Körper in Bewegung: Modelle und Impulse der italienischen Avantgarde [1. Aufl.] 9783839410998

In den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts sind Macht- und Körperinszenierungen zu beobachten, die - vor allem in Italie

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Körper in Bewegung: Modelle und Impulse der italienischen Avantgarde [1. Aufl.]
 9783839410998

Table of contents :
INHALT
Vorwort
Bewegung als literarisches Problem. Ein Streifzug (Balzac, Souriau, Proust)
Bilder in Bewegung. Impulse der italienischen Avantgarde
Körper in Prosa: Bewegung und Theatralik in der Erzählkunst F.T. Marinettis
Heraklitische Körper und die Bewegungsströme der Moderne. Zu Georg Simmels kunstphilosophischer Auseinandersetzung mit den Skulpturen und Plastiken Auguste Rodins
Continuità nello spazio: Skulptur und Fotografie bei Medardo Rosso
Gilgamesch Mafarka. Reflexionen zum Archaisch-Epischen in Marinettis Roman
Die Frau(en) beim frühen Filippo Tommaso Marinetti
„Some immachination“: von F.T. Marinettis „Gazurmah“ zu Thomas Pynchons „Rocketman“
Moments of Being – Momentum of Beings: Körperbewegung, Epiphanien und Radfahren bei Dorothy Richardson
Die still gestellte Weiblichkeit im Werk Paul Delvaux’
Gustave Le Bon als Historiograf der „Massen in Bewegung“, oder: der Aufstieg der foules zum gesellschaftlichen Leitmotiv
Die Ästhetik des Flüchtigen. Passanten in Paris zur Zeit der Momentfotografie
Foto/Filme oder: Filmische (Re-)Animation des fotografischen Stillstandes
Bewegte Oberfläche: Spuren einer intermedialen Ästhetik in Rilkes Sonett „Archaïscher Torso Apollos“
„Eppur si muove!“ Italienische Literatur in Bewegung
Wechselspannungen – TanzTensioneninTensitäten: Eine Geschichte der Spannungsumbrüche
Psyche, Eros und Autokolonnen bügeln den Asphalt – Zum Bewegungskonzept in Savinios Roman Angelica o la notte di
maggio (1927)
Bewegungsfiguren im Symbolismus: Maeterlinck, Rimbaud, Mallarmé
Futurismus & Alpinismus. Szenarien der Intensität bei F.T. Marinetti, Angelo Mosso und Luis Trenker
Räderwerk Caravansérail. Bewegung und Geschwindigkeit bei Francis Picabia
Autorinnen und Autoren

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Marijana Erstic´, Walburga Hülk, Gregor Schuhen (Hg.) Körper in Bewegung

2009-05-18 14-31-46 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02d2210550452430|(S.

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Marijana Erstic’ , Walburga Hülk, Gregor Schuhen (Hg.) Körper in Bewegung. Modelle und Impulse der italienischen Avantgarde

2009-05-18 14-31-46 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02d2210550452430|(S.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Etienne-Jules Marey: Saut de l’homme en blanc (1887) Lektorat & Satz: M. Erstic´, W. Hülk, G. Schuhen Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1099-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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INHALT Vorwort WALBURGA HÜLK 9

Bewegung als literarisches Problem. Ein Streifzug (Balzac, Souriau, Proust) GREGOR SCHUHEN 11

Bilder in Bewegung. Impulse der italienischen Avantgarde MARIJANA ERSTIĆ 23

Körper in Prosa: Bewegung und Theatralik in der Erzählkunst F.T. Marinettis GIUSEPPINA BALDISSONE 33

Heraklitische Körper und die Bewegungsströme der Moderne. Zu Georg Simmels kunstphilosophischer Auseinandersetzung mit den Skulpturen und Plastiken Auguste Rodins DOMINIK BRABANT 53

Continuità nello spazio: Skulptur und Fotografie bei Medardo Rosso MARTINA DOBBE 71

Gilgamesch Mafarka. Reflexionen zum Archaisch-Epischen in Marinettis Roman JUSTUS FETSCHER 93

Die Frau(en) beim frühen Filippo Tommaso Marinetti GRAZIA DOLORES FOLLIERO-METZ 109

„Some immachination“: von F.T. Marinettis „Gazurmah“ zu Thomas Pynchons „Rocketman“ DIETMAR FRENZ 123

Moments of Being – Momentum of Beings: Körperbewegung, Epiphanien und Radfahren bei Dorothy Richardson NICOLA GLAUBITZ 149

Die still gestellte Weiblichkeit im Werk Paul Delvaux’ IRIS HERMANN 163

Gustave Le Bon als Historiograf der „Massen in Bewegung“, oder: der Aufstieg der foules zum gesellschaftlichen Leitmotiv DANIELA KNEISSL 187

Die Ästhetik des Flüchtigen. Passanten in Paris zur Zeit der Momentfotografie CHRISTINA NATLACEN 203

Foto/Filme oder: Filmische (Re-)Animation des fotografischen Stillstandes BEATE OCHSNER 221

Bewegte Oberfläche: Spuren einer intermedialen Ästhetik in Rilkes Sonett „Archaїscher Torso Apollos“ NICOLE PÖPPEL 239

„Eppur si muove!“ Italienische Literatur in Bewegung LAURA ROMAN DEL PRETE 255

Wechselspannungen – TanzTensioneninTensitäten: Eine Geschichte der Spannungsumbrüche MELANIE SCHMIDT 271

Psyche, Eros und Autokolonnen bügeln den Asphalt – Zum Bewegungskonzept in Savinios Roman Angelica o la notte di maggio (1927) SABINE SCHRADER 283

Bewegungsfiguren im Symbolismus: Maeterlinck, Rimbaud, Mallarmé ANDREA STAHL 299

Futurismus & Alpinismus. Szenarien der Intensität bei F.T. Marinetti, Angelo Mosso und Luis Trenker DANIEL WINKLER 311

Räderwerk Caravansérail. Bewegung und Geschwindigkeit bei Francis Picabia SCARLETT WINTER 333

Autorinnen und Autoren 349

VORWORT WALBURGA HÜLK Hundert Jahre Futurismus – das ist 2009 manchem großen und kleinen Museum (in Rom, Mailand, Venedig, Roveretto, Paris, Berlin) Anlass für eine feine Ausstellung und vielen europäischen und nordamerikanischen Zeitungen rund um den 20. Februar 2009 einen größeren Artikel wert gewesen: Dies alles, um zu erinnern an das „Futuristische Manifest“, das F.T. (Filippo Tommaso) Marinetti am 20. Februar 1909 auf der Titelseite der bürgerlichen Pariser Tageszeitung Le Figaro veröffentlichte als Einsetzungsgestus, als „Beginn jenes künstlerischen Avantgardismus, welcher der ästhetischen Moderne erst das Gepräge gab, das wir bis heute mit ihm verbinden.“1. Diese memoria, die – welche Ironie – die ikonoklastische, ausschließlich zukunftsgerichtete Inszenierung, das Vergangenheits-bashing des Futurismus aufruft, ist zugleich der Einsatzpunkt der vorliegenden Publikation, die ihrerseits der „Gewalt und Intensität“2 nachgeht, die der Futurismus intoniert und mit der „Verwandlung der Welt in einen Tatort“3 praktiziert hat. Der Sammelband widmet sich jedoch nicht primär der mobilisatorischen Manifestpraxis, die in den vergangenen Jahren mit vorzüglichen Studien bedacht wurde4, oder der Losung jener Einheit von Kunst und Leben, die schon seit den kanonischen Arbeiten zur „Theorie der Avantgarde“ im Zentrum der Aufmerksamkeit stand5. Vielmehr konzentriert er sich auf das Thema Körper in Bewegung. Impulse und Modelle der italienischen Avantgarde und damit auf ein zentrales Faszinationsmuster eben dieser ersten, der historischen Avantgarden. In den frühen Dekaden des 20. Jahrhunderts nämlich, vor allem in Italien und von Italien ausgehend, sind auf diesem Feld der

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Helmuth Kiesel: „Der Glanz in neuer Schönheit“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (Bilder und Zeiten, Z 3) vom 21. Februar 2009. Thomas Steinfeld: „Die Verwandlung der Welt in einen Tatort. Italien feiert den hundertsten Jahrestag des futuristischen Manifests mit einer Vielzahl von Ausstellungen“, in: Süddeutsche Zeitung vom 19. Februar 2009. Ebd. Hanno Ehrlicher: Die Kunst der Zerstörung, Gewaltphantasien und Manifestationspraktiken europäischer Avantgarden, Berlin 2001. Peter Bürger: Theorie der Avantgarde, Frankfurt/Main 1974. 9

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Beobachtung und Inszenierung von Bewegung kulturelle und ästhetische Modelle und Impulse zu beobachten, die zunächst für die anderen avantgardistischen Strömungen, sodann für die Kultur- und Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts insgesamt relevant sind. Namentlich im Übergang von der ästhetizistischen Moderne zur ersten der so genannten historischen Avantgarden, zum italienischen Futurismus, werden Konzepte reflektiert und Inszenierungen experimentell durchgespielt, die wichtige Anstöße für nachfolgende anthropologische Fragestellungen und ästhetische Strömungen geben. Diese gehen über Italien hinaus und finden sich im europäischen, zuletzt globalen Kontext wieder. Dabei ist es in der Tat das Faszinationsmuster Bewegung, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter dem Eindruck der technischen Medien eine Konkurrenz und Konvergenz von Künsten und Wissenschaften initiierte – einen Paragone 1900. Dieser reagierte auf neue Wahrnehmungsformen von Zeit und Raum, Augenblick und Dauer, Ereignis und Wiederholung. Wesentliche Parameter unserer Kultur (Bewusstsein, Imaginäres, Identität, Gedächtnis) wurden durch das Konzept Bewegung (Geschwindigkeit, Athletismus, Masse) geprüft und neu codiert. Bewegung wurde in den Bereichen von Literatur, Philosophie, Künsten, Medien und Wissenschaften und vor allem in den Netzwerken der frühen Avantgarden verhandelt und als dominanter Reiz eines intellektuell und ästhetisch dichten und spannungsreichen Feldes sichtbar. Das wird nicht nur aus der Perspektive neuerer kulturwissenschaftlicher Fragestellungen (Performativität, Inszenierung, Intermedialität, Materialität) verstehbar, sondern auch im Horizont neuer Suchbegriffe (Form, Formauflösung, Intensität) deutlich. Der vorliegende Tagungsband geht auf ein internationales Siegener Kolloquium des DFG-Projekts „Macht- und Körperinszenierungen: Modelle und Impulse der italienischen Avantgarde“ zurück. Er reflektiert retrospektiv und prospektiv die Impulse des italienischen Futurismus für die Literatur, Kunst und Medienkultur des 20. Jahrhunderts. Mitbedacht wird auch die Vorgeschichte des Futurismus, dessen Spuren in der Philosophie, Medienkultur und Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts zu suchen sind. Unser Dank für das Zustandekommen des Bandes gilt in erster Linie den Autorinnen und Autoren. Für die organisatorische Mitarbeit und redaktionelle Vorbereitung bedanken wir uns besonders herzlich bei Elke Kringe, Sandra Ludwig, Jonas Ivo Meyer, Nicole Pöppel und Theresa Vögle.

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BEWEGUNG ALS LITERARISCHES PROBLEM. E I N S T R E I F Z U G (B A L Z A C , S O U R I A U , P R O U S T ) GREGOR SCHUHEN Bewegung als Gegenstand der Narration ist so alt wie die Literatur selbst. Beste Beispiele hierfür sind antike Epen wie die Odyssee oder frühneuzeitliche Ritterromane wie der Rasende Roland. Die Heldengeschichten sind eingebettet in turbulente Reiseberichte, die einzelnen Stationen bieten jeweils neue Herausforderungen im Hinblick auf heroische Hagiographie. Um 1800 schickt Goethe seinen Wilhelm Meister auf die Reise, um ihn auf der Basis theatralisch vermittelter Initiation seine Lebensschule absolvieren zu lassen, während einige Jahre zuvor bereits Rousseaus promeneur im Rahmen präromantischer Spaziergänge den Sinn des Lebens zu ergründen suchte; ein Motiv, das auch Proust in seiner Recherche wiederaufgreifen wird, als sein noch pubertärer Erzähler auf den beiden côtés von Swann und Guermantes die Präfiguration seines späteren Lebenswegs erkundet. Bewegung, Wanderung und jugendlich codierter Aktionismus erfüllen in den genannten Beispielen primär zwei Zwecke: Sie stellen einerseits das narrative Korrelat zur Entwicklung der Figuren dar, andererseits reflektieren sie spatial, ganz im Sinne von Bachtins Konzept des „Chronotopos“1, den Verlauf des Plots der jeweiligen Geschichte. Hier wird bereits deutlich, dass es zwei Ebenen zu geben scheint, auf denen Bewegung im Rahmen narrativer Modellierung geltend gemacht werden kann: zum einen auf personaler Ebene, d.h. innere Bewegung verstanden als kognitiv-sozialisatorischer Entwicklungsprozess, zum anderen auf einer allgemeinen mechanischen Ebene im Sinne von genuin körperlicher Bewegung, die den dynamischen Rahmen der Narration bereitstellt. Das würde bedeuten, dass Bewegung, zumindest im klassisch-epischen Bereich, seit jeher ein konstitutives Element erzählerischer Darstellungskunst kennzeichnet oder mit anderen Worten: ohne Bewegung keine Geschichte.2

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Vgl. Michail M. Bachtin: Chronotopos, Frankfurt/Main 2008. Vgl. dazu auch Dirk Oschmann: Bewegliche Dichtung. Sprachtheorie bei Lessing, Schiller und Kleist, München 2007 sowie Matthias Buschmeier/Till Dembeck (Hg.): Textbewegungen 1800/1900, Würzburg 2007. 11

GREGOR SCHUHEN

Im Laufe des 19. Jahrhunderts verkompliziert sich dieses wechselseitige Verhältnis auf mitunter spektakuläre Weise. Einen ersten Indikator dafür liefert bereits Balzac mit der Konzeption seiner monumentalen Comédie humaine, die ja nicht zuletzt ein hochdynamisches Experiment darstellt, innerhalb dessen insbesondere die Pariser Gesellschaft als Milieu und Protagonist zugleich dargestellt wird, was poetologisch vor allem im ersten Teil von La Fille aux yeux d’or zum Ausdruck gelangt, ebenso wie im programmatischen Überbau der Comédie humaine, nämlich im Avantpropos aus dem Jahr 1842. Bei Balzac erfährt die Bewegung in Ergänzung zu den bereits skizzierten Implikationen eine soziologische Codierung, die sich nicht zuletzt im direkten Bezug auf gesellschaftliche (Massen-)Bewegungen oder in der Auseinandersetzung mit dem Milieu-Begriff niederschlägt, den Balzac auf überaus fruchtbare Weise geltend macht für die Literatur, aber auch für die sich formierende Disziplin der Soziologie, die spätestens ab 1900 den Begriff der sozialen Bewegung in verschiedenen subkulturellen Milieus untersuchen wird (z.B. Arbeiterbewegung, Jugendbewegung, Schwulenbewegung). Indem das deterministische Milieu laut der anthropologischen Vorstellung Balzacs durch das Streben nach or et plaisir aufgebrochen und überschritten werden kann – ganz im Gegensatz zur späteren MilieuKonzeption Hippolyte Taines oder zum darauf aufbauenden eugenischen Determinismus Zolas –, wird nicht nur die soziale Klassenzugehörigkeit mobilisiert und nivelliert, sondern gleichermaßen das Milieu selbst, dessen Ränder sich dank einer zunehmenden gesellschaftspolitischen Dynamisierung immer mehr auflösen.3 Balzac muss demnach in vielerlei Hinsicht als einer der wichtigsten Vorreiter verstanden werden im Hinblick auf die Faszination für Bewegung und Bewegungsmuster, die um 1900 ihren vorläufigen Kulminationspunkt erreicht. Indem der egomanische Schriftsteller an sein Oeuvre den durch und durch romantischen Anspruch erhebt, die komplette französische Gesellschaft seiner Zeit abzubilden, wird die Bewegung automatisch zu einem dominanten, immer wiederkehrenden Leitmotiv innerhalb seines fiktionalen Universums. Die allgemeine gesellschaftliche Dynamik, das individuell-triebhafte Streben der Figuren nach Aufstieg über die Grenzen der Einzelwerke hinweg, Balzacs dynamische, präkinematografische Beschreibungsweise – all das transformiert den Kosmos der Comédie humaine in ein bewegtes Zeit-Bild mit enormem und gleichsam unscharfem Rahmen.

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Vgl. Rainer Warning: „Chaos und Kontingenzbewältigung in der Comédie Humaine“, in: ders.: Die Phantasie der Realisten, München 1999, S. 35-76. 12

BEWEGUNG ALS LITERARISCHES PROBLEM

Einen ersten Indikator dafür liefert Balzac bereits in einem seiner ersten großen Romane, La Peau de Chagrin aus dem Jahr 1831. Dieser noch sehr stark von genuin romantischen Ingredienzien durchtränkte Text, den Balzac bezeichnenderweise Jahre später einordnen wird in die Kategorie Etudes philosophiques der Comédie humaine, erzählt die Geschichte eines jungen verarmten Adeligen, Raphaël de Valentin, dem in tiefster Depression ein Talisman in die Hände fällt, der ihm jeden Wunsch erfüllt. Der allegorische Zauber des Chagrinleders hat jedoch seinen Preis: Das Leder schrumpft mit jedem erfüllten Wunsch und bringt seinen Besitzer dem Tod immer näher – eine Geschichte also, die angesiedelt werden kann zwischen dem Goethe’schen Fauststoff und Wildes Dorian Gray. Vor diesem Hintergrund entfaltet La Peau de Chagrin eine durchaus überraschende Hinführung zu unserem Thema. Allerdings enthält Balzacs Frühwerk eine prägnante Szene kurz vor dessen Ende, das den Tod des Protagonisten besiegelt. Bereits deutlich gezeichnet vom körperlichen Verfall und voller Verzweiflung darüber sucht Raphaël eine Reihe von Wissenschaftlern auf in der Hoffnung, ein Mittel zu finden, das den Prozess des beschleunigten Alterns wenn nicht rückgängig macht, so doch zumindest aufhält. Diese Passage liest sich wie eine romantisch inspirierte Form von Wissenschaftskritik, die für den späteren Balzac eher ungewöhnlich ist, versteht er doch seine Romane als Amalgam von sciences et lettres, wie er es 1842 programmatisch in seinem Avant-propos entwirft.4 Die Wissenschaftler jedoch, die Raphaël in seiner Not aufsucht, sind allesamt karikaturenhafte, obsessive Fachidioten, die auf sein verzweifeltes Anliegen mit wohlformulierten Diskursen aus ihrem jeweiligen Spezialgebiet antworten. Unter diesen aufgesuchten Gelehrten befindet sich neben einem Zoologen, einem Chemiker und einem Mediziner auch Planchette, seines Zeichens „célèbre professeur de mécanique […] occupé à regarder toujours un abîme sans fond, LE MOUVEMENT.“5 Planchette soll Raphaël ein Mittel zur Verfügung stellen, um seinen bereits empfindlich geschrumpften Talisman wieder auszudehnen. Stattdessen antwortet dieser mit einer Rede über die Bewegung. Hier ein paar Ausschnitte aus dem fast drei Seiten umfassenden Traktat: „La Mécanique a pour but d’appliquer les lois du mouvement ou de les neutraliser. Quant au mouvement en lui-même, je vous le déclare avec humilité, nous sommes impuissants à le définir. Cela posé, nous avons remarqué quelques 4

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Vgl. dazu Joseph Jurt: „La guerre des sciences et des lettres“, in: Walburga Hülk/Ursula Renner (Hg.), Biologie, Psychologie, Poetologie. Verhandlungen zwischen den Wissenschaften, Würzburg 2005, S. 27-42. Honoré de Balzac: La Peau de chagrin, Paris 1974, S. 296. 13

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phénomènes constants qui régissent l’action des solides et des fluides. En reproduisant les causes génératrices de ces phénomènes, nous pouvons transporter les corps, leur transmettre une force locomotive dans les rapports de vitesse déterminée, les lancer les diviser simplement ou à l’infini, sois que nous les cassions ou les pulvérisions; puis les tordre, leur imprimer une rotation, les modifier, les comprimer, les dilater, les étendre. […] De quel nom appelleronsnous cet acte si physiquement naturel et si moralement extraordinaire? Mouvement, locomotion, changement de lieu? […] Qu’est-ce que la force et la vitesse? Notre science est inhabile à le dire, comme elle l’est à créer un mouvement. Un mouvement […] est un immense pouvoir, et l’homme n’invente pas de pouvoirs. Le pouvoir est un, comme le mouvement, l’essence même du pouvoir. Tout est mouvement. La nature est établie sur le mouvement. La mort est un mouvement dont les fins nous sont peu connues. Si Dieu est éternel, croyez qu’il est toujours en mouvement! Voilà pourquoi le mouvement est inexplicable comme lui; comme lui profond, sans bornes, incompréhensible, intangible. Qui jamais a touché, compris, mesuré le mouvement? […] Il nous enveloppe, nous presse et nous échappe. Il est évident comme un fait, obscur comme une abstraction, toute a la fois effet et cause. Il lui faut comme à nous l’espace, et qu’est-ce que l’espace? Le mouvement seul le révèle; sans le mouvement, il n’est plus qu’un mot vide de sens.“6

Aller Ironie zum Trotz liefert uns Balzac hier ein hochinteressantes Exposé, das die Bewegung an sich zum interdisziplinären Faszinationsmuster erhebt, immerhin enthalten diese Ausführungen Anleihen aus Mathematik, Physik, sensualistischer Philosophie und Theologie. Bewegung, Kraft und Beschleunigung werden aufgefasst als epistemologisches Problem, dem ganz offenbar mit der Heuristik zeitgenössischer (Natur-)wissenschaft nicht beizukommen ist, weshalb ein Transzendieren des Phänomens zumindest angedeutet wird. Die nicht explizit genannten, aber dennoch implizit mitverhandelten Kronzeugen des Mechanikprofessors sind Newton, Pascal und Condillac, deren Erkenntnisse nicht ausreichen, um dem Faszinosum der Bewegung seine Geheimnisse zu entlocken. Dies mag möglicherweise daran liegen, dass Planchette einen Bereich komplett ausblendet, um den Rätseln der Bewegung auf die Schliche zu kommen, nämlich den der Ästhetik. Dieser Versuch wiederum wird de facto erst ein halbes Jahrhundert später unternommen. Der heute fast vergessene Kunsthistoriker Paul Souriau verfasst im Jahr 1889 ein Werk mit dem Titel L’esthétique du mouvement. Das Buch bezieht sich tatsächlich ausschließlich auf die Bewegungen von Lebewesen, d.h. menschliche und tierische Bewegungsmuster stehen im Zentrum des Interesses. Entsprechend skizziert Souriau

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Ebd., S. 298f. 14

BEWEGUNG ALS LITERARISCHES PROBLEM

zunächst im ersten Teil „Détermination du mouvement“7 den anatomischen Bewegungsapparat und erläutert auf eher deskriptive Weise die Notwendigkeit von Bewegungen im Hinblick auf physisches und geistiges „plaisir“. Jenes ‚Vergnügen an der Bewegung‘ bezieht Souriau zunächst allerdings nur auf den, der sich selbst bewegt: physisch, weil Bewegung dabei hilft, Schmerzen zu überwinden und geistig, weil sie dazu beiträgt, den amour-propre zu befriedigen. Von genuin ästhetischen Überlegungen lässt sich im ersten Teil der Studie folglich kaum reden. Interessant wird es erst dann, als Souriau die heuristischen Anschauungsobjekte nennt, die ihm dazu dienen, Bewegungsabläufe adäquat zu verschriftlichen, um sie sodann zu studieren: Hierbei beruft er sich auf die wohlbekannten Chronofotografien von Jules Marey. Durch diese fotografischen Experimente, so Souriau, sei es überhaupt erst möglich geworden, wie auch immer perspektivierte Bewegungsstudien zu betreiben. Im zweiten Teil dann beginnt Souriau über die „beauté mécanique“8 nachzudenken, dies ist ein Ausdruck, der bereits im Kern das Vokabular der Futuristen vorbereitet. Weitere Begriffe wie „grâce“9, „adresse“10 und „élégance“11 werden verwendet, um die Schönheit von Bewegungen näher zu typologisieren. Vor allem die „grâce“, die Anmut also, lässt aufhorchen und denken an das Kleist’sche Marionettentheater, allerdings entwickelt Souriau seine eigene Auffassung von dynamischer Anmut ganz anders als der deutsche Autor: „On dit souvent que les mouvements, pour être gracieux, doivent avant tout être naturels. Mais le naturel parfait ne peut être obtenu qu’à force d’art. Il est impossible que dans la grâce il n’y ait pas toujours un peu de coquetterie; et cette coquetterie même lui donne un charme de plus.“12 Und dann schließlich: „La grâce supérieure a donc toujours quelque chose d’intentionnel. Du commencement à la fin, elle reste un produit d’art.“13 Die Anmut als Kunst zu verstehen, die lediglich eine „illusion de la nature“14 vorgaukelt, hat sehr viel mehr zu tun mit dem Ästhetizismus des fin de siècle als mit dem Kleist’schen Verständnis von natürlicher Anmut. Souriau konkretisiert diese Vorstellung von schönen Bewegungen, indem er noch einen weiteren Aspekt hinzufügt: „Le mouvement aura déjà pour nous une certaine beauté quand il sera rythmique; car le rythme est une loi, une forme défi7 8 9 10 11 12 13 14

Paul Souriau: L’esthétique du mouvement, Paris 1889, S. 9-70. Ebd., S. 71ff. Ebd., S. 196ff. Ebd., S. 71ff. Ebd., S. 194. Ebd., S. 164. Ebd., S. 196. Ebd. 15

GREGOR SCHUHEN

nie, quelque chose d’intelligible.“15 Hier verlässt Souriau nun endgültig den Standpunkt des Sich-Bewegenden und wechselt auf die Seite des Betrachters, die ihm ungleich vertrauter sein dürfte, da er bereits fünf Jahre zuvor eine Studie zum Thema La suggestion dans l’art verfasst hatte, in der er rezeptionsästhetische Vorgänge in der Kontemplation von Kunstwerken untersucht hatte. Wichtig an diesem Zusatz zur Wahrnehmung von Bewegung ist der Bezug zur Form, der dann auch prominent wieder auftauchen wird in der futuristischen Ästhetik bewegter Körper, wo es jedoch weniger um eine wie auch immer bestimmte „forme définie“ gehen wird als um deren Auflösung durch Bewegung. Diese Formel fehlt jedoch in Souriaus Abhandlung, was nicht zuletzt am doch recht engen Ästhetik-Begriff liegen mag, den Souriau gleich zu Beginn erörtert und der tatsächlich nur das Studium des Schönen vorsieht. Dafür sprechen auch die ausgewählten Bewegungsfiguren, die als besonders schön aufgefasst werden: Beispiele sind der Eislauf, der interpretiert wird als anmutigste Bewegung schlechthin, dann der Tanz und bestimmte Formen des Reitsports. Mit diesen Bewegungsfiguren aus dem Bereich des Sports schreibt Souriau wieder im Spiegel seiner Zeit, wie man sehr schön in den Gemälden Edgar Degas’ erkennen kann, der bekanntlich fasziniert war von den Bewegungsmustern von Rennpferden und Balletttänzerinnen und sich nahezu obsessiv abarbeitete an der Darstellung jener rhythmischen Bewegungsabläufe. Rhythmus, Anmut, Harmonie und eine wohl definierte Form stellen demnach laut Souriau die maßgeblichen Parameter dar, die als Grundvoraussetzung schöner Bewegungen zu betrachten sind. Souriau liefert dafür auch Beispiele aus anderen kulturellen Bereichen, die nicht mehr nur ausgerichtet sind auf die Bewegungen von Körpern. Im Medium der Sprache führt er die Lyrik heran, weil dort vor allem rhythmische Perfektion zu beobachten ist; des Weiteren nennt er die Musik als medialen Ort, der dazu dienen mag, Vergnügen an Bewegungen, hier bewegten Tönen und Klängen, hervorzurufen. Souriau geht nämlich davon aus, dass Melodien und die begleitende „lecture musicale“16 in der menschlichen Vorstellungskraft visuelle Repräsentationen von Bewegung evozieren: „en même temps que nous entendons une suite de sons d’acuité croissant et décroissante, notre esprit s’en représente le schématisme visuel, le graphique.“17 Diese sensuelle Translation ist aber nur deshalb möglich, weil die Musik, bewegten Körpern vergleichbar, durch Rhythmus ihre schöne Form erhält: „[l]es variations d’intensité, par les idées dynamiques

15 Ebd., S. 75. 16 Ebd., S. 305. 17 Ebd. 16

BEWEGUNG ALS LITERARISCHES PROBLEM

qu’elles nous suggèrent, nous donnent mieux le sentiment du rythme.“18 Als theoretischen Bezugspunkt nennt Souriau die Ausführungen zur Physiologie der Musik von Helmholtz, konkrete Beispiele aus der Musik nennt er hingegen nicht. Man darf jedoch vermuten, dass es sich eher um Bach handelt als um Wagner, mit dem sich nahezu zeitgleich Friedrich Nietzsche auseinandersetzt in seiner theoretischen Entwicklung des Dionysischen in der Kultur.19 Ich komme auch deshalb kurz auf Nietzsche zu sprechen, weil das Dionysische, also das Triebhafte, der orgiastische Rausch und die Ekstase, im Grunde genommen einen ewig bewegten Urgrund der Kultur umschreiben, dessen perfekte künstlerische Umsetzung Nietzsche zufolge das wagnerianische Gesamtkunstwerk darstellt. Hier wird deutlich, dass zwischen den Ausführungen Souriaus zur Musik und Wagners Konzeption des Dionysischen, die vor allem auf das Ungeheure des Lebens abzielt, Welten liegen. Das mitreißende, alles entfesselnde dionysische Klangerlebnis, das Wagners Musik auszulösen imstande ist, lässt sich mit dem mathematisch-geistigen Rezeptionsverständnis schöner, da rhythmischer Melodien, wie es Souriau entwirft, nur schwer in Einklang bringen. Es mag durchaus sein, dass große Teile aus Souriaus Esthétique du mouvement aus heutiger Sicht eine gewisse theoretische Naivität aufweisen, was vielleicht in den Zitaten bereits anklang. In ihrem historisch-ästhetischen Kontext betrachtet, auch das wurde deutlich, schreibt Souriau mit an einem Diskurs über die Ästhetik des Dynamischen, der um 1900 gipfelt in dem Faszinationsmuster Bewegung, das schließlich von den Futuristen aufgegriffen und radikalisiert wird. Dass es sich bei der Jahrhundertwende 1900 um einen symbolisch verdichteten Zeitpunkt handelt, scheint hinlänglich plausibel, wenn man sich die entsprechenden Beschreibungsmuster ansieht: Epochenumbruch, Medienumbruch, Sattelzeit, fin de siècle sind nur einige der gängigen Bezeichnungen, die immer wieder im Diskurs 1900 bemüht werden, um den grundlegenden Veränderungen, Revolutionen und Umwälzungen in nahezu allen kulturellen Bereichen Rechnung zu tragen. Es versteht sich nahezu von selbst, dass auch die Bewegung, verstanden als interdisziplinäres Faszinationsmuster, zu Beginn des 20. Jahrhunderts an kultureller Energie gewinnt. Ein kurzer Blick auf das diskursive Netz reicht aus, um einen ersten Eindruck davon zu erhalten, wie konstitutiv dynamische Konzepte und Modelle für die gesamteuropäische Kultur um 1900 sind. Hier nur einige Beispiele: Arbeiterbewegung, Jugendbewegung, erste be18 Ebd., S. 315. 19 Friedrich Nietzsche: Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik [1872], KSTA 1, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München, New York 1980. 17

GREGOR SCHUHEN

wegte Bilder, Avantgardebewegungen, schnellere Bewegung durch neue Verkehrsmittel, Dynamisierung von Identitätsmodellen durch die freudianische Psychoanalyse, usw. Alles ist im Fluss, alle Zeichen stehen auf Wandel und Neubeginn, alles verändert sich im Sinne eines baudelaireschen „transitoire“ oder eines nietzscheanischen „Stirb und Werde“, was nicht zuletzt auch zu einer grundlegenden philosophisch-ästhetischen Neuverortung des traditionellen Verständnisses von Raum und Zeit führt, wie sie zunächst durch die Philosophie Henri Bergsons vollzogen wird und darauf aufbauend die Ästhetik der Futuristen nachhaltig beeinflusst. Ich möchte in diesem Zusammenhang noch auf ein literarisches Werk zu sprechen kommen, in dem die ästhetische Strahlkraft futuristischer Bewegungsfaszination sehr prägnant zum Ausdruck gelangt. Ein Werk, in dem man den ästhetischen Nachhall des Futurismus möglicherweise am wenigsten vermutet hätte, namentlich A la recherche du temps perdu von Marcel Proust. Es gibt in Prousts Recherche eine Figur, die man als confrère der Futuristen bezeichnen könnte.20 Es handelt sich um den jungen Marquis de Saint-Loup, Inbegriff vitalistischer, juveniler Schönheit. Er hat seinen ersten Auftritt im zweiten Band A l’ombre des jeunes filles en fleurs und seinen letzten im Abschlussband der Recherche mit dem Titel Le Temps retrouvé. Saint-Loup, ein Freund des Erzählers Marcel, mimt über lange Strecken des Romans hinweg den stürmischen und oft tragischen Frauenheld. In Wirklichkeit jedoch ist er ein Wanderer zwischen den Welten, zwischen Sozialismus und Aristokratie, zwischen Erwachsenenwelt und Jugend, zwischen militärischer Disziplin und jovialer Ausgelassenheit und – was die zeitgenössischen Leser enorm empört hatte – zwischen hetero- und homosexueller Orientierung. Am Ende des Romans nämlich werden Saint-Loups homosexuelle Neigungen entlarvt, kurz bevor diese in jeder Hinsicht zerrissene Figur den Freitod an der Kriegsfront wählt. Proust gefällt sich ganz offensichtlich in der sukzessiven Dekomposition seiner Figur – einer Figur wohlgemerkt, die er anlässlich ihres ersten Erscheinens als männliche Variante der Venusgeburt inszeniert. Worin liegt nun genau das futuristische Potenzial des Robert de Saint-Loup begründet? Wenn man sich den Werdegang Saint-Loups innerhalb des Romans vor Augen führt, fällt vor allem auf, dass seine Auftritte stets durch einen 20 Vgl. Michael F. Zimmermann: „Proust zwischen Futurismus und Passatismus“, in: Wolfram Nitsch/Rainer Zaiser (Hg.), Marcel Proust und die Künste, Frankfurt/Main 2004, S. 112-149; vgl. auch Vf.: „Der bewegte Mann. Proust und die Ästhetik des verschwindenden Körpers“, in: Ursula Link-Heer/Ursula Hennigfeld/Fernand Hörner (Hg.), Literarische Gendertheorie: Eros und Gesellschaft bei Proust und Colette, Bielefeld 2006, S. 177-198. 18

BEWEGUNG ALS LITERARISCHES PROBLEM

ungeheuren Dynamismus geprägt sind, so dass man den Eindruck erhält, hier agiert jemand, der permanent unter extremer Anspannung steht, ein extremes Maß an Vitalismus verkörpert und eine energetisch aufgeladene Intensität ausstrahlt.21 So kommt es, dass jeder einzelne seiner Auftritte eine kleine Bewegungsstudie darstellt: Beim ersten Erscheinen eilt er, wie bereits angedeutet, vor dem Hintergrund des Meeres vor den Augen seiner zahlreichen Betrachter davon. Die begehrlichen Blicke verdanken sich seiner ausgesprochenen, nahezu engelsgleichen Schönheit, die Proust sehr detailliert schildert. In der Mitte des Romans wird eine Szene geschildert, in der Saint-Loup in einem Park völlig unvermittelt einen anderen Mann verprügelt, der ihm, wie sich später herausstellt, Avancen gemacht hatte. Die Prügelei beschreibt Proust als „pièce d’artifice“22, in dem sich die beiden Körper so schnell bewegen, dass man lediglich noch „des corps ovoïdes“23 erkennen kann, die in schwindelerregender Schnelligkeit sämtliche nur möglichen Stellungen einnehmen, aus den beiden Fäusten Saint-Loups werden plötzlich sieben. Proust hantiert während dieser Beschreibung äußerst geschickt mit den Kategorien „aggressif“ und „esthétique“, die sich in diesem speziellen Fall als geradezu austauschbar erweisen. Hier wäre ein erster dezidierter Hinweis auf futuristische Ästhetik zu verorten, immerhin lösen sich die Körperformen der beiden Kämpfenden innerhalb dieses Spektakels, das der ästhetisierende Blick des Erzählers mit einem „phénomène astral“ vergleicht, auf in ihre vektoriellen Kraftlinien. Am deutlichsten jedoch lassen sich diese ästhetischen Affinitäten zur italienischen Avantgarde im letzten Auftritt Saint-Loups beobachten. Wenn in der gerade skizzierten Szene der Körper des jungen Adeligen bereits durch beginnende Auflösung im Rahmen einer gewaltvollen Dynamisierung charakterisiert wird, so ist er im letzten, nicht minder spektakulären Auftritt so gut wie gar nicht mehr erkennbar. Der szenische Rahmen dieser Szene ist folgendermaßen aufgebaut: Der Erzähler unternimmt im nächtlichen Paris des Ersten Weltkriegs einen Spaziergang und sucht angesichts eines plötzlichen Bombenalarms Unterschlupf im einzigen beleuchteten Haus in seiner Nähe, das er zunächst für ein merkwürdiges Spionagenest hält, dann für ein Hotel. Keine dieser Einschätzungen wird sich bewahrheiten, doch dazu später. Noch bevor er das unheimli21 Vgl. zur Begriffsgeschichte der Intensität Erich Kleinschmidt: Die Entdeckung der Intensität. Geschichte einer Denkfigur im 18. Jahrhundert, Göttingen 2004; vgl. dazu auch den Beitrag von Daniel Winkler in diesem Band. 22 Marcel Proust: A la recherche du temps perdu, hg. v. Jean-Yves Tadié, 4 Bde., Paris 1987-1989; hier: Bd. II, S. 480. 23 Ebd. 19

GREGOR SCHUHEN

che Etablissement betritt, sieht er einen jungen Mann aus der Haustür treten und sich eiligen Schrittes entfernen, der sich als sein bester Freund erweisen wird: „[...] et ma curiosité le fut aussi quand j’en vis sortir rapidement à une quinzaine de mètres de moi, c’est-à-dire trop loin pour que dans l’obscurité profonde je puisse le distinguer, un officier. Quelque chose pourtant me frappa qui n’était pas sa figure que je ne voyais pas, ni son uniforme dissimulé dans une grande houppelande, mais la disproportion extraordinaire entre le nombre de points différents par où passa son corps et le petit nombre de secondes pendant lesquelles cette sortie, qui avait l’air de la sortie par un assiégé, s’exécuta. De sorte que je pensai, si je ne le reconnus pas formellement – je ne dirai pas même à la tournure, ni à la sveltesse, ni à l’allure, ni à la vélocité de Saint-Loup – mais à l’espèce d’ubiquité qui lui était si spéciale. Le militaire capable d’occuper en si peu de temps tant de positions différentes dans l’espace avait disparu sans m’avoir aperçu dans une rue de traverse, et je restais à me demander si je devais ou non entrer dans cet hôtel dont l’apparence modeste me fit fortement douter que c’était Saint-Loup qui en était sorti.“24

Diese atemberaubende Szene lässt sich interpretieren als deutliche Anspielung auf Marcel Duchamps Nu descendant un escalier (1912), genauso gut aber könnte man sich darüber streiten, ob Saint-Loups Motilität motivisch eher Boccioni oder Duchamp verpflichtet ist.25 Fest steht jedoch, dass Saint-Loups Fähigkeit, in kürzester Zeit möglichst viele Punkte im Raum zurückzulegen, d.h. seine leitmotivische „vélocité“ und „ubiquité“, deutlich futuristische Züge aufweist und mithin die „Selbstauflösung Saint-Loups zum Phantom seiner selbst“ einleitet. Die Form seines Körpers dominiert, von einer zunehmenden Unschärfe getragen, über Physiognomie und Aussehen und diese Form, die durch eine Uniform bekleidet ist, löst sich immer mehr auf im Rausch der Beschleunigung – aus vestimentärer uni-forme wird dynamisierte multi-forme. Auch Henri Bergsons Konzeption der Raumzeitlichkeit dürfte Pate gestanden haben bei der Darstellung dieser Fluchtszene und wir haben es hier tatsächlich zu tun mit einer Flucht, da es sich bei dem vermeintlichen Hotel um ein Männerbordell handelt, in dem sich der junge Offizier zuvor vergnügt hatte und in dem der Erzähler nun zufällig landen wird. Es ist zweifellos ein langer Weg von den Wanderungen Wilhelm Meisters bis zu Prousts fliehenden Figuren. Bewegung wird umcodiert von bildender Entwicklung zu dynamisierter Dekomposition. Das ästhetische 24 Ebd., Bd. IV, S. 389. 25 Vgl. M.F. Zimmermann, „Proust zwischen Futurismus und Passatismus“, S. 140. 20

BEWEGUNG ALS LITERARISCHES PROBLEM

Interesse an der Bewegung als solcher, das sich die Futuristen auf ihre stets wehenden Fahnen schrieben, hält Einzug in die écriture des französischen Schriftstellers, der bekanntlich mit großem Interesse die künstlerischen und wissenschaftlichen Neuerungen seiner Zeit rezipierte. Und die futuristische Bewegungsästhetik, so zeigen es einige Beiträge dieses Bandes, beeinflusst nicht nur das Werk Prousts. Ich möchte abschließend im Rückblick auf die von mir ausgewählten Beispiele noch einmal ganz deutlich darauf aufmerksam machen, dass sich die Futuristen mit ihrer Apotheose der Geschwindigkeit und mit ihren ästhetischen Versuchen, diese in Bilder, Texte und Skulpturen zu transformieren, in ein bereits bestehendes Faszinationsmuster Bewegung einreihten, dieses jedoch innovativ, lautstark und selbstbewusst einer extremen Radikalisierung unterziehen. Damit wird zwar der Avantgardestatus des Futurismus teilweise mit retrogarden Tendenzen versetzt – eine Aporie, auf die auch Ralf Schnell aufmerksam macht26 –, was jedoch nicht bedeutet, dass die gar nicht so neuen Neu-Errungenschaften nicht ausdrucksstark genug sind, um wiederum gewichtige ästhetische Impulse zu liefern für ein weiteres Nachdenken über die mediale Vermittlung bewegter Körper.

26 Ralf Schnell: „Die Avantgarde als Retrogarde. Aporien der Medienavantgarden“, in: ders. u.a. (Hg.), Medienanthropologie und Medienavantgarde. Ortsbestimmungen und Grenzüberschreitungen, Bielefeld 2005, S. 121142. 21

BILDER IMPULSE

DER

BEWEGUNG. ITALIENISCHEN AVANTGARDE IN

MARIJANA ERSTIĆ Alle „Form ist nur die Momentaufnahme eines Übergangs“1 – dieser Satz Henri Bergsons erweist sich als zutreffend für die Fotografie und den Film der Avantgarden. „Alles bewegt sich, alles fließt, alles vollzieht sich mit größter Geschwindigkeit“2 – dieser Satz aus dem Manifesto tecnico della pittura futurista veranschaulicht die neu entdeckte Freude an der Bewegung. Die für die fotografischen Experimente der Wissenschaftler und Künstler des ausgehenden 19. Jahrhunderts charakteristische Erforschung des bewegten Körpers, seiner technischen Reproduzierbarkeit und der modifizierten Perzeption von Bewegungsabläufen wurde in den Laboratorien des Futurismus als Frage nach den Wahrnehmungsmustern von Bewegung überhaupt formuliert und in Form von Kraftfeldern inszeniert, anhand derer die Relation Betrachter-Artefakt neu definiert werden sollte. Die charakteristischsten Tendenzen der Bewegungsstudien des zwanzigsten Jahrhunderts lassen sich im ‚fotodinamismo futurista‘ und im Film, der in der Nachfolge auch dieser Bewegung entstanden ist, entdecken3. Analog zur um 1900 äußerst lebhaft rezipierten Bergson’schen Theorie gab es kein futuristisches Projekt, das sich nicht intensiv mit der Überwindung der Grenze, die die Kunst von der sinnlichen Erfassung der Wirklichkeit trennt, beschäftigte. So experimentierte Anton Giulio Bragaglia bei der Auseinandersetzung mit den futuristischen Topoi und Darstellungsmodi ausschließlich mit den Möglichkeiten der technischen Medien, um die Energie des Körpers sowie die aus ihr resultierenden, differenziellen Spielräume von Gegenständlichkeit und Wahrnehmung zu vergegenwärtigen – eine Fragestellung, die die Fotodynamiken mit Ansätzen der heute aktuellen Fotografie teilen.4 Die im Anschluss an Bergson 1

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Zit. nach: A.L. Rees: „Das Kino und die Avantgarden“, in: Geoffrey Nowell-Smith (Hg.), Geschichte des internationalen Films, Stuttgart 1998, S. 89-98, hier S. 89. „Tutto si muove, tutto corre, tutto volge rapido“. Umberto Boccioni [u.a.]: „La pittura futurista. Manifesto tecnico“, in: Mario Verdone: Il futurismo, Rom 2003, S. 128-130, hier S. 128. Vgl. dazu Giovanni Lista: Cinema e fotografia futurista, Mailand 2001. Vgl. z.B. die Ausstellung EXodus der deutsch-polnischen Fotografin Georgia Krawiec an der Universität Siegen vom 27.02.-30.04.2009, die im Rahmen des Projektes „Macht- und Körperinszenierungen. Modelle und Impulse der italienischen Avantgarde“ stattfand.Georgia Krawiec: Exodus. Mit 23

MARIJANA ERSTIĆ

entstandenen Fotografien Bragaglias scheinen die Erkenntnisse der Naturwissenschaften, insbesondere der Quantenmechanik und der Heisenberg’schen Zeittheorien zu antizipieren, denn wie die Wissenschaft, so stuft auch Bragaglia, der in den ersten Jahren des Futurismus vergeblich auf eine Aufnahme in die Gruppe wartete, das Verhältnis von Materie, Bewegung und physikalischer Zeit als unhintergehbar ein, und auch er knüpft die Wahrnehmung an Termini wie ‚Relativität‘ und ‚Unbestimmtheit‘ an.5 Im Gegensatz zur Chronofotografie verdeutlichen die Fotodynamiken das Wesen der Bewegung nicht in der Rekonstruktion einer synkopierten Aktionsstrecke, sondern in der intermomentanen Flugbahn einer Geste. Die Fotodynamiken thematisieren die verkennende Repräsentation der technischen Medien als Effekt des grundsätzlich Ephemeren der Wahrnehmung: Die Fotodynamiken zeigen das, was zwischen den einzelnen Stadien einer Bewegung passiert und dem bloßen Auge unsichtbar bleibt.6 Somit erheben sie das Medium ‚Fotografie‘ auf eine Metaebene, welche die Perzeption offenlegt und dekonstruiert. Aus medienanthropologischer Sicht war es der Film, der die Änderung der Wahrnehmungs- und Inszenierungsmuster um 1900 begründete.7 In ihm fand jene ‚Katastrophe der Gestik‘ ihren Höhepunkt aber auch ihre Überwindung, die in den philosophischen Ansätzen Friedrich Nietzsches, Gilles de la Tourettes, Aby Warburgs thematisiert wurde.8 Doch eher noch als die Bewegungs-Bilder der ersten Kinojahrzehnte9 werden

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einführenden Texten von Marijana Erstić und Adam Mazur, hg. von Galeria Sztuki Wozownia, Torun/Thorn 2009. Vgl. Michael W. Zimmermann: Seurat. Sein Werk und die kunsttheoretische Debatte seiner Zeit, Weinheim 1991 und Jonathan Crary: Suspensions of perception. Attention, spectacle and modern culture, Cambridge/Mass. 1999 (dt.: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, Frankfurt/Main: 2002). Vgl. auch Sandro Bocola: Die Kunst der Moderne. Zur Struktur und Dynamik ihrer Entwicklung, München 1997. Vgl. Silvia Abbel: „Der Fotodynamismo des italienischen Futurismus und sein Verhältnis zur Malerei: Bragaglia, Boccioni, Balla“, in: Wolfgang Beilenhoff/Verf./Walburga Hülk/Klaus Kreimeier (Hg.), Gesichtsdetektionen in den Medien des zwanzigsten Jahrhunderts, Siegen 2006, S. 107-133. Vgl. Ralf Schnell/Georg Stanitzek (Hg.): Ephemeres. Mediale Innovationen 1900/2000, Bielefeld 2005 sowie Spiel: Siegener Periodicum zur Internationalen Empirischen Literaturwissenschaft 20 (2001), H. 2, Sonderdruck 2003 (Forschungskolleg Medienumbrüche). Giorgio Agamben: „Noten zur Geste“, in: Hemma Schmutz/Tanja Widmann (Hg.), Dass die Körper sprechen, auch das wissen wir seit langem, Köln 2004, S. 39-48. Gilles Deleuze: Kino 1. Das Bewegungs-Bild, Frankfurt/Main 1989. 24

BILDER IN BEWEGUNG

jüngst in diesem Zusammenhang die Zeit-Bilder des Neorealismus10 als paradigmatische Orte eines durch das performative Schauspiel sich auszeichnenden Neudenkens des Kinos11 oder als Beispiele einer mimischen Entladung12 verstanden. Die Neubewertung des bewegten Körpers und somit vor allem der Geste lässt sich jedoch bereits innerhalb der Fotografie des 19. Jahrhunderts erkennen, also innerhalb jenes Mediums, welches das groß angelegte Warburg’sche Mnemosyne-Projekt zum einen überhaupt ermöglichte13 und zum anderen die Faszination an der Bewegung des späten 19. Jahrhunderts zu dokumentieren, wenn nicht gar hervorzurufen schien.14 Epochenästhetisch markieren die historischen Avantgarden, namentlich der Futurismus, einen der prägnantesten Orte der angesprochenen Krise der Bewegung, der Gestik und der Wahrnehmung. Hier werden anstatt der Kategorien von Zeit, Raum und Bewegung alternative Parameter wie Ereignis, Erregung, Impuls und Intuition inszeniert. Die Kraftfelder des bewegten Körpers, der Formen und der Farben sowie die intendierte Erregung des Betrachters durch das kinetische Potenzial visueller Darstellungen sind hier in den Manifesten15 und in den AntiWerken formuliert worden. Sie sind im Futurismus immer das Resultat einer mal retro-

10 G. Deleuze: Kino 2: Das Zeit-Bild. Frankfurt/Main 1991. 11 Anja Streiter: „Doch das Paradies ist verriegelt…“, in: H. Schmutz/T. Widmann (Hg.), Dass die Körper sprechen, auch das wissen wir seit langem, S. 49-64. 12 Karl Sierek: „Eye-Memory und mimische Entladung. Der Warburg-Kreis und die Darstellung des Gesichts in bewegten Bildern“, in: montage/av 13 (2004), H.1, S. 50-71 (Thema des Heftes: Das Gesicht im Film/Filmologie und Psychoanalyse, hg. v. Joanna Barck/Wolfgang Beilenhoff). 13 Vgl. Ernst H. Gombrich: Aby Warburg. Eine intellektuelle Biographie, Frankfurt/Main 1981. 14 Vgl. Gabriele Brandstetter: „,Ein Stück in Tüchern‘. Rhetorik der Drapierung bei A. Warburg, M. Emmanuel, G. Clérambault“, in: Vorträge aus dem Warburg-Haus, Bd. 4, 2000, S. 107-139, dies.: Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde, Frankfurt/Main 1995; Philippe-Alain Michaud: Aby Warburg et l’image en mouvement. Préface de Georges Didi-Huberman, Paris 1998; Marta Braun: Picturing time. The work of Etienne-Jules Marey (1830-1904), Chicago 1992; Benedetta Cestelli Giudi/Nicholas Mann (Hg.): Grenzerweiterungen. Aby Warburg in Amerika 1895-1896, Hamburg, München 1999. 15 Luciano Caruso (Hg.): Manifesti, proclami, interventi e documenti storici del futurismo. 1909-1944, Bd. 1-5, Florenz 1990. 25

MARIJANA ERSTIĆ

gardistischen16 mal avantgardistischen17 Auseinandersetzung mit der Zeitphilosophie Henri Bergsons18 und mit den Darstellungsmodi der um 1900 Neuen Medien Fotografie und Film.19 Während die Malerei des ,primo futurismo‘ die Energie ihrer Erregungsbilder zunehmend mittels eines Dynamismus der immer abstrakter werdenden Formen und Farben auszulösen suchte, operierten die Fotografien Anton Giulio und Arturo Bragaglias ihrem referenziellen Charakter gemäß mit der Spur einer aufgenommenen Geste, die nicht nur die Körperformen zugunsten von Bewegungen und Impulsen auflösen, sondern die auch den Betrachter affizieren, ihn ‚mitten ins Bild‘ hinein versetzen sollten (Abb. 1). Diese Hybridisierung und Differenzierung innerer und äußerer Bilder20, die Analyse und Performativität der Kraftlinien scheinen immer wieder mit einer geradezu engrammatischen Erregung des Betrachters zu korrespondieren. Damit ist jene zu Beginn des 20. Jahrhunderts angenommene Fähigkeit des Gehirns gemeint, während der Wahrnehmung innezuhalten, in das Gedächtnis eine Art ,Screenshot‘ des ,bewegten Lebens‘ einzuprägen und dasselbe ‚Erregungszeichen‘ immer wieder zu reaktivieren, die Aby Warburg als den Beweis seines Mnemosyne-Konzepts ansah.21

16 Vgl. Umberto Boccioni: Futuristische Malerei und Plastik. Bildnerischer Dynamismus, hg. v. Astrid Schmidt-Burkhardt, aus dem Italienischen von Angelika Chott, Dresden 2002. 17 Anton Giulio Bragaglia: Fotodinamismo futurista. Con un regesto di Antonella Vigliani Bragaglia, Turin 1970. 18 Henri Bergson: L’évolution créatrice, Paris 121931 (dt.: Schöpferische Entwicklung, Zürich 1967), ders.: Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist, Hamburg 1991. 19 Giovanni Lista: Cinema e fotografia futurista, Mailand 2001, ders.: Futurism & Photography, London 2001. Vgl. auch Karl Gunnar Pontus Hulten (Hg.): Futurismo & futurismi, Mailand 1986 (Katalog der gleichnamigen Ausstellung im Palazzo Grassi, Venedig 1986), Norbert Nobis: Der Lärm der Straße. Italienischer Futurismus 1908-1918, Hannover 2001 (Katalog der gleichnamigen Ausstellung im Sprengel Museum, Hannover 2001), Ingo Bartsch/Maurizio Scudiero (Hg.): „…auch wir Maschinen, auch wir mechanisiert!…“ Die zweite Phase des italienischen Futurismus 1915-1945, Bielefeld 2002 (Katalog der gleichnamigen Ausstellung im Museum am Ostwall, Dortmund 2002). 20 Vgl. Gottfried Boehm: Was ist ein Bild? München 2001. 21 Vgl. Richard Semon: Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des modernen Lebens, Leipzig 41920. 26

BILDER IN BEWEGUNG

Abbildung 1: Anton Giulio Bragaglia: Salutando/Der Gruß, 1911

Das soziale Gedächtnis22 ist Warburg zufolge in die Zukunft gerichtet und es trägt einen performativen Charakter23. Die Charakterisierung des Werks als „etwas in Richtung auf den Zuschauer feindlich Bewegtes“24 scheint wiederum mit dem Punktum Roland Barthes’ (1980) geradezu identisch.25 Die Merkmale einer vergleichbaren Überwindung der Grenze zwischen Kunst und Wirklichkeit sollten den Manifesten zufolge insbesondere in der futuristischen Malerei und Plastik visualisiert werden. Doch es ist die synthetische Bewegungsspur einer Geste innerhalb des fotodinamismo futurista, die – eher noch als die Bewegungssynkopen Eadweard James Muybridges, die Bewegungskalligrafien Etienne-Jules Mareys oder auch die futuristische Skulptur und Malerei – mit einer zwi-

22 Carlo Ginzburg: „Da A. Warburg a E. H. Gombrich (Note su un problema del metodo)“, in: Studi Medievali, 3.R., VII (1966), S. 1015-1065 (dt. „Kunst und soziales Gedächtnis. Die Warburg-Tradition“, in: ders.: Spurensicherungen. Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst, Berlin 2002, S. 83-173). 23 Martin Warnke: „Der Leidschatz der Menschheit wird humaner Besitz“, in: Werner Hofmann/Georg Symaken/ders., Die Menschenrechte des Auges. Über Aby Warburg, Frankfurt/Main 1980, insb. S. 141. 24 E.H. Gombrich: Aby Warburg, S. 180f. 25 Vgl. Ulrich Raulff: Wilde Energien. Vier Versuche über Aby Warburg, Göttingen 2003, S. 43. 27

MARIJANA ERSTIĆ

schen Ruhe und Bewegung changierenden Struktur der Pathosformeln korrespondiert. Die Frage ist auch, ob die in der aufgelösten, affektierten Gebärdensprache der Fotodynamik inbegriffenen Hinterfragungen des Sehens26 eine Überführung des Warburg’schen Ansatzes auf die Formen der Abstraktion ermöglicht (Abb. 2). Zu Futurismus und Abstraktion erfolgt demnächst eine Ausstellung in Venedig (ab Juni 2009).27 Abbildung 2: A. G. Bragaglia: Mano in moto / Hand in Bewegung, 1911

26 Vgl. Jacques Aumont: „Projektor und Pinsel. Zum Verhältnis von Malerei und Film“, in: montage/av 1 (1992), H.1, S. 77-89 und ders.: L’œil interminable. Cinéma et peinture, Paris 1989 sowie M. F. Zimmermann: Seurat. Sein Werk und die kunsttheoretische Debatte seiner Zeit, Weinheim 1991 und J. Crary: Suspensions of perception. Attention, spectacle and modern culture, Cambridge/Mass. 1999. 27 Vgl. Thomas Steinfeld: „Die Verwandlung der Welt in ein Tatort“, in: http://www.sueddeutsche.de/255382/727/2765094/Die-Verwandlung-derWelt-in-einen-Tatort.html vom 11.03.2009. 28

BILDER IN BEWEGUNG

Somit geht es im Bereich der futuristischen Fotografie nicht um die im weitesten Sinne kulturanthropologischen Elemente28 bzw. um die Toposformeln und ikonologischen Aspekte der Figurationen.29 Im Zentrum stehen vielmehr die Bewegungs-Formeln affektiver Gestik, anhand derer in der Kunst von der Frührenaissance bis zur Fotografie und zum Film der ersten drei Dekaden des zwanzigsten Jahrhunderts die figuralen und semantischen Zusammenhänge erforschbar werden, sondern auch die durch die veränderten medialen Gegebenheiten bedingten neuen Wahrnehmungsmuster. Die bisher weitestgehend unerforschte Kompatibilität der Engrammtheorie Warburgs mit dem Fotografieansatz Roland Barthes’30, primär aber mit dem Gedächtniskonzept Bergsons,31 das weniger als ein ,Speichern‘32 zu verstehen ist denn als eine in die Zukunft gerichtete Energie und als Impuls,33 kann den theoretischen Ausgangspunkt der Untersuchung bilden.

28 Vgl. Peter Burke: „Aby Warburg as Historical Anthropologist“, in: Horst Bredekamp/Michael Diers/Charlotte Schoell-Glass (Hg.), Aby Warburg. Akten des internationalen Symposiums, Hamburg 1990; Sigrid Weigel: „Aby Warburgs Schlangenritual. Korrespondenzen zwischen der Lektüre kultureller und geschriebener Texte“, in: Aleida Assmann (Hg.), Texte und Lektüren. Perspektiven in der Literaturwissenschaft, Frankfurt/Main 1996, S. 269-288, beide im Anschluss an Warburg. 29 Vgl. Ulrich Pfisterer/Max Seidel (Hg.): Visuelle Topoi. Erfindung und tradiertes Wissen in den Künsten der italienischen Renaissance, Berlin, München 2003. 30 Roland Barthes: La chambre claire. Note sur la photographie, Paris 1980. 31 Vgl. hierzu Ulrich Raulff: Der unsichtbare Augenblick. Zeitkonzepte in der Geschichte, Göttingen 2000; Gabriele Brandstetter: „Choreographie als Grab-Mal. Das Gedächtnis von Bewegung“, in: dies./Hortensia Völckers (Hg.), Re-Membering the Body. Körper-Bilder in Bewegung, Ostfildern/Ruit 2000a, S. 102-134, Gilles Deleuze: Le bergsonisme, Paris 121968 (dt.: Henri Bergson zur Einführung, Hamburg 1989). 32 Vgl. hierzu Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, S. 224ff. 33 Walburga Hülk: „Mémoire 1900. Umbruch eines Psychems als Signatur eines kulturellen und medialen Umbruchs“, in: Katrin van der Meer/Heinz Thoma (Hg.), Epochale Psycheme, Würzburg 2006, S. 169-182, dies.: „Fugitive beauté – Spuren einer intermedialen Laune und Leidenschaft“, in: U. Felten/M. Lommel/I. Maurer Queipo (Hg.), „Esta locura por los sueños“. Traumdiskurse und Intermedialität in der romanischen Literatur- und Mediengeschichte, Heidelberg 2006, S. 165-178. 29

MARIJANA ERSTIĆ

Der futuristische Ikonoklasmus34 und die im Verschwinden begriffenen Körper in Fotografien und Filmen der Avantgarde (Bragaglia; Fernand Leger; Corrado d’Errico; Tina Cordero/Guido Martina/Pippo Oriani; Marcel l’Herbier; Jean Epstein; Germaine Dulac) implizieren zudem eine Weiterführung aber auch eine potenzielle Überwindung des auf die gegenständlichen Aspekte der Figuration konzentrierten Warburgschen Denkens.35 Eine der Überwindungsmöglichkeiten ist das Zeit-Bild mit seiner Auffächerung der filmischen Struktur. In dem Film Velocità (1931), einem Film von Tina Cordero, Guido Martina und Pippo Oriani, der der zweiten Phase des Futurismus zugeschrieben wird, wird ein ganzes Repertoire unterschiedlicher tänzerischer Bewegungsstudien in Szene gesetzt und die Frage ist, ob nicht bereits die aufgefächerte Bewegung eine Vielschichtigkeit des Bildes ankündigt. Zudem kann die These aufgestellt werden, dass bereits die genuin avantgardistischen Filme Fernand Legers, Louis Buñuels, Jean Cocteaus oder Germaine Dulacs mit kristallinen Strukturen arbeiten, mit jenen Ununterscheidbarkeitszonen, die Gilles Deleuze dem Kino seit dem Neorealismus und seit Orson Welles zuspricht. Mittels der Auffächerung des filmischen Bildes, vor allem aber mittels einer potenzierten Traumstruktur, wird in den frühen avantgardistischen Filmen die Zeitlichkeit des Bildes aufgefächert, werden neue Dimensionen des Seins in einem Bild konzentriert. Doch wenngleich auch hier mit Traumstrukturen gearbeitet wird, so fehlt doch zumeist ein wichtiges Merkmal des Kristallbildes – dasjenige einer mit der Gegenwart gleichberechtigten Vergangenheit und Erinnerung. Dass der Fotodynamismus innerhalb der Fotografie- und der Filmgeschichte des 20. Jahrhunderts mehrfach zitiert und umcodiert worden ist, zeigen auch jene aktuellen Körperdynamiken und die mit diesen einhergehenden Formen der Aufmerksamkeit, welche die fotografischen Körperauflösungen und Bewegungs-Experimente des Medienumbruchs 1900 (Marey, Muybridge, Bragaglia, Wulz) zitieren und/oder neu bewerten (Gert Bonfert, Duane Michals, Thomas Ruff, Georgia Krawiec).36 34 Vgl. Hanno Ehrlicher: Die Kunst der Zerstörung. Gewaltphantasien und Manifestationspraktiken europäischer Avantgarden, Berlin 2001. 35 Vgl. Gottfried Boehm: „Mnemosyne. Zur Kategorie des erinnernden Sehens“, in: ders./Karlheinz Stierle/Gundolf Winter (Hg.), Modernität und Tradition. Festschrift für Max Imdahl zum 60. Geburtstag, München 1985, S. 37-57. 36 Vgl. dazu: Cornelia Kemp/Susanne Witzgall (Hg.): Das zweite Gesicht. Metamorphosen des fotografischen Porträts, München 2002 (Katalog der gleichnamigen Ausstellung im Deutschen Museum München, München 2002), Alain Fleischer: La Vitesse d’Evasion, Paris 2003, Wolfgang 30

BILDER IN BEWEGUNG

Ich fasse zusammen: Die futuristischen Fotodynamiken haben ihre Weiterführung gefunden sowohl in den Experimenten der Malerei – hierbei ist vor allem Giacomo Balla zu nennen –, als auch im futuristischen Film. Sie stellen die Formen der Geste in einer intermomentanen Flugbahn dar und korrespondieren, so die These, sowohl mit den Überlegungen Henri Bergsons als auch mit jenen Aby Warburgs. Sie sind gleichzeitig Vorformen einer filmischen Auseinandersetzung mit dem Problem der Darstellung der Bewegung und antizipieren die Formen des Zeitbildes, die Gilles Deleuze zufolge mit dem Film des Neorealismus ansetzen.

Ullrich: Die Geschichte der Unschärfe, Berlin 2003, sowie die Ausstellung EXodus der deutsch-polnischen Fotografin Georgia Krawiec an der Universität Siegen vom 27.02.-30.04.2009. 31

KÖRPER IN

PROSA: BEWEGUNG UND THEATRALIK D E R E R Z Ä H L K U N S T F.T. M A R I N E T T I S IN

GIUSEPPINA BALDISSONE Die Entfaltung der Theatralik, die allen literarischen und künstlerischen Genres innewohnt, ist die große Errungenschaft des Futurismus und allen voran die Filippo Tommaso Marinettis. Genau die Theatralik ist das Element, das in der Lage ist, die Schranken zwischen den Gattungen einzureißen, indem es Simultaneität und Bewegung erzeugt. Dennoch ist es die Erzählung, die Marinetti nur mit größter Anstrengung zu beschleunigen vermag (man denke an Mafarka und an Gli Indomabili, deren Satzbau immer noch etwas traditionell erscheint). Nur in einigen Texten der letzten Schaffensperiode, insbesondere in den Novelle con le labbra tinte und im unveröffentlicht gebliebenen Roman Venezianella e Studentaccio gelingt es Marinetti, Körper und Körperteile in Bewegung zu versetzen, indem er ein avantgardistisches Erzählmodell geschaffen hat, das in der Folge Weiterentwicklungen im Strukturalismus und in den Neoavantgarden erfahren wird. Die Tatsache, dass ausgerechnet jene Schranken zwischen den Genres beachtet werden, die Marinetti zu beseitigen gedenkt, mag als ein Widerspruch erscheinen. Dennoch sind es gerade deren eigene Definitionen, die uns dazu veranlassen, das Paradoxon wieder zu untersuchen: Die Termini ‚Novelle‘ und ‚Roman‘ werden ausdrücklich vom Autor eingesetzt, als wolle er seine Herausforderung ins Herz der Einrichtung selbst, d.h., in die regelhaften Formen der in Gattungen unterteilten Erzählkunst, legen. Bezüglich der Auswertung dieses Marinetti’schen ‚Versagens‘ in jenem Moment, in welchem er eine Auflösung versucht, aber keine Antwort auf den Versuch, zu erzählen ohne zu erzählen, findet – die Revolution der Erzählung, ob kurz oder lang, einzig den gegenstandslosen und ideellen Themen und Figuren anvertrauend – verweist die Verfasserin auf ihre vorangegangenen Studien.1 Tatsächlich repräsentiert Mafarka il futurista den misslungenen Versuch eines futuristischen Romans, ebenso wie Gli Indomabili. Es handelt sich im Grunde um zwei afrokoloniale Romane, die wie in einem großen

1

Vgl. Verf.: Filippo Tommaso Marinetti, Mailand 1986. 33

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Hypertext in jenes bezaubernde Büchlein der Erinnerungen, namentlich Il fascino dell’Egitto2, eingeschrieben sind. Ihre Surrealität, die zwar fähig ist, den Palazzeschi des Jahres 1911, und damit den ein Jahr nach der italienischen Übersetzung des Mafarka erschienenen Codice di Perelà anzuregen, reicht jedoch allenfalls dazu, die Verwendung rhetorischer Figuren zu steigern. Sie ist jedoch nicht in der Lage, das Satzgefüge aus den Angeln zu heben. Die Geburt Gazurmahs durch Mafarka, ohne das Eingreifen der Frau, als eine Art selbstbewegliches Jünglings-Denkmal, das sowohl Boccioni als auch Tatlin3 zuvorkommt, erscheint als eine sehr dynamische Erzählung vor dem Hintergrund, dass das selbstbewegliche Monument mit Flügeln gewappnet ist, um abheben zu können. Ebenso verführt in den Indomabili durch die augenscheinliche Beweglichkeit und Vorzeitigkeit des Bildes (man wird an Fahrenheit 451!4 erinnert) die Feuersbrunst aus Papieren, die neue Papierfetzen, Bücher aus Büchern, entstehen lassen, indem sie Worte wie Feuerstrahlen ins Firmament schleudern. Tatsächlich bleibt in diesen zwei futuristischen Romanen alles statisch und der Grund für diese Bewegungslosigkeit ist am Gebrauch eines Satzbaus festzumachen, der den grammatikalischen Regeln folgt. Ebensolches gilt für den Tagebuch-Roman über den Krieg, verkörpert durch Alcova d’acciaio5. Lediglich der ‚brisante Roman‘ 8 anime in una bomba aus dem Jahr 1919 stellt eine Ausnahme in diesem Erzählpanorama dar, in dem die Genres im Wesentlichen beachtet werden: Einmal

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Die Beurteilung Luciano De Marias der Indomabili drückt hingegen Wohlgefallen an der erreichten Sachlichkeit der Marinetti’schen Erzählkunst im Vergleich zur symbolistischen Periode aus: vgl. Luciano De Maria: Marinetti viaggiatore, Einleitung zu Filippo Tommaso Marinetti: Il fascino dell’Egitto, Mailand 1981, S. 13: „Prima del futurismo [...] Marinetti era scrittore pletorico, ridondante, spesso greve e maccchinoso nella struttura sintattica e metaforica. La teoria e la prassi delle „parole in libertà“ con la famosa „distruzione della sintassi“, che era piuttosto un ridurla, limitarla agli elementi essenziali (sostantivi, verbi all’infinito ecc.) rappresentano [...] una cura disintossicante [...] che darà i suoi frutti soprattutto nel romanzo Gli Indomabili (1922) e nel Fascino dell’Egitto.“ Umberto Boccioni gestaltet 1913 „Einzigartige Formen der Kontinuität im Raum“, Wladimir Jewgrafowitsch Tatlin verwirklicht 1919 das Monument der Dritten Internationale. Ray Bradbury publiziert 1953 Fahrenheit 451: Sein Ruhm ist zum Teil dem gleichnamigen Film François Truffauts aus dem Jahr 1966 zu verdanken. „Romanzo vissuto“, ‚erfahrener Roman‘, wie im Untertitel aufgeführt, publiziert von Vitagliano im Jahr 1921 in Mailand (dann 1927 von Mondadori), ist 1985 von Serra e Riva in Mailand wiederveröffentlicht worden. 34

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mehr ist die Ausnahme dennoch eher der typografischen Revolution als der Explosion des Satzgefüges geschuldet. Es handelt sich um eine Schwierigkeit, der sich Marinetti bewusst zu sein scheint. So bekennt er in der Einführung zu den Novelle colle labbra tinte, dass es ihm gelungen sei, die Simultaneität in der Dichtung früher als in der Erzählung realisiert zu haben: „Nel mio volume di parole in libertà Zang-Tumb-Tumb (1912) io offrivo già questa perfetta simultaneità lirica.“6 Wenig später fügt er hinzu: „In questo volume le novelle simultanee sono seguite da ciò che io chiamo Programmi di vita con varianti a scelta, altro modo di raggiungere la simultaneità.“7 Es sei daran erinnert, dass Marinetti auch in den Manifesten, mit denen er in jeden Kommunikationsbereich vordringt, und die auf ihre Art und Weise die Kodierung des Genres ‚Manifest‘ konstituieren, dazu neigt, das Charakteristikum jedes einzelnen Bereiches zu wahren: Nachdem er voneinander getrennt Gedicht, Roman, Theater, Malerei, Tanz, Küche, Kino, Radio (la ‚radia‘) und sogar Fernsehen abgehandelt hat, bemüht er sich darum, diese Unterschiede aufrechtzuerhalten. Dabei verlässt er sich darauf, die Revolution durch eine Art Bruch innerhalb der Genres und der Ausdrucksmittel zu erreichen. Zu betonen ist jedoch, dass Marinetti ausgehend vom Technischen Manifest der futuristischen Literatur (1912) das Konzept der ‚Simultaneität‘ implizit einführt, das dann im Manifest Zerstörung der Syntax Drahtlose Phantasie Worte in Freiheit von 1913 explizit erläutert wird: „Ho ideato inoltre il lirismo multilineo col quale riesco ad ottenere quella simultaneità lirica che ossessiona anche i pittori futuristi, lirismo multilineo, mediante il quale io sono convinto di ottenere le più complicate simultaneità liriche.“8 Die Geschwindigkeit, die Dynamik der Marinetti’schen Erzählung hat dennoch Mühe, sich durchzusetzen, weil sie erst nach 1915 oder besser gesagt mit dem entscheidenden Wendepunkt, den Marinetti mit den futuristischen Theorien über das Theater herbeiführt, eine neue Struktur findet. Nicht zufällig gelingt es Marinetti, nach den ersten formulierten Theorien mit dem Manifest über Das Varieté aus dem Jahr 1913, im Jahre 1915 mit dem Manifest über Das futuristische synthetische Theater das Konzept der ‚Gleichzeitigkeit‘ (simultaneità) in Worte zu fassen. Der 6 7 8

F.T. Marinetti: „La simultaneità in letteratura“, in: ders., Novelle colle labbra tinte, Mailand 1930, S. XVI. Ebd. Ders.: „Distruzione della sintassi Immaginazione senza fili Parole in libertà“, in: ders., Teoria e invenzione futurista, S. 78. Im Vorwort zum Catalogo delle Esposizioni di Parigi, Londra, Berlino, Bruxelles, Monaco, Amburgo, Vienna etc. aus dem Februar 1912 geht der Terminus ‚Simultaneität‘ erstmals in den futuristischen Wortschatz ein. 35

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zusammen mit Emilio Settimelli und Bruno Corra erarbeitete Text, bringt bereits im Untertitel die tragenden Definitionen des neuen Theaters zum Ausdruck: „(Atechnisch – dynamisch – simultan – autonom – alogisch – irreal)“. Grundlegend erscheinen auch einige Konzepte, die das Marinetti’sche Schaffen zukünftig auf narrativer Ebene transformieren werden: „La maggior parte dei nostri lavori sono stati scritti in teatro. L’ambiente teatrale è per noi un serbatoio inesauribile di ispirazioni […] Noi otteniamo un dinamismo assoluto mediante la compenetrazione di ambienti e di tempi diversi: […] nella sintesi futurista Simultaneità vi sono due ambienti che si compenetrano e molti tempi diversi messi in azione simultaneamente.“9

Das auf Kürze angelegte futuristische Theater (teatro sintetico futurista) entfaltet die neuen Theorien auf schöpferischer Ebene, indem es exemplarische Texte, wie beispielsweise Simultanina aus dem Jahre 193110, hervorbringt. Auch die syntaktische Struktur der Marinetti’schen Erzählung erfährt folglich nach dieser Phase der Theaterforschung tiefgreifende Veränderungen, die zu neuen Vorschlägen führen, die bislang unerforscht gebliebene Ausdrucksmöglichkeiten entwickeln. Einige Versuche können schon in der Metaerzählung Un ventre di donna erahnt werden, ein 1919 in Zusammenarbeit mit der Schauspielerin Enif Robert verfasster, sogenannter ‚operativer Roman‘, der im Kontext mit der Krankheit der Frau und des nicht chirurgischen Heilmittels, dargeboten von der WunschVorstellung, wie eine collage aus Tagebuchseiten und Briefen komponiert ist. Trotzdem beschränkt sich der experimentelle Charakter dieser einzigartigen romanesken Struktur auf die Gesamtanlage der Erzählung, ohne wirklich in die sprachlichen Mechanismen vorzudringen und ohne Bewegung zu erzeugen. Tatsächlich kann man ausgehend von 1919, jenem Jahr, in dem Marinetti unter anderem Benedetta Cappa kennen lernt, ein entschiedenes Bewusstsein bei Marinetti erkennen, auch in seinem Erzählwerk mit neuen Ausdrucksweisen zu experimentieren. Es ist nicht ausgeschlossen, dass diese Begegnung die Änderung der Marinetti’schen Grundansichten be9

Ders.: Teoria e invenzione futurista, S. 118-119. Kursivierung im Original fett gedruckt. 10 Ders.: Simultanina. Divertimento futurista in sedici sintesi, Mailand 1931, jetzt in: Filippo Tommaso Marinetti: Teatro, hg. v. Jeffrey T. Schnapp, Bd. 2, Mailand 2004, S. 409-443. Erste Vorstellung im Teatro Manzoni in Mailand am 10. Mai 1931 unter der Regie Filippo Tommaso Marinettis und Piero Carnabucis. Vgl. auch die Synthese „Simultaneità. Compenetrazione“, ebd., S. 543-545. 36

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sonders beeinflusst, wie es einige Wissenschaftler andeuten und auch die Verfasserin an anderer Stelle vertieft hat11. Die enge Zusammenarbeit mit Benedetta über die starke emotionale Bindung hinaus führt bei Marinetti zu einem starken Drang in Richtung Forschung: In den 1920er Jahren realisiert er mit ihr die ersten Tasttafeln (tavole tattili), gefertigt aus Materialien wie Metall, Federn, Stoff, Bürsten, um daran entlang zu streifen und sogenannte „Reisen mit der Hand“ zu vollziehen. Des Weiteren verfasst er das Manifest des Taktilismus12. Marinetti stürzt sich damit „auf der Suche nach neuen Sinneserfahrungen“ ins Reich der Synästhesie: „Occorrono altre localizzazioni. Ecco: l’epigastro vede. Le ginocchia vedono. I Gomiti vedono. Tutti ammirano le variazioni di velocità che differenziano la luce dal suono. […] Ma noi andiamo più lontano. Conosciamo le ipotesi sull’essenza della materia. Attraverso quella probantissima ipotesi che considera la materia come una armonia di sistemi elettronici, siamo giunti a negare la distinzione tra spirito e materia. […] Col Tattilismo ci proponiamo di penetrare meglio e fuori dai metodi scientifici la vera essenza della materia.“13

Diese wirkliche Neuerung in der Marinetti’schen Erzählforschung hält somit mit der Weiterentwicklung der Theorie Schritt und drückt sich konkret in einigen ‚späten‘ Schriften Marinettis aus, darunter die Novelle colle labbra tinte (1930)14 und die letzten unveröffentlicht gebliebenen 11 Vgl. Claudia Salaris: „Punto e a capo“, in: dies., Marinetti. Arte e vita futurista, Rom 1997, S. 212-262; Verf.: „Beatrice e Marinetti: da Dante a ‚Venezianella‘“, in: Franco Marenco (Hg.), Il personaggio nelle arti della narrazione, Rom 2007, S. 121-138. 12 Vgl. C. Salaris, ebd., S. 217: „Nella nuova arte del tatto si sente l’influenza non solo dei giochi didattici inventati da Maria Montessori per i bambini – che Benedetta ben conosce – ma anche delle ricerche di Rousseau, per il quale il tatto è un po’ la bussola del fanciullo, che conosce il mondo sfiorando ogni cosa come se avesse ‚gli occhi sulla punta delle dita‘.“ Es sei auch an die didaktischen Arbeiten und an die ‚Vorbücher‘ (prelibri) Bruno Munaris erinnert. Auf der anderen Seite wirken sich die Geburten der drei Töchter Vittoria, Ala und Luce jeweils 1927, 1928 und 1932 auf diese Recherchen Marinettis mit Benedetta aus. Vgl. Franca Zoccoli: Benedetta Cappa Marinetti. L’incantesimo della luce, Mailand 2000. 13 F.T. Marinetti: „Tattilismo“, in: ders., Teoria e invenzione futurista, S. 178f. 14 Der Text, den Marinetti 1930 anbietet, versammelt sowohl Gli amori futuristi, „programmi di vita con varianti a scelta“, aus dem Jahr 1919, später 1922 von Ghelfi in Piacenza gedruckt, als auch die gesammelten Novellen 37

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Romanproduktionen, wie der Roman Venezianella e Studentaccio aus den frühen 1940er Jahren15. In diesen Werken wird der Ausdrucksapparat tatsächlich dynamisiert, nimmt Geschwindigkeit auf, bis er in einer hybriden Erzählgattung Formen und Worte durcheinanderwirbeln lässt. Der Schlüssel, das Geheimnis dieses wirklich futuristischen Erfolgs, ist ein einziger: die Theatralik der Texte. Parallel dazu bewegt sich auch die erzählerische Entscheidung Benedettas in jene Richtung: So hat Viaggio di Gararà die bezeichnende Definition Romanzo cosmico per Teatro16, ‚kosmischer Roman für das Theater‘ als Untertitel. Gewiss entwickelt sich die Erzählforschung auch im Gleichschritt mit der Theaterforschung: Nachdem jene Forschung über die Dichtung als theatralisches Ereignis, das sie auf ihre mythischen Ursprünge der ausdrucksstarken Simultaneität aller Künste zurückführt, beendet ist, gelingt Marinetti nach den futuristischen Abenden der Dichtkunst17 und dem Manifest über das Varieté die theatrale Synthese: das Manifest Das futuristische synthetische Theater aus dem Jahre 1915 (gemeinsam mit in Scatole d’amore in conserva, 1927 wie ein Künstlerbuch mit Zeichnungen von Ivo Pannaggi, Umschlag und Verzierungen von Carlo A. Petrucci, von den Edizioni d’Arte Fauno in Rom publiziert (jetzt wiederveröffentlicht von Vallecchi, Rom 2003). Die Novelle colle labbra tinte konstituieren dennoch ein neues Buch, nicht nur aufgrund der den Texten inhärenten Varianten und den neu eingeführten Novellen, sondern auch wegen der Schriften mit theoretischem Charakter, die diesem beigefügt sind und ein immer größeres Bewusstsein von Seiten Marinettis offenbaren, was die Forschung über die Erzählsprache anbelangt. Von den Amori futuristi bleiben im zweiten Abschnitt der neuen Sammlung die Novellen Il negro, L’uva matura, La carne congelata ausgespart, während Come si nutriva l’ardito hinzukommt. Von den Scatole d’amore in conserva bleiben Autori-tratto, Cuori complicati, Cacce arabe, Una favolosa indigestione ausgeschlossen; Im ersten Abschnitt schließen sich alle Novelle simultanee an, darunter Grande albergo del pericolo, bereits in den Scatole d’amore in conserva gegenwärtig. Vgl. Giovannella Desideri: „Bibliografia generale delle opere di F.T. Marinetti“, in: F.T. Marinetti/A. Longatti/G. Lista u.a., Marinetti futurista, Ined., pagine disperse, documenti e antologia critica a cura di „Es.“, Neapel 1977, S. 394-397. Diese ‚anthologische‘ Arbeit Marinettis für die Novelle con le labbra tinte beweist die Entwicklung seiner Ausdrucksweise in Richtung der Simultaneität. 15 Das Manuskript befindet sich in der Beinecke Rare Book and Manuscript Library, Filippo Tommaso Marinetti papers, in der Yale University, New Haven. 16 Benedetta: „Viaggio di Gararà“, in: dies., I tre romanzi, hg. v. Simona Cigliana, Rom 1996, S. 123-169. 17 Simona Bertini: Marinetti e le „eroiche serate“, Novara 2002. 38

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Emilio Settimelli und Bruno Corra veröffentlicht). Unvergessen bleibt die Phase der Flugdichtung (aeropoesia) und der Flugschriften (aeroscrittura), die zwar sehr viel mehr die Lyrik als die Erzählung einbezieht, aber dazu beiträgt, die Ausdrucksweise auf allen Ebenen zu beschleunigen und die traditionelle Grammatik aus den Angeln zu heben18. Es heißt, dass sich dieser Prozess in Prosa langsamer als in der Dichtung und im Theater vollzogen hat: Noch im Jahr 1922 leidet der Roman Gli Indomabili unter einer gewissen syntaktischen Schwerfälligkeit, genauso wie 1927 L’alcova d’acciaio. Wahrscheinlich ist in der Endphase seiner futuristischen Experimente nicht die Erzählung von primärem Interesse für Marinetti19, der sich nach der großen Erfindung der theatralen Synthesen in erster Linie der Flugdichtung widmet (L’Aeropoema del Golfo di La Spezia stammt aus dem Jahre 1935, l’Aeropoema di Gesù aus den Jahren 1943/44). Genau deshalb bilden die wenigen Ausnahmen futuristischer Erzählungen Sujets von besonderem Interesse. Ein weiterer Grund dafür ist, dass bezüglich des Strukturierungs- wie auch des Redaktionsvorgangs im Übergang von den Scatole d’amore in conserva zu den Novelle colle labbra tinte die Bewusstwerdung des futuristischen Ausdrucksmittels auch für die Erzählung sowohl durch die im Übergang erworbene Leichtigkeit als auch in der Gesamtkonzeption20 offensichtlich wird. 18 Vgl. Jeffrey T. Schnapp: Einleitung zu Filippo Tommaso Marinetti: Teatro, Bd. I, S. XXXIf.: „Malgrado il suo interesse letterario e storico, non si può dire che il teatro „maggiore“ di Marinetti abbia lasciato un segno duraturo sulla scena globale [...]. Lo stesso discorso non vale per le opere più brevi, appartenenti a generi futuristi quali la „sintesi“, la „compenetrazione“, la „sorpresa teatrale“ e il „dramma d’oggetti“. In esse, e con suc-cesso che appare infrequente nei lavori maggiori, si ritrovano tradotte in pratica molte delle più audaci promesse, proclamazioni e teorizzazioni futuriste circa la nuova società dello spettacolo. Il risultato è una collezione di scritti piccola ma di grande rilievo, la cui influenza abbraccia tutta la successiva storia del teatro di avanguardia, dal dada al surrealismo, alla performance art.“ 19 Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang auch der von ihm gewünschte Gedenkstein auf dem Cimitero Monumentale von Mailand, wo er begraben liegt: F.T. Marinetti poeta (F.T. Marinetti Dichter). 20 Vgl. G. Battista Nazzaro, „Da ‚Come si seducono le donne‘ a ‚Novelle colle labbra tinte‘: la disfatta dell’ideologia e le nuove emergenze del testo“, in: Marinetti futurista (vgl. Anm. 14), Neapel 1977, S. 110: „Questo processo di sviluppo della scrittura verso la conquista della leggerezza si fa più verosimile se si tiene conto di come Marinetti sceglie i suoi materiali narrativi per comporre NCLT: una scelta che è, sì, indice di una trasposizione per ritagli e incollaggi precostituiti, ma pensata anche in funzione di abbandoni e rifiuti successivi delle numerose impurità accumulatesi nei tes39

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Inzwischen Mitglied der italienischen Akademie21, wie es der Bucheinband der Novellen erwähnt, fühlt sich Marinetti in der Stimmung, Bilanz zu ziehen, und er verpasst keine Gelegenheit, zu theoretisieren und zu polemisieren: Er bietet ausgehend vom Untertitel Simultaneità e programmi di vita con varianti a scelta eine neue Perspektive für die Erzählung an, vor allem durch das Konzept der ‚Varianten zur Auswahl‘: Sofort danach schafft er sich einen einführenden, leeren, ‚akademischen‘ Raum, genannt La simultaneità in letteratura, ‚Die Simultaneität in der Literatur‘, der in Wirklichkeit vom Theater spricht. Das Konzept der Gleichzeitigkeit erlaubt ein wichtiges Fazit und korrekterweise beansprucht Marinetti die Idee des simultanen Dramas der Objekte für sich, Benedetta Cappa und den Futurismus: „La simultaneità in letteratura e nella plastica è la conseguenza logica delle grandi velocità che vanno diventando sempre più umane abituali quasi insensibili. I futuristi italiani, primi fra tutti, posero il problema 20 anni fa colle tavole sinottiche di parole in libertà, le sintesi teatrali a sorpresa, lo stile paro libero veloce, lo stato d’animo pittorico, il manifesto della morale-religione della velocità e la teoria dell’immediatezza svolta da Benedetta nelle sue „Forze umane.“22

Er zitiert einen Text von Ettore Romagnoli, der Luigi Pirandello auf den Plan ruft und auf Vengono, ein ‚simultanes Drama der Objekte‘ (dramma simultaneo di oggetti), anspielt, ein Werk Marinettis, „che suggerì a Pirandello l’entrata o apparizione della modista Signora Pace nel secondo atto di Sei personaggi, entrata imposta dalla presenza stessa degli attaccapanni carichi di cappelli.“23.Aber die ein oder andere Marinetti’sche Anregung für Pirandello dürfte schon von den mechanischen Marionetten der Poupées électriques (1909), später geändert in die Kurzformen Elettricità und Elettricità sessuale, ausgegangen sein. Es ist merkwürdig aber bezeichnend, dass Marinetti in dieser Einleitung einer Novellensammlung ausnahmslos vom Theater spricht. Die künstlerische Umsetzung von Geschwindigkeit drückt sich in der Gleichzeitigkeit aus, und das Vorbild, welches man diesbezüglich berücksichtigen muss, ist das des Lichts: einzig auf diese Weise können sie „velocizzare e moltiplicare le possibilità della vita della quale siamo sempre più che mai ottimistiti, fino a raggiungere una coerenza formale probabile, volta essenzialmente a liberare le singole unità narrative, a renderle agevoli linguisticamente, surrealmente aderenti alla forma dell’immaginario che le ha prodotte.“ 21 1929 wird Marinetti Mitglied der neuen Akademie Italiens, Anm. d. Übers. 22 F.T. Marinetti, „La simultaneità in letteratura“, S. VII. 23 Ebd., S. VIII. 40

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camente famelici.“24 Mit diesen simultanen Novellen bietet Marinetti auch die Programmi di vita (1919) wieder an, weil gerade diese auch den dem Futurismus fernstehenden Autoren neue theatralische Lösungen mit zwei oder drei Möglichkeiten für ein Ende zur Auswahl vorgeschlagen haben. Die Varianten zur Auswahl bieten „ironische und unterhaltsame Sprungbretter für die Einbildung“, beschleunigen und entwickeln den Geist des Lesers, nehmen „mit einer gesunden, extralogischen Denkübung“ seinen Vorstellungen das Engstirnige und Traditionelle. Sie werden ihn dazu führen, die traditionelle Erzähllogik basierend auf dem Bedauern und auf „C’era una volta“ hinter sich zu lassen. Es ist in der Tat interessant zu erwähnen, dass zwei Jahre zuvor Vladimir Propp seine Morfologija skazki in Leningrad veröffentlicht hat (1958 ins Englische und erst 1966 im Verlag Einaudi ins Italienische übersetzt), und zu bedenken, dass die Entdeckung einer konstanten Struktur mit einer bestimmten Anzahl an Varianten in Märchen (die Geschichten, deren Anfang „Es war einmal“ lautet) eine der größten Errungenschaften des Strukturalismus im Bereich der Erzähltheorie auf internationaler Ebene ist, das Forschungsinstrument schlechthin der Avantgarde für das gesamte 20. Jahrhundert und darüber hinaus. Marinetti bewegt sich hier im Einklang mit den großen Sprachforschungen, die angefangen mit Ferdinand de Saussure den symbolischen und abstrakten Charakter der Sprache enthüllt haben. Folglich offenbaren die Novelle colle labbra tinte mittels der darin angebotenen Varianten, dass die Erzählung ein beweglicher Körper sein kann, ein offenes Kunstwerk. Das geschieht, bevor Roland Barthes in seinen Essais critiques auf wundervolle Weise die Funktion der Sprache als gezieltes Simulakrum (simulacro orientato) erläutert, und bevor Umberto Eco in Opera aperta deren wechselhafte Komplexität erklärt; und es ereignet sich noch vor Italo Calvino (Il castello dei destini incrociati, Se una notte d’inverno un viaggiatore usw.) und vor Gianni Rodari (Grammatica della fantasia und „Carte di Propp“ für eine kreative Pädagogik).

24 Ebd., S. XIV. Zum Modell-Mythos des Automobils in der italienischen Kultur, seit dem ersten Futuristischen Manifest von 1909 gegenwärtig, vgl. Giorgio Boatti: Bolidi. Quando gli italiani incontrarono le prime automobili, Mailand 2007; Enrico Crispolti: Storia e critica del futurismo, Rom, Bari 1986; C. Salaris: Marinetti. Arte e vita futurista; Zur Beziehung Marinettis und dem Futurismus zu Geschwindigkeit, Auto und Fortschritt vgl. Enrico Crispolti: Il mito della macchina e altri temi del futurismo, Trapani 1969; Marja Härmänmaa: „L’uomo e la macchina“, in: dies., Un patriota che sfidò la decadenza. F.T. Marinetti e l’idea dell’uomo nuovo fascista: 1929-1944, Helsinki 2000, S. 114-145. 41

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In diesen Novellen Marinettis ist es das Theater, das den Ton angibt: Im Übrigen ist die Theatralik eines der Ursprungsmerkmale des Novellengenres25 und hier betont der Autor deren Funktion, indem er Körper zergliedert und sie wie auf einer Bühne in Bewegung bringt. Die 11 baci a Rosa di Belgrado sind Bestandteil des ersten Abschnitts mit dem Titel Novelle simultanee und zeigen vor allem Münder in Aktion, weibliche Lippen im Wettstreit darum, den Preis eines Schmuckstückes in der Gestalt von mechanischen Lippen zu gewinnen. Der Aufbau der Erzählung beinhaltet eine fabelhafte Vorgeschichte, quasi einen Rahmen, der elf Novellen in Briefform anregt und umfasst. Adressiert sind diese an Rosa von Belgrad, die keinen Lippenstift benutzt, aber ihre Lippen „mit Zähnen und mit Träumen“ einfärbt. Die Briefe empfehlen ihr elf futuristische Modi, um den Chic (le chic) ihres Kusses zu verbessern. Nach dem ‚gezackten Kuss‘ (bacio turrito), überbracht von einem antiken Reiter, der sich auf „ein vom Kinematographen beschleunigtes Pferd“26 schwingt, erzählt der ‚Gymnastiker-Kuss‘ (bacio ginnasta) von einem Traum, in dem der Autor des Briefes ein Meister der Gymnastik ist und Rosa für eine Lektion am Trapez in ein Fitness-Center bringt, was mit einem Kuss von außerirdischem Geschmack endet. Der ‚erzerne Kuss‘ (der dritte Brief an Rosa von Belgrad) bringt die schöne Touristin auf der Suche nach Gold „auf die schwarzen Gewässer des Orinoco“, und entlang von Wortspielen und Anspielungen endet das Ganze im: „Bacio minerario. Scende nel più lugubre dolore della vita, con punte di acre disperazione. S’avventa fra le nostre bocche l’odore forte della cannella che il servo indio rimescola col riso e la carne nella pentola sul fuoco crepitante di resina.“27 Noch einmal wendet sich der Autor-Protagonist in bacio remato (der fünfte Brief an Rosa von Belgrad) an die „teure, sportliche Freundin“, indem er sie „zu den großen Wettkämpfen auf dem Foward See“ 28 einlädt: im Schlauchboot mit vier Virtuosen der Ruderkunst und dem Autor des Briefes als Steuermann. Eine Chronik des Wettkampfes beschreibt die siegende Rosa, während in ihren Augen der gesamte tiefblaue See blitzschnell vorbeifließt. Der finale Preis ist selbstverständlich der ‚geruderte Kuss‘, „der sportlichste aller Küsse“29: „Si delinea il traguardo. Magnetico. Negli occhi vostri tutto il lago turchino corre velocizzato fino 25 Verf.: Le voci della novella. Storia di una scrittura da ascolto, Florenz 1992. 26 F.T. Marinetti: „11 baci a Rosa di Belgrado“, in: ders., Novelle colle labbra tinte, S. 13. 27 Ebd., S. 19f. 28 Ebd., S. 26. 29 Ebd., S. 28. 42

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all’esaurimento. Difendere i vostri colori d’oro. Impegnarvi oltre lo spasimo. Potete confidare in una riserva di fiato per il nostro bacio? Sì? Ne siete sicura?“30 Es folgt in der grünen Grotte auf Capri der bacio nuotato, der ‚geschwommene Kuss‘, in den das ganze Meer verwickelt ist, die Venus inbegriffen. Im achten Brief an Rosa von Belgrad hält der Protagonist für die Dame „il bacio astratto, profumato come un sorbetto arabo e in armonia col cielo zuccherino lucumie rosa“31 bereit. Auch der ‚AutomobilKuss‘ (bacio automobilistico) versetzt die Körper in Bewegung: „Credetemi, il solo bacio degno della nostra generazione futurista è il bacio automobilistico. Sì, baciarsi in velocità.“32 Im Flug von einem Auto zum nächsten, auf einer rasenden Straße, sprühen die Funken eines fürchterlichen Kusses: „Con tutto il pepe del pericolo, occorre però accelerare il motore e concentrare le nostre mille anime nelle nostre labbra offerte. Finalmente, finalmente, scocchi scocchi la scintilla tra le quattro polpe cariche d’infinito... Scintilla già fiamma, fiamma lunga d’un bacio spaventoso. Volete? Con quale macchina? A che velocità?“33

Aber das ist gar nichts im Vergleich zum ‚Flugzeug-Kuss‘ (bacio aeroplanico)! Hier besteht das Risiko, die Geliebte, die aufrecht stehend auf der Klippe wartet, mit dem Propeller zu enthaupten: „Voi, la bocca semiaperta mi offrirete fra le labbra carnose i denti bianchissimi inebriante riassunto d’ogni frescura marina. Se i miei calcoli visivi errano...vi decapito! Se invece sono precisi quanto il cuorometro che vi adora da sempre, farò passare, lampo di delizia, la fine punta bucata dell’ala destra nel breve interstizio delle vostre labbra.“34

Der abschließende Brief ist die Antwort Rosas, die eine Namensliste der übrigen zehn Meister im Küssen anmahnt, gefolgt von der Antwort des Autors, der sich den ‚geschwommenen Kuss‘ vorbehält und eine Lokalnachricht überbringt, die Rosas Einlieferung ins Krankenhaus wegen eines mysteriösen Lippenleidens annonciert: die Sehnsucht nach jenem simultanen Mund, der ihr die elf vermaledeiten Küsse gegeben hat. 30 31 32 33 34

Ebd., S. 27. Ebd., S. 37f. Ebd., S. 43. Ebd., S. 44. Ebd., S. 46. 43

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Die anderen Erzählungen der Gruppe der Novelle simultanee folgen traditionelleren syntaktischen und strukturellen Schemata, ausgenommen Fabbricazione di una sirena und Grande albergo del pericolo, die freiere Themen und Ausdruckformen vorschlagen. Die wahre Neuigkeit wird jedenfalls vom Abschnitt mit dem Titel Programmi di vita con varianti a scelta repräsentiert. Diese Novellen mit Mehrfach-Finale, ausgeführt in Form von Ratschlägen oder Varianten, beinhalten Dialoge, sprachliche Vielfalt, die Verwendung von gemischten Erzähltechniken, um zu beleben und dem Ganzen eine dramatische Bedeutung zu verleihen. Die Verben stehen im Futur. In Fa troppo caldo ist eine Liste der üblichen Marinetti’schen ‚Gebote‘ eingebaut, wie in den Manifesten. In Rissa di bandiere nimmt die ideologische Debatte über Farben mit dem Diskurs des futuristischen Dichters einen Versammlungston an, der die Anarchisten, Kommunisten und Sozialisten beschuldigt, das Rot zu missbrauchen: „il rosso isolato non significa nulla poiché significa troppo.“35 Der Leser wird dazu aufgefordert, in der erzählerischen Zusammenarbeit einen Schritt voraus zu sein: Auch wenn in Form von Empfehlungen dargeboten, stellt ein anderes Ende letztlich eine schöpferische Spekulation dar, der Entscheidung sowohl desjenigen, der liest, als auch gegebenenfalls der eines Regisseurs überlassen: man denke an den „zusätzlichen Ratschlag“ in Consigli ad una signora scettica: „Allora slanciatevi fuori, [...] comprate i due migliori pezzi del vostro bel seduttore negro! [...] Non fate la sciocchezza di cucinarli. Bisogna mangiarli crudi. Potrete tornare l’inverno seguente all’Hotel Excelsior a Roma portando nel vostro sangue qualcosa che nessun uomo e nessuna donna ha! Quella forza esasperata di negro inferocito vi darà finalmente l’equilibrio morale, erotico, sentimentale che certo invano mendichereste in mille flirts cretini o amori pessimisti e stanchi.“36

Es scheint sich um eine futuristische Neuinterpretation von Compianto per la morte di Ser Blacatz des Troubadours Sordello von Goito zu handeln. Der singuläre Aspekt der Varianten besteht jedenfalls in ihrer Eigenart der Bühnenanweisung: Die an die Protagonisten gewandten Ratschläge, als wären sie Bühnenschauspieler, indizieren ihnen die zu verrichtenden Bewegungen und die damit zu erzielenden dramatischen Effekte, die auszusprechenden Worte, die Objekte, derer sie sich bedienen können: In Rasoio voluttuoso verwandelt sich der Erzähler in den Leiter einer Schauspielgruppe und gibt dem Protagonisten Ratschläge ohne ihm 35 F.T. Marinetti: „Rissa di bandiere“, ebd., S. 348. 36 Ders.: „Consigli a una signora scettica“, ebd., S. 183.

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Selbstständigkeit zuzugestehen; Es gibt drei Varianten und die theatralische Idee, die sie suggerieren, ist jene, alle Schlussfolgerungen zeitgleich vorkommen zu lassen, so wie sie sich auf dem gedruckten Papier darbieten: nicht nur eine ‚strukturalistische‘ Empfehlung, sondern eine weitere theatrale Revolution. La cometa dell’amore erzählt alles im Futur, als wären die Aktionen in Wirklichkeit Visionen, und in den Zukunftsbildern treten mechanische Kräfte von immenser Macht auf den Plan, die gleichzeitig die Szenerie aufrühren. Um die Krankheit des vom Protagonisten geliebten Mädchens zu kurieren, an das sich eine hypothetische ‚Off-Stimme‘ wendet – als ob diese vorausgesehen hätte, was passieren muss – wird sie ein Schiff in die Ferne transportieren: „Alle tre di quella notte un grande transatlantico schiaccerà la sua prua contro la nave di Luciana. Spaventoso schianto di quel mostro nero traboccante di braccia urla fiamme e fumi sulla nave di Luciana ferma, come saldata nel metallo della calma, sotto le sciarpe rosse delle sue ciminiere. Immobile, questa resisterà ai furibondi assalti delle 425 navi o montagne veloci. Ogni due minuti, schianti, schianti, schianti schiamazzanti e scatarranti. Smisuratamente ingigantisce la forsennata ambiziosa selvaggia epilettica catasta delle navi che venute dai più lontani paraggi vogliono bruciare, bruciare senza fine sul rogo di Luciana.“37

Das Flugzeug-Finale sieht zwei Varianten vor, von denen die zweite den ungestümen und heftigen Ton der quasi hagiografischen Tragödie abschwächt, indem sie ein lächelndes Lukanien vorsieht, dem es im kaiserlichen Stil gelingen wird, „die majestätische Navigation dieser ironischen Mannschaft zu leiten“. Der Gebrauch des Verbs im Futur garantiert dem allwissenden Erzähler seine Funktion als Regisseur. So geschieht es auch in Una notte bene impiegata, auch wenn diese Erzählung keine Varianten vorsieht, und in La domatrice di leoni, die zwei Varianten für das Finale bereithält, beide von morbider Sinnlichkeit durchsetzt. Der Gesprächspartner nimmt hier die Rolle eines Voyeurs ein, der den Liebschaften einer Frau mit einem Löwen beiwohnt und deren Zweisamkeit und die damit verbundenen Aggressionen akzeptieren muss: „Ma per carità! Non raccontare tutto questo programma di vita perché nulla è più passatista che raccontare le storie dei leoni.“38 In Fa troppo caldo nimmt die einzige Variante einen vagen, surrealen und prophetischen Geschmack an: Nachdem der Erzähler sieben ‚Gebote‘ vorgegeben hat, formuliert er das achte, in welchem er voraussieht, dass „Gli scienziati si preoccuperanno 37 F.T. Marinetti: „La cometa dell’amore“, ebd., S. 230. 38 F.T. Marinetti: „La domatrice di leoni“, ebd., S. 274. 45

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di ottenere mediante l’invenzione di unguenti speciali la distruzione totale di tutti i peli dell’Umanità!“39 Eine tiefgreifende physische Umwandlung wird sich in den Personen vollziehen und „die Hitze des Sommers wird abgeschafft werden“: „In quanto all’inverno non conviene preoccuparsene poiché le strade e le piazze saranno tutte termosifonate!“40 Aber darin, die Körper und erzählerischen Objekte aufzuwirbeln, sollte der Text Venezianella e Studentaccio nicht unterschätzt werden, der einzige wirklich futuristische Roman Marinettis, den er kurz vor seinem Tod verfasst und nie in Druck gegeben hat. Hier entscheidet sich der Autor augenscheinlich dazu, den konventionellen Satzbau zu zerstören, der noch in den Novellen41 gegenwärtig ist, um einen Fluss von wahrhaftig freien Worten zu erzeugen und die drahtlose Phantasie in einer authentischen raum-zeitlichen sowie sensorischen Simultaneität zu entfesseln. Die Anwesenheit einer italienischen Stadt in Form der weiblichen Allegorie ist für den futuristischen Dichter in diesem Epochen-Abschnitt nicht einmalig: Im Sommer des Jahres 1944, ständig in Venedig, schreibt Marinetti, unterstützt von Alberto Viviani, dem Historiker der sog. ‚Giubbe Rosse‘, einen weiteren autobiographischen ‚Roman‘ oder „in kreativer Hinsicht“ eine Sammlung futuristischer Erinnerungen, die sich von 1905 bis 1944 erstrecken: Firenze biondazzurra sposerebbe futurista morigerato ist gemeinsam mit Quarto d’ora di poesia della Decima Mas, musica di sentimenti, das im November verfasst worden ist, das letzte Werk Marinettis: Der Autor stirbt kurz darauf, im Dezember42. In diesem ‚autobiographischen‘ Florenz der futuristischen Bewegung finden wir auch eine Art von sprachlichem Testament, eine Aufforderung, die das Denken des ‚späten‘ Marinetti widerspiegelt: „Fate sempre all’amore con le belle parole del trecento o del quattrocento credendo di essere originali ma chiudete gli occhi e gli orecchi in faccia a tutte quelle che germinano spontanee fra chi ne ha bisogno e che andrebbero trapiantate con amore e sapienza per renderle rigogliose e vitali. Non siete dei filologi d’accordo e questo è anche un bene. Ma siete pur sempre dei creatori e degli artisti e il dover vostro comporta più di ogni altra cosa un amore vivo e attuale per la lingua.“43

39 40 41 42

F.T. Marinetti: „Fa troppo caldo“, ebd., S. 288. Ebd., S. 289. Gemeint sind die Novelle colle labbra tinte, Anm. d. Übers. F.T. Marinetti/Alberto Viviani: Firenze biondazzurra sposerebbe futurista morigerato, hg. v. Paolo Perrone Burali d’Arezzo, Palermo 1992. 43 „I futuristi discutono di purismo nella Specola astronomica“, ebd., S. 123. 46

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Im Übrigen liebt Marinetti La grande Milano tradizionale e futurista44 und berühmt sind die ‚Schlachten‘ um die Städte, die kulturelles Vorbild der Geschwindigkeit und des Futurismus sein könnten, wenn sie die Menge an ‚Passatismus‘ niederreißen würden, die sie unbeweglich machen, um sich stattdessen mit Podagra und Paralisi zu identifizieren, wie es sich in Uccidiamo il chiaro di luna vom April 190945 abzeichnet. Contro Roma passatista ist einem der Kapitel von Guerra sola igiene del mondo (1915) eingeschrieben, das zwei Bilder futuristischer Städte als Musterexemplare vorschlägt: „Milano! Genova!... Ecco, tuttavia, la nuova Italia rinascente! Ecco le città che noi amiamo! Ecco a quali città s’ispira il nostro orgoglio d’Italiano!“46 Venedig ist dann ein empfindlicher Knotenpunkt der futuristischen Schlachten um die Städte: ausgehend von den ersten Manifesten ist es Schauplatz aggressiver Attacken, wie jenes Contro Venezia passatista (1910 mit Umberto Boccioni, Carlo Carrà und Luigi Russolo unterzeichnet), das die Lagunenstadt in eine „grande e forte Venezia industriale, commerciale e militare sull’Adriatica, gran lago italiano!“47 verwandeln möchte. Die Liebe Marinettis zu dieser Stadt, die doch eine Zeit groß gewesen ist, treibt ihn jetzt dazu an, sie von ihren „absurden Masken“ und ihrem „scheußlichen Trödel“, der ihn „anekelt“, zu befreien. An seinem Lebensabend gelingt es Marinetti jedoch, die Liebe zu Venedig zurückzugewinnen, indem er sich eine Art futuristische Wiederbelebung ausdenkt: Die vollständigste und überzeugendste Darstellung findet man ausgerechnet im simultanen Roman Venezianella e Studentaccio. Die Figur Venezianellas erscheint und verschwindet entlang der neunzehn Kapitel ihres Gleichnisses ununterbrochen; Studentaccio, der sie liebt, sucht sie unaufhörlich und versucht, sich das Bildnis von ihr einzuprägen, dieses von Zeit zu Zeit nach futuristischen Bestimmungen verzerrend. Die Verkörperung und die Allegorie Venezianellas verleihen der Suche eine höhere Bedeutung, bedeutsam auch als Marinettis Rückkehr zu einem Thema, das unter seinen ersten war: Der Befehl, Venedig zu überschwemmen, ist eine der Provokationen des Futurismus gegen den Passatismus gewesen, der diese Stadt überschattete. Der Aufbau des 44 F.T. Marinetti: La grande Milano tradizionale e futurista: una sensibilità italiana nata in Egitto, hg. v. Luciano De Maria, Mailand 1969. 45 Enrico Crispolti: „L’idea dell’architettura e dello spazio urbano nel futurismo“, in: ders., Storia e critica del futurismo, Bari 1986, S. 118-129. 46 F.T. Marinetti: „Contro Roma passatista“ (in: „Guerra sola igiene del mondo”), in: ders., Teoria e invenzione futurista, hg. v. Luciano De Maria, Mailand 1968, S. 286. 47 F.T. Marinetti/U. Boccioni/C. Carrà/L. Russolo: „Contro Venezia passatista“, in: ebd., S. 34. 47

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Neuen Venedigs bleibt eines der letzten Projekte des Kopfes der futuristischen Bewegung. Der Anfang des Romans eröffnet den Blick auf die Lagune, rundherum zufrieden, die Welle von Glyzinien und Rosen zu sammeln und abzuwiegen, die den Gärten Venedigs entströmen, ins Gewässer fließen und es überfüllen, bis dieses seinerseits über die Ufer tritt, da von den Fenstern jener Überschuss krankhaften Ausmaßes zurückgewiesen wird, der in Studentaccios Zimmer einfällt. Die Figur Venezianellas erscheint in diesem Krankheitsrahmen wie blutend aus dem Nichts hervorgeschossen und sofortiger Fürsorge bedürftig. Sie erscheint quasi als eine ‚Wiedergeburt‘, eine sehr schwierige Neuentbindung nach ihrer Geburt, die sich zwanzig Jahre zuvor in Portovenere ereignet hatte; später ist Venezianella in Afrika gewesen, und um die Lagune zu erreichen, musste sie blutend inmitten der Haifische von Tobruk schwimmen. Um ihr zur Hilfe zu eilen, wird es nun erforderlich sein, die ‚Feindesstudien‘ zu verlassen: stattdessen werden einige von den ‚echten Futuristen‘ benötigt. Geboren von einer mehr oder weniger menschlichen „Drehbank aus Meeresschaum“, in Anbetracht dessen, dass sie ein „exzellentes Kunstwerk“ repräsentiert, ist Venezianella eine christologische Figur wie Beatrice bei Dante.48 Wie Christus sieht Venezianella ihr Gewand49 vom sehr sonnigen und blendenden Ufer aus umkämpft, um das sich die Studenten der Volkswirtschaft streiten. Venezianella ist die Auswuchtmaschine der Ausschweifungen des Studentaccio, eines ‚gerösteten Afrikaners‘, der ein natürliches Porträt, gefertigt aus orientalischen Metamorphosen und poetischen und sinnlichen Überhöhungen, von ihr komponiert. An einem gewissen Punkt wird ausdrücklich die Commedia genannt: Es handelt sich dabei um ein Gericht auf der Basis von Bohnen, „conditi da un’aereoposia di Marinetti e di due terzine della Commedia dantesca tra50 dotta in tedesco da Benno Sciger.“ Wie Dante, so hat auch Studen48 Vgl. Verf.: „Benedetta Beatrice: modelli danteschi nelle ‚Poesie a Beny‘ di Marinetti“, in: Franco Italica 29-30 (2006), S. 181-198; dies.: „I nomi di Benedetta. Il percorso dantesco di Marinetti dalle ‚Poesie a Beny‘ all’ ‚Aeropoema di Gesù‘“, in: Il Nome nel testo, IX, ETS, Pisa 2007, S. 117-128; dies.: „‚Beatrice e Marinetti: da Dante a Venezianella‘“, in: Franco Marenco (Hg.), Il personaggio nelle arti della narrazione, Rom 2007. 49 Es ist wie bei Christus, über den die Evangelisten (vgl. Johannes-Evangelium 19,23-24) schreiben: „I soldati, dopo aver crocifisso Gesù, ne presero le vesti e ne fecero quattro parti, una per ciascun soldato: presero pure la tunica...Perciò dissero tra loro: non la stracciamo ma tiriamola a sorte a chi tocca […]“ (Anm. d. Übers.). 50 F.T. Marinetti: „Piedistalli di eroi n. 2“, in: ders., Venezianella e Studentaccio, S. 75. 48

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taccio eine künstlerische Mission zu erfüllen und mit ihm jene „kleine Genossenschaft“ der futuristischen Freunde, von der er nicht „verlassen“ wird.51 Die Komposition wird tatsächlich paradiesisch sein: Mit weitreichenden, saphirnen Blicken hält Venezianella ihre finale Ansprache: Die Figur, die Marinetti im Verfallsprozess seiner eigenen Existenz beschreiben möchte, dessen er sich bewusst ist, stellt eine Art Verlängerung und Metamorphose der Person Benedettas dar. Ihre ‚Wiederauferstehung‘ wird in einer Art Erhebung konstituiert, jedoch nicht in den Himmel, sondern in die großartige Architektur der Kirche von San Marco eingemeißelt. Das Wunder wird durch das Durchlaufen der ‚gläsernen Schmiede‘ der Futuristen vollendet werden, denen es gelingen wird, mit großem Respekt und großer Frömmigkeit (pietas) das Bild des Neuen Venedigs als Heiligenfigur wiedereinzusetzen: „All’alba per la minuziosa bocca semichiusa rosea del sole all’orlo di una tutta sua smisuratissima tazza di latte la Nuova Venezia è lavata monda pronta per tutti i bambini della terra Quasi dolce arabo di zucchero incastellato con un suo cuoricino di fuoco. Il tubo di scappamento del motoscafo-alle-sature mistiche narra narrerebbe narrare ancora sempre ancora sempre Un radiomessaggio di Venezianella mi ordinò ed io sono all’opera intorno all’Isola dell’Infinito Pardono coi miei due rubinetti.“52

Das Pastiche der ‚Worte in Freiheit‘ (parole in libertà), das dieser Roman, der reich an Wortneuschöpfungen ist, darstellt, konserviert zum einen den formalen Wagemut des frühen Marinettis und drückt zum anderen teilweise die Verwirrung des müden und kranken Dichters aus, der sich nicht geschlagen geben möchte und sich von Dante inspirieren lässt, wenn er sich am Ende ausdrücklich mit der Nennung seines Namens positioniert. Vielleicht gelingt es keinem Marinetti’schen Roman so gut, einerseits einen narrativen Strang beizubehalten und gleichzeitig jene Zerstörung der Syntax zu realisieren, die in der Dichtung nur zu natürlich scheint. Es ist interessant, das Andauern einer Metamorphose der Dante’schen Figur Beatrice in Benedetta/Venezianella zu beobachten, von der man eine langsame Ausreifung in den symbolistischen Werken des

51 Dante Alighieri: „Inferno“, Canto XXVI, in: ders., Commedia, hg. v. Emilio Pasquini/Antonio Quaglio, Mailand 1987, S. 100. Vgl. hierzu die deutsche Ausgabe: Dante Alighieri: „Die Hölle“, 26. Gesang, in: ders., Die göttliche Komödie, aus dem Italienischen von Philalethes, Frankfurt/Main 2008, S. 111. (Anm. d. Übers.). 52 „L’esercito delle fogne alla riscossa“, in: Venezianella e Studentaccio, S. 99. 49

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frühen Marinetti bis hin zur obsessiven Wiederkehr in den Werken wahrnimmt, die in direkter Art und Weise oder im übertragenen Sinn mit der Anwesenheit Benedettas zu tun haben, vor allem in den Poesie a Benny. Die der Ehefrau gewidmeten, auf Französisch verfassten Gedichte, die eine unterschwellige Verbindung zum Symbolismus inmitten der Zeit des Futurismus signalisieren, bilden den zentralen Knotenpunkt der Verwandlung der Figur von Benedetta in Beatrice. Es handelt sich um eine Träumerei, sozusagen um die Rückkehr zur Tradition im Kern des Futurismus, die ohnehin nie aufgegeben wird. Aber das, was am meisten in diesem Text auffällt, ist dessen dramaturgische Gestaltung. Die Dialoge und die direkte Rede breiten sich in explosiver Art und Weise aus: es gibt nahezu keinen Raum für die indirekte Rede, die letztlich auch hier häufig den Charakter von Bühnenanweisungen hat. Man erzählt nicht, man entwirft Bühnenbilder. Der Futurist Negrone präzisiert: „Per ottenere l’ineffabile il meccanico ispirato l’irraggiungibile pergamenato d’oro intorno ai papiri lacustri bisogna sagomare struzzi orsi tiranni gamberi rospi porci rane coccodrilli leopardi caproni lupi volpi elefanti rose basilischi giardini cinghiali ma anche e non dimenticate anche le macchine solenni s’avanzano le caldaie della lava di Sicilia trainate da vetrai con vaporanti spirali di biondo furore rosee soavità di belle vergini ignude e madreperlacea penombra di un sottomandarini in agosto.“53

Die Protagonisten des Geschehens sind Objekte und Körper in Bewegung. Eines der Kapitel nennt sich Zuffa fra materiali estetici di ricambio, ‚Wortgefecht zwischen ästhetischen Ersatz-Materialien‘. Darin ist es eine Steinputte, die mit Studentaccio spricht, während sich flüsternde Spatzen mit seinem Motorboot unterhalten. Beeindruckend ist auch der Schluss mit einer Kolonne von Marmorlöwen, „aber lebendig und pulsierend“: „li comanda a zampa alzata un leone sahariano fulvo occhiuta da diamanti neri con in bocca una lampada accesa.“54.Der Löwe stellt ein starkes Symbol für den futuristischen Vitalismus dar, wie schon in der Novelle La domatrice di leone gezeigt werden konnte.55 Die Gräber Venedigs und die Reiterstatuen werden lebendig, um ihre Schmähung gegen den Passatismus zu lancieren: „Vili vili vi dichiariamo vili perché lasciaste pietrificare la vostra forza dalla vanità e mal ci consigliaste che per sembrare leoni ci assopimmo in forme lapidee. O leoni,

53 „Colorificio immateriale dei grandi mosaici“, ebd., S. 4. 54 „Zuffa fra materiali estetici di ricambio“, ebd., S. 117. 55 Vgl. hierzu Anmerkung 37. 50

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stanate il fangoso passato che risale.“56 Die Verherrlichung des Neuen Venedigs vollzieht sich gleichzeitig mit Wollust und Ironie, weil der betagte Marinetti niemals dieses nützliche Korrektiv gegen die Emphase und die Rhetorik des Heldentums vergisst; Venezianella, die weite, saphirne Blicke durch den Raum schweifen lässt, zelebriert ihre abschließende Rede mit melodiöser Stimme, während die Lehre, die das körperliche Sterben überdauert, ihre Ewigkeit im Giebel des ‚Neuen Venedigs‘ sucht: „Il Pensiero che sopravvive alla fine del corpo e alla pietrificazione piace a Dio e tu caro Studentaccio mi risentirai forse colla cuspide della Nuova Venezia costruita da te e nelle sinuose labbra del fulgido portasigarette d’oro che mi regalasti.“57 Diese Abschlussrede am Ende seines Lebens verkörpert zugleich Marinettis Vermächtnis. Der letzte Roman des führenden Futuristen ist auch eine große simultane Darstellung von Raum und Zeit, ein Wirbel von bildender Kunst und von szenischem Schreiben, der versucht, den Erzähltext zerbersten zu lassen. Es lässt sich sagen, dass der Roman, ebenso wie die Dichtkunst, in der Theatralik die ausdrucksstarke, futuristische Lösung gefunden hätte, wenn Marinetti noch mutiger gewesen wäre. Stattdessen erscheint ausgerechnet in diesem Genre der Angriff auf den formalen Code eher verhalten, wenn auch voll von Verheißungen für die Zukunft anderer Avantgarde-Bewegungen. Dennoch verdienen es einige bislang vernachlässigten Impulse in Zukunft noch studiert zu werden: Das wird sich jedoch erst dann gänzlich in die Tat umsetzen lassen, wenn endlich alle unveröffentlichten Schriften zur Publikation freigegeben sind. (Übersetzung aus dem Italienischen: Theresa Vögle)

56 „Zuffa fra materiali estetici di ricambio“, ebd., S. 117. 57 F.T. Marinetti: „Vaganti aeropitture del teatro aereo“, in: Venezianella e Studentaccio, S. 118. 51

HERAKLITISCHE KÖRPER UND DIE BEWEGUNGSSTRÖME DER MODERNE. Z U G E O R G S I M ME L S K U N S T P H I L O S O P H I S C H E R A U S E I N A N D E R S E T Z U N G M I T D E N S K UL P T U R E N U N D P L A S T I K E N A UG U S T E R O D I N S DOMINIK BRABANT Die kunstphilosophischen Studien des Berliner und später Straßburger Philosophen und Soziologen Georg Simmel (1858-1918) zu den Skulpturen und Plastiken Auguste Rodins aus den Jahren 1902, 1909 und 1911 zeugen von den Osmoseeffekten zwischen wissenschaftlichen und künstlerischen Konzeptualisierungen des modernen Subjekts und seiner körperlichen Verfasstheit zu Beginn des 20. Jahrhunderts.1 Simmel war von der gleichsam verfließenden Körperauffassung des französischen Bildhauers fasziniert. Er interessierte sich im Zuge seiner Auseinandersetzung mit diesem Künstler zunehmend für die Frage, wie Rodins bewegtdynamische Figuren im Horizont der Moderneproblematik interpretiert werden können. In dem früheren Aufsatz Rodins Plastik und die Geistesrichtung der Gegenwart von 1902 feierte Simmel den Bildhauer noch als heroischen Überwinder von Naturalismus und Historismus. Er begeisterte sich vor allem für Rodins Rückgewinnung einer individuellen Auffassung des Menschen in der Bildhauerei2 sowie für die „Beseelung“3 des 1

2

Bereits 1976 widmete sich J.A. Schmoll, gen. Eisenwerth, in einem material- und kenntnisreichen Beitrag Simmels Rodin-Rezeption, wobei der Akzent meiner Überlegungen stärker auf die Problematik fokussiert, wie sich ein moderner Subjektbegriff um 1900 aus dem Wechselspiel von wissenschaftlichen und künstlerischen Modellbildungen generierte. Vgl. hierzu: J.A. Schmoll, gen. Eisenwerth: „Simmel und Rodin“, in: Ästhetik und Soziologie um die Jahrhundertwende: Georg Simmel, hg. von Hannes Böhringer/Karlfried Gründer, Frankfurt/Main 1976, S. 18-38. Georg Simmel: „Rodins Plastik und die Geistesrichtung der Gegenwart“, in: ders.: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908, Bd. 1, hg. von Rüdiger Kramme/Angela Rammstedt/Otthein Rammstedt [GSG, Bd.7], Frankfurt/Main 1995, S. 92-100. [Erstveröffentlichung in: Der Zeitgeist, Beiblatt des Berliner Tageblatts, 1902], S. 94. 53

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künstlerischen Materials. Dagegen erweisen sich die Studie Die Kunst Rodins und das Bewegungsmotiv in der Plastik von 1909 sowie die erweiterte Fassung dieses Aufsatzes mit dem schlichten Titel Rodin von 1911 als subtile Reflexionen über das Verhältnis von einer modernen Subjektkonzeption und der künstlerischen Visualisierung des Körpers im Zeichen einer „heraklitischen“ Bewegtheit der Wirklichkeit – wenngleich auch Simmel den Begriff des „modernen Heraklitismus“ im Zusammenhang mit Rodins Kunst selbst erst in einer späteren Schrift verwendete.4 Daher soll der Schwerpunkt in diesem Beitrag vor allem auf Simmels späteren Überlegungen und auf der Genese dieser Denkfigur des „heraklitisch“ strömenden Körpers in der Moderne liegen. Simmels kunstphilosophische Thesen des zweiten Aufsatzes können dabei sicherlich als Resultate eines Theorieimports seiner kultursoziologischen Modernekonzeption in die Kunstphilosophie gewertet werden. Zugleich lässt sich jedoch auch eine konzeptuelle Durchlässigkeit in die Gegenrichtung beobachten: In Simmels sprachlichem Ringen, die Rodin’sche Figurenauffassung durch Metaphernfelder des Fließens und Strömens zu beschreiben, erkennen wir die mediale Funktion von Bildern für den Prozess der Konstruktion von Modernetheorien und für die Selbstbeschreibungen der Moderne. So war es gerade die Bildhaftigkeit der Figuren Rodins, die für die Genese von Simmels Modernebegriff impulsgebend war und die einen katalysierenden Effekt auf seine Reflexionen ausübte. Rodins Interpreten sahen sich stets mit einem enigmatischen, nicht greifbaren œuvre konfrontiert, das gerade in seiner visuellen und konzeptuellen Nicht-Sistierbarkeit zu immer wieder neu ansetzenden Anstrengungen herausforderte, es begrifflich einzuholen und dabei zu einer im Medium der Sprache verfestigten Modernekonzeption vorzudringen. So wurde Rodins Kunst für zahlreiche Kunsthistoriker und Kunsttheoretiker zu einer fortwährenden Provokation für das sprachliche Streben nach Eindeutigkeit und schließlich zu einem regelrechten Generator für Modernediskurse. Wie das Beispiel der Rodin-Rezeption bei Simmel deutlich macht, spielten Bilder und künstlerisch inszenierte Körperkonzepte gerade durch ihre visuelle Suggestionskraft, ihre vermeintliche Evidenz und ihre kontinuierlichen Fliehbewegungen vor sprachlich-begrifflicher Vereinnahmung eine zentrale Rolle im Prozess des „Erschreibens“ der Moderne. Ausgehend von einer Engführung der Problematik am Beispiel des späten, lebensphilosophisch geprägten Simmel und einer knappen Skizze 3 4

G. Simmel: „Rodins Plastik und die Geistesrichtung der Gegenwart“, S. 97. Vgl. G. Simmel: Rembrandt, in: ders.: Goethe – Deutschlands innere Wandlung – Das Problem der historischen Zeit – Rembrandt, hg. von Uta Kösser/Hans-Martin Kruckis/O. Rammstedt [GSG, Bd. 15], Frankfurt/Main 2003, S. 445. 54

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der Rodin-Rezeption im Zeichen des „Lebendigkeits“-Topos soll in diesem Beitrag gezeigt werden, wie der Philosoph in seiner Auseinandersetzung mit den Werken Rodins allmählich zu einer Radikalisierung seiner eigenen Thesen zum epistemischen Status und zur künstlerischen Inszenierung des menschlichen Körpers in der zeitgenössischen Bildhauerei gelangte. Zudem möchte ich aufzeigen, wie diese Reflexionen Simmel zu weiter ausgreifenden Problemkreisen führten: einerseits berührte er im Zuge seiner Auseinandersetzung mit Rodin die damals hochaktuelle medienästhetische Frage nach der Historizität der Medien, andererseits leiteten seine Überlegungen im Dialog mit Rainer Maria Rilkes Rodin-Studien von 1903 und 1907 auch zur Problematik der modernen Ortlosigkeit der Skulptur und Plastik über.

‚ H er a kli t isc he ‘ K ö rp e r In einer kunstphilosophischen Monographie zu Rembrandt aus dem Jahr 1916 beschrieb Simmel Rodins Skulpturen und Plastiken in Anlehnung an den Vorsokratiker Heraklit als künstlerische Visualisierungen eines Wirklichkeitsbegriffs, der von jeglicher Substantialitätsvorstellung absieht und der anstelle dessen die Wirklichkeit als einen immer schon fließenden und strömenden Veränderungsprozess begreift: „Rodins Kunst, insoweit sie originell schöpferisch ist, steht im Zeichen des modernen Heraklitismus. Für das so bezeichenbare Weltbild ist alle Substantialität und Festigkeit des empirischen Anblicks in Bewegungen übergegangen, in rastlosen Umsetzungen durchströmt ein Energiequantum die materielle Welt, oder vielmehr: ist diese Welt; keiner Gestaltung ist auch nur das geringste Maß von Dauer beschieden, und alle scheinbare Einheit ihres Umrisses ist nichts als Vibration und das Wellenspiel des Kräftetausches.“5

Simmels radikale Interpretation der Rodin’schen Figurenauffassung als künstlerische Manifestationen einer vollständig in Bewegungsströmen aufgelösten Welt darf als Resultat seiner jahrelangen Beschäftigung mit Rodins Werken gesehen werden. In dieser späten, die eigenen kunstphilosophischen Überlegungen gleichsam synthetisierenden Schrift beschreibt Simmel einen scheinbar paradoxalen Konflikt der Kunst Rodins, der zugleich dessen künstlerische Genialität bezeugen sollte: Rodin habe im starren, massiven und dadurch vermeintlich zeitlosen Material der Bildhauerei ein Menschenbild inszeniert, das sich durch eine fortschreitende Entsubstantialisierung und durch eine innere und äußere Bewegt5

G. Simmel: Rembrandt, S. 445. 55

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heit des Körpers auszeichne. Der moderne Mensch sei nicht mehr eine in sich geschlossene, ruhende Entität, sondern sei Teil einer umfassenden, energetischen Bewegungsformation, die einst gültige Grenzen zwischen Innen und Außen sowie zwischen Subjekt und Objekt aufgelöst habe. So sei das Phantasma einer überzeitlichen Selbstgleichheit des Subjekts bereits in der Ebene künstlerischer Gestaltung widerlegt worden. Simmels kunstphilosophische Erkundungen erweisen sich rückblickend – wie zu zeigen sein wird – als außerordentlich hellsichtige Modernediagnosen. Es finden sich mithin bereits zu diesem frühen Zeitpunkt der Modernereflexion einige zentrale Annahmen über den epistemischen Status des Subjekts vorweggenommen, die eigentlich zu den fundamentalen Beschreibungskategorien des postmodernen Menschen zählen und die in der Denkfigur einer „Bewegtheit“ und mithin auch der Dezentrierung des Subjekts zusammenlaufen. Zweifelsohne darf Simmels Beschwörung eines fluidalen Strömens von Subjekt und Welt als etwas verspätete Aktualisierung der fragmentarisch überlieferten Philosopheme des Heraklit verstanden werden: Dieser übte bekanntlich auf zahlreiche Literaten, Künstler und Intellektuelle um 1900 eine außerordentlich hohe Faszinationskraft aus, da sein Denken in Kategorien der kontinuierlichen Veränderung, der Prozessualität und des Werdens versprach, künstlerische und kulturelle Stil- und Umbruchsphänomene dieser Zeit philosophisch greifbar zu machen.6 Nun ist es sicher richtig, dass Simmels späte Schriften den heutigen Leser in ihrer deutlich lebensphilosophisch geprägten Diktion befremden mögen. Sie scheinen auf den ersten Blick auch kaum mehr mit dessen frühen, differenziert soziologisch analysierenden Studien vergleichbar zu sein. In Schriften wie Die Philosophie des Geldes (1900) und in Aufsätzen wie Die Großstädte und das Geistesleben (1903) entwickelte Simmel eine Phänomenologie und Kulturtheorie des modernen Großstadtmenschen in seinem urbanen Lebensraum. Jedoch müssen die geradezu kosmologischen Visionen des späten Simmel im Zeichen des élan vital wiederum als lebensphilosophische Umschreibungen eines im Grunde eminent modernen Subjektbegriffs verstanden werden, den Simmel in seiner Auseinandersetzung mit urbanen Lebensformen einerseits und mit Rodins Werk andererseits entwickelte.

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Vgl. Aleida Assmann: „Fest und flüssig: Anmerkungen zu einer Denkfigur“, in: dies./Dietrich Harth (Hg.), Kultur als Lebenswelt und Monument, Frankfurt/Main 1991, S. 184. 56

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V on de r „Le b end ig ke i t“ z ur „ B e se el un g “ der F ig u r Die Rezeption Rodins wurde schon früh von dem Topos der „Lebendigkeit“ seiner Werke begleitet. Im Januar 1877 stellte Rodin den Bronzeakt Der Besiegte im Cercle Artistique et Littéraire, eine der wichtigsten kulturellen Institutionen in Brüssel zu dieser Zeit, aus.7 Die Präsentation dieses Werks führte zu einem regelrechten Kunstskandal, da Rodin von Seiten der belgischen Presse unterstellt wurde, sein Werk sei das Ergebnis eines Abgusses vom lebenden Modell.8 Für das Aufkommen dieses Vorwurfes war wohl insbesondere die verunsichernde Ambivalenz der Körperhaltung dieser Figur ausschlaggebend: Rodin vermied es geschickt, seinen Akt im ruhenden Kontrapost oder in einer eindeutigen Schrittstellung zu fertigen. Weit davon entfernt, das Gebot des Lessing’schen „fruchtbaren Augenblicks“ im Sinne eines stillgestellten Moments zwischen Vergangenheit und Zukunft zu erfüllen, scheint Rodins Figur nicht stillstellbar zu sein. Diese Wirkung wurde noch durch die frappierend lebensechte Gestaltung der Werkoberfläche verstärkt, die so gar nichts mehr mit klassizistischer Marmorglätte zu tun hatte. Was jedoch zu Beginn von Rodins Karriere noch als ästhetische Beunruhigung empfunden wurde, fassten spätere kunstkritische Urteile als ein genuines Qualitätsmerkmal der Kunst Rodins auf. So verglich der Kunstkritiker Hermann Helferich, alias Emil Heilbutt, Rodins Kunst im Jahr 1893 mit den traumartig-fluiden Bildwelten von James McNeill Whistler: „Whistler, der den Traum malt, und der Bildner Rodin, der das Leben giebt. Das Leben in der Plastik zu geben, ist etwas ebenso Neues, nicht Dagewesenes, wie jener Traum voll Mysterium, Zartheit der Farbe, Reinheit und Idealität des Geschmacks in der Malerei Whistlers.“9 Zum Zeitpunkt von Simmels Veröffentlichungen galt Rodins Werk in Deutschland einer losen Gruppierung aus frankreichbegeisterten Kulturschaffenden bereits als Inbegriff einer modernen Skulptur und Plastik, die als bildhauerisches

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8 9

Vgl. Ruth Butler: Rodin. The Shape of Genius, New Haven, London 1993, S. 104. Die Plastik ist heute im Allgemeinen eher unter dem Titel Das eherne Zeitalter (L’Âge d’Airain) bekannt. Diesen Titel bekam sie im September desselben Jahres im Salon au Printemps. Vgl. hierzu: Dominique Jarrassé: Rodin. La Passion du Mouvement, Paris 1993, S. 44. Vgl. R. Butler: Rodin. The Shape of Genius, S. 104. Hermann Helferich: „Ueber die Salons. Ein Brief“, in: Freie Bühne 4, 1893, S. 682. Vgl. hierzu auch die entsprechenden Ausführungen in: Ursula Renner: „Die Zauberschrift der Bilder“. Bildende Kunst in Hofmannsthals Texten, Freiburg i. Br. 1999, S. 345. 57

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Äquivalent einer „malerischen“ Kunstrichtung im Zeichen des internationalen Naturalismus verstanden wurde.10 Rodin, der die Werksoberflächen oftmals als eine zerwühlt-amorphe Epidermis gestaltete und dabei die Materialität des Kunstwerks emphatisch betonte, galt den Verfechtern „malerischer“ Kunst wie dem Kunstkritiker Julius Meier-Graefe oder dem Direktor der Berliner National-Galerie Hugo von Tschudi gerade deshalb als vorbildlich, weil er sich den künstlerischen Idiomen des Impressionismus annäherte.11 An diese Diskussionen über einen lebendigen, „malerischen“ Kunststil konnte Simmel mit seinen Überlegungen mühelos anknüpfen, wenngleich er auch als Kunstphilosoph immer darum bestrebt war, diesen Lobpreisungen einen philosophisch anspruchsvollen Metadiskurs hinzuzufügen. Nachweislich das erste Mal begegnete der Philosoph Rodins Werken bei der großen RodinRetrospektive in Prag im Jahr 1902.12 Zudem besteht jedoch die Möglichkeit, dass er die Werke aus Zeitschriften kannte oder bereits im Jahr 1900 auf der Weltausstellung in Paris sah.13 Am 29. September 1902, unmittelbar nach dem Besuch der Prager Retrospektive, veröffentlichte Simmel den Artikel Rodins Plastik und die Geistesrichtung der Gegenwart in der Feuilleton-Beilage Der Zeitgeist des Berliner Tageblatts. In seinen Studien verzichtete Simmel gänzlich auf singuläre Werkinterpre10 Vgl. Michael F. Zimmermann: „A Tormented Friendship: French Impressionism in Germany“, in Charles W. Haxthausen (Hg.), The Two Art Histories. The Museum and the University, Dalton/Mass. 1999, S. 162-182. Sowie Kenworth Moffett: Meier-Graefe as art critic, München 1973, S. 38. Sowie: Nicolaas Teeuwisse: Vom Salon zur Secession. Berliner Kunstleben zwischen Tradition und Aufbruch zur Moderne 1871-1900, Berlin 1986, S. 200f. 11 Vgl. Norbert Wolf: „‚Welche Masse von Plastik, die sich abmüht, irgend etwas Neues zu geben‘. Die Plastik zwischen Denkmalkultus und autonomer Form“, in: Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland, Bd. 7: Vom Biedermeier zum Impressionismus, hg. von Hubertus Kohle, Darmstadt 2008, S. 248. 12 Vgl. „Editorischer Bericht“, in: Georg Simmel. Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908, Bd. 1, hg. von R. Kramme/A. Rammstedt/O. Rammstedt [GSG, Bd. 7], Frankfurt/Main 1995, S. 358. 13 Auf letztere Möglichkeit verweist Schmoll gen. Eisenwerth. Vgl. J.A. Schmoll: „Simmel und Rodin“, S. 19. Simmel besuchte Rodin in Paris im Jahr 1905, woraufhin ihn der Bildhauer in sein Atelier nach Meudon einlud. Vgl. hierzu: Brief Georg Simmels an Auguste Rodin, Mai 1905 [Musée Rodin, Paris], in: Georg Simmel: Briefe 1880-1911, bearbeitet und herausgegeben von Klaus Christian Köhnke [Georg Simmel Gesamtausgabe, hg. von O. Rammstedt, Bd. 22], Frankfurt/Main 2005, S. 510. 58

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tationen. Sein Blick gleitet gleichsam fließend über das Gesamtschaffen hinweg und versucht dabei das übergeordnete Prinzip zu erfassen, das die Produktion und Rezeption der Rodin’schen Werke generiert. So analysierte Simmel die „Lebendigkeit“ und später „Bewegtheit“ der Rodin’schen Figuren jenseits ihrer jeweiligen Einlösung im individuellen Werk. Ihn interessierte dabei vor allem der Wahrnehmungsmodus, den Kunstwerke in ihrer Gesamtheit gleichermaßen bildhaft inszenieren als auch einfordern. In diesem Anspruch zeichnet sich deutlich die neukantianische Prägung der Simmel’schen Kunstphilosophie ab, die dessen Anliegen in die methodische Nähe von Kunsttheoretikern und Kunstphilosophen wie Konrad Fiedler, Max Dessoir und Wilhelm Dilthey rückt.14 Simmel darf neben Rilke als sensibler Kronzeuge der ästhetischen Aufwertung einer bildhauerischen Technik verstanden werden, die ihr Hauptaugenmerk vor allem auf eine intensive Erkundung der Werksoberflächen verlegt15: „Was die Plastik der Sehnsucht der modernen Seele gewähren kann, hat zuerst wieder Rodin geleistet. An seinen Werken empfinden wir die restlose Beseelung des Steines und der Bronze, hier scheint ein Innenleben des Steines an seiner Oberfläche zu vibrieren, sie widerstandslos nach sich gestaltet zu haben, wie man wohl sagt, daß die Seele sich ihren Leib baut.“

Mit der Konzentration auf die Oberflächengestaltung erkannte er früh ein spezifisches Merkmal der Rodin’schen Figuren, das sich für eine kulturtheoretisch ausgreifende Untersuchung des modernen Subjekts anwenden ließ – und dennoch führte er eine solche Deutung mit Nachdruck erst in seiner späteren Rodin-Studie durch.

14 Vgl. U. Kösser: Ästhetik & Moderne. Konzepte und Kategorien im Wandel, Erlangen 2006, S. 249. Sowie: Klaus Lichtblau: Georg Simmel [Reihe Campus Einführungen], Frankfurt/Main, York 1991, S. 178f. 15 Vgl. David J. Getsy: „Encountering the Male Nude at the Origins of Modern Sculpture. Rodin, Leighton, Hildebrandt, and the Negotiation of Physicality and Temporality“, in: The Enduring Instant: Time and the Spectator in the Visual Arts, hg. von Antoinette Rösler-Friedenthal, Berlin 2003, S. 299. 59

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Die Grenzauflösung des modernen Subjekts Simmels Rodin-Studie von 1909, die im Jahr 1911 um mehrere, allerdings mit Blick auf unsere Fragestellung entscheidende Passagen ergänzt wiederveröff+ntlicht wurde, knüpft im Argumentationsaufbau an den ersten Aufsatz an. Doch liegt der Schwerpunkt nun auf der Frage nach den Inszenierungsformen des menschlichen Körpers in der Bildhauerei. Simmel entwirft mit Blick auf die Geschichte der Bildhauerei ein typologisches Schema der Körperauffassungen: die Skulptur und Plastik sei in epochenhistorischer Überschau und mit Blick auf die Körperumrisse und die anatomische Struktur zwischen den Polen der Beruhigung respektive Verfestigung einerseits und der Bewegtheit beziehungsweise Auflösung andererseits aufgespannt. In diesen gegensätzlichen Gestaltungsmodalitäten erkannte Simmel mit anthropologischem Blickwinkel Formen der Wirklichkeitsverarbeitung, wobei die Kunst als eine Art ästhetisches Widerlager für die tatsächliche Zeitsituation verstanden wird. Die Ruhe, Geschlossenheit und Seinsverhaftung der griechischen Plastik sei die künstlerische Utopie in einer von Unsicherheit, Chaos und Katastrophen geprägten Lebenswelt; die christlichen Kathedralskulpturen werden in ihrer den Körper überlängenden Stilisierungstendenz als Versuche einer Überwindung der weltlichen Leiblichkeit hin zur Transzendenz gedeutet; die Skulptur und Plastik der Renaissance bei Ghiberti und Donatello dagegen versteht Simmel als gelungene Synthesen aus Körperlichkeit und Vergeistigung.16 Rodins Werke werden sodann als absolute Gipfelpunkte einer Entwicklung hin zur Bewegtheit, Auflösung und Entmaterialisierung der einst festen Grenzen des Leibes beschrieben, wobei Simmel nur mit Mühe rechtfertigen kann, warum eine so bewegte Zeit wie die Gegenwart wiederum hochbewegte Kunstwerke hervorbringt17: „Er hat durch eine neue Biegsamkeit der Gelenke, ein neues Eigenleben und Vibrieren der Oberfläche, durch ein neues Fühlbarmachen der Berührungsstellen zweier Körper oder eines Körpers in sich, durch eine neue Ausnutzung des

16 G. Simmel: „Die Kunst Rodins und das Bewegungsmotiv in der Plastik“, in: ders.: Aufsätze und Abhandlungen 1909-1918, Bd. 1., hg. von R. Kramme/A. Rammstedt [GSG, Bd. 12], Frankfurt/Main 2001, S. 28-36. [Erstveröffentlichung in: Nord und Süd, Bd. 129, Jg. 33, 386, 1909, S. 189-196.], S. 28ff. 17 Simmel beschreibt die Zeitstruktur der Rodin’schen Werke in der Fassung von 1911 als „künstlerische Zeitlosigkeit der reinen Bewegung“. Siehe: G. Simmel: „Rodin (mit einer Vorbemerkung zu Meunier)“, in: ders.: Hauptprobleme der Philosophie – Philosophische Kultur, hg. von R. Kramme/O. Rammstedt [GSG, Bd. 14], S. 340. 60

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Lichts, durch eine neue Art, wie die Flächen aneinanderstoßen, sich bekämpfen oder zusammenfließen – dadurch hat er ein neues Maß von Bewegung in die Figur gebracht, die vollständiger, als es bisher möglich war, die innere Lebendigkeit des ganzen Menschen, mit allem Fühlen, Denken, Erleben anschaulich macht.“18

Im Übergang von einer treffenden Charakterisierung des Materialumgangs bei Rodin hin zur Analyse seiner lebendig-dynamischen Figurenauffassung tritt deutlich das neuartige Interesse des Philosophen an der Visualisierung eines Körperkonzepts hervor, das ein modernes, weil nunmehr psychologisch gedeutetes Menschenbild zu inkorporieren vermag. Während sich Simmel jedoch bis zu diesem Punkt noch in gängigen Argumentationslinien der Rodin-Rezeption bewegte, gleiten seine folgenden Ausführungen insbesondere in der Fassung von 1911 in eine weiter ausgreifende Diagnose des modernen Subjekts über. Rodin verlieh seinen Figuren durch zwei Kunstgriffe den Anschein, sie seien in einem gleichsam organischen Werdens- und Vergehenskampf, in kontinuierlichen Metamorphoseprozessen begriffen: Einerseits gelang ihm dies im Motiv des Zerfließens der anatomischen Struktur, andererseits dadurch, dass er den Körper bisweilen im noch unbehauenen Stein beließ. Bei Michelangelo galt dieses non-finito noch als Signum des tragischen Scheiterns des titanischen Renaissancemenschen, bei Rodin dagegen steht es bereits im Zeichen einer bewusst intendierten Ästhetik des Fragments. Diese Kunstgriffe erlaubten Simmel, die Erscheinungsform der Figuren im Vergleich zu Rembrandts Bildgestalten als Resultate einer gewaltsamen Krafteinwirkung zu beschreiben, über deren genaue Herkunft und Beschaffenheit er sich allerdings ausschweigt: „So radikal sich Rembrandt sonst allem Klassizismus entzieht – zu dem Seinsideal in seiner höchsten Verallgemeinerung hat sein Individualitätsideal noch nicht die letzte Brücke abgebrochen. Hier hat das Individuum als solches noch immer eine Substanz, die wenn auch nicht mit Begriffen beschreibbar, als ein Grenzgesichertes, nur sich selbst Verhaftetes, in aller wogenden Dynamik des Lebens darinsteht. Dieser aber sind die Rodinschen Wesen von innen her ausgeliefert, sie sind bis zu ihrem tiefsten Kern vergewaltigt durch etwas, was man freilich so wenig als ein Äußeres bezeichnen kann, wie der Wind etwas Äußeres ist gegenüber dem Luftatom, das in ihm fortgerissen wird – da bewegte Luftatome eben ein ‚Wind‘ sind.“19

18 G. Simmel: „Die Kunst Rodins und das Bewegungsmotiv in der Plastik“, S. 31. 19 Ders.: „Rodin (mit einer Vorbemerkung über Meunier)“, S. 344. 61

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Besonders signifikant erscheint hier, dass Simmel nun nicht mehr von Rodins Skulpturen und Plastiken, sondern dezidiert von „Wesen“ spricht. Der Übergang von einer kunstphilosophischen Analyse zu einer Theorie des subjektiven Empfindens in der Moderne wird damit beinahe unmerklich vollzogen. Jedoch überrascht auf den ersten Blick der plötzliche Wechsel des rhetorischen Registers: während die Rede von der „wogenden Dynamik des Lebens“ noch deutlich dem Pathos lebensphilosophischer Energiemodelle verpflichtet ist, deutet die Semantik einer gewaltsamen Überwältigung im zweiten Abschnitt auf ein gänzlich anderes Erklärungsmuster für das Rodin’sche „Bewegungsmotiv“. Ein genauerer Blick auf Simmels kultursoziologische und –philosophische Werke zeigt, dass diese plötzliche Umperspektivierung der Rodin-Interpretation das Resultat eines geschickt eingeleiteten Theorieimports von Simmels Modernekonzept auf seine Kunstphilosophie ist. Jenes gewaltsame „Äußere“, das zugleich im Inneren der Figuren ansetzt und zu ihrer Auflösung, Dezentrierung und Entmaterialisierung führt, erweist sich bei näherer Betrachtung als Umschreibung der Formierungskraft der Moderne selbst – hier verstanden als eine allumfassende, historisch lokalisierbare Transformation von Gesellschaft und Subjekt, die bis hinein in die leiblichpsychische Struktur der Individuen reicht. Ihren wesentlichen Niederschlag finden Simmels Überlegungen zur Moderne in dessen Hauptwerk Die Philosophie des Geldes von 1900. In dieser monumentalen Studie machte sich Simmel daran, ausgehend von einer ausführlichen Erörterung und Analyse des Wertproblems in der ökonomischen Theoriebildung zu einer kultursoziologischen Beschreibung des modernen Lebensstils vorzudringen. Dabei war es nach eigener Aussage Simmels Bestreben, „dem historischen Materialismus ein Stockwerk unterzubauen“20, also nach den gleichsam metaphysischen Zusammenhängen des modernen Kapitalismus zu forschen. Die Funktion des Geldes verortete Simmel in dessen Fähigkeit, ehedem qualitative Differenzen zwischen begehrten Objekten durch ihre Umwandlung in Geldwerte einzuebnen und so einst Unvergleichliches vergleichbar zu machen. Semiotisch gesprochen, erkannte Simmel den Sinn des Geldes in der Moderne in seiner zunehmenden Omnikonvertibilität. Daraus folgerte er in epistemologischer Hinsicht ein allmähliches Nachlassen von substantialistischen Vorstellungen vom Menschen sowie ein allgemeines Relativwerden der Dinge. Zwar war Simmel nicht daran interessiert, Lösungsvorschläge oder Handlungsanweisungen für seine beunruhigende Gegenwartsdiagnose zu liefern, jedoch bot seine Theorie einer umfassen-

20 G. Simmel: Die Philosophie des Geldes, hg. von D.P. Frisby/K.C. Köhnke [GSG, Bd.6], Frankfurt/Main 1989, S. 13. 62

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den „Verflüssigung“ von sozialen und ökonomischen Strukturen zumindest einen probaten Erklärungsansatz für den enormen Anstieg der Waren- und Kapitalzirkulationen in der zeitgenössischen Lebenswelt.21 Im Verlauf der Studie entwickelte sich die „Bewegtheit“ zu einem regelrechten Indikator für das historische Fortschreiten der Moderne in allen Lebensbereichen. Das Geld erschien dabei Simmel als sichtbarer Signifikant dieses „absoluten Bewegungscharakter[s]“ der modernen Lebenswelt: „Es ist nichts als der Träger einer Bewegung, in dem eben alles, was nicht Bewegung ist, völlig ausgelöscht ist, es ist sozusagen actus purus; es lebt in kontinuierlicher Selbstentäußerung aus jedem gegebenen Punkt heraus und bildet so den Gegenpol und die direkte Verneinung jedes Fürsichseins.“22 In der Funktion und im alltäglichen Gebrauch des Geldes manifestiert sich für den Kultursoziologen Simmel also die Moderne selbst – das Geld erweist sich gleichermaßen als Ausdruck und als Symptom der forcierten Modernisierung der Gesellschaft. Insbesondere im zweiten Teil seiner Studie war Simmel darum bestrebt, diese Bewegtheit auch in den urban geprägten Individuen zu lokalisieren. Deren psychisch-leibliche Verfasstheit sah er einerseits durch einen erhöhten Lebensrhythmus23 und ein angestiegenes Tempo der Lebensvollzüge24 geprägt, andererseits aber auch im Sinne einer psychischen Reaktionsbildung durch ein Streben nach Distanzierung zu den Mitmenschen und nach Objektivierung der Lebensverhältnisse bestimmt.25 Im Aufsatz Die Großstädte und das Geistesleben von 1903, der als eine nachgereichte und kondensierte Thesenschrift zur Philosophie des Geldes gelesen werden kann, sprach Simmel von der inneren Unruhe des Großstadtindividuums und der „Steigerung des Nervenlebens“26, mit der sich jeder Bewohner einer Metropole konfrontiert sieht. Die Erscheinungsformen des modernen Lebensstils bezeichnete Simmel dabei als „äußere Mächte“27, auf die das Individuum mit „Verstandesmäßigkeit, so als ein Präservativ des subjektiven Lebens gegen die Vergewaltigungen der Großstadt erkannt“28, zu reagieren habe. Die psychosomatische Nervosität des urbanen Subjekts wurde so für Simmel mithin zur sichtbaren 21 22 23 24 25 26

Vgl. G. Simmel: Die Philosophie des Geldes, S. 93ff. und S. 131ff. Ebd., S. 714. Vgl. ebd., S. 676ff. Vgl. ebd., S. 696ff. Vgl. ebd., S. 659ff. G. Simmel: „Die Großstädte und das Geistesleben“, in: ders.: Aufsätze und Abhandlungen, 1901-1908, Bd. 1, hg. von R. Kramme/A. Rammstedt/O. Rammstedt [GSG, Bd. 7], Frankfurt/Main 1995, S. 116. 27 G. Simmel: „Die Großstädte und das Geistesleben“, S. 116. 28 Ebd., S. 118. 63

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Spur einer stets unsichtbaren Moderne – es war diese innere und äußere „Bewegtheit“, die Simmel sodann auch in Rodins Figurenauffassung ausmachte. Die Bewegtheit der Rodin’schen Figuren deutet Simmel mithin als einen nur in der ästhetischen Dimension der Kunst einlösbaren Exzess einer gewaltsamen Moderne im menschlichen Körper. Ähnlich wie das Geld erscheinen Simmel auch Rodins Skulpturen und Plastiken als eine gleichsam substanzlose Substanz, die den Weg zu einer „neuen Monumentalität – der des Werdens, der Bewegtheit“ weisen, „während sie bisher an das Sein, an die Substantialität des klassischen Ideals gebunden schien“ 29. Doch bleibt Simmel nicht bei diesen impliziten Analogiebildungen stehen. Ohne sich auf konkrete Theorieansätze zu beziehen, knüpft Simmel eine Verbindung zwischen Rodins Figurenauffassung und den tiefgreifenden Neuformulierungen des Subjektbegriffs, die im Bereich der Psychologie und Psychophysik des späteren neunzehnten Jahrhunderts stattgefunden haben: „Man könnte hierzu in gewissen modernen Vorstellungen über Substanz und Energie eine Analogie sehen. Was sich an der einzelnen Erscheinung als starr und stabil darbot, wird in Oszillationen, in immer restlosere Bewegtheiten aufgelöst: aber diese Bewegtheit des Einzelwesens selbst ist nur eine Formung oder ein Durchgangspunkt des einheitlichen kosmischen Energiequantums. […] Nun erst ist das Bewegungsmotiv absolut geworden, wo nicht mehr die Form der Individualität wie eine Membran eine rein in ihr sich abspielende Bewegung umgrenzt, sondern wo diese letzte Geschlossenheit fällt, um ihren Inhalt, selbst schon Bewegtheit, als eine mit der unendlichen Bewegtheit von Welt, Leben, Schicksal zu teilen.“30

Es muss hier bloße Spekulation bleiben, an welche „gewissen modernen Vorstellungen über Substanz und Energie“ Simmel anspielte. Vermutungen erscheinen dennoch legitim: Bereits 1885 entfaltete der PhysikerPhilosoph Ernst Mach in seiner Analyse der Empfindungen einen Subjektbegriff, der das Ich als nur funktional zu rechtfertigende Einheit betrachtet.31 Die Vorstellung der zeitüberdauernden Selbst-Gleichheit er29 G. Simmel: „Rodin (mit einer Vorbemerkung über Meunier)“, S. 339. 30 Ebd., S. 344-345. 31 Simmel erwähnt in einem Brief an Georg Jellinek vom 27. Dezember 1895 Ernst Mach, der damals in Wien forschte: „Eine Universität von dieser Bedeutung braucht auch drei Philosophen: einen psychologisch-naturphilosophischen, wie Wien ihn ja in Mach hat, einen historischen, u. einen ethischsoziologischen, wie ich es gern wäre.“ Brief Georg Simmel an Georg Jellinek vom 27. Dezember 1895, in: ders.: Briefe 1880-1911, bearbeitet und hg. von K.C. Köhnke [GSG, Bd. 22], Frankfurt/Main 2005, S. 166. 64

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scheint in dieser Perspektive als eine – wenngleich auch außerordentlich nützliche – Illusion.32 Beide Konzepte treffen sich in einem Subjektmodell, das die Grenzen des menschlichen Körpers nicht mehr als unumstößliche Umfriedung des Ichs anerkennt und das von der Vorstellung eines zeitüberdauernden Wesenskerns ablässt. Ähnlich wie bei Simmel, jedoch aus psychophysischer Perspektive betrachtet, zeichnet sich bei Mach ein Ich-Modell ab, das als entsubjektiviert, entgrenzt und dezentralisiert gedacht wird. Machs Überlegungen zeitigen das Konzept eines aus bloßen Empfindungskomplexen zusammengesetzten Subjekts und dadurch den radikalen Abschied von einem humanistisch geprägten Menschenbild, das dieses in Termini der Ganzheit, Innerlichkeit und Selbstidentität denkt.33 In ihrer Studie zur Präsenz des Monismus in wissenschaftlichen und literarischen Denkformen der vorletzten Jahrhundertwende stellte Monika Fick den Mach’schen Ansatz als einen Versuch heraus, die Auflösung des festen Körpers in „Empfindungskomplexe“ als Umwertung der Sinneswahrnehmungen zur eigentlichen Wirklichkeit und Wahrheit zu werten.34 Dennoch muss hier festgehalten werden: Simmels vage Formulierungen erlaubten eher, an den naturwissenschaftlichen Wissensbestand des Lesers in suggestiver Weise zu appellieren, als das sie tatsächlich einen bestimmten Kausalzusammenhang zwischen Wissenschaft und Kunst konstruierten, der letzten Endes argumentativ leicht zu widerlegen gewesen wäre.

Medien in Bewegung Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass Simmel ähnlich wie auch Rilke von Rodins Fähigkeit fasziniert war, die angestiegene Bewegtheit der modernen Lebenswelt und ihrer Individuen in die Kunst zu übersetzen. Doch stellte sich für Simmel die Frage, wie das Verhältnis von gesellschaftlicher Wirklichkeit und künstlerischer Inszenierung gedacht werden könne und welche Rolle die Medialität und Materialität des 32 Vgl. Ernst Mach: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen, mit einem Vorwort zum Neudruck von Gereyon Wolters, Darmstadt 1987 [Nachdruck der neunten Auflage, Jena 1922], S. 2f. 33 Vgl. E. Mach: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen, S. 3f. 34 Vgl. Monika Fick: Sinnenwelt und Weltseele. Der psychophysische Monismus in der Literatur der Jahrhundertwende [Studien zur deutschen Li-teratur, Bd. 125, hg. v. Wilfried Barner/Richard Brinkmann/Conrad Wiedemann], Tübingen 1993, S. 65. 65

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Kunstwerks im Prozess der Produktion und Rezeption von Kunst spielt. Diese Problematik verhandelt Simmel, indem er auf die Medienmetapher des Spiegels zurückgreift: „Diese Bewegtheitstendenz ist die tiefgründigste Beziehung der modernen Kunst überhaupt zum Realismus: die gestiegene Bewegtheit des wirklichen Lebens offenbart sich nicht nur in der gleichen der Kunst, sondern beides: der Stil des Lebens und der seiner Kunst, quellen aus der gleichen tiefen Wurzel, deren Wachstumsformel freilich das unergründliche Geheimnis der Geschichte ist. Die Kunst spiegelt nicht nur eine bewegtere Welt, sondern ihr Spiegel selbst ist beweglicher geworden.“35

Nicht erst seit Stendhals berühmter Definition des Romans in Le Rouge et le Noir von 1830 – „Un roman est un miroir qui se promène sur une grande route.“36 – galt der Spiegel als eine zentrale Metapher für die bildhafte Umschreibung der Funktionsweise textlicher und auch visueller Medien.37 Doch kann es sicherlich als ein Verdienst der Stendhal’schen Metaphorik gesehen werden, dass der Spiegel zu einer idealtypischen Medienmetapher wurde, um die Intentionen literarischer Kommunikation im Zeichen des Realismus bildhaft zu beschreiben.38 Simmel verortet nun Rodins Kunst in einer ambivalenten Doppelposition zwischen einem realistischen Kunst- und Medienbegriff, der das Kunstwerk als ungetrübten Spiegel der Wirklichkeit betrachtet, und einem historisch komplexeren Modell, das die Medien visueller Kommunikation – und somit eben auch die Bildhauerei – als eingebunden in den übergreifenden gesellschaftlichen Transformationsprozess der Moderne begreift. Der erste Satzteil – „die Kunst spiegelt nicht nur eine bewegtere Welt“ – konzeptualisiert das Kunstwerk als einen bloß visuellen Reflex der gesellschaftlichen Wirklichkeit und nimmt dabei die Medialität der Kunst selbst kaum in den Blick: Die Bewegtheit der modernen Lebenswelt erscheint so in bildhaf35 G. Simmel: „Die Kunst Rodins und das Bewegungsmotiv in der Plastik“, S. 35. 36 Stendhal: Le Rouge et le Noir, Paris 1927, S. 233. 37 Vgl. dazu die medienästhetische und -historische Studie von Gerhard Wolf: Schleier und Spiegel. Traditionen des Christusbildes und die Bildkonzepte der Renaissance, München 2002. 38 Vgl. mit Blick auf die Medienreflexion realistischer Literaturprogrammatiken insbesondere in Bezug auf die Hegel’sche Ästhetik: Gerhard Plumpe: „Tote Blicke. Fotografie als Präsenzmedium“, in: Medien der Präsenz: Museum, Bildung und Wissenschaft im 19. Jahrhundert [Mediologie. Band 3. Eine Schriftenreihe des kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs ‚Medien und kulturelle Kommunikation‘], hg. von Jürgen Fohrmann/Andrea Schütte/Wilhelm Voßkamp, Köln 2001, S. 70-82. 66

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ter Verdoppelung im „Bewegungsmotiv“ der Skulpturen und Plastiken Rodins. Demgegenüber lenkt der zweite Satzteil – „ihr Spiegel selbst ist beweglicher geworden“ – den Blick auf die Materialität und Medialität visueller Kommunikation und legt dem Leser nahe, die „Bewegtheit“ der Rodin’schen Figuren nicht nur als Bildreflexe der Moderne zu verstehen, sondern als spurenartige Einschreibungen eines übergreifenden gesellschaftlichen Dispositivs. Es geht Simmel also weniger um die Frage, durch welche Kunstgriffe und -techniken Künstler die Bewegtheit der Moderne ins Kunstwerk zu überführen imstande sind, sondern eher darum, wie sich diese Bewegtheit jenseits des Verfügungsbereichs des Künstlers ins Medium selbst einschreibt. Damit verhandelt Simmel zu einem frühen Zeitpunkt der modernen Medienreflexion die Frage, wie Medien ihre eigene Historizität sichtbar machen. In noch eher zaghafter und tastender Weise werden bereits hier zentrale Theoreme erarbeitet, die erst im Walter Benjamins Medienverständnis ihre volle theoretische Entfaltung erfuhren. In den bewegten Bildern des frühen Films erkannte dieser bekanntlich eine ästhetisch und medial vermittelte Eingewöhnung in eine von kontinuierlichen „Chockwirkungen“ bestimmte Lebenswelt. Benjamin begreift die gesellschaftliche Funktion des Films ohne jede Verklärung als geradezu homöopathisches Mittel der Wahrnehmungssozialisation: „Der Film entspricht tiefgreifenden Veränderungen des Apperzeptionsapparates – Veränderungen, wie sie im Maßstab der Privatexistenz jeder Passant im Großstadtverkehr, wie sie im geschichtlichen Maßstab jeder heutige Staatsbürger erlebt“.39 Die „Bewegtheit“ der Bilder im Medium des Films wird nicht mehr bloß als Resultat des technischen Fortschritts verstanden, sondern steht dagegen in direkter Wechselwirkung mit den gesellschaftlichen Umwälzungen, die wiederum unmittelbar auf die psychisch-leibliche Verfasstheit der Subjekte zurückwirken. Diese Perspektive erlaubte Benjamin, den frühen Film nicht nur als Geburtsstunde eines gänzlich neuen medialen Dispositivs zu verstehen, sondern zugleich als technische Einlösung einer weit früher einsetzenden, gesellschaftlich bedingten und medial vermittelten Entwicklung: „Die Geschichte jeder Kunstform hat kritische Zeiten, in denen diese Form auf Effekte hindrängt, die sich zwanglos erst bei einem veränderten technischen Standard, d.h. in einer neuen Kunstform ergeben können. Die derart, zumal in 39 So Benjamin in Fußnote 29. Siehe: Walter Benjamin: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (zweite Fassung)“, in: ders., Gesammelte Schriften, I.2, hg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno/Gershom Scholem, Frankfurt/Main 1974, S. 503. 67

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den sogenannten Verfallszeiten, sich ergebenen Extravaganzen und Kruditäten der Kunst gehen in Wirklichkeit aus ihrem reichsten historischen Kräftezentrum hervor.“40

Mit Blick auf die Medienkonkurrenz von Malerei und Fotografie im neunzehnten Jahrhundert sprach Benjamin bereits im Aufsatz Kleine Geschichte der Photographie aphoristisch von dem „Gesetz der Vorverkündigung neuerer Errungenschaften in älterer Technik“41. In Simmels Rodin-Analyse scheint sich eine ähnliche Denkbewegung abzuzeichnen, wenn er wiederholt die Bewegtheit, die Auflösungserscheinungen und das Streben nach materialer Verflüssigung der Figur beschreibt, das der medialen Disposition der Bildhauerei offensichtlich zuwiderlaufen muss. Dennoch: Simmel sah in Rodins „Bewegungsmotiv“ in erster Linie das untrügliche Symptom einer umfassenden Modernisierung der Körperund Subjektkonzepte. Benjamin dagegen vollzog noch radikaler den methodischen entscheidenden Schritt, auch die entgegengesetzte Bewegung zu analysieren, nämlich die tiefgreifende Umformung der Wahrnehmungsweise des modernen Subjekts durch die Medien selbst.

D i e O r t l o si g k e i t d e r m o d e r n e n S k u l p t u r u n d P l a s ti k Die Figuren Rodins, die sich in ihrer Nicht-Sistierbarkeit stets dem Bedürfnis nach Stillstellung und Beharrung entziehen, finden laut Simmel ihren eigentlichen Wirkungsort nicht mehr im Verbund mit der Architektur und auch nicht mehr im Museum, sondern insbesondere im Bewusstsein der Menschen: „Die antike Plastik suchte sozusagen die Logik des Körpers, Rodin sucht seine Psychologie. Denn das Wesen der Moderne überhaupt ist Psychologismus, das Erleben und Deuten der Welt gemäß den Reaktionen unsres Inneren und eigentlich als einer Innenwelt, die Auflösung der festen Inhalte in das flüssige Element der Seele, aus der alle Substanz herausgeläutert ist, und deren Formen nur Formen von Bewegungen sind.“42

40 W. Benjamin: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (zweite Fassung)“, S. 500f. 41 W. Benjamin: „Kleine Geschichte der Photographie“, in: ders. Gesammelte Schriften, II.I., hg. von R. Tiedemann/H. Schweppenhäuser, unter Mitwirkung von T.W. Adorno/G. Scholem, Frankfurt/Main 1977, S. 376. 42 G. Simmel: „Die Kunst Rodins und das Bewegungsmotiv in der Plastik“, S. 34f. 68

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Diese Überlegung zum Funktionswandel der modernen Bildhauerkunst war bereits von Rilke in dessen Vortrag zu Rodin von 1907 initiiert worden. Dieser schloss seine Reflexionen mit der eher entzauberten Feststellung, dass Rodins Werke im Grunde keinen eigenen Platz in der modernen Gesellschaft mehr finden: „Aber diese Plastik ist in eine Zeit geboren worden, die keine Dinge hat, keine Häuser, kein Äußeres. Denn das Innere, das diese Zeit ausmacht, ist ohne Form, unfaßbar: es fließt. […] Fast möchte man einsehen: diese Dinge können nirgends hin.“43 In einem im Jahr 1943 im kalifornischen Exil gehaltenen Vortrag über die Homeless Sculpture bei Rodin knüpfte Günther Anders an diese Überlegungen an. Während Rilkes Reflexionen eher ein melancholischer Abgesang auf die Obdachlosigkeit der Rodin’schen Figuren sind, sieht Anders das Problem aus einer betont gesellschaftskritischen Perspektive. Er verortet Rodins Schaffen in der relativen Funktionslosigkeit des modernen Bildhauers seit dem späten 18. Jahrhundert, dessen Schaffensaufträge – „Verherrlichung und Unsterblichkeit, die zwei Antriebskräfte der Skulptur“44 – in der bürgerlichen Gesellschaft verlustig gegangen seien. Da sein Platz nicht mehr in der Tatsächlichkeit der gesellschaftlichen Wirklichkeit ausgemacht werden konnte, musste der Bildhauer seine Werke in das Reich der menschlichen Innenwelt retten. Rodins Skulpturen und Plastiken, die in ihrer labilen Körperhaltung, ihren substanzlosfließenden Formen und den bewegt-dynamischen Oberflächenfakturen mit der zeitgenössischen Vorstellung des Bewusstseins als einem stream of consciousness zu korrelieren scheinen, bildeten so einen künstlerischen Lösungsvorschlag – und zugleich auch dessen grandioses Scheitern. Denn wie Anders hervorhebt, war Rodin in einer Zeit, die einer alles umfassenden Bewegtheit frönte, derjenige Künstler, der dieses Phantasma im denkbar ungeeignetsten Medium zu realisieren bestrebt war: „[M]it Stein und Bronze sucht er die Welt zu verflüssigen; er will in einem Ozean aus Stein schwimmen.“45 Anders’ Vortrag setzt bei der offensichtlichen Faszinationskraft des Wortes „Dinge“ in Rilkes Überlegungen ein, das der Autor wiederholt gebrauchte, um zu Rodins Werken hinzuführen. In dieser regelrechten Beschwörungsformel vermutet Anders eine Verlustklage Rilkes über das einst persönliche Verhältnis zu Objekten des täglichen Umgangs, das der um 1900 durchweg kapitalisierten Warenwelt entglitten war und das zu einer nur

43 Rainer Maria Rilke: Auguste Rodin, Leipzig 1924, S. 114. 44 Günther Anders: Obdachlose Skulptur. Über Rodin, aus dem Englischen von Werner Reimann, München 1994, S. 13. 45 Ebd., S. 38. 69

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noch ästhetisierenden Betrachtung von alltäglichen Gegenständen geführt habe.46 Einer doppelten Entfremdung sei damit Tür und Tor geöffnet worden. Damit schrieb sich wiederum Anders – bewusst oder unwissend – in die Simmel’schen Diskussionszusammenhänge um das Relativ-Werden der Dinge in der kapitalistischen Moderne ein, die dieser in seiner Philosophie des Geldes entfaltete. Der Diskurs über die Ortlosigkeit der modernen Bildhauerkunst wurde von der Fotografin und Becher-Schülerin Candida Höfer wiederaufgegriffen, womit sich die Aktualität der durch Simmel und Rilke initiierten Überlegungen zu Rodins Werk bis in die Gegenwartskunst erweist. Höfer stellte dort unter dem Titel Zwölf - Twelve eine Serie von Fotografien von zwölf Abgüssen des berühmten Denkmals Rodins Die Bürger von Calais in unterschiedlichen Städten aus.47 Auch diese sechs Körper aus Bronze sind also – wenngleich auch in einem ganz wörtlichen Sinn – in Bewegung geraten. Beim Betrachten der Fotografien Höfers drängt sich der Gedanke auf, dass die Rodin’schen Figuren dieses Denkmals wohl den gleichen Weg wie das Rilke’sche „Ding“ abzuschreiten hatten: Galten die Körper der Bürger von Calais anfangs noch als auratisch aufgeladene und gesellschaftlich eingebundene Erinnerungsorte, so wurden sie bald zu zirkulierenden Warenobjekten und schließlich zuletzt zu Artefakten, die wieder in die Sphäre des Ästhetischen zurückgeholt wurden. Auch hier wurde also die Entfremdung der Bildhauerkunst von ihrem einst angestammten Platz in der Gesellschaft im ästhetisierend-reflexiven Blick gleichermaßen verdoppelt wie auch aufgelöst.

46 G. Anders: Obdachlose Skulptur, S. 9ff. 47 Vgl. Ausstellungskatalog Candida Höfer, Zwölf – Twelve [Musée des Beaux Arts et de la Dentelle, Calais, 31. März bis 10. Juni 2001], hg. von Annette Hau-diquet und Frédéric Matieu, München 2001. 70

CONTINUITÀ

NELLO SPAZIO:

S K UL P T U R U N D F O T O G R A F I E M E D A R D O R O S SO

BEI

MARTINA DOBBE Drei Gründe waren es, die mich dazu bewegt haben, im Rahmen des Kolloquiums „Körper in Bewegung. Impulse und Modelle der italienischen Avantgarde“ über Skulptur und Fotografie bei Medardo Rosso zu sprechen. Der erste – historische – Grund geht vom Stichwort Futurismus aus: Für den italienischen Futurismus bzw. für die Skulptur des italienischen Futurismus ist Medardo Rosso stets eine wichtige Bezugsfigur gewesen. „Das Werk Medardo Rossos“, so heißt es in Boccionis Manifest „Die futuristische Bildhauerkunst“1, „ist revolutionär, höchst modern, tiefgründiger (als die Werke von Meunier, Bourdelle oder Rodin, auf die sich Boccioni zuvor bezieht, M.D.), tiefgründiger und notwendigerweise wenig umfangreich. In ihm agieren weder Helden noch Symbole, sondern die Stirnfläche einer Frau oder eines Kindes deutet eine Befreiung im Raum an, die in der Geistesgeschichte eine weit größere Bedeutung haben wird, als man ihr in unserer Zeit zumißt.“2 Für Boccioni ist Rosso „der einzige große moderne Bildhauer, der versucht hat, der Plastik ein weites Feld zu öffnen, plastisch die Einflüsse der Umwelt und die atmosphärischen Bedingungen, die diese an den Gegenstand fesseln, wiederzugeben.“3 Auch wenn Rossos Ansatz für Boccioni nur einen Impuls, einen ersten Hinweis auf ein neues bildnerisches oder skulpturales Konzept darstellen kann und er schließlich Rossos Verhaftetsein in den Paradig-

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Umberto Boccioni: „Die futuristische Bildhauerkunst“ (1912), in: Hansgeorg Schmidt-Bergmann: Futurismus. Geschichte, Ästhetik, Dokumente, Reinbek bei Hamburg 1993, S. 316-323. Boccioni sandte Rosso ein Widmungsexemplar dieser Schrift zu. Ebd., S. 319. Ebd., S. 318. 71

MARTINA DOBBE

men des malerischen Impressionismus kritisieren wird4 – im Blick auf Medardo Rosso lässt sich vielleicht Aufschluss gewinnen über jene Vorgeschichte des Futurismus, deren Akzente, so das Exposé zu diesem Workshop „in der Medienkultur des neunzehnten Jahrhunderts zu suchen sind“. Der zweite Grund, Skulptur und Fotografie bei Rosso zu thematisieren, ist eher systematischer Natur und bezieht sich auf das Leitmotiv „Körper in Bewegung“. Diese Themenformulierung hat spontan meinen Einspruch hervorgerufen, insofern ich das „Faszinationsmuster Bewegung“ gerade nicht primär am „Körper in Bewegung“ wiedererkennen möchte, im Gegenteil. Der Körper in Bewegung lenkt von der futuristischen Ästhetik, von „Bewegung, Geschwindigkeit, Dynamismus“ als körper-transzendierender, wahrnehmungs- und bildinduzierter Verbindung von Raum und Zeit vielleicht sogar ab. Jedenfalls habe ich immer etwas Schwierigkeiten gehabt, die gerade genannten Paradigmen des Futurismus bei der futuristischen Plastik schlechthin, bei Boccionis „Forme uniche della continuità nello spazio“ von 1913 realisiert zu sehen. Ein Körper in Bewegung? Ja, aber vor allem auch: ein Körper, der sich bewegt, wobei Körper und Bewegung durch die motivische Zuspitzung auf einen Schreitenden in einen kaum gelösten Konflikt getreten sind. Denn dieser Körper ist „nicht zur Bewegung hin befreit, sondern mit ihr beladen“5, als müsse er sie ertragen, als sei ein Body-Builder in den Windkanal geraten. Sehen wir hier einen Körper in raumzeitlicher Dynamik oder nicht doch eher eine Figur von einem musealen „Friedhof der Athleten“6? Stellt man Boccionis „Schreitendem“ (Abb. 1) Rossos „Bookmaker“7 (Abb. 2) gegenüber, der

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„Leider haben die impressionistischen Tendenzen des Versuches die Experimente Medardo Rossos auf eine Art von Hoch- und Basrelief beschränkt.“ Vgl. ebd., S. 319. Uwe M. Schneede: Umberto Boccioni, Stuttgart 1994, S. 153. Schneede bezieht sich auf eine Charakterisierung Boccionis von Werner Hofmann: Die Plastik des 20. Jahrhunderts, Frankfurt/Main 1958, S. 107. Vgl. zur futuristischen Kritik des Museums F.T. Marinettis „Manifest des Futurismus“, in: H. Schmidt-Bergmann 1993, S. 75-80. Apollinaire spricht in seiner Kritik der futuristischen Plastik Boccionis von einem „Friedhof der Athleten“. Guillaume Apollinaire: „Erste Ausstellung futuristischer Plastik des Malers und Bildhauers Boccioni“, in: Apollinaire zur Kunst. Texte und Kritiken 1905-1918, hg. v. Hajo Düchting, Köln 1989, S. 208. Die Betitelung der Arbeiten Rossos variiert und ist vor allem auch hinsichtlich der Originalsprache uneinheitlich. Die frühen Arbeiten (in Italien entstanden) werden meist mit italienischen Titeln angegeben. Da Rosso nach 72

SKULPTUR UND FOTOGRAFIE BEI MEDARDO ROSSO

sich, motivisch gesehen, gerade nicht bewegt, sondern auf einen Stock gestützt dargestellt ist, gibt es vielleicht noch einmal einen neuen Impuls, über die Vorgeschichte der Raum-Zeit-Verschränkung im Futurismus zu reden. „Tout bouge“8, alles bewegt sich, war bekanntlich das Motto von Medardo Rosso, von dem ausgehend auch Boccionis Dynamismus-Verständnis zu überdenken ist. Abbildungen 1 u. 2: Umberto Boccioni: „Forme uniche della continuità nello spazio“ (1913), Medardo Rosso: „Bookmaker“ (1894)

Quelle: Abb. 1: Uwe M. Schneede: Umberto Boccioni, Stuttgart 1994, S. 150. Abb. 2: Medardo Rosso, Ausstellungskatalog Kunstmuseum Winterthur – Lehmbruck Museum Duisburg, Düsseldorf 2003, Abb. 43, S. 118. Der dritte – mediale – Grund für die Frage nach Skulptur und Fotografie bei Medardo Rosso bezieht sich ganz konkret auf die Fotografie, die Skulpturenfotografie, anhand derer nach den Konvergenzen und Konkurrenzen gefragt werden soll, die – ich zitiere noch einmal aus dem Tagungsexposé – „unter dem Eindruck der technischen Medien“ um 1900 initiiert worden sind. Während für den Futurismus und auch speziell für

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seinem Umzug nach Paris seine Arbeiten teilweise selbst französisch betitelt hat, werden spätere Arbeiten, wie z.B. „Grande Rieuse“ und „Petite Rieuse“ heutzutage international meist mit dem französischen Titel geführt. Darüber hinaus wird die in Abb. 2 gezeigte Figur durchgängig englisch betitelt; warum das so ist, entzieht sich meiner Kenntnis. Ich übernehme diesen Sprachgebrauch. Medardo Rosso: Scritti Sulla Scultura, hg. v. Lorella Giudici, Mailand 2003, S. 46. Rosso verwendet in seinen Briefen eine eigenwillige Mischung des Italienischen und des Französischen. 73

MARTINA DOBBE

Boccioni wiederholt auf die Erfahrungen der Chronofotografie Jules Etienne Mareys und Eadweard Muybridges und – bei aller strittigen Auseinandersetzung zwischen Boccioni und Bragaglia9 – auf den Fotodynamismus von Anton Giulio und Arturo Bragaglia hingewiesen wurde, mithin die neuen, fotografisch vermittelten Wahrnehmungserfahrungen der Zeit von Interesse gewesen sind, lässt sich für Rosso eher eine besondere Aufmerksamkeit für die Effekte der fotografischen Raumdarstellung belegen. Rossos Aufgeschlossenheit für die Errungenschaften der Fotografie steht im Kontext seiner Suche nach einer neuen Form- und Raumdefinition. Tatsächlich zeigt sich in Rossos fotografischem Oeuvre eine explizit medienästhetische Reflexion, operiert Rosso im Bewusstsein einer paragonalen Konkurrenz von Skulptur und Fotografie als dreidimensional bzw. zweidimensional bestimmten Medien. Der Differenz beider Medien geht Rosso nahezu systematisch nach, um schließlich fotografisch offen zu legen, wie es plastisch gelingen kann, ‚die Einflüsse der Umwelt und die atmosphärischen Bedingungen, die diese an den Gegenstand fesseln, wiederzugeben‘. Insofern möchten die folgenden Überlegungen zum Thema Skulptur und Fotografie bei Medardo Rosso die Frage nach den „Impulsen“ seines Werks für die italienische Avantgarde an der Stelle aufnehmen, an der Rossos fotografisch-skulpturaler Umgang mit Figur und Raum tatsächlich, wie Boccioni schrieb, einen Ausgangspunkt für seine eigenen Bestrebungen darstellen kann, die „Kontinuität im Raum“10 als Voraussetzung des „Bildnerischen Dynamismus“ zu verstehen. Dem fotografischen Nachlass Medardo Rossos ist in den vergangenen Jahren, zuletzt im Kontext der Ausstellung „Raum. Orte der Kunst“ in

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Boccioni sprach sich bekanntlich gegen die fotografischen Experimente Bragaglias aus, allerdings vor dem Hintergrund einer sehr engen medienästhetischen Bestimmung der Fotografie. „Wir haben stets jede, auch die weitläufigste Verwandtschaft mit der Fotografie voll Abscheu und Verachtung von uns gewiesen, denn sie ist keine Kunst. […] Der Wert der Fotografie liegt darin, daß sie objektiv wiedergibt und daß es ihr durch ihre Vollkommenheit gelungen ist, den Künstler von den Fesseln einer exakten Naturtreue zu befreien“ (zit. n. U.M. Schneede: Umberto Boccioni, S. 86). Wie Boccioni selbst fotografiert hat und welchen Gebrauch des Mediums Fotografie der Bildhauer jenseits künstlerischer Ansprüche gemacht hat, rekonstruiert Giovanna Ginex: „Boccioni e la fotografia“, in: Boccioni. Pittore Scultore Futurista, hg. v. Laura Mattioli Rossi, Mailand 2006, S. 137165. 10 U. Boccioni: „Bildnerischer Dynamismus“ (1913), in: H. Schmidt-Bergmann: Futurismus, S. 323-326, hier S. 323. 74

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der Akademie der Künste Berlin, neue Aufmerksamkeit geschenkt worden.11 Ca. 500 Fotografien12 seiner Skulpturen sind überliefert. Ein Großteil davon ist entweder von ihm selbst belichtet worden oder stammt von professionellen Fotografen. Die von ihm selbst oder von anderen angefertigten Fotografien hat Rosso vor allem als Ausgangspunkt für experimentelle Verfahren der Weiterbearbeitung angesehen. Schmedding unterteilt das fotografische Werk in drei Kategorien: „Auf der ersten Stufe sind die Fotografien einzuordnen, welche erkennbar eine Plastik abbilden. Ihre Qualität liegt darin, den richtigen Ansichtswinkel und die richtige Beleuchtung vorzugeben, also der klassischen Vorstellung der Skulpturenfotografie als Interpretationsanleitung zu entsprechen. Auf der zweiten Stufe sind die Fotografien zu sehen, welche erkennbar einen dreidimensionalen Körper abbilden, aber eher die Plastik wieder auf die ursprüngliche Impression zurückführen. Nicht das Kunstwerk ist zu erkennen, sondern scheinbar die reelle Momentaufnahme, welche den Ausschlag für das plastische Werk gab. Die dritte Stufe ist die interessanteste, da die Fotografie sich auf eine andere Art der Plastik nähert, als über ihren Abbildcharakter. Mittels der Fotografie wird das erfüllt, was mit der Plastik nicht gelang: eine Apparition zu schaffen, eine plötzliche, rein visuelle Erscheinung, die nicht mehr haptisch erfahrbar ist.“13 Mola und Lammert legen es darüber hinaus nahe, diejenigen Fotografien als eine eigene Werkgruppe aufzufassen, die Rossos Figuren im Ausstellungs11 Vgl. Werner Schnell: „Apparition als Skulptur. Medardo Rosso und Alberto Giacometti. Auf der Suche nach dem Erscheinungsbild des Menschen“, in: Städel-Jahrbuch N.F. Bd. 11, 1987, S. 291-310; Anne Schmedding: „,Rien n’est matériel dans l’espace‘. Die Fotografien des Bildhauers Medardo Rosso“, in: Daidalos 66, 1997, S. 112-117; Anne-Kathrin Schmedding: Die Plastik Medardo Rossos (1858-1928) im Lichte seiner Fotografien, MA-Arbeit Berlin 1998; Gabriele Sixt-Marget: Maler ohne Pinsel. Der Bildhauer und Fotograf seiner Werke. Medardo Rosso, München 1998; Francesca Bacci: „Sculpting the immaterial, modelling the light: presenting Medardo Rosso’s photographic oeuvre“, in: The sculpture journal, 15/2006, S. 223-238; Paola Mola: Rosso. Trasferimenti, Mailand 2006; dies.: „Medardo Rosso. Übertragungen“, in: Raum. Orte der Kunst, hg. v. Matthias Flügge, Robert Kudielka und Angela Lammert für die Akademie der Künste, Berlin, Nürnberg 2007, S. 106-116 und S. 368-370; Angela Lammert: „Paragone bei Medardo Rosso und Alberto Giacometti“, in: Im Agon der Künste. Paragonales Denken, ästhetische Praxis und die Diversität der Sinne, hg. v. Hannah Baader u.a., München 2007, S. 491-517. 12 Allein das Rosso-Archiv in Barzio verzeichnet rund 350 Abzüge, 285 Negative und über 100 Ausschnitte aus Zeitschriften, Probeabzüge und Postkarten. P. Mola: „Medardo Rosso. Übertragungen“, S. 113. 13 A.-K. Schmedding: „,Rien n’est matériel dans l’espace‘“, S. 115-116. 75

MARTINA DOBBE

kontext belegen, seien dies Fotografien von musealen Präsentationen oder solche von (inszenierten) Ateliersituationen. Bekannt ist in beiden Fällen, dass Rosso solche Präsentation ziemlich akribisch durchgeplant hat und dass er auch mit dem in diesem Kontext entstandenen Fotomaterial experimentell weitergearbeitet hat. Wann und unter welchen Umständen Rosso die Fotografie für sich entdeckte, ist nicht abschließend geklärt. Mola14 sieht es als wahrscheinlich an, dass Rosso schon in Mailand, im Rahmen seines Auftretens im Kreis der Gli Scapigliatura, fotografiert hat, um dann in Paris (ab 1889) einem zweiten Impuls nachzugeben. Degas, der sich seit den 1870er Jahren für Fotografie interessierte und zwischen 1895 und 1896, als Rosso am Boulevard des Batignolles in unmittelbarer Nähe von Degas gelebt hat, selbst fotografisch aktiv war, scheint hier eine wichtige Rolle gespielt zu haben. Offensichtlich kam es zu einem Austausch zwischen Degas und Rosso, gerade auch im Bereich der Fotografie. Rossos intensive Auseinandersetzung mit fotografischen Experimenten begann freilich erst um 1900, kurz bevor Degas nahezu völlig erblindet ist. Offensichtlich galt das Interesse Rossos nur anfangs dem neuen Medium im Sinne der curiositas, also mit jener nur scheinbar naiven Begeisterung, die viele Zeitgenossen, Künstler und Literaten zumal, seit der Erfindung der Fotografie umtrieb. Die meisten Rosso-Experten gehen davon aus, dass Rossos Zugang zur Fotografie im Spätwerk, also nach 1900, deutlich systematischer bzw. programmatischer geworden ist. Während sein bildhauerisches Oeuvre vornehmlich aus den 1880er und 1890er Jahren datiert, hat er sich ab 1900 der Reproduktion15 gewidmet, der Reproduktion und Variation seiner bildhauerischen Figuren in neuen Abgüssen und Materialien (Übertragungen aus Wachs in Bronze und in Gips oder auch umgekehrt16), der ‚Reproduktion‘ seiner Arbeit im Ausstellungswesen (ab 1900, so die Annahme, hat Rosso in der Hauptsache seine Ausstellungstätigkeit organisiert) sowie eben der Reproduktion seines Werks mittels Fotografien, wobei diese zum Zweck der öffentlichen Vermittlung seines Werks dienten, vor allem aber zur Basis einer eigenwilligen, experimentellen Erprobung unterschiedlicher Verhältnisbestimmungen von Fotografie und Skulptur wurden. Ja man kann sagen, dass Rossos fotografischer Umgang mit seinen Skulpturen ab 1900 dezidiert 14 P. Mola: Medardo Rosso. Übertragungen, S. 368ff. 15 Vgl. Sharon Hecker: „Reflections on Repetion in Rosso’s Art“, in: Harry Cooper/S. Hecker, Medardo Rosso. Second Impressions, London, Cambridge/Mass. 2003, S. 23-67 und S. 143-157. 16 Nach 1900 datiert als neue Figur einzig „Ecce Puer“ von 1906. 76

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den Paragone von Fotografie und Skulptur ansteuert, insofern der Bildhauer im Medium der Fotografie die medialen Bedingungen der Möglichkeit von Skulptur untersucht. Was ihn zu diesen Untersuchungen motiviert ist offensichtlich die Tatsache, dass beide Medien – Skulptur und Fotografie – eine gemeinsames Problemstellung verfolgen, die Frage nämlich, wie Figur und Raum bildlich interagieren, wie also eine neue Vorstellung vom spazio moderno17 bildlich realisiert werden kann. Dabei arbeitet er gleichsam an der und mit der Schnittstelle von Figur und Raum, interessiert ihn sowohl das Medium Fotografie als auch das Medium Skulptur gerade dort, wo die Schnittstelle von Figur und Raum nicht Distinktion, Trennung, sondern umgekehrt Übergang, Kontinuität signalisiert. Um diesen Fragehorizont auch begrifflich wachzuhalten, werde ich im Folgenden vom „Umraum“ sprechen. Rossos Umgang mit Figur und Raum in der Fotografie verfolgt verschiedene Strategien – aber offensichtlich ein Ziel: den Raum als Umraum sichtbar zu machen. Dem dienen die unterschiedlichsten fotografischen und experimentellen Verfahren, die in seinen Fotografien zu finden sind: die besondere Lichtführung, die durch Vergrößerungen und Neuabzüge entstandenen Unschärfen, die besondere Art der Ausschnitte bzw. Anschnitte sowie die besondere Collagetechnik, d.h. insbesondere die Arbeit mit wieder abfotografierten Collagen. Vergleicht man eine Museumsfotografie von „Bambino al sole“ mit zwei Fotografien, die Rosso selbst von dieser Skulptur angefertigt hat (Abb. 3), so fällt auf, dass Rossos Aufnahmen die Flüchtigkeit des plastischen Motivs, d.h. die Situationalität und die Momentaneität der plastischen Erscheinung des Kindes in der Sonne besonders betonen. Das Licht wird nicht nur in der Skulptur, sondern vor allem auch in der Fotografie im klassischen Sinne als impressionistischer Faktor eingesetzt, indem es als Filter bzw. Schleier vor dem Objekt dessen Konturen verwischt. Die ‚Unschärfen‘ der Plastik werden in ihrer flüssigen Modellierung durch die Unschärfen der Aufnahme gesteigert, in anderen Fotografien zusätzlich durch Retuschen betont.

17 Vgl. Jole De Sanna: Medardo Rosso o la Creazione dello Spazio Moderno, Mailand 1985. 77

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Abbildung 3: M. Rosso: „Bambino al sole“ (1892), Fotografien undatiert

Quelle: Medardo Rosso, Ausstellungskatalog Centro Galego de Arte Contemporánea, Santiago de Compostela 1996, Abb. 145-146, S. 168169. Die Diffusion des Lichts charakterisiert nicht nur die Figur, sondern auch den Hintergrund. Während die Museumsfotografie die Plastik vor einem neutralen, hellen Hintergrund präsentiert, der nur durch eine leichte Schattierung am oberen linken Bildrand raumhaltig wird, fotografiert Rosso seine Arbeit vor einem durch Licht- und Schattenwerte räumlich differenzierten, bewegten bzw. lebendigen Hintergrund. Durch die geringe Schärfentiefe der Fotografie ist vom Hintergrund motivisch nichts zu erkennen. Die verschwommenen Hell-Dunkel-Werte verbinden sich mit der flüssigen Modellierung der Figur, so dass Rossos plastische Intention, Figur und Umgebung zu einer Einheit zu verbinden, fotografisch unterstützt wird. Fotografisch wird hier geltend gemacht, was Rosso in anderen Arbeiten materialiter realisierte, wenn er bei manchen Porträts an die Körper- bzw. Kopfformen angrenzend amorphes Material stehen ließ. Wenn Rosso den Zuschnitt der zweiten Fotografie des „Bambino al sole“ weiter radikalisiert hat, so lässt sich darin der Versuch erkennen, die Direktheit und Unvermitteltheit der Erscheinung einer Figur, ihr plötzliches

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SKULPTUR UND FOTOGRAFIE BEI MEDARDO ROSSO

Eintreten in den Blick18, mit fotografischen Mitteln zu artikulieren. Dass dabei der Umraum nahezu ganz eliminiert wird, ist aber nur der paradoxe Beweis für die Tatsache, dass tatsächlich der Raum jenseits der Objektund der Bildgrenzen als Umraum mit einkalkuliert wird. Deutlich machen das auch die drei Aufnahmen des „Uomo che legge“ von 1894 (die Datierung der Fotografien ist ungeklärt) (Abb. 4), wobei hier drei Zuschnittvarianten bzw. ein originaler Zuschnitt (links), ein Zuschnitt, der wieder abfotografiert wurde (Mitte), und eine gedruckte Variante (rechts) nebeneinander gezeigt sind, wodurch nachvollziehbar wird, dass Rosso offensichtlich in immer neuen Variationen mit der durch Negation (Schnitt) ermöglichten Integration des Umraums experimentiert hat. Abbildung 4: M. Rosso: „Uomo che legge“ (1894), Fotografien undatiert

Quelle: Medardo Rosso, Ausstellungskatalog Centro Galego de Arte Contemporánea, Santiago de Compostela 1996, Abb. 181-183, S. 216. Ebenfalls über den Anschnitt argumentiert die Abbildung von „Madame Noblet“ (Abb. 5). Die Fotografie zeigt die 1883 entstandene Skulptur im Kontext der Präsentation des italienischen Pavillons der Weltausstellung von 1900 in Paris. Rosso hat die Fotografie 1904 vergrößert abgezogen und beschnitten, um sie schließlich, vermutlich zwischen 1907 und 1908, in diesem Zuschnitt in ein Fotoalbum zu überführen.

18 Im Sinne der apparition; vgl. dazu W. Schnell: „Apparition als Skulptur“ 1987. 79

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Abbildung 5: M. Rosso: „Madame Noblet“ (1884), Fotografie 1904

Quelle: Paola Mola: Rosso. Trasferimenti, Mailand 2006, S. 41. Die Skulptur ist in eigenartiger Weise mit dem rückwärtig gegebenen Gemälde, bei dem es sich wohl um eine Arbeit von Giovanni Segantini handelt, in Beziehung gesetzt, eigenartig, insofern die Figur so an den Rand des Gemäldes versetzt ist, dass der Rahmen des Bildes von oben auf den Kopf bzw. in den Kopf der Figur hineinführt. Man darf vermuten, dass Rosso hier von seiner Auseinandersetzung mit Degas profitierte, nicht nur von seiner Kenntnis der Porträts des Malerkollegen, wie etwa der „Familie Bellelli“19; vielmehr dürfte auch Degas’ Fotografie von „Renoir und Mallarmé im Salon Berthe Morisots“ von 1895 als Vorbild gedient haben (Abb. 6), also jene Fotografie, auf die Valéry in „Degas, Danse, Dessin“ lobend Bezug nimmt. Während der Reiz von Degas’ Fotografie aus dem über den Rahmen des rückwärtigen Spiegels vermittelten Bezug der beiden Köpfe zueinander besteht (und, darüber hinaus, darin, dass im Spiegel über Renoir Frau Mallarmé, die Tochter und hinter der Kamera auch Degas selbst zu erkennen sind), konzentriert sich Medardo Rosso auf die Verbindung von Figur und Umraum, von Rahmen und Kopf, auf die durch den engen Zuschnitt des Abzug noch zusätzlich hingewiesen wird.

19 Vgl. zur Relevanz der Rahmensetzung Degas’: Bernd Growe: Zur Bildkonzeption Edgar Degas’, Frankfurt/Main 1981; und jüngst: Vera Beyer: Rahmenbestimmungen. Funktionen von Rahmen bei Goya, Velázquez, van Eyck und Degas, München 2009. 80

SKULPTUR UND FOTOGRAFIE BEI MEDARDO ROSSO

Abbildung 6: Edgar Degas: „Renoir und Mallarmé in Berthe Morisots Salon“ (1895)

Quelle: Wege zu Edgar Degas, hg. v. Wilhelm Schmid, München 1988, S. 315. Von Rossos Ausstellungen und von Atelierfotografien her ist bekannt, dass seine Skulpturen häufig mit Glaskästen umgeben gezeigt worden sind, Kästen, die zunächst natürlich als Schutzraum oder Vitrine zu verstehen sind. Gleichwohl scheint Rosso mit den sog. gabbie aber mehr als rein konservatorische Dinge bezweckt zu haben. Denn er hat mit den Glaskästen offensichtlich – bildlich – gearbeitet, mit den Kästen – ähnlich wie mit den Schnittkanten in den zuvor angesprochenen, fotografischen Beispielen – einen Ausschnitt aus dem Umraum bestimmt.20 Mit den Kästen wurde angezeigt, dass Skulptur und Umgebung, Ding und Luftraum zusammengehören, von gleicher – immaterieller – Erscheinungshaftigkeit sind. „Nulla è materiale nello spazio“21 heißt es in Rossos Künstlertheorie, womit angezeigt wird, dass auch im Medium der Skulptur, der materiellsten aller Künste, kein Ding statisch und fest, sondern alles – qua Erscheinung – in Veränderung begriffen ist. Rossos Auffassung nach gibt es keine Trennung zwischen Ding und Umgebung, weder endgültige Konturen am Ding, noch fixierte Grenzen in der Umge-

20 F. Bacci geht am deutlichsten auf die gabbie (Käfige) ein. „And as a painting comprises all of the elements wich are incompassed by its frame, so Rosso’s oeuvre is all that is contained by the cage: the sculpture and the air surrounding it. The vitrine makes the substantial sameness of matter and air almost physically tangible, actualizing one of Rosso’s tenets: ,nothing is material in space‘“. (F. Bacci: „Sculpting the immaterial“, S. 224). Berechtigterweise sind wiederholt Vergleiche mit Giacomettis ,Käfigen‘ angestellt worden. 21 M. Rosso: Scritti Sulla Scultura, S. 13. 81

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bung. Die „Petite Rieuse“ von 1890-9122 macht dies deutlich, und zwar sowohl als ‚bloße‘ Figur (Abb. 7) als auch in ihrer Vitrinen-Präsentation (Abb. 8). Zunächst sind es die abrupt stehen gelassenen Kanten am Hinterkopf und am Halsansatz, mit denen Rosso das Lachen der Frau als ein momenthaft erscheinendes, flüchtig-immaterielles Phänomen charakterisiert. Abrupt erscheint die Figur aus der Leere der Umgebung hervorzutreten. Interessant ist in diesem Zusammenhang aber auch die Aufnahme von 1902, die die „Petite Rieuse“ in einem Glaskasten vor einem Paravent zeigt. Denn Rosso hat die „Petite Rieuse“ im Glaskasten so aufgenommen, dass die faktisch vorn und hinten liegenden Kanten der Vitrine am rechten und am oberen Abschluss optisch übereinanderliegen. Auf der linken Seite und an der rechten oberen Ecke wird der Glaskasten mit dem Paravent scheinbar zusätzlich „vernäht“ – die Kanten des Gehäuses gehen in die Nähte bzw. das Scharnier des Paravents über, so dass das Volumen des Kastens und die Flächenordnung des Paravents eher verunklärt sind. Der Glaskasten übernimmt damit in Rossos Konzeption weniger eine isolierende als vielmehr eine verbindende Funktion, das Volumen der Figur wird nicht ausgegrenzt, nicht isoliert, sondern in die räumliche Umgebung integriert.

22 Die „Rieuse“ stellt ein Porträt der Kabarettsängerin Bianca Garavaglia (Bianca di Toledo) dar. Rosso realisierte verschiedene Varianten, die sich durch unterschiedliche Hals- und Kragenansätze und unterschiedliche Materialien unterscheiden. Bei der hier gezeigten „Petite Rieuse“ hat er Hals und Kragen (und größere Partien an den Seiten) ganz weggelassen. 82

SKULPTUR UND FOTOGRAFIE BEI MEDARDO ROSSO

Abbildungen 7 u. 8: M. Rosso: „Petite Rieuse“ (1890-91), Fotografie 1902

Quelle: Abb. 7: Mino Borghi: Medardo Rosso, Mailand 1950, Tafel 26. Abb. 8: Paola Mola: Rosso. Trasferimenti, Mailand 2006, S. 50. Eine überarbeitete Fotografie aus dem Salon d’Automne von 1904 (bei dem Rosso 17 Skulpturen, Zeichnungen und Fotografien präsentierte), steigert das Spiel der Verschränkung der Umräume noch weiter (Abb. 9). Paola Mola hat diese Arbeit als eine Assemblage aus Fotografien bezeichnet, um mit dem Terminus der Assemblage darauf hinzuweisen, dass es sich hier um ein Ensemble von Einzelteilen handelt, die in Präzisionsarbeit „zu einem funktionierenden Mechanismus zusammengefügt sind“23. Auf der bzw. vor der leicht schrägansichtigen Wand des Salon d’Automne dominiert – in der Mitte oben – ein beschnittenes Foto des „Bambino alle cucine economiche“, in der bereits angesprochenen Weise durch den extremen Anschnitt nahsichtig stilisiert. Das Foto nimmt über der „Grande Rieuse“ (in einem Glaskasten) einen ganz unverhältnismäßigen Raum ein, der aber dennoch integriert erscheint, wenn man den Glaskasten betrachtet, dessen Kante nach oben hin in den Bildraum des „Bambino“ überführt wird. Vor allem der weiße Streifen, der in der Fotografie des „Bambino“ auf einen Türpfosten im Umraum der Skulptur zurückgeht, im Glaskasten der „Grande Rieuse“ aber durch das Glas hindurch als Teil einer rückwärtigen Fotografie gesehen wird, leistet diese Verbindung. Mola sieht den weißen Streifen dazwischen als beides zugleich, als Element des Außen und des Innen.24 Der „Bambino“ tritt einerseits „räumlich hervor, da man ihn als aufgesetztes Foto erkennt“ (ebd.), zugleich tritt er zurück, da ihm ein rückwärtiger Luftraum (ein Fenster) mitgegeben ist. 23 P. Mola: „Medardo Rosso. Übertragungen“, S. 107. 24 Vgl. ebd. 83

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Abbildung 9: M. Rosso: „Grande Rieuse“, (1892) und „Bambino alle cucine economiche“ (1892), Fotografie 1904

Quelle: Paola Mola: Rosso. Trasferimenti, Mailand 2006, S. 49. Auch das kleine Foto oben links (es zeigt Rossos „La Portinaia“ von 1883 und ist in einem aufwendigen Prozess des Vergrößerns und Abfotografierens entstanden) ist qua Collage bzw. Assemblage eingefügt. Und schließlich, was vermutlich zuletzt auffällt: „La Rieuse“ (nunmehr in der Ausführung als „Grande Rieuse“) in dem Glaskasten ist ebenfalls eine qua Collage eingebrachte Einfügung. Unterschiedliche Umräume der einzelnen Arbeiten werden hier also flächenbezogen miteinander verbunden. Vielleicht könnte man bereits hier von einer „Durchdringung der Ebenen“25 im Sinne Boccionis sprechen, denn die einzelnen Umräume, die Rosso hier flächenformal integriert, liegen ursprünglich ja auf unterschiedlichen Ebenen. Wobei die präzise Verbindung der mit den unterschiedlichen Fotografien gegebenen Umräume nicht zuletzt durch die erneute Reproduktion des Gesamtkomplexes gelingt, also dadurch, dass Rosso die gesamte Konstellation – ein Verfahren, das bei ihm immer wieder zu beobachten ist – erneut abfotografiert hat.26 Die Auseinandersetzung mit Rossos Skulpturenfotografien lässt sich an dieser Stelle vielleicht abschließend zu den eingangs exponierten Gründen einer Beschäftigung mit diesem Gegenstand in Beziehung setzen. 25 U. Boccioni: „Die futuristische Bildhauerkunst“, S. 317. 26 F. Bacci betont diesen Prozess: „He did this by producing series of photographs of a photograph of a photograph, which resulted in something similar to a photocopy of a photocopy of a photocopy. There is indeed an analogy between this modus operandi and the production of sculptural replicas, obtained by taking casts of casts.“ F. Bacci: „Sculpting the immaterial“, S. 228. 84

SKULPTUR UND FOTOGRAFIE BEI MEDARDO ROSSO

Dies hieße, konkret nachzufragen, welche Konsequenzen sich aus den Beobachtungen an Rossos Fotografien für die Frage nach den „Impulsen und Modellen der italienischen Avantgarde“ ergeben. Befragt man Rossos Umgang mit Fotografie und Skulptur im Hinblick auf die explizit und implizit geltend gemachten medialen Bestimmungen, so ist auffällig, dass der Italiener ein hohes Bewusstsein von der Medialität der Skulptur besaß. Rossos zentrales Anliegen war es, die Objektivität und Materialität der Skulptur zu hinterfragen, die Isoliertheit der Figur im Raum als Konvention des Klassizismus zu überwinden, sichtbar zu machen, dass Figur und Umraum in der Kunst der Moderne untrennbar miteinander verbunden sind. „Niente a questo mondo può staccarsi dall’intorno“27, heißt es 1907 in seinen Erläuterungen zum Impressionismus in der Skulptur, und, an anderer Stelle, wie bereits zitiert: „Nulla è materiale nello spazio“. Ausdrücklich schloss sich Rosso der Kritik Baudelaires an der Skulptur seiner Vorgänger an: Hatte dieser 1846 nicht Recht gehabt, die Skulptur seiner Zeit als ein „Ärgernis“28 aufzufassen, „poiché vedeva gli scultori materializzare un essere nello spazio mentre in realtà ogni oggetto fa parte di un tutto?“29 Die solchermaßen eingeklagte Ganzheit, die „Verschmelzung des Bildwerks mit seinem Umraum“30, wird in Rossos Skulptur in der lichthaften Oberflächenmodellierung und durch das augenblickshaft erscheinende Auftreten der Figuren realisiert. In der Fotografie hat Rosso darüber hinaus auch die Arbeit mit dem Ausschnitt, dem Anschnitt und den perspektivisch inszenierten Glaskästen als Möglichkeit begriffen, Figur und Umgebung experimentell miteinander zu verbinden. Offensichtlich hat er dabei mit den besonderen bildlichen Bedingungen des Mediums Fotografie experimentiert – in dem Bewusstsein, dass die von ihm gesuchte Verbindung von Figur und Raum in der Fotografie qua Flächenkomposition gelingt. In der Fläche verschmelzen die räumlichen und die planimetrischen Parameter der Darstellung, kommt es – momenthaft – zu jener apparition, die in der Skulptur in die flüssige Oberflächenmodellierung hineinverlegt ist. Ich würde nicht so weit gehen, Rossos Fotografie als sein eigentliches Werk zu bestimmen, wohl aber betonen wollen, dass Skulptur und Foto27 M. Rosso: Scritti Sulla Scultura, S. 15. 28 Charles Baudelaire: „Warum die Bildhauerei ein Ärgernis ist“, in: ders.: Sämtliche Werke/Briefe, hg. v. Friedhelm Kemp/Claude Pichois, Bd. 1, München/Wien 1977, S. 273-276. 29 M. Rosso: Scritti Sulla Scultura, S. 12. 30 G. Sixt-Marget: Maler ohne Pinsel, S. 14. 85

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grafie, das zweidimensionale und das dreidimensionale Medium bei Rosso in einem von ihm selbst hochgradig reflektierten Zusammenhang stehen. Rosso reflektiert die Medienästhetik der Fotografie als Bedingung der Möglichkeit einer Bildwerdung des Umraums. Sein bildhauerisches wie sein fotografisches Werk sind als Untersuchungen zur bildnerischen continuità nello spazio im Sinne des Umraums zu verstehen. Darin deutet sich an, welche Relevanz sein Oeuvre nicht zuletzt für die futuristischen Experimente mit Raum-Zeit-Bewegungen haben konnte. Es griffe deshalb zu kurz, in Rosso allein einen impressionistischen „Bildhauer des Augenblicks“ zu sehen. Offensichtlich ist es aber genau diese Bestimmung, die von den Futuristen mit Rosso verbunden und publik gemacht worden ist. Die Futuristen – und hier insbesondere Umberto Boccioni – haben das Werk Medardo Rossos (wieder-)entdeckt, ihn geschätzt, ihn aber auch – wohl nicht zuletzt aus Gründen der Rhetorik – zum impressionistischen Vorläufer der eigentlich avantgardistischen, eben der futuristischen Programmatik erklärt. Man kann Rossos Rezeption, seine Wertschätzung bei Kritikern und Künstlerkollegen, aber auch die einseitige Rezeption seines Ansatzes historisch im einzelnen rekonstruieren, nachvollziehen, wie sein Werk von Ardengo Soffici 1909/10 über die Zeitschrift „La Voce“ der italienischen Avantgarde zur Kenntnis gebracht wurde, welche Interpretation Rosso selbst durch das Bildmaterial, das er für diese Veröffentlichungen beisteuerte, gab, welche Ausstellungen von Rossos Skulpturen und Fotografien von den Futuristen in den Jahren 1910/11 besucht wurden, ob und wann Boccioni Rosso persönlich in Paris getroffen und kennengelernt hat31, in der Summe schließlich, welche positive Resonanz es auf sein Werk und welche Vorbehalte es gegen seine impressionistische Modernität gab. Vor allem aber kann man im Vergleich der Ansätze von Rosso und Boccioni erkennen, dass der Futurist Boccioni Rossos Frage nach der Verbindung von Figur und Raum aufgegriffen, jedoch nicht in der von Rosso angestrengten medienästhetischen Reflexion fortgeführt hat. Stellt man der bereits angesprochenen Arbeit, „Petite Rieuse“ bzw. der Fotografie der „Petite Rieuse“ vor einem Paravant Boccionis „Anti31 Vgl. L. Mattioli Rossi: „Dalla scultura d’ambiente alle forme uniche della continuità nello spazio”, in: Boccioni. Pittore Scultore Futurista, hg. v. L. Mattioli Rossi, Mailand 2006, S. 17-81. Mattioli Rossi rekonstruiert minutiös Boccionis Aufenthalte in Paris 1912-1913, um insbesondere die kubistischen Anregungen für Boccionis kurzes und heftiges Engagement im Bereich der Skulptur zu eruieren. Die Beziehung zu Rosso wird von ihr einleitend berücksichtigt, aber kaum problematisiert. 86

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grazioso“ (Abb. 10) gegenüber, so wird dies unmittelbar deutlich. Während Rosso die Verbindung von Figur und Raum vor allem in der Fläche der Fotografie angesteuert hat, die Figur deshalb mit dem durch den Glaskasten ausgewiesenen Umraum und diesen durch die besondere fotografische Perspektive mit dem Gesamtraum des Bildes eng verbunden hat, sucht Boccioni die Verbindung von Figur und Raum materialiter herzustellen, integriert er in „Antigrazioso“ in die Figur ein Stück Ar-chitektur, ähnlich wie in den Arbeiten „Testa + casa + luce“ Elemente der städtischen Umgebung, in „Fusione di una testa e di una finestra“ ganz konkret Elemente eines Fensters (Profilhölzer, Scharniere etc.) im Sinne einer Montage eingearbeitet sind. Boccioni versuchte also, die Integration von Figur und Raum motivisch und materialier in der Skulptur zu konkretisieren, während Rosso – die medialen Bedingungen von Skulptur und Fotografie differenzierend – den Umraum in der Skulptur qua Oberflächenmodellierung, in der Fotografie qua flächengebundener „Durchdringung der Ebenen“ geltend macht. In beiden Fällen aber geht es Rosso um eine rein bildliche Bestimmung der Verbindung von Figur und Raum, schließt er die motivische Konkretisierung der Verbindung der unterschiedlichen Umräume bewusst aus. Umgekehrt hat diese motivische Konkretisierung bei Boccioni gravierende Konsequenzen. Denn motivisch ‚gerinnt‘ das architektonische Element in der Bronzefassung von „Antigrazioso“ zu einem den Kopf optisch belastenden Element, leistet das architektonische Element die gewünschte Öffnung des Volumens zum Umraum gerade nicht. Wenn überhaupt, dann ist eine dem Ansatz Rossos vergleichbare Integration von Figur und Umraum wiederum in einer Fotografie von der Gipsfassung von „Antigrazioso“ (Abb. 11) zu erkennen, wobei diese Fotografie wohl nicht von Boccioni selbst verantwortet ist.32 Hier ist es wiederum der Anteil des Flächenmediums der Fotografie, der die Integration von Figur und Raum garantiert: die Parallelisierung der horizontalen Profilleiste im Hintergrund und der Ho32 G. Ginex („Boccioni e la fotografia“, S. 144f.) vermutet, dass die Fotografie von Lucette Korsoff angefertigt wurde, im Zusammenhang einer Dokumentation von Boccionis Ausstellung in der Pariser Galerie La Boëtie im Frühsommer 1913. Das Foto zeigt die originale, lackierte Gipsfassung von „Anti-grazioso“, die heute zur Sammlung der Galleria Nazionale d’Arte Moderna e Contemporanea in Rom gehört. Der Bronzeguss von „An-tigrazioso“ wurde 1950-51 von der Vorbesitzerin des Gipses, Benedetta Marinetti, in Auftrag gegeben und in der Kunstgießerei der Gebrüder Perego realisiert. Vgl. hierzu Luigi Sansone: „Die Gipsplastiken von Umberto Boccioni: Unveröffentlichte Geschichten und Dokumente“, in: U. Boccioni: La rivoluzione della scultura/Die Revolution der Skulptur, hg. v. Volker W. Feierabend, Mailand 2006, S. 25-63, hier S. 47. 87

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rizontalen des rückwärtig an der Figur montierten, architekturalen Stücks beispielsweise ‚geschieht‘ in der Fotografie, genauso wie die Beziehungssetzung zwischen den aufragenden Teilen des Kopfes und dem aufragenden Teilstück der Architektur hinter der Figur vor allem dadurch gelingt, dass die Fotografie das montierte Stück überschneidet und dadurch an die vordere Bildebene bindet. Diese flächenbedingten Beziehungssetzungen gelingen bei Boccionis Skulptur, zumal bei der Bronzefassung, in vergleichbarer Weise nicht. Umso stärker erscheint hier das architektonische Element als ein dem Kopf hinzugefügtes Motiv. Kopf und architektonisches Element entfalten keine continuità nello spazio, vermögen den Raum nicht in einen Umraum zu transformieren. Vielleicht ist es kein Zufall, dass Boccioni seine Versuche im Medium der Skulptur nach 1913 ruhen ließ und seine Suche nach der Durchdringung der Ebenen fortan in einem Flächenmedium, der Malerei, weiterbetrieb. Abbildungen 10 u. 11: U. Boccioni: „Antigrazioso“, (1912-1913), anonyme Fotografie, undatiert

Quelle: Abb. 10: Uwe M. Schneede: Umberto Boccioni, Stuttgart 1994, S. 134. Abb. 11: Ebd., S. 135. In der Konsequenz ergibt sich aus der unterschiedlichen Einschätzung des Umraums bei Rosso und Boccioni auch eine unterschiedliche Einschätzung der Bewegung und des „Körpers in Bewegung“. Rosso hat keine bewegten Körper, wohl aber Raum-Zeit-Bewegungen am Körper qua Umraum modelliert. Hingegen hat Boccioni – nach den gerade angesprochenen Darstellungen von ruhenden (sitzenden) Figuren im Raum („Antigrazioso“, „Testa + casa + luce“, „Fusione di una testa e di una finestra“) – auch mit motivisch bewegten Figuren, den Schreitenden („Forme uniche della continuità nello spazio“, „Sintesi del dinamismo umano“, „Muscoli in velocità“, „Espansione spiralica di muscoli in movi88

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mento“), experimentiert. Freilich suchen die plastischen Versuche Boccionis mit den Schreitenden wiederum eine motivische Konkretisierung dessen, was bei Rosso allererst medial vermittelt, d.h. bildlich verantwortet sichtbar wird. Denn bei den Schreitenden, insbesondere bei „Forme uniche della continuità nello spazio“ lenkt erneut die motivische Zuspitzung, konkret: das Motiv des Schreitens, d.h. der Körper in Bewegung, von der bildlich verantworteten Darstellung der continuità nello spazio eher ab, gelingt die Umsetzung der futuristischen Idee der Bewegung als körper-transzendierender, wahrnehmungs- und bildinduzierter Verbindung von Raum und Zeit gerade nicht. Wohl erkennt man deutlich, dass Boccioni – im Unterschied zu Severini und Balla, die das Problem der Bewegungsdarstellung durch die Sukzession einzelner Momente zu lösen gedachten – eine synthetische Darstellung von Raum und Zeit anstrebte, einen synthetischen „Dynamismus als durchdringendes Prinzip“33. Dieser Dynamismus sollte durch die gleichzeitige Darstellung der „absoluten“ und der „relativen“ Bewegung eines Gegenstandes (einer Figur) dargestellt werden: „Der bildnerische Dynamismus ist die gleichzeitige Aktion der charakteristischen, dem Gegenstand eigenen Bewegung (absolute Bewegung) und der Umwandlungen, die der Gegenstand bei seinen Ortsveränderungen in bezug auf die bewegliche oder unbewegliche Umwelt erfährt (relative Bewegung).“34 Gleichwohl dominiert in „Forme uniche della conitnuità nello spazio“ die relative Bewegung, die Ortsveränderung, d.h. das Motiv des Schreitens der Figur. Die auffällige Umformung der Gliedmaßen der Figur wird man als Konsequenz der Ersetzung der „statischen Muskellinie“ durch die „dynamische Kraft-Linie“35 verstehen, welche Boccioni in „Die futuristische Bildhauerkunst“ gefordert hatte, und man kann überlegen, inwieweit mit dieser Umformung die beabsichtigte, „absolute und vollständige Abschaffung der endlichen Linie und der in sich geschlossenen Statue“ gelingt. „Proklamieren wir die absolute und vollständige Abschaffung der endlichen Linie und der in sich geschlossenen Statue. Reißen wir die Figur auf, und schließen wir die Umwelt in sie hinein. Wir proklamieren, daß die Umwelt als eine Welt für sich und mit eigenen Gesetzen am bildnerischen Komplex teilhaben muß.“36 Die futuristische Kunst, so noch einmal Boccioni, fordert, die „Isolierung (einer Figur M.D.) vom Hintergrund und vom unsichtbaren umschliessenden Raum“ (ebd.) zu überwinden. In dem Entwurf einer Neubestimmung des skulpturalen Umraums schließt sich Boccioni Rossos Ideen an, in der Umsetzung bleiben die grundle33 34 35 36

U.M. Schneede: Umberto Boccioni, S. 64. U. Boccioni: „Bildnerischer Dynamismus“, S. 323. Ders.: „Die futuristische Bildhauerkunst“, S. 321. Ebd., S. 320. 89

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genden gestalterischen Unterschiede zwischen Rosso und Boccioni bestehen. Man könnte nachfragen, ob die unterschiedlichen Einschätzungen und Realisationsformen von Raum und Kontinuität im Sinne des Umraums, von Zeit und Kontinuität im Sinn der Bewegung bei Rosso und Boccioni neben ihrer medienästhetischen Begründung auch philosophische Hintergründe haben. Dies hieße u.a., für beide Bildhauer die Wege und Intensitäten ihrer Bergson-Rezeption zu rekonstruieren. Seit langem wird sowohl für Rosso als auch für Boccioni auf die Relevanz von Bergsons Denken aufmerksam gemacht. Boccionis Unterscheidung von „absoluter“ und „relativer“ Bewegung ist mit Sicherheit auf die Lektüre von Bergsons Schriften zurückzuführen.37 Petrie hat mit überzeugenden Beobachtungen darauf hingewiesen, dass Boccionis Bergson-Rezeption in Schüben verlief, eine philosophisch ernsthafte Auseinandersetzung Boccionis mit Bergson erst für die Jahre 1911-12 nachweisbar ist. Zuvor war Bergson in italienischen Künstlerkreisen weniger im Original, denn vor allem durch Veröffentlichungen über seine Schriften in „La Voce“ präsent. Hier hatte Ardengo Soffici am 22. September 1910 mit seinem Beitrag „Le due perspettive“ einen vielbeachteten Essay über Bergson geschrieben, jener Ardengo Soffici, der der futuristischen Avantgarde durch seine Veröffentlichungen auch den seit vielen Jahren in Paris beheimateten Rosso in Erinnerung gerufen hatte.38 Rosso wiederum hat nicht zuletzt für Sofficis Veröffentlichungen über sein Werk die fotografischen Experimente mit Figur und Umraum in dieser Zeit forciert. Es zeigt sich also gerade in den Jahren 1909-1913 eine parallele oder sogar eine – über verschiedene Veröffentlichungen initiierte – recht eng verflochtene Auseinandersetzung mit Bergsons Überlegungen sowohl bei

37 Siehe dazu vor allem Kapitel 9 von U. Boccioni: Futuristische Malerei und Plastik, hg. v. Astrid Schmidt-Burkhardt, Dresden 2002. Vgl. Brian Petrie: „Boccioni and Bergson“, in: Burlington Magazine, Band CXVI, 1974, S. 140-147; sowie Walburga Hülk/Marijana Erstić: „Von der Schnelligkeit des Erscheinens und Verschwindens der Gegenstände. Futuristische Visionen“, in: Ralf Schnell/Georg Stanitzek (Hg.), Ephemeres. Mediale Innovationen 1900/2000. Bielefeld 2005, S. 45-64 und W. Hülk: „Bewegung, Gedächtnis, Intuition. Facetten eines Paragone im Umfeld des Medienumbruchs 1900“, in: Inge Münz-Koenen/Justus Fetscher (Hg.), Pictogrammatica. Die visuelle Organisation der Sinne in den Medienavantgarden (19001938), Bielefeld 2006, S. 31-48. 38 Vgl. Michael F. Zimmermann: „Ardengo Soffici und der ‚Fall‘ Medardo Rosso. Der Impressionismus in Italien“, in: Gedenkschrift für Richard Harprath, hg. v. Wolfgang Liebenwein und Anchise Tempestini, München, Berlin 1998, S. 517-527. 90

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Rosso als auch bei Boccioni. Während sich Bocconis Interesse dabei zunehmend auf Bergsons Bewegungstheorie und also auf das Konzept von Zeit konzentrierte, setzte Rossos Interesse enger bei Bergsons Kontinuitätstheorie und hier insbesondere bei Bergsons Verständnis von Raum(wahrnehmung) im Sinne des Umraums an. Vieles von dem, was Bergson, etwa in „Materie und Gedächtnis“, über das Verhältnis von Zeit und Raum in der Wahrnehmung schrieb, lässt sich mit Rossos bildnerischer Fragestellung unmittelbar verbinden. Schon Bergson hatte ja die Vorstellung des isolierten Gegenstandes im Raum kritisiert: „Aber die Trennung zwischen dem Ding und seiner Umgebung kann nicht absolut klar und scharf sein; der Übergang von einem zum anderen vollzieht sich in unmerklichen Abstufungen: Die innige Solidarität, welche alle Gegenstände der materiellen Welt verbindet, die Unaufhörlichkeit ihrer wechselseitigen Wirkungen und Rückwirkungen beweist zur Genüge, daß sie nicht die festen Grenzen haben, die wir ihnen zuschreiben.“39 Boccioni hat diesen Gedanken Bergsons in seinen Schriften explizit aufgenommen, wenn er festhält: „Die Plastik verleiht folglich den Gegenständen dadurch Leben, daß sie ihre Verlängerung im Raum fühlbar, systematisch und plastisch wiedergibt; denn niemand wird heute mehr glauben, daß ein Gegenstand dort endet, wo ein anderer beginnt und daß unsere Körper von nichts umgeben sind.“40 Ich möchte mit einer Überlegung zu Rossos Idee des Umraums schließen. Die These von der contiuità nello spazio als Zentrum des Denkens von Rosso lässt sich in seinem plastischen Werk, vor allem aber auch in seinen Skulpturen-Fotografien deutlich nachvollziehen. Ausgehend von der Verhältnisbestimmung von Skulptur und Fotografie konnte gezeigt werden, dass Rosso die Verbindung von Figur und Raum den verschiedenen Medien entsprechend ästhetisch differenziert. Die Kontinuität im Raum, die Rosso sowohl in der Skulptur als auch in der Fotografie sucht, meint einen bildlich erzeugten Umraum, der – wie nicht zuletzt Boccionis Bemerkungen zu Rosso in „Die futuristische Bildhauerkunst“ festhalten – als atmosphärisch zu charakterisieren ist. Boccionis Auffassung nach ist Rosso „der einzige große moderne Bildhauer, der versucht hat, der Plastik ein weites Feld zu öffnen, plastisch die Einflüsse der Umwelt und die atmosphärischen Bedingungen, die diese an den Gegenstand fesseln, wiederzugeben.“41 Man könnte diese Auffassung des Umraums – im Sinne der neuern Ästhetikdiskussion – auch als eine Äs-

39 H. Bergson: Materie und Gedächtnis, Hamburg 1991, S. 208. 40 U. Boccioni: „Die futuristische Bildhauerkunst“, S. 317. 41 Ebd., S. 318. 91

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thetik der Atmosphären oder von Atmosphärischem verstehen.42 Damit wäre eine Möglichkeit gewonnen, über einen „bloß“ impressionistischen Atmosphären-Begriff im Sinne einer „vibrazione della luce“43 hinauszugehen. Denn so wie eine Ästhetik der Atmosphären dafür plädiert, alle Wahrnehmungserfahrungen als dingtranszendent zu begreifen, insofern vor jede Unterscheidung von gegeneinander abgegrenzten Dingen die ästhetische Erfahrung einer Kontinuität der Erscheinungen in ihrer Umgebung tritt, so plädierte Rosso dafür, die ästhetische Erfahrung der Skulptur im Sinne einer Atmosphäre des Umraums auszulegen. Indem Rosso die Verbindung von Figur und Raum qua Umraum befragt, weigert er sich, die Skulptur als isoliertes Wahrnehmungsobjekt in einem als neutral und distanziert vorgestellten Raum zu sehen. Mit Rosso wurde es – vielleicht erstmals – möglich, den Umraum im Sinne der Atmosphäre als skulpturale Aufgabe zu begreifen. Tatsächlich könnte diese – Rossos – Auffassung der conitinuità nello spazio als Ausgangspunkt auch für die futuristische Arbeit an Raum und Bewegung in der Skulptur angesehen werden, bereitete Rossos beharrliche Arbeit am Umraum der futuristischen Suche nach der „Grundform, die die Kontinuität im Raum gibt“44 erst den Weg.

42 Vgl. Gernot Böhme: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre, München 2001, insbesondere Kapitel III. (Atmosphären) und Kapitel IV (Atmosphärisches). Böhmes Buch argumentiert stärker systematisch denn historisch, d.h. die Wahrnehmung von „Atmosphären“ und von „Atmosphärischem“ wird als Grundlage einer (jeden) Ästhetik im Sinne der Aisthetik bestimmt. Eine historisch konkretisierte Beziehung zum hier zur Debatte stehenden Atmosphären-Begriff im Sinne der impressionistischen und futuristischen Plastik ließe sich über Böhmes „Gewährsmann“ für eine Ästhetik der Atmosphären herstellen, über Hermann Schmitz und dessen Votum für eine Neue Phänomenologie. 43 L. Mattioli Rossi: Boccioni. Pittore Scultore Futurista, S. 26. 44 U. Boccioni: „Bildnerischer Dynamismus“, S. 323. 92

G I L G A M E S C H M AF A R K A . R E F L E X I O N E N ZU M A R C H A I S C H -E P I S C H E N MARINETTIS ROMAN

IN

JUSTUS FETSCHER Mafarka der Futurist, Marinettis programmatischer Roman, Ende 1909 französisch, im Frühjahr 1910 italienisch erschienen, war als eine Art Abschussrampe angelegt. Noch heute nimmt man ihn gern für den Startschuss des literarischen Futurismus. Indes ist er mittlerweile im Archiv des literarhistorischen Gedächtnisses gelandet als Schriftzeugnis befremdlicher tempi passati, also doch dort, wo ihn sein Autor, qua Futurist (wenn auch vielleicht nicht als Repräsentationsprätendent der Futuristischen Bewegung), nie enden sehen wollte. Aktuell ist an diesem Roman allenfalls seine Vorläuferschaft. Er präludiert einen der problematischsten, grellsten und kräftigsten Aspekte der gegenwärtigen globalen Fiktionskultur, jene so vielfältig durchexerzierte Kasuistik des Sadistischen, eine sich immer neu verästelnde wie brutalisierende Fantasiewelt des Quälens, Erniedrigens, Folterns, Vernichtens, aus der ein erheblicher Teil der heutigen erzählenden Genres (Thriller, Horror- und Splatterfilm, Krimi) besteht und sich speist. Allerdings sind diese Genres längst weiter als Marinettis Fiktion. Die Fassade des Ästhetizismus, sein Schwelgen im Hässlichen, Widerlichen und Ekelhaften als dem negativen Grund, der zum Schönen gehört haben sie abgeworfen, die dazugehörige weltanschauliche Programmatik verabschiedet. Vermutlich hat Marinettis episches Hauptwerk heute daher weit mehr Hüter denn Verehrer, mehr belesene Antiquare, die es pflegen, als unentwegte Parteigänger, die ihm immer noch ästhetisch oder politisch nachfolgen wollen. Hansgeorg Schmidt-Bergmanns verdienstvolle Edition der ersten deutschen Übersetzung des Romans durch Michael v. KillischHorn und Janina Knab1 enthält zwar immerhin auch ein raisonnierendes 1

Filippo Tommaso Marinetti: Mafarka der Futurist. Afrikanischer Roman, aus dem Französischen von Michela von Killisch-Horn u. Janina Knab. Mit einem Dossier zur Prozeßgeschichte, einem Glossar von Leonrado Clerici und einem Nachwort hg. v. Michael Farin u. Hansgeorg Schmidt-Bergmann, München 2004. Die französische Erstausgabe: Mafarka le futuriste. Roman africain, Paris 1909. Die von Decio Cinti besorgte italienische 93

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Glossar aus der Feder von Marinettis Enkel Leonardo Clerici; ein „Wörterbuch Mafarka der Futurist“, das bestrebt ist, nachzuweisen, dass der Romancier über bedeutende und im Romantext kryptisch versteckte Kenntnisse der arabischen Poesie und Kultur sowie der islamischen Mystik verfügte. Ich muss allerdings gestehen, dass ich dieses Glossar beim ersten Lesen für eine Parodie auf die Literaturwissenschaft hielt.2 Mafarka lässt sich heute wohl nur noch unter Aufbietung einigermaßen talmi-esoterischer Menetekel-Philologie retten. Die habituell kühlere Kritik ist sich einig: Das Buch ist literarisch seinem verkrampften Ehrgeiz zum Opfer gefallen3, und seine Gewaltphantasien haben wenig von der Valenz anderer wahrnehmungsutopischer avantgardistischer Manifestationen – nicht: Manifeste! –, sondern erschöpfen sich im trüben Wasser ihrer misogynen virilen Selbstzeugungsphantasien.4 Gumbrechts Mafarka-Kritik streift zudem ein Moment, das entweder ein Hebel – oder ein neuralgischer, jedenfalls ein wichtiger Punkt der marinettischen Romankonzeption ist. Es betrifft die Spannung zwischen der futuristischen Programmatik des Erzählwerks und seinem archaischprimitiv-exotischen Setting. Eine, so Gumbrecht, avantgarde-typische sehnsuchtsvolle Zuwendung zu „den nostalgisch verklärten Welten der Vergangenheit und […] des unverdorben archaisch wirkenden afrikanischen Kontinents“ trete hier auf als „literarische[r] Widerspruch des krummsäbelschwingenden Futuristen Mafarka“5. Wie kann das sein? Die Abwendung von der als passatistisch disqualifizierten Vergangenheit war offenbar vereinbar mit einer Rückwendung zu einem geografisch-temporalen Distanzierten. Kritisch-aggressiv zielte

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Übersetzung: Mafarka il futurista. Romanzo africano, Mailand 1910 (Nachauflage u.a. in: F.T. Marinetti: Opere, Bd. 1: Scritti francesi, hg. v. Pasquale Aniel Jannini, Mailand, 1983). Der Turkologe und Orientalist Michael Hess (Berlin/Göttingen) hat mich dann eines Besseren belehrt: Clerici müsse wirklich etwas von arabischer Mystik verstehen. Hans Ulrich Gumbrecht: „Mein Sohn, das Flugzeug. ‚Mafarka‘: Marinettis futuristischer Roman, erstmals übersetzt“ in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30. Mai 2005, S. 50. Siehe Cinzia Sartini Blum: The Other Modernism. F. T. Marinetti’s Futurist Fiction of Power, Berkeley u.a. 1996, bes. Kap. III: „The Superhuman and the Abject. Mafarka le futuriste“, S. 55-78 u. 181-186; Barbara Vinken: „Make War Not Love: Pulp Fiction oder Marinettis Mafarka“, in: Wolfgang Asholt/Walter Fähnders (Hg.), Der Blick vom Wolkenkratzer. Avantgarde – Avantgardekritik – Avantgardeforschung, Amsterdam/Atlanta/Georgia 2000, S. 183-204. H.U. Gumbrecht: „Mein Sohn, das Flugzeug“, S. 50. 94

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diese Distanzierung, wie die Forschung betont, in erster Linie auf die jüngstvergangene oder gar noch nicht völlig überwundene Phase; auf den Wirkungszeitraum von Dekadenz und fin de siècle, eine d’annunzianisch gespreizte Kunstwelt, neo- und spätromantische Psychologie und Sentimentalität, die impressionistische, in den flüchtigen Augenblick verliebte Subtilisierung der ästhetischen Reizbarkeit6 – und nicht zuletzt auf Marinettis eigene Anfänge im Umkreis des französischen Symbolismus. Darin mag auch eine Art Narzissmus der geringsten Differenz liegen: Die futuristischen Frondeure von 1910 wollen sich um jeden Preis absetzen von den neoimpressionistischen Sezessionisten von 1890/1900. Im Blick

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Gegen den Schein, den der aggressive und destruktive Duktus der futuristischen Formsprache erzeugt, ist festzuhalten, dass die italienischen Futuristen der ersten Stunde ihr Wirken als synthetisierende (durch Komplettierung in der dargestellten Bewegungs-Zeit sich ergebende) Antwort auf die impressionistische (sowie die neoimpressionistische und kubistische) Dekomposition des Wahrnehmung verstanden. Für Umberto Boccioni bestand zwar ein Triumph der impressionistischen Kunst in ihrer Fähigkeit, das Flirrende augenblicklicher atmosphärischer Lichterscheinungen einzufangen. Zugleich tadelte er aber deren Insuffizienz. Jene „abbozzi febbrili con i quali gl’impressionisti cercavano di afferrare le cose e i fugacissimi momenti luminosi […] tutto questo produsse, coll’andar del tempo, opere che furono gridi di ammirazione scoraggiata per lo spettacolo del mondo.“ (Umberto Boccioni: „Pittura scultura futurististe. (Dinamismo plastico)“, in ders.: Scritti editi e inediti, hg. v. Zeno Birolli, Mailand 1971, S. 75-204, hier: S. 116). Die von der futuristischen Formsprache begriffene Emotion ist für Boccioni wesentlich Motion, Bewegung, Teil, Zeichen und dramatische Steigerung eines Lebens, das etwa noch von Picasso analytisch auseinander genommen und damit stillgestellt werde. Damit gehe der Futurismus den entscheidenden Schritt über den Impressionismus hinaus: „In scultura come in pittura non si può rinnovare se non cercando lo stile del movimento, cioè rendendo sistematico e definitivo come sintesi quello che l’impressionismo ha dato come frammentario, accidentale, quindi analitico.“ (Boccioni: „Manifesto tecnico della scultura futurista“, ebd., S. 23-30, hier: S. 27 [Kursiviertes dort fettgedruckt].) Mit Blick auf das Thema Körper in Bewegung heißt das wohl, dass die futuristische Neu-Zerlegung von temporalen Prozessen in Bewegungsstadien zugleich deren holistische Reintegration bewirken sollte. Zu Boccionis siehe auch die Ausgabe Boccioni: Futuristische Malerei und Plastik (Bildnerischer Dynamismus), hg. v. Astrit Schmidt-Burkhardt, Harburg 2002, sowie Walburga Hülk: „Bewegung, Gedächtnis, Intuition. Facetten eines Paragone im Umfeld des Medienumbruchs 1900“, in: Inge Münz-Koenen/Verf. (Hg.): Pictogrammatica. Die visuelle Organisation der Sinne in den Medienavantgarden (19001938), Bielefeld 2006, S. 31-48. 95

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auf das strategische Kalkül der Futuristen ist die marinettische Wendung zum Archaischen, das zugleich unzeitgemäß und außer- sowie überzeitlich ist, mithin weniger paradox denn stimmig. An archaischen Momenten herrscht im Mafarka kein Mangel. Es sind noch nicht jene, von denen die französische Komparatistin Anne Tomiche gezeigt hat, dass sie im Dadaismus, aber auch im Futurismus und namentlich auch beim Marinetti der Erzählung L’Alcova d’accaio (1921) die Mythe des Turmbaus von Babel zugleich hintergehen und restituieren, indem sie auf eine vorlogische, allen Sprachen zugrunde liegende asematisch-lautliche Ursprache hinauswollen.7 Sehr wohl aber führt der Mafarka Mythologeme der griechischen Antike vor: Sphinxe und Chimären, auch die Medusa als Verkörperungen der bedrohlich versteinerten Weiblichkeit,8 Titanen, die sich eines geköpften Donners bemächtigen, als wollten sie die Entmannung Kronos’ durch den Gewittergott Zeus rächen9; weiter die Elemente – Feuer, Erde, Wasser, Winde – als gefährliche Mit- und Gegenstreiter in den Schlachten der menschlichen Heere; vor allem aber Bilder des Kentauren, zu dem etwa Mafarka mit dem von ihm gerittenen Teufelspferd verschmilzt: „als sei sein Körper für immer mit dem Sattel verschweißt“.10 Die Vision des futuristischen Menschen, der bekanntlich ein moderner Kentaur sein sollte, eine Fusion von Mensch und – nicht Pferd, aber Maschine mit Pferdestärken, scheint hier vorgebildet. Daneben begegnet im Roman ein imaginäres nordafrikanisches Arabien, das von Imamen, Moscheen, Muezzinen und Allah-Anrufen weiß. Mafarka selbst ist ja, wie Marinettis Verteidiger im Sittlichkeitsprozess um den Roman betont, ein Araber mit der für dieses Volk angeblich typischen widersprüchlichen Seele.11 Marinetti selbst legte Wert auf den Umstand, dass sein Afrika nicht das exotistisch parfümierte eines

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Siehe Anne Tomiche: „Babel et les avant-gardes futuristes et dadaïstes“, in: Véroniques Léonard-Roques/Jean-Christophe Valtat (Hg.), Les Mythes des avant-gardes. Études rassemblées, Clermont-Ferrand 2003, S. 153-167. 8 Siehe F.T. Marinetti: Mafarka der Futurist, S. 99. 9 Siehe ebd., S. 149f. Zu solchen in vom Romancier Marinettis in invertierter Form aufgenommenen Mustern des griechischen Mythos (Geburt der Athene, Dädalus und Ikarus, Ödipus) s. Hanno Ehrlicher: Die Kunst der Zerstörung. Gewaltphantasien und Manifestationspraktiken europäischer Avantgarden, Berlin 2001. 10 F.T. Marinetti: Mafarka der Futurist, S. 93, vgl. S. 94. Man denke auch an die primitiviert-archaisierende Rede von Kentauren und Löwen im Futuristischen Manifest von 1909. 11 Ebd., S. 217 u. S. 240. 96

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Pierre Loti sei.12 Aufgerufen ist vielmehr die historische Erfahrung der militärischen Unterwerfung, gewaltsamen Missionierung und ertragreichen Versklavung erheblicher Völkerschaften Schwarzafrikas durch die Araber. Zum Antirealistischen des Romans gehört, dass auch diese geschichtliche Welt und ihre Kultur hier wesentlich als sagenhaftes Versatzstück erscheint. Die Liste ist fortsetzbar. Blum spricht allgemein von Marinettis Mythopoesie.13 Die jüngste ausführliche Monografie zum Mafarka-Roman versteht diesen insgesamt als eine Art Kontrafaktur der Homerischen Epen.14 Hansgeorg Schmidt-Bergmann resümierte zum letzten Kapitel des Romans, es kombiniere und zitiere „Alttestamentarische Vorstellungen über die Erschaffung des Menschen, griechische Mythen und Mary Wollstonecraft Shelleys ‚Frankenstein or The Modern Prometheus‘“15. Und in seiner Rezension von Schmidt-Bergmanns deutscher MafarkaAusgabe hat Hans Ulrich Gumbrecht in diesem Buch noch andere Intertexte im Spiel gesehen, zugleich aber auch ein Missbehagen an deren Überständigkeit formuliert: „Denn Mafarka […] wirkt nicht wie ein Emblem der Zukunft, sondern eher wie ein Cousin von Roland und Olivier oder gar wie ein in Afrika auferstandener Siegfried aus der Welt des mittelalterlichen Heldenlieds.“16 Diese Elemente sind im Romantext leicht zu ermitteln. Und sie wären, dieser Weg sei im Folgenden beschritten, zu ergänzen um eine weitere Schicht der Bezugnahme auf archaische Narrationen – oder jedenfalls des Bezugs zu solchen Narrationen, nämlich auf zu denjenigen des Gilgamesch-Epos. Vielleicht erschließen sich von hier aus noch einmal neu die Funktion und die diegetischen Konsequenzen, die solche Rückverweise in Marinettis Mafarka le futuriste haben. Zur Debatte steht – soll stehen – die literarische quasi-religiöse Faktur dieses Buches und dessen Stellung zum Futurismus. Die moderne Wiederentdeckung des Gilgamesch-Epos beginnt 1872 durch einen Vortrag des Assyriologen George Smith bei einer Zusam12 Ebd., S. 183. Die Kritik hat dieses nordafrikanisch-arabische MafarkaLand an die Welt der Abenteuerromane Emilio Salgaris herangerückt; s. H. Ehrlicher (Anm. 10), S. 101f. Anm. 37, und v.a. Rinaldo Rinaldi: „Le Plagiat de l’avant-garde: ‚Mafarka le Futuriste‘ de Martinetti“, in: Vitalité et contradictions de l’avant-garde. Italie – France 1909-1924, hg. Sandro Briosi u. Henk Hillenaar, Paris 1988, S. 117-124. Auch in dieser Hinsicht stützt sich das Grundstürzend-Neue des Mafarka auf das Alte. 13 Siehe C.S. Blum: The Other Modernism, S. vii. 14 Lorenza Miretti: Mafarka il futurista. Epos e avanguardia. Bologna 2005. 15 H. Ehrlicher: Die Kunst der Zerstörung, S. 279 16 H.U. Gumbrecht: „Mein Sohn, das Flugzeug“. 97

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menkunft der Biblical Archeological Society in London.17 Bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein bestimmen britische und deutsche Forscher die Debatte um die archäologischen, frühgeschichtlichen und religionshistorischen Implikationen des nun zunehmend umfangreicher rekonstruierten Epos. Eine Bibliografie verzeichnet für die Zeit bis 1909 acht Teiltranskriptionen des akkadischen Textes, 48 einschlägige wissenschaftliche Publikationen und immerhin vier Übersetzungen des Epos, zwei französische aus den Jahren 1892/93 bzw. 1907 und zwei deutsche von 1891 bzw. 1900.18 Diese Aufmerksamkeit ist erklärbar. Die Entstehungsgeschichte dessen, was wir heute von dem Epos kennen, erstreckt sich zwar vom 21. bis ins 7. vorchristliche Jahrhundert, seine entscheidende Redaktion erfolgte dabei erst durch den ins 12. Jahrhundert zu setzenden Sin-leqe-unnini. Dennoch ist der Anciennitätsvorsprung dieses Textes gegenüber den 17 Siehe zuletzt etwa Stefan M. Maul: Das Gilgamesch-Epos, München 3 2006, S. 9; Walter Sallaberger: Das Gilgamesch-Epos. Mythos, Werk und Tradition, München 2008, S. 122f. Im Stile einer breiten kulturgeschichtlichen Narration rekapituliert die zwischen 1840 einsetzede Wiederentdeckung und Entzifferung (antiker Textträger) des Epos sowie dessen 1872 einsetzende Verwendung im archääologisch-theologischen Streit um den Quellenwert der dortigen Sintflut-Episode: David Damrosch: The Buried Book. The Loss and Recovery of the Epic of Gilgamesh, New York 2007, S. 9-80. Zu Smiths berühmten Vortrag vom 3. Dezember 1872, bei der auch der damalige britische Premierminister Gladstone anwesend war. s. ebd., S. 33f. 18 Siehe L. de Meyer: „Introduction bibliographique“, in: Gilgames et sa légende. Études recueillies par Paul Gareli à l’occasion de la VIIe Rencontre Assyriologique Internationale (Paris 1958), hg. v. Paul Garelli, Paris 1960, S. 1-30, bes. S. 8, 13-15 u. 24. Leider ist diese Bibliographie gerade dort unvollständig, wo sie die französischen Gilgamesch-Übersetzungen auflistet. Die zuverlässigste Quelle für die Existenz einer 1894 erschienenen Übersetzung scheint zu sein: Gaston Maspero: The Dawn of Civilization. Egypt and Chaldæa, London 1894, übers. (aus dem Französischen ins Englische) M.L. McClure [französisch u. d. T. Histoire ancienne des peuples de l’orient classique. Bd. 1: Les origines. Egypte & Chaldéé]: „a complete French translation by SAUVEPLANE, Une Épopée Babylonienne, IstubarGilgamès, 1894“ (S. 574 Anm. 2; vgl. die Nachweise S. 566 Anm. 2, S. 575 Anm. 1 u. 2, u. S. 585 Anm. 2). Das diesem Buch vorangestellte Vorwort – Translator’s Preface (S. [ix]) – ist datiert: „October 11, 1894“. Beunruhigend bleibt, dass Sauveplans Übersetzung, die als Quelle für Marinetti in Frage kommt, heute gerade mal noch bibliografisch nachzuweisen, aber, meiner Kenntnis nach, in keiner Bibliothek der Welt mehr zu konsultieren ist. 98

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ältesten kanonischen Schriftzeugnissen der europäischen Kultur allemal unbestreitbar. Aufsehen erregte daher früh die smithsche These von dem mit diesem Epos vorliegenden Chaldean Account of Genesis (London 1876). Da die Gilgamesch-Fragmente sowohl von einer alle Menschen bis auf ein Paar vernichtenden Sintflut sprechen wie von mindestens einer heldenhaften Unternehmen eines Abstiegs ins Totenreich, kommen sie als literarische Vorbilder sowohl der Bibel wie des homerischen Epos in Frage. Eben diese Befunde haben die weitestreichenden und heftigsten Kontroversen um das sumerisch-akkadische Epos ausgelöst: den bekannten Bibel-Babel-Streit um 1870-1900 einerseits und andererseits, jüngst, die durch Raoul Schrotts Buch provozierte Debatte um die Herkunft und Abhängigkeit des homerischen Epos von Gilgamesch.19 Doch selbst demjenigen, der solche Überlegungen für antiquarische hält, bot dieser Text eine Attraktion, die für die Kultur um und nach 1900 charakteristisch war. Im Kontext des religionstheoretisch inspirierten Aufkommens einer ersten Kulturwissenschaft entwickelt diese Zeit eine Art Begehren nach dem Archaischen.20 Es erschließt Dichtungen der griechischen Archaik, etwa Sapphos, ebenso wie die Torsi der vorklassischen Antike. Der heute bekannteste Textzeuge dieser Verpfändung ans Vorzeitliche, der Dichter des Archaïschen Torso Apollos, ist auch der erste deutsche Schriftsteller, der 1916 emphatisch auf eine neue Gilgamesch-Übersetzung reagiert. Sie war gerade in der Insel-Bücherei erschienen, und der Briefschreiber Rilke vergleicht nun diese Nacher-zählung Georg Burckhardt mit der fünf Jahre zuvor erschienenen „gelehrten Übersetzung“ von Franz Ungnad.21 Doch ganz gleich, in welcher deut-

19 Raoul Schrott: Homers Heimat. Der Kampf um Troia und seine realen Hintergründe, München 52008. Zu George Smiths Chaldean Account s. dort S. 24. Die Debatte, die um Schrotts Buch entbrannt ist, und an der sich sich große Teile der gräzistischen Forscherwelt beteiligt haben, sei hier nicht weiter verfolgt. Schrotts Buch operiert im Wesentlichen thetisch durch Akkumulation von möglichen Homologien. Es behauptet mehr, als es aufzeigen kann und hat seine Hauptstärke (und Beunruhigungsenergie) vielleicht darin, dass es mit der Frage: „Schreibt das Homerische Europa von der kilikischen Kultur her?“ die Frage stellt: „Gehört die Türkei zum Kern Europas?“ 20 Siehe Glenn Most: „Die Entdeckung der Archaik. Von Ägina bis Naumburg“, in: Urgeschichten der Moderne. Die Antike im 20. Jahrhundert, hg. v. Bernhard Seidensticker u. Martin Vöhler. Stuttgart, Weimar 2001, S. 2039. 21 Franz Ungnad: Das Gilgamesch-Epos, übersetzt von Arthur Franz Ungnad, Göttingen 1911; Gilgamesch. Eine Erzählung aus dem alten Orient. Zu einem Ganzen gestaltet von Georg Burckhardt, Leipzig 1916. Um 1919/20 99

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schen Gestalt das Epos erscheint, „Gilgamesch“, schreibt Rilke, „ist ungeheuer […]; ich […] rechne es zum Größten, das einem widerfahren kann“.22 Wenig später spricht er von „diesen wahrhaft gigantischen Bruchstücken“, der „Gewalt des fünftausend Jahre alten Gedichts“, von dessen Fragmenten, die „herrlich-massive[] Bruchflächen“ seien und sich konfigurieren zu einem „Epos der Todesfurcht“.23 Es öffnet dem modernen deutschen Schriftsteller den Mund: „Die Zusammenfassung Burckhardts ist nicht durchaus glücklich […] ich erzähls besser“.24 Der Ton der deutschen Gilgamesch-Lektüren ist damit gesetzt. In den frühen Zwanziger Jahren begeistert sich der junge Elias Canetti für das von einem Schauspieler vorgetragene Epos,25 und auch er findet darin ein narratives Inbild der Sterblichkeit, freilich nicht der Todesfurcht, sondern, im Sinne von Canettis Lebensthema, der Empörung über den Tod, der Todfeindschaft.26 Als schließlich Hans Henny Jahnn 1924 seine schwarze, als Afrikanerin auftretende Medea schreibt, archaisiert er den griechischen Mythos, indem er ihn historisch und strukturell auf den ägyptischen und kleinasiatischen zurückführt. Die Gebete, die bei Jahnn der Chor an Medeas Großvater Helios richtet, seien, so die Selbsterklärung des Autors, „ungriechisch“, nämlich „ägyptisch-babylonisch“.27 Vom Gilgamesch-Epos übernimmt er die Vorstellung, dass ein gottmenschliches Wesen durch seine liebende Teilnahme an der Menschengesellschaft von Sterblichkeit, Trauer und Tod ereilt wird: auch er rezipierte vor allem die Totenklage des Gilgamesch um Engidu.28 Unverkennbar steht diese Rezeption im Schatten sowohl des Ersten Weltkriegs wie des Expressionismus. Daher bleibt die Frage nach der Korrespondenz dieser deutschen Manifestationen mit der italienischen

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erarbeitet Josef Hegenbarth eine Reihe von Kaltnadelradierungen und Pinselzeichnungen zum Gilgamesch-Epos (Das Gilgamesch-Epos gesehen von drei Generationen. Josef Hegenbarth, Willi Baumeister, Reinhard Minkewitz, Mainz 2006; zur Datierung von Hegenbarths Bildern s. S. 23 u. 46). Rainer Maria Rilke/Katharina Kippenberg: Briefwechsel, Wiesbaden 1954, S. 191 (Brief Rilkes vom 11.12.1916). R.M. Rilke/Helene v. Nostitz: Briefwechsel, hg. v. Oswalt v. Nostitz, Frankfurt/Main 1976, S. 99 (Brief Rilkes vom 31. 12. 1916). R.M. Rilke/K. Kippenberg: Briefwechsel, S. 198 (Brief Rilkes vom 19. 12. 1916). Elias Canetti: Die Fackel im Ohr. Lebensgeschichte 1921-1931, München, Wien 1980, S. 59-61. Siehe hierzu R. Schrott: Homers Heimat, S. 15. Hans Henny Jahnn: Dramen I: 1917-1929, hg. v. Ulrich Bitz, Hamburg 1988, S. 1209. Siehe ebd., S. 899, 935 u. 937. 100

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Welt allgemein und mit dem Marinetti von 1909/1910 im Besonderen. Zugänglich, jedenfalls lesbar waren diesem vermutlich die beiden französischen Gilgamesch-Übersetzungen, die 1894 bzw. 1907 erschienen waren. Dagegen datiert die erste italienische Version des Epos, wie nicht verschwiegen sei, von 1944. Sie erscheint im Mailänder Verlag der Frautelli Bocca und ist ein Werk des Historikers Gian Battista Roggia, an dem das Futuristischste gewesen sein mag, dass er 1913 geboren wurde.29 Es mag forciert scheinen, anzunehmen, Marinetti habe eine Nummer der Revue de l’histoire des religions konsultiert – ein Heft, das herauskam, als der angehende Futurist 16 Jahre alt war –, oder sich mit dem zu Jahrhundertbeginn erschienenen Band VI/1 der Berlinischen Keilschriftlichen Bibliothek beschäftigt. Immerhin verwendet der Futurist 1912 in BATAILLE. POIDS + ODEUR, einem bellizistischen literarischen Exerzierfeld seiner parole in libertà, das semantisch prima vista et primo auditu ungebundene Wort „Gargaresch“30, das ebenso gut einen typisiertmythisierten Kombattanten in der vom Titel angekündigten Schlacht zu bezeichnen wie, lautmalerisch, für eines der elektrisierenden dynamischen Geräusche solchen Gefechts zu stehen scheint, und an den Namen Gilgamesh immerhin anklingt. Pauschal darf man wohl behaupten, dass seinerzeit das Interesse am Gilgamesch-Epos in der Luft lag. Auch wenn die italienischen Futuristen der ersten Stunden wenig Sinn gehabt haben werden für die gründlich-gelehrten Ereiferungen, mit denen der deutschen Forscher Peter Jensen 1906 auf über 1000 Seiten die Abhängigkeit 29 Gian Battista Roggia: L’epopea di Gilgamesh con introduzione du G.B. Roggia su La firmazione del poema e i problemi dello spirito nell’Antico Oriente, Mailand 1944, 21951. Eine deutsche Übersetzung der Roggia’schen Einführung (S. 9-78 der Ausgabe von 1944) findet sich in deutscher Übersetzung von Felizitas Kiechl bei: Das Gilgamesch-Epos, hg. v. Karl Oberhuber, Darmstadt 1977, S. 178-218. 30 F.T. Marinetti: „BATAILLE. POIDS + ODEUR“, in ders.: Les mots en liberté futuristes. Préface de Giovanni Lista. Lausanne: L‘âge d‘homme, 1987, S. 75-80: „Midi 3/4 flûtes glapissement embrasement toumbtoumb alarme Gargaresch craquement crépitation“ (S. 75). Das Lautmalerische dieser Wortkette ist unüberhörbar. „Gargaresch“ ist durch seine Majuskel hervorgehoben, was – neben seiner für europäische Sprachen lexischen Unterbestimmtheit – suggerieren könnte, es handele sich um einen Rufnamen. Tatschlich ist es das Toponym einer Oase, auf die im italienischen Libyenfeldzug von 911/12 ein von Marinetti hier evozierter Artillerieangriff zielte (s. Christoph Hoch: „Scrabrrrrraanng! Zu Programm und Literarästhetik des Futurismus im europäischen Kontext“, in: Der Lärm der Straße. Italienischer Futurismus 1909-1918, hg. v. Norbert Nobis, Hannover 2001, S. 258-274, bes. S. 267). 101

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des Alten wie des Neuen Testaments von diesem Epos ausbreitete, und obwohl sie längst (in ihrer Eigenschaft als Futuristen) entschlafen waren, als Jensen diesem gelehrten Opus einen zweiten solchen Band hinterherwarf31 – in einer von der katholischen Kirche dominierten Gesellschaft und Kultur musste jede Anfechtung christlicher Ansprüche und alteuropäischer Primordialität den Reiz des Frondierenden haben.32 Daher lässt sich vermuten, diese Valenz des Textes habe auch in Italien eine ähnliche Anziehungskraft gehabt wie die antichristlichen Demaskierungen Nietzsches. Auf seltsame Weise verwandelt ist der Gilgamesch-Erzählung in jüngster Zeit eine ähnliche kontestative Bedeutung zugefallen.33 Die Divergenzen, auf die ein Vergleich des Gilgamesch-Epos mit dem Mafarka-Roman stößt, sind indes mindestens ebenso interessant wie die Parallelen zwischen diesen beiden Texten, und sie verbinden sich mit ihnen zu Spannungen, von denen sich abermals sagen lässt, sie seien in beiden Corpora einander ähnlich. Alle aber – Parallelen, Divergenzen und paradoxe Similaritäten – liegen auf der Ebene der mythisch-narrativen Grundzüge.

31 P[eter] [Christian Albrecht] Jensen: Das Gilgamesch-Epos in der Weltliteratur. Bd. 1: Die Ursprünge der alttestamentlichen Patriarchen-, Prophetenund Befreier-Sage und die neutestamentliche Jesus-Sage. Strasburg: Karl J. Trübner, 1906; Bd. 2: Die israelitischen Gilgamesch-Sagen in den Sagen der Weltliteratur. Mit einem Ergänzungsheft, worin unter anderem vier Kapitel über die Paulus-Sage, Marburg/Lahn 1928. 32 Etwas pauschal konstatiert Raoul Schrott: Mit der Publikation des babylonischen Epos „war“ – im späten 19. Jahrhundert – „[…] die Autorität der Bibel als Zeugnis göttlicher Offenbarung […] ein für allemal im wahrsten Sinne des Wortes untergraben: das Wort Gottes war nichts als die Abschrift eines mesopotamischen Textes.“ (R. Schrott: Homers Heimat, S. 24; vgl. S.M. Maul: Das Gilgamesch-Epos, S. 9: „Sofort erwachte ein starkes Interesse an dem altorientalischen Mythos, der die Einzigartigkeit und für nicht wenige damit auch die normative Autorität der deutlich jüngeren biblischen Überlieferung in Frage stellte.“). 33 Die Degradierung der Stätten frühzeitlicher mesopotamischer Kultur zum militärischen Operations- und Besatzungsgebiet im Zuge des letzten Golfkriegs hat in der arabischen Welt wie im Westen – dort aus dem Trotz der Gedemütigten, hier aus schlechtem Gewissen – die Erinnerung an die Anciennität der Gilgamesch-Sphäre neuerlich wachgerufen. Vor kurzem deutet eine irakischer Germanist den Medea. Stimmen-Roman Christa Wolfs (1996) als Echo des babylonischen Epos (s. Mohammad Ismail Shibib: Christa Wolfs „Kassandra“ und „Medea. Stimmen“: Spurensucher eines Grunddenkmusters oder Historisierung aktueller Krisen. Diss. Rostock 2007). 102

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Im Zentrum beider Narrationen stehen, grob generalisiert gesagt, mann-männliche Verhältnisse mit homophilen Implikationen und insistenter Fokussierung auf die Berührung der Schwelle zwischen Leben und Tod. Mafarka grenzt sich als Neuerer wie Nachfolger von der Figur und vom Lebenswerk seines königlichen Vaters ab. Noch seine ödipal-aggressiven Strebungen verraten eine verleugnete Unterströmung der Imitation und Intimität. Markanter charakterisiert findet sich der marinettische Titelheld als Gegenfigur zu seinem Bruder Magamal, denn er erliegt nicht wie dieser – jedenfalls nicht so leicht und oft – den verweichlichenden Verführungen durch das Weibliche. Schließlich endet der Roman mit Mafarkas technisch-künstlicher Zeugung, ja Konstruktion seines Sohnes, benannt Gazourmah, dessen ohne den verderblichen, kontaminierenden Beitrag einer Frau kreiertes Leben seinem ingeniösen Schöpfer den Tod bringt. Wie ein umgekehrter Ikarus erhebt sich dieser Sohn über das Meer in die Lüfte, nicht um abzustürzen, sondern indem er seinen Dädalus auf dem Festland tot zurücklässt. Die frauenlose Vater-Sohn-Sukzession ist eine männlich-mörderische. Was bei Marinetti als techno-logische Abfolge vom Vater auf den Sohn erscheint, nahm sich im babylonischen Epos als Interdepedenz des Schicksals zweier in etwa gleichaltriger Männern aus. Von ihnen ist Engidu zwar der Jüngere, später im Lauf der Erzählung eingeführte, in der sumerischen Version sogar der Knecht Gilgameschs.34 Dennoch werden diese beiden im Zuge der Handlung Brüder, wenn nicht der biologischen, so der heldenepischen Genealogie nach. Gemeinsam vollbringen sie jene Taten, in denen sie, nicht unähnlich dem griechischen Herkules, natürlich-elementar-verwunschene Urgewalten und ungestalte Monstren bezwingen. Die Enge ihrer Verbindung ist abermals – schon – eine auf Leben und Tod befestigte. In mehrfacher Wiederholung und Spiegelung führt das Epos vor, dass sie füreinander in die Unterwelt gehen wollen. Nach Engidus Versiechen in der Mitte des Werks (7. Tafel) ist das Epos wesentlich eine klagevolle Reflexion auf den menschlich-sterblichen Teil des Freundes und selbst des Gilgamesch, der doch zu zwei Dritteln göttlich sein soll. Gilgamesch will nun nichts Anderes, als Engidu in die Erdwelt des Totenreichs nachfolgen, steuert dieses Ziel durch das Überwinden mythischer Wasser und das Bestehen weiterer heroischer Aufgaben an. Obgleich nicht offensichtlich wird, ob er dieses Ziel erreicht und was er da tun will: neben Engidu als Toter in der Unterwelt verweilen oder ihn von dort heraufholen durch Bitten, Gewalt oder List, gibt uns die 34 Das Gilgamesch-Epos, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Albert Schott, neu hg. v. Albert von Soden, Stuttgart 2003, S. 106 (Erläuterung zur 12. Tafel). 103

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Überlieferung der späteren 12. Tafel eine Vorstellung von dieser Grenzüberschreitung. Hier entschließt sich Engidu, für Gilgamesch dessen dem Totenreich verfallene Trommel35 von dort zurückzubringen. Den Rat Gilgameschs an Engidu, wie dieser im Totenreich zu erscheinen habe – unauffällig, in nichts den lebendigen Fremdling verratend – missachtet der Gefährte. So verfällt er dem Totenreich, wird aber schließlich auf Gilgameschs Flehen zurückgebracht. Zurück unter den Lebenden, mit Gilgamesch wiedervereinigt, bleibt Engidu indessen wie von seiner Herkunft aus dem Totenreich kontaminiert,36 und er gibt diese Erdverfallenheit auf dessen ausdrückliche Bitte an seinen sympathetischen Bruder Gilgamesch weiter. Seine formelhaften Erzählungen von den unterweltlichen Schicksalen scheinen den überlebenden – bislang allezeit oben gebliebenen – Gefährten durch bloßes Zuhören mehr und mehr zu sich in das Reich zu ziehen, das Engidu nicht wirklich verlassen haben mag. Mithin: Hier wie da männliche Beziehungen, die an der Grenze zwischen Leben und Nichtleben, beim Zeugen, Sterben und in der Totenklage Funktionen, Haltungen, Gesten und psychosomatische Zustände des ausgegrenzten Weiblichen annehmen. Gilgamesch springt klagend über den Leichnam seines toten Freundes „[w]ie eine Löwin, die ihrer Jungen beraubt ist“37, das imperiale Tier wird zum mütterlichen. Cinzia Sartini Blum hat an dem frauenunabhängigen Sohnzeuger Mafarka dessen unbewusste weibliche Züge herausgestellt. In einer Wiederkehr des Verdrängten erscheint der singuläre Vater, diese Fortschreibung von Alfred Jarrys Surmâle, als Mutter, die unter Schmerzen gebiert.38 Bei der Konfrontation mit Langourama (deren Name als sprechender zu denken ist im Sinne von „La languissante“) wird Makarka sogar zu so etwas wie einer Mutter zweiten Grades, zur Amme und Mutter der Mutter: „ich werde nicht aufhören, dich in den Schlaf zu wiegen“.39 Wie seine Mutter um Mafarkas Liebe, so bettelt dieser endlich um die Zuwendung seines Sohnes und wird von diesem wie eine ein zu überwindender Vater fortge-

35 Oder Trommelstöcke, in Schrotts Übersetzung ist allgemein von einem Spielzeug die Rede, das auch ein Reifen/Treibstock/Ball/Schlagstock sein könnte (s. R. Schrott: Gilgamesch. Epos, Frankfurt/Main 2004, S. 314). 36 Das Gilgamesch-Epos, übers. A. Schott, S. 110, V. 96f. (12. Tafel). 37 Ebd., S. 73, V. 19 (8. Tafel). 38 C.S. Blum: The Other Modernism, S. 72; vgl. auch Tanja Schwan: „Pornographische Szenarien in Jarrys Surmâle und Marinettis Mafarka“, in: dies./Walburga Hülk/Gregor Schuhen (Hg.), (Post-)Gender. Choreographien/Schnitte, Bielefeld 2006, S. 33-48. 39 F.T. Marinetti: Mafarka (2004), S. 164, 104

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schleudert und wie ein mütterliches „nasses Wäschestücke“40 liegen gelassen. Die Divergenzen zwischen dem Epos und dem Roman sind damit mitgegeben. Statt eines exklusiv-männlichen Vater-Sohn-Verhältnisses im Mafarka findet sich im Gilgamesch eine exklusiv-männliche Freundes- und Bruder-Beziehung. Statt kriegerischer Heldentaten, die Menschentötung und Siedlungszerstörung hervorbringen im Mafarka, begegnet im Gilgamesch die Bezwingung von Naturgewalten, die der Menschheit feindlich waren und deren Besiegung ihr eine Befreiung sein sollte; dazu – und zuallererst – fügt sich hier die Stadtgründung, die synekdochisch im Mythos von Gilgamesch als dem Erbauer der Mauer von Uruk repräsentiert ist. Den vorausdeutenden Träumen zumal des todverfallenen Engidu kontrastieren die paradoxen Träume, die Gazourmah, der „Held ohne Schlaf“41 sieht, und die seinen Kopf von diesem mit dem Tod verwandten Versenkenszustand freihalten, auch wenn (und wenn auch) sein übriger Körper dem Schlaf anheimgegeben ist. Statt fataler Traumvisionen wird Mafarkas Sohn die unentwegt bewegten Bilder eines Kinos sehen, das als technischer Schrittmacher seines Geistes auf die Innenwand seines Gehirns projiziert werden soll: mechanisch auf Dauer gestellte Bewegung, die ihn daran hindert, zu vermenschlichen, mithin sterblich zu werden. Mafarka verkündet dem Sohn, der Vater habe Gazourmahs: „Adern so konstruiert, daß der Schlaf sich unter die Gewölbe deiner Muskeln schleichen kann, vom linken Fuß aus hinauf zu deinen Hüften, deiner Brust und deinem Kopf. Sofort werden bunte Träume ihn bevölkern, aber der Schlaf wird sich nicht auf deiner Stirn niederlassen können […]. Dieser Bildervorführer, dieser umherziehende Geschichtenerzähler, dieser Wahrsager, der Schlaf, dieser Heldensänger auf Samtpfoten, dieser Banjo spielende Rhapsode wird nur kurz vorbeischauen. Er wird sofort auf der rechten Seite deines Körpers zu deinem rechten Fuß zurückkehren, wo er besiegt bis zum nächsten Morgen schlafen wird…“42

Und endlich der weitest reichende finale Aufbruch im Mafarka: der Flug in eine technisch-armierte zerstörerische Zukunft; im Gilgamesch-Epos stattdessen: Rückgang und Aufbruch in ein Totenreich, dem Tribut zu zollen und welchem seine Beute wenigstens für die Dauer einer symbolischen Geste abzuringen ist.

40 Ebd., S. 167. 41 F.T. Marinetti: Mafarka, S. 157. 42 Ebd., S. 159. 105

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Dennoch sind auch diese Divergenzen zwar nicht aufzuheben, aber doch ein wenig aufeinander zurückzubiegen. Das Vater-Sohn-Verhältnis zwischen Mafarka und Gazourmah hat Marinetti, allen genealogischen Vereindeutigungen mit mythischer Lizenz widersprechend, auch als brüderliches konzipiert. Es nimmt auf höherer Ebene das von Mafarka und Magamal wieder auf und gibt abermals den noch immer zu weiblichkeitsverfallenen der beiden Männer (dort war es Magamal, nun ist es Mafarka selbst) dem Tode preis. Zum jugendbewegt-sohnesbündischen Moment des Futurismus wie auch des Mafarka-Romans gehört die brüderliche Fronde gegen die Welt der Väter – die jüngste patriarchale Vergangenheit ist eben die der Generation der Erzeuger der Aufständischen. Von daher ist Marinettis Widmungsrede, die „[s]eine futuristischen Brüder“43 anruft, dem Roman nicht äußerlich. Schließlich ist besonders dem Roman-Ende des Mafarka ein untergangs-affines Moment eingeschrieben, ein schattenhaft-grimmiges Bewusstsein, dass die gewaltigsten Aufbrüche sich nur dadurch legitimieren und vollenden, dass sie ihr zum Scheitern-Verurteilt-Sein exekutieren. Unlösbar bleibt allerdings auch der Konflikt des Epischen mit dem Futuristischen. Das Epische nämlich ist auch dann nicht futurisierbar, wenn die Erzählung, wie hier im Mafarka, im trans-historischen, transtemporalen Bereich des Mythischen angesiedelt ist. Es behält ein Moment von Rückschau aufs Abgeschlossene, Zurückliegende, und keine Muse mag, seit Hesiods und Homers Zeit, so sehr und so legitim ein Kind der Mnemosyne sein wie eben, neben der Klio, auch die Kalliope, die Muse der epischen Dichtung. Man kann dem Mafarka unterstellen, dass ihm diese Problematik bekannt war. In der zitierten Passage über den Traum als Bildervorführer, der sowohl Prophet wie umherziehender (sich im Raum bewegender) Geschichtenerzähler und Rhapsode sei, distanziert sich der Romancier Marinettis von den „nur“-illudierenden, das Publikum ins fiktionale Gehäuse der Erzählwelt weglockenden, insinuativ einschläfernden Fertigkeiten und Wirkungen des Epikers. Eine Konsequenz daraus mag erkennbar sein an Marinettis weiterer Schriftstellerbiografie oder zumindest an der Geschichte von deren Rezeption. Nach dem Mafarka wendet er sich den präsentistischen, aktualperformativen Genres zu, für die er berühmt werden sollte: dem Manifest, der theatralischen Synthese44 und den parole in libertà 45– nicht zu43 Ebd., S. 9 u. 10. 44 Siehe hierzu die jüngste Ausgabe: F.T. Marinetti: Teatro. 2 Bde., hg. v. Jeffrey T. Schnapp, Mailand 2004. 45 Hierzu sei allgemein auf die Arbeiten von Giovanni Lista verwiesen, etwas auf den von ihm besorgten Band Le livre futuriste de la libération du mot au poème tactile, Modena 1984. 106

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letzt sind diese Worte, einmal abgesehen von der Verselbstständigung ihrer grafischen Gestalt und Platzierung auf der Seite, von grammatischen Tempora-Flektionen befreit. Auch hier freilich geht die Gegenüberstellung nicht rein auf, denn Konvergenzen bleiben sichtbar. Wie die Erzählung von Mafarka immer wieder, und rein literarisch gesehen nicht allemal zu ihrem Vorteil, in explizite Programmverkündung übergeht, so ist zumal das vielzitierte Erste Futuristische Manifest vom Februar 1909 keineswegs nur performative Programmatik, sondern in erster Linie deren narrative (quasi-mythologische) Herleitung durch die Erzählung von einer Wagenfahrt in den Straßengraben, von einem Unfall, der die Imagination des Autofahrers und Autors weniger anhält denn anstößt und beschleunigt.46 Mafarka der Futurist ist dennoch kein rein-futuristischer Roman, weil es einen futuristischen Roman ebenso wenig geben kann wie ein neoarchaisches futuristisches Epos. Als, so sein Untertitel, afrikanischer Roman, führt er ideologisch nicht weiter als bis zum Abessinien-Krieg der 1930er Jahre. Was an der futuristischen Dynamik unverbraucht ist, hebt sich von der Landkarte der Herrschaftsgeschichte ab. Es ist der utopische Akkord von Mensch und Technik. In jedem italienischen Vespafahrer einen Kentauren zu sehen – und vice versa – ist zwar eine mythisch-futuristisch inspirierte Sichtverschiebung, aber es bleibt ein Anfang. Oder, um es mehr im Ton der Epiker, dieser raunenden Beschwörer des Imperfekts zu sagen, es blieb einer.

46 Siehe H. Ehrlicher: Die Kunst der Zerstörung, S. 93, S. 108f. u. S. 113. 107

DIE FRAU(EN) BEIM FRÜHEN FILIPPO TOMMASO MARINETTI1 GRAZIA DOLORES FOLLIERO-METZ I . M ar i n e t ti s L it e r a t ur t h eo ri e Um die volle Tragweite der literarischen Erneuerungen des Romans Mafarka le Futuriste („roman africain“ aus dem Jahre 1909) ermessen zu können, ist es hilfreich, auf Marinettis Literaturtheorie zurückzugreifen. Bereits das erste Manifest des Futurismus (1909) hatte die industrielle Welt der Moderne als das einzige Objekt der zeitgenössischen Kunst festgelegt. Wie die futuristischen Maler mit Recht bemerkten: Wenn Michelangelo und Leonardo heute malen würden, würden sie malen, wie wir es tun. Und dies ist wahr, denn das Inspirationsobjekt einer wahrhaft lebendigen Kunst ist immer wieder die jeweilige zeitgenössische Welt gewesen.2 Aber obwohl Michelangelo und Leonardo sicherlich die Welt der Moderne gemalt hätten, wenn sie zu den Zeiten der Moderne gelebt hätten, frage ich mich doch, ob die zwei Renaissance-Maler diese Welt auch so zelebriert hätten, wie die futuristischen Künstler es getan haben. Darüber maße ich mir kein Urteil an. Der Teil aus Marinettis Poetik, der für den hiesigen Zweck am interessantesten ist, befindet sich in den drei Punkten des Technischen Manifests der futuristischen Literatur (vom 11. Mai 1912).3 Als erstes beziehe ich mich auf Nr. 11, wo Marinetti ankündigt, dass er zerstören möchte: „distruggere nella letteratura l’„Io“, cioè tutta la psicologia.“4 Zusätzlich möchte er „sostituire la psicologia dell’uomo, ormai esaurita con l’ossessione lirica della materia“, „sorprendere attraverso gli 1

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Ringrazio il Dr. Richard Brütting per l’amichevole rilettura della mia versione in tedesco del presente contributo dall’originale italiano e per i suoi utili e gentili consigli. Man braucht nur an die Malerei der Romantik und der Präraffaelliten zu denken, um zu verstehen, wie eine spätere Epoche die früheren (Mittelalter und Renaissance) gänzlich missverstanden und folglich falsch tradiert hat! Ich folge Filippo Tommaso Marinetti: Teoria e Invenzione Futurista, hg. v. Luciano de Maria, Mailand: 1968, fett im Originaltext. Ebd., S. 50; Kursivierung im Original fett gedruckt. 109

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oggetti in libertà e i motori capricciosi, la respirazione, la sensibilità e gli istinti degli metalli, delle pietre, del legno.“5 Dieses Prinzip wird meines Erachtens recht häufig in dem Roman Mafarka angewendet. Aber vor allem schließt Marinetti folgendermaßen die Nr. 11 seines oben genannten Technischen Manifests: „Dopo il regno animale ecco iniziarsi il regno meccanico.“6 Allerdings benötigt ein neues Objekt der Kunst auch angemessene Ausdrucksmittel. Und hierzu passen die folgenden Aussagen Marinettis: „Ogni sostantivo deve avere il suo doppio.“7 „Lo stile analogico è dunque padrone assoluto di tutta la materia e della sua intensa vita“. „V’è in ciò una gradazione di analogie sempre più vaste, vi sono dei rapporti sempre più profondi e solidi, quantunque lontanissimi. L’analogia non è altro che l’amore profondo che collega le cose distanti, apparentemente diverse ed ostili. Solo per mezzo di analogie vastissime uno stile orchestrale, ad un tempo policromo, polifonico e polimorfo, può abbracciare la vita e la materia.“8 „Mediante l’intuizione vinceremo l’ostilità apparentemente irriducibile che separa la nostra carne umana dal metallo dei motori.“9

Im Teil III dieses Beitrags werden wir feststellen, dass Marinettis literaturtheoretische Ansätze von ihm auch in die Praxis umgesetzt worden sind.

II . Die Frauen im Rom a n M af ark a le Fu tu r is te: E in P rol og un d v ie r S z e ne n 10 Mein Thema widmet sich der undankbaren Behandlung des weiblichen Geschlechts im besagten Roman und dies nicht nur wegen der schieren Grausamkeit Marinettis gegen Frauen, sondern weil nur dann, wenn man klar sieht, warum die Frauen notwendigerweise so behandelt werden müssen, auch den Wert des Menschlichen bei Marinetti verstehen kann.

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Ebd. Kursivierung im Original fett gedruckt. Ebd., S. 54. Ebd., Nr. 5, S. 47. Ebd., Nr. 7, S. 47 f. Ebd., Nr. 11, S. 54. Ich folge F.T. Marinetti: Mafarka le futuriste, hg. v. Gérard-Georges Lemaire, Mayenne 1984. 110

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Die physische und moralische Zerstörung des Weiblichen liegt Marinetti besonders am Herzen, denn sie belegt genau die thematische Mitte der langen Widmung des Buches an seine Künstler-Kollegen. Der explizite programmatische Abbau des Weiblichen wegen seiner Verkettung mit dem Sentimentalischen befindet sich zwischen Marinettis Ankündigung, er sei der Herold einer neuen Kunst,11 und seinem Loblied des Krieges12 als der männlichen Tätigkeit par excellence: „Quand je leur ai dit: „Méprisez la femme!“, ils m’ont tous lancé des injures ordurières, comme des tenanciers de maisons publiques après une rafle de la police! Et pourtant ce n’est pas la valeur animale de la femme que je discute, mais son importance sentimentale. Je veux combattre la gloutonnerie du coeur, l’abandon des lèvres entrouvertes qui boivent la nostalgie des crépuscules, la fièvre des chevelures qu’écrasent et surplombent de trop hautes étoiles couleur de naufrage… Je veux vaincre la tyrannie de l’amour, l’obsession de la femme unique, le grand clair de lune romantique qui baigne la façade du Bordel.“13

Dieses Programm der Zerstörung des Weiblich-Sentimentalischen ist seinerseits das Bindeglied zwischen der physischen und der moralischen Zerstörung der Frau, die alle im Roman stattfinden und die sich in vier furchterregenden Szenen entwickeln.

11 „Voici le grand roman boutefeu que je vous ai promis. Comme notre âme à nous, il est polyphonique. C’est à la fois un chant lyrique, une épopée, un roman d’aventures et un drame. Je suis le seul qui ai osé écrire ce chefd’oeuvre, et c’est de mes mains qu’il mourra un jour, quand la splendeur grandissante du monde aura égalé la sienne et l’aura rendue inutile. Quoi qu’en disent les habitants de Podagra et de Paralysie, il claque au vent de la Gloire comme un étendard d’immortalité, sur la plus haute cime de la pensée humaine. Et mon orgueil de créateur en est satisfait.“ (ebd., S. 15). 12 „Je leur ai crié: ‚Glorifions la guerre!‘ […] Ils ne comprendront jamais que la guerre est la seule hygiène du monde” (ebd.) […] Ô mes frères futuristes! […] Au nom de l’Orgueil humain que nous adorons, je vous annonce que l’heure est proche où des hommes au tempes larges et au menton d’acier enfanteront prodigieusement, d’un seul effort de leur volonté exorbitée, des géants aux gestes infallibles…“ (ebd., S. 16). 13 Marinettis Ruf „Méprisez les femmes“ erinnert an den berühmten Ruf „Écrasez l’infâme!“ (ebd.) 111

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II.1 Erste Szene: Le Viol des Négresses Wie ein ideeller Kameramann werde ich jetzt die interessantesten Roman-Szenen ausschneiden und hier präsentieren: Am Ende eines sieg-reichen Tages bei der Verteidigung seines afrikanischen Reiches reitet König Mafarka in Begleitung seines jüngeren Bruders Magamal und schaut sich die schaurige Gegend an. Der König sieht die blutigen Leichen und bemerkt: „Crois-tu que cet entassement de morts puisse assombrir mon ivresse?“14 Seine Sprache warnt uns: Wir haben es mit einem festen, hoch ambitionierten Willen zu tun, der nicht vor hohen Menschenkosten zurückscheut. Kurz darauf signalisiert uns eine andere Bemerkung Mafarkas, wie er sich eine Art von Frau wünscht, die es schier nicht gibt: „Je veux une vierge ardente, élastique et vaporeuse comme ces voiles qui, là-bas, dans les soieries de la mer, ont l’air de marcher sur les genoux, tant elles sont épuisées de chaleur, tant elles ont joui sur les coussins de l’alcôve marine!...“15 Warum Mafarka sich eine solche unwirkliche Frau wünscht, eine Frau, die der unendlichen Natur gleicht, wird uns vielleicht am Ende dieses Beitrags klar werden. Zweitens muss die Freundschaft unter den zwei Krieger-Brüdern beachtet werden: Magamal ist jugendhafter und weiblicher, während der reifere Mafarka der Anführer und Pädadoge bleibt; man versteht aber gleichzeitig, wenn auch nur verschwommen, dass eine heterosexuelle Freundschaft zwischen Mann und Frau in diesem Roman Marinettis undenkbar bleibt. Die Erzählung fährt fort, als plötzlich ein geheimnisvoller Schrei in der heißen Luft der afrikanischen Wüste ertönt und beim Leser eine große suspense erzeugt: „Tout à coup, un grand cri d’une tristesse déchirante et suave monta dans l’atmosphère étoffée de flammes. C’était une voix féminine qui semblait jaillir d’une blessure mortelle; on eût dit une fontaine de sang, inconsolable d’être ignorée et sans espoir.“ 16 „Et l’épouvante leur épuisait la gorge, quand pour la seconde fois le grand cri suave et triste déchira le silence funèbre.“17

Es handelt sich um die berühmte Episode der Massenvergewaltigung, die in Bezug auf die Präsenz von Frauen in diesem Roman als „erste Szene“ genannt werden kann. Die literarische Filmkamera des Autors nähert sich 14 15 16 17

Ebd., S. 26. Ebd., S. 28. Ebd., S. 35. Ebd., S. 36. 112

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langsam dem Ort des Geschehens und liefert dabei dem Leser bzw. Zuschauer zuerst ein akustisches Signal, dann einen Geruch und ganz am Ende ein Bild.18 Und, was zu beachten ist, das metaphorische Bild, dessen Marinetti sich bedient, um die Menge zu beschreiben, der Mafarka begegnet, ist jenes einer abartigen (menschlichen) Olivenpresse: „Enfin, se levant sur la barre des étriers il [Mafarka] vit que l’étrange cyclone humain tournoyait autour d’un étang dallé de pourritures vertes que troublaient des centaines de baigneurs en délire et d’où montait une puanteur âcre et pestilentielle de chanvre, d’urine, de graisse et de sueur. C’était un fantastique pressoir de corps jaunâtres entassés par pyramides, qui croulaient en exsudant leur jus, telles des olives monstrueuses, sous les dents embrasées de la pesante roue solaire. Elle précipitait son mouvement atroce en triturant toutes ces têtes humaines comme d’énormes graines crissantes et douloureuses; et l’étang semblait s’être formé peu à peu avec l’huile fétide de cette pâte expumante et verdâtre.“19

Die Frauen, die brutal der Gier der betrunkenen Matrosen überlassen sind, werden von ihren Peinigern als bloßes Fleisch betrachtet, als Objekte der männlichen Gier, und dementsprechend werden sie auch von Marinetti nicht als Kreaturen, sondern als Fleisch-Maschinen beschrieben, die sogar eine unwillkürliche erotische Lust erfahren, umso unwillkürlicher, da sie nur mechanisch verursacht wird: „Ceux-ci avaient couché dans la vase toutes les négresses frétillantes et meurtries, et ils pointaient des verges noires et boucanées, plus tortueuses que des racines. On voyait les ventres lisses et luisants des jeunes femmes et leurs petites mamelles couleur de café brûlé se tordre de douleur sous les poings lourds des mâles, dont les reins de bronze se levaient et s’abaissaient infatigablement parmi le flic-flac dansant des pourritures vertes. […] d’autres [mâles …] demeuraient longtemps à genoux en fixant ces lamentables yeux révulsés de douleur, d’épouvante et de luxure. Car elles sursautaient parfois d’une jouissance d’autant plus âpre qu’elle était involontaire, sous le contrecoup d’un spasme forcé.“20

Als vorübergehendes Fazit dieser ersten Szene möchte ich festhalten: Die Kraft des Mannes tötet das Weib, obwohl er es trotzdem begehrt. Und 18 Vgl. dazu das Manifesto tecnico della letteratura futurista, Nr. 11, S. 82: „Bisogna introdurre nella letteratura tre elementi che furono finora trascurati: 1. Il rumore […]; 2. Il peso […]; 3. L’odore […].“ 19 Ebd., S. 38. 20 Ebd., S. 40. 113

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vom Gesichtspunkt des Männlichen aus können wir umgekehrt schließen, dass die größte Gefahr für den männlichen Willen zur Macht in der erotischen Anziehungskraft der Frau zu finden ist. Denn das Weib schafft es, den Mann mit sanftesten Ketten an sich zu binden und seinen Willen zu paralysieren. (Deswegen tadelt Mafarka seine liebeskranken Matrosen und lobt den Bruder, der den Besuch bei der Freundin verschiebt.) Die Präzisierung und die Konsequenzen dieser (freilich politically incorrect) Gender-Auslegung Mafarkas werden vor unseren Augen in den kommenden Szenen stattfinden.21

II.2 Zweite Szene: Dans Le Ventre de la Baleine Im fünften Kapitel des Romans wird ein Festmahl Mafarkas beschrieben: Die Gäste werden in einer Unterwasser-Halle mit Sicht auf ein MeeresAquarium, das voll von exotischen und gefährlichen Fischen ist, bewirtet. Diese Szene beginnt noch einmal mit der Verherrlichung eines sonnenähnlichen Willens, der als Herrscher von Himmel und Erde auftritt: „Férocité radieuse d’une intelligence dominatrice, qui dosait sa volonté foudroyante avec la précision égale du soleil fécondateur.“22 Das notwendige Pendant eines solchen Willens wird von der Masse der Gäste beim Bankett verkörpert: Alle zusammen verkörpern sie nur eine einzige Marionette, die seelenlos und willenlos ist, indem sie gänzlich dem einzigen „mit Willen Begabten“, das heißt Mafarka, ergeben ist. Im Laufe des Festmahls und nach der grausamen Tötung von zwei Feinden Mafarkas werden zwei Tänzerinnen hereingelassen, deren Erscheinung auf der Bühne des Romans den Clou des Kapitels ausmacht. Die Tänzerinnen werden mit Naturphänomenen verglichen23: sie sind reizend und ebenso gefährlich: „La plus grande s’appelait Lilahbane. Son sourire aux froideurs marmoréennes et narquoises semblait dénombrer des morts autour d’elle.

21 Während bei D’Annunzio der krankhaft egoistische und narzisstische Mann seine moralische Rettung durch die Frau sucht, auch wenn seine Schwäche ihm jedwede mögliche Rettung vereitelt, beschreibt Marinetti den absoluten (männlichen) Willen zur Macht: Dieser hasst die Frauen, da diese mithilfe ihrer Reize den männlichen Willen entmachten, an sich fesseln und schließlich lenken könnten. 22 Ebd., S. 107. 23 Ebd., S. 120. 114

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Babilli, la plus belle et la plus fragile des deux, allongeait ses mains pour griffer l’air, comme un chat, avec des jolis mouvements badins et terribles. N’al-lait-il pas miauler de plaisir tout à coup, dans l’ivresse de mordre et de tuer? […] Tout à coup Mafarka sent entre ses bras le glissement d’un corps de femme, à la fois brûlant et glacé. N’était-ce pas le ventre squameux d’un des requins disparus au déclin de la lune? Mais la bouche inconnue qui s’endormait sur la sienne était suave et sinueuse, et ses entrailles en furent soulevées de délices et de terreur.“24

Mafarka zittert aus Angst vor der haiähnlichen Frau, die die Absicht hat, ihn zu becircen, deswegen befiehlt er, beide Frauen festzubinden und sie den Haien vorzuwerfen. Natürlich gehorchen die Sklaven ihm sofort. Dem bestürzten Leser bleibt nur übrig, zu bemerken, dass die zwei ‚Weiber‘, die imstande waren die Kraft aus den Männern herauszupumpen, ihm nicht als „Personen“ vorgestellt worden sind. Sie sind nur als LuxusStatisten aufgetreten und danach sofort erloschen. (Und wie man sieht, ist Marinetti seinem Wunsch erfolgreich nachgegangen, fern von jeglicher Sentimentalität zu schreiben, jenseits von Gut und Böse, und es sei mir erlaubt hinzuzufügen, außerhalb der political correctness.)

II.3 Dritte Szene: Ouarabelli-Charchar et Magamal Um diese dritte Szene zu verstehen, die alles bisher Erlebte übertrumpft, muss man erwähnen, dass am Tag der siegreichen Verteidigung gegen die Belagerer der Stadt, Mafarkas Bruder Magamal von einem tollwütigen Hund am Fuß zerkratzt worden war. Aber der Kratzer war nicht einmal eine Schürfwunde, sodass sowohl Mafarka als auch der Leser überrascht werden, als sie erfahren, dass Magamal etwas zugestoßen sei. Mafarka rast zu Fuß, fast ohne Lichter und Diener, von dem einen Ende der schlafenden Stadt zum anderen, und immer wieder scheinen ihm alle Dinge wie Hunde auszusehen. Noch ist das undenkbare Ende der zwei Geliebten unbekannt, als Mafarka im Hause des Bruders, dann in sein Schlafzimmer hineingeht: „La couche apparut toute souillée d’une boue écarlate et comme défoncée par une lutte diabolique.“25 Der angehimmelte Bruder, zum schaurigen Monster entartet, wartet auf den baldigen Tod, während von der bildhübschen jungen Frau nur Fleischfetzen auf dem Fußboden übrig geblieben sind. Der tollwütige Liebhaber hat sie zerstört. Jetzt nützt es Mafarka nichts, dass er sein Reich siegreich verteidigt hat und dass er das neu gewonnene Reich für den Bruder bestimmt hatte: die 24 Ebd., S. 120 f. 25 Ebd., S. 134 f. 115

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Ironie des Geschicks, das Rad der Fortuna hat sich gegen ihn gewendet. Als er glaubte, dank seines eisernen Willens beide gebändigt zu haben, zeigen sie ihm hingegen die Zerbrechlichkeit des menschlichen Wesens und die Absurdität des menschlichen Lebens. Seine einsamste und härteste Fahrt fängt somit an: Mafarka kehrt zu den Gräbern seiner Eltern zurück und nimmt dabei die Überreste des Bruders mit. Im nächsten Kapitel („Le voyage Nocturne“) wird Mafarka sich noch einmal überwinden: Am Anfang werden ihm sein Herz und sein Wille in ihrer gegenwärtigen Schwäche erscheinen: „C’était bien son passé qui s’effrangeait ainsi, misérablement. […] Oh! pauvre volonté s’acharnant sur le métal de sa destinée!“26 Aber nach dem Gespräch mit den Eltern wird Mafarka Neues verstehen. Er wird deswegen sogar sein Reich an Dritte abgeben. Die Schlüsselfrage seiner Läuterung lautet: „La destinée? faut-il la construire?... Que faire, quand les matériaux sont mauvais? Se détruire?“27 Danach, im nächsten Kapitel, „Les Hypogées“, wird Mafarka seiner verstorbenen Mutter als Trost versprechen, ein eigenes, siegreiches und unsterbliches Kind zu gebären. Der Leser erfährt nicht, wieviel Zeit zwischen beiden Kapiteln zerronnen ist, aber im Kapitel IX – „Le Discours Futuriste“ findet er Mafarka allein in der Wüste und hört ihm zu, wie er, auf halbem Weg zwischen Johannes dem Täufer und Zarathustra, den Besuchern seine neuen Wahrheiten verkündet. Der so hart vom Schicksal getroffene Mafarka ist in der Zwischenzeit aber gereift: Wenn sogar sein königliches Dasein das Problem des menschlichen Alterns und Degenerierens nicht wettmachen konnte, muss sein unbesiegbar und ewig junger Wille ihm etwas Ähnliches gebären, bevor es zu spät ist, etwas, was dem Wissen und der Weisheit der Buchhalter entgeht: „Je n’ai pas la sagesse cauteleuse des comptables…“28 Daher macht sich Mafarka an die Erschaffung eines unbesiegbaren und unsterblichen Sohnes, der nach den Sternen greifen soll. Dies alles soll ohne die Mitarbeit des weiblichen Schoßes geschehen. Und um diese neue Geburt durch Wissenschaft, anstatt durch Natur, zu ermöglichen, tötet Mafarka die menschliche Liebe und Liebeslust. Seine neue Kultur wird die Wollust des Fleisches durch die Wollust des Geistes ersetzen. Und letztere kann sich auch in die Wollust des (heroischen) Todes verwandeln. Mit diesen Aussagen ahnt Marinetti dichterisch beide 26 Ebd., S. 141 f. 27 Ebd., S. 143. 28 Ebd., S. 165. Marinetti verneint das Denk-Paradoxon einer idealistischen Kultur: d.h., dass Leben durch den Tod erlangt werden kann. Mit seinem konsequenten Materialismus und Technizismus versucht er die Unsterblichkeit mittels der Technik zu erzielen. 116

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Weltkriege sowie die Lust des Heldentums und des heroischen Todes voraus. Das Kapitel endet daher mit der größten Todesvision und Todeslust dieses Poems, das schon so viele Tote aufweist. Und die kosmische Landschaft wird zum riesigen, lebendigen Individuum.29

II.4 Letzte Szene: La Naissance de Gazourmah, le Héros sans Sommeil Die letzte Szene, die in der absoluten Niederlage des Weiblichen kulminiert, hat eine Vorgeschichte im Kapitel XI („Le Voliers Crucifiés“). Dort begegnet uns die letzte weibliche Gestalt des Romans: Colubbi, die letzte Versucherin: „Tout à coup, il sentit derrière lui un pas furtif, d’une agilité de léopard dans les feuilles […]“30 Auch sie, eine wiedergeborene Dalilah, versucht Mafarka zu becircen, aber weil sie ihm keinen ‚Gedanken‘ anbieten kann, wird er sie siegreich von sich stoßen. Interessanterweise spielt sich der Unterschied zwischen Männlichem und Weiblichem auf der Ebene des demiurgischen Denkens ab: Während der Mann den Willen zur Kreation besitzt, hat die Frau bloß den Willen zur Kastration. „Mais je suis fou de te parler ainsi!... Rien, rien… il n’y a absolument rien, derrière les vitres de tes yeux, dans la tour de ton front! Je le sais!... Et néanmoins tu peux décomposer, fil à fil, la trame serrée que je porte dans ma tête!...“31 Und die Frau wird von Mafarka als ein Wesen mit bloß vegetalischen Tränen dargestellt: „Et que m’importent tes larmes qui ne sont pas le sang de ton cœur tordu, mais simplement des larmes de végétaux en amour!“32 Die letzte Handlung Mafarkas nach seiner Abwendung von Colubbi und vor der Geburt seines Sohnes ist abergläubisch und boshaft: Er bietet den Naturelementen ein „menschliches Opfer“ an, was dem Sohne zugute kommen soll; es soll seinem Sohn einen guten Flug sichern. Daher stellt er entlang der steilen Küste Feuer auf, um die Schiffe irrezuführen. Vier Schiffe werden in seine Falle tappen und zerschellen. (Natürlich dient Marinetti diese letzte Menschenschlachtung dazu, den Rangunterschied zwischen Menschen und Maschinen zu unterstreichen.) Sobald Mafarka die Naturelemente gestillt hat, ