, 111f.)

Für Freuds Argumentation ist der Traum von Irmas Injektion von strategisch entscheidender Bedeutung. Er ist nicht nur der erste Traum in der Traumdeutung, der untersucht wird. Er bereitet zugleich die Hauptthese Freuds vor, dass der Traum eine Wunscherfüllung sei: »Der Traum stellt einen gewissen Sachverhalt so dar, wie ich ihn wünschen möchte; sein Inhalt ist also eine Wunscherfüllung, sein Motiv ein Wunsch.« (GS II, 123) Den Traum zu verstehen, heißt daher, den Wunsch zu deuten, der hinter dem Traum steht. Beim Traum von Irmas Injektion ist der Fall einfach: »Das Ergebnis des Traums ist nämlich, daß ich nicht Schuld bin an dem noch vorhandenen Leiden Irmas, und daß Otto daran Schuld ist.« (GS II, 123) Freud kommt zu diesem Schluss, da er in der Figur der Irma mehrere Personen erkennt, die der Traum zu einer einzigen verdichtet hat: Anna Hammerschlag-Lichtheim, Sophie Schwab-Paneth und Mathilde Breuer – alles Vornamen von Freuds Töchtern, in mehr als einem Sinne also »Freuds Frauen« 21 . Die Figuren, die der Traum zeigt, führen demnach zunächst auf das Verhältnis von Patientinnen und Ärzten zurück, das schon in den Studien über Hysterie eine zentrale Rolle spielte: Dr. M. ist Josef Breuer, Otto ist Oscar Rie, der Hausarzt der Familie, Leopold ist Ludwig Rosenstein, ein Kollege Freuds, der Freund in Berlin ist Wilhelm Fließ. Dabei handelt es sich im Traum zugleich an die Erinnerung an den Fall der Emma Eckstein, einer Patientin, die von Fließ an der Nase operiert worden war, wobei eine Nachlässigkeit von Fließ – er hatte einen ca. fünfzig Zentimeter langen Gazestreifen in der Nase vergessen – fast zu dem Tod der Patientin geführt hatte. Hinter dem Traum steht also der Vorwurf, kein guter Arzt zu sein. Der Traum selbst dient der gewünschten Abwehr dieses Vorwurfs, die dadurch erreicht wird, dass die anderen für die Fehler verantwortlich gemacht werden.

21 L. Appignanesi/J. Forrester: Die Frauen Sigmund Freuds, S. 174. 41

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Der Traum von Irmas Injektion ist daher zugleich von der Reflexion auf die Studien über Hysterie geprägt, der eine Kooperation von zwei Männern zugrunde lag. Grund der Reflexion sind die Qualen, die eine Frau von seiten ihrer Ärzte zu erleiden hat. Die Selbstsicherheit, die die Studien über Hysterie auszeichnete, ist einer Verunsicherung gewichen, die die eigene Rolle als Arzt betrifft. Freud lässt bei seiner Deutung des Traums interessanterweise alle Momente aus, die ganz im Sinne der frühen Studien zum Zusammenhang von Hysterie und Sexualität führen könnten: Das Bluten der Nase, die Öffnung des Mundes, die unreine Spritze finden in seinen Ausführungen kaum Erwähnung. Den Vorwurf, kein guter Arzt zu sein, wehrt Freud nicht nur im Traum, sondern auch in seiner Traumdeutung ab, insofern die richtige Deutung des Traums als verborgener Wunsch den Wunsch nach Entlastung bestätigt, der dem autobiographischen Charakter des Buches als verstelltem Geständnis entspricht. Wenn der Wunsch der Vater des Gedankens ist, dann ist Freuds Traumdeutung selbst eine Wunscherfüllung, die sich in der Unterscheidung von manifestem und latentem Trauminhalt als Grundlage der Verkleidung des Wunsches zeigt: Traumgedanken und Trauminhalt liegen vor uns wie zwei Darstellungen desselben Inhalts in zwei verschiedenen Sprachen, oder besser gesagt, der Trauminhalt erscheint uns als eine Übertragung der Traumgedanken in eine andere Ausdrucksweise, deren Zeichen und Fügungsgesetze wir durch die Vergleichung von Original und Übersetzung kennen lernen sollen. Die Traumgedanken sind uns ohne weiteres verständlich, sobald wir sie erfahren haben. Der Trauminhalt ist gleichsam in einer Bilderschrift gegeben, deren Zeichen einzeln in die Sprache der Traumgedanken zu übertragen sind. Man würde offenbar in die Irre geführt, wenn man diese Zeichen nach ihrem Bildwert anstatt nach ihrer Zeichenbeziehung lesen wollte. Ich habe ein Bilderrätsel vor mir. (GS II, 283f.)

Freud spricht von Bilderschrift und Bilderrätsel, um den Zeichencharakter hervorzuheben, der den Traum kennzeichne. Was der Zeichencharakter des Traums ermöglicht, ist eine Übersetzung von einer Sprache in eine andere. Freuds Traumdeutungen wie die im Traum von seinem Onkel sind solche Übersetzungsleistungen: I. … Freund R. ist mein Onkel. – Ich empfinde große Zärtlichkeit für ihn. II. Ich sehe sein Gesicht etwas verändert vor mir. Es ist wie in die Länge gezogen, ein gelber Bart, der es umrahmt, ist besonders deutlich hervorgehoben. (GS II, 143)

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DAS BUCH DER WÜNSCHE. DIE TRAUMDEUTUNG

Freud kommentiert seinen Traum schonungslos, indem er in Freund R. jemanden erkennt, der wie Freud auf die Ernennung zum Professor wartet, wobei in beiden Fällen die jüdische Herkunft ein Hindernis darstellt, das jede Aussicht auf Erfolg überschattet. Onkel Josef, mit dem Freud R. im Traum zu einer Figur verschmilzt, ist dagegen das schwarze Schaf der Familie, der Bruder des Vaters, der wegen Betrügereien im Gefängnis gesessen hat. Freud erinnert sich an den Vater, der meinte, »Onkel Josef sei nie ein schlechter Mensch gewesen, wohl aber ein Schwachkopf« (GS II, 144). Damit ist ihm auch der Sinn des Traumes klar: Freud gibt Freund R. als Schwachkopf aus, um am Glauben festhalten zu können, seine eigene Ernennung zum Professor sei aussichtsreicher als die des Kollegen. Freud kommentiert den Traum im Blick auf den manifesten Affekt der Zärtlichkeit: »Wenn mein Traum im Vergleich zu seinem latenten Inhalt in diesem Punkte entstellt, und zwar ins Gegensätzliche entstellt ist, so dient die im Traum manifeste Zärtlichkeit dieser Entstellung, oder, mit anderen Worten, die Entstellung erweist sich als absichtlich, als ein Mittel der Verstellung.« (GS II, 147) Entscheidend für Freuds Auffassung des Traums ist der Zusammenhang zwischen der Übersetzung des latenten Trauminhalts – ich halte Freund R. für einen Schwachkopf – in einen manifesten Inhalt, der das genaue Gegenteil besagt: Ich empfinde große Zärtlichkeit für ihn, und der Verstellung, die dem Traum zugrunde liegt. Im Blick auf Goethes Faust kommentiert Freud, dass sich der Wunsch im Traum »nicht anders als entstellt zum Ausdruck bringen« (GS II, 147) ließ: Wo findet man im sozialen Leben eine ähnliche Entstellung eines psychischen Aktes? Nur dort, wo es sich um zwei Personen handelt, von denen die eine eine gewisse Macht besitzt, die zweite wegen dieser Macht eine Rücksicht zu nehmen hat. Diese zweite Person entstellt dann ihre psychischen Akte, oder, wie wir auch sagen können, sie verstellt sich. Die Höflichkeit, die ich alle Tage übe, ist zum guten Teil eine solche Verstellung; wenn ich meine Träume für den Leser deute, bin ich zu solchen Entstellungen genötigt. Über den Zwang zu solcher Entstellung klagt auch der Dichter: ›Das Beste, was du wissen kannst, darfst du den Buben doch nicht sagen.‹ (GS II, 147)

Der letzte Satz fällt auch an späterer Stelle, als Freud Goethes Autobiographie als Kunst des Verbergens charakterisiert, gegen die die Psychoanalyse kein Mittel kenne. Sie kann das nicht, weil sie mit der Autobiographie eine literarische Strategie wählt, die sich den Zugriffen der Psychoanalyse wie der Literaturwissenschaft durch die ihr eigene Entstellung erfolgreich entzieht. Wie aber ist Freud zu fassen, wenn er sich selbst als Verstellungskünstler in der Tradition Goethes charakterisiert, 43

DAS SCHIBBOLETH DER PSYCHOANALYSE

der im Medium des Textes nur zu sich kommt, indem er sich entzieht? Vor dem Hintergrund der zentralen Funktion, die Freud der Entstellung einräumt, hat es nicht nur die Analyse mit dem Traum als einer verborgenen Form der Wunscherfüllung zu tun, sondern auch der Leser mit einem Autor, der sich beständig verstellt. Es kann daher nicht darum gehen, Freud am richtigen Ort anzutreffen, um die Wahrheit der Psychoanalyse in Szene zu setzen. Das Schibboleth der Psychoanalyse zwingt die Auseinandersetzung mit Freud vielmehr dazu, selbst beständig in Bewegung zu bleiben, um den Strategien der Verstellung nachgehen zu können, die das Werk Freuds bestimmen. Ein erster Weg, der den Zugang zu Freud unter diesen Voraussetzungen öffnet, ist die traurige Geschichte des Königs Ödipus.

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IV. L I S T I G E M Ü T T E R U N D Z O R N I G E S Ö H N E . KÖNIG ÖDIPUS

In der Traumdeutung hatte Freud das Unbewusste als das Schibboleth der Psychoanalyse eingesetzt. In den Drei Abhandlungen zur Sexualität macht Freud in einer Fußnote einen Vorschlag, wie das Schibboleth genauer zu fassen sei: über den Mythos vom König Ödipus, der schon in der Traumdeutung eine zentrale Rolle spielte: »Der Forschritt der psychoanalytischen Arbeit hat diese Bedeutung des Ödipuskomplexes immer schärfer gezeichnet; seine Anerkennung ist das Schibboleth geworden, welche die Anhänger der Psychoanalyse von ihren Gegnern scheidet.« (GS V, 127f.) Indem er den König Ödipus als Schibboleth darstellt, das die Anhänger der Psychoanalyse von ihren Gegnern scheidet, greift Freud nicht nur erneut auf einen literarisch vermittelten Mythos zurück. Er trägt zugleich der Tatsache Rechnung, dass das geheime Zentrum der Psychoanalyse in der Traumdeutung nur einen marginalen Platz eingenommen hatte. Im Rahmen der Auseinandersetzung mit Traummaterial und Traumquellen führt Freud den Ödipuskomplex im Kapitel über typische Träume als ein Beispiel für den Traum vom Tod teurer Personen ein. Dem Ödipuskomplex kommt im Argumentationszusammenhang, den die Traumdeutung entfaltet, mithin alles andere als eine zentrale Bedeutung zu. Es scheint fast so, als hätte Freud den Ödipuskomplex nur beiläufig eingeführt, um ihm erst später – in der für die Psychoanalyse charakteristischen Form der »Nachträglichkeit« – den zentralen Status zu geben, den er später einnehmen sollte. Dass sich Freud mit besonderer Vorliebe auf mythologische und literarische Beispiele stützt, um seine Thesen zu erläutern, ist von ihm selbst wie von der Forschung oft unterstrichen worden. 1 Mit der Figur des Ödipus steht jedoch nicht nur die Reichweite der Psychoanalyse für die Interpretation von literarischen Texten in Frage, sondern vielmehr die grundsätzliche Bedeutung der Literatur für Freuds Denken. Das hat schon Jean Starobinski in seinen grundlegenden Überlegungen zum Verhältnis von Psychoanalyse und Literatur festgehalten: »So sind wir in 1

Vgl. H.-M. Lohmann/J. Pfeiffer: Freud-Handbuch, S. 249-251. 45

DAS SCHIBBOLETH DER PSYCHOANALYSE

dem Augenblick, als wir nach dem Beitrag der Psychoanalyse zur Literaturwissenschaft gefragt haben, dazu gekommen, die umgekehrte Frage zu stellen nach den Elementen, die die Psychoanalyse im Laufe ihrer Herausarbeitung der Literatur entliehen hat, um diese Elemente in ihre eigene Lehrstruktur zu assimilieren.« 2 Die Frage, welche Rolle die Literatur für den Theoriebildungsprozess bei Freud eingenommen hat, so Starobinski, führt weiter als die nach der Möglichkeit einer psychoanalytischen Literaturinterpretation. Das verkennen gerade jene Ansätze, die in Freuds Theorie nur ein mehr oder weniger brauchbares Instrumentarium sehen, mit dessen Hilfe neben Träumen und Versprechern eben auch literarische Texte gedeutet werden können. Nicht nur der viel beschworene Zusammenhang zwischen der Romantik, dem Unheimlichen und Freuds eigenem Denken steht damit zur Diskussion, sondern mehr noch die psychoanalytische Reflexion auf die mythologischen Grundlagen der griechischen Tragödie, die Freud mit anderen Denkern wie Friedrich Nietzsche oder Walter Benjamin verbindet. Dass Freud gerade den Ödipusstoff zum Ausgangspunkt weit reichender Überlegungen nimmt, muss vor dem Hintergrund der Studien über Hysterie zunächst überraschen. Der Fall Katharinas zeigte ein Bild des Vaters, das Freud in Totem und Tabu wieder aufnehmen wird, sich von dem der griechischen Tragödie aber signifikant unterscheidet: Es ist nicht das Bild des Mannes, der unwissentlich die eigene Mutter zur Frau nimmt, sondern vielmehr das eines archaischen Stammesvaters, der über alle weiblichen Familienmitglieder frei verfügen kann. So deuten die Studien über Hysterie schon ein Bild der archaischen Gesellschaft an, das Freud in seinen späteren kulturtheoretischen Schriften entfaltet. In der Traumdeutung steht mit dem Fall des Königs Ödipus dagegen eine andere Geschichte zur Diskussion, in der es nicht allein um die Funktion des Vaters geht, sondern im gleichen Maße um die Rolle der Frau und Mutter, die die Figur Iokastes verkörpert. Als Schibboleth, das die Anhänger der Psychoanalyse von ihren Gegnern zu unterscheiden erlaubt, fungiert der Ödipuskomplex nicht zuletzt, da er bei allen, die sich Freud nicht zugesellen möchten, eine scharfe Ablehnung hervorruft. Bis heute ist der Ödipuskomplex und die Bedeutung, die Freud ihm zugewiesen hat, umstritten. Kaum ein wissenschaftliches Theorem hat so viele Anfeindungen erfahren müssen wie Freuds Begriff des Ödipuskomplexes. Besonders deutlich ist das bei einem erbitterten Feind der Psychoanalyse wie Elias Canetti, der in seiner Autobiographie über die Bedeutung Freuds für das geistige Leben in Wien schreibt:

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Jean Starobinski: Psychoanalyse und Literatur, Frankfurt/Main 1973, S. 84f. 46

LISTIGE MÜTTER UND ZORNIGE SÖHNE. KÖNIG ÖDIPUS

Ich hatte meine Zweifel an der Sache, vielleicht weil ich mörderische Eifersucht von klein auf kannte und mir ihrer sehr unterschiedlichen Motivationen wohl bewußt war. Aber selbst wenn es einem der zahllosen Vertreter dieses Freudschen Gedankens gelungen wäre, mich von seiner allgemeinen Gültigkeit zu überzeugen, nie hätte ich den Namen für die Sache anerkannt. Ich wußte, wer Ödipus war, ich hatte Sophokles gelesen, das Ungeheure dieses Schicksals ließ ich mir nicht rauben. Zur Zeit meiner Ankunft in Wien war ein Allerweltsgeleier daraus geworden, von dem niemand sich ausnahm, auch der stolzeste Pöbelverächter war sich für einen ›Ödipus‹ nicht zu gut. 3

»Daß jeder zum ›König von Theben‹ werde, jeder das Ungeheure dieses Schicksals von Ödipus für sich beanspruchen dürfe, dünkt Canetti Gleichmacherei« 4 , kommentiert Michael Rohrwasser. Hatte sich Canetti in seiner Autobiographie einleitend mit der Autorität auseinandergesetzt, die der dunkle Name Freud für ihn verkörpert, so ist er nun nicht mehr dazu bereit, »den Namen für die Sache« anzuerkennen. Weil er das Schicksal des Ödipus besser zu kennen meint als Freud, verweigert sich Canetti dem Anspruch der Psychoanalyse, jedes Schicksal auf das des Ödipus zurückführen zu können. Das ›Allerweltsgeleier‹ im Ohr, das durch die Straßen Wiens heult, will Canetti sich vom Pöbel unterschieden wissen. Die individuelle Lebensgeschichte, die die Autobiographie erzählt, schließt das Aufgehen des Selbst in der Masse aus. Die strikte Ablehnung, mit der Canetti dem Gesetzescharakter des Ödipuskomplexes begegnet, eine Verweigerung, die sich in ihrer Schärfe selbst als ödipal motivierter Widerstand gegen die intellektuelle Autorität Freuds zu erkennen zu geben scheint, verweist sprachlich auf einen Kontext, der nicht durch die mythische Figur des Ödipus abgedeckt wird, sondern durch die des Narziss. Das Bild, das er sich von Ödipus gemacht hat, möchte Canetti sich auch vom Vater der Psychoanalyse nicht nehmen lassen. Ich kenne den Ödipus besser als Freud, mein Ödipus ist wahrer. Das ist die Quintessenz von Canettis Kritik an Freud: »Ich habe meine Zweifel«, »ich kenne mörderische Eifersucht«, »ich bin mir über ihre Motivationen bewusst«, »ich erkenne den Namen für die Sache nicht an«, »ich weiß, wer Ödipus ist«, »ich habe Sophokles gelesen«, »ich lasse mir das Ungeheure dieses Schicksals nicht rauben«. Verpflichtet das autobiographische Schreiben Canetti in Die Fackel im Ohr zum beinahe hemmungslosen Ich-Sagen, so verschreibt sich die Abgrenzung von

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Elias Canetti: Die Fackel im Ohr. Lebensgeschichte 1921-1931, Frankfurt/Main 1982, S. 117. Michael Rohrwasser: »Schreibstrategien. Canettis Beschreibungen von Freud«, in: Thomas Anz (Hg.), Psychoanalyse in der modernen Literatur. Kooperation und Konkurrenz, Würzburg 1999, S. 145-166, hier S. 156. 47

DAS SCHIBBOLETH DER PSYCHOANALYSE

Freud einer Form des Narzissmus, die die Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse noch auf einer zweiten Ebene bestimmt. In dem Maße, in dem sich Canettis Ablehnung des Ödipuskomplexes dem Narzissmus verschreibt, verweist er mit dem Mythos vom selbstverliebten Narziss auf eine zweite Inspirationsquelle der Psychoanalyse, die die Geschichte des Königs Ödipus ergänzt und zugleich verändert. Wie Canetti zeigt, reicht das Schibboleth des Ödipuskomplexes allein nicht aus, um die Bedeutung literarischer Mythen für Freuds Denken ins rechte Licht zu rücken. Wie zu zeigen sein wird, eröffnet die Geschichte des Narziss neben der des Ödipus einen zweiten, anderen Zugang zur Psychoanalyse. Dass dem Ödipuskomplex eine zentrale Bedeutung für die Geschichte der Psychoanalyse zukommt, hat Freud immer wieder hervorgehoben. Noch in seiner Spätschrift Kurzer Abriß der Psychoanalyse stellt Freud fest, die Psychoanalyse habe »zu unserem wachsenden Erstaunen erkennen lassen, welch ungeheuer wichtige Rolle der sogenannte Ödipus-Komplex, d. i. die affektive Beziehung des Kindes zu seinen beiden Eltern, im Seelenleben des Menschen spielt.« (GS XIII, 426) Die Bedeutung der Ödipusgeschichte für Freuds Denken beruht auf der Tatsache, dass der Mythos im literarischen Gewand eine Grundwahrheit vorführe, die erst die Psychoanalyse als solche auszusprechen wagt. Als verkleidete Form der Wunscherfüllung reiht sich die Geschichte des Königs Ödipus in das Spiel der Verstellungen ein, das nach Freud auch die Auseinandersetzung mit dem Traum charakterisiert. Die zentrale Bedeutung des Ödipuskomplexes betrifft die Traumdeutung entsprechend nicht allein als wissenschaftliche Abhandlung zur Erforschung der Träume, sondern zugleich als eine verdeckte Form der Autobiographie. Über seinen wissenschaftlichen Gehalt hinaus beansprucht der Mythos daher eine persönliche Bedeutung für Freuds Selbstanalyse, die dieser in einem Brief an Wilhelm Fließ festgehalten hat: Wenn die Analyse hält, was ich von ihr erwarte, werde ich sie systematisch bearbeiten und Dir dann vorlegen. Ich habe nichts völlig Neues bis jetzt gefunden, alle Komplikationen, die ich bis jetzt gewohnt bin. Ganz leicht ist es nicht. Ganz ehrlich mit sich sein, ist eine gute Übung. Ein einziger Gedanke von allgemeinem Wert ist mir aufgegangen. Ich habe die Verliebtheit in die Mutter und die Eifersucht gegen den Vater auch bei mir gefunden und halte sie jetzt für ein allgemeines Ereignis früher Kindheit, wenn auch nicht immer so früher bei den hysterisch gemachten Kindern. (Ähnlich wie den Abkunftsroman der Paranoia – Heroen, Religionsstifter.) Wenn das so ist, so versteht man die packende Macht des Königs Ödipus trotz aller Einwendungen, die der Verstand gegen die Fatumsvoraussetzung erhebt, und versteht, warum das spätere Schicksalsdrama so elend scheitern musste. Gegen jeden willkürlichen Einzelzwang wie er in der Ahnfrau etc. Voraussetzung ist, bäumt sich unsere 48

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Empfindung, aber die griechische Sage greift einen Zwang auf, den jeder anerkennt, weil er dessen Existenz in sich verspürt hat. Jeder der Hörer war einmal im Keime und in der Phantasie ein solcher Ödipus und vor der hier in die Realität gezogenen Traumerfüllung schaudert jeder zurück mit dem ganzen Betrag der Verdrängung, der seinen infantilen Zustand von seinem heutigen trennt. 5

Die in diesem Kontext nicht unbedingt verständliche Abwertung der Ahnfrau Grillparzers geht mit der Aufwertung des König Ödipus Hand in Hand. Freud beginnt seine Überlegungen mit dem Eingeständnis, das die Ehrlichkeit sich selbst gegenüber eine ebenso schwere wie gute Übung sei. Im intimen Medium des Briefes scheint sich Freud im Unterschied zu den Verstellungsstrategien, die die Traumdeutung beherrschen, ganz der Aufrichtigkeit dem Freund gegenüber hingeben. Im Rahmen der Selbstanalyse Freuds erweist sich Fließ als erster Adressat einer neuen Kunst, die in der Geschichte des Ödipus ihren einzigen Gedanken von Wert zu finden scheint. Den Ausgangspunkt von Freuds Argumentation bildet ein persönliches Erlebnis, die Erinnerung an die eigene Kindheit, die er in einem zweiten Schritt zu einem universalen Prinzip ausweitet, demzufolge jeder einmal ein Ödipus gewesen ist. Vorbereitet wird jener Schritt, den Freud in seinen späteren Schriften vollzieht, wenn er den Ödipuskomplex zum Kern aller Neurosen erklärt: »So möchte ich denn zum Schlusse dieser mit äußerster Verkürzung geführten Untersuchung das Ergebnis aussprechen, daß im Ödipus-Komplex die Anfänge von Religion, Sittlichkeit, Gesellschaft und Kunst zusammentreffen, in voller Übereinstimmung mit der Feststellung der Psychoanalyse, daß dieser Komplex den Kern aller Neurosen bildet, so weit sie bis jetzt unserem Verständnis nachgegeben haben.« (GS IX, 188) Religion, Sittlichkeit, Gesellschaft und Kunst: Nichts bleibt von Ödipus unberührt. So kann es nicht verwundern, dass Freuds Würdigung der griechischen Tragödie in der Traumdeutung mit einer generellen Würdigung der Mythologie einhergeht: Die dunklen Nachrichten, die in Mythologie und Sage aus der Urzeit der menschlichen Gesellschaft auf uns gekommen sind, geben von der Machtfülle des Vaters und von der Rücksichtslosigkeit, mit der sie gebraucht wurde, eine unerfreuliche Vorstellung. Kronos verschlingt seine Kinder, etwa wie der Eber den Wurf des Mutterschweins, und Zeus entmannt den Vater und setzt sich als Herrscher an seine Stelle. Je unumschränkter der Vater in der alten Familie herrschte, desto mehr muß der Sohn als berufener Nachfolger in die Lage des

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Sigmund Freud: Aus den Anfängen der Psychoanalyse. Briefe an Wilhelm Fließ und Notizen aus Jahren 1897-1902, Frankfurt/Main 1962, S. 193. 49

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Feindes gerückt, desto größer muß seine Ungeduld geworden sein, durch den Tod des Vaters selbst zur Herrschaft zu gelangen. (GS II, 262f.)

Die angebliche Dunkelheit des Mythos nutzt Freud zur Bestätigung der These von der »Machtfülle des Vaters« in archaischen Gesellschaften. Die Rücksichtslosigkeit des unumschränkten Herrschers provoziert die Reaktion der Söhne, deren einziges Ziel in der Entmachtung des Vaters besteht. Freud bezieht sich auf den von Hesiod überlieferten Mythos der Geschichte des olympischen Göttervaters Zeus zurück, der zunächst seinen eigenen Vater und dann den rivalisierenden Anspruch der Titanen überwinden musste, um selbst König werden zu können. »Wir sind derart daran gewöhnt, die Freudschen Begriffe zu gebrauchen, um die Mythen zu interpretieren, dass wir vergessen, das Problem umzukehren und uns zu fragen, ob die Mythen nicht dazu beigetragen haben, Freuds Begriffe zu bilden« 6 , hält Starobinski fest. Dass der Mythos die Begriffe der Psychoanalyse gebildet habe, zeigt sich jedoch nicht allein an der Tatsache, dass Freud auf die dunkle Nachricht aus der Mythologie rekurriert, um die Geschichte des rücksichtslosen Vaters und des rebellierenden Sohnes darzustellen. Freud unterläuft darüber hinaus ein Lapsus, wenn er auf die Geschichte von Kronos und Zeus anspielt. Denn in Hesiods Theogonie ist die Geschichte vom Verschlingen der Kinder und der anschließenden Entmannung auf Uranos und Kronos bezogen, nicht auf Zeus und Kronos. Was Hesiod als prinzipiell wiederholbares Prinzip in der Genealogie der Götterabfolge darstellt, das erst durch die Herrschaft des Zeus außer Kraft gesetzt wird, der mythische Kampf von Vater und Sohn, wird von Freud aus dem Zusammenhang gelöst und erst dann als universales Prinzip der Wiederholung etabliert, das jeden betreffen soll. Die Theogonie hatte »das Chaos« 7 als ein Prinzip der Formlosigkeit an den Anfang gestellt, das sich im Unterschied zum Kosmos als einer räumlichen und zeitlichen Form der Ordnung durch die Abwesenheit jeder Ordnung kennzeichnet. Die kosmologische Ordnung wird erst begründet durch die »die breitbrüstige Gaia, der niemals wankende Sitz von allen Unsterblichen, die das Haupt des schneebedeckten Olymp bewohnen« (117-118). Nach dem Chaos steht Gaia als Urmutter und spätere Gattin des Uranos am Anfang der Ordnung, die auch die Menschen kennen. Uranos erscheint dabei in einer doppelten Funktion, die an die Geschichte des Ödipus erinnert: als Kind wie als Gatte der Gaia zugleich: »Gaia aber erzeugte als erstes, ihr selbst gleich, den stern6 7

J. Starobinski: Acheronta movebo, S. 33. Hesiod: Theogonie. Herausgegeben, übersetzt und erläutert von Karl Albert, Sankt Augustin 1985, Vers 116. Die Versangaben im Folgenden in Klammern im Text. 50

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reichen Uranos, damit er sie ganz umhülle« (126-127). In der mythologischen Darstellung der Theogonie repräsentieren Gaia und Uranos Erde und Himmel als elementare Prinzipien der Welt, die sich wechselseitig ergänzen. Unter den Kindern, die Uranos und Gaia zeugen, befindet sich auch Kronos: »Nach diesen entstand als der jüngste der hinterlistige Kronos, das schrecklichste unter den Kindern. Er haßte den blühenden Vater.« (137-138) Eingeführt wird Kronos in der besonders markierten Position des jüngsten Sohnes der Gaia, als derjenige, der am ehesten dazu in der Lage zu sein scheint, die Nachfolge des alternden Vaters zu übernehmen. Mit der Hinterlist, die er Kronos unterstellt, greift Hesiod auf das gleiche Attribut zurück, das er bei der Gegenüberstellung des Rechtsanspruchs von Zeus und Prometheus zur Geltung bringen wird. Die List geht mit dem Hass einher, der nicht nur das Verhältnis des Sohnes zum Vater, sondern auch das des Vaters zu seinen Söhnen bestimmt: Und sobald von ihnen einer geboren war, verbarg er sie alle und ließ sie nicht ans Licht hinauf in einer Höhlung der Erde (Gaia). Über die schlechte Tat aber freute sich Uranos. Die riesige Erde jedoch stöhnte innerlich, weil sie (immer mehr) eingeengt wurde, und sie ersann eine schlaue und böse List. Und sofort brachte sie das Geschlecht des hellen Stahls hervor und fertigte eine große Sichel an und sprach zu ihren Söhnen. Sie sagte ermunternd (zu ihnen), in ihrem Herzen (aber) bekümmert: ›Meine Kinder und die eines ruchlosen Vaters, wenn ihr gehorchen wollt, können wir die schlimme Schandtat eures Vaters rächen. Als erster nämlich hat er unrechte Taten erdacht.‹ So sprach sie. Aber alle ergriff Furcht, und keiner von ihnen sprach. Der große hinterlistige Kronos aber faßte Mut und redete die besorgte Mutter an mit (folgenden) Worten: ›Mutter, ich will es versprechen und die Tat vollbringen, denn ich habe keine Achtung (mehr) vor unserem verruchten Vater. Als erster nämlich hat er unrechte Taten erdacht.‹ So sprach er. Es freute sich aber sehr im Herzen die riesige Erde. (151-173)

Hesiod erzählt die Geschichte eines Bündnisses, das Mutter und Sohn eingehen, um die Machtfülle des Vaters zu hintergehen. Wie Renate Schlesier gezeigt hat, ist es diese auf die Mutter gerichtete Konstellation, die bei Freud keine Berücksichtigung findet: »Berichten Mythen von Müttern oder Muttergottheiten als ›Verführerin[nen]‹ der Söhne oder gar ›Anstifterin[nen]‹ zum Vatermord, so will Freud darin nichts als eine ›lügenhafte Umdichtung‹ erblicken« 8 . Die aktive Rolle übernimmt die Mutter bei Hesiod, die ihren Sohn zur Tat anstachelt, um sich selbst von der Last der in ihr verborgenen Kinder zu befreien. Auf die »schlechte Tat« des Uranos, der die Kinder aus Angst, sie könnten ihn überwältigen,

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R. Schlesier: Mythos und Weiblichkeit bei Sigmund Freud, S. 35. 51

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in der Erde versteckt, folgt die »schlaue und böse List« der Mutter, die ihrem jüngsten Sohn die Mondsichel reicht, damit er sich am Vater rächen kann. Die Hinterlist des Kronos scheint nichts als eine Wiederholung der bösen List der Mutter zu sein, deren Aufforderung zum Mord an dem Vater er Wort für Wort wiederholt, als er feststellt, dieser habe »unrechte Taten erdacht«. Das Unrecht des Vaters an den Kindern gibt diesen das Recht zum Unrecht am Vater. In seiner Geschichte von der Ablösung des Göttervaters Uranos durch Kronos schildert Hesiod die Verführbarkeit des Sohnes durch die Mutter, die sich in der listigen Entmannung des Vaters erfüllt: Nachdem sie ihn in einem Versteck verborgen hatte, hieß sie ihn sitzen. Sie gab ihm in die Hand die scharfzahnige Sichel. Den ganzen listigen Plan lehrte sie ihn. Es kam nun, die Nacht herbeiführend, der große Uranos. Er breitete sich rings um Gaia in Liebesverlangen aus und spannte sich überall aus. Der Sohn aber streckte aus seinem Versteck die linke Hand aus, nahm mit der rechten die riesige Sichel, die lange, scharfzahnige, und schnitt die Geschlechtsteile seines Vaters eilends ab. (Dann) warf er sie (fort), daß sie wieder hinter ihn folgen. Nicht wirkungslos jedoch entflohen sie seiner Hand: Wieviel blutige Tropfen nämlich herunerfielen: alle nahm Gaia sie auf. Im Kreislauf der Jahre aber brachte sie (darauf) die starken Erinyen und die großen Giganten hervor (174184).

In der Geschichte von Kronos und Uranos reagiert List auf List 9 : Hatte Uranos die Kinder im Schoß der Erde verborgen, so besteht die Gegenlist, die Gaia und Kronos ersinnen, darin, den Sohn in ein anderes Versteck zu bringen, um auf die Nacht zu warten. Die Entmachtung des Vaters, die Kronos mit Hilfe der Mondsichel vornimmt, besteht in der Entmannung, die dem Vater die Möglichkeit raubt, sich weiter gegen den Willen Gaias zu reproduzieren, ohne den Söhnen ihr Recht zukommen zu lassen. Mit dem Kastrationsschnitt setzt der Sohn eine Unterbrechung in der genealogischen Reihe, aus der er als der neue Herrscher hervorgehen soll. Das unmittelbare Resultat der List, die Mutter und Sohn bei Hesiod in ähnlicher Weise verbindet wie es in der Bibel in der Geschichte Rebekkas und Jakobs der Fall ist, besteht in der Entmannung des Vaters und der Geburt der Erinnyen als Töchter der Gaia aus dem Blut des Uranos. Ein letztes Mal empfängt Gaia Kinder von Uranos, nicht aus dem Samen, sondern aus dem Blut, das diese zu Rachegöttinnen werden lässt, deren untrügliche Nase jeden Verstoß gegen die mütterliche Ordnung aufspüren. In Freuds Begrifflichkeit aus Totem und Tabu geht die Auf9

Zur Strategie der List vgl. Harro von Senger (Hg.), Die List, Frankfurt/Main 1999. 52

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lehnung gegen den Vater mit der Geburt der Schuld einher, die die Söhne angesichts des Mordes am Vater befällt: Wenn das Totemtier der Vater ist, dann fallen die beiden Hauptgebote des Totemismus, die beiden Tabuvorschriften, die seinen Kern ausmachen, den Totem nicht zu töten und kein Weib, das dem Totem angehört, sexuell zu gebrauchen, inhaltlich zusammen mit den beiden Verbrechen des Ödipus, der seinen Vater tötete und seine Mutter zum Weib nahm, und mit den beiden Urwünschen des Kindes, deren ungenügende Verdrängung oder deren Wiedererweckung den Kern vielleicht aller Psychoneurosen bildet. Sollte diese Gleichung mehr als ein irreleitendes Spiel des Zufalls sein, so müßte sie uns gestatten, ein Licht auf die Entstehung des Totemismus in unvordenklichen Zeiten zu werfen. (GS IX, 160)

In Totem und Tabu erkennt Freud im gemeinsamen Mord am Vater die Grundlage der Kultur: Die Brüder erschlagen den Vater (vgl. GS IX, 171f.), um seinen Platz einzunehmen. Sie bezahlen ihre Tat mit der Verinnerlichung des Schuldvorwurfs, der mit dem Mord einhergeht. Die Söhne haben sich nur scheinbar vom Vater befreit: In der Schuld, mit der sie sich konfrontiert sehen, lebt er weiter. So bestimmt das Gesetz des Vaters, das Freud im Phänomen des Totemismus auszumachen glaubt und in seiner letzten Schrift Der Mann Moses und die monotheistische Religion weiter ausführt, zugleich den Begriff der tragischen Schuld, auf den die Psychoanalyse im Zusammenhang mit der antiken Form der Tragödie eingeht: Warum muß aber der Held der Tragödie leiden, und was bedeutet seine ›tragische‹ Schuld? Wir wollen die Diskussion durch rasche Beantwortung abschneiden. Er muß leiden, weil er der Urvater, der Held jener großen urzeitlichen Tragödie ist, die hier eine tendenziöse Wiederholung findet, und die tragische Schuld ist jene, die er auf sich nehmen muß, um den Chor von seiner Schuld zu entlasten. Die Szene auf der Bühne ist durch zweckmäßige Entstellung, man könnte sagen: im Dienste raffinierter Heuchelei, aus der historischen Szene hervorgegangen. (GS IX, 188)

Freud interpretiert die Tragödie als symbolische Wiederholung des Vatermordes, die in der Geschichte des König Ödipus ihren prägnantesten Ausdruck findet. Dass er die Tragödie als eine Form der »Entstellung« begreift, die »im Dienste raffinierter Heuchelei« steht, verweist auf die Traumarbeit zurück, die ebenfalls mit den Mechanismen der Verschiebung und Verstellung arbeitet. Um so auffälliger ist in diesem Zusammenhang, dass Freud mit der Verwechslung von Zeus und Kronos ein Lapsus unterläuft, der nach den Gesetzen der Psychoanalyse nicht zufäl-

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lig sein kann. Wenn der Traum als Resultat der Entstellung ein sinnvolles Phänomen ist, dann muss auch Freuds Versprecher ein sinnvolles Phänomen sein, das sich einem unbewussten Wunsch verdankt, zum Beispiel dem, die Schuld des Vatermordes auf die Generation der Väter zurückzulenken: Nicht der Sohn Zeus, sondern der Vater Kronos ist der Mörder des Uranos. Damit bricht Freud das Prinzip der Wiederholung auf, das Hesiods Genealogie bestimmt hatte, in der der Mord des Vaters auf einen anderen folgt. So wie Uranos durch Kronos abgelöst wird, so wird Kronos durch seinen Sohn Zeus überwunden. Sigismund, der traumdeutende Sohn Jakobs, scheint sich demnach selbst an die Stelle des Vaters zu schieben, wenn er von der Geschichte des Mordes an Kronos durch Zeus ablenkt, indem er Zeus als Mörder des Uranos darstellt. Zeus ist bei Hesiod der gemeinsame Sohn von Rheia und Kronos. Wie Uranos, so trifft auch Kronos Vorsichtsmaßnahmen, um die Entmachtung durch die Söhne zu verhindern: Diese alle verschlang der gewaltige Kronos, wer jeweils aus dem heiligen Schoß der Mutter zu ihren Knien kam, darauf sinnend, daß nicht von den ehrwürdigen Himmelsabkömmlingen ein anderer unter den Unsterblichen die Königswürde innehätte. Er hatte nämlich von Gaia und dem bestirnten Uranos erfahren, daß ihm bestimmt sei, von seinem eigenen Sohn bezwungen zu werden, obwohl er der stärkere sei: durch die Pläne des großen Zeus. Deshalb hielt (Kronos) nicht unachtsam Wacht, sondern auf der Lauer liegend, verschlang er seine Kinder. Rheia aber hatte untragbare Trauer. (459-467)

Uranos hatte seine Kinder in der Erde verborgen, um ihnen die Herrschaft vorzuenthalten. Kronos hat erkannt, dass diese Vorsichtsmaßnahme nicht ausreicht. Er vertraut der Erde nicht mehr, um die Kinder selbst zu verschlingen. So ist die Geschichte von Kronos und Rheia als Widerstreit zwischen väterlichen und mütterlichen Wünschen eine Wiederholung des Streites zwischen Gaia und Uranos: Wie Gaia, so trägt Rheia Trauer um ihre Kinder, die nicht wachsen können. Der Machtwechsel, der die Herrschaft des Kronos beendet, geht wiederum mit einer List der Mutter einher, die ihren jüngsten Sohn Zeus heimlich gebiert und ihn von Gaia selbst aufziehen lässt. Kronos händigt sie anstelle des Sohnes einen Stein aus. »Schnell wuchsen dann die Kraft und die glänzenden Glieder des Herrschers. Als aber das Jahr herankam, gab, überlistet von den vielverständigen Ratschlägen der Gaia, der gewaltige, hinterlistige Kronos seine Nachkommenschaft wieder von sich, besiegt von den Künsten und der Kraft des eigenen Sohnes.« (492-496) Durch die List der Mutter kann Zeus wachsen, bis er stark genug ist, um Kronos zu besiegen. Hesiods Theogonie berichtet von der Zeusherrschaft als dem Ergebnis einer genealogischen Ordnung, die jedem Herrscher Anfang 54

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und Ende in der Zeit vorherbestimmt. Zeus fällt aus diesem Schema heraus, indem er zum einen mit den konkurrierenden Titanen um die Herrschaft kämpfen muss, das mögliche Ende seiner Herrschaft durch Typhon, der scheinbar besiegt unter dem Tartarus liegt, aber verhindern kann, wenn er seinen einstigen Bündnispartner und späteren Feind Prometheus aus den Fesseln befreit. Mit der Zeusherrschaft leuchtet die Möglichkeit einer zeitlich unbegrenzten Herrschaft auf, die allerdings nur zustande kommen kann, wenn die Vernunft und nicht der Hass auf den Sohn des Iapetus regiert. Hesiods Theogonie, auf die Freud in der Traumdeutung nur beiläufig anzuspielen scheint, berichtet von einer Geschichte, die der des König Ödipus in vielerlei Hinsicht vergleichbar ist: Um König werden zu können, muss der Sohn den Vater töten und die Mutter ehelichen. Geschichte erscheint im Rahmen der Genealogie der Götter als zeitliche Abfolge der Herrschaft der Väter Uranos, Kronos und Zeus, die jeweils durch den eigenen Sohn abgelöst werden. Die Initiative zum Vatermord, in dem Freud den Ursprung aller Kultur sehen wollte, geht allerdings nicht von den Söhnen selbst, sondern von den Müttern Gaia und Rheia aus, die ihre Söhne zur Tat anstiften. Das Mittel, dessen sie sich bedienen, ist die List, mit der die väterliche Stärke überwunden wird. Vor diesem Hintergrund macht Hesiods Theogonie durch Freuds Lapsus der Verwechslung von Kronos und Zeus auf ein auffälliges Merkmal der psychoanalytischen Deutung der Ödipusgeschichte aufmerksam: auf die fehlende Bestimmung der Funktion, die die Mutter, im Fall des Ödipus Iokaste, in der Tragödie übernimmt. Hesiod hatte in der Figur der Gaia die Mutter an den Anfang des Mythos gestellt und darüber hinaus mit der Geburt der Erinnyen aus dem Blut und der Aphrodites aus den Geschlechtsteilen des Uranos auf eine grundlegende Ambivalenz hingewiesen, die aus dem Mord an dem Vater und der einheitlichen Mutterfunktion entspringt: »Die Geschlechtsteile aber wurden, nachdem (Kronos) sie zuerst mit dem Stahl abgeschnitten und vom Festland in die vielwogende See hineingeworfen hatte, lange Zeit so auf dem Meer umhergetragen. Um sie entstand weißer Schaum von dem unsterblichen Fleisch. In diesem entwickelte sich ein Mädchen.« (187-192) Mit den Erinnyen und Aphrodite entwickelt Hesiod ein janusköpfiges Bild der Frau als verführerischer Schönheit und blutdürstiger Rachegöttin zugleich. Es ist erstaunlich, dass Freud aus dem Mythos vom Mord an Uranus nur die männliche Geschlechterfolge, und dazu noch in der Vertauschung von Kronos und Zeus, herausdestilliert. Die Frage, die sich über Freuds eigene Auseinandersetzung mit dem Mythos an die Geschichte des Ödipus stellt, ist die, wie sich auch die weibliche Linie in die Interpretation der Tragödie einbeziehen lässt.

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In der Traumdeutung führt Freud die Geschichte des Ödipus zunächst nur zur Erläuterung der seiner Meinung nach allgemeingültigen Tatsache an, dass sowohl das normale als auch das neurotische Kind Züge der Verliebtheit und des Hasses in Bezug auf die eigenen Eltern aufweist. In der rhetorischen Struktur der Argumentation kommt der Ödipus daher weniger mehr als die Funktion eines anschaulichen Exempels bei, das Freuds These zu stützen hilft: Ich meine die Sage vom König Ödipus und das gleichnamige Drama von Sophokles. Ödipus, der Sohn des Laïos, Königs von Theben, und der Jokaste, wird als Säugling ausgesetzt, weil ein Orakel dem Vater verkündet hatte, der noch ungeborene Sohn werde sein Mörder sein. Er wird gerettet und wächst als Königssohn an einem fremden Hofe auf, bis er, seiner Herkunft unsicher, selbst das Orakel befragt und von ihm den Rat erhält, die Heimat zu meiden, weil er der Mörder seines Vaters und der Ehegemahl seiner Mutter werden müsste. Auf dem Weg von seiner vermeintlichen Heimat weg trifft er mit König Laïos zusammen und erschlägt ihn in rasch entbranntem Streit. Dann kommt er vor Theben, wo er die Rätsel der den Weg sperrenden Sphinx löst und zum Dank dafür von den Thebanern zum König gewählt und mit Jokastes Hand beschenkt wird. Er regiert lange Zeit in Frieden und Würde und zeugt mit der ihm unbekannten Mutter zwei Söhne und zwei Töchter, bis eine Pest ausbricht, welche eine neuerliche Befragung des Orakels von seiten der Thebaner veranlasst. Hier setzt die Tragödie des Sophokles ein. Die Boten bringen den Bescheid, daß die Pest aufhören werde, wenn der Mörder des Laïos aus dem Land getrieben sei. Wo weilt der? (GS II, 268)

Die relativ belanglose Einführung der Ödipussage steht in krassem Gegensatz zur der Bedeutung, die Freud ihr später zumessen will. Das gilt nicht nur für den marginalen Platz, die die Geschichte des Ödipus in der Traumdeutung einnimmt, sondern ebenso für die Deutung der Tragödie, die über eine referierende Nacherzählung kaum hinausgeht. »Der Begründer der Psychoanalyse hat wenig Interesse an speziellen Mythen. Nicht einmal der Ödipusmythos ist ihm eine gesonderte Untersuchung wert.« 10 Freud stützt sich ganz auf den äußeren Handlungsverlauf der Tragödie, um die wesentlichen Stationen der Geschichte wiederzugeben. Zunächst geht er auf die Aussetzung und die geheime Rettung des Ödipus ein, dann auf das Orakel, das Ödipus rät, die Heimat meiden, gerade dadurch aber die andere Prophezeiung erfüllt. Das tödlich endende Zusammentreffen mit Laïos nach einem »rasch entbrannten Streit« nennt daher das dritte Handlungsmoment, das Freud anführt: Der Streit konfrontiert zwei Hitzköpfe miteinander, von denen der eine am Ende tot lie-

10 H.-M. Lohmann/J. Pfeiffer: Freud-Handbuch, S. 251. 56

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gen bleibt. Das vierte Moment in Freuds Aufzählung ist das Rätsel der Sphinx, das Ödipus löst, um die scheinbar friedliche Herrschaft in Theben zu erlangen, bis die Pest ausbricht und die Anfangsgeschichte Schritt für Schritt enthüllt wird. Der retrospektive Charakter, der die Geschichte des König Ödipus in der fast detektivischen Entlarvung seiner Vergangenheit enthält, führt Freud zugleich zur Reflexion auf die Gemeinsamkeiten zwischen Psychoanalyse und Tragödie: Die Handlung des Stückes besteht nun in nichts anderem als in der schrittweise gesteigerten und kunstvoll verzögerten Enthüllung – der Arbeit einer Psychoanalyse vergleichbar –, daß Ödipus selbst der Mörder des Laïos, aber auch der Sohn des Ermordeten und der Jokaste ist. Durch seine unwissentlich verübten Greuel erschüttert, blendet sich Ödipus und verlässt die Heimat. Der Orakelspruch ist erfüllt. (GS II, 268)

Freud beruft sich auf eine fundamentale Analogie von Tragödie und Psychoanalyse, um seine Deutung der Ödipusgeschichte einzuleiten. Das Gemeinsame besteht demzufolge in der »Enthüllung« einer Wahrheit, die in der Vergangenheit liegt und durch die anamnetische Kur wieder zu Tage gefördert wird. Das Ergebnis der Enthüllung ist wie bei einem einmal gelösten Kriminalfall denkbar einfach: Ödipus ist der Sohn von Laïos und Iokaste, der Mörder seines Vaters, Gatte seiner Mutter und Vater von vier Kindern, Polyneikes, Eteokles, Antigone und Ismene. Die Analogie zwischen Psychoanalyse und Tragödie nützt Freud zur Beantwortung der weiterführenden Frage, warum die Kunstform der Tragödie ein allgemeines Interesse errege. Die Antwort ist wiederum denkbar einfach: Sein Schicksal ergreift uns nur darum, weil es auch das unsrige hätte werden können, weil das Orakel vor unserer Geburt denselben Fluch über uns verhängt hat wie über ihn. Uns allen vielleicht war es beschieden, die erste sexuelle Regung auf die Mutter, den ersten Haß und gewalttätigen Wunsch gegen den Vater zu richten; unsere Träume überzeugen uns davon. König Ödipus, der seinen Vater Laïos erschlagen und seine Mutter Jokaste geheiratet hat, ist nur die Wunscherfüllung unserer Kindheit. (GS II, 270)

Für Freud entspringt die Geschichte des Königs Ödipus analog zur Traumbildung einer Wunscherfüllung. Was der Tragödie zugrunde liegt, ist die Erfüllung des infantilen Wunsches, den Vater zu töten und die Mutter zu heiraten. In Übereinstimmung mit der in Der Dichter und das Phantasieren vertretenen These, die Aufgabe der Kunst sei eine spielerische Form der Wunscherfüllung, stellt Freud die Kunstform der Tragödie als eine Möglichkeit dar, diesen eigentlich unbewussten Wunsch verkleidet auf die Bühne zu bringen. In Freuds Darstellung spielen die Schau57

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spieler auf der Bühne zugleich ein ganz anderes Stück als das, das sie vor aller Augen zu spielen scheinen, und die Kunst der Interpretation besteht darin, alles, was in der Tragödie passiert, nicht metaphorisch, sondern wörtlich zu nehmen: Ödipus ist nicht nur der Mörder seines Vaters und Gatte seiner Mutter, sondern seine Geschichte die lang ersehnte Erfüllung eines Kindertraums, der darin besteht, den Vater zu töten und die Mutter zu heiraten, Dichtung ein Kinderspiel, das wie der Traum die Möglichkeit eröffnet, Zugang zum Unbewussten zu gewinnen. Wenn Freud sich den tragischen Mythos aneignet, um Strukturgesetze der menschlichen Psyche aufzudecken, dann steht er in der langen Tradition der philosophischen Auseinandersetzung mit dem Mythos. Dazu zählt nicht allein die Interpretation der Odyssee als Allegorie der Dialektik der Aufklärung, wie sie Horkheimer/Adorno vorgelegt haben, sondern im Blick auf den Gegenstand der Freudschen Mythenauslegung vor allem die Aneignung der griechischen Tragödie durch den deutschen Idealismus. Mit seiner Interpretation der Ödipusgeschichte schreibt sich Freud in die Geschichte der philosophischen Deutung der griechischen Tragödie ein, wie sie Hegel und Hölderlin, auf veränderter Grundlage dann aber auch Nietzsche und Benjamin unternehmen. Die Überschreibung der griechischen Tragödie durch die eigene Theorie vollzieht Freud, indem er die Tragödie wie den Traum als eine Form der verkleideten Wunscherfüllung auslegt. Die Literatur wird zu einem symbolischen Ort, an dem das gesagt werden kann, was sonst nicht gesagt werden darf. Dass die griechische Tragödie Aufschluss über Phänomene gibt, die sich dem Bewusstsein und der Sprache entziehen, hatte schon Hegel vermutet. Zwar scheint Hegels spekulative Auslegung der griechischen Tragödie Freuds Kommentar insofern entgegengesetzt, als er von einer Tragödie im Bewusstsein spricht, in der es um den Zusammenhang von Handeln und Schuld geht. Dennoch gibt Hegel einen aufschlussreichen Kommentar zur Geschichte des Ödipus, die einige Gemeinsamkeiten mit der späteren Auslegung Freuds aufweist. Für Hegel kämpfen auf der Bühne der Tragödie die beiden Mächte des Wissens und des Nichtwissens miteinander: »Die Wirklichkeit hält daher die andere, dem Wissen fremde Seite in sich verborgen, und zeigt sich dem Bewußtsein nicht, wie sie an und für sich ist; – dem Sohne nicht den Vater in seinem Beleidiger, den er erschlägt – nicht die Mutter in der Königin, die er zum Weibe nimmt. Dem sittlichen Bewusstsein stellt auf diese Weise eine lichtscheue Macht nach, welche erst, wenn die Tat geschehen, hervorbricht und es bei ihr ergreift; denn die vollbrachte Tat ist der aufgehobene Gegensatz des wissenden Selbsts und der ihm gegenüberstehenden Wirk-

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lichkeit.« 11 Der grundlegenden Bestimmung des Geistes als der Vernunft, die in die sich gegenüberliegenden Mächte des Selbstbewusstseins und der Wirklichkeit zerfällt, deutet Hegel die Tragödie als eine Handlung, die beide Momente miteinander verbindet und in der Verbindung ihre Einheit herstellt. Voraussetzung seiner Überlegungen ist die Tatsache, dass das Selbstbewusstsein, das sich selbst als der Welt bewusst ist, die Wirklichkeit in der Form des Wissens nicht angemessen trifft. Erst die Erkenntnis der Beschränkung des eigenen Wissens, die Ödipus am eigenen Leibe erfährt, vermag den Gegensatz von Wissen und Nichtwissen, von Selbstbewusstsein und Wirklichkeit aufzugeben. Hegel legt die Geschichte des Ödipus als eine Tragödie der Erkenntnis aus, eine Tragödie, in der die Erkenntnis zu sich kommt, indem sie ihre Grenzen entdeckt und zu einer neuen Form findet. In dem Maße, in dem sich im Geist Selbstbewusstsein der Vernunft und Wirklichkeit gegenüberstehen, zeigt sich in der Tragödie der symbolische Kampf zwischen zwei Seiten: Die eine ist die Lichtseite, der Gott des Orakels, der nach seinem natürlichen Momente aus der alles beleuchtenden Sonne entsprungen, alles weiß und offenbart, - Phöbus, und Zeus, der dessen Vater ist. Aber die Befehle dieses wahrredenden Gottes, und seine Bekanntmachung dessen, was ist, sind vielmehr trügerisch. Denn das Wissen ist in seinem Begriffe unmittelbar das Nichtwissen, weil das Bewußtsein an sich selbst im Handeln dieser Gegensatz ist. Der, welcher die rätselhafte Sphinx selbst aufzuschließen vermochte, wie der kindlich Vertrauende, werden darum durch das, was der Gott ihnen offenbart, ins Verderben geschickt. Diese Priesterin, aus der der schöne Gott spricht, ist nichts anders als die doppelsinnige Schicksalsschwestern, die durch ihre Verheißungen zum Verbrechen treiben und in der Zweizüngigkeit dessen, was sie als Sicherheit angaben, den, der sich auf den offenbaren Sinn verließ, betrügen. 12

Die beidem Momente des Wissens und des Nichtwissens identifiziert Hegel mit der Geschichte von Ödipus und der Sphinx. Wie bereits in seiner Auslegung der Orestie, in der sich mit Apoll und Orest auf der einen Seite und den Erinnyen auf der anderen Seite eine männliche und eine weibliche Macht gegenüberstehen, deutet Hegel die Tragödie als symbolischen Ausdruck eines Geschlechterkampfs. Auf der einen Seite stehen Phöbus und Zeus und mit ihnen Ödipus, auf der anderen Seite die Sphinx und die »doppelsinnige Schicksalsschwester«. In Ödipus treffen beide Mächte aufeinander: Durch das apollinische Orakel zu Delphi wird

11 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Phänomenologie des Geistes, Stuttgart 1952, S. 335f. 12 G.W.F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 514. 59

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Ödipus in die Fremde getrieben, die sich als seine Heimat erweist. Mit der wahrsagenden Priesterin eröffnet sich in Apoll selbst eine Instanz des Weiblichen, die von einem geheimen Hintersinn zeugt, den Ödipus, von Hegel als naiver Held identifiziert, nicht zu erkennen vermag. Er wird das Opfer einer Zweideutigkeit, die Hegel in den weiblich konnotierten Bereich der Lüge verweist, die Ödipus zum Verbrechen anstiftet, indem sie ihm nahe legt, die Heimat zu meiden. Hegel knüpft darin an die Hesiodsche Bestimmung des Mythos an, demzufolge die Überwältigung des Vaters – der Mord an Laïos – auf eine List der Mutter zurückgeht, die im Orakel durch den Mund der Priesterin zu Ödipus spricht. Wenn Ödipus sich nur »auf den offenbaren Sinn verließ«, war er also betrogen. Auf eine ähnliche Weise wie Hegel legt Hölderlin die Geschichte des Ödipus aus. Hölderlin deutet die griechische Tragödie jedoch nicht allein als die Spaltung von Wissen und Wirklichkeit, die in Ödipus zum Ausdruck komme, sondern als symbolisches Aufeinandertreffen von Mensch und Gott. Hatte Hegels Interesse in einer philosophischen Durchdringung des Mythos bestanden, die die beiden Momente des Selbstbewussteins und der Wirklichkeit unterscheidet, um aus ihrem wechselseitigen Untergang die sittliche Struktur des Geistes abzuleiten, so treffen bei Hölderlin ein poetologisches und ein theologisches Interesses zusammen. Die Geschichte des Ödipus ist für Hölderlin zunächst nichts als ein poetologisches Exempel, aus dem heraus er den Geist der antiken Poesie ableiten kann, dem er dann den der hesperischen Poesie, der Moderne, gegenüberstellen wird. In seinen Anmerkungen zum Ödipus begibt sich Hölderlin auf die Suche nach einem »Gesez« oder »Kalkul« 13 des Tragischen, das er für die Auseinandersetzung mit dem Gehalt moderner Kunst fruchtbar machen möchte. Der Ansatzpunkt Hölderlins ist wie schon bei Hegel die Deutung des Orakelspruchs durch Ödipus: »Die Verständlichkeit des Ganzen beruhet vorzüglich darauf, daß man die Szene ins Auge faßt, wo Ödipus den Orakelspruch zu unendlich deutet, zum nefas versucht wird.« 14 Die Zweideutigkeit des Orakels, von der auch Hegel ausgegangen war, bezieht Hölderlin nicht auf Ödipus’ eigenes Gespräch mit der Priesterin, sondern auf die durch Kreon vermittelte Botschaft, der Feind der Stadt befinde sich in ihr selbst. Dass Ödipus den Orakelspruch zu unendlich deutet, leitet Hölderlin aus der unbedingten Forderung des Königs ab, den Schuldigen zu finden, eine Forderung, die Ödipus nicht allgemein, sondern, ohne es zu wissen, persönlich nimmt: »in zorniger Ahnung, der Geist des Ödipus, alles wis13 Friedrich Hölderlin: »Anmerkungen zum Ödipus«, in: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente in zeitlicher Folge. Band X, hrsg. von Dieter E. Sattler, München 2004, S. 155. 14 F. Hölderlin: Anmerkungen zum Ödipus, S. 156. 60

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send, den nefas eigentlich aus, indem er das allgemeine Gesetz argwöhnisch ins Besondere deutet« 15 . Hölderlin setzt damit einen anderen Akzent als Hegel. Ihm geht es um das Moment des Zorns, der Ödipus beseelt und ihn weiter treibt, als er eigentlich zu gehen bereit ist. 16 Der fast schon sprichwörtliche Zorn des Ödipus, als Jähzorn scheinbar unmittelbares Zeugnis der Unbeherrschtheit des Königs, verwandelt sich für Hölderlin in »wunderbare zornige Neugier« 17 , in den Ausdruck eines Wissens, das in Ödipus verborgen ruht, ohne dass er davon weiß, im Affekt aber ausdrückt. Hölderlins Bestimmung des Zorns als Affekt, der sich über das Bewusstsein hinaus in der Sprache Bahn bricht, führt in eine unmittelbare Nähe zur Psychoanalyse, wenn aus Ödipus »das geisteskranke Fragen nach einem Bewußtseyn« 18 spricht. Für Hölderlin ist die wunderbar zornige Neugier des Ödipus Zeichen dafür, dass die lichtscheue Macht des Unbewussten, von der Hegel sprach, im Subjekt der Tragödie selbst angesiedelt ist: »er selbst ist die unterirdische Macht, und es ist seine Erinnye, welche die Rache betreibt« 19 , formuliert auch Hegel, um darauf hinzudeuten, dass in Ödipus selbst eine ihm fremde weibliche Stimme redet, die seinen Untergang betreibt. Hegel und Hölderlin, weit davon entfernt, eine naive Lesart der Tragödie vorzulegen, wie insbesondere Hegel immer wieder vorgeworfen wird, legen damit den Finger auf den Punkt, der auch der Psychoanalyse wichtig ist, die Frage, inwiefern Ödipus im Rahmen seiner Handlung gar nicht unwissend, sondern wissend ist, wissend auf eine Weise allerdings, die seinem Bewusstsein entzogen ist. Was mit Freuds Begriff des Unbewussten, als dessen Schibboleth Ödipus funktionieren soll, vor dem Hintergrund der Hegelschen Dialektik zur Frage steht, ist eine Form des Wissens, das zugleich ein Nichtwissen ist und das als Nichtwissen wieder eine Form des Wissens wäre. Um diese Form des nichtwissenden Wissens herauszustellen, greifen Hegel, Hölderlin und Freud gleichermaßen auf die Geschichte des König Ödipus zurück. So einfach die Geschichte des Ödipus im Kontext der These von der Wunscherfüllung aus der Traumdeutung auch zunächst zu lesen zu sein scheint: Freud und Hölderlin geben zwei Hinweise, die die Tragödie im Licht einer anderen Lesart erscheinen lassen. Der Hinweis, den Freud gibt, ist der Lapsus der Verwechslung von Kronos und Uranos und die damit verbundene Geschichte der wechselnden Herrschaft von Uranos, 15 Ebd., S. 157. 16 Vgl. Jochen Schmidt: »Der Begriff des Zorns in Hölderlins Spätwerk«, in: Hölderlin-Jahrbuch 17 (1967), S. 128-157. 17 F. Hölderlin: Anmerkungen zum Ödipus, S. 157. 18 Ebd., S. 159. 19 G.W.F. Hegel: Phänomenologie des Geistes, S. 329. 61

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Kronos und Zeus sowie die Frage nach der Position der Mutter Gaia. Der zweite Hinweis besteht in Hölderlins Auslegung der zornigen Neugier des Ödipus als Ansatzpunkt für eine Deutung, die dem tragischen Subjekt dort ein Wissen unterstellt, wo zunächst keines vorhanden zu sein scheint. Wenn es im Folgenden um die Interpretation der Sophokleischen Tragödie im Lichte der Psychoanalyse geht, dann stehen diese beiden Fragen – der Zorn des Ödipus und die zwiespältige Funktion der Mutter für den Erkenntnisprozess der Tragödie – daher im Mittelpunkt des Interesses. Die Tragödie des Sophokles ist durch einen eigenartigen Beginn geprägt, der unmittelbar ins aktuelle Geschehen zu führen scheint, jedoch schnell zur Vergangenheit führt: Ein Priester, begleitet von einer Menge Leute, kommt vor den Königspalast zu Theben, um über die Pest zu klagen und darüber, dass niemand hilft. Adressat der Rede ist Ödipus, der in der Vergangenheit geholfen hat und nun Ähnliches tun soll. Angesichts der erst später enthüllten Tatsache, dass Ödipus selbst der Schuldige ist, nach dem die Stadt sucht, ist das Anliegen des Priesters zwiespältig, in gewisser Weise sogar scheinheilig: Die Beschwerden richten sich an den Mann, der für sie verantwortlich ist. Die vieldiskutierte Doppelung von Richter und Angeklagtem in der Figur des Ödipus verweist den Priester und das Volk in die Rolle der Kläger: Die Worte, mit denen sich die Menschen an Ödipus wenden, sind eine verdeckte Anklage des Ödipus, die sich an ihn selbst als den Urheber des Übels richten. Angesichts der scheinheiligen Anrufung des Königs, die um Hilfe zu bitten scheint, ihn zugleich aber anklagt, zeichnet sich die Reaktion des Ödipus durch ein erstaunliches Maß an Naivität aus. Den Doppelsinn der Worte vernimmt er kaum, ihm ist alles ernst gesprochen. So beruft er sich stolz zunächst auf den Ruhm, den er dadurch erworben hat, die Sphinx besiegt zu haben: »Von allen der Berühmte, Ödipus genannt« 20 . Die Antwort des Priesters ist so hintersinnig wie sein Anliegen: Er erwähnt den Sieg des Ödipus, um von ihm sogleich noch einmal eine solche Heldentat zu fordern. Der Sieg über die Sphinx, mit dem sich Ödipus Ruhm erworben hat, wird so mit der Blutschande parallel gesetzt, die die Pest über die Stadt gebracht hat: Am Ende der Tragödie ist der Wissende, der die Sphinx besiegt, der Unwissende, der spät über sein Unheil unterrichtet worden ist. Wenn Hegel die Tragödie als Dialektik von Wissen und Nichtwissen angesprochen hat, dann scheinen beide Pole zu Beginn ungleich verteilt. Liest sich der Menschenzug zum König von Theben zugleich als ver20 Sophokles: König Ödipus. Übertragen und herausgegeben von Wolfgang Schadewaldt, Frankfurt/Main 1973, S. 11. Die Seitenzahlen im Folgenden in Klammern im Text. 62

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steckte Anklage, dann scheint es zugleich so, als wüssten alle um das Problem, mit einer Ausnahme: Ödipus selbst. Jedes seiner Worte zeugt daher von einer Doppeldeutigkeit, die ihm selbst entzogen bleibt. So spricht Ödipus die Bürger der Stadt als seine »Kinder« (Ö, 11) an, um seine symbolische Rolle des Stadtvaters zu betonen. In der Doppeldeutigkeit, die der Rede des Ödipus zukommt, zeigt sich damit aber zugleich die Unrechtmäßigkeit seiner Herrschaft: Vater ist Ödipus in einem Sinne, der ihm noch verborgen ist, als Sohn. Ist der Sohn zum Vater geworden, so wird Ödipus als Vater wieder zum Sohn, seine Kinder zu Geschwistern, mit denen er auf einer Ebene steht. Wenn er einleitend betont, die Leiden seiner Kinder seien ihm »Nicht unbekannt« (Ö, 12), dann deutet er selbst an, dass er sehr wohl um die Ursachen des Übels weiß, nur eben auf eine Weise, über die er sich noch nicht im Klaren ist. Hölderlins Hinweis, Ödipus deute das Orakel zu unendlich, zielt auf diese Doppelsinnigkeit im Wissen und Sprechen des Königs ab: Ödipus weiß nicht um die Vergangenheit, seine Sprache aber zeugt von einem Wissen, das seinem Bewusstsein vorausläuft, bis er es zum Schluss der Tragödie einholt. Ödipus’ Rede ist, ohne dass er es weiß, selbstbezogen. Als Kreon ihm die Botschaft des Orakels überbringt, bezieht er den Auftrag, den Schuldigen zu finden, daher auch sofort auf sich selbst: Nun denn! Von Grund auf werde ich es abermals Aufklären! […] Selbst von mir selbst wird ich zerstreuen diesen Flecken! Denn wer’s auch war, der jenen schlug: er will vielleicht Auch mich mit solcher Hand es büßen lassen! Steh ich dem Toten also bei, nütz ich mir selbst. (Ö, 15)

Hölderlins Deutung beruht auf der Einsicht, dass die Rede des Ödipus mehr weiß als ihr Sprecher. Den Mörder des Laïos zu stellen, macht Ödipus von Beginn an zur eigenen Sache. Der Eigennutz, den er anspricht, ist wenig mehr als ein durchsichtiger Vorwand, den ihm das Bewusstsein vorzuschreiben scheint. Entscheidend ist vielmehr, dass die Suche ihn in der Tat zu sich selbst führen wird: Wenn Ödipus »ich« sagt und noch dazu betont, er wolle »Selbst von mir selbst« für Aufklärung sorgen, dann wird deutlich, dass der Sprecher in mehr als einem Sinne in das Gesagte involviert ist. In diesem Sinne leistet die Tragödie, wie Freud es vermutet hat, in der Tat so etwas wie eine Selbstanalyse. Ihr erster Schritt besteht in der Aufforderung an alle, die etwas wissen könnten, es ihm auch mitzuteilen. Was der Aufklärung der Tat dienen soll, weitet Ödipus im zweiten Schritt jedoch zum Terror gegen die Bürger, letztlich zum Terror gegen sich selbst aus:

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Hingegen, wenn ihr schweigt, wenn irgendwer Aus Furcht für einen Nächsten oder für sich selbts Wegschiebe dies mein Gebot: was ich alsdann Tun werde, dieses sollt ihr von mir hören. – Den Mann verruf ich, ihn, wer er auch sei: Daß hier zu Lande, wo ich Macht und Thron besitze, Keiner ihn aufnehme noch zu ihm rede, Noch in Gebeten zu den Göttern oder Opfern Mit ihm Gemeinschaft halte, noch Handwasser reiche: Stoßen vom Hause solln ihn alle! denn es ist Dieser uns die Befleckung, wie des Gottes Spruch, Der Pythische, soeben aufgewiesen mir. – Ich also will auf solche Weise für den Gott Wie für den toten Mann zum Kampfgenossen werden. (Ö, 19)

Das Gebot des Ödipus, unbedingtes Gesetz wie Kreons Bestattungsverbot in der Antigone, ist das Resultat einer ganzen Folge von Übersetzungen: Das Orakel, das die Stimme des Gottes Apoll übersetzt, wird in einem zweiten Schritt von Kreon übersetzt, dessen Worte schließlich wiederum von Ödipus übersetzt werden. Die Zweideutigkeit, die dem Orakelspruch wie in der berüchtigten Geschichte des Krösus zukommt, verschärft die Auslegung des Ödipus noch. Hölderlin hat betont, dass der Orakelspruch zunächst eine ganz einfache Lesart nahelegt: »Das konnte heißen: Richtet, allgemein, ein streng und rein Gericht, haltet gute bürgerliche Ordnung.« 21 Ödipus aber fasst die Worte des Orakels weit radikaler: Er will den Täter in der Stadt isolieren, fordert alle zur Mitarbeit auf, wer sich verweigert, wird der Stadt verwiesen. Die Schärfe seiner Forderungen steht in keinem Verhältnis zum Orakelspruch. Sie lässt sich rational überhaupt nicht begründen und wird erst dann verstehbar, wenn der Doppelsinn der Worte berücksichtigt wird: Ödipus will dem »toten Mann zum Kampfgenossen« werden, will, als sein Sohn, an der Seite des Toten kämpfen, um die Tat aufzuklären. So ist in Ödipus selbst eine Stimme präsent, die aus ihm heraus spricht, aber nicht die seine ist: die Stimme des toten Vaters, zu dem sich der Sohn gesellt. Mit der Stimme des Vaters wünscht Ödipus daher nicht nur, dass der Mörder ein elendes Leben haben soll. Er will mehr: »Und wünsche weiter: wär in meinen Häusern / Herdgenoß er geworden, und ich wüsste drum, / Daß mir geschehe, wie ich jenen eben hab geflucht!« (Ö, 20) Wie kommt Ödipus darauf, der Schuldige sei sein »Herdgenoß« geworden? Was nur rhetorisches Beiwerk zu sein scheint, um die Bürger der Stadt aufzustacheln, verkehrt sich wie in Freuds Begriff der Verneinung in sein Gegenteil:

21 F. Hölderlin: Anmerkungen zum Ödipus, S. 156. 64

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Ödipus ist vom Gedanken besessen, den Schuldigen zu finden. Wenn er sich aber von aller Beteiligung auszuschließen scheint, weil er nicht darum weiß, dann meint er gerade sich selbst. Der Text könnte in dieser Hinsicht kaum deutlicher sein: Der Tod des alten Königs muss erforscht werden, hält Ödipus immer wieder fest, um sich bis zu der Formulierung zu versteigen: »Deswegen werd ich dieses wie für meinen Vater / Durchkämpfen und auf alles gehen« (Ö, 20). Fällt das wie, der Vergleich weg, so ist die Sache beim Namen genannt: Ich bin der Sohn, der für seinen Vater kämpft, ich bin der, der jetzt an seiner Stelle steht und für ihn agiert: »daß ich habe / Die Herrschaft, welche jener hatte einst, / Und habe Bett und Weib zu gleicher Saat, / Und an gemeinschaftlichen Kindern uns« (Ö, 20). Indem Ödipus mehr sagt, als er weiß, zeigt er, dass er weiß, was er nicht wissen darf. Die Sprache läuft ihm voraus und formuliert das Gesetz der Ächtung und Selbstblendung, mit dem die Tragödie endet, nachdem die Aufklärung ihr Ziel erreicht hat. In seinen Anmerkungen zum Ödipus wie zur Antigone hat Hölderlin die These formuliert, der Auftritt des Teiresias markiere jeweils die Zäsur in der Tragödie: in der Antigone sehr spät, im Ödipus sehr früh. Im Ödipus tritt Teiresias so früh auf, weil er um Rat gefragt wird, wer der Schuldige sei. Überraschend, ja schockierend für alle Beteiligten ist die Tatsache, dass er den gewünschten Rat nicht zu geben bereit ist. Im Unterschied zu Ödipus will sich Teiresias nicht zum Narren der anderen machen lassen. Befindet sich Ödipus in der Situation dessen, der spricht und nicht weiß, so ist Teiresias in der Position dessen, der weiß und eben darum nicht spricht: »Ihr alle seht auch nicht! Doch ich – nein, nie / Enthüll ich meine – nicht zu sagen : deine Übel!« (Ö, 22) Unter der Voraussetzung Freuds, der Gang der Tragödie sei dem der psychoanalytischen Kur vergleichbar, rückt Teiresias in die Position des Analytikers, der über ein Wissen verfügt, das er aber verschweigt, weil der Patient – in diesem Fall Ödipus – schon selbst auf die Lösung kommen muss, um diese auch längst weiß, ohne sie jedoch artikulieren zu können. Nicht zu sprechen, ist der Widerstand gegen die Macht des Gesetzes, den Teiresias im Unterschied zum König, dem Vertreter des Gesetzes, aufzubringen in der Lage ist. Wie die Psychoanalyse, so wird er für seine Worte schlecht entlohnt: »Wirst, Schlechtester der Schlechten du – denn eines Steins / Natur selbst brächtest du in Wallung! – endlich reden?« (Ö, 23) Die Antwort des Ödipus bedeutet nicht nur eine moralische Disqualifizierung des Teiresias, den er in der Formel »Schlechtester der Schlechten« aufs äußerste Maß hinunterstuft. Sie gibt zugleich den Hinweis auf das Moment, das Hölderlin in seiner Deutung in den Mittelpunkt gestellt hatte, auf den Zorn, der Ödipus beseelt. Die Wechselrede von Teiresias und Ödipus geschieht im Zorn: Ödipus: »Wer sollte nicht

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erzürnen, solche Reden zu hören«, Teiresias: »und so wüte, wenn / Du willst, im Zorn, und sei’s dem wildesten!«, Ödipus: »Jawohl! und auslassen auch wird ich nichts – Bin ich im Zorn einmal – was mir da klar wird!« (Ö, 23) Zorn ist der Affekt, den Teiresias in Ödipus reizt, damit dieser auf die Lösung komme. Im Affekt des Zorns hat Ödipus seinen Vater erschlagen, im Affekt des Zorns wehrt er sich gegen den Vorwurf, den Teiresias nicht aussprechen will, im Affekt des Zorns spricht er mehr aus, als er weiß. Als er statt seiner selbst jedoch den Seher beschuldigt, der sich mit dem Schweigen dem Gesetz widersetzt hat, gerät auch Teiresias in Zorn. Dem Seher platzt der Kragen: »Des Mannes Mörder, sag ich, den du suchst, bist du!« (Ö, 24) Damit hat Ödipus sein Ziel erreicht: Teiresias gibt die Wahrheit preis. Ungeheuerlich für ihn ist jedoch nicht der Satz des Teiresias, ungeheuerlich ist seine Annahme. Klaus Heinrich betont daher, »daß das, was den Kern des Sophokleischen ›König Ödipus‹ ausmacht, die Annahme von etwas an sich Unannehmbaren ist.« 22 Die von Heinrich in den Mittelpunkt gestellte Annahme des Unannehmbaren erfolgt im Ödipus im Streitgespräch von Teiresias und Ödipus, bei dem beide in Zorn geraten, zwei Hitzköpfe, die sich gegenseitig beschuldigen. Weil die Wahrheit für Ödipus unannehmbar ist, eskaliert die Situation, beschuldigt er den Seher, für alles verantwortlich zu sein. Die Reaktion des Ödipus ist daher eine Abwehrhandlung im vollen psychoanalytischen Sinne des Wortes. Ödipus unterstellt Teiresias, der Grund seiner Anklage sei eine Intrige, die der Seher mit Kreon geschmiedet habe, um ihn zu stürzen. Um den drohenden Streit zwischen Ödipus und Kreon zu schlichten, tritt – endlich – Iokaste auf. Kreon und Ödipus behandelt sie wie zankende Kinder, die sie in das Haus schickt. Von Anfang an ist sie auf eine Beruhigung der Situation aus, deren dramatische Zuspitzung sie herunterzuspielen sucht: »Bauscht nicht ein nichtig Ärgernis ins Große auf!« (Ö, 35) Iokastes Strategie besteht darin, zu deeskalieren, indem sie das scheinbar Große in ein Nichts verwandelt. Sie versucht zu zeigen, dass der Streit gegenstandslos sei. Dass sie es anders und besser weiß, zeigt ihr Versuch, Ödipus zu entlasten. Um ihn zu beruhigen, berichtet sie vom Tod des Laïos, der an einer Wegscheide erschlagen worden sei. Ihre Worte bewirken aber das Gegenteil: »Wie fasst, da ich dich eben höre, Frau! / Verwirrung mir die Seele und Aufruhr des Denkens!« (Ö, 38) Verwirrung und Aufruhr: In den starren Sinn des Ödipus kommt, ähnlich wie im Falle Kreons zum Schluss der Antigone, Bewegung. Den Abgrund bewegen, wenn die’s droben weigern, hatte Freud der Traumdeutung als Motto mitgegeben. Bei Sophokles ist 22 Klaus Heinrich: Dahlemer Vorlesungen 3. Arbeiten mit Ödipus: Begriff der Verdrängung in der Religionswissenschaft, Basel/Frankfurt/Main 1993, S. 208. 66

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der Abgrund, in den Bewegung gerät, die allmählich sich abzeichnende Einsicht in den Vatermord. Ödipus berichtet, wie er »im Ärger« (Ö, 41) einen Treiber und einen alten Mann erschlagen hat. Damit scheint die Tat offenbar: Der Zorn, der ihn im Streitgespräch mit Teiresias geritten hat, führte auch zu der verhängnisvollen Tat, die nun an den Tag tritt. Überraschend ist aber, dass Iokaste trotz der sich abzeichnenden Wahrheit von ihrer Entlastungsstrategie nicht abweicht. Sie bittet die Götter um Beihilfe, die in der Gestalt eines Boten aus Korinth auch zu kommen scheinen, der vom Tod des Polybos berichtet. Bezeichnenderweise nutzt Iokaste die Botschaft sogleich, um Ödipus noch einmal von aller Schuld freizusprechen: »Du aber habe / Der Ehe mit der Mutter wegen keine Furcht! / So mancher von den Sterblichen hat schon im Träume / Gelegen bei der Mutter! Doch wer solche Dinge / Für nichts nimmt, trägt am leichtesten das Leben!« (Ö, 47f.) Freuds These, der Traum seine eine Form der Wunscherfüllung, scheint in Iokastes Worten eine unmittelbare Bestätigung zu erfahren. Allerdings lässt sich die Rede der Königin nicht von dem Versuch trennen, den eigenen Gatten gegen alle Evidenz zu verteidigen. Iokaste sucht die Sache weiter herunterzuspielen, indem sie die Angst des Ödipus als kindlichen Traum – in Freuds Begrifflichkeit eben als Wunsch – darstellt. Damit scheint sie zunächst auch erfolgreich zu sein, bis der Bote Ödipus’ Sorge zu beschwichtigen sucht, indem er ihm offenbart, er sei nicht der Sohn des Polybos. Auch als die wahre Geschichte ans Tageslicht zu kommen droht, lässt sich Iokaste nicht beirren: »Ach! wen er immer meinte! Kehre dich / Nicht dran! An das Gerede wolle / Auch nicht einen Gedanken wenden nutzlos!« (Ö, 51) Als Ödipus ihr nicht mehr länger folgen will, wird sie deutlicher: »Nicht, bei den Göttern, wenn du um dein eigenes Leben / Irgend besorgt bist, forsche diesem nach! Genug: ich kranke.« (Ö, 51) Iokaste, so scheint es, will nicht, dass Ödipus weiß, weil sie um mehr weiß: »O Unglückseliger! / Daß niemals du erkenntest, wer du bist!« (Ö, 52) Iokastes immer dringlicher werdender Wunsch, vor Ödipus zu verbergen, was die Worte des Boten offenbaren, legt nahe, dass sie schon weiß, was Ödipus nun durch den Hirten erfährt, der ihn als Kind nicht getötet, sondern übergeben hat. Als er ins Haus eilt, um aus ihrem eigenen Munde die Wahrheit zu erfahren, ist es zu spät. Iokaste hat sich erhängt, Ödipus nimmt eine ihrer Kleiderspangen, sticht sich die Augen aus und geht in die Verbannung, die er selbst zu Beginn der Tragödie ausgesprochen hat, ohne zu wissen, dass er damit sein eigenes Schicksal trifft. Das brutale Bild, das er am Ende findet, um seinen Kindern zu berichten, fasst die Geschichte noch einmal zusammen: »Erschlagen hat / Den Vater euer Vater, die Gebärerin / Bepflügt, in die er selbst ward gesät, / Und von dem gleichen Felde euch geerntet, / Von dem er selbst

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DAS SCHIBBOLETH DER PSYCHOANALYSE

entsprosst war!« (Ö, 68) Ödipus greift auf das archaisierende Bild des Saatfeldes zurück, um die Tat zu schildern. Vor dem Hintergrund des männlich-aggressiven Bildes, das die Mutter wie in Hesiods Mythos zur empfangenden Erde stilisiert, in die der Mann eindringt, wirken die letzten Worte des Chors, die betonen, man dürfe keinen glücklich preisen, bis nicht sein Lebensende erreicht sei, wie ein bitterer Hohn auf das Schicksal des Ödipus – ein Spott, den seine Kinder und insbesondere die Tochter Antigone in ähnlicher Weise wie der Vater erfahren werden. Den Ausgangspunkt von Freuds Interpretation des König Ödipus bildete die Analogie, die zwischen Psychoanalyse und Tragödie zu herrschen scheint: »Die Handlung des Stückes besteht nun in nichts anderem als in der schrittweise gesteigerten und kunstvoll verzögerten Enthüllung – der Arbeit einer Psychoanalyse vergleichbar -, daß Ödipus selbst der Mörder des Laïos, aber auch der Sohn des Ermordeten und der Jokaste ist.« (GS II, 268) Das ist ein spärlicher, fast lakonischer Kommentar: Seht her, das weiß jede Welt, es wird sogar seit ewigen Zeiten offen auf der Bühne gezeigt, aber erst die Psychoanalyse muss das ans Tageslicht bringen. Freuds Deutung scheint insofern durch ihre Einfachheit und Klarheit zu bestechen, die die griechische Tragödie als sinnfällige Illustration der eigenen Beweisführung nutzt. Die Interpretation des König Ödipus bestätigt Freud trotz aller Vorwürfe, die an seine Deutung der Tragödie gerichtet worden sind, zunächst. Auf eine Art und Weise, die Wolfgang Schadewaldt zufolge fast schon detektivisch anmutet – er meint, »daß der Ödipus die erste detective story ist« 23 –, zeigt die Tragödie die Enthüllung der Wahrheit, die Freud so an ihr schätzte. Auch Christoph Menke erkennt im König Ödipus das »ebenso unbeabsichtigte wie unerwartete Resultat eines Prozesses rechtlichen Untersuchens, die Selbstüberführung eines Richters« 24 . Wenn die Tragödie auf grundsätzliche Art und Weise als eine Auseinandersetzung mit dem Recht zu verstehen ist, dann liegt die Besonderheit des König Ödipus darin, dass jemand über sich selbst Gericht hält. Eine Parallele zur Psychoanalyse ergibt sich, da die Sprache des Angeklagten, der zugleich Richter ist, mehr über ihn verrät als sein Bewusstsein. Ödipus weiß und weiß nicht um seine Tat, er hat sie begangen, aber vergessen, und zwar so vergessen, dass sie im Geheimen wirksam ist und sich sprachlich äußert, ohne dass der Sprecher davon weiß. Insofern meint Freuds Begriff des dynamischen Unbewussten etwas Ähnliches wie Hegel, der in seiner umstrittenen Deutung ebenfalls davon 23 Wolfgang Schadewaldt: Tübinger Vorlesungen Band 4. Die griechische Tragödie, Frankfurt/Main 1991, S. 277. 24 Christoph Menke: Die Gegenwart der Tragödie. Versuch über Urteil und Spiel, Frankfurt/Main 2005, S. 19. 68

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ausgegangen war, dass die dunkle, lichtscheue Macht im Verborgenen weiter aktiv bleibt. Dennoch ergeben sich einige Korrekturen an Freuds Interpretation. Freuds leitende These in der gesamten Traumdeutung lautet, der Traum sei eine Art Wunscherfüllung, der Träumer und der Mensch überhaupt ein wünschendes Wesen. Iokastes Worte, vielen hätten schon davon geträumt, mit der Mutter im Bett zu liegen, scheint das zu bestätigen. Aber im Falle Iokastes handelte es sich um ein Mittel der Abwehr, um einen Widerstand gegen die Lösung, um die sie weiß, von der sie aber nicht will, das Ödipus sie erfährt. Dass Freud Iokastes Worte wörtlich nimmt, muss im Kontext seiner eigenen Analyse des Widerstandes überraschen. Denn Freud zufolge besteht die Funktion des Widerstandes darin, etwas vor dem Analytiker zu verbergen. Gerade im offenbaren Sinn der Tragödie, den Freud herausarbeitet, indem er bloß auf das Gesagte verweist, zeigt sich demnach ein Moment, das sich nicht mit der Wunscherfüllung zusammenbringen lässt. So erweist sich gerade die zentrale Figur der Tragödie, Ödipus, nicht als ein Wesen, das wünscht, sondern als eines, das von seinen Affekten bestimmt ist. Ödipus, das hatte Hölderlin nahe gelegt, handelt, denkt und spricht im Zorn. Nicht als Wunschwesen, als Affektwesen wird der Mensch in der Tragödie vorgestellt. Wenn Freud seit der Traumdeutung den Aspekt des Affektes in den Hintergrund gerückt hat, dann zeigt die Tragödie umgekehrt, dass der Mensch durch den Affekt hindurch sich dem Verhängnis verschreibt: »des Denkens Unverstand und der Sinne Verwirrung« 25 , wie es in der Antigone heißt, sind für das katastrophische Ende der Tragödie verantwortlich. Wenn Freud den Wunsch in das Zentrum seiner Analyse stellt, dann verdeckt er die Frage nach der Rolle der Affekte, die gerade in der griechischen Tragödie eine zentrale Rolle spielt. Für die kritische Auseinandersetzung mit der Psychoanalyse ergibt sich daher die Notwendigkeit, das Problem der Affekte auch dort einzutragen, wo es bei Freud keine Rolle mehr zu spielen scheint. Die Frage nach der Funktion der Affekte verbindet sich mit einem zweiten Moment, das aus Freuds Interpretation auf eigentümliche Weise herausfällt. Freuds Verwechslung von Kronos und Zeus geht in der Traumdeutung mit der Aussparung der Figur der großen Mutter einher, die bei Hesiod in der Figur der Gaia erscheint, die ihre Söhne – Kronos und Zeus – anstiftet, die Väter zu ermorden. Die Tragödie des Sophokles bestätigt diese zentrale Rolle der Mutter im Vatermord. So steht Iokaste durchaus in der Tradition von Gaia und Rheia als Frau, die nach ihrem

25 Sophokles: Antigone. Übertragen und herausgegeben von Wolfgang Schadewaldt, Frankfurt/Main 1973, S. 32. 69

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Gatten das jüngste – im Falle des Ödipus das einzige – Kind ehelicht, um mit diesem neue Kinder zu zeugen. Klaus Heinrich stuft die Rolle des Ödipus entsprechend herab, wenn er davon ausgeht, »daß Ödipus so etwas wie ein Agent, wie ein Funktionär einer matriarchalen Ordnung ist, in der alles vorherbestimmt ist durch die Große Mutter, die Mutter als Königin, die die Iokaste dann nur wiederverkörpert.« 26 Im Spiel von Matriarchat und Patriarchat, das Bachofen in das Zentrum seiner Untersuchung gestellt hat, zeugt die griechische Tragödie demnach gerade von dem Überwinden der weiblichen durch eine männliche Ordnung. Das hatte sich schon in der Orestie gezeigt, in der die Erinnyen als Vertreterinnen einer chthonisch-weiblichen Sphäre von Orest ablassen müssen, und es bestätigt sich in der Geschichte des Königs Ödipus, der Heinrich zufolge »offensichtlich in aufeinanderfolgenden Aktionen die matriarchale Ordnung« 27 bricht. Auf der einen Seite ist die griechische Tragödie also das kulturgeschichtliche Zeugnis einer archaischen Stufe, in der die Mutter die zentrale Position verkörpert. Auf der anderen Seite etabliert sie eine patriarchalische Ordnung, in der der Mann und mit ihm die Forderung nach Wissen, Verstand und Erkenntnis im Mittelpunkt steht. Die Tragödie zeigt entsprechend das Scheitern und damit die Grenzen der männlichen Ordnung auf, derzufolge Ödipus zwar die ägyptische Sphinx besiegt, an der eigenen Mutter aber scheitert. Freuds Deutung des König Ödipus unterstützt allein die eine Seite der Tragödie, den symbolischen Sieg der Erkenntnis, als dessen fortschreitenden Gang Hegel wie Freud den Ödipus auslegen. War bei Hesiod – und bei Sophokles deutet die ambivalente Figur der Iokaste in eine vergleichbare Richtung – noch die Mutter die treibende Kraft, die mit List die Söhne anleitet, so konzentriert sich Freud einzig auf die Geschichte des Sohnes. Vor diesem Hintergrund zieht Heinrich die Konsequenz, »daß Freud zurückschreckt vor der weiblichen Qualität des Stoffes.« 28 Das ist sicherlich zunächst nicht als grundsätzlicher Widerspruch gegen die Psychoanalyse zu deuten, wie es die feministische Forschung nahe legt, wenn sie Freud unterstellt, im Rahmen eines patriarchalischen Denkens die Frau nicht angemessen zu berücksichtigen. Vielmehr geht es um die Vermutung, dass Freud an der Verdrängung, die er im Sinne der Aufklärung zu beschreiben und aufzuheben sucht, selbst teil hat. Das bedeutet zugleich, dass Freuds Texte mehr wissen, als sie sagen wollen – auch und gerade im Fall des Ödipus. Das zeigt sich in der Gleichsetzung der Geschichte des Ödipus mit der Hamlets, die Freud in der Traumdeutung vornimmt.

26 K. Heinrich: Arbeiten mit Ödipus, S. 210. 27 Ebd., S. 211. 28 Ebd., S. 234. 70

V. T O O

MUCH IN THE SON.

FREUDS HAMLET

Obwohl er den Ödipus nur beiläufig in die Traumdeutung eingeführt hat, scheint die griechische Tragödie im Zentrum von Freuds Überlegungen zu stehen. Sein Schwager, Jacob Bernays, hatte eine beeindruckende Studie zur griechischen Tragödie vorgelegt, und auch der Katharsisbegriff der Studien zur Hysterie steht mehr oder minder eindeutig in der Tradition der Tragödie und ihrer Rezeption bei Aristoteles. Dennoch konzentriert sich Freud nicht allein auf den Ödipus. Bereits in den Briefen an Fließ verweist er auf eine grundlegende Gemeinsamkeit zwischen der griechischen Tragödie und dem Hamlet: Flüchtig ist mir durch den Kopf gegangen, ob dasselbe nicht auch dem Hamlet zugrunde liegen möchte. Ich denke nicht an Shakespeares bewußte Absicht, sondern glaube lieber, daß eine reale Begebenheit den Dichter zur Darstellung reizte, indem das Unbewußte in ihm das Unbewußte im Helden verstand. Wie rechtfertigt der Hysteriker Hamlet sein Wort ›So macht Gewissen Feige uns Allen‹, wie erklärt er sein Zaudern, durch den Mord des Onkels den Vater zu rächen, derselbe, der unbedenklich seine Hofleute in den Tod schickt und geradezu vorschnell den Laertes ermordet? Wie besser, als durch die Qual, welche ihm die dunkle Erinnerung bereitet, er habe sich mit derselben Tat gegen den Vater aus Leidenschaft zur Mutter getragen ›und wenn wir nach dem Verdienst behandelt werden, wer würde dann dem Auspeitschen entgehen‹. Sein Gewissen ist sein unbewußtes Schuldbewusstsein. Und seine Sexualentfremdung im Gespräch mit Ophelia, ist die nicht typisch hysterisch, seine Verwerfung des Instinkts, der Kinder gebären will, endlich seine Übertragung der Tat von seinem Vater auf Ophelias. Und gelingt es ihm nicht am Ende auf ebenso wunderbare Weise wie meinen Hysterikern, sich seine Bestrafung zu erzwingen, indem er dasselbe Schicksal erfährt wie der Vater, von demselben Nebenbuhler vergiftet wird. 1

Mit seinen Überlegungen zum Hamlet, die er zunächst rhetorisch herunterspielt, wenn er ihre »Flüchtigkeit« betont, bietet Freud eine ganze Fülle von Interpretationsansätzen. Zum einen liefert er eine interessante Komplementierung traditioneller hermeneutischer Verstehensmodelle, 1

S. Freud: Aus den Anfängen der Psychoanalyse, S. 194. 71

DAS SCHIBBOLETH DER PSYCHOANALYSE

indem er den Begriff des Verstehens mit dem des Unbewussten verknüpft: Weil das »Unbewusste in ihm das Unbewusste im Helden verstand«, sei der Hamlet dem Ödipus vergleichbar. Freud deutet damit bereits die relativ konventionell anmutende These an, dass es unbewusste Prozesse im Autor seien, die für dichterische Produktion verantwortlich sind. Darüber hinaus legt er eine Interpretation des Dramas vor, die auf die These hinausläuft, Shakespeare habe Hamlet als männlichen Hysteriker konzipiert. Freuds Argumente sind sicherlich alles andere als originell und zum Teil schon bei Goethes Darstellung von Hamlets Charakter im Wilhelm Meister vorgebildet: Das Zaudern des Prinzen deutet er als Ausdruck des Gewissens und der unbewussten Schuld, die aus einer geheimen Solidarität mit dem Täter resultiert. Als Ödipus wollte auch Hamlet seinen Vater töten und das Bett mit der Mutter teilen, wie soll er sich da gegen die Machenschaften des Onkels wenden, der genau das erreicht hat, was Hamlet sich insgeheim erträumt? Freud zieht daher auch den Schluss, Hamlets Liebe zu Ophelia, die diese dann in den Untergang treiben wird, müsse scheitern, weil er Angst vor einer Wiederholung des Betrugs habe, den sein Vater ereilt hat. Und schließlich deutet Freud den Schluss des Dramas, Hamlets Tod, als unbewusste Verwirklichung des Wunsches, das gleiche Schicksal zu erleiden wie der Vater. Die Lösung des ödipalen Konflikts, die die Tragödie aufzeige, bestehe in der Selbstbestrafung Hamlets, die in Übereinstimmung mit seiner Gewissensangst steht. Freud beruft sich damit auf eine Fülle von Evidenzen, die es seiner Meinung nach rechtfertigen, im Hamlet das gleiche Schema zu erblicken wie im Ödipus. In der gleichen Weise wie in den Briefen, die sich einmal mehr als Keimzelle des späteren Hauptwerkes erweisen, geht Freud in der Traumdeutung auf den Hamlet ein. Die These bleibt dieselbe: Hamlet und Ödipus stellen, unter leicht veränderten Voraussetzungen, einen identischen Konfliktfall dar: »Auf demselben Boden wie ›König Ödipus‹ wurzelt eine andere der großen tragischen Dichterschöpfungen, der ›Hamlet‹ Shakespeares.« (GS II, 271) Die zentrale Bedeutung, die Shakespeare – und mit ihm Goethe – in Freuds Werk einnimmt, bestätigt sich auch am Hamlet. In einer für das 19. Jahrhundert nicht untypischen Weise rekurriert Freud auf Sophokles, Shakespeare und Goethe als den drei Säulen bürgerlicher Literaturauffassung. Für den Leser, so Grubrich-Simitis, handelt es sich daher vor allem um ein »didaktisches, einübendes Wiederholen« 2 , auf das der Vergleich von Ödipus und Hamlet abzielt. Freud geht es darum, den Leser durch eine doppelte Beweisführung zu überzeugen. Grund der Tragödie, sei es die griechische oder das elizabethanische

2

I. Grubrich-Simitis: Metamorphosen der ›Traumdeutung‹, S. 80. 72

TOO MUCH IN THE SON. FREUDS HAMLET

Rachedrama, ist der Inzestkomplex: »Der Mythus vom König Ödipus, der seinen Vater tötet und seine Mutter zum Weib gewinnt, ist eine noch wenig abgeänderte Offenbarung des infantilen Wunsches, dem sich späterhin die Inzestschranke abweisend entgegenstellt. Die Hamlet-Dichtung Shakespeares ruht auf demselben Boden des besser verhüllten Inzestkomplexes.« (GS VIII, 50) Was Sophokles direkt darstelle, den Vollzug der Ehe von Mutter und Sohn, zeige Shakespeare in einer weiter entwickelten Kulturstufe nur noch verhüllt. Unabhängig von diesen Differenzen aber bleibe der Kern der Tragödien derselbe. Das ist die These, die Freuds Ausführungen in den Briefen wie in der Traumdeutung leitet und die zugleich den Grund für eine ausführliche Interpretation des Hamlet-Stoffes bietet. Den Ausgangspunkt von Freuds Überlegungen bildet zunächst die Einsicht, dass es sich bei Sophokles und Shakespeare um unterschiedliche Stufen innerhalb der kulturellen Entwicklung handle: »Aber in der veränderten Behandlung des nämlichen Stoffes offenbart sich der ganze Unterschied im Seelenleben der beiden weit auseinander liegenden Kulturperioden, das säkulare Fortschreiten der Verdrängung im Gemütsleben der Menschheit. Im ›Ödipus‹ wird die zugrunde liegende Wunschphantasie des Kindes wie im Traum ans Licht gezogen und realisiert; im ›Hamlet‹ bleibt sie verdrängt, und wir erfahren von ihrer Existenz – dem Sachverhalt bei einer Neurose ähnlich – nur durch die von ihr ausgehenden Hemmungswirkungen.« (GS II, 271) Wie Freud feststellt, ist der Hamlet anders und doch dem Ödipus vergleichbar. Stellen beide den Wunsch nach Vatermord und Beischlaf mit der Mutter dar, so geschieht dies im Ödipus direkt, im Hamlet nur noch verhüllt: Beim Ödipus handle es sich um einen realisierten, beim Hamlet um einen bloß gewünschten Wunsch. Unter der Voraussetzung, dass Freud auch die Traumarbeit als eine bestimmte Technik der Verhüllung, der Verschiebung und der Verdichtung begreift, deutet sich damit an, dass der Hamlet als verdrängte Darstellung des Inzestwunsches sogar aufschlussreicher für die Analyse der Neurosen sein kann, auf die es Freud eigentlich ankommt. Ist der Ödipus auch die Folie für den Hamlet, so steht der Hamlet den Neurosen doch näher als die griechische Tragödie. Im Rahmen einer Bestimmung spezifisch moderner Phänomene muss daher dem Hamlet sogar der Vorrang vor dem Ödipus zugesprochen werden. Freud realisiert die historische Differenz, die beide Texte voneinander trennt, indem er in einem ausführlichen Interpretationsversuch auf den Unterschied von Schicksals- und Charaktertragödie eingeht: Mit der überwältigenden Wirkung des modernen Dramas hat es sich eigentümlicherweise als vereinbar gezeigt, daß man über den Charakter des Helden in voller Unklarheit verbleiben könne. Das Stück ist auf die Zögerung Hamlets 73

DAS SCHIBBOLETH DER PSYCHOANALYSE

gebaut, die ihm zugeteilte Aufgabe der Rache zu erfüllen; welches die Gründe oder Motive dieser Zögerung sind, gesteht der Text nicht ein; die vielfältigsten Deutungsversuche haben es nicht anzugeben vermocht. Nach der heute noch herrschenden, durch Goethe begründeten Auffassung stellt Hamlet den Typus des Menschen dar, dessen frische Tatkraft durch die überwuchernde Entwicklung der Gedankentätigkeit gelähmt wird (›Von des Gedankens Blässe angekränkelt‹). Nach anderen hat der Dichter einen krankhaften, unentschlossenen, in das Bereich der Neurasthenie fallenden Charakter zu schildern versucht. Allein die Fabel des Stücks lehrt, dass Hamlet uns keineswegs als eine Person erscheinen soll, die des Handelns überhaupt unfähig ist. Wir sehen ihn zweimal handelnd auftreten, das einemal in rasch auffahrender Leidenschaft, wie er den Lauscher hinter der Tapete niederstößt, ein anderesmal planmäßig, ja selbst arglistig, indem er mit der vollen Unbedenklichkeit des Renaissanceprinzen die zwei Höflinge in den ihm selbst zugedachten Tod schickt. Was hemmt ihn also bei der Erfüllung der Aufgabe, die der Geist seines Vaters ihm gestellt hat? Hier bietet sich wieder die Auskunft, daß es die besondere Natur dieser Aufgabe ist. Hamlet kann alles, nur nicht die Rache an dem Mann vollziehen, der seinen Vater beseitigt und bei seiner Mutter dessen Stelle eingenommen hat, an dem Mann, der ihm die Realisierung seiner verdrängten Kinderwünsche zeigt. Der Abscheu, der ihn zur Rache drängen sollte, ersetzt sich so bei ihm durch Selbstvorwürfe, durch Gewissenskrupel, die ihm vorhalten, daß er, wörtlich verstanden, selbst nicht besser sei als der von ihm zu strafende Sünder. Ich habe dabei ins Bewußte übersetzt, was in der Seele des Helden unbewußt bleiben muß; wenn jemand Hamlet einen Hysteriker nennen will, kann ich es nur als Folgerung aus meiner Deutung anerkennen. (GS II, 272)

In seiner ausführlichen Würdigung des Hamletstoffes in der Traumdeutung liefert Freud im Wesentlichen die gleichen Argumente wie bereits im Brief an Fließ vom 15. Oktober 1897, dem 53. Geburtstag des zum Zeitpunkt der Abfassung des Briefes in Weimar geistig umnachtet dahinsiechenden Friedrich Nietzsches. Wie schon Nietzsche in der Geburt der Tragödie, so wendet sich Freud gegen die Darstellung Hamlets als handlungsunfähiger und damit untragischer Person, um einen anderen Grund für sein Zögern anzugeben: Die verborgene Identifikation mit dem Täter mache es Hamlet unmöglich, die Rache zu realisieren, an die Stelle der Aggression gegen den Mörder des Vaters tritt der Selbstvorwurf, auch nicht besser zu sein als Claudius, an die Stelle der heroischen Affekte Zorn und Trauer die Schwermut des Melancholikers. Freud versieht seine Ausführungen noch mit einem Zusatz: »Es kann natürlich nur das eigene Seelenleben des Dichters gewesen sein, das uns in Hamlet entgegentritt« (GS II, 272), lautet die weiterführende These der Psychoanalyse, die in Hamlet den Spiegel Shakespeares erkennen will und damit einer Identifikation zwischen Autor und Protagonist Vorschub leistet, gegen die sich literaturwissenschaftliche Interpretationen 74

TOO MUCH IN THE SON. FREUDS HAMLET

meist zur Wehr setzen. Ernest Jones ist Freud darin gefolgt: »the view that Shakespeare depictet in Hamlet the most important part of his own inner self is a widespread and doubtless a correct one« 3 – zweifellos ein Grundsatz und Grundfehler der psychoanalytischen Textaneignung zugleich. Dennoch erkennt Freud in der Psychoanalyse einen Vorteil gegenüber anderen Disziplinen. Nicht unbescheiden beansprucht er für sich, »daß erst die Psychoanalyse durch die Zurückführung des Stoffes auf das Ödipus-Thema das Rätsel der Wirkung der Tragödie gelöst hat.« (GS X, 174) Gerade aufgrund dieser selbstbewusst vertretenen These stellen sich der psychoanalytischen Deutung der Tragödie kritische Fraugen, die nicht allein die Plausibilität von Freuds Thesen in Bezug auf den Hamletstoff betreffen, sondern die grundsätzliche Vergleichbarkeit seines Deutungsansatzes mit denen Friedrich Nietzsches und Walter Benjamins. Denn Freud ist nicht der Einzige, der sich an prominenter Stelle am Hamlet orientiert. Auch Nietzsche und Benjamin greifen gerade da, wo man es am wenigsten erwartet, auf Shakespeares melancholischen Helden zurück: Nietzsche in der Geburt der Tragödie, Benjamin im Ursprung des Trauerspiels. Nietzsches Erstlingsschrift hat sich seit ihrem Erscheinen in ähnlicher Weise wie Freuds Traumdeutung und Benjamins Trauerspielbuch heftigen Einsprüchen ausgesetzt gesehen. Was Nietzsche, Freud und Benjamin unabhängig von allen Differenzen miteinander verbindet, ist der bewusste Verstoß gegen die Konventionen der Wissenschaft, der Provokation erregen musste. Dass die Einwände gegen den mangelnden philologischen Geist der Geburt der Tragödie eine gewisse Berechtigung haben, zeigt Nietzsches eklektizistischer Umgang mit den Quellen. Keines der ihm durchaus bekannten Standardwerke seiner Zeit hat Eingang in seine Schrift über die griechische Tragödie gefunden. Stattdessen beruft sich Nietzsche auf Shakespeare und Goethe, auf Schiller, Schopenhauer und Wagner. 4 Auffällig ist in diesem Kontext insbesondere, wie dürftig die Interpretation der griechischen Tragödien in einem Buch ausgefallen ist, das immerhin den Anspruch erhebt, deren Geburt aus dem Geiste der Musik vorzuführen. Dass Sophokles’ Ödipus und Aischylos’ Prometheus sich wie die Glorie der Passivität und die Glorie der Aktivität zueinander verhalten, ist beinahe alles, was Nietzsche dem interessierten Leser mitzuteilen hat. Überraschend ist hingegen, dass mit dem Hamlet ein moderner Text in den Mittelpunkt der Betrachtung der griechi-

3 4

Ernest Jones: Hamlet and Oedipus, London 1949, S. 101f. Vgl. Barbara von Reibnitz: Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche ›Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik‹ (Kapitel 1-12), Stuttgart/ Weimar 1992, S. 3. 75

DAS SCHIBBOLETH DER PSYCHOANALYSE

schen Tragödie rückt. Im siebten Kapitel seiner Abhandlung schreibt Nietzsche über Shakespeares Trauerspiel: In diesem Sinne hat der dionysische Mensch Aehnlichkeit mit Hamlet: beide haben einmal einen wahren Blick in das Wesen der Dinge gethan, sie haben erkannt, und es ekelt sie zu handeln, denn ihre Handlung kann nichts am ewigen Wesen der Dinge ändern, sie empfinden es als lächerlich oder schmachvoll, dass ihnen zugemuthet wird, die Welt, die aus den Fugen ist, wieder einzurichten. Die Erkenntniss tödtet das Handeln, zum Handeln gehört das Umschleiertsein durch die Illusion – das ist die Hamletlehre, nicht jene wohlfeile Weisheit von Hans dem Träumer, der aus viel Reflexion, gleichsam aus einem Ueberschuss von Möglichkeiten, nicht zum Handeln kommt; nicht das Reflectiren, nein! – die wahre Erkenntniss, der Einblick in die grauenhafte Wahrheit überwiegt jedes zum Handeln antreibende Motiv, bei Hamlet sowohl als bei dem dionysischen Menschen. Jetzt verfängt kein Trost mehr, die Sehnsucht geht über eine Welt nach dem Tode, über die Götter selbst hinaus, das Dasein wird, sammt seiner gleissenden Wiederspiegelung in den Göttern oder in einem unsterblichen Jenseits, verneint. In der Bewusstheit der einmal geschauten Wahrheit sieht jetzt der Mensch überall nur das Entsetzliche oder Absurde des Seins, jetzt versteht er das Symbolische im Schicksal der Ophelia, jetzt erkennt er die Weisheit des Waldgottes Silen: es ekelt ihn. 5

In einer Art und Weise, die für die gesamte Schrift charakteristisch ist, verbindet Nietzsches Interpretation des Hamlet antike Dionysik und moderne Melancholie. Der verbindende Punkt beider Probleme liegt im Ekel. Bemerkenswert ist dabei nicht nur, dass das Motiv des Ekels mit dem Schicksal Ophelias und der Weisheit des Waldgottes den Abscheu vor der Weiblichkeit mit dem vor der dionysischen Wahrheit verbindet: Der Einblick in die grauenvolle Wahrheit ist einer, der ebenso vor das Antlitz des dionysischen Gottes wie vor den von Ophelias Schicksal führt. Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass Hamlet vor der Folie der griechischen Tragödie als eine eigentümliche Mischung aus Ödipus und Prometheus erscheint, als ein tragischer Held, der dem Handeln absagt, weil er leidende Einsicht in das Wesen der Dinge genommen habe. So überlagert der melancholische Geist des Hamlet die Heroik der antiken Tragödie, der sich Nietzsche in seiner Abhandlung zunächst mit Haut und Haaren zu verschreiben schien. Die prominente Stellung, die der Hamlet in der Geburt der Tragödie einnimmt, bestätigt zugleich die Ausgangsproblematik der Schrift, die eine angemessene Rezeption zunächst verhindert hat. Was Nietzsches Geburt der Tragödie kennzeichnet, ist die unaufgehobene, von ihm selbst später kritisierte Spannung zwischen dem historischen Gegenstand der Arbeit, der griechischen Tragödie, und ih5

Friedrich Nietzsche: KSA 1, S. 57. 76

TOO MUCH IN THE SON. FREUDS HAMLET

rem durch Wagner vermittelten modernen Ansatz. Im Rahmen der Überformung der Frage nach der Geburt der griechischen Tragödie durch die Untersuchung der Modernität von Wagners Oper funktioniert der Hamlet in Nietzsches Darstellung wie ein Scharnier, an dem sich der Zusammenhang von antiker Dionysik und moderner Melancholie paradigmatisch ablesen lässt. Die zentrale Funktion des Hamlet als prekärer Vermittlungspunkt zwischen der philologischen Frage nach dem historischen Gegenstand der Abhandlung und der philosophischen Analyse der Gegenwart im Zeichen der Melancholie verbindet Nietzsches Tragödienschrift zugleich mit Benjamins Trauerspielbuch und letztlich auch mit Freuds Traumdeutung. Zu den unaufgelösten Paradoxien des Trauerspielbuchs zählt es, dass Benjamin den eigentlichen Gegenstand seiner Untersuchung, das deutsche Trauerspiel des Barock, zwischen Calderón und Shakespeare spannt: »Nirgend anders als bei Calderon wäre denn auch die vollendete Kunstform des barocken Trauerspiels zu studieren.« 6 (I, 260) Nicht im deutschen, im spanischen Barock erblickt Benjamin, darin Schopenhauer verpflichtet, die Vollendung des Trauerspiels. Ihr zur Seite stellt er die Überwindung der antiken Schicksalstragödie durch Shakespeare: »Der Tod des Hamlet, der mit dem tragischen nicht mehr gemein hat als der Prinz mit Aiax, ist in seiner vehementen Äußerlichkeit fürs Trauerspiel charakteristisch und allein darum seines Meisters schon würdig, weil Hamlet, wie das Gespräch mit Osrik es erkennen läßt, die schicksalsschwere Luft wie Stickstoff in einem tiefen Zuge atmen will. Er will am Zufall sterben und wie die schicksalhaften Requisiten sich um ihn als um ihren Herrn und ihren Kundigen scharen, blitzt in dem Abschluß dieses Trauerspiels das Schicksalsdrama, als in ihm einbeschlossenes, freilich überwundenes, auf.« (I, 315) Es ist vor allem der Schluss des Hamlet, den Benjamin in den Blick nimmt. Hamlets Tod, eingeleitet durch die Aufforderung zum Duell mit Laertes, deutet Benjamin anders als den selbstverschuldeten tragischen Tod des Ajax als Zeichen für die christliche Überwindung des Schicksalsdramas. Ajax’ erhabenem Schweigen nach dem eigenen Tod, von dem Longin in seinem Kommentar der Odyssee berichtet, 7 steht das Schweigen des Helden im Trauerspiel gegenüber: »the rest is silence«, lauten Hamlets berühmte Worte, die Benjamin in seiner Abhandlung zitiert. Es ist eben dieser Hang zur Sprachlosigkeit, den Benjamin an der Trauer diagnostiziert und dem barocken 6

7

Walter Benjamin: Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann/Wolfgang Schweppenhäsuer, Frankfurt/Main 1980. Im Folgenden fortlaufend im Text in Klammern zitiert. Vgl. Longin: Vom Erhabenen. Übersetzt und herausgegeben von Otto Schönberger, Stuttgart 1988, S. 21. 77

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Trauerspiel unterlegt. Als Unterbrechung des tragischen Kontinuums erscheint der Tod im Hamlet zugleich als Inkarnation des melancholischen Geistes, der das Trauerspiel beseelt. Entsprechend uneingeschränkt ist das Lob, das Benjamin für Shakespeare findet: Einmal zumindest ist dem Zeitalter gelungen, die menschliche Gestalt zu beschwören, die dem Zwiespalt neuantiker und medievaler Beleuchtung entsprach, in welchem das Barock den Melancholiker gesehen hat. Aber nicht Deutschland hat das vermocht. Es ist der Hamlet. Das Geheimnis seiner Person ist beschlossen im spielerischen eben dadurch aber gemessenen Durchgang durch alle Stationen dieses intentionalen Raumes, wie das Geheimnis seines Schicksals beschlossen ist in einem Geschehen, das diesem seinem Blick ganz homogen ist. Hamlet allein ist für das Trauerspiel Zuschauer von Gottes Gnaden; aber nicht was sie ihm spielen, sondern einzig und allein sein eigenes Schicksal kann ihm genügen. Sein Leben, als vorbildlich seiner Trauer dargeliehener Gegenstand, weist vor dem Erlöschen auf die christliche Vorsehung, in deren Schoß seine traurigen Bilder sich in seliges Dasein verkehren. Nur in einem Leben von der Art dieses fürstlichen löst Melancholie, indem sie sich begegnet, sich ein. Der Rest ist Schweigen. (I, 335)

In einer Lektüre, die selbst allegorisch strukturiert ist, stilisiert Benjamin Hamlet zum Melancholiker, der sein Leben ganz der Trauer hingibt und darin den Umschlag vom tragischen Opfertod zur christlichen Vorsehung antizipiert. Das Schauspiel, das Hamlet im dritten Akt als Spiel im Spiel inszeniert, um den Mörder seines Vaters bloßzustellen, deutet Benjamin in ähnlicher Weise wie in seinen Überlegungen zur frühromantischen Poetik als eine Form der Selbstreflexion, die von dem Schluss des Dramas noch überboten wird, da Hamlet in einer erneuten Verdoppelung des Spiels doch noch vom Zuschauer zum Handelnden wird. Von einer Selbstbegegnung der Melancholie spricht Benjamin, weil er den gelassenen Hamlet des fünften Akts im Spiel der Trauer jedoch weiterhin nicht nur als Handelnden, sondern mehr noch als Beobachter seiner selbst begreift. Als throne Benjamins Blick noch über dem Drama selbst, in dem er den Tod findet, öffnet sich für Benjamin der christliche Geist des Trauerspiels in einer melancholischen Selbstversunkenheit des Helden: »Shakespeare allein vermochte aus der barocken, unstoischen wie unchristlichen, pseudoantiken wie pseudopietistischen Starre des Melancholikers den christlichen Funken zu schlagen. Wenn anders der Tiefblick, mit dem Rochus von Liliencron Saturnkindschaft und Male der Acedia in Hamlets Zügen las, um seinen besten Gegenstand nicht betrogen sein soll, wird er in diesem Drama das einzigartige Schauspiel ihrer Überwindung im christlichen Geiste erblicken. Nur in diesem Prinzen kommt die melancholische Versenkung zur Christlichkeit.« (I, 335) Zwar 78

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schreibt Benjamin in seiner Habilitationsschrift vordergründig über das barocke Trauerspiel der zweiten schlesischen Schule. Schon Carl Schmitt bemerkt jedoch: »Aber das Buch ist reich an bedeutenden Einsichten und Durchblicken, sowohl für die Kunst- und Geistesgeschichte überhaupt, wie auch für Shakespeares Drama und namentlich für seinen Hamlet« 8 . So ist der Hamlet für Benjamin mehr als ein Gegenstand unter anderen. Auch dort, wo er über das deutsche Trauerspiel zu schreiben scheint, spricht Benjamin wie schon vor ihm Nietzsche ganz im Geiste Shakespeares. Nietzsches Geburt der Tragödie, Freuds Traumdeutung und Benjamins Trauerspielbuch sind unterschiedliche Beispiele für die enorme Attraktivität, die vom Hamlet für eine Bestimmung der Moderne ausgeht. Nietzsches, Benjamins und Freuds Interpretationen des Hamletstoffes weisen daher zugleich auf die Gemeinsamkeiten wie die Unterschiede ihrer Unterfangen hin. Alle drei billigen dem Hamlet eine zentrale Stellung zu, die weit über eine marginale Erwähnung Shakespeares neben der antiken Tragödie oder dem barocken Trauerspiel hinausgeht, zugleich jedoch eine Instrumentalisierung des literarischen Textes zur Erläuterung allgemeiner kulturphilosophischer Erwägungen bedeutet. Shakespeares Hamlet gilt ihnen als Inkarnation eines spezifisch modernen Verständnisses der Tragödie, das von dem der griechischen Antike deutlich abweicht. Während Freud trotzdem den Hamlet auf den Ödipus zurück bezieht, stellen Nietzsche und Benjamin mit dem Thema des Ekels und der Melancholie andere Probleme in den Mittelpunkt. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie sich die Modernität des Hamlet, von der alle drei Interpreten ausgehen, mit den Themen Inzest, Ekel und Melancholie und nicht zuletzt mit Shakespeares Drama selbst verträgt. Wie die Nietzsches und Benjamins, so stellt Freuds Interpretation des Hamlet alles andere als einen »einfühlsamen« Kommentar zu Shakespeare dar. Hatte die Hermeneutik der Jahrhundertwende in der Tradition von Schleiermachers Begriff der Divination gerade den Akt der Einfühlung als das geheime Zentrum der Hermeneutik dargestellt, so verkörpern Nietzsche, Benjamin und Freud viel eher eine »Hermeneutik der Gewalt« 9 , die sich durch einen entschiedenen Zugriff auf den Text unabhängig von philologischen Subtilitäten auszeichnet. Wie immer die durchaus produktive Gewaltsamkeit der Interpretationen, die Nietzsche, Benjamin und Freud vorbringen, zu beurteilen ist: Es gibt offenkundig eine ganze Anzahl an relevanten Punkten, an denen Freud souverän vorbeigeht. Trotz der These, es handle sich um unterschiedliche Kultur8 9

Carl Schmitt: Hamlet oder Hekuba. Der Einbruch der Zeit in das Spiel, Stuttgart 1985, S. 62. Vgl. Achim Geisenhanslüke: Einführung in die Literaturtheorie. Von der Hermeneutik zur Medienwissenschaft, Darmstadt 2003, S. 64-67. 79

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stufen, ist Freud in keiner Weise an einer historisch orientierten Auseinandersetzung interessiert, die den Gegensatz von antiker und moderner Tragödie zu verhandeln hätte. Ebenso wenig interessieren ihn Probleme der Form, die wie bei Benjamin die unterschiedlichen Formen von Tragödie und Trauerspiel betreffen. Die auffälligste Eigenheit der Freudschen Analyse besteht allerdings darin, dass er gerade das Thema von Zorn und Rache sowie die damit verbundene Frage nach der Melancholie des Helden komplett vernachlässigt. So überraschend das zunächst erscheinen mag: Der Zusammenhang von Literatur und Affekt ist für Freud kein Thema. Der Blick auf Shakespeares Text kann daher dazu dienen, bestimmte Aspekte hervorzuheben, die Freud nicht berücksichtigt, ohne dass Freuds Analysen damit einfach widerlegt wären. So wenig sich literarische Texte zur Widerlegung oder Erläuterung philosophischer Thesen eignen, so sehr können sie einen Beitrag zu einer Form der differenzierten Kritik leisten, die ihrem Gegenstand gegenüber – in diesem Fall der Psychoanalyse – nicht äußerlich ist. Shakespeares Hamlet zählt sicherlich zu den am häufigsten interpretierten Texten der Literaturgeschichte, und an der endlosen Karawane von Deutungen ist nicht zuletzt auch die Psychoanalyse beteiligt. Schon Ernest Jones hält in seiner Studie Hamlet and Oedipus fest: »More has been written about Hamlet than about any other character of fiction«10 , aber auch das hat ihn nicht davon abhalten können, in Anlehnung an Freud Hamlet auf Ödipus zurückzuführen. T. S. Eliot hat in seiner Hamletinterpretation nicht zu Unrecht von der »›Mona Lisa‹ der Literatur« 11 gesprochen, was zugleich bedeutet, dass das geheimnisvolle Lächeln auf dem Gesicht des verhinderten Rächers trotz des enormen bereits geleisteten Interpretationsaufwandes noch immer der Auflösung harrt. Zwei Dinge haben die Forschung seit jeher bewegt: die außerordentliche Länge des Stücks, die ihren Grund nicht zuletzt in der Geschwätzigkeit des Protagonisten hat, der über einen überragenden Redeanteil in der Tragödie verfügt, und die Tatsache, dass es sich beim Hamlet auf eine zunächst nicht ungewöhnliche Weise um ein Rachedrama handelt, mit der Besonderheit allerdings, dass die Rache zunächst verhindert und erst nach langen Umwegen erfüllt wird. Was sich mit diesen beiden Problemen andeutet, ist die Frage nach dem Zusammenhang zwischen der Tragödie der Rache und der – tendenziell zur Komödie neigenden – Funktion der Sprache im Drama, die konkrete Frage also, warum Hamlet so viel redet und so wenig tut und die Rache damit derart hinauszögert.

10 E. Jones: Hamlet and Oedipus, S. 22. 11 T.S. Eliot: »Hamlet«, in: Essay 2. Literaturkritik, Frankfurt/Main 1988, S. 94-100, hier S. 97. 80

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Noch ein drittes Problem hat die Forschung in diesem Zusammenhang bewegt, die Frage nach dem Geist des Vaters, der im ersten Akt auftritt und von Hamlet verlangt, seine Ermordung zu rächen. In Frage steht zumeist der Status des Geistes: Verfügt er über einen wie auch immer gearteten Realitätsgehalt oder ist er nichts »but our fantasy« 12 ? Eingeführt wird der Geist jedenfalls in der Form eines unnennbaren Monstrums, als »this thing« (I,1, 24) und »it« (I,1, 43), »Es, das Ding« 13 , meint Jacques Derrida, »ein ›it‹ und niemals ein ›he‹, das der Vater sein könnte« 14 , wie Anselm Haverkamp feststellt. Eine Identifikation mit dem Vater und dessen Zielen scheint schon seine Gestalt eher zu verhindern als zu fördern. Als unnennbares Ding erscheint der Geist des Vaters, da er für den Sohn eine unannehmbare Wahrheit verkörpert, in ähnlicher Weise wie es im Ödipusdrama Klaus Heinrich zufolge um die Annahme eines Unannehmbaren geht: »the tragedy is the result, and the study, of a burden of knowledge, of an attempt to deny the all but indeniable« 15 , meint Stanley Cavell in diesem Zusammenhang. Unleugbar und doch zugleich unannehmbar scheint für Hamlet zu sein, der dadurch zunächst in eine ähnliche Position wie Orest und keineswegs wie Ödipus rückt, dass der Vater von der eigenen Mutter und ihrem Liebhaber ermordet worden ist, und damit verbunden die schmerzliche Einsicht, dass der Vater der Mutter wohl nicht genug war, eine »honte familiale cachée« 16 , in der Nicolas Abraham den Grund für das Gespenst erblickt, der das Stück heimsucht. Carl Schmitt hat in Hamlet und Hekuba darauf hingewiesen, dass diese Ausgangskonstellation nur zwei Lösungen zulässt, den Weg des Orest, demzufolge der Sohn den Mörder und die eigene Mutter tötet, oder den Weg des Amleth der nordischen Saga, demzufolge der Sohn sich mit der Mutter verbündet und mit ihr gemeinsam den Mörder tötet. »Das Seltsame und Undurchsichtige an Shakespeares Hamlet ist«, so bemerkt Carl Schmitt jedoch, »daß der Held des Rache-Dramas weder den einen noch den andern Weg geht.« 17 Der Grund scheint nicht so sehr in 12 William Shakespeare: Hamlet. Edited by Harold Jenkins, London and New York 1982, I,1, 26. Im Folgenden Akt, Szene, Vers in Klammern im Text. 13 Jacques Derrida: Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt/Main 2004, S. 16f. 14 Anselm Haverkamp: Hamlet – Hypothek der Macht, Berlin 2001, S. 35. 15 Stanley Cavell: Disowning Knowledge in six plays of Shakespeare, Cambridge 1988, S. 179. 16 Nicolas Abraham: »Le fantôme d’Hamlet ou VI. Acte«, in: Nicolas Abraham/Maria Torok, L’écorce et le noyau, Paris 1987, S 447-474, hier S. 448. 17 C. Schmitt: Hamlet oder Hekuba, S. 14. 81

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der furchterregenden Form des Vaters zu liegen, der in Shakespeares »Hantologie« 18 als Gespenst, als Revenant zu seinem Sohn zurückkommt, sondern in der Figur der Mutter, von der unklar bleibt, inwieweit sie in den Mordplan verstrickt ist. So beginnt das Drama mit einer doppelten Verunsicherung, die zum einen die Mitschuld der Mutter und zum anderen den Realitäts- und Wahrheitsgehalt des Vaters betrifft. Wenn nicht sicher ist, ob er bloß eine Chimäre ist, wie kann man dann sicher sein, dass er die Wahrheit sagt und der König wirklich von seinem ehebrecherischen Weib und seinem Bruder und Nachfolger im Bett und auf dem Thron ermordet worden ist? Damit unmittelbar verbunden ist die Frage nach dem Spiel im Spiel, dem schon von Benjamin unterstrichenen Charakter des Dramas als Spiel um und mit der Trauer. Was von diesen Überlegungen zurückbleibt, ist die auffällige Einsamkeit des Titelhelden, der seiner Umwelt, selbst Horatio, vor allem aber dem Leser, bis zum fünften Akt in seinen Gedanken und Handlungen ein uneinsehbares Rätsel bleibt. Mit der Frage nach der bewusst herbeigeführten und jede Interpretation erschwerenden Uneinsehbarkeit von Hamlets Charakter verbunden ist die der Melancholie. Wird der Geist als unnennbares Ding eingeführt, so Hamlet schon vor dem Erscheinen des Geistes als Melancholiker: »How is it that the clouds still hang on you?« (I,2, 66) Hamlets umwölktes Gemüt scheint seinen Grund in der Trauer um den Vater und der Empörung über die schnelle Hochzeit seiner Mutter mit dem Schwager zu haben. In der psychoanalytischen Terminologie verwandelt sich Hamlets Trauer in Melancholie, weil er sich mit Selbstzweifeln foltert, die ihren eigentlichen Grund in der Tatsache haben, dass er selbst den Platz des Ehebrechers besetzen möchte und ihn deswegen nicht verurteilen kann. Die unmittelbare Folge ist ein lautes Lamentieren über die Schlechtigkeit der Welt, die Hamlets Melancholie deutlich anzuzeigen scheint: »How weary, stale, flat, and unprofitable / Seem to me all the uses of the world!« (I,2, 133-134) Hamlet erfüllt zu Beginn des Stückes alle Topoi der Melancholie, und so konnte Jones auch behaupten, Hamlets Worte seien »undoubtedly suggestive of certain forms of melancholia« 19 , für eine Melancholie, die ihren Grund in der Bewunderung des Vater – »So excellent a king« (I,2, 139) – und dem Vergleich der trauernden Mutter mit Niobe zu haben scheint: »Like Niobe, all tears« (I,2, 149). Hamlets Worte scheinen damit allerdings nicht allein von seiner Melancholie zu zeugen, sondern auf irritierende Weise zugleich mit der Form der Ironie verbunden zu sein, die das Drama für die Romantik so

18 J. Derrida: Marx’ Gespenster, S. 25. 19 E. Jones: Hamlet and Oedipus, S. 67. 82

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interessant hat werden lassen. Nun schließen sich Melancholie und Ironie keineswegs aus, vielmehr scheint gerade die Selbstbezogenheit der Melancholie, die Freud dazu geführt hat, den Begriff in den Umkreis des Narzissmus zu stellen, mit der Reflexionsform der Ironie gut zu vereinbaren zu sein. Im Falle Hamlets führt allerdings gerade der Vergleich der Mutter mit Niobe zu der Frage, ob es wirklich nur melancholische Selbstzweifel sind, die den Helden so spektakulär aus der Bahn werfen. Denn gerade sich selbst gegenüber beweist Hamlet einen Witz, der ihn auf die Frage nach den Gründen für sein umwölktes Gemüt zum Beispiel antworten lässt: »Not so, my lord, I am too much in the ›son‹.« (I,2, 67) Hamlets doppelsinnige Antwort ist für das gesamte Stück richtungsweisend. Zum einen bestätigt sie, dass Hamlet in genau dem von Freud unterstrichenen Sinn witzig ist und eben darum auch alle Kriterien des geistvollen Träumers aufweist: »Alle Träumer sind ebenso unausstehlich witzig und sie sind es aus der Not, weil sie im Gedränge sind, ihnen der gerade Weg versperrt ist.« 20 Der Sprachwitz von Hamlet resultiert demnach aus der Tatsache, dass ihm »der gerade Weg versperrt ist« und er Umwege gehen muss, die allerdings von ihm in einer wohl kalkulierten Form der Verstellung gewählt sind. Zugleich aber wirft Hamlets Antwort ein seltsames Licht auf die Rückführung des Stückes auf den Ödipuskomplex, den Freud und mit ihm Jones dem Drama unterlegen. Dass er »zu sehr im Sohne« sei, kann geradezu als ironische Replik auf die psychoanalytische Ödipustheorie verstanden werden. In der ihm eigenen Ironie distanziert sich Hamlet von allen Rollen, die ihm zugetragen werden, dem des melancholischen Prinzen, des unglücklich Verliebten, des vom Vater beauftragen Rächer und eben auch des in geheimer Identifikation mit seinem Onkel behafteten Ödipus. Als Chefstratege der Verstellung, als der er im Drama erscheint, als begnadeter Schauspieler in einem Trauerspiel, das die Welt nur als Spiel vorführt, scheint Hamlet über die ihm zugedachte Rolle immer schon hinaus zu sein. Hamlet steht nicht vor der Tat, sondern immer schon nach ihr, in einer wunderbaren Ungleichzeitigkeit, die es ihm – bis zum fünften Akt, in dem sich alles ändert – erlaubt, all seinen Witz zu entfalten. Als witziger Meister der Rede, der kein Ende finden kann, als schauspielerischer Improvisationskünstler, der beständig auf der Suche nach ihm adäquaten Szenen der Selbstdarstellung ist, verweist sein Charakter damit jedoch weit weniger in den unmittelbaren Umkreis des Ödipuskomplexes als vielmehr in den Bereich der unendlichen Selbstspiegelungen, der dem Narzissmus eigen ist. 21 Hamlet als narzisstischen Charakter ansprechen, bedeutet daher, ihn 20 S. Freud: Aus den Anfängen der Psychoanalyse, S. 255. 21 In eine ähnliche Richtung geht Jacques Lacan, wenn er den Zusammenhang zwischen dem Narzissmus und dem Imaginären betont. Lacan 83

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aus dem Korsett des ödipalen Dramas zu befreien, um innerhalb der Psychoanalyse – denn wer hat uns mehr über den Narzissmus gelehrt als Freud? – eine angemessene Form der Sprache für die Deutung des Dramas zu finden. Vor diesem Hintergrund öffnet sich zugleich ein Zugang zu dem Drama, der nicht allein auf der ödipalen Theorie des Wunsches fußt – Hamlets Konflikt beruhe darauf, dass er den Mörder töten soll und doch das Gleiche wünscht wie dieser –, sondern auf einem narzisstischen Spiel um Geheimnisse und Techniken des Verbergens. Fast jeder in diesem Stück hütet ein Geheimnis, das er nicht preisgeben will. Wie Benjamin bemerkt hat, ist das Thema von Schweigen und Sprechen dem Drama tief eingeschrieben. Schweigen etabliert sich schon zu Beginn in der Verbundenheit Hamlets mit Horatio und seinen Mitstreitern: Das Erscheinen des Geistes geht mit seinem Verschweigen vor den anderen einher, ein Geheimnis bleibt, dass der tote König seinen irritierenden Auftritt hat. Sogar die rechtliche Form des Schwurs ist notwendig, damit das Siegel des Schweigens bewahrt werden kann: Der Geist selbst verpflichtet Hamlet und seine Freunde, auf sein Schwert zu schwören: »Swear by my sword, / Never to speak of this that you have heard.« (I,5, 167-168) Das Geheimnis, das Gertrude und Claudius verbindet, wird Hamlet als ein Geheimnis offenbar, dass er so wenig verraten darf wie seine Mutter. Dramatik gewinnt das Stück weniger aus dem mit dem Thema der Rache verbundenen Rachezusammenhang denn aus dem Aufeinandertreffen von zwei Parteien, die beide um etwas wissen, ohne dass der andere wissen darf, dass sie etwas wissen, was sie nicht wissen dürfen. Die unmittelbare Folge dieser Ausgangskonstellation ist die Tatsache, dass jeder versucht, das geheime Wissen der anderen aufzudecken. So zeigt der gesamte zweite Akt, wie die Väter es darauf absehen, etwas über ihre Söhne in Erfahrung zu bringen: Polonius holt Erkundigungen ein, wie sich sein Sohn in Paris benimmt. Zugleich unternimmt er – wie auch Claudius – verschiedene Versuche zu ergründen, warum sich Hamlet so benimmt wie er es tut, was zugleich die Möglichkeiten zu zahlreichen Missverständnisse, Akten der Fehldeutung und der Irrtümer mit sich bringt. Eine besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang der Opheliahandlung zu. Ophelia berichtet ihrem Vater von der Begegnung mit dem halb entblößten Hamlet, der sie aufmerksam studiert und sich spricht im Blick auf Hamlet von der »narcissic connection that Freud tells about in his text on the decline of the Oedipus complex«. Jacques Lacan: »Desire and Interpretation of Desire in Hamlet«, in: Shoshana Felman (Hg.), Literature and Psychoanalysis. The Question of Reading: Otherwise, Baltimore and London 1980, S. 11-52, hier S. 50. 84

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dann mit einem Seufzen abwendet. Freud liest diese Szene wörtlich: Weil die Mutter eine Ehebrecherin ist, sei Hamlets Vertrauen in die Beständigkeit der Liebe an einem Nullpunkt angelangt, der zur Absage an die Liebe führt. Ihm entgeht damit jedoch, dass es Hamlet durch seinen theatralischen Auftritt gelingt, den Gegner auf eine falsche Fährte zu locken: »This is the very ecstasy of love« (II,1, 102), meint Ophelias Vater in der nicht uneitlen Hoffnung, der Thronfolger interessiere sich für seine Tochter. Polonius, der im Stück der Meister der Fehldeutungen bleibt, verwechselt das, was er für Liebe hält, mit der schmerzvollen Absage an die Liebe, die Hamlet vornimmt, und findet damit eine scheinbare Erklärung für Hamlets Irrsinn: Der Sohn der Königin liebt die Tochter. Das Gespräch, das Polonius mit Hamlet führt, um dessen Liebe zu ergründen, ist daher voller Zweideutigkeiten, die den Worten Hamlets entspringen. Hamlet, der mit dem Buch in der Hand auftritt, bestätigt das Bild des Melancholikers, der sich in die Texte der Vergangenheit versenkt und der statt an die frische Luft lieber »Into my grave« (II,2, 207) will. Was er liest, versichert Hamlet, seien nichts als »Words, words, words.« (II,2, 192) Die Buchstäblichkeit des Lesens, mit dessen Hilfe er die Versuche sabotiert, ihm eine geheime Motivation zu unterstellen, schreibt sich in den spielerischen Charakter ein, dem all seine Handlungen zukommen. So kann es auch nicht verwundern, dass Hamlet den Auftritt der Schauspieler zu der Inszenierung eines Spiels im Spiel nutzt, das unterhält, vergnügt und dabei zugleich die Wahrheit ans Licht fördert. Eine angemessene Strategie ist der Auftritt der Schauspieler für Hamlet zum einen, da diese es ihm erlauben, den Skandal um Gertrude und Claudius öffentlich zu machen. Wenn der König und die Königin sich verraten, hat Hamlet leichtes Spiel mit ihnen. Ein leichtes Spiel ist der Auftritt der Theaterleute für ihn aber auch, weil es ihm offensichtlich mehr Freude macht, die Rolle des Melancholikers zu spielen als die des heldenhaften Rächers. Nicht den geraden Weg der Rache sucht Hamlet, weil er Gertrude und Claudius zappeln lassen möchte, so wie eine Katze, die sich nicht damit zufrieden gibt, die Maus gefangen zu haben. Hamlet ist verspielt, und er rechnet sich das selbst als Feigheit und Ausdruck eines weibischen Charakters vor, der zugleich darauf verweist, dass Hamlet-Sohn nicht Mutter Gertrude oder die schöne Nymphe Ophelia liebt, sondern Hamlet-Tochter. »I did love you once« (III,1, 115), lautet die schlichte Antwort auf die Frage nach seinen Gefühlen für Ophelia, und der irritierende Zusatz »I loved you not« (III,1, 119) bestätigt nur, dass es außerhalb des narzisstischen Selbstverhältnisses für Hamlet keine angemessene Form der Liebe geben kann. Im Rahmen der Verstellungskunst, die

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all sein Handeln bestimmt, will Hamlet seine Gefühle nicht preisgeben, um seine Position nicht zu schwächen. Damit unterminiert er allerdings den Erfolg des eigenen Unterfangens, die anderen zu täuschen. Der König weist die Erklärung des Polonius, Hamlet leide, weil er seine Tochter liebe, mit gutem Recht zurück. Er vermutet einen ganz anderen Grund, der ihm gefährlich werden könnte und hat damit Hamlets Panzer der Verstellung zum ersten Mal durchbrochen. Ein zweites Mal gelingt ihm das gerade durch Hamlets Inszenierung der »Mouse-Trap« (III,2, 232) durch das Spiel im Spiel. Denn Hamlet erreicht zwar sein Ziel: Der König und die Königin geraten in Unruhe und verraten sich. Aber ebenso verrät Hamlet sich selbst, so dass auch der der König weiß, das Hamlet weiß, was er nicht wissen darf. Damit ist eine neue Konstellation geschaffen, die sich zunächst im Gespräch Hamlets mit der Mutter zeigt. Auf dem Weg begegnet er dem König und Mörder seines Vaters, hilflos und ohnmächtig im Gebet knieend. »Now might I do it pat, now’ a is a-praying - / And now I’ll do’t, (Draws his sword)« (III,3, 72-73). Aber Hamlet, der das Phallussymbol par excellence, das Schwert zieht, zögert wiederum: »A villain kills my father, and for that / I, his sole son, do this same villain send / To heaven … / Why, this is hire and salary, not revenge.« (III,3, 76-79) Freud zufolge ist die Szene unmittelbarer Ausdruck der Hemmung Hamlets, den Onkel zu töten, mit dem er sich auf geheime Weise identifiziert. Die Hemmung ist allerdings um so überraschender, als Hamlet unmittelbar darauf aus einem Geistesblitz heraus während des Gesprächs mit der Mutter Polonius ersticht: »Is it the king?« (III,4, 26), lautet die verräterische Frage, mit der Hamlet preisgibt, dass er sehr wohl dazu bereit und in der Lage ist, den König zu töten. Dass er es nicht getan hat, resultiert weniger aus seiner Handlungsohnmacht heraus als aus seiner Auffassung der Welt als Spiel, die der Geist mit seinem zweiten Erscheinen unangenehm unterbricht, um den ungehorsamen Sohn zu ermahnen: Spiel nicht mit der Maus, friss sie, lautet die Forderung des Vaters. Nach den Verstellungen, die den ersten und zweiten Teil des Dramas bestimmt haben, ist der dritte Akt der Ort der Enthüllungen, die zunächst allerdings folgenlos bleiben: Hamlet wird nach England entfernt, entzieht sich der ihm zugedachten Intrige, schickt Rosenkrantz und Güldenstern statt seiner in den Tod, während zu Haus in Dänemark eine zweite Intrige bereitet wird, deren Ausgangspunkt zunächst der Leichnam des Polonius und dann der der selbstmörderischen Ophelia ist, mit deren Hilfe er König Laertes aufstachelt. An die Stelle der körperlosen Erscheinung des Geistes zu Beginn des Dramas tritt nun der körperliche Leichnam als emble-

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matisches Zeichen einer Wirklichkeit, gegen die der versunkene Melancholiker Hamlet machtlos zu sein scheint. Der Schluss des Dramas aber zeigt einen anderen Hamlet. Stand der Hamlet der ersten vier Akte auf eine gewisse Weise neben sich, so steht der Hamlet des fünften Aktes über allem, sich selbst eingeschlossen. Das berühmte »the readiness is all (V,2, 218)« bezieht sich nicht allein auf die Verwirklichung der Rache, sondern auch auf Hamlets eigene Todesbereitschaft. Nicht umsonst beginnt der fünfte Akt auf dem Friedhof als dem allegorischen Ort des Todes par excellence. Hamlets Gelassenheit, seine innere Bereitschaft, die Rache zu vollenden, und zugleich die, zu sterben, zeigt sich im Gespräch mit dem Totengräber und der Meditation über Yoricks Schädel. Die Erinnerung an die Kindheit, die mit Yoricks Schädel verbunden ist – »And smelt so? pah!« (V,1, 194), das alles weist darauf hin, dass Hamlet schon zu Beginn des fünften Aktes Abschied genommen hat. Als der König und Gefolge zur Beerdigung Ophelias auftreten, springt er daher auch gleich ins Grab, um seine Ansprüche über die des Laertes zu stellen: An die Stelle der instrumentalisierten Trauer, die der Bruder zeigt, ist Hamlets Trauer echt und alle Spuren der Melancholie gewichen. Gerade weil er dem Leben abgeschworen hat, erweckt der Hamlet des fünften Aktes den Eindruck, als hätte er jede Angst vor dem Tod verloren. Die Konkurrenz mit Laertes, die sich in der Trauer um Ophelia zeigt, findet ihren dramatischen Höhepunkt in der vom König inszenierten Wette um den Kampf zwischen den beiden. Damit scheint Hamlet endgültig in die Falle des Königs zu laufen, aber am Ende sind alle tot: die Königin, der König, Laertes und schließlich Hamlet selbst. Übrig bleibt allein Horatio, der nun die Trauer um den Prinz auf sich nehmen kann, und Fortinbras, der als Alter ego Hamlets fortan dessen Rolle als zukünftiger König von Dänemark spielt. Der Schluss des Dramas gibt also jedem das, was er verdient: Die Rache, die der Geist des toten Vaters gefordert hat, erfüllt sich endlich, die Königin stirbt an dem Trank, den der König Hamlet bereitet hat, aber auch der König selbst muss den bittren Schluck nehmen, nachdem ihn der selbst tot geweihte Hamlet durchbohrt hat, als müsse er zwei Tode sterben. Laertes und Hamlet sterben am gleichen Gift, und so fällt die Erfüllung der Rache mit Hamlets eigenem Tod zusammen. Aus dem Spiel wird ernst, als Hamlet begreift, dass er vergiftet ist, die Rache vollzieht er, als er selbst schon mit einem Fuße im Grabe steht. Vor diesem Hintergrund stellt sich noch einmal die Eingangsfrage nach der Vergleichbarkeit von Hamlet und Ödipus, die Freud behauptet, wenn er sich auf den unbewussten Wunsch Hamlets beruft, den Vater zu töten und mit der Mutter zu schlafen. Freud schließt sich trotz einiger

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Kritiken im Detail im weitesten Sinne an das Hamletbild Goethes als des Zauderers und Zögerers: »Hier wird ein Eichbaum in ein köstliches Gefäß gepflanzt, das nur liebliche Blumen in seinen Schoß hätte aufnehmen sollen; die Wurzeln dehnen sich aus, das Gefäß wird vernichtet« 22 , hatte Wilhelm Meister vorgebracht, um die Moralität des Helden zu unterstreichen. »Ein schönes, reines, edles, höchst moralisches Wesen, ohne die sinnliche Stärke, die den Helden macht, geht unter einer Last zugrunde, die es weder tragen noch abwerfen kann; jede Pflicht ist ihm heilig, diese zu schwer.« 23 Hamlet als Hans der Träumer: Es gehört einiges dazu, aus dem verspielten Prinzen, der Polonius tötet, Rosenkrantz und Gündestern in den Tod schickt, nicht unschuldig an Ophelias Wahnsinn und Selbstmord ist und der schließlich Laertes und den König ersticht, ein schönes, reines, edles und höchst moralisches Wesen zu machen. An die Stelle des Vergleiches mit Ödipus und der daraus resultierenden Interpretation seiner Handlungsschwäche treten vielmehr einige Differenzen zwischen Ödipus und Hamlet hervor. Sie betreffen nicht nur offenkundige Unterschiede auf der Handlungsebene: Ödipus hat den eigenen Vater getötet und mit der Mutter vier Kinder gezeugt, Hamlet nichts davon: Er ist nicht der Mörder, sondern der Rächer des Vaters. Gewichtiger sind aber die Differenzen, die den Affekthaushalt der Figuren betreffen: Ödipus erscheint bei Sophokles als Hitzkopf, als jemand, der im Zorn leicht entbrennt, Hamlet bei Shakespeare dagegen als schwermütiger Melancholiker: Wo Ödipus heiß ist, da ist Hamlet wie alle Melancholiker kalt: Im Unterschied zur warmen und trockenen gelben Galle des Cholerikers, als der Ödipus sich gibt, ist die schwarze Galle des Melancholikers kalt und trocken. 24 Kälte ist das Grundelement von Hamlets Charakter. Das zeigt die überlegte Reaktion des Helden zum Schluss des Stücks, die Reflexion, der er sich hingibt, um die Fehler zu vermeiden, die Ödipus im Affekt begeht. Wo Ödipus im Zorn entbrennt, da handelt Hamlet aus dem Wissen heraus: »the thing that distinguishes Hamlet from Oedipus ist that Hamlet knows« 25 , notiert Jacques Lacan in diesem Zusammenhang. Es ist daher sicherlich ungenügend, die griechische Tragödie und das moderne Drama Shakespeares über die Begriffe Handeln und Wissen gegenüberzustellen, so als ginge es im Ödipus um »das Scheitern unserer 22 Johann Wolfgang Goethe: Wilhelm Meister. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 7, München 1988, S. 246. 23 Ebd., S. 246. 24 Vgl. Raymond Klibansky/Erwin Panofsky/Fritz Saxl: Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst, Frankfurt/Main 1992, S. 48. 25 J. Lacan: Desire and Interpretation of Desire in Hamlet, S. 19 88

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praktischen Fähigkeiten« und beim Hamlet um »das Scheitern unserer epistemischen Fähigkeiten, unseres Vermögens zu erkennen« 26 . Offenkundig sind in beiden Tragödien beide Probleme, das des Wissens und das des Handelns, miteinander vermittelt: Im Ödipus verknüpft sich falsches, von den Affekten geleitetes Tun mit Unwissen, im Hamlet verknüpft sich Wissen mit der Frage nach den Handlungsmöglichkeiten des Helden. Wenn Hamlet aber weiß, dass der König seinen Vater erschlagen hat, dann ruht sein Problem kaum in der Identifikation mit dem neuen König, der seinen Traum erfüllt hat. Die Doppeldeutigkeit von Hamlets Sprache und die Ironie, mit der er sich selbst und seiner sozialen Umwelt begegnet, verrät vielmehr, dass es sich beim Hamlet weniger um eine Tragödie ödipaler Wünsche handelt denn um ein Trauerspiel narzisstischer Spiegelungen. Schon Hamlets ostentative Melancholie verweist ja in der Begrifflichkeit der Psychoanalyse auf ein narzisstisches Problem: Die Melancholie ist nach Freud im Unterschied zur Trauer nicht welt-, sondern ichbezogen und daher eine Mischung aus Trauer und Narzissmus. Die Trauer, die Hamlet zeigt, gilt dem Idealbild des Vaters und dem der Mutter, die beide auf unterschiedliche Weise zerstört sind: durch den Tod des Vaters und die vorschnelle Heirat der Mutter. Melancholisch wird seine Trauer, da er nicht nur an der Vortrefflichkeit der Eltern, sondern auch an der eigenen zu zweifeln beginnt. Unliebsam ist das Erscheinen des Geistes für Hamlet daher, weil er ihn auffordert, sich mit den anderen statt mit sich selbst auseinanderzusetzen. Die Hochzeit der Mutter bedeutet weniger eine Verletzung des ödipalen Wunsches als vielmehr eine narzisstische Kränkung des Sohnes. »Es war Freuds geniale Intuition und schon Goethes klarer Blick, die Genese moderner Subjektivität als Hypothek einer älteren Konstellation zu verstehen, in der die Schmach vom Prinzen zum Muster narzisstischer Kränkung und Kastrationsangst, und die Auflösung der feudalen familia mit ihrem Prinzip der Delegation […] zum Repertoire ödipaler Beziehungsdynamiken geworden sind« 27 , notiert Anselm Haverkamp in diesem Zusammenhang. Die narzisstische Kränkung resultiert aber nicht aus dem Gefühl der Zurücksetzung gegenüber dem Onkel, der den erträumten Platz im Bett der Mutter ergattert, sondern aus dem Zusammenbruch des familiären Idealbildes, an dem Hamlet festhalten will: Als Sohn vortrefflicher Eltern sieht er sich und kann sich nicht mehr so sehen, seit die Vortrefflichkeit derart in Frage gestellt worden ist. Hamlet ist kein Ödipus, sondern ein Narziss. Damit ist zwar ein Einwand gegen Freuds Interpretation der Tragödie formuliert, aber kein Einwand gegen die Psychoanalyse als solcher.

26 C. Menke: Die Gegenwart der Tragödie, S. 163. 27 A. Haverkamp: Hamlet – Hypothek der Macht, S. 48f. 89

DAS SCHIBBOLETH DER PSYCHOANALYSE

Vielmehr zeigt sich schon in dem frühen Vergleich von Ödipus und Hamlet in den Briefen an Fließ und der Traumdeutung, dass Freud neben dem Ödipuskomplex mit dem Thema Narzissmus über eine zweite Möglichkeit verfügt, Zugang zu dem von ihm gesuchten Reich des Unbewussten zu finden. 28 Die Abwendung vom Ödipuskomplex bedeutet daher keine grundsätzliche Abwendung von der Psychoanalyse, sondern eine Hinwendung zu den Themen des Narzissmus, der Trauer und der Melancholie, die Freud vor allem in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts beschäftigen. An ihrem Ende steht die Auseinandersetzung mit den beiden großen Themen, die schon Hamlets Reflexionen begleiten, dem Ich und seiner Verfallenheit an den Tod. Vor diesem Hintergrund wird es im Folgenden darum gehen, die Analyse auszuweiten durch den Blick auf die Einführung des Narzissmus, die Entgegenstellung von Trauer und Melancholie, die zweite Topik um die Begriffe des Ich, des Es und des Über-Ich sowie die Einführung des Dualismus von Eros und Thanatos.

28 Eine ähnliche Ausgangslage vertritt John Russel, allerdings um den Preis, Freuds Projekt zugunsten von Mahler und Kohut aufgeben zu müssen: »It is true that the classical Freudian and Shakespearean project diverge. But this does not necessarily mean that the psychoanalytical and the Shakespearean projects do, since the psychoanalytical project can no longer be equated with the classical Freudian.« John Russel: Hamlet and Narcissus, Delaware 1995, S. 15. 90

VI. A N D E R Q U E L L E D E S I C H . ZUR EINFÜHRUNG DES NARZISSMUS Seit ihren Anfängen hatte die psychoanalytische Bewegung mit starken Widerständen zu kämpfen, die aus den unterschiedlichsten Bereichen kamen. Nachdem sich die psychoanalytische Bewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegen alle Widerstände erfolgreich etabliert hatte, musste sie jedoch mit neuen Auseinandersetzungen rechnen. Es zeigte sich, »daß die ernsthafteste Bedrohung der Psychoanalyse nicht mehr ausschließlich von außen, sondern von innen kam.« 1 Samuel Weber spielt auf den Konflikt zwischen Freud auf der einen Seite und Adler und Jung auf der anderen Seite an: 1911 löst sich Adler von Freud, 1913 erfolgt der Bruch mit dem designierten Nachfolger Jung. Was für Freud auf dem Spiel steht, war die Zukunft der Psychoanalyse. Ihr Begründer findet in diesem Zusammenhang deutliche Worte: Denn die Psychoanalyse ist meine Schöpfung, ich war durch zehn Jahre der einzige, der sich mit ihr beschäftigte, und alles Missvergnügen, welches die neue Erscheinung bei den Zeitgenossen hervorrief, hat sich als Kritik auf mein Haupt entladen. Ich finde mich berechtigt, den Standpunkt zu vertreten, daß auch heute noch, wo ich längst nicht mehr der einzige Psychoanalytiker bin, keiner besser als ich wissen kann, was die Psychoanalyse ist, wodurch sie sich von anderen Weisen, das Seelenleben zu erforschen, unterscheidet, und was mit ihrem Namen belegt werden soll oder besser anders zu benennen ist. (GS X, 44)

Ich bin die Psychoanalyse, niemand anders sonst: So einfach lässt sich Freuds Darstellung auf den Punkt bringen. Unabhängig von aller berechtigten Kritik an seinen Kontrahenten wird deutlich, dass Freuds Selbstdarstellung narzisstische Züge trägt und sein Narzissmus als unmittelbare Reaktion auf die Abwehr von Adler und Jung zu verstehen ist. Peter Gay nennt Freuds Narzissmus daher geradezu eine »Waffe im Kreuzzug ge-

1

S. Weber: Freud-Legende, S. 22. 91

DAS SCHIBBOLETH DER PSYCHOANALYSE

gen seine Opponenten« 2 , insbesondere im Rahmen der wissenschaftlichen Abrechung mit Adler, die Freud sichtlich leichter fiel als die mit Jung. Freuds Abwehrpolitik geht mit einer scharfen Trennung einher: Auf der einen Seite steht er, der über die Psychoanalyse am besten Bescheid weiß, auf der anderen Seite die »anderen Weisen, das Seelenleben zu erforschen«, die nicht mehr den Anspruch vertreten dürfen, den Namen Psychoanalyse zu tragen. Freuds Polemik dreht sich um den Namen der Psychoanalyse und den ihres Erfinders: Für Freud ist es ein Kampf um bisher errungene wissenschaftliche wie um die eigenen Identität. Wenn Freud in diesem Rahmen mit einer narzisstischen Abwehrbewegung reagiert, dann erwachsen daraus wiederum theoretische Konsequenzen von enormer Tragweite. Sie führen zu einer theoretischen Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Narzissmus, die zugleich eine Revision der Psychoanalyse impliziert. »Man kann die Narzissmus-Arbeit als einen Wendepunkt im Prozeß der Theoriebildung Freuds und insofern als wegweisend für spätere Entwicklungen betrachten.« 3 Schon der Weg von den Studien zur Hysterie zur Traumdeutung bestand im Wesentlichen in der Ablösung einer Theorie, die sich mit Fragen der Affekte auseinandersetzt, durch eine Theorie des Wunsches. Die entscheidende Zäsur, die Freud wie viele Schriftsteller der Zeit erneut zu konzeptuellen Veränderungen zwingt, ist neben dem Streit um die Zukunft der Psychoanalyse das Erlebnis des Ersten Weltkrieges. Im Mittelpunkt der Zäsur, die der Erste Weltkrieg auch für die Psychoanalyse bedeutete, steht eine Instanz, die bisher keine Rolle spielte, im Traum auch keine Rolle spielen kann, dafür aber in vielerlei Hinsicht mit dem Problem des Narzissmus verbunden ist: das Ich. Das hat schon Peter Gay betont: »Vielleicht am aufregendsten war der Zugang, den Freuds Revisionen zu einer Region der Psyche boten, die das psychologische Denken bis dahin grob vernachlässigt, ungenau benannt und kaum verstanden hatte – das Ich.« 4 Das Interesse am Narzissmus, das Freud in den zehner Jahren des 20. Jahrhunderts leitet, geht mit der Einführung einer neuen Ichtheorie einher, die zu einer terminologischen Neufassung der Psychoanalyse führen wird: An die Stelle der Begriffe des Unbewussten, Vorbewussten und des Bewussten treten nun die Instanzen des Ich, Es und Über-Ich. 5 Nicht nur die Veränderung der Terminologie, mit der 2 3 4 5

Peter Gay: Freud. Eine Biographie für unsere Zeit, Frankfurt/Main 1989, S. 383. H.-M. Lohmann/J. Pfeiffer (Hg.), Freud-Handbuch, S. 157. P. Gay: Freud, S. 448. »Wir können hinzufügen, dass Freud nicht nur die Triebtheorie verändert, sondern auch eine neue Konzeption des psychischen Apparats ahnen lässt«, kommentiert Horatio Echegoyen: »Zur Einführung des Narzissmus: Text 92

AN DER QUELLE DES ICH. ZUR EINFÜHRUNG DES NARZISSMUS

Freuds Schibboleth des Unbewussten verloren zu gehen droht, legt aber kritische Fragen nahe. Das Problem des Narzissmus führt bedeutende Änderungen in Freuds Lehre ein, die nicht einfach übergangen werden können. Wie Gay feststellt, ist die Auffassung des Narzissmus bei Freud »subversiv für seine eigenen lange vertretenen Ansichten.« 6 Der Grund der Subversion liegt in einer Revision der Trieblehre, die die bisherigen Arbeiten Freuds kennzeichnete. Wenn der Narzissmus eine erotische Besetzung des Ich anzeigt, dann erscheint die Folgerung unausweichlich, dass die Ichtriebe sexueller Natur sind. Die Konsequenzen hat Gay unterstrichen: »Wenn dieser Schluß stichhaltig ist, müssen sich daraus radikale Folgen für die psychoanalytische Theorie ergeben, denn er widerspricht eindeutig Freuds früher Formulierung, wonach die Ichtriebe nicht sexueller Natur sind.« 7 Was mit dem Narzissmus in Frage steht, ist die Trennung von Ichtrieben und Sexualtrieben, die Freud gerade auch gegen seinen größten Widersacher Jung vorgebracht hatte. Der Reduktion der Psychoanalyse auf den Eros, die er Jung vorhält, droht Freud nun selbst anheimzufallen. Der Ausweg aus diesem Dilemma zwingt ihn zu immer weitergehenden Spekulationen, die sich schließlich in der Trennung zwischen einem Diesseits und einem Jenseits des Lustprinzips erfüllen. Die theoretische Auseinandersetzung, die zur zweiten Revision innerhalb der psychoanalytischen Lehre führt, hat ihren Ausgangspunkt in der 1914, dem Jahr des Ausbruches des Ersten Weltkrieges, erschienenen Schrift Zur Einführung des Narzißmus. Eingeführt hatte Freud den Begriff des Narzissmus bereits in den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, wo er auf den Unterschied von Ichlibido und Objektlibido eingeht. »Die Ichlibido heißen wir im Gegensatz zur Objektlibido auch narzißtische Libido.« (GS V, 119) Die Ichlibido nennt zunächst in einer ganz allgemeinen Weise eine Form des erotischen Selbstbezugs, aus der heraus sich der Bezug zu anderen Objekten erst ableitet: »Die narzißtische oder Ichlibido erscheint uns als das große Reservoir, aus welchem die Objektbesetzungen ausgeschickt und in welches sie wieder einbezogen werden, die narzißtische Libidobesetzung des Ichs als der in der ersten Kindheit realisierte Urzustand, welcher durch die späteren Aussendung der Libido nur verdeckt wird, im Grunde hinter denselben erhalten geblieben ist.« (GS V, 119) Diesen Urzustand des Narzissmus bezeichnet Freud als primären Narzissmus und verbindet ihn mit der These, dass alle anderen Formen der Liebe immer einen narzisstischen Bezug verdecken, niemals aber aufheben können. Im Hintergrund der Liebe lauert die Falle

6 7

und Kontext«, in: Joseph Sandler (Hg.), Über Freuds ›Zur Einführung des Narzissmus‹, Stuttgart/Bad-Cannstatt 2000, S. 83-107, hier S. 84. P. Gay: Freud, S. 383 P. Gay: Freud, S. 386. 93

DAS SCHIBBOLETH DER PSYCHOANALYSE

des Narzissmus, wie die Folie von Freuds Analyse, der Fall Dora, belegt. 8 Freuds frühe Überlegungen zum Narzissmus beschränken sich jedoch nicht auf das Feld der Hysterie. Im Rahmen der Auseinandersetzung mit Leonardo da Vinci weitet Freud sie auf das Feld der Kunst aus. Leonardo bezeichnet Freud als Narziss im Ovidschen Sinne: »Wir sagen, er findet seine Liebesobjekte auf dem Wege des Narzißmus, da die griechische Sage einen Jüngling Narzissus nennt, dem nichts so wohl gefiel wie das eigene Spiegelbild, und der in die schöne Blume dieses Namens verwandelt wurde.« (GS VIII, 170) Den Grund für die narzisstische Besetzung der Liebe bei Leonardo erblickt Freud im frühen Tod der Mutter und den mit der idealisierten Mutterfigur verbundenen Bildern. Erst im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung der Homosexualität Leonardos greift Freud auf die mythische Überlieferung der Narziss-Figur zurück, um Narziss als Spiegelung des Selbst zu verstehen und zweitens Ovids Thema der Verwandlung anhand des Blumenmotivs aufzunehmen. Wie schon im Falle des Ödipus und des Hamlet, so geht es Freud keineswegs um eine textnahe Interpretation des Narziss-Mythos, sondern nur um eine punktuelle Aneignung Ovids, die der Bestätigung der eigenen Thesen dienen soll. Die Metamorphosen führen Narziss als den Sohn der Wassernymphe Liriope und des Flusses Cephisus ein, dessen Zeugung auf eine Vergewaltigung zurückgeht: Die Nymphe verfängt sich im Fluss, der mit ihr, aber gegen ihren Willen Narzissos zeugt. »Ein Kind, das man damals schon hätte lieben können, gebar aus schwangerem Schoß die herrliche Nymphe. Und sie nennt es Narcissus.« 9 Von Beginn an ist außerordentliche Schönheit das Attribut des Kindes, eine Schönheit, die in besonderer Weise dazu befähigt ist, Liebe zu erregen. Das Schicksal des Narziss verbindet Ovid mit einem Orakelspruch: Ihm sei ein langes Leben beschieden, wenn er sich nicht selbst erschaut. Wie in den meisten Fällen ist der Orakelspruch mehrdeutig: Der Verstoß gegen das Gebot der Selbsterkenntnis bezieht sich zum einen auf die Frage nach der geistigen Identität, zum anderen auf die Vermeidung der verhängnisvollen Spiegelung des Äußeren, die Narziss in den Untergang führen wird. In dem Maße, in dem das Verbot zugleich der Grund des Begehrens ist, deutet sich der verhängnisvolle Verlauf der Geschichte des Narziss im rätselhaften Orakelspruch schon an. 8

9

Freud, GS V, 179f. Zu Dora vgl. Neil Hertz: »Doras Geheimnisse und Freuds Techniken«, in: Das Ende des Weges, Frankfurt/Main 2001, S. 157181, hier S. 171. Publius Ovidius Naso: Metamorphosen, München/Zürich 1952, III, 344436. Im Folgenden Zitate im Text in Klammern. 94

AN DER QUELLE DES ICH. ZUR EINFÜHRUNG DES NARZISSMUS

Ausgangspunkt der Geschichte ist die Schönheit und der damit verbundene Stolz des Narziss: »Jünglinge haben ihn viele begehrt und viele der Mädchen. Doch solch harter Stolz war gesellt seiner lieblichen Schönheit; Keiner der Jünglinge hat ihn gerührt und keines der Mädchen.« (III, 353-355) In Narziss verbinden sich zwei gegenläufige Momente: Die Fähigkeit, in den anderen Liebe zu erzeugen, und die, selbst keine zu empfinden. Das ist der Grund für die Grausamkeit, die Narziss als Spiegelbild seiner Zeugung durch eine Vergewaltigung zukommt: Gewalt tut Narziss den anderen an, indem er in ihnen ein Begehren weckt, das zu stillen er nicht bereit ist. Als monströse Mischung von Schönheit und Stolz erwartet ihn aufgrund der Missachtung der Liebesgöttin Bestrafung. Eingeleitet wird der Untergang des Narziss durch die Begegnung mit Echo. Echos Geschichte dreht sich um ein Zuviel und ein Zuwenig an Sprache: Als Folge ihrer Geschwätzigkeit, die Zeus, der sich mit Nymphen vergnügt, das Nahen der Hera verrät, wird sie von dieser bestraft, indem sie nur noch das Ende der Rede verdoppeln kann. Auf die Geschwätzigkeit, das Zuviel der Rede, folgt das Echo als Zuwenig der Rede. Als Echo Narziss zum ersten Mal erblickt, geht es ihr wie allen anderen: Sie verliebt sich in den schönen, aber abweisenden Jüngling. Echos Liebe zu Narziss hat allerdings mit einem Problem zu kämpfen, das aller Liebesrede zu eigen ist: der Anrede. Sie kann mit Narziss nicht sprechen, kann schlechterdings nicht den Anfang des Sprechens machen. Ihr Handicap verwandelt sich jedoch unversehens in einen Vorteil. Als Narziss allein ist und ruft, antwortet Echo ihm umgehend: »Ist jemand zur Stelle? – Zur Stelle! Erwiderte Echo.« (III, 379-380) Echos Wirkung auf Narziss, der sich bisher von nichts und niemandem beeindrucken ließ, ist enorm: Er staunt, schaut, sieht nichts, und ruft wieder. Mit ihrem »Zur Stelle« markiert Echo präzise den Ort des Begehrens als einen unerfüllbaren Nullpunkt: Der Kontakt zu Echo ist ganz und gar an die Stimme gebunden, kein Blick trügt das Bild. Auf seine dringlichen Rufe, Echo solle sich doch zeigen, bekommt er keine Antwort als die Wiederholung der eigenen Worte. Bald darauf erscheint ihm Echo: Nochmals ruft er, getäuscht von der Wechselstimme: ›So laßt uns hier vereinen!‹ – und Echo, nie lieber bereit, einem Klange Antwort zu geben als dem, sie ruft zurück: ›Uns vereinen!‹ tut ihren Worten gemäß, sie tritt heraus aus dem Walde, eilt, um den Hals, den ersehnten, die Arme zu schlingen. Doch jener flieht und ruft im Fliehn: ›Nimm weg von mir deine Hände! Eher möchte ich sterben, als dass ich würde dein Eigen!‹ Da gab sie nichts zurück als: ›Daß ich würde dein Eigen!‹ (III, 385-392)

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DAS SCHIBBOLETH DER PSYCHOANALYSE

Die Begegnung von Narziss und Echo ist die Geschichte einer wechselseitigen Enttäuschung: Die Nymphe ist enttäuscht über die grausame Verschmähung durch Narziss, Narziss ist enttäuscht durch das Erscheinen der Nymphe. Der Text ist strukturiert durch das wechselseitig aufeinander verweisende Spiel von Sprache und Blick. Im Echo verdoppelt sich die Stimme des Narziss und zeigt damit die Selbstbespiegelung im Medium der Sprache, die im Medium des Bildes dann sein Ende besiegeln wird. Gerade dass Narziss Echo nicht sieht, macht ihren Reiz und letztlich die Bedingung der Möglichkeit seines Begehrens aus. Lacans Formel, »que l’amour, c’est de donner ce qu’on’n a pas« 10 , erfüllt sich in der Figur Echos in vollem Maße: Liebe schenkt sie Narziss durch etwas, das nicht sie, sondern er selbst besitzt. Als verdoppelndes Substitut erfüllt und verfehlt Echo ihre Rolle als Liebende in einem: Was Narziss vernimmt, ist einzig die eigene Rede in der Wiederholung durch den Mund eines anderen. In gewisser Weise verkörpert Echo damit die ideale Partnerin des Narziss, dem ja vorbestimmt ist, nur sich selbst zu lieben. Die Liebe, die Echo ihm bieten kann, wird im Text jedoch ausdrücklich als Täuschung ausgegeben, als eine Form der Täuschung, die darauf beruht, dass sie Narziss nur geben kann, was sie nicht hat. Die Täuschung besteht also darin, dass Narziss dort, an dieser Stelle, jemand anderen vermutet, wo nur er selbst steht, und die damit einhergehende Enttäuschung besteht in der Realisation des Verlustes, der mit der Leerstelle des Begehrens einhergeht. Den Bruch im Rahmen der sich andeutenden Liebesgeschichte markiert daher das körperliche Erscheinen der Echo als Manifestation einer Existenz, die Narziss nicht selbst ist und die er doch begehrt. Was Narziss wünscht, ist das körperliche Erscheinen der eigenen, in Echo verdoppelten Stimme, er will sich mit sich selbst vereinigen. Was er bekommt, ist den anderen Körper, den er nicht lieben kann, weil er anders ist. Daher flieht er mit den vernichtenden Worten, er wolle eher sterben als lieben. Auch hier entfaltet die Antwort Echos die ganze tragische Ironie, die sich der Geschichte des Narziss einschreibt. Denn ihre Reaktion bedeutet in der Verkürzung des Verbots von Narziss zugleich den Ausdruck ihres mit Narziss unvereinbaren Begehrens: »daß ich würde dein Eigen!« Hinter dem Verbot steht der Wunsch, in diesem Fall zwei Wünsche, die sich wechselseitig ausschließen: Narziss will sich selbst begegnen, in der Verkörperung der eigenen Stimme sich lieben, Echo jedoch will sich mit Narziss vereinigen. In dem Maße, in dem die Verdoppelung der Stimme eine trügerische Form der Liebe zu erwecken vermag, der die körperliche Erscheinung

10 Jacques Lacan: Le Séminaire. Livre VIII. Le transfert, Paris 2001, S. 46. 96

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Echos jedoch widerspricht, ist die unmittelbare Folge der haltlosen Situation die völlige Verzehrung der Echo, deren Körper schließlich ganz verschwindet und die nichts als Stimme bleibt. Die Entkörperlichung der Echo ist zum einen das Ergebnis der Trauer über die enttäuschte Liebe, zum anderen aber die Auflösung des eigenen Körpers, der die Erfüllung der Liebe verhindert hat. Insofern folgt die Entkörperlichung Echos der Logik ihres eigenen zerstörerischen Begehrens. Die subversive Logik des Begehrens, die Echos Entkörperlichung begleitet, gilt aber auch für Narziss: Der Fluch eines verschmähten Liebhabers verurteilt Narziss dazu, dass er nur sich selbst lieben soll. Der Fluch erfüllt sich, als Narziss zu einer Quelle kommt und dort sein eigenes Spiegelbild erblickt: »Rein vom Schlamm ein Quell, mit silberglänzenden Wellen, dem kein Hirte genaht, keine Ziege, wie sie am Berghang weiden, auch sonst kein anderes Vieh, den weder ein Vogel, noch ein Wild getrübt, noch ein Zweig, gefallen vom Baume.« Der Ort ist völlig unberührt, die Quelle nichts als ein ungetrübter, reiner Spiegel, in dem sich Narziss selbst erkennt: Müde vom Eifer der Jagd und der Hitze legte der Knabe Hier sich nieder, vom Anblick des Ortes gelockt und der Quelle. Während den Durst er will löschen, erwuchs ein anderer Durst ihm. Während des Trinkens liebt er, berückt vom Reiz des erschauten Bilds einen leiblosen Wahn, was Welle ist, hält er für Körper, staunt sich selber an; und reglos bleibt mit gebanntem Blick wie ein Standbild er starr, das aus parischem Marmor gehauen. Liegend am Boden schaut er das Sternenpaar, seine Augen, schaut das Haar, das würdig des Bacchus, würdig Apollons, schaut die Wangen, die glatten, den Elfenbeinhals, des Gesichts Anmut, das Rot auf ihm, gepaart mit schneeiger Weiße, und er bewundert alles, worum er selbst zu bewundern. Arglos begehrt er sich selbst, erregt und findet Gefallen, wird verlangend verlangt, entbrennt zugleich und entzündet. Küsse gab er, wie oft! Vergebens der trügenden Quelle, tauchte die Arme, wie oft! Den erschauten Hals zu umschlingen, mitten hinein in die Flut und kann sich in dieser nicht greifen, weiß nicht, was er da schaut, doch was er schaut, daran brennt er. Und der Wahn, der sie täuscht, er reizt seine Augen. (III, 413-431)

Die Szene am Teich ist die unmittelbare Antwort auf die Begegnung mit Echo. Wo dort die Sprache im Mittelpunkt gestanden hat, ist es hier der Blick: Narziss schaut sich selbst an und verfällt sich augenblicklich. Die Ordnung des Blickes, auf der Lacan seinen Begriff des Imaginären aufbaut, wird von Ovid von Beginn an als eine Form der Täuschung ausge-

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geben, der reine Spiegel des Wassers als trügerische Quelle einer selbstbezogenen Liebe. Ovid gibt sich alle Mühe, die Schönheit des Jünglings zu schildern, der im wahrsten Sinne des Wortes sich selbst verfällt. Die Liebe erscheint zum einen als Durst, ein »anderer Durst« als der körperliche, zugleich jedoch als das Brennen der Liebe. Die subversive Struktur des Begehrens, die die narzisstische Liebe kennzeichnet, übersetzt Ovid in paradoxe Bilder, die Wasser und Feuer mischen: Narziss erregt und findet Gefallen, »verlangend verlangt«, er entbrennt und entzündet zugleich. Narziss ist die Quelle und der Gegenstand, der Anfang und das Ende der Liebe, eine Konstellation, die nicht zur Erfüllung, sondern zum unaufhebbaren Aufschub des Begehrens führt. Im reinen Selbstbezug seiner Liebe ist zum einen die Täuschung, zum anderen die Unstillbarkeit des Begehrens angelegt: In dem Maße, in dem er selbst die Quelle der Liebe ist, wird er sich unerschöpflich. Damit ist die Aporie formuliert, die sein Ende vorherbestimmt. An ihn geht die unmissverständliche Aufforderung, aus seinem Wahn zu erwachen und einen Schnitt zu machen: »Kehr dich ab«, heißt es: »scheiden wird es mit dir, wenn du zu scheiden vermöchtest!« (III, 433-436) Narziss soll Abschied von sich nehmen. Das aber kann er nicht. Sein Untergang ist damit vorherbestimmt: »Nicht die Sorge um Nahrung und nicht sie Sorge um Ruhe kann ihn ziehen von dort. Gestreckt auf dem schattigen Rasen schaut er mit unersättlichem Blick die Lügengestalt und geht an den eigenen Augen zugrund.« (III, 437-440) Ovid stellt die Liebe des Narziss als Selbstbetrug dar, als den Versuch der Begegnung mit dem eigenen Selbst, der immer wieder scheitern muss: »streck ich die Arme nach dir, so streckst du entgegen die deinen, lächle ich, lächelst du mit« (III, 458-459). Die Vereinigung, die Narziss erhofft, setzt die Differenz, die ihn von sich selbst trennt, als unaufhebbar voraus. Das erkennt Narziss, ohne sich doch helfen zu können: Der da bin ich! Ich erkenne! Mein eigenes Bild ist’s! In Liebe Brenn’ ich zu mir, errege und leide die Flammen! Was tu ich? Laß ich mich bitten? Bitt’ ich? Was sollte ich dann auch erbitten? Was ich begehre ist an mir! Es lässt die Fülle mich darben. Könnt’ ich doch scheiden von meinem Leibe! (III, 463-466)

Mit der Selbsterkenntnis des Narziss ist das Moment genannt, das nach dem Orakel zu seinem Untergang führen wird und das zugleich die Struktur des Begehrens bezeichnet, das die Psychoanalyse als narzisstisch bezeichnet: ein unendliches Spiel von Leere und Fülle, eine trügerische Einheit, hinter der sich die Leere verkörpert, die das Spiegelbild selbst markiert. 98

AN DER QUELLE DES ICH. ZUR EINFÜHRUNG DES NARZISSMUS

Die unmittelbare Reaktion, die der enttäuschte Liebhaber aus seinem Spiegelbild zieht, ist verheerend: Seine Tränen trüben das Wasser, verzerren den Spiegel und deuten so noch einmal die geforderte Möglichkeit des trauernden Abschiedes an. Aber Narziss trauert nicht nur, er verzweifelt: »Und im Schmerze zerreißt sein Gewand er vom oberen Saume, trifft die entblößte Brust mit den Schlägen der marmornen Hände.« (III, 480-481) Die Folge seiner melancholischen Verzweiflung ist eine grausame Selbstverstümmelung, die sich in den Tränen und dem Blut anzeigt, die ins Wasser tropfen, bis er zerschmilzt und sich in eine rot-weiße Blume, die Narzisse, verwandelt, begleitet von Echo, die sich in der Trauer doch mit Narziss vereint und sein »Weh« wiederholt. Am Ende des Mythos steht die doppelte Entkörperlichung von Echo und Narziss als Ausdruck der grundlegenden Paradoxie narzisstischer Liebe. Ovids Mythos von Narziss und Echo ist in vielerlei Hinsicht aufschlussreich für die psychoanalytische Auffassung der Liebe, und insbesondere Lacan konnte sich mit seiner grundlegenden Unterscheidung zwischen dem Imaginären und dem Symbolischen auf den Narzissmythos beziehen. Freuds Adaptation Ovids in Zur Einführung des Narzißmus ist dagegen zunächst eher technischer Natur. Der Begriff des Narzissmus besteht für ihn darin, dass ein »Individuum den eigenen Leib in ähnlicher Weise behandelt wie sonst den eines Sexualobjekts« (GS X, 138). Zugleich äußert er die Vermutung, »daß eine als Narzißmus zu bezeichnende Unterbringung der Libido in viel weiterem Umfang in Betracht kommen und eine Stelle in der regulären Sexualentwicklung des Menschen beanspruchen könne.« (GS X, 138) Wie Freud im Blick auf den »Größenwahn und die Abwendung ihres Interesses von der Außenwelt (Personen und Dingen)« (GS X, 139) notiert, ist der Narzissmus mit extremen Formen des Realitätsverlusts verbunden, mit einer trügerischen Erhöhung des Ichs und der damit verbundenen Abwertung alles dessen, was außerhalb des Ich liegt. Freud erklärt diese Auffälligkeiten mit seinem Begriff der Introversion, demzufolge die Trauer den geforderten Verzicht auf geliebte Personen oder Dinge nicht vollziehen kann, sondern melancholisch an einem Phantasma festhält. 11 Hamlets Geist etwa erscheint in dieser Perspektive als phantasmatischer Ausdruck der Weigerung des Sohnes, den Tod des Vaters anzuerkennen. Der Grund dafür liegt in der Selbstbezogenheit, die den Narzissmus charakterisiert. »Die der Außenwelt entzogene Libido ist dem Ich zugeführt worden, so daß ein Verhalten entstand, welches wir Narzißmus heißen können.« (GS X, 140)

11 Vgl. Nicolas Abraham/Maria Torok: »Deuil ou Mélancolie, IntrojecterIncorporer«, in: L’écorce et le noyau, Paris 1987, S. 259-275. 99

DAS SCHIBBOLETH DER PSYCHOANALYSE

Vor diesem Hintergrund gelangt Freud zu der Unterscheidung von primärem und sekundärem Narzissmus: »Somit werden wir dazu geführt, den Narzißmus, der durch Einbeziehung der Objektbeziehungen entsteht, als einen sekundären aufzufassen, welcher sich über einen primären, durch mannigfache Einflüsse verdunkelten, aufbaut.« (GS X, 140) Sekundär nennt Freud die Form des Narzissmus, die den Verlust einer Objektbeziehung voraussetzt und darauf mit Zuführung der Libido auf das eigene Ich reagiert. Primär nennt Freud dagegen die Form des Narzissmus, die allen Objektbeziehungen vorgängig ist. Gerade daraus aber erwachsen Schwierigkeiten, die die Unterscheidung von Narzissmus und Autoerotismus betreffen. Freuds Antwort auf diese Schwierigkeit betrifft zum einen die Frage nach der Genese des Ich. Er vertritt die These, »daß eine dem Ich vergleichbare Einheit nicht von Anfang an im Individuum vorhanden ist; das Ich muß entwickelt werden« (GS X, 142). Noch ein zweites Problem aber stellt sich ihm: Wenn das Ich der erste Gegenstand der Liebe ist, warum sind dann überhaupt Objektbesetzungen nötig? Es wäre ja viel leichter, wenn die Libido einfach beim Ich bliebe. Was damit in Frage steht, ist die Unterscheidung von Sexualtrieben und Ichtrieben, die die frühe Theorie Freuds kennzeichnete. Dass sich an dieser Stelle ein Problem verbirgt, das noch der Lösung harrt, ist in Freuds eigenen Überlegungen deutlich spürbar: »Die Aufforderung, die zweite Frage in entschiedener Weise zu beantworten, muß bei jedem Psychoanalytiker ein merkliches Unbehagen erwecken.« (GS X, 142) Das Unbehagen, das Freud äußert, betrifft die unmittelbare Konsequenz seines Narzissmusbegriffes, die Aufhebung des Unterschieds von Ichtrieben und Sexualtrieben. Vor diesem Hintergrund äußert sich Freud zunächst äußerst vage: »Es mag dann sein, daß die Sexualenergie, die Libido – im tiefsten Grund und in letzter Ferne – nur ein Differenzierungsprodukt der sonst in der Psyche wirkenden Energie ist.« (GS X, 144) Die Frage, die sich Freud im Kontext des Narzissmus stellt, ist also die, ob es so etwas wie einen geheimen Triebgrund gibt – »im tiefsten Grund und in letzter Ferne« –, aus dem heraus sich die Berechtigung ergibt, die Libido auf ein einheitliches Prinzip zurück zu beziehen. Die Antwort, die Freud auf dieses Problem geben wird, liegt im Dualismus von Eros und Thanatos in Jenseits des Lustprinzips, in der Erkenntnis, der Tod markiere den Grund, aus dem alles Leben erst erwachse. Angesichts der enormen Probleme, die aus der Auseinandersetzung mit dem Narzissmus erwachsen, kann Freud also zunächst nicht viel mehr leisten als eine grobe Richtungsangabe im Blick auf zukünftige Arbeiten vorzunehmen: Ein direktes Studium des Narzißmus scheint mir durch besondere Schwierigkeiten verwehrt zu sein. Der Hauptzugang dazu wird wohl die Analyse der Paraphrenien bleiben. Wie die Übertragungsneurosen uns die Verfolgung der 100

AN DER QUELLE DES ICH. ZUR EINFÜHRUNG DES NARZISSMUS

libidinösen Triebregungen ermöglicht haben, so werden uns die Dementia praecox und Paranoia die Einsicht in die Ichpsychologie gestatten. (GS X, 148)

Wie Freud voraussetzt, ist der Narzissmus nicht direkt zugänglich, sondern nur über Umwege. Er sucht daher zunächst den ihm bekannten Weg zu gehen, der über organische Krankheiten zur Hypochondrie und zum Liebesleben der Geschlechter führt. Insbesondere für die Auffassung des Liebeslebens zieht Freud Konsequenzen, die zu Ovid zurückführen. Seiner Meinung nach ist die narzisstische Objektwahl das stärkste Motiv für die psychoanalytische Analyse des Narzissmus. »Sie suchen offenkundigerweise sich selbst als Liebesobjekt, zeigen den narzißtisch zu nennenden Typus der Objektwahl.« (GS X, 154) Freud unterscheidet vor diesem Hintergrund zwei Typen, die beide auf den primären Narzissmus zurückzuführen sind und aus denen sich die Frage ergibt, ob die Objektwahl im zweiten Schritt wieder narzisstisch ist oder andere Form bevorzugt. Freud unterscheidet zwischen der Anlehnungsliebe, die er als eher männlich, und dem narzisstischen Typ, den er als eher weiblich bezeichnet: Solche Frauen lieben, streng genommen, nur sich selbst mit ähnlicher Intensität, wie der Mann sie liebt. Ihr Bedürfnis geht auch nicht dahin zu lieben, sondern geliebt zu werden, und sie lassen sich den Mann gefallen, welcher diese Bedingung erfüllt. Die Bedeutung dieses Frauentypus für das Liebesleben der Menschen ist sehr hoch einzuschätzen. Solche Frauen üben den größten Reiz auf die Männer aus, nicht nur aus ästhetischen Gründen, weil sie gewöhnlich die schönsten sind, sondern auch infolge interessanter psychologischer Konstellationen. Es erscheint nämlich deutlich erkennbar, daß der Narzißmus einer Person eine große Anziehung auf diejenigen anderen entfaltet, welche sich des vollen Ausmaßes ihres eigenen Narzißmus begeben haben und sich in der Werbung um die Objektliebe befinden (GS X, 155).

Freud beschreibt einen Typus der Liebe, für den er den Begriff des Narzissmus verwendet, weil es um eine Form der Liebe geht, die nur sich selbst als Gegenstand kennt. Damit scheint er zunächst auf Ovids Narziss-Mythos zurückzugehen. Das Schema, das Ovid in den Metamorphosen entfaltet, verkehrt er jedoch zugleich. »Freud bindet das Bild des Narzißten an dasjenige der Frau« 12 , stellt Sander L. Gilman fest. Bei Ovid verkörperte der männliche Narziss die narzisstische Objektwahl, das weibliche Echo hingegen den Anlehnungstyp. In auffälliger Weise sind es wiederum Fragen der Geschlechterordnung, die sich im Zusam-

12 Sander L. Gilman: Freud, Identität und Geschlecht, Frankfurt/Main 1994, S. 81. 101

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menhang mit Freuds Auffassung der Liebe stellen. Freud kehrt Ovids Bild der scheiternden Liebe von Narziss und Echo um, um mit dem männlichen Anlehnungstyp und der narzisstischen Frau ein Gegenbild zu liefern, das sich, in den gleichen Täuschungen befangen wie Narziss und Echo, auf ideale Weise zu ergänzen scheint. Vor diesem Hintergrund liefert die Auseinandersetzung mit dem Narziss-Mythos zunächst den Ansatz zu einer Reorganisation der Freudschen Lehre, an deren Ende eine neue Ich-Theorie stehen wird, die dieses als eine Instanz darstellt, die in einer eigentümlichen Zwischenposition zwischen Es und Über-Ich residiert. Darüber hinaus existiert nach Freud eine besondere psychische Instanz, die über die Sicherung der narzißtischen Befriedigung aus dem Ich-Ideal wacht: »das, was wir Gewissen heißen.« (GS X, 162) Mit den Narzissmus stellt sich nicht nur die Frage nach dem Verhältnis des Ich zu einem geheimen Triebgrund, dem Es, sondern zugleich die nach dem Zusammenhang von Gewissen und ÜberIch. Im unmittelbaren Kontext der Schrift Zur Einführung des Narzißmus entstehen Fragen, die für die Psychoanalyse neu und alt zugleich sind. Die erste besteht in der Art und Weise, wie das narzisstische Selbst auf Verlusterfahrungen reagiert. Dieses Thema, das ihn weiter in die Richtung eines »Jenseits des Lustprinzips« führen wird, thematisiert Freud in seinem Aufsatz Trauer und Melancholie.

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VII. N A R Z I S S U N D N I O B E . TRAUER UND MELANCHOLIE Das Thema des Narzissmus, das ihn in Zur Einführung des Narzißmus beschäftigt, nimmt Freud in seiner Schrift Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse aus dem Jahre 1917 wieder auf: »Der Zustand, in dem das Ich die Libido bei sich behält, heißen wir Narzißmus, in Erinnerung der griechischen Sage vom Jüngling Narzissus, der in sein eigenes Spiegelbild verliebt blieb.« (GS XII, 6) Den Begriff des Narzissmus nutzt Freud wiederum als Ansatzpunkt für die Entwicklung einer Ich-Theorie, die erst in Das Ich und das Es ihren Abschluss finden wird. Zwei gegenläufige Momente hebt Freud in diesem Zusammenhang hervor: Zum einen die Überbewertung des eigenen Ich, die mit dem Narzissmus einhergeht, zum anderen aber die Abwertung des Ich, von dem Freud in einer berühmt gewordenen Wendung behauptet, »daß das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus.« (GS XII, 11) Als Ausdruck trügerischen Größenwahns ist der Narzissmus mit einer »Kränkung der Eigenliebe« (GS XII, 11) verbunden, die Freud direkt auf die Psychoanalyse selbst bezieht: Nach Kopernikus und Darwin verkörpert die Psychoanalyse eine »dritte Kränkung der Eigenliebe, die ich die psychologische nennen möchte.« (GS XII, 11) Die Psychoanalyse, die in der Abwehr gegen die Gegner Adler und Jung und in der Ausarbeitung eines Systems, das auf den drei Säulen Ich, Es und Über-Ich ruht, selbst tendenziell narzisstische Züge annimmt, definiert Freud geradezu als Bruch mit dem Narzissmus, als eine Form der Aufklärung, die narzisstischen Fallen zu entkommen vermag, wie die programmatische Gegenüberstellung von Trauer und Melancholie zeigt. Den Ausgangspunkt von Freuds Überlegungen bildet der heuristische Vergleich von Trauer und Melancholie, demzufolge sich erst aus dem Wesen der Trauer der Begriff der Melancholie ergibt. Freud zufolge geht es darum, »das Wesen der Melancholie durch ihre Vergleichung mit dem Normalaffekt der Trauer zu erhellen.« (GS X, 428) In einer Weise, die nicht unwidersprochen geblieben ist, bezeichnet Freud die Trauer als Normalaffekt, die Melancholie hingegen als pathologische Entgrenzung der Trauer. »Trauer ist regelmäßig die Reaktion auf den Verlust einer ge103

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liebten Person oder einer an ihre Stelle gerückten Abstraktion wie Vaterland, Freiheit, ein Ideal usw« (GS X 428f.), stellt Freud fest, um Trauer als eine temporäre Erkrankung zu kennzeichnen, von der sich die Melancholie unterscheidet, weil ihre Symptome nicht dauerhaft verschwinden: »Die Melancholie ist seelisch ausgezeichnet durch eine tief schmerzliche Verstimmung, eine Aufhebung des Interesses für die Außenwelt, durch den Verlust der Liebesfähigkeit, durch die Hemmung jeder Leistung und die Herabsetzung des Selbstgefühls, die sich in Selbstvorwürfen und Selbstbeschimpfungen äußert und bis zur wahnhaften Erwartung von Strafe steigert.« (GS X, 429) Während die Trauer die Reaktion auf den Verlust einer Bindung an das Außen bedeutet, ersetzt die Melancholie das Außen durch ein Innen. Die Melancholie erscheint dementsprechend als eine innengerichtete Selbstreflexion der Trauer, die zugleich mit dem Hang zur Selbsterniedrigung einhergeht. Der Grund für die Störung des Selbstgefühls, die mit der Melancholie einhergeht, sei der unbewusste Charakter des Objektverlusts: »So würde uns nahegelegt, die Melancholie irgendwie auf einen dem Bewußtsein entzogenen Objektverlust zu beziehen, zum Unterschied von der Trauer, bei welcher nichts an dem Verluste unbewußt ist.« (GS X, 431) Die Trauer ist für Freud eine bewusste Verlusterfahrung, die Melancholie dagegen eine unbewusste. Vor diesem Hintergrund gelangt Freud zu einer grundsätzlichen Charakterisierung des Melancholikers: »Der Melancholiker zeigt uns noch eines, was bei der Trauer entfällt, eine außerordentliche Herabsetzung seines Ichgefühls, eine großartige Ichverarmung. Bei der Trauer ist die Welt arm und leer geworden, bei der Melancholie ist es das Ich selbst.« (GS X, 431) Melancholie erscheint Freud als Ausdruck einer im Bereich des Unbewussten angesiedelten Aggression, einer Selbstverkleinerung, die sich unmittelbar auf das eigene Ich richtet. »Der Kranke schildert uns sein Ich als nichtswürdig, leistungsunfähig und moralisch verwerflich, er macht sich Vorwürfe, beschimpft sich und erwartet Ausstoßung und Strafe.« (GS X, 431) Freud notiert in diesem Zusammenhang zugleich eine Besonderheit, die Beachtung verlangt: »Das Bild dieses – vorwiegend moralischen – Kleinheitswahnes vervollständigt sich durch Schlaflosigkeit, Ablehnung der Nahrung und eine psychologisch höchst merkwürdige Überwindung des Triebes, der alles Lebende am Leben festzuhalten zwingt.« (GS X, 432) Was der Melancholie eingeschrieben ist, ist die Präsenz einer Kraft, die dem Selbsterhaltungstrieb zuwiderläuft. Freud nutzt die Gelegenheit, um wiederum auf den Hamlet zu verweisen: »Denn es leidet keinen Zweifel, wer eine solche Selbsteinschätzung gefunden hat und sie vor anderen äußert – eine Schätzung, wie Prinz Hamlet für sich und alle anderen bereit hat, – der ist krank, ob er nun die Wahrheit sagt oder sich mehr oder weniger Unrecht tut.« (GS X, 432) In

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Freuds grundsätzlichen Überlegungen bestätigt sich die frühe Einschätzung, Hamlet sei als Paradigma des Falls von der Trauer in die Melancholie zu begreifen. Freud kommt daher zu dem Schluss: »Die Melancholie entlehnt also einen Teil ihrer Charaktere der Trauer, den anderen Teil dem Vorgang der Regression von der narzißtischen Objektwahl zum Narzißmus. Sie ist einerseits wie die Trauer Reaktion auf den realen Verlust des Liebesobjekts, aber sie ist überdies mit einer Bedingung behaftet, welche der normalen Trauer abgeht oder dieselbe, wo sie hinzutritt, in eine pathologische verwandelt.« (GS X, 437) Die Melancholie bestimmt Freud als das Zusammengehen von Trauer und Narzissmus, als Regression auf die narzisstische Phase, die mit einem kannibalischen Wunsch einhergeht, der das »Ich aufzehrt.« 1 (GS X, 432) Wenn Freud im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit dem Narzissmus auf den Begriff der Melancholie zurückgreift, dann stellt er sich in eine lange Tradition der Begriffsgeschichte, deren Vieldeutigkeit eine Klärung zunächst eher erschwert als ermöglicht. 2 Die unterschiedlichen Bedeutungen des Melancholiebegriffes haben Klibansky, Panowsky und Saxl in ihrer Studie Saturn und Melancholie zusammengefasst: Das Wort ›Melancholie‹ bezeichnet im modernen Sprachgebrauch recht unterschiedliche Dinge. Es ist der Ausdruck für eine Geisteskrankheit, die durch Angstzustände, tiefe Depression und Lebensüberdruß gekennzeichnet ist – wenngleich in neuerer Zeit ihr medizinischer Begriff eine weitgehende Zersetzung erfahren hat. Es ist ferner der Ausdruck für eine auch im physischen Habitus kenntlich werdende Charakterveranlagung, die zusammen mit der sanguinischen, cholerischen und phlegmatischen das System der ›vier Temperamente‹ bildet. Es ist schließlich der Ausdruck für einen vorübergehenden Seelenzustand, der bald quälend, deprimierend, bald aber auch nur sanft-träge oder nostalgisch sein kann. In diesem Fall ist es eine rein subjektive Stimmung, die dann auf die Welt der objektiven Dinge übertragen werden kann. 3

Klibansky unterscheidet drei unterschiedliche Begriffe der Melancholie: Zunächst handelt es sich im medizinischen Sinne um eine Geisteskrankheit, dann um eine Charakterveranlagung im Zusammenhang mit der Temperamentenlehre und schließlich um eine subjektive Stimmung. Die

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»Es möchte sich dieses Objekt einverleiben, und zwar der oralen oder kannibalischen Phase der Libidoentwicklung entsprechend auf dem Weg des Fressens.« (GS X, 436) Die Melancholie ist ein gefräßiges Ungeheuer. Zum Begriff der Melancholie vgl. Eckart Goebel: »Schwermut/Melancholie«, in: Karlheinz Barck (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe. Band 5. Postmoderne – Synästhesie, Stuttgart 2003, S. 446-486. R. Klibansky/E. Panofsky/F. Saxl: Saturn und Melancholie, S. 37. 105

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drei Begriffe ordnet Klibansky zugleich in eine Verfallsgeschichte ein: Von der Medizin zum Charakter bis zur Stimmung als poetischem Gefühl der Moderne erfährt der Begriff der Melancholie einen immer weiter reichenden Verlust an Präzision. Freuds Anstrengungen, den Begriff der Melancholie aus der pathologischen Entgrenzung der Trauer abzuleiten, arbeiten dieser Verfallsgeschichte zunächst entgegen, indem sie auf die medizinischen Ursprünge des Begriffes zurückgreifen. Die Tradition der Melancholie beginnt nach Klibansky mit der Heroisierung der Melancholie durch die Verbindung mit der mania, die Theophrast in den Aristoteles zugeschriebenen Problemata mit der berühmten Ausgangsfrage vornimmt: »Warum sind alle hervorragenden Männer, ob Philosophen, Staatsmänner, Dichter oder Künstler, offenbar Melancholiker gewesen?« 4 Den Grund für die Melancholie legt Theophrast in die schwarze Galle, die eine Begeisterung bewirke, die dem Weinrausch ähnlich sei. Die Melancholie ist daher charakterbildend und entspricht einer natürlichen Disposition zur Größe. »Dem von Natur aus Melancholischen aber eignet umgekehrt auch dann, wenn er keineswegs krank ist, ein ganz besonderes Ethos, das ihn, wie immer es sich im Einzelfall ausprägen mag, von den ›gewöhnlichen‹ Menschen zu allen Zeiten grundsätzlich unterscheidet: er ist gleichsam normalerweise abnorm.« 5 Was Theophrast positiv darstellt, die Abweichung vom Normalmaß in Richtung genialer Größe, wendet Freud anders: Auch ihm gilt der Melancholiker als eine Abweichung von der Normalität, die in seinen Augen der Affekt der Trauer repräsentiert. Aber die Abweichung hat nichts Geniales mehr, sie ist nur noch pathologisch. Auch hierin zeigt sich, dass Freud wie schon in den frühen Studien über Hysterie an einem »nüchternen« Begriff der Melancholie interessiert ist. Noch einen zweiten Punkt nennt Klibansky, die Verbindung von Melancholie und Saturn, dem griechischen Gott Kronos, den er als den »Gott der Gegensätze« 6 begreift, als »groß« und »krummsinnig« 7 , wie schon Hesiod angegeben hat, wobei der krumme Sinn für die List einsteht, mit deren Hilfe Kronos als Vater der Götter und der Menschen den eigenen Vater Uranos überwältigt hat. Als Gott der Gegensätze erscheint Kronos, da er auf der einen Seite den Sohn verkörpert, der den Vater besiegt, auf der anderen Seite aber den Kinderfresser, der als Kannibale die eigenen Kinder verschlingt, um die Herrschaft zu bewahren. Eine besondere Rolle im Kontext der Melancholie spielt das Problem der Zeit. Durch die missverständliche Gleichsetzung des Gottes Kronos 4 5 6 7

Ebd., S. 59. Ebd., S. 77. Ebd., S. 211. Vgl. Ebd., S. 212. 106

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und der Zeit (chronos) erscheint der griechische Gott zugleich als Metapher der Zeit: Kronos verschlingt seine Kinder wie die Zeit sich selbst verschlingt. Melancholiker, die Kinder Saturns, sind diejenigen, die sich durch eine bestimmte Zeitauffassung kennzeichnen lassen. Vor diesem Hintergrund hat Michael Theunissen die Melancholie als eine affektive Psychose verstanden, als eine vitale Hemmung, die ihren Grund im Zerfall der Zeit zur reinen Abfolge des Linearen besitzt. »Die unmittelbare Folge der ›Hemmung‹ ist der Zerfall der dimensionalen, ihre mittelbare Folge das Ausgeliefertwerden an die lineare Zeitordnung.« 8 Die Erfahrung, die der Melancholiker mit der Zeit macht, ist die des reinen Vergehens, das zugleich zyklisch strukturiert ist und sich durch das Prinzip der Wiederholung kennzeichnet: Auf eine Weise, die Nietzsches Begriff der ewigen Wiederkehr des Gleichen sehr nahe kommt, ist dem Melancholiker die Zukunft versperrt und allein noch als Wiederkehr des Vergangenen kenntlich. Die Vergangenheit greift auf die Zukunft über, und die Folge ist das Gefühl des völligen Ausgeliefertseins an die Zeit. »Im Zwang als zwanghafter Wiederholung herrscht die Zeit nicht nur über das Subjekt; sie herrscht vor allem in ihm und durch es, das heißt: mittels einer Herrschaft über sich, die es gegen sie zu errichten versucht. Gewiß tut das Subjekt psychischen Zwang stets nur sich selbst an. Aber in dem Zwang, den es sich antut, wird es gezwungen, die Bewegung der Zeit zu reproduzieren.« 9 Theunissen begreift die Melancholie daher als eine quasi unbeschränkte Herrschaft der Zeit über das Subjekt, das sich der Zeit angleichen muss. Theunissens Philosophie der Zeit, die ihre wesentlichen Impulse eher Heidegger denn Freud verdankt, kann in einigen Punkten zugleich auf Walter Benjamin zurückgreifen. Wie Freud, so nimmt Benjamin im Trauerspielbuch den Ausgang vom Vergleich von Trauerspiel und Melancholie. Sein leitendes Beispiel ist auch hier der Hamlet: »Der Tod des Hamlet, der mit dem tragischen nicht mehr gemein hat als der Prinz mit Aiax, ist in seiner vehementen Äußerlichkeit fürs Trauerspiel charakteristisch« (I, 315). Die Gegenüberstellung der antiken Tragödie am Beispiel des Aias und des Trauerspiels anhand des Hamlet nutzt Benjamin zu einer grundsätzlichen Kennzeichnung der Bedeutung der Melancholie für das Trauerspiel. Trauer ist die Gesinnung, in der das Gefühl die entleerte Welt maskenhaft neubelebt, um ein rätselhaftes Genügen an ihrem Anblick zu haben. Jedes Gefühl ist gebunden an einen apriorischen Gegenstand und dessen Darstellung ist seine 8 9

Michael Theunissen: Negative Theologie der Zeit, Frankfurt/Main 1991, S. 225. Ebd., S. 257. 107

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Phänomenologie. Die Theorie der Trauer, wie sie als Pendant zu der von der Tragödie absehbar sich zeigte, ist demnach nur in der Beschreibung jener Welt, die unterm Blick des Melancholischen sich auftut, zu entrollen. (I, 318)

Benjamin bezieht sich auf die schon von Nietzsche beklagte Entleerung der Welt durch das Christentum, um die Melancholie als ihre maskenhafte Neubelebung auszugeben. Darin zeigt sich nicht nur, dass Benjamins Äußerungen zur Melancholie im Trauerspielbuch als ein fortlaufender Kommentar zum Hamlet zu verstehen sind. Zugleich ergibt sich eine Differenz zu Freud. Hatte dieser den Normalaffekt der Trauer als Grund der Melancholie angesetzt, so geht Benjamin umgekehrt vor, um die Trauer durch den Blick der Melancholie zu filtern. Benjamins Thesen zum Zusammenhang von Trauer und Melancholie stellen das Freudsche Konzept gerade zu auf den Kopf. Insbesondere die Dekonstruktion konnte in diesem Punkt eher an Benjamin als an Freud anschließen. Einer der Gründe für die Aufwertung Benjamins durch die Dekonstruktion liegt in der pathologischen Entgrenzung der Trauer, die dem Begriff der Melancholie nach Freud zukommt und die der Dekonstruktion wie Benjamin als Normalfall gilt. So hat Jacques Derrida in seinen Erinnerungen an Paul de Man mit Blick auf Hölderlins Mnemosyne auf die »unmögliche Trauer« 10 verwiesen, auf die unmögliche Trauer als eine nie verheilende Wunde, die das Verschwinden des Freundes bedeute. Der Bezug auf Hölderlin erlaubt es Derrida zugleich, einen Namen für die Form der Dekonstruktion zu finden, die de Man begründet habe: »genau das ist die Allegorie der unmöglichen Trauer.« 11 In seinem Abschied von de Man definiert Derrida die Aufgabe der Dekonstruktion als den Nachweis von der Unmöglichkeit der Trauer im Zeichen der Allegorie und überantwortet sie damit einer Ethik des Aporetischen, die sich philosophischen wie literarischen Texten gleichermaßen einschreibe. Derridas Überlegungen zum Zusammenhang von Dekonstruktion, Allegorie und Trauerarbeit im Blick auf Paul de Man hat Anselm Haverkamp im Kontext einer Auseinandersetzung mit dem Werk Hölderlins weiter ausgeführt. In seiner Untersuchung zur späten Allegorie bei Hölderlin stellt er einleitend fest: »Wenn die Vermutung richtig ist, daß Trauerarbeit das Paradigma der Dekonstruktion darstellt, an dem ablesbar wird, wie Individualität jenseits von Subjektivität im Subjekt Bestand hat, so wird Trauer jenseits der Melancholie zum dekonstruktiven Prinzip

10 Jacques Derrida: Mémoires für Paul de Man, Wien 1988, S. 19. 11 J. Derrida: Mémoires für Paul de Man, S. 58. 108

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des Individuellen.« 12 Vermittelt durch die Auseinandersetzung mit de Man und Derrida sind es drei aufeinander aufbauende Thesen, die Haverkamps dekonstruktive Lesart Hölderlins leiten: Die erste behauptet, dass Trauerarbeit das Paradigma der Dekonstruktion darstelle, die zweite fügt dem hinzu, dass es in der Arbeit der Dekonstruktion um den Zusammenhang von Trauer und Allegorie gehe, die dritte schließlich setzt Trauer und Allegorie in ein Verhältnis zur Melancholie. So deutet Haverkamp den Vers »Am Feigenbaum ist mein / Achilles mir gestorben« aus der späten Hymne Mnemosyne als Zeichen dafür, dass in Hölderlins Texten »für die fehlende Trauer eine fehlgehende Trauer eintrete, die den Namen der Melancholie trägt« 13 . Vor diesem Hintergrund setzt Haverkamp die Altersgedichte Hölderlins in ein eigentümliches Verhältnis zu den späten Hymnen: Er deutet sie als Allegorien des Abschieds von der Melancholie: »Im Zusammenhang einer Theorie der Trauer, wie sie Benjamin im Widerspruch zu Freuds Konzept der Trauerarbeit entworfen hat, erschließt sich Hölderlins späte Allegorie als Abschied von der Melancholie, bevor ihre Verabschiedung für Freud überfällig wurde.« 14 In einer eigenwilligen Lesart, die auf eine außerordentliche Aufwertung der spätesten Gedichte Hölderlins hinausläuft, stellt Haverkamp die Altersgedichte als den trauernden Abschied von der Melancholie dar, die sich in die späten Hymnen eingeschrieben habe. Voraussetzung des von Haverkamp postulierten Abschieds von der Melancholie durch die Allegorie bleibt jedoch, dass die späten Hymnen jenes Fehlgehen provozieren, das von der Trauer in die Melancholie führe: Den Vers »dem / Gleich fehlet die Trauer« aus Mnemosyne nimmt Haverkamp als Gewähr für seine These, dass die späten Hymnen einer Melancholieerfahrung unterstehen, die erst die Altersgedichte allegorisch unterbrechen. Wenn Haverkamp in seinen komplexen theoretischen Vorüberlegungen zur späten Allegorie Hölderlins auf das Verhältnis von Trauer und Melancholie eingeht, dann bezieht er sich wie schon de Man vor allem auf Walter Benjamin, um sich von Freud abzusetzen. Indem er mit Derrida und de Man die Trauerarbeit als Paradigma der Dekonstruktion darstellt, Trauer aber als ein Prinzip der Individualität jenseits von Subjektivität bestimmt, verkehrt Haverkamp Freuds These vom Zusammenhang von Trauer und Melancholie in ihr Gegenteil. Vor dem Hintergrund von Benjamins Überlegungen zu Allegorie und Melancholie aus dem Trauerspielbuch gerinnt Haverkamp die Melancholie zum Paradigma der fehlgehenden Trauer: »Benjamin zufolge wäre die Arbeit der Trauer bei 12 Anselm Haverkamp: Laub voll Trauer: Hölderlins späte Allegorie, München 1991, S. 28. 13 Ebd., S. 53. 14 Ebd., S. 29. 109

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Freud überschätzt in der gradlinigen Erledigung ihres Geschäftes, während sie in der Melancholie erst ausgetragen würde und in einer endlosen Anstrengung, nicht im endlichen Erfolg ihr Paradigma hätte.« 15 Haverkamps Dekonstruktion der Psychoanalyse zufolge ist die Trauer nicht länger der Normalaffekt und die Melancholie ihre pathologisch entgrenzte Form. Die endlose Anstrengung der Trauerkrankheit, der Freud den Namen Melancholie gegeben hat, ist zum Normalfall geworden. Die Verschränkung von Trauer und Melancholie, um die es der Psychoanalyse wie der Dekonstruktion geht, kennzeichnet Hölderlins später Lyrik auf eine besondere Weise. Das zeigt nicht nur Haverkamps Analyse der späten Allegorie Hölderlins, sondern auch die Deutung von Hölderlins Gedicht Hälfte des Lebens im Kontext der Begriffe der Melancholie und des Narzissmus, die Winfried Menninghaus vorgenommen hat: Hälfte des Lebens Mit gelben Birnen hänget Und voll mit wilden Rosen Das Land in den See, Ihr holden Schwäne, Und trunken von Küssen Tunkt ihr das Haupt Ins heilignüchterne Wasser. Weh mir, wo nehm’ ich, wenn Es Winter ist, die Blumen, und wo Den Sonnenschein Und Schatten der Erde? Die Mauern stehn Sprachlos und kalt, im Winde Klirren die Fahnen. 16

Hölderlins Gedicht zählt sicherlich zu den am meisten interpretierten Texten in der Geschichte der Lyrik. Ein Grund dafür liegt in der einfachen Struktur des Gedichts, das sich schon auf den ersten Blick in zwei antithetisch aufeinander bezogene Blöcke gliedern lässt: »Dem Bild sommerlicher Erfüllung in der ersten respondiert in der zweiten das Bild win-

15 Ebd., S. 19. 16 Friedrich Hölderlin, »Hälfte des Lebens«, in: Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente. Band 10, hrsg. von Dieter E. Sattler, München 2004, S. 237. 110

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terlicher Erstarrung und Leere« 17 , kommentiert Jochen Schmidt die Struktur des Gedichts im Rahmen einer konventionellen hermeneutischen Interpretation, die in den Schwänen der ersten Strophe eine Metapher der dichterischen Existenz erkennt, die in der zweiten Strophe in eine Krise gerät: »Das Versagen der Sprache signalisiert das Ende des Dichtertums« 18 , folgert Schmidt aus dem Hinweis auf die Sprachlosigkeit und Kälte, mit denen Hölderlins Gedicht endet. Gegen eine allzu umstandslose Deutung des Textes als Ausdruck einer psychischen und dichterischen Krise der Lebensmitte hat Winfried Menninghaus entschieden Einspruch erhoben. Für Menninghaus »kann die Topik einer midlife crisis allenfalls den Anfang einer näheren Beschäftigung mit Hölderlins Gedicht darstellen.« 19 Menninghaus, dem es vor allem darum geht, Hölderlin gegen die in der Forschung übliche Tendenz einer Pindarisierung seiner Dichtung als Beobachter und Weiterbearbeiter Sapphos zur Geltung zu bringen und der in diesem Zusammenhang den Adoneus als vernachlässigte rhythmische Form einführt, treibt die metrische Analyse von Adonis bis zu Narziss weiter: »Das Hängen in den See – Schönheit – die sich zu einer Wasserfläche neigt – ist das zentrale Geschehen an der von Ovid beschriebenen makellosen Quelle.« 20 Die erste Strophe des Gedichtes erscheint in Menninghaus’ Lesart nicht als sommerliche Erfüllung, sondern als eine narzisstische Selbststilisierung, die die zweite Strophe aufhebt: »im Augenblick des Abschieds von der frühen Identifikation mit der Rolle des Dichterschwans tritt dessen narzisstische Signatur vor Augen. Diese Erkenntnis bereitet aber nicht den Weg in ein anderes Sprechen, sondern ist nurmehr ein Ferment des bevorstehenden Absturzes in totale Sprachlosigkeit.« 21 Vor dem Hintergrund der Deutung des Gedichts als Ausdruck einer proto-narzisstischen Selbststilisierung des Dichters, die ein Großteil der Hölderlin-Forschung mit betreibt, erscheint die zweite Strophe mit ihrer Bewegung der Erstarrung und Ernüchterung als eine melancholische Reflexion des Narzissmus. Die erste und die zweite Strophe verhalten sich zueinander wie eine einfache und eine reflektierte Form des Narzissmus, wobei die zweite Form mit Benjamin als allegorisches Zeichen von Trauer und Melancholie gelesen werden kann. 17 Jochen Schmidt: »›Sobria ebrieteas‹. Hölderlins ›Hälfte des Lebens‹«, in: Gedichte und Interpretationen. Band 3. Klassik und Romantik, hrsg. von Wulf Segebrecht, Stuttgart 1984, S. 256-267, hier S. 258. 18 Ebd., S. 264. 19 Winfried Menninghaus: Hälfte des Lebens. Versuch über Hölderlins Poetik, Frankfurt/Main 2005, S. 17. 20 Ebd., S. 48. 21 Ebd., S. 52f. 111

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Die Frage, die sich vor dem Hintergrund des Vergleichs von Benjamins und Freuds Verhältnisbestimmung von Trauer und Melancholie ergibt, ist demnach die, ob Hölderlins Gedicht in der Verabschiedung der narzisstischen Selbststilisierung als Trauer oder als Melancholie zu bestimmen ist. Die Deutung von Hölderlins Dichtung als allegorische Reflexion auf einen Verlust und Mangel, der der Schönheit eingeschrieben sei, wie sie Haverkamp und Menninghaus vollziehen, spricht eher für die Melancholie. Die dichterische Krise, die schon Jochen Schmidt als den eigentlichen Grund des Gedichts diagnostiziert hat, scheint mit einer Form der Melancholie einherzugehen, die Menninghaus vom »klirren«, mit dem das Gedicht endet, in einer in diesem Kontext sicherlich nicht selbstverständlichen Anknüpfung an Paul Celan als »irren« und schließlich als »irre-Werden«, als Wahnsinn aus Schmerz versteht.22 Dass sich Hölderlins späte Allegorie auf eine Bewegung der Erstarrung und Versteinerung zurückführen lässt, die sich insbesondere im rätselhaften Vergleich Antigones mit Niobe bei Sophokles und Hölderlin zeigt, deutet in der Tat darauf hin, dass es im Gedicht im weitesten um eine Verarbeitung von Schmerz geht. 23 Die Erstarrung, mit der Hälfte des Lebens endet, als Ausdruck von und Schutz gegen Schmerz zu lesen, zeigt daher zugleich eine genuine Nähe zwischen der Psychoanalyse und den Mechanismen dichterischer Trauerarbeit auf. Freuds früher Hinweis aus den Studien über Hysterie, das Ziel der Analyse läge darin, hysterisches Elend in gemeines Unglück zu verwandeln, verweist ebenfalls darauf, dass es der Psychoanalyse vor allem darum geht, unerträglichen Schmerz in erträglichen zu verwandeln, ohne gleichwohl das Glücksversprechen der völligen Abwesenheit von Schmerz zu geben. Melancholie und Trauer erscheinen vor diesem Hintergrund als zwei unterschiedliche Weisen, mit der grundlegenden Erfahrung des Schmerzes umzugehen: Die Melancholie durch die narzisstische Integration des Schmerzes in den eigenen Körper, durch die kannibalische Einverleibung des Todes, die die Figur der Niobe kennzeichnet, die Trauer durch die Bewältigung des Schmerzes, die zu der weniger spektakulären Form des trauernden Abschieds von den Toten führt. Wenn Freud im Unterschied zu Benjamin die Trauer und nicht die narzisstisch besetzte Melancholie in das Zentrum seiner Überlegungen stellt, dann beharrt er auf der Idee, dass sich das Ich gegen Formen des Verlustes erfolgreich zur Wehr setzen kann, erkennt aber zugleich an, dass im Ich selbst eine Bedrohung existiert, die auf die Instanz des Unbewussten zurückführt, der schon das In22 Vgl. Ebd., S. 62. 23 Vgl. Martin von Koppenfels: »Schmerz. Lessing, Duras und die Grenzen der Empathie«, in: Robert Stockhammer (Hg.), Grenzwerte des Ästhetischen, Frankfurt/Main 2002, S. 118-145. 112

NARZISS UND NIOBE. TRAUER UND MELANCHOLIE

teresse der frühen Schriften Freuds und insbesondere der Traumdeutung galt. Der Zusammenhang von Narzissmus, Trauer und Melancholie, der sich in Hölderlins Dichtung wie in Benjamins und Freuds Theorie zeigt, verweist zum einen auf die Instanz des Ich, die im Zentrum von Freuds späteren Überlegungen steht, zum anderen aber auf die Frage nach einer noch unbestimmten Gewalt, die sich im Ich selbst artikuliert, ohne als solche aufweisbar zu sein. Für Freuds weitere Überlegungen bedeutet die Konfrontation, die das Ich auf eine ihm unbekannte und doch in ihm selbst angesiedelte Gewalt treffen lässt, ein Problem, das er erst in Jenseits des Lustprinzips aufzulösen unternimmt.

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VIII. I M H A D E S . J E N S E I T S

DES

LUSTPRINZIPS

Die Auseinandersetzung mit dem Narzissmus hat Freud zu einem ambivalenten Zwischenergebnis geführt. Auf der einen Seite geht mit der Einführung des Narzissmus die Etablierung einer psychoanalytischen Ichtheorie einher, die die Traumdeutung noch verhindert hatte. Auf der anderen Seite führt der Narzissmus eine zerstörerische Kraft in das Ich ein, die dieses von innen her angreift und zu Formen der Selbstzerstörung führt, die Freud zunächst im Begriff der Melancholie zu fassen versucht. Die Frage, wie diese zerstörerische Macht genau zu fassen ist, vermag Freud noch nicht zu beantworten. Sie führt ihn im Rahmen einer umfassenden Revision der Trieblehre zu ökonomischen Aspekten, die in der schon früh von im geforderten Metapsychologie enden: »Wir meinen, eine Darstellung, die neben dem topischen und dem dynamischen Moment noch dies ökonomische zu würdigen versuche, sei die vollständigste, die wir uns derzeit vorstellen können, und verdiene es, durch den Namen einer metapsychologischen hervorgehoben zu werden.« (GS XIII, 3) Der Versuch, eine Metapsychologie zu etablieren, 1 die an die frühe Forderung anknüpft, »die Metaphysik in Metapsychologie umzusetzen« (GS IV, 288), kennzeichnet Freuds Denken nach dem Ersten Weltkrieg und rückt die Psychoanalyse zugleich in die Nähe von philosophischen Fraugestellungen, die die grundsätzlichen Bedingungen von Wahrnehmung und Erinnerung betreffen. Die Metapsychologie, die Freud insbesondere in den zwanziger Jahren entwirft, führt zum einen zu dem neuen Modell der drei Instanzen des Ich, des Es und des Über-Ich, zum anderen zu einer neuen Trieblehre, die Freud in Jenseits des Lustprinzips vorlegt. Jenseits des Lustprinzips ist nicht nur Freuds spekulativste und daher vielleicht umstrittenste Schrift, 2 sie ist zugleich die unmittelbare Reaktion der Psychoanalyse auf die Folgen des Ersten Weltkriegs. Wie für viele Literaten seiner Zeit, so ist auch für Freud der Erste Weltkrieg eine entscheidende Zäsur, die zu grundlegenden Veränderungen des eigenen

1 2

Vgl. H.-M. Lohmann/J. Pfeiffer (Hg.), Freud-Handbuch, S. 16f. Vgl. Gerd Kimmerle: Verneinung und Wiederkehr. Eine methodologische Lektüre von Freuds ›Jenseits des Lustprinzips‹, Tübingen 1988, S. 7. 115

DAS SCHIBBOLETH DER PSYCHOANALYSE

Ansatzes führt. Das betrifft sowohl die theoretische Position Freuds als auch sein literarisches Schreiben, das die Konstellationen der Traumdeutung wieder aufnimmt und zugleich verändert: Die autobiographische Darstellung, die die Traumdeutung beherrschte, weicht der Auseinandersetzung mit dem Trauma des Kriegs, der einem Abstieg in die Unterwelt gleichkommt. Damit verschwindet die autobiographische Dimension von Freuds Schreiben keineswegs vollständig. Vielmehr bindet Freud gerade die Reflexion auf das Thema traumatischer Kriegserfahrungen in grundsätzliche Überlegungen zur Geschichte der Psychoanalyse und der durch sie erreichten Fortschritte ein. Insofern führt Jenseits des Lustprinzips die Traumdeutung weiter, wiederholt die spätere Schrift die frühere auf eine Art und Weise, die die Frage nach dem Status der Wiederholung für die Psychoanalyse zum Thema macht. Zum Thema wird die Wiederholung in der Konfrontation der Psychoanalyse mit der traumatischen Erfahrung der Kriegsopfer. Die Auseinandersetzung mit der Hysterie, die die Anfänge der Psychoanalyse kennzeichnete, löst die Begegnung mit den traumatisierten Kriegsopfern ab. Wie Freud erkennen muss, lässt sich das Problem des Kriegstraumas aber in der Begrifflichkeit der frühen Schriften nicht lösen. Der Grund liegt in der Schwierigkeit, die Frage zu beantworten, warum der vergangene Schrecken im Traum wiederholt wird. Denn die Wiederholung eines unlustvollen Erlebnisses widerspricht dem Lustprinzip, das eigentlich dazu tendieren müsste, alle Formen der Unlust zu vermeiden. Um dieses Problem lösen zu können, begibt sich Freud in Jenseits des Lustprinzips auf eine Hadesfahrt, die ihn in die Tiefe des Kriegs und der Menschheitsgeschichte führt. Das Ausgangsproblem in Jenseits des Lustprinzips stellt die Frage nach dem Lustprinzip als der »Vermeidung von Unlust oder Erzeugung von Lust« (GS XIII, 3) dar. Freud berührt damit den ökonomischen Aspekt, den er mit seinem Begriff der Metapsychologie verbunden hat. Lust und Unlust kennzeichnet Freud in diesem Zusammenhang als »das dunkelste und unzugänglichste Gebiet des Seelenlebens« (GS XIII, 4). Wie schon in der Traumdeutung, so greift Freud auch in Jenseits des Lustprinzips auf eine räumliche Metaphorik zurück, um den Raum, den er erkunden möchte, in Übereinstimmung mit dem Begriff des Unbewussten als einen Raum der Dunkelheit und der Tiefe zu kennzeichnen. Wie Isabel Platthaus herausgearbeitet hat, steigt Freud in seiner Schrift buchstäblich in den Hades ab. »Wenn Freud mit der Traumdeutung und der Selbstanalyse, aus der dieses Buch entstanden ist, in sein eigenes Unbewusstes hinabgestiegen ist, so unternimmt er in Jenseits des Lustprinzips eine Unterweltsreise in das, was der Psychoanalyse ›zugrunde‹ liegt – in ihren Untergrund in Gestalt des Biologischen und in ihre Unterwelt in

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Gestalt einer Mythologie der Triebe.« 3 Vor dem Hintergrund des Motivs der Unterweltsreise, das Jenseits des Lustprinzips bestimmt, stellt sich die Frage, warum Freud den unlustvollen Gang in das tiefe Dunkel der Vergangenheit unternimmt. Wenn sich Freud in Jenseits des Lustprinzips mit dem Problem der Wiederholung eines mit Unlust besetzten Vorgangs auseinandersetzt, dann wird zugleich deutlich, dass Freuds eigener Antrieb von Beginn an mit dem Thema seiner Schrift in Übereinstimmung steht. Wie im Falle von Odysseus oder Orpheus setzt die Hadesfahrt eine Krisenerfahrung voraus, die im Falle Freuds gleich mehrfach besetzt ist: Durch den Tod der eigenen Tochter 4 wie durch die grundsätzlichen Probleme, mit denen die Psychoanalyse zu kämpfen hat, um Phänomene zu erklären, die sich bisher der Deutung verweigern. Freud begibt sich in Jenseits des Lustprinzips auf unsicheren Schritten in ein Reich, das ihm unbekannt ist, das zugleich aber verspricht, die Probleme, vor denen die Psychoanalyse und er selbst stehen, zu lösen. Entsprechend vage sind seine ersten Angaben zu einem »Jenseits« des Lustprinzips. Wenn Unlust, wie Freud meint, auf eine Steigerung und Lust auf eine Verringerung der quantitativen Erregungen im Seelenleben zurückgehen, dann folgt daraus, dass der psychische Apparat die Erregung möglichst niedrig halten will. Besteht das Lustprinzip also in der quantitativen Geringhaltung der psychischen Energie, so gibt Freud zu, dass »gewisse andere Kräfte und Verhältnisse« (GS XIII, 5) dem widersprechen. Mehr vermag er an dieser Stelle anscheinend noch nicht zu sagen. Eine erste Möglichkeit, die »gewissen anderen« Kräfte und Verhältnisse zu bestimmen, liegt in der Unterscheidung von Lust- und Realitätsprinzip bereit. Das Realitätsprinzip gründet auf einer Hemmung des Lustprinzips, dessen auffälligster Sachverhalt die Selbsterhaltung des Individuums ist, ein Prinzip, dem der Krieg auf dramatische Art und Weise widerspricht. Freud ist daher auch nicht dazu bereit, dem Realitätsprinzip die Macht zuzusprechen, die die Kraft des Lustprinzips brechen könnte: »Es ist indes unzweifelhaft, daß die Ablösung des Lustprinzips durch das Realitätsprinzip nur für einen geringen und nicht für den intensiven Teil der Unlusterfahrungen verantwortlich gemacht werden kann.« (GS XIII, 6) Mit dem Hinweis auf die Unbezweifelbarkeit ebnet Freud wiederum in der Tradition aufklärerischen Denkens der Evidenz den Weg, um auf eine andere, noch unbekannte Quelle zu stoßen, die für die Verstöße gegen das Lustprinzip verantwortlich sei. Einen ersten Hinweis, der in die Richtung des Jenseits führt, gibt der Begriff der Verdrängung, der Freud zu einer neuen Definition von Lust und Unlust führt. Er vertritt die The3 4

I. Platthaus: Höllenfahrten, S. 77. Zur Bedeutung des Verlustes der Tochter für die Schrift vgl. H.-M. Lohmann/J. Pfeiffer (Hg.), Freud-Handbuch, S. 159. 117

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se, »alle neurotische Unlust von solcher Art, ist Lust, die nicht als solche empfunden werden kann.« (GS XIII, 7) Damit hat er die formalen Ausgangsvoraussetzungen geschaffen, die er am Beispiel der traumatischen Neurose aus dem Krieg weiter verfolgen kann. Freuds konkreter Ausgangspunkt bildet der Zusammenhang zwischen dem Krieg und der damit verbundenen Konfrontation mit Angst, Furcht und Schreck: Angst bezeichnet einen gewissen Zustand wie Erwartung der Gefahr und Vorbereitung auf dieselbe, mag sie auch eine unbekannte sein; Furcht verlangt ein bestimmtes Objekt, vor dem man sich fürchtet; Schreck aber benennt den Zustand, in den man gerät, wenn man in Gefahr kommt, ohne auf sie vorbereitet zu sein, betont das Moment der Überraschung. Ich glaube nicht, daß die Angst eine traumatische Neurose erzeugen kann; an der Angst ist etwas, was gegen den Schreck und also auch gegen die Schreckneurose schützt. (GS XIII, 10)

Freud definiert die Angst als eine Form des Schutzes, die das Individuum gegen eine noch unbekannte Gefahr aufrichtet, indem es eine permanente Alarmbereitschaft auslöst. Während Furcht an einen bestimmten Gegenstand gebunden ist, wie zum Beispiel in den Tierphobien deutlich wird, erscheint Schreck die Reaktion auf die Durchbrechung des Schutzes, den die Angst zu errichten suchte. Vor diesem Hintergrund wird die grundlegende Bedeutung der Begriffe Furcht, Angst und Schrecken im Kontext des Krieges deutlich. Was der Krieg ausgelöst hat, ist jene permanente Alarmbereitschaft, die die Angst kennzeichnet, zugleich aber den ständigen Durchbruch des Reizschutzes, der den Schreck kennzeichnet und der für die Erzeugung der traumatischen Neurosen verantwortlich ist, um die es Freud in Jenseits des Lustprinzips geht. In Frage steht damit das Ausgangsproblem, das die Kriegsopfer im Trauma das schreckhafte Erlebnis, das das Trauma ausgelöst hat, unaufhörlich wiederholen. Freud sucht aber noch auf einer zweiten Ebene Zugang zu dem Problem, warum Trauma und Wiederholung so eng miteinander zusammenhängen. Er definiert die traumatische Neurose im Blick auf den Krieg als die Fixierung an das Erlebnis, das das Trauma ausgelöst hat. Vor diesem Hintergrund konstruiert er einen zunächst überraschenden Übergang vom Krieg zum Kinderspiel: »Ich mache nun den Vorschlag, das dunkle und düstere Thema der traumatischen Neurose zu verlassen und die Arbeitsweise des seelischen Apparates an einer seiner frühzeitigsten normalen Betätigungen zu studieren. Ich meine das Kinderspiel.« (GS XIII, 11) Freuds Strategie ist von bestechender Suggestivität: An die Stelle der düsteren Kriegserlebnisse tritt die scheinbar heitere Welt des Kinderspiels. Damit zeichnet Freud zugleich jene Bewegung der Wiederholung vor, um die Jenseits des Lustprinzips insgesamt kreist: Wie sich zeigen

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wird, steht am Ursprung des Kinderspiels der gleiche zerstörerische Kern, der sich im Krieg äußert. Freud geht auf das Kinderspiel als Beispiel für Wiederholung eines peinlichen Erlebnisses zurück. Das Kind wirft eine Holzspule über den Rand seines Bettchens und zieht die Spule am Bindfaden wieder zu sich zurück, begleitet von dem »Fort« und dem »Da«, das dem Spiel den Namen gegeben hat. Freud deutet das Spiel als Verarbeitung des Trennungsschmerzes über die Abwesenheit der Mutter. Die Beschreibung des Kinderspiels führt ihn schnell zum Krieg zurück: »Dasselbe Kind, das ich mit 1 ½ Jahren bei seinem ersten Spiel beobachtete, pflegte ein Jahr später ein Spielzeug, über das es sich geärgert hatte, auf den Boden zu werfen und dabei zu sagen: Geh’ in K(r)ieg! Man hatte ihm damals erzählt, der abwesende Vater befinde sich im Krieg, und es vermißte den Vater gar nicht, sondern gab die deutlichsten Anzeichen von sich, daß es im Alleinbesitz der Mutter nicht gestört werden wolle.« (GS XIII, 14) Vom Krieg führt Freud der Weg zunächst zum Kinderspiel und dann zurück zum Krieg. Insofern gibt die Schrift in der theoretischen Auseinandersetzung mit der Wiederholung »a model for a narrative plot« 5 , dem sie als Wiederholung zugleich selbst folgt. In dem Argumentationsgang seiner Schrift vollzieht Freud die Kreisbewegung nach, die seiner Meinung zufolge das Prinzip der Wiederholung charakterisiert: »Wie stimmt es also zum Lustprinzip, daß es dieses ihm peinliche Erlebnis als Spiel wiederholt?« (GS XIII, 13) Freud kommt zu der Lösung, das Kind drücke insbesondere im Fall des Trennungsschmerzes einen »Racheimpuls gegen die Mutter« (GS XIII, 14) aus. Hinter dem Spiel verbirgt sich demnach ein aggressiver Trieb, der sich auf diesem Wege Bahn zu schaffen vermag. Freud folgert daher, »daß es auch unter der Herrschaft des Lustprinzips Mittel und Wege genug gibt, um das an sich Unlustvolle zum Gegenstand der Erinnerung und seelischen Bearbeitung zu machen.« (GS XIII, 15) Seine Folgerung nutzt er zugleich zum Hinweis auf »die Wirksamkeit von Tendenzen jenseits des Lustprinzips, das heißt solcher, die ursprünglicher als dies und von ihm unabhängig wären.« (GS XIII, 15) Die Frage, die sich ihm stellt, ist die nach den Möglichkeiten des Zugangs zu dieser geheimnisvollen Tendenz, die er wohl beobachten, nicht aber direkt aufweisen kann. Das Ergebnis seiner bisherigen Überlegungen beläuft sich auf die magere Erkenntnis, dass es sehr wohl ein Jenseits des Lustprinzips geben mag. Wie dieses beschaffen sein kann, ist aber zunächst noch vollkommen offen.

5

Peter Brooks: »Freud’s Masterplot«, in: Shoshana Felman (Hg.), Literature and Psychoanalysis. The Question of Reading: Otherwise, Baltimore and London 1980, S. 280-300, hier S. 285. 119

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Das magere Ergebnis, das er in Jenseits des Lustprinzips bisher zu Tage gefördert hat, stellt Freud in einen Kontext mit der Geschichte der Psychoanalyse. Freud nutzt die Gelegenheit zu einem Rückblick, der zu einer mehr als skeptischen Einschätzung der eigenen Arbeit führt: »Fünfundzwanzig Jahre intensiver Arbeit haben es mit sich gebracht, daß die nächsten Ziele der psychoanalytischen Technik heute ganz andere sind als zu Anfang.« (GS XIII, 16) Freud bezieht sich auf die Geburt der Psychoanalyse in der Traumdeutung als »Deutungskunst« (GS XIII, 16), auf die dann Fragen nach dem Status der Erinnerung und schließlich die nach dem Zusammenhang von Erinnerung und Wiederholung folgten. Insbesondere der Blick auf das Phänomen der Wiederholung zwingt Freud zu einer Selbstkritik: Dann aber wurde es immer deutlicher, daß das gesteckte Ziel, die Bewusstmachung des Unbewußten, auch auf diesem Wege nicht voll erreichbar ist. Der Kranke kann von dem in ihm Verdrängten nicht alles erinnern, vielleicht gerade das Wesentliche nicht, und erwirbt so keine Überzeugung von der Richtigkeit der ihm mitgeteilten Konstruktion. Er ist vielmehr genötigt, das Verdrängte als gegenwärtiges Erlebnis zu wiederholen, anstatt es, wie der Arzt es lieber sähe, als ein Stück Vergangenheit zu erinnern. (GS XIII, 16)

Freuds Einschätzung kommt einem Eingeständnis des eigenen Scheiterns gleich. An die Stelle der Erinnerung, die seit den Studien über Hysterie im Mittelpunkt der psychoanalytischen Kur als einer Form der Anamnese steht, setzt er die Wiederholung als ihr ohnmächtiges Gegenbild. Gerade das Wesentliche, so Freud, bleibe dem Patienten verborgen, als Verborgenes aber bleibe es in der Wiederholung weiter mächtig. Die Heilung, die die Psychoanalyse sich zum erklärten Ziel setzt, kann sie selbst nicht erreichen. Das Prinzip der Wiederholung trifft dabei nicht nur den Patienten, sondern ebenso die Theoriebildung der Psychoanalyse selbst, die mit dem Unbewussten einen Begriff eingeführt hat, der sich nicht direkt aufweisen lässt und weit eher mit dem Phänomen der Wiederholung in Zusammenhang steht als dem der Erinnerung. In Jenseits des Lustprinzips deutet sich das Eingeständnis eines Scheiterns, das in den späten Schriften immer wieder durchscheint. Freud aber wendet das Scheitern zugleich positiv, indem er den Begriff der Wiederholung durch den des Wiederholungszwanges erweitert. Der Wiederholungszwang, so Freud, verweise auf die Schichten, die für die Verdrängung verantwortlich sind, stehe also im Kontext des unbewussten Verdrängten. Die Frage, die sich Freud an dieser Stelle eröffnet, ist die nach dem Verhältnis, das die – unlustvolle – Wiederholung zum Lustprinzip einnimmt. Um dieses Problem lösen zu können, greift Freud zunächst auf den Bereich zurück, der schon im Mittelpunkt der Anfänge der Psychoanaly120

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se stand, das Sexualleben. Die frühen Analysen zur Sexualität erweitert er zugleich um den in den letzten Jahren neu gewonnenen Begriff des Narzissmus: »Der Liebesverlust und das Misslingen hinterließen eine dauernde Beeinträchtigung des Selbstgefühls als narzißtische Narbe« (GS XIII, 19), formuliert Freud im Blick auf das infantile Sexualleben. Zugleich verweist er im Blick auf das Übertragungsphänomen von neurotischen wie nicht-neurotischen Personen auf einen »dämonischen Zuges in ihrem Erleben« (GS XIII, 20), den er mit Nietzsche als eine Form der ewigen Wiederkehr des Gleichen kennzeichnet. Als Beispiel dient ihm die Geschichte einer »Frau, die dreimal nacheinander Männer heiratete, die nach kurzer Zeit erkrankten und von ihr zu Tode gepflegt werden mussten.« (GS XIII, 21) Den Ausdruck »zu Tode pflegen« benutzt Freud in der vollen Ambivalenz der Worte, die eine geheime Intention, in der Begrifflichkeit der Traumdeutung einen Wunsch vermuten lassen. Vor diesem Hintergrund gelangt er zu dem Schluss, »daß es im Seelenleben wirklich einen Wiederholungszwang gibt, der sich über das Lustprinzip hinaussetzt.« (GS XIII, 22) Der Rückblick, den das Eingeständnis des eigenen Scheiterns notwendig gemacht hatte, endet also mit einem zunächst zwar vorläufigen, dennoch aber positiven Ergebnis: »Es bleibt genug übrig, was die Annahme des Wiederholungszwanges rechtfertigt, und dieser erscheint uns ursprünglicher, elementarer, triebhafter als das von ihm zu Seite geschobene Lustprinzip.« (GS XIII, 22) Auf dieser schmalen, aber tragfähigen Basis kann Freud weiter aufbauen. Den Weg zu den neuen Erkenntnissen, zu denen Freud in Jenseits des Lustprinzips gelangt, markiert Freud als Ergebnis reiner Spekulation. »Was nun folgt, ist Spekulation, oft weitausholende Spekulation, die ein jeder nach seiner besonderen Einstellung würdigen oder vernachlässigen wird. Im weiteren ein Versuch zur konsequenten Ausbeutung einer Idee, aus Neugierde, wohin dies führen wird.« (GS XIII, 23) Mit dem Begriff der Spekulation greift Freud auf den der wissenschaftlichen Neugierde zurück, der schon seine frühen Schriften bestimmt hatte. 6 Wie in der Traumdeutung geht er auf das seit Petrarca für die Idee des Erkenntnisfortschritts zentrale Prinzip der Neugierde zurück, um seine »neue Wissenschaft« des Unbewussten zu präsentieren.

6

»Je prétends que la spéculation n’est pas seulement un mode de recherche nommé par Freud, pas seulement l’objet oblique de son discours, c’est aussi l’opération de son écriture, la scène (de ce) qi’il fait en écrivant ce qu’il écrit ici«, Jacques Derrida: »Spéculer – Sur ›Freud‹«, in: La carte Postale, Paris 1980, 277-437, hier 304. Zum Begriff der Spekulation vgl. Patrick J. Mahony: Der Schriftsteller Sigmund Freud, Frankfurt/Main 1989, S. 52. 121

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Was Freud dem verblüfften Leser präsentiert, ist demzufolge eine spekulative Idee, die zunächst auf philosophische Probleme um die Begriffe Bewusstsein und Erinnerung zurückführt. Bewusstsein definiert Freud in der Tradition der englischen Philosophie des 18. Jahrhunderts als den passiven Empfang von Erregungen aus der Außenwelt. 7 Zu den äußeren Erregungen treten innere hinzu, die zu dem bekannten Problem des Verhältnisses von Lust und Unlust führen. Das Bewusstsein erscheint bei Freud als ein Raum »an der Grenze von außen und innen« (GS XIII, 23), als ein Schwellenraum, der Übergänge nach innen und nach außen zugleich markiert. Die philosophisch nicht unbedingt originelle Definition des Bewusstseins verbindet Freud in Jenseits des Lustprinzips mit einer Theorie des Gedächtnisses: Die Erregungen bilden seiner Meinung nach »Dauerspuren als Grundlage des Gedächtnisses« (GS XIII, 24). Im Unterschied zu seiner Definition des Bewusstseins betritt Freud mit seiner Theorie des Gedächtnisses Neuland, indem er den Begriff der Dauerspur einführt. Er vertritt die These, bei den Dauerspuren handle es sich um »Erinnerungsreste also, die nichts mit dem Bewußtsein zu tun haben. Sie sind oft am stärksten und haltbarsten, wenn der sie zurücklassende Vorgang niemals zum Bewußtsein gekommen ist.« (GS XIII, 24) Das Neue an Freuds Theorie des Gedächtnisses besteht darin, das Bewusstsein und Erinnerung in ein Gegensatzverhältnis geraten. Je weniger bewusst sie wird, desto tiefer reicht die Erinnerung. Mit dieser paradoxen Konstellation, die auch neueren kulturwissenschaftlichen Ansätzen zuwiderläuft, 8 führt Freud den Begriff der unbewussten Erinnerung ein, einer Erinnerung, die einer ursprünglichen Form des Vergessens gleichkommt. Freud geht sogar so weit, die These zu vertreten, dass »Bewusstwerden und Hinterlassung einer Gedächtnisspur für dasselbe System miteinander unverträglich sind.« (GS XIII, 24) Bewusstsein und Erinnerung schließen sich wechselseitig aus. Freud folgert daher, »das Bewußtsein entstehe an Stelle der Erinnerungsspur« (GS XIII, 25). Nach der zurückhalten7

8

Zur Kritik am Einfluss des englischen Empirismus auf Freud vgl. Ernst Tugendhat: Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen, Frankfurt/Main 1979, S. 22. Dass Jan Assmanns Begriff der Gedächtnisgeschichte einen kaum glaublichen Rückfall hinter das von Freud Erreichte bedeutet, sollte angesichts der Radikalität von Freuds Vergessensbegriff deutlich geworden sein. Assmanns Forderung, man »müsste Freuds psychische Topologie der Erinnerung in eine soziale und kulturelle Topologie übersetzen, um sie für eine kulturelle Theorie der Erinnerung fruchtbar zu machen«, läuft Freuds eigenen Analysen diametral entgegen. Jan Assmann: Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, Frankfurt/Main 2000, S. 280. 122

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den und selbstkritischen Strategie, die den Beginn der Abhandlung gekennzeichnet hatte, wechselt Freud nun das Vorgehen: Ausgehend von wenigen Prämissen gelangt er zu einer fortschreitenden Radikalisierung der Ausgangsthesen, die er zugleich in einem Bild zu veranschaulichen sucht. Freud stellt den lebenden Organismus als ein Bläschen reizbarer Substanz vor. Äußere Reize bewirken eine dauerhafte Veränderung der Oberfläche, als Schutzmechanismus fungiert eine Rinde, die Reize abwehrt. Seinen Überlegungen zufolge markiert das Bewusstsein genau jene Stelle der Rinde zwischen Außenreizen und Innenreizen. Besonders zu beachten ist nach Freud, dass der Schutz nach innen unmöglich ist. Das einzige Ziel des Umgangs mit den inneren Reizen besteht in der Vermeidung von Unlust. Freud nutzt die Gelegenheit zu einer kleinen Zwischenbilanz: »Ich habe den Eindruck, daß wir durch die letzten Überlegungen die Herrschaft des Lustprinzips unserem Verständnis angenähert haben; eine Aufklärung jener Fälle, die sich ihm widersetzen, haben wir aber nicht erreicht.« (GS XIII, 29) Im Kontext seiner grundsätzlichen Überlegungen zum Verhältnis von Lust und Unlust kommt Freud zu einer gemischten Zwischenbilanz, die eine weitere Analyse notwendig macht. Freud geht daher auf den zu Beginn der Schrift eingeführten Begriff des Traumas zurück und kennzeichnet dieses als ein Durchbrechen des Reizschutzes. »Ich glaube, man darf den Versuch wagen, die gemeine traumatische Neurose als die Folge eines ausgiebigen Durchbruchs unseres Reizschutzes aufzufassen.« (GS XIII, 31) Die Vagheit seiner Ausführungen führt zunächst wiederum zu einem Eingeständnis: »Die Unbestimmtheit all unserer Erörterungen, die wir metapsychologische heißen, rührt natürlich daher, daß wir nichts über die Natur des Erregungsvorganges in den Elementen der psychischen Systeme wissen und uns zu keiner Annahme berechtigt fühlen. So operieren wir also stets mit einem großen X, welches wir in jede neue Formel mit hinübernehmen.« (GS XIII, 30f.) Die Frage, die sich dem Aufklärer Freud noch nach über zwanzig Jahren psychoanalytischer Arbeit stellt, ist die nach dem großen X, das seiner Wissenschaft die Grundlage geben könnte. Die Antwort führt ihn endgültig in die Richtung eines Jenseits des Lustprinzips. Freud verspricht den »Ausblick auf eine Funktion des seelischen Apparats, welche, ohne dem Lustprinzip zu widersprechen, doch unabhängig von ihm ist und ursprünglicher scheint als die Absicht des Lustgewinns und der Unlustvermeidung.« (GS XIII, 32) Damit formuliert Freud in Jenseits des Lustprinzips zugleich eine Revision der Traumdeutung: »Hier wäre also die Stelle, zuerst eine Ausnahme von dem Satze, der Traum ist eine Wunscherfüllung, zuzugestehen.« (GS XIII, 32) War Freud bisher davon ausgegangen, alle Träume als ver-

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deckte Wünsche zu begreifen, so scheinen ihm die Erfahrungen der Unfallneurotiker nicht länger als verborgene Wunscherfüllungen lesbar. Freuds beiläufige Mitteilung bedeutet mithin eine Erschütterung des bisher bestehenden psychoanalytischen Systems und führt zu der Frage nach Träumen, die nicht als Wunscherfüllung zu verstehen sind. Als Beispiel dient ihm wiederum die Kriegsneurose. Freud versteht sie als traumatische Neurose, ausgelöst durch eine mechanische Gewalt, die den Reizschutz durchbricht. Wie Freud deutlich macht, geht es um den Versuch, die freigewordene Energie zu binden, um die »Anspruchnahme einer narzisstischen Überbesetzung des leidenden Organs« (GS XIII, 34). Störungen bei dem Versuch, die freien Erregungen zu binden, führen zur Melancholie, wie die Geschichte des Narziss gezeigt hat, der am Ende die Gewalt gegen sich selbst richtet und in einer kannibalischen Form der Selbstverzehrung endet. Die Beantwortung der Frage nach dem geheimnisvollen X, die Freud in seiner Schrift umhertreibt, führt ihn daher in Übereinstimmung mit dem Begriff des Narzissmus zum Problem des Umgangs mit Erregungen von innen zurück, für die kein Reizschutz existiert. Freud geht in diesem Zusammenhang davon aus, die innere Erregung durch Triebe sei als das »wichtigste wie das dunkelste Element der psychologischen Forschung« (GS XIII, 35) zu verstehen, unter der Voraussetzung, der Trieb sei eine freie Energie, die gebunden werden muss, wobei das Scheitern zu neurotischen Erkrankungen führt. Sichtbar wird das Scheitern der Bindung freier Energie am Wiederholungszwang, dem Freud »dämonischen Charakter« (GS XIII, 36) attestiert, weil der Wiederholungszwang dem Lustprinzip zuwiderläuft. Die Frage, um die es ihm geht, ist also die nach dem Zusammenhang von Trieb und Wiederholung. Freud setzt zunächst beim Trieb an: Ein Trieb wäre also ein dem belebten Organischen innewohnender Drang zur Wiederherstellung eines früheren Zustandes, welchen dies Belebte unter dem Einflusse äußerer Störungskräfte aufgeben musste, eine Art von organischer Elastizität, oder, wenn man will, die Äußerung der Trägheit im organischen Leben. (GS XIII, 38)

Den Trieb definiert Freud als Wiederherstellung eines Zustandes, in dem keine psychische Energie frei wäre und also kein Gefühl von Unlust existiere. Im Blick auf die Wiederherstellung spricht Freud daher von »der konservativen Natur des Lebenden« (GS XIII, 38), ohne allerdings eine Auskunft zu geben, worin das eigentliche Ziel der Rückkehr bestehe. Die Antwort gibt er durch den schlichten Hinweis auf den Tod:

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Das Ziel alles Lebens ist der Tod, und zurückgreifend: Das Leblose war früher da als das Lebende. (GS XIII, 40)

Damit ist Freud am Ziel und der Kreisbewegung seiner Schrift zufolge zugleich am Anfang seiner Bemühung um Aufklärung der Frage nach dem Zusammenhang von Wiederholung und Unlust angelangt. Die Rückkehr zum Zustand des Todes sei der erste Trieb, der Wunsch, der das Leben bestimmt, der, zum Leblosen zurückzukehren. Das Leben ist dementsprechend nichts anderes als ein Umweg zum Tode, scheinbare Lebenswächter verwandeln sich in »Trabanten des Todes« (GS XIII, 41). Freud vollzieht damit in Nietzsches Sinne eine Umwertung aller Werte, derzufolge das Leben nur als Täuschung und Verstellung erscheint, dessen eigentliches Ziel im Tod liegt. Für Freud sind die Triebe Trickster, die »den täuschenden Eindruck von Kräften machen, die nach Veränderung und Fortschritt streben, während sie bloß ein altes Ziel auf alten und neuen Wegen zu erreichen trachten.« (GS XIII, 40) Nietzsches Weisheit des Silen aus der Geburt der Tragödie, es sei für den Menschen am besten nicht geboren zu sein, am zweitbesten aber, schnell zu sterben, formuliert Freud in seiner Schrift auf neuer, im wahrsten Sinne des Wortes vertiefter Grundlage. 9 Zugleich aber erhebt der vernünftige Psychoanalytiker Einspruch gegen die Ungeheuerlichkeit seiner Thesen: »Aber besinnen wir uns, dem kann nicht so sein!« (GS XIII, 41) Die Selbstbesinnung nutzt Freud als rhetorische Strategie, um einen Einwand gegen die eigenen Thesen zu formulieren. Der Grund für den Einspruch liegt in der Darstellung der Sexualtriebe als Lebenstriebe, die nicht das Individuum, wohl aber die Gattung überleben lassen. Vor diesem Hintergrund gelangt Freud zu der grundlegenden Unterscheidung von Ichtrieben, die er dem Tod zuordnet, und Sexualtrieben, die er dem Leben zuordnet. Freud macht zugleich deutlich, dass ihn die Konsequenz der eigenen Argumentation schreckt. So »würden wir es als Erleichterung empfinden, wenn unser ganzer Gedankenaufbau sich als irrtümlich erkennen ließe.« (GS XIII, 46) Wiederum trägt Freuds Argumentation der Sache Rechnung, die er darzustellen versucht. In Jenseits des Lustprinzips arbeitet Freud selbst beständig gegen das Lustprinzip an, um das Spiel der unlustvollen Wiederholung, das im Mittelpunkt seiner Schrift steht, metaphorisch in die Darstellung mit hineinzunehmen. Freud setzt daher noch einmal an. Sein Interesse gilt dem Begriff des Todes. Der erste Schritt seiner Argumentation besteht in der Zurückweisung der Vorstellung, der Tod sei etwas Natürliches. Freud verweist in diesem Zusammenhang auf Naturvölker, wo der Einfall des Todes in die 9

Vgl. F. Nietzsche: KSA 1, S. 35. 125

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soziale Gemeinschaft immer auf fremden Einfluss zurückgeht und gerade nicht als natürliches Phänomen wahrgenommen wird. Ein zweites Argument liefert ihm die Biologie, die den Begriff des natürlichen Todes nicht kenne. Seine These untermauert er schließlich noch durch den Verweis auf die Philosophie Schopenhauers. Freuds Argumentation entpuppt sich in diesem Zusammenhang als ein geschickter rhetorischer Trick: Die zunächst plausibel anmutenden Gegenargumente zerfließen ihm unter den Händen, am Ende steht die gleiche ungeheure Einsicht da, die zunächst inakzeptabel ist, nun aber unabweisbar erscheint. Das Prinzip der Wiederholung, das seiner Schrift in Gegenstand und Darstellung zugrunde liegt, bringt Freud immer an den gleichen Punkt und zwingt ihn dazu, immer neue Vorstöße zu wagen: »Versuchen wir kühn, einen Schritt wieter zu gehen.« (GS XIII, 53) Freuds Schrift vollzieht in ihren tastenden und zugleich wohlgesetzten Schritten genau jene Bewegung nach, die er den Trieben unterlegt. Das konservative Spiel der Wiederholungen, das immer an den gleichen Fleck zurückführt, geht mit einem progressiven Spiel des Fortschritts einher, das Freud wie schon in der Traumdeutung als einen Eroberer erscheinen lässt, der neue Horizonte entdeckt, hinter denen sich allerdings immer das alte Reich des Todes verbirgt. Freuds Argumentation führt daher zugleich zu einer Revision der eigenen Libidotheorie. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist wiederum das Phänomen des Narzissmus: »das Ich sei das eigentliche und ursprüngliche Reservoir der Libido« (GS XIII, 55), behauptet Freud, um damit zugleich den Einwand zu formulieren, der der Psychoanalyse schon immer gemacht worden ist, alles aufs Sexuelle zu reduzieren. Darüber hinaus setzt er sich mit dieser Annahme gerade jenem Gegner aus, von dem er sich zu lösen versucht. Jungs Einwand, alle Triebkraft sei Libido, scheint der Narzissmus zunächst zu bestätigen. Aber Freud geht einen anderen Weg als Jung. Auf der einen Seite gesteht er seinem Gegner zu, die Ichtriebe enthielten libidinöse Energie. Damit scheint Jung zunächst Recht zu behalten. Freud vermutet jedoch, dass sich gerade in den Ichtrieben ein Moment verbirgt, das sich nicht auf libidinöse Energien zurückführen lässt. Ein erstes Indiz, das seine These zu stützen vermag, entnimmt Freud dem Sadismus, den er als einen Abkömmling des Todestriebes darstellt, wobei das Phänomen des Masochismus nichts als ein invertierter Sadismus sei. Das Problem, das in Freuds Argumentation auftaucht, besteht darin, dass der Todestrieb keine libidinöse Energie aufweise, dass die Lust in der Wiederholung also durch Unlust geprägt sei. Diesen logischen Widerspruch, demzufolge alle Lust Unlust ist, scheint er zunächst nicht lösen zu können. Die Lösung erhält er überraschenderweise von anderer Seite, von der platonischen Lehre vom Eros aus dem Symposion:

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»An ganz anderer Stelle begegnen wir allerdings einer solchen Hypothese, die aber von so phantastischer Art ist – gewiß eher ein Mythos als eine wissenschaftliche Erklärung – daß ich nicht wagen würde, sie hier anzuführen, wenn sie nicht gerade die eine Bedingung erfüllen würde, nach deren Erfüllung wir streben. Sie leitet nämlich einen Trieb ab von einem Bedürfnis nach Wiederherstellung eines früheren Zustandes.« (GS XIII, 62) Das Problem, das sich Freud im Rekurs auf Platon stellt, ist das nach dem Verhältnis von Mythos und Wissenschaft. Platon hatte den Fortschritt der Philosophie an die Zurückweisung mythischer Erklärungsweisen gebunden, in seinen Dialogen aber selbst immer wieder auf mythische Bilder rekurriert, um den Gegner auf dessen eigenem Feld zu schlagen. Freud geht auf ähnliche Weise vor. Auch er greift auf eine mythische Überlieferung zurück, um aus ihr wissenschaftliche Schlüsse zu ziehen. Der aristophanische Mythos von der Trennung der Geschlechter beschreibt im Symposion den Eros als den Wunsch, die Trennung der Geschlechter wieder rückgängig zu machen, den Wunsch also, einen ursprünglichen Zustand wiederherzustellen, der sich durch eine von keiner Trennungserfahrung bestimmte Form der Identität auszeichnet. Es ist dieses Moment der Wiederherstellung eines früheren Zustandes, das Freud an Platon interessiert. »Sollten wir, dem Wink des Dichterphilosophen folgend, die Annahme wagen, daß die lebende Substanz bei ihrer Belebung in kleine Partikel zerrissen wurde, die seither durch die Sexualtriebe ihre Wiedervereinigung anstreben?« (GS XIII, 63) Freuds Technik ist wiederum hochgradig rhetorisch besetzt. Auf die rhetorische Frage folgt eine Taktik des verzögernden Fortbewegens: »Ich glaube, es ist hier die Stelle, abzubrechen.« (GS XIII, 63) Der Abbruch motiviert jedoch zugleich, gleichsam aus dem Off, dem Jenseits, noch ein paar Worte anzuschließen: »Doch nicht, ohne einige Worte kritischer Besinnung anzuschließen.« (GS XIII, 63) Das Problem, dem sich Freud überantwortet, ist das der eigenen Stellung zu der von ihm vertretenen Thesen: »ich weiß nicht, wie weit ich an sie glaube« (GS XIII, 64), notiert Freud, um den wissenschaftlichen Forscherdrang, der ihn beseelt, auf ein fundamentales Moment des Unwissens zurückzuführen. Im Rahmen der Argumentation erscheint Freud als eigener »advocatus diaboli, der sich darum doch nicht dem Teufel selbst verschreibt.« (GS XIII, 64) Dem Teufel verschreibt sich die Psychoanalyse nicht, weil sie dem Prinzip des methodischen Zweifels folgt, das Descartes in die philosophische Aufklärung eingeführt hat. Im Kontext der Krise von Vernunft und Aufklärung, die der Einbruch des Ersten Weltkrieges in mehr als einem Sinne bedeutete, stellt Freud wiederum die Gefahr des Irrtums deutlich heraus: »Man kann dabei glücklich geraten haben oder schmählich in die Irre gegangen sein.« (GS XIII, 64) Weder das glückliche Raten noch das

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schmähliche Irren scheint den goldenen Weg zu markieren, der zum wissenschaftlichen Erfolg führt. Vor dem Hintergrund der Auffassung, dass es ein Jenseits des Lustprinzips gibt als »dem allgemeinsten Streben alles Lebenden, zur Ruhe der anorganischen Welt zurückzukehren« (GS XIII, 68), wenn der Tod also das Ziel des Lebens ist, bleibt der Wissenschaft aber wenig mehr übrig. In diesem Sinne ist Jenseits des Lustprinzips in der Tat eine Hadesfahrt, die den neuen Weg der Psychoanalyse aufzeigt und zugleich zur Bescheidenheit mahnt, indem sie ein zerbrechliches und verwundbares Ich an den Tag fördert, dessen prekäre Stellung zwischen inneren und äußeren Reizen Freud in Das Ich und das Es weiter herausarbeitet.

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IX. D E R D U M M E A U G U S T . DAS ICH UND DAS ES In der Traumdeutung hatte Sigmund Freud den Begriff des Unbewussten als das eigentliche Korrelat der psychoanalytischen Erkenntnis eingeführt. »Die Traumdeutung aber ist die Via regia zur Kenntnis des Unbewußten im Seelenleben« (GS II, 613), formuliert Freud im Blick auf den Zusammenhang von Traum und Unbewusstem, demzufolge jedem Traum eine Wunscherfüllung zugrunde liege. Wie Jenseits des Lustprinzips gezeigt hat, zwangen die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges Freud dazu, die frühere Auffassung Schritt für Schritt aufzugeben. An die Stelle des Zusammenhangs von Traum und Wunscherfüllung tritt der von Trauma und Wiederholung, der zugleich zu einer Revision des frühen Konzepts des Unbewussten führt, die in den metapsychologischen Schriften Jenseits des Lustprinzips und Das Ich und das Es zum Tragen kommt. Die Kontinuität, die zwischen Jenseits des Lustprinzips und Das Ich und das Es besteht, hat Freud selbst einleitend hervorgehoben. »Nachstehende Erörterungen setzen Gedankengänge fort, die in meiner Schrift ›Jenseits des Lustprinzips‹ begonnen wurden, denen ich persönlich, wie dort erwähnt ist, mit einer gewissen wohlwollenden Neugierde gegenüber stand.« (XIII, 237) Wie schon in der Traumdeutung macht Freud das seit Petrarcas Besteigung des Mont Ventoux zentrale Moment der Neugierde für den Fortschritt wissenschaftlicher Erkenntnis geltend, um seine Ausführungen einzuleiten. Im Unterschied zu Petrarca erreicht Freud die neuen Ergebnisse seiner Forschung jedoch nicht durch den Aufstieg in die Höhen der Bergwelt, sondern durch den Abstieg in die Niederungen der Psyche. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist eine harsche Selbstkritik, die das bisher Erreichte radikal in Frage stellt: »Fünfundzwanzig Jahre intensiver Arbeit haben es mit sich gebracht, daß die nächsten Ziele der psychoanalytischen Technik heute ganz andere sind als zu Anfang« (XIII, 16), hält Freud fest, um den Weg der Psychoanalyse von der Frage nach der Deutbarkeit der Träume bis zum Problem der Wiederholung zu kennzeichnen:

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DAS SCHIBBOLETH DER PSYCHOANALYSE

Dann aber wurde es immer deutlicher, daß das gesteckte Ziel, die Bewusstmachung des Unbewußten, auch auf diesem Wege nicht voll erreichbar ist. Der Kranke kann von dem in ihm Verdrängten nicht alles erinnern, vielleicht gerade das Wesentliche nicht, und erwirbt so keine Überzeugung von der Richtigkeit der ihm mitgeteilten Konstruktion. Er ist vielmehr genötigt, das Verdrängte als gegenwärtiges Erlebnis zu wiederholen, anstatt es, wie der Arzt es lieber sähe, als ein Stück Vergangenheit zu erinnern. (GS XIII, 16)

Das Gelingen der anamnetischen Kur durch die heilende Kraft der Erinnerung stellt das Wiederholungsprinzip radikal in Frage. So scheinen Freuds Ausführungen einem Eingeständnis des Scheiterns gleichzukommen, das in seinen späten Schriften immer wieder durchscheint. Vor diesem Hintergrund erfolgt die Korrektur an der frühen Unterscheidung von Bewusstem und Unbewusstem als ein ebenso notwendiger wie folgerichtiger Schritt, der die Psychoanalyse auf veränderte Grundlagen stellt, indem sie die neue Terminologie des Es, des Ich und des Überich einführt. Erscheint das neue Instanzenmodell zunächst auch als Bruch mit der frühen Konzeption des Unbewussten aus der Traumdeutung, so ergeben sich jedoch zugleich in der Differenz Kontinuitäten. Dass es sich in Das Ich und das Es keineswegs um einen radikalen Bruch mit früheren Auffassungen handelt, erläutert Freud einleitend selbst am Begriff des Unbewussten. »Die Unterscheidung des Psychischen in Bewußtes und Unbewußtes ist die Grundvoraussetzung der Psychoanalyse und gibt ihr allein die Möglichkeit, die ebenso häufigen als wichtigen pathologischen Vorgänge im Seelenleben zu verstehen, der Wissenschaft einzuordnen.« (GS XIII, 239) Als Schibboleth der Psychoanalyse behält der Begriff des Unbewussten seine Funktion, den wissenschaftlichen Anspruch der Psychoanalyse zu legitimieren und von konkurrierenden Modellen abzuheben. Dennoch sieht sich Freud gezwungen, Differenzierungen vorzunehmen, um eine größere begriffliche Klarheit zu erlangen. Freud zufolge existiert das Unbewusste in zweierlei Form: als Vorbewusstes, das grundsätzlich bewusstseinsfähig ist, und als Unbewusstes, das sich dem Bewusstsein durch die Verdrängung entzieht: Wir heißen das Latente, das nur deskriptiv unbewußt ist, nicht im dynamischen Sinne, vorbewußt; den Namen unbewußt beschränken wir auf das dynamisch unbewußte Verdrängte, so daß wir jetzt drei Termini haben, bewußt (bw), vorbewußt (vbw) und unbewußt (ubw), deren Sinn nicht mehr rein deskriptiv ist. (GS XIII, 241)

Die Unterscheidung von einem deskriptivem und einem dynamischen Sinn des Unbewussten führt zur Abgrenzung des Unbewussten vom Vorbewussten. Damit scheint Freud die terminologischen Schwierigkeiten, 130

DER DUMME AUGUST. DAS ICH UND DAS ES

die sich ihm stellten, zunächst gelöst zu haben. Jenseits terminologischer Fragen ergeben sich für die Psychoanalyse jedoch noch weitere Schwierigkeiten, die in der Instanz des Ich begründet liegen. »Wir haben uns die Vorstellung von einer zusammenhängenden Organisation der seelischen Vorgänge in einer Person gebildet und heißen diese das Ich derselben.« (GS XIII, 243) In der Traumdeutung hatte das Ich als Schlafendes noch keine Rolle gespielt. Das Erwachen der Psychoanalyse aus dem Traum der Wunscherfüllung scheint zunächst mit einer enormen Stärkung der Instanz des Ich einherzugehen: An diesem Ich hängt das Bewußtsein, es beherrscht die Zugänge zur Motilität, das ist: zur Abfuhr der Erregungen in die Außenwelt; es ist diejenige seelische Instanz, welche eine Kontrolle über all ihre Partialvorgänge ausübt, welche zur Nachtzeit schlafen geht und dann immer noch die Traumzensur handhabt. Von diesem Ich gehen auch die Verdrängungen aus, welche gewisse seelische Strebungen nicht nur vom Bewußtsein, sondern auch von den anderen Arten der Geltung und Betätigung ausgeschlossen werden sollen. (GS XIII, 243)

Freud führt das Ich als einen Herrscher ein, der sowohl im Wachen wie im Träumen die Kontrolle über die Bewussteinsfunktionen ausübt. Wenn er das Ich als diejenige Instanz anspricht, von der die Verdrängungen ausgeht, dann spielt er auf einen anderen Sachverhalt an: den Zusammenhang von Verdrängung und Widerstand. Als Verantwortlicher für die Verdrängung verkörpert das Ich diejenige Instanz, deren Hauptinteresse im Widerstand gegen die Aufdeckung des Verdrängten besteht. Da der Widerstand für Freud aber selbst als Zeichen des Unbewussten gilt, steht er vor einem neuen Problem. Als Ort der Verdrängung und des Widerstands ist das Ich zugleich von der Macht des Unbewussten getroffen: »Da aber dieser Widerstand sicherlich von seinem Ich ausgeht und diesem angehört, so stehen wir vor einer unvorhergesehenen Situation. Wir haben im Ich selbst etwas gefunden, was auch unbewußt ist, sich gerade so benimmt wie das Verdrängte, das heißt starke Wirkungen äußert, ohne selbst bewußt zu werden, und zu dessen Bewußtmachung es einer besonderen Arbeit bedarf.« (GS XIII, 244) Das scheinbar souveräne Ich, das selbst im Schlaf als Traumzensor noch über den Zugang zum Bewusstsein entscheidet, beherbergt in seinem Herzen diejenige Kraft, die ihm am fremdesten erscheint, das Unbewusste. Die Konsequenz aus Freuds Überlegungen liegt in dem Schluss, dass der Begriff der Verdrängung keineswegs mit dem des Unbewussten zusammenfällt. Vielmehr stellt Freud fest: »Auch ein Teil des Ichs, ein Gott weiß wie wichtiger Teil des Ichs, kann ubw sein, ist sicherlich ubw.« Damit scheint sich aber die Frage nach einer Form des Unbewussten aufzudrängen, das nicht der

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DAS SCHIBBOLETH DER PSYCHOANALYSE

Verdrängung entspringt. Die unmittelbare Folge von der Annahme eines unbewussten Teils des Ichs ist die Tatsache, »daß der Charakter des Unbewußten für uns an Bedeutung verliert.« (GS XIII, 244f.) Mit dem Unbewussten droht der Psychoanalyse der Verlust ihres Schibboleths, der Verlust ihres Anspruches, eine Wissenschaft zu sein, die sich durch einen ihr spezifischen Gegenstand von anderen Formen der Wissenschaft unterscheidet. Mit der Unterscheidung zwischen bewussten und unbewussten Phänomen verliert die Psychoanalyse, »die einzige Leuchte im Dunkel der Tiefenpsychologie.« (GS XIII, 245) Die Gefahr, die der Psychoanalyse droht, ist wie bereits in Jenseits des Lustprinzips die, sich im Dunkel der Unterwelt zu verirren. Das will Freud durch eine neue Terminologie vermeiden. Vor diesem Hintergrund führt Freud die Begriffe des Es und des Ich ein, um die Psychoanalyse an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen, in dem sie zu versinken droht. Den Ausgangspunktspunkt seiner Überlegungen bildet das »Bewußtsein als Oberfläche des seelischen Apparates« (GS XIII, 247). Freud greift wiederum auf ein räumliches Modell zurück, um den bewussten Teil des Ich in ähnlicher Weise wie in Jenseits des Lustprinzips als einen Ort zu lokalisieren, der eine eigentümliche Zwischenposition inne hat, der zufolge er in der beständigen Auseinandersetzung mit den inneren Trieben und den äußeren Sinnesreizen zu kämpfen hat. Die Unterscheidung von Ich und Es führt daher zu einer neuen Auffassung von der topischen und dynamischen Struktur des Unbewussten. Wie in Jenseits des Lustprinzips verbindet Freud seine Darstellung des Bewussteins mit der der Erinnerung. Er greift wiederum auf den Begriff der Erinnerungsspur zurück, um zunächst auf die Verbindung des Bewusstseins mit Wortvorstellungen einzugehen: Diese Wortvorstellungen sind Erinnerungsreste, sie waren einmal Wahrnehmungen und können wie alle Erinnerungsreste wieder bewußt werden. Ehe wir noch weiter von ihrer Natur handeln, dämmert uns wie eine neue Einsicht auf: bewußt werden kann nur das, was schon einmal bw Wahrnehmung war, und was außer Gefühlen von innen her bewußt werden will, muß versuchen, sich in äußere Wahrnehmungen umzusetzen. Dies wird mittels der Erinnerungsspuren möglich. (GS XIII, 247)

Freud bestätigt in Das Ich und das Es, was er in Jenseits des Lustprinzips entwickelt hat: Das Vergessen ist ursprünglicher als das Erinnern. Die Erinnerung definiert Freud als Dauerspur, die allen bewussten Wahrnehmungen gegenüber vorgängig ist: Nur was als Spur vorliegt, kann auch ins Bewusstsein rücken. Das System der Wahrnehmung verweist auf die ihr zugrunde liegende Erinnerungsspur. Freud legt damit ein Modell von Bewusstsein und Erinnerung vor, das sich, wie insbesondere Lacan fest132

DER DUMME AUGUST. DAS ICH UND DAS ES

gehalten hat, jeder Form der Philosophie widerspricht, die sich auf das Bewusstsein konzentriert. 1 Dem cartesischen Cogito setzt Freud das Unbewusste als das »Ungedachte« 2 entgegen. Zwischen Cogito und Ungedachtem bewegt sich Freud, da er das Ich und das Unbewusste zusammen denkt. Das Ich steht auf der Schnittstelle von Wahrnehmung und vorbewussten bzw. unbewussten Erinnerungsspuren: »Wir sehen es vom System W als seinem Kern ausgehen und zunächst das Vbw, das sich an die Erinnerungsreste anlehnt, umfassen. Das Ich ist aber auch, wie wir erfahren haben, unbewußt.« (GS XIII, 251) Den Kern des Ich, daran hält Freud fest, bildet die Wahrnehmung. Um diesen Kern herum siedelt er das Vorbewusste und das Unbewusste an. Die Schwierigkeiten, das Ich in ein Verhältnis zum Unbewussten zu setzen, führen zur Einführung der neuen Terminologie, die Freud im Anschluss an Groddecks Begriff des Es entwickelt: »Ich schlage vor, ihr Rechnung zu tragen, indem wir das vom System W ausgehende Wesen, das zunächst vbw ist, das Ich heißen, das andere Psychische aber, in welches es sich fortsetzt, und das sich wie ubw verhält, nach Groddecks Gebrauch das Es.« (GS XIII, 251) Vor diesem Hintergrund fasst Freud zusammen: Ein Individuum ist nun für uns ein psychisches Es, unerkannt und unbewußt, diesem sitzt das Ich oberflächlich auf, aus dem W-System als Kern entwickelt. Streben wir nach graphischer Darstellung, so werden wir hinzufügen, das Ich umhüllt das Es nicht ganz, sondern nur insoweit das System W dessen Oberfläche bildet, also etwa so wie die Keimscheibe dem Ei aufsitzt. Das Ich ist vom Es nicht scharf getrennt, es fließt nach unten hin mit ihm zusammen. (GS XIII, 251)

Noch einmal unterstreicht Freud, dass es sich bei der Instanz des Ich um eine Oberflächenstruktur handelt. Mit dem Bild des Ich, das dem Es nur oberflächlich aufsitzt, entwickelt Freud ein liminales Modell, demzufolge die Grenzen zwischen Es und Ich verschwimmen: Als Oberfläche ist das Ich vom Es ebenso getrennt wie es mit ihm verbunden ist. Um die eigentümliche Position des Ich festzuhalten, greift Freud erneut auf ein Gleichnis zurück: 1

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»Gerade unsere spezielle Erfahrung stellt uns jeder Philosophie entgegen, die sich unmittelbar vom cogito herleitet.« Jacques Lacan: »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion«, in: Schriften I, Weinheim/Berlin 1986, S. 63-70, hier S. 63. Zum Cogito und dem Ungedachten, mit dem er den Gegensatz von Phänomenologie und Psychoanalyse aufnimmt, vgl. Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt/ Main 1974, S. 389-396. 133

DAS SCHIBBOLETH DER PSYCHOANALYSE

Die funktionelle Wichtigkeit des Ichs kommt darin zum Ausdruck, daß ihm normaler Weise die Herrschaft über die Zugänge zur Motilität eingeräumt ist. Es gleicht so im Verhältnis zum Es dem Reiter, der die überlegene Kraft des Pferdes zügeln soll, mit dem Unterschied, daß der Reiter dies mit eigenen Kräften versucht, das Ich mit geborgten. Dieses Gleichnis trägt ein Stück weiter. Wie dem Reiter, will er sich nicht vom Pferd trennen, oft nichts anderes übrig bleibt, als es dahin zu führen, wohin es gehen will, so pflegt auch das Ich den Willen des Es in Handlung umzusetzen, als ob es der eigene wäre. (GS XIII, 253)

Der Vergleich von Ich und Es mit Reiter und Pferd scheint die zentrale Position des Ich als Kontrollinstanz zunächst zu bestätigen. Als Herrscher über die Zugänge zum Bewusstsein zwingt der Reiter dem Pferd seinen Willen auf. Das Gleichnis verkehrt die Ausgangsposition jedoch schnell in ihr Gegenteil: In Wirklichkeit, so Freuds Darstellung, gehorcht der Reiter dem Pferd, dessen Willen er als den eigenen auslegt. Die Stellung des Ich als monarchischer Herrscherfigur beginnt zu bröckeln, der König wird zum Bettler. Um das Ich in seiner prekären Situation darzustellen, greift Freud zunächst auf den dritten Begriff seines neuen Instanzenmodells zurück: das Über-Ich oder Ich-Ideal. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist wiederum der Zusammenhang von Narzissmus und Melancholie. Bereits in Trauer und Melancholie hatte Freud den Prozess der Charakterbildung durch die Verarbeitung schmerzhafter Verluste gekennzeichnet, wobei der erste Schritt sowohl in der Trauer als auch in der Melancholie in der Ablösung einer Objektbesetzung durch eine Identifizierung besteht, durch die Objektlibido in narzisstische Libido verwandelt wird. Freud verbindet dieses Ausgangskonstellationen mit seiner Theorie des Ödipalen. Die Entstehung des Ich-Ideals führt Freud auf die Identifizierung mit dem Vater zurück. Freud gibt den Hinweis auf »die dreieckige Anlage des Ödipusverhältnisses und die konstitutionelle Bisexualität des Individuums« (GS XIII, 259f.), um an seine früheren Überlegungen anschließen zu können. Zugleich formuliert er eine Korrektur des früheren Modells: »Man gewinnt nämlich den Eindruck, daß der einfache Ödipuskomplex überhaupt nicht das häufigste ist, sondern einer Vereinfachung oder Schematisierung entspricht, die allerdings oft genug praktisch gerechtfertigt bleibt.« (GS XIII, 261) Der Grund für dieses Eingeständnis ist die komplexe Ausgangslage, die durch die Bisexualität des menschlichen Wesens entsteht und das Resultat des Ödipuskomplexes als Vateroder Mutteridentifizierung kennzeichnet. In diesem Kontext führt Freud den Begriff des Über-Ich ein:

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DER DUMME AUGUST. DAS ICH UND DAS ES

So kann man als allgemeines Ergebnis der vom Ödipuskomplex beherrschten Sexualphase einen Niederschlag im Ich annehmen, welcher in der Herstellung dieser beiden, irgendwie miteinander vereinbarten Identifizierungen besteht. Diese Ichveränderung behält ihre Sonderstellung, sie tritt dem anderen Inhalt des Ichs als Ichideal oder Über-Ich entgegen. (GS XIII, 262)

Der Ödipuskomplex ist Freud zufolge ein Korrelat des Über-Ich, entlehnt der Instanz des Vaters bzw. dem Elterneinfluss. Dabei verkörpert die Instanz des Über-Ich, die Freud in ähnlicher Weise wie Nietzsches Kulturkritik durch den Begriff des Ressentiments für Moral, Religion etc. verantwortlich macht, keineswegs eine Instanz, die sich dem Bewusstsein zuordnen lässt. Vielmehr führt das Über-Ich auf die mächtige Rolle des Es zurück: »Das Ichideal ist also der Erbe des Ödipuskomplexes und somit Ausdruck der mächtigsten Regungen und wichtigsten Libidoschicksale des Es. Durch seine Aufrichtung hat sich das Ich des Ödipuskomplexes bemächtigt und gleichzeitig sich selbst dem Es unterworfen.« (GS XIII, 264) Im Über-Ich erblickt Freud die Unterwerfung des Ich unter das Es. Das Über-Ich bestimmt er daher als »Anwalt der Innenwelt, des Es« (GS XIII, 264). Das Über-Ich verkörpert keineswegs eine äußere Instanz, sondern eine innere Stimme, die für die Unterwerfung des Individuums unter Schuld und Gewissen verantwortlich ist. Freud wendet sich daher abschließend der Frage nach der Schuld zu, die bereits seine Auseinandersetzung mit der Geschichte des König Ödipus geleitet hatte. Ausgangspunkt ist wiederum das Phänomen der Melancholie, das er als vollständige Unterwerfung unter das Gericht des Über-Ichs definiert. Die Melancholie verkörpert für Freud die Gefahr der völligen Selbstvernichtung durch eine »Reinkultur des Todestriebes« (GS XIII, 283) in der vollständigen Identifizierung mit der Schuld. In Freuds Argumentation gerät das Ich zunehmend ins Hintertreffen. Aus dem konstitutionellen Monarchen verwandelt es sich in ein armes Ding, in ein Aschenputtel: Aber anderseits sehen wir dasselbe Ich als armes Ding, welches unter dreierlei Dienstbarkeiten steht und demzufolge unter den Drohungen von dreierlei Gefahren leidet, von der Außenwelt her, von der Libido des Es und von der Strenge des Über-Ichs. Dreierlei Arten von Angst entsprechen diesen drei Gefahren, denn Angst ist der Ausdruck eines Rückzuges vor der Gefahr. Als Grenzwesen will das Ich zwischen der Welt und dem Es vermitteln, das Es der Welt gefügig machen und die Welt mittels seiner Muskelaktionen dem Es-Wunsch gerecht machen. Es benimmt sich eigentlich wie der Arzt in einer analytischen Kur, indem es sich selbst mit seiner Rücksichtnahme auf die reale Welt dem Es als Libidoobjekt empfiehlt und dessen Libido auf sich lenken will. Es ist nicht nur der Helfer des Es, auch sein unterwürfiger Knecht, der um die Liebe seines 135

DAS SCHIBBOLETH DER PSYCHOANALYSE

Herrn wirbt. Er sucht, wo möglich, im Einvernehmen mit dem Es zu bleiben, überzieht dessen ubw Gebote mit seinen vbw Rationalisierungen, spiegelt den Gehorsam des Es gegen die Mahnungen der Realität vor, auch wo das Es starr und unnachgiebig geblieben ist, vertuscht die Konflikte des Es mit der Realität und wo möglich auch die mit dem Über-Ich. In seiner Mittelstellung zwischen Es und Realität unterliegt es nur zu oft der Versuchung, liebesdienerisch, opportunistisch und lügnerisch zu werden, etwa wie ein Staatsmann, der bei guter Einsicht sich doch in der Gunst der öffentlichen Meinung behaupten will. (GS XIII, 286f.)

Eingeführt hatte Freud das Ich als Herrscher über die Zugänge der Motilität, dessen Macht bis in den Schlaf hineinreicht. Am Schluss seine Abhandlung hat sich die Situation in ihr Gegenteil verkehrt: Das Ich gilt der Psychoanalyse als »armes Ding«, als Aschenputtel, dem es nicht gelingt, sich aus seinen Dienstbarkeiten zu befreien, als dummer August: »Das Ich spielt dabei die lächerliche Rolle des dummen August im Zirkus, der den Zuschauern durch seine Gesten die Überzeugung beibringen will, dass sich alle Veränderungen in der Manege nur infolge seines Kommandos vollziehen.« 3 Die Grundlage des Umschlags von der optimistischen zur skeptischen Auffassung über die Möglichkeiten des Ich ist seine Mittelstellung zwischen anderen Instanzen, die seinen Einfluss beschränken: Als »Grenzwesen« spricht Freud das Ich an, um seine Vermittlungsversuche zugleich in den Kontext von Lüge und Verstellung zu stellen: »liebesdienerisch, opportunistisch und lügnerisch« ist das Ich, da es sich jederzeit strategisch verhalten muss wie ein Politiker, der die unangenehme Wahrheit vor der öffentlichen Meinung verbergen muss. Als scheinbarer Herrscher über die Welt des Bewusstseins ist das Ich zugleich ein »unterwürfiger Knecht« des Ich, dessen mächtigem Willen er unterliegt, indem er ihm Raum schafft. Aus dem Löwen ist ein Fuchs geworden, dem die Klugheit nach dem Vorbild Graciáns die Kunst der Verstellung gebietet: »Nie tut sie das, was sie vorgibt, sondern zielt nur, um zu täuschen. Mit Geschicklichkeit macht sie Luftstreiche; dann aber führt sie in der Wirklichkeit etwas Unerwartetes aus, stets darauf bedacht, ihr Spiel zu verbergen.« 4 Zielt Graciáns Lob der List auf ein souveränes Ich, das durch die Odysseus abgelesene Kunst der Affektbeherrschung situativ richtig handelt, um den eigenen Anspruch durchzusetzen, so gibt Freuds Ich jedoch das traurige Bild eines betrogenen Betrügers, eines Helden, der beständig in die Stricke der eigenen Anschläge fällt. Als Grenzwesen muss das Ich der Verstellung vertrauen, um das eigene Überleben in einem Zwischen3 4

H.-M. Lohmann/J. Pfeiffer (Hg.), Freud-Handbuch, S. 275. Balthasar Gracián: Handorakel und Kunst der Weltklugheit, Stuttgart 1954, S. 10. 136

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bereich zu sichern, den es nicht verlassen kann. So gehen Liminalität und Verstellung in Freuds Theorie des Ich eine Symbiose ein, die sich in ähnlicher Weise wie bei Nietzsche einer negativen Anthropologie verdankt, die dem selbstbewussten Denken deutliche Grenzen einschreibt. Dem Denken der Aufklärung verpflichtet sich Freud nicht durch den Glauben an die unbeschränkte Macht der Vernunft, sondern durch die Einsicht in die marginale Rolle, die dem Ich und nicht zuletzt der eigenen Existenz zukommt. Dies zum Thema zu machen, bleibt seiner letzten Schrift Der Mann Moses und die monotheitische Religion vorbehalten.

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X. U N E R L Ö S T E G E I S T E R . D E R M A N N M O S E S In der Traumdeutung hatte sich Freud als Eroberer vorgestellt, der wie der Seefahrer Kolumbus dem Denken neue Kontinente erschließt. Die triumphale Geschichte der Entdeckung des Unbewussten als dem neuen Reich, das der Psychoanalyse ihre volle Existenzberechtigung verleiht, führte Freud zugleich zur Tragödie des Ödipus, der sich gegen seinen Vater aufrichtet, diesen erschlägt und als König und Ehemann der eigenen Mutter an dessen Stelle rückt. Als die Schwierigkeiten der einmal als Wissenschaft etablierten Psychoanalyse sich von äußeren Widerständen auf innere Konflikte um Freud, Adler und Jung verlagerten, reagierte Freud, indem er die Figur des Narziss in seine Lehre einführte und zugleich eine selbst tendenziell narzisstische Geschlossenheit des Systems zu erreichen suchte, indem er den Zusammenhang von Ich, Es und ÜberIch zum Zentrum seiner Lehre machte. In dem Maße, in dem das Ich von Freud jedoch als die »die eigentliche Angststätte« 1 (GS XIII, 287) gekennzeichnet wird, schreibt sich eine skeptische Grundhaltung in die Psychoanalyse ein, die sowohl die nur scheinbar zentrale Funktion des liminalen Ich als auch den wissenschaftlichen Fortschritt betrifft. Nach den ebenso spektakulären wie umstrittenen Ergebnissen, die insbesondere Jenseits des Lustprinzips und Das Ich und das Es zu Tage gefördert haben, nimmt die Resignation Freuds angesichts der dürftigen Ergebnisse der eigenen Arbeit immer mehr zu. Das zeigt sich nicht nur in seinen späten kulturkritischen Schriften, sondern auch im Rückblick auf die Entwicklung der Psychoanalyse, der wenig verheißungsvoll ausfällt: »aber es ist doch richtig zu sagen, daß ich seit der Aufstellung der zwei Triebarten (Eros und Todestrieb) und der Zerlegung der psychischen Persönlichkeit in Ich, Über-Ich und Es (1923) keine entscheidenden Beiträge mehr zur Psychoanalyse geliefert, und was ich später geschrieben habe, hätte schadlos wegbleiben können oder wäre bald von anderer Seite bei1

»Die eigentümliche Position der Angst, marginal und zentral zugleich«, unterstreicht Samuel Weber: Freud-Legende, S. 71. Er zieht die entsprechende Konsequenz: »Wenn das Ich deshalb der ›Sitz‹ der Angst ist, so ist umgekehrt die Angst die Stätte des Ich.« Samuel Weber, Freud-Legende, S. 78. 139

DAS SCHIBBOLETH DER PSYCHOANALYSE

gebracht worden. Dies hing mit einer Wandlung bei mir zusammen, mit einem Stück regressiver Entwicklung, wenn man es so nennen will.« (GS XVI, 32) Als Grund für diese düstere Selbsteinschätzung gibt Freud das grundsätzliche Unbehagen an der Kultur an. Der Fortschritt der wissenschaftlichen Arbeit, den er seit der Traumdeutung erhofft hatte, bleibt jedenfalls aus. An seine Stelle tritt der Eindruck einer völligen Regression der eigenen Arbeiten, die Freud in seiner letzten Schrift jedoch zugleich zu einer Figur führt, die ihn schon früher beschäftigt hat, zu Moses. Als letzte Schrift des Gründers der Psychoanalyse kommt dem Mann Moses eine fast testamentarische Verfügungsgewalt zu, die zugleich zu Kontroversen über den wissenschaftlichen Gehalt des Werkes geführt hat. Über den religionswissenschaftlichen Wert der Arbeit urteilt Peter Schäfer, es »lässt sich zunächst leidenschaftslos feststellen, dass religionsgeschichtlich so ziemlich nichts daran stimmt.« 2 Mit der Frage nach dem wissenschaftlichen Gehalt der Schrift geht die Frage nach ihrem problematischen Darstellungscharakter einher. Robert Bernstein erkennt in Der Mann Moses »eine seiner umstrittensten, problematischsten wie zugleich anregendsten Arbeiten« 3 , vermerkt aber zugleich, es handle sich um »ein Buch, das offensichtlich ungeschickt und behäbig geschrieben ist« 4 . Der äußerst kontrovers beurteilte Wert der Arbeit geht auf einen Polyperspektivismus zurück, der sich mit einer eigentümlichen Darstellungstechnik verbindet. Über die unterschiedlichen Zugänge, die Der Mann Moses dem Leser öffnet, notiert Ilse Grubrich-Simitis: »Es ist jedenfalls vielerlei zugleich: Religionspsychologie, Bibelkritik, fiktive Umschrift eines Mythos, Geschichte der Freudschen Theoriebildung, Monographie über die Entstehung individueller und kollektiver Neurose, Rekapitulation der Kulturtheorie, Psychohistorie, politisches Traktat, metaphorische Selbstdarstellung.« 5 Im gleichen Zuge stellt sie im Blick auf das heterogene Material der Arbeit fest, »mit einem wie untypischen Werk« Freuds sie es zu tun habe, um die Manuskriptlandschaft mit einem »zerklüfteten Steinbruch« 6 zu vergleichen. Der Schrift unterstellt sie »eine seltsame Brüchigkeit« 7 , die nicht zuletzt darin begründet liegt, dass es sich um drei Abhandlungen »von geradezu exzentrischer Umfangver2 3 4 5 6 7

Peter Schäfer: Der Triumph der reinen Geistigkeit. Sigmund Freuds ›Der Mann Moses und die monotheistische Religion‹, Berlin/Wien 2003, S. 25. Richard J. Bernstein: Freud und das Vermächtnis des Moses, Berlin/Wien 2003, S. 9. R.J. Bernstein: Freud und das Vermächtnis des Moses, S. 14. Ilse Grubrich-Simitis: Freuds Moses-Studie als Tagtraum, Weinheim 1991, S. 26. Ebd., S. 13. Ebd., S. 9. 140

UNERLÖSTE GEISTER. DER MANN MOSES

schiedenheit« 8 handelt. Die Schwierigkeiten, Gehalt und Ziel der Schrift zu bestimmen, verstärken sich noch durch Freuds eigene Aussagen und Notizen. In einer frühen Einleitung hatte er sogar dazu tendiert, die Grenze von Wissenschaft und Literatur im Begriff des »historischen Romans« vollständig aufzuheben. Am 9. August 1934 schreibt Freud unter der Überschrift Der Mann Moses. Ein historischer Roman: Wie die geschlechtliche Vereinigung von Pferd und Esel zwei verschiedene Hybriden den Ursprung giebt, dem Maulthier und dem Maulesel, so läßt auch die Vermengung von Geschichtsschreibung und freier Erfindung verschiedene Produkte entstehen, die unter der gemeinsamen Beziehung ›historischer Roman‹ bald als Historien, bald als Romane gewürdigt werden wollen – die einen von ihnen handeln von Personen und Begebenheiten, die historisch bekannt sind, aber sie legen es nicht darauf an, deren Eigenart getreu wiederzugeben. Sie entlehnen zwar das Interesse von der Historie, aber ihre Absicht ist die des Romans; sie wollen eindrucksvolle Schilderungen entwerfen und auf die Affekte wirken. Andere dieser literarischen Schöpfungen benehmen sich gerade entgegengesetzt. Sie tragen kein Bedenken, Personen und selbst Begebenheit zu erfinden, wenn sie hoffen, den eigentümlichen Charakter einer historischen Epoche durch diese Hilfsmittel besonders zutreffend beschreiben zu können. Was sie anstreben, ist also in erster Linie geschichtliche Wahrheit trotz der eingestandenen Erdichtung. Anderen noch gelingt es, die Ansprüche der Kunstschöpfung mit denen der historischen Treue ein Stück weit oder weitgehend zu versöhnen. Wieviel Dichtung sich noch gegen die Absicht des Geschichtsschreibers in seine Darstellung einschleicht, bedarf nur einer leisen Andeutung. 9

Wenn Freud von einem historischen Roman spricht, dann bezieht er sich nicht nur auf Thomas Manns Josephs-Tetralogie, 10 sondern zugleich auf das grundsätzliche Verhältnis von Literatur und Geschichtsschreibung zurück, das schon Aristoteles in der Poetik diskutiert hatte. Freud, nach frühen Briefen und dem Urteil Sander L. Gilmans zufolge »ein prosaischer Jude« 11 , dem es bereits in den Studien über Hysterie um eine der Novelle vergleichbare Überführung der Tragödie in Erzählformen ging, setzt sich auch in seiner letzten Schrift mit dem Zusammenhang von Wissenschaft und Erzählung auseinander. In der Poetik hatte Aristoteles festgestellt, »daß es nicht Aufgabe des Dichters ist mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr was geschehen könnte, d. h. das 8 9

Ebd., S. 17. Yosef Hayim Yerushalmi: Freuds Moses. Endliches und unendliches Judentum, Berlin 1992, S. 36f. 10 Vgl. M. Lohmann/J. Pfeiffer (Hg.), Freud-Handbuch, S. 182. 11 S.L. Gilman: Freud, Identität und Geschlecht, S. 51. 141

DAS SCHIBBOLETH DER PSYCHOANALYSE

nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit Mögliche.« 12 Den Unterschied zwischen dem Dichter und dem Geschichtsschreiber verlegt Aristoteles nicht in die Differenz zwischen Vers und Prosa, sondern in die zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit des Geschehenen. »Daher ist Dichtung etwas Philosophischeres und Ernsthafteres als Geschichtsschreibung; denn die Dichtung teilt mehr das Allgemeine, die Geschichtsschreibung hingegen das Besondere mit.« 13 An eben diesen Vorzug der Dichtung vor der Geschichtsschreibung scheint auch Freud anzuschließen, wenn er sich auf den Begriff der poetischen Wahrscheinlichkeit beruft. Dennoch geht Freud wiederum seinen eigenen Weg: »Wenn aber ich, der weder Geschichtsforscher noch Künstler ist, eine meiner Arbeiten als ›historischen Roman‹ einführe, so muß dieser Name noch eine andere Verwendung zulassen. Ich bin zur sorgsamen Beobachtung eines gewissen Erscheinungsgebiets erzogen, an Erdichtung und Erfindung knüpft sich für mich leicht der Makel des Irrtums.« 14 Freud unterstreicht den wissenschaftlichen Anspruch seiner Abhandlung, um sich von dem Vorwurf der Erdichtung und Erfindung frei zu sprechen. Das Ziel der Untersuchung liege weder in historischer Wirklichkeit noch in literarischer Möglichkeit, sondern darin, »eine Kenntnis der Person des Moses zu gewinnen«, um »auf solche Art zur Lösung eines noch heute aktuellen Problems beizutragen, das erst späterhin genannt werden kann.« 15 Den Begriff des historischen Romans rechtfertigt Freud in diesem Zusammenhang, weil er es erlaube, im Bereich der Wahrscheinlichkeit zu verbleiben: »Was man mit Hilfe dieser Technik erhält, kann man auch als eine Art von ›historischem Roman‹ auffassen, es hat keinen oder nur einen unbestimmbaren Wirklichkeitswert, denn eine noch so große Wahrscheinlichkeit fällt nicht mit der Wahrheit zusammen, die Wahrheit ist oftmals sehr unwahrscheinlich und tatsächliche Beweismittel sind nur in kärglichem Ausmaß durch Ableitungen und Erwägungen zu ersetzen.« 16 Wiederum ist es Aristoteles, auf den sich Freud bezieht: »denn es ist wahrscheinlich, daß sich vieles gegen die Wahrscheinlichkeit abspielt« 17 , lautet die sophistische Bemerkung, die die Wahrscheinlichkeit zu einer der wichtigsten Kategorien der europäischen Poetik machen wird. Freuds historischer Roman knüpft an dem von Aristoteles postulierten Zusammenhang von Literatur und Wahrscheinlichkeit an, um in 12 Aristoteles: Poetik. Übersetzt und herausgegeben von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982, S. 29. 13 Ebd. 14 Y.H. Yerushalmi: Freuds Moses, S. 37. 15 Ebd. 16 Ebd., S. 37f. 17 Aristoteles: Poetik, S. 59. 142

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ähnlicher Weise wie in Jenseits des Lustprinzips Spekulationen zu legitimieren, die sich an der Grenze der wissenschaftlichen Erkenntnis bewegen. Die unmittelbare Voraussetzung von Freuds Schrift über Moses ist die Erfahrung des Exils, die mit einer Reflexion auf den Ursprung und die Geschichte des Judentums einhergeht. Vor diesem Hintergrund hat die Forschung immer wieder darauf hingewiesen, dass Freuds Spekulationen eine Identifikation mit der Figur des Moses zugrunde liegt, die den Mann Moses zugleich zu einem seiner persönlichsten Bücher mache. »Wie kein anderes seiner Werke manifestiert die Moses-Studie Freuds Verwurzelung in seinem Judentum« 18 , kommentiert Grubrich-Simitis, und auch Yosef Hayune Yerushalmi meint: »Der Mann Moses und die monotheistische Religion ist und bleibt im Kern ein bewußt jüdisches Buch.« 19 Yerushalmi geht daher davon aus, dass die Frage nach Freuds Judentum in unmittelbaren Zusammenhang mit den historischen Analysen Freud steht: »Die Schwierigkeiten bei der Interpretation von Der Mann Moses hängen direkt mit der Schwierigkeit zusammen, das Wesen von Freuds jüdischer Identität zu begreifen.« 20 Einen weiteren Aspekt fügt Sander L. hinzu, wenn er den Mann Moses in den Kontext der Krebserkrankung stellt, die Freuds letztes Lebensjahrzehnt überschattete: »Der Mann Moses, Freuds Studie über die Krankheit des Antisemitismus, wurde von einem kranken jüdischen Mann, dem häufig operierten Sigmund Freud, auf dem Höhepunkt der in der Öffentlichkeit ausgelebten antisemitischen Gefühle im 20. Jahrhundert verfaßt.« 21 Er kommt zu dem Ergebnis: »Der Mann Moses und die monotheistische Religion war Freuds komplexe Antwort auf das Bild von Antisemitismus als Wahn, auf die Ätiologie dieser Geisteskrankheit und auf das paranoide System des Antisemiten.« 22 Andererseits erheben sich gegen eine allzu eindeutige Identifikation von Freud und Moses gewichtige Einwände. Am deutlichsten hat das Jacob Taubes festgehalten. »Sicherlich hat Moses Freud beschäftigt, aber 18 I. Grubrich-Simitis, Freuds Moses-Studie als Tagtraum, S. 74. Zur Frage nach Freuds Judentum vgl. Peter Gay: ›Ein gottloser Jude‹. Sigmund Freuds Atheismus und die Entwicklung der Psychoanalyse, Frankfurt 1999, sowie Emmanuel Rice: Freud and Moses. The Long Journey Home, New York 1990. 19 Y.H. Yerushalmi: Freuds Moses, S. 16. Zur Kritik an Yerushalmi vgl. Jacques Derrida: Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression, Berlin 1997, S. 44ff. 20 Y.H. Yerushalmi: Freuds Moses, S. 25. 21 S.L. Gilman: Freud, Identität und Geschlecht, S. 270. 22 Ebd., S. 271. 143

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nicht als Identifikationsfigur. Das ist ein Subversionsprogramm.« 23 Taubes geht umgekehrt davon aus, »daß Freud sich sozusagen in die Rolle des Paulus einlebt« 24 , um das christliche Problem der Schuld zu klären. Wie auch immer der biographische Hintergrund des Mosesbuches zu bewerten ist: Ein Subversionsprogramm ist Freuds Mosesbuch, da er von dessen jüdischer Identität nur wenig übrig lässt. Das beginnt schon mit dem ersten Satz der Abhandlung: »Einem Volkstum den Mann abzusprechen, den es als den größten unter seinen Söhnen rühmt, ist nichts, was man gern oder leichthin unternehmen wird, zumal wenn man selbst diesem Volk angehört.« (GS XVI, 103) Damit bestätigt sich zwar, dass sich Freud anhand der Figur des Moses mit der Frage nach dem Judentum auseinandersetzt. Moses erscheint ihm in diesem Sinne als »Befreier, Gesetzgeber und Religionsstifter« (GS XVI, 103), als die entscheidende Gründungsfigur des Monotheismus. Zugleich aber wird deutlich, dass Freud die Reflexion über die mythisch-historische Figur des Moses dazu nutzt, die eigene historische Rolle zu überdenken. In diesem Sinne knüpft Der Mann Moses an die Selbstreflexion an, die mit der Traumdeutung begonnen hatte. Grubrich-Simitis spricht daher auch von einem »Selbstheilungsversuch, als Dokument eines neuen verzweifelten Aufschwungs von Freuds Selbstanalyse«, 25 und Jean Starobinski betont die Kontinuität zwischen dem Anfang und dem Ende von Freuds Lebenswerk: »Alles weist darauf hin, dass die in den beiden ersten Vorworten zur Traumdeutung in Anspruch genommene Selbstanalyse – die legitimierende Reise durch die Unterwelt, Katabasis – niemals unterbrochen wurde und dass sie in Freuds letzten Lebensjahren wieder zu einer bedeutenden Hilfsquelle wurde« 26 . Dass die Reflexion über die Grundlagen des Judentums mit einer letzten Selbstanalyse einhergeht, macht den Mann Moses aber noch lange nicht zu einer Identifikationsfigur Freuds. Faszination und Identifikation sind nicht dasselbe. Im Rahmen des von Taubes skizzierten Subversionsprogramms unternimmt Freud vielmehr alles, um die Autorität von Moses zu untergraben. Den Ansatz zu seiner Demontage des jüdischen Religionsstifters bildet der Zusammenhang von Name und Identität. »Das erste, das an der Person Moses’ unser Interesse anzieht, ist der Name, der im Hebräischen Mosche lautet. Man darf fragen: Woher stammt er? Was bedeutet er?« (GS XVI, 104) In einer gewiss abenteuerlichen Argumentationslinie kommt Freud zu dem Schluss, »daß der Name Moses aus dem ägyptischen Sprachschatz herrührt.« (GS XVI, 104) Den ägyptischen Namens23 24 25 26

Jacob Taubes: Die Politische Theologie des Paulus, München 1993, S. 124. Ebd., S. 131. I. Grubrich-Simitis: Freuds Moses-Studie als Tagtraum, S. 58. J. Starobinski: Acheronta movebo, S. 43. 144

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ursprung nimmt er zum Anlass, die Identität von Moses nach Ägypten zu verlegen. Freud folgert aus seiner wackeligen Prämisse, »daß der Träger des ägyptischen Namens selbst Ägypter gewesen sei.« (GS XVI, 105) Die märchenhafte Schilderung der Rettung von Moses durch die ägyptische Prinzessin kehrt Freud in der ihm eigenen prosaischen Weise um: Nicht der Jude Moses ist von Ägyptern gerettet worden, der Begründer der jüdischen Religion war selbst ein Ägypter: »Moses ist ein – wahrscheinlich vornehmer – Ägypter, der durch die Sage zum Juden gemacht werden soll.« (GS XVI, 112) Die jüdische Identität von Moses ist nach Freud nur eine Sage, die jetzt durch wissenschaftliche Aufklärung in ihre Grenzen gewiesen wird. Freuds Anspruch nach wissenschaftlicher Klärung macht selbst vor dem Ursprung des Judentums nicht halt. Die waghalsige These, der ägyptische Name Moses stehe auch für die ägyptische Identität ihres Träger ein, erweitert Freud durch eine zweite, nicht minder radikale, die das jüdische Glaubensbekenntnis betrifft. Der Ausgangspunkt seiner weiteren Überlegungen liegt in der Frage nach den religionsphilosophischen Hintergründen des jüdischen Monotheismus. Freud stellt den ägyptischen Polytheismus dem Judaismus entgegen: Ein »großartig starrer Monotheismus« (GS XVI, 116) verzichtet auf die Idee der Unsterblichkeit, die der Totengott Osiris in der ägyptischen Religion verkörpert. Vor diesem Hintergrund vertraut Freud wiederum weitgehenden Spekulationen, um die jüdische Religion auf ägyptische Ursprünge zurückzuführen. Wiederum setzt er beim Namen an. Als Anhänger der Atonreligion ändert Amenhotep seinen Namen und nennt sich Ikhnaton. Die monotheistische Atonreligion, die nach dem Tod Ikhnatons dem alten Polytheismus und seinen Priestern zum Opfer fällt, findet in Moses ihren Fortsetzer. Der jüdische Monotheismus ist nichts anderes als eine Nachfolge der ägyptischen Atonreligion: »Wir möchten jetzt den Schluß wagen: Wenn Moses ein Ägypter war und wenn er den Juden seine eigene Religion übermittelte, so war es die des Ikhnaton, die Atonreligion.« (GS XVI, 123) In Freuds Darstellung wird Moses zum Ägypter und die jüdische zu einer ägyptischen Religion. Freuds Spekulationen kulminieren in einer Veränderung des jüdischen Glaubensbekenntnisses, die ihren Grund in der Parallelität von Adonai und Aton findet: Der Satz »Schema Jisroel Adonai Elohnu Adonai Echod (Höre Israel, unser Gott ist ein einziger Gott)« (GS XVI, 123) findet seine Aufhebung in der These, dass sich schon hinter dem einen Gott zwei Gesichter, das des jüdischen und das des ägyptischen Gottes verbergen. Zu der Veränderung der Identität Moses’ und der des jüdischen Glaubensbekenntnis tritt noch eine dritte hinzu. Sie betrifft wieder einen

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Kernpunkt des Judentums, die Beschneidung. 27 »Wenn Moses den Juden nicht nur eine neue Religion, sondern auch das Gebot der Beschneidung gab, so war er kein Jude, sondern ein Ägypter, und dann war die mosaische Religion wahrscheinlich eine ägyptische« (GS XVI, 126). Auch die Beschneidung spricht Freud Ikhnaton und damit Ägypten zu. Er vertritt die These, dass es auf »die Frage, woher die Sitte der Beschneidung zu den Juden kam, nur eine Antwort gibt: aus Ägypten.« (GS XVI, 125) Die Ungeheuerlichkeit von Freuds Argumentation als Subversion der mosaischen Religion besteht in der dreifachen Schrittfolge, die Moses, das jüdische Glaubensbekenntnis und die Beschneidung auf die gleiche Art und Weise auf ägyptische Ursprünge zurückführt. Von daher ist es nicht verwunderlich, dass Freud mit dem Mosesbuch gerade bei jüdischen Intellektuellen heftige Ablehnungen provoziert hat. In mehr als einem Sinne handelt es sich bei Freuds Darstellung um Formen der Entstellung, die auf eine kaum zu rechtfertigende Weise in jüdische Traditionszusammenhänge eingreifen. Den Begriff der Entstellung, der schon in der Traumdeutung eine zentrale Rolle eingenommen hat, erläutert Freud noch einmal in Der Mann Moses: Es ist bei der Entstellung eines Textes ähnlich wie bei einem Mord. Die Schwierigkeit liegt nicht in der Ausführung der Tat, sondern in der Beseitigung ihrer Spuren. Man möchte dem Wort ›Entstellung‹ den Doppelsinn verleihen, auf den es Anspruch hat, obwohl es heute keinen Gebrauch davon macht. Es sollte nicht nur bedeuten: in seiner Erscheinung verändern, sondern auch: an eine andere Stelle bringen, anderswohin verschieben. Somit dürfen wir in vielen Fällen von Textentstellung darauf rechnen, das Unterdrückte und Verleugnete doch irgendwo versteckt zu finden, wenn auch abgeändert und aus dem Zusammenhang gerissen. (GS XIV, 144)

Der Vergleich der Textentstellung mit einem Mord mag auf den ersten Blick überraschen. Aber in gewisser Weise läuft Freuds Darstellung auf nichts anderes als einen symbolischen Mord am Übervater des Judentums hinaus. Im Doppelsinn des Wortes, den er selbst unterstreicht, bringt Freud Moses an einen anderen Platz, nach Ägypten. Und auf die gleiche Weise scheint die Jahwereligion nichts anderes als eine Entstellung der frühen Atonreligion zu sein, so wie Moses, den Freud als »zornmütig, leicht aufbrausend« (GS XIV, 131) darstellt, eine Verschiebung des zornigen Ödipus aus der Traumdeutung zu bedeuten scheint. So liegt es nur in der Logik der Sache, dass Freud davon ausgeht, dass der Reli27 Vgl. in diesem Zusammenhang Franz Maciejewski: Psychoanalytisches Archiv und jüdisches Gedächtnis. Freud, Beschneidung und Monotheismus, Wien 2002. 146

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gionsstifter Moses »in einem Aufstand seines widerspenstigen und halsstarrigen Volkes ein gewaltsames Ende fand.« Der jähzornige Moses sei von seinem eigenen jähzornigen Volk getötet worden. Gerade der Mord am Gott-Vater aber hätte jene Tradition begründet, die das Judentum bestimmt. Freud greift auf Formen historischen Erzählens zurück, um die traditionsstiftende Kraft des Vatermordes zu betonen, die er bereits in Totem und Tabu herausgearbeitet hatte: »Da erhoben sich aus der Mitte des Volkes in einer nicht mehr abreißenden Reihe Männer, nicht durch ihre Herkunft mit Moses verbunden, aber von der großen und mächtigen Tradition erfaßt, die allmählich im Dunkeln angewachsen war, und diese Männer, die Propheten, waren es, die unermüdlich die alte mosaische Lehre verkündeten« (GS XVI, 152f.). Vor diesem Hintergrund ist Yerushalmi sicherlich völlig im Recht ist, wenn er behauptet, »daß der eigentliche Dreh- und Angelpunkt des Buches, insbesondere der des entscheidenden dritten Teils, das Problem der Tradition ist« 28 . Freud geht es im Mann Moses um die Tradition, um die Tradition des Judentums, zugleich aber auch um die Tradition der Psychoanalyse, die er gegründet hat. So beginnt der dritte Teil der Abhandlung mit einer auffällig heroisch anmutenden Selbstreflexion: »Mit der Verwegenheit dessen, der nichts oder wenig zu verlieren hat« (GS XVI, 156), habe er das Projekt Moses zu Ende geführt, beginnt Freud seine Ausführungen. Der Heroismus, auf den sich Freud beruft, besteht in der Veröffentlichung eines ganz und gar unzeitgemäßen Buches: Ich glaube es nicht nur, ich weiß es, daß ich mich durch dies andere Hindernis, durch die äußere Gefahr, abhalten lassen werde, den letzten Teil meiner Studie über Moses zu veröffentlichen. Ich habe noch einen Versuch gemacht, mir die Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen, indem ich mir sagte, der Angst liege eine Überschätzung meiner persönlichen Bedeutung zugrunde. Wahrscheinlich werde es den maßgebenden Stellen recht gleichgültig sein, was ich über Moses und den Ursprung der monotheistischen Religion schreiben wolle. Aber ich fühle mich nicht sicher im Urteil. Viel eher scheint es mir möglich, daß Bosheit und Sensationslust das wettmachen werden, was mir im Urteil der Mitwelt an Geltung fehlt. Ich werde diese Arbeit also nicht bekanntmachen, aber das braucht mich nicht davon abzuhalten, sie zu schreiben. Besonders da ich sie schon einmal, vor jetzt zwei Jahren, niedergeschrieben habe, so daß ich sie bloß umzuarbeiten und an die beiden vorausgeschickten Aufsätze anzufügen habe. Sie mag dann in der Vergangenheit aufbewahrt bleiben, bis einmal die Zeit kommt, wann sie sich gefahrlos ans Licht wagen darf, oder bis man einem, der sich zu denselben Schlüssen und Meinungen bekennt, sagen kann, es war schon einmal in dunkleren Zeiten jemand da, der sich das nämliche wie du gedacht hat. (GS XVI, 158) 28 Y.H. Yerushalmi: Freuds Moses, S. 52. 147

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»Aber ich traue mir nicht mehr die Kraft zu, dies zu leisten.« (GS XVI, 155) Mit diesem Satz hatte der zweite Teil von Der Mann Moses geendet. In der Vorbemerkung, die er noch in Wien abgefasst hat, sind es nicht mehr innere, sondern äußere Gründe, die einer Publikation entgegenstehen. Dass Freud dennoch an der Idee festhält, den Moses zu beenden, führt zu einer seltsamen Ausgangskonstellation: Freud, der nie für die Schublade produziert hat, schreibt weiter, ohne zu veröffentlichen. Die Aussicht auf eine unbestimmte Zukunft, in der seine Schrift Aufmerksamkeit finden wird, wirkt wie eine Travestie messianischen Erlösungsdenkens, im Rahmen der historischen Erzählung, die Freud vorlegt, zudem wie ein geschickter Kniff, der der Studie einen dramatischen Rahmen gibt. So wird die Angst vor äußeren Gefahren im nächsten Schritt durch das Exil aufgehoben. »Keine äußeren Abhaltungen mehr oder wenigstens keine solchen, vor denen man zurückschrecken darf« (GS XVI, 159), stehen der Publikation entgegen. Das Exil als Bedingung der Möglichkeit der Veröffentlichung der Moses-Studien führt jedoch zu den inneren Schwierigkeiten zurück, die Freuds Arbeit behindern. »Nach wie vor vermisse ich das Bewußtsein der Einheit und Zusammengehörigkeit, das zwischen dem Autor und seinem Werk bestehen soll.« (GS XVI, 160) Wie schon in der Traumdeutung verbirgt sich hinter den autobiographischen Voraussetzungen der Moses-Studien eine Krisenerfahrung, die sich im Selbstzweifel artikuliert. Was in seinem letzten Werk auf dem Spiel steht, ist die Identität zwischen dem Autor und dem Werk, die die Autobiographie verbürgt. Wenn Freud seine Schrift in diesem Kontext als ein Wagnis bezeichnet, dann knüpft er an die heroischen Anfänge der Psychoanalyse an, um erneut einer Krise zu begegnen, die die Psychoanalyse als Ganzes betrifft. Vor diesem Hintergrund führt Freud seinen Text geradezu als ein Glaubensbekenntnis ein: »Wir bekennen uns also zu dem Glauben, daß die Idee eines einzigen Gottes sowie die Verwerfung des magisch wirkenden Zeremoniells und die Betonung der ethischen Forderung in seinem Namen tatsächlich mosaische Lehren waren, die zunächst kein Gehör fanden, aber nach dem Ablauf einer langen Zwischenzeit zur Wirkung kamen und sich endlich für die Dauer durchsetzten.« (GS XVI, 170) Das jüdische Glaubensbekenntnis hatte Freud nach Ägypten verlegt, um nun ein eigenes Glaubensbekenntnis vorzulegen, das die Frage nach der Tradition stellt, die auch die Geschichte der Psychoanalyse selbst betrifft. Testamentarische Verfügungsgewalt gewinnt Der Mann Moses, da sich Freud in der Auseinandersetzung mit dem jüdischen Religionsstifter zugleich die Frage nach der Zukunft der Psychoanalyse nach seinem Tod stellt. Im Rückgriff auf Totem und Tabu stellt Freud die Genese der Religion als Folge der kannibalischen Verzehrung des Vaters durch die Söh-

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ne dar. »Der Mord des Ägypters Moses ist offensichtlich das Gegenstück zu den Seiten über Ödipus in der Traumdeutung, wobei die Spekulation über die Urhorde in Totem und Tabu die Verbindung herstellen« 29 , kommentiert Jean Starobinski. Die These, »dass die vertriebenen, in Gemeinschaft lebenden Brüder sich zusammentaten, den Vater überwältigten und ihn nach der Sitte jener Zeiten roh verzehrten«, impliziert die Wiederkehr des getöteten Vatergottes in der Religion als Resultat des Schuldbewusstseins über den Mord. Freud hat dabei zweierlei im Blick: die Genese der jüdischen wie die der christlichen Religion. Der Unterschied, so Freud, bestehe darin, dass das Christentum sich zu der Schuld an dem Mord bekenne: »Bis dann einer aus diesem jüdischen Volk in der Justifizierung eines politisch-religiösen Agitators den Anlaß fand, mit dem eine neue, die christliche Religion sich vom Judentum ablöse. Paulus, ein römischer Jude aus Tarsus« (GS XVI, 192). Moses, der Ägypter, der zum Religionsstifter des Judentums wird, erfährt seine Ablösung durch Paulus, den Juden, der das Christentum begründet und die jüdische Vaterreligion durch eine Sohnesreligion ersetzt. »Ungeachtet aller Annäherungen und Vorbereitungen ringsum war es doch ein jüdischer Mann Saulus aus Tarsus, der sich als römischer Bürger Paulus nannte, in dessen Geist zuerst die Erkenntnis durchbrach: ›Wir sind so unglücklich, weil wir Gottvater getötet haben.‹« (GS XVI, 244) Freuds Frage in Der Mann Moses betrifft daher nicht allein die Entstehung des Judentums, sondern die Bewältigung des Schuldbewusstseins, das der Mord am Gottvater herauf beschwörte. Die Erlösungsphantasie, die dem Christentum zugrunde liegt, ist das Opfer des Sohnes, der die Menschen auf diese Art und Weise von ihrer Schuld zu befreien sucht. Die Erlösung bleibt im Blick auf das Ausgangsproblem der Schuld jedoch zwiespältig: Durch die Einstimmung in die Schuld, die die Erlösung notwendig macht, verfestigt sie sich zur Theorie der Erbsünde. In Übereinstimmung mit wesentlichen Teilen von Nietzsches Kritik am Christentum stellt Freud die Überwindung der jüdischen durch die christliche Religion als ein Dispositiv des Ressentiments dar, das seinerseits nach einer Entladung verlangt, deren Opfer wiederum die Juden als vermeintliche Mörder des Erlösers werden. Von einer geheimen Sympathie mit Paulus, wie Jacob Taubes sie zu diagnostizieren meinte, kann vor diesem Hintergrund kaum die Rede sein. »Paulus, der Fortsetzer des Judentums, wurde auch sein Zerstörer.« (GS XVI, 194) Wenn der zornige Moses der Begründer der jüdischen Religion ist, dann ist der schuldbewusste Paulus als Fortsetzer und Zerstörer des Judentums zugleich der Begründer des Antisemitismus, der Freud selbst aus Wien ins Exil vertrieben hat. Am Ende

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der Reihe, die von Moses zu Paulus führt, steht Freud selbst. Er erscheint aber nicht als ihr Erbe, sondern als ihr siegreicher Überwinder. »Ein Held ist, wer sich mutig gegen seinen Vater erhoben und ihn am Ende siegreich überwunden hat« (GS XVI, 108), schreibt Freud in Der Mann Moses. In diesem Sinne haftet Der Mann Moses etwas Heroisches an. In seiner frühen Einleitung vom 9. August 1934 spricht Freud von der »Großartigkeit der Gestalt« 30 des Moses als dem einzigen Gegengewicht gegen alle Einwände, eine Formulierung, die Richard J. Bernstein aufnimmt: »Freuds Buch Der Mann Moses und die monotheistische Religion haftet etwas provozierend Großartiges an.« 31 Großartig ist nicht allein die Gestalt des Moses, der sich Freud in seiner letzten Schrift widmet. Großartig ist Freuds Versuch über Moses gerade aufgrund seiner inneren und äußeren Zerrissenheit. Die exzentrische Umfangsverschiedenheit der einzelnen Teile, die das Werk kennzeichnet und es Grubrich-Simitis zufolge einem zerklüfteten Steinbruch vergleichbar macht, die seltsame Brüchigkeit der Schrift spiegelt als letztes Glaubensbekenntnis Freuds eigene Situation vor dem Tod und der Frage nach dem Nachleben der Psychoanalyse wider. Das fragmentarische Schreiben, das den Mann Moses von Freuds anderen Werken unterscheidet, ist vor diesem Hintergrund nicht als ein Nachlassen der Kraft zu verstehen. Es ist die Reaktion auf die inneren und äußeren Veränderungen, die die Psychoanalyse seit ihrer Begründung hat erfahren müssen, und zugleich der Vorgriff auf den Tod, den Freud der Natur zu schulden meinte. In seiner spekulativen Kraft, die zwischen historischer Erzählung und wissenschaftlicher Analyse des Antisemitismus die Waage hält, ist Freud, der, am Ende seines Lebens angekommen, souverän mit dem eigenen Tod umgeht, 32 mit seiner letzten Schrift das gelungen, was vielen verwehrt geblieben ist, wie er selbst in einem Brief an Hanns Sachs vom 12. März 1939 formuliert: »ein ziemlich würdiger Abgang.« 33

30 Y.H. Yerushalmi: Freuds Moses, S. 37. 31 R.J. Bernstein: Freud und das Vermächtnis des Moses, S. 140. 32 Vgl. die letzten Seiten von Max Schurs Bericht über Freuds Sterben. Max Schur: Sigmund Freud, Frankfurt/Main 1982, S. 620-621. 33 Vgl. S.L. Gilman: Freud, Identität und Geschlecht, S. 271. 150

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DAS SCHIBBOLETH DER PSYCHOANALYSE

Laplanche, Jean/Pontalis, J.-B.: Vocabulaire de la psychanalyse, Paris 1997. Lohmann, Hans-Martin/Pfeiffer, Joachim (Hg.): Freud-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart/Weimar 2006. Maciejewski, Franz: Psychoanalytisches Archiv und jüdisches Gedächtnis. Freud, Beschneidung und Monotheismus, Wien 2002 Mahony, Patrick J.: Der Schriftsteller Sigmund Freud, Frankfurt/Main 1989. Marinelli, Lydia/Mayer, Andreas (Hg.): Die Lesbarkeit der Träume. Zur Geschichte von Freuds ›Traumdeutung‹, Frankfurt/Main 2000. Rey, Jean-Michel: Freud’s Writing on Writing, in: Shoshana Felman (Hg.): Literature and Psychoanalysis. The Question of Reading: Otherwise, Baltimore and London 1980, S. 301-328. Rice, Emmanuel: Freud and Moses. The Long Journey Home, New York 1990. Ricœur, Paul: Die Interpretation. Ein Versuch über Freud, Frankfurt/Main 1974. Russel, John: Hamlet and Narcissus, Delaware 1995. Schlesier, Renate: Mythos und Weiblichkeit bei Sigmund Freud, Frankfurt/Main 1990. Schäfer, Peter: Der Triumph der reinen Geistigkeit. Sigmund Freuds ›Der Mann Moses und die monotheistische Religion‹, Berlin/Wien 2003. Schur, Max: Sigmund Freud. Leben und Sterben, Frankfurt/Main 1982. Starobinski, Jean: Psychoanalyse und Literatur, Frankfurt/Main 1973. Starobinsiki, Jean: Acheronta movebo. Nachdenken über das Motto der ›Traumdeutung‹, in: Starobinski, Jean/Gubrich-Simitis, Ilse/Solms, Mark: Hundert Jahre ›Traumdeutung‹ von Sigmund Freud. Drei Essays, Frankfurt/Main 2000, S. 11-48. Weber, Samuel: Freud-Legende. Vier Studien zum psychoanalytischen Denken. Vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage, Wien 2002. Yerushalmi, Yosef Hayim: Freuds Moses. Endliches und unendliches Judentum, Berlin 1992.

III. Andere Literatur Assmann, Jan: Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, Frankfurt/Main 2000. Blumenberg, Hans: Arbeit am Mythos, Frankfurt/Main 1979. Blumenberg, Hans: Die Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Ausgabe, Frankfurt/Main 1996. 154

LITERATURVERZEICHNIS

Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt/Main 1991. Cavell, Stanley: Disowning knowledge in six plays of Shakespeare, Cambridge 1988. Davidson, Donald: Paradoxien der Irrationalität, in: Probleme der Rationalität, Frankfurt/Main 2006, S. 285-315. Derrida, Jacques: Schibboleth: für Paul Celan, Wien 1986. Derrida, Derrida: Mémoires für Paul de Man, Wien 1988. Derrida, Jacques: Marx’ Gespenster. Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt/Main 2004. Eliot, T. S.: Hamlet, in: Essays 2. Literaturkritik, Frankfurt/Main 1988, S. 94-100. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt/Main 1974. Geisenhanslüke, Achim: Einführung in die Literaturtheorie. Von der Hermeneutik zur Medienwissenschaft, Darmstadt 2003. Geisenhanslüke, Achim: Masken des Selbst. Aufrichtigkeit und Verstellung in der europäischen Literatur, Darmstadt 2006. Goebel, Eckart: »Schwermut/Melancholie«, in: Karlheinz Barck (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Band 5. Postmoderne – Synästhesie, Stuttgart 2003, S. 446-486. Haverkamp, Anselm: Trauer: Hölderlins späte Allegorie, München 1991. Haverkamp, Anselm: Hamlet – Hypothek der Macht, Berlin 2001. Klibansky, Raymond/Panowsky, Erwin/Saxl, Fritz: Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst, Frankfurt/Main 1992. Koppenfels, Martin von: Immune Erzähler. Flaubert und die Affektpolitik des modernen Romans, München 2007. Koppenfels, Martin von: Schmerz. Lessing, Duras und die Grenzen der Empathie, in: Robert Stockhammer (Hg.): Grenzwerte des Ästhetischen, Frankfurt/Main 2002, S. 118-145. Menke, Christoph: Die Gegenwart der Tragödie. Versuch über Urteil und Spiel, Frankfurt/Main 2005. Lejeune, Philippe: Der autobiographische Pakt, Frankfurt/Main 1994. Man, Paul de: Autobiographie als Maskenspiel, in: Die Ideologie des Ästhetischen, Frankfurt/Main 1993, S. 131-146. Menninghaus, Winfried: Hälfte des Lebens. Versuch über Hölderlins Poetik, Frankfurt/Main 2005. Platthaus, Isabel: Höllenfahrten. Die epische katábasis und die Unterwelten der Moderne, München 2004. Rauch, Marja: Vereinigungen. Frauenfiguren und Identität in Robert Musils Prosawerk, Würzburg 2000.

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DAS SCHIBBOLETH DER PSYCHOANALYSE

Reibnitz, Barbara von: Ein Kommentar zu Friedrich Nietzsche ›Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik‹ (Kapitel 1-12), Stuttgart/Weimar 1992. Rohrwasser, Michael: Schreibstrategien. Canettis Beschreibungen von Freud, in: Thomas Anz (Hg.): Psychoanalyse in der modernen Literatur. Kooperation und Konkurrenz, Würzburg 1999, S. 145-166. Schadewaldt, Wolfgang: Die griechische Tragödie. Tübinger Vorlesungen Band 4, Frankfurt/Main 1991. Schmidt, Jochen: Der Begriff des Zorns in Hölderlins Spätwerk, in: Hölderlin-Jahrbuch 17 (1967), S. 128-157. Schmidt, Jochen: ›Sobria ebrieteas‹. Hölderlins ›Hälfte des Lebens‹, in: Gedichte und Interpretationen. Band 3. Klassik und Romantik, hrsg. von Wulf Segebrecht, Stuttgart 1984, S. 256-267. Schmitt, Carl: Hamlet oder Hekuba. Der Einbruch der Zeit in das Spiel, Stuttgart 1985. Taubes, Jacob: Die Politische Theologie des Paulus, München 1993. Schneider, Manfred: Die erkaltete Herzensschrift. Der autobiographische Text im 20. Jahrhundert, München 1986. Senger, Harro von (Hg.): Die List, Frankfurt/Main 1999. Theunissen, Michael: Negative Theologie der Zeit, Frankfurt/Main 1991. Tugendhat, Ernst: Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen, Frankfurt/Main 1979.

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Literalität und Liminalität Bernhard J. Dotzler, Henning Schmidgen (Hg.) Parasiten und Sirenen Materielle Kulturen der Produktion von Wissen Mai 2008, ca. 220 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN: 978-3-89942-870-4

Georg Mein, Heinz Sieburg (Hg.) Medien des Wissens Interdisziplinäre Aspekte von Medialität Mai 2008, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-779-0

Achim Geisenhanslüke Das Schibboleth der Psychoanalyse Freuds Passagen der Schrift

Achim Geisenhanslüke, Hans Rott (Hg.) Ignoranz Nichtwissen, Vergessen und Missverstehen in Prozessen kultureller Transformationen April 2008, ca. 180 Seiten, kart., ca. 22,80 €, ISBN: 978-3-89942-778-3

Oliver Kohns Die Verrücktheit des Sinns Wahnsinn und Zeichen bei Kant, E.T.A. Hoffmann und Thomas Carlyle 2007, 366 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN: 978-3-89942-738-7

April 2008, 158 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN: 978-3-89942-877-3

Achim Geisenhanslüke, Georg Mein (Hg.) Schriftkultur und Schwellenkunde April 2008, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-776-9

Achim Geisenhanslüke, Georg Mein (Hg.) Grenzräume der Schrift April 2008, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN: 978-3-89942-777-6

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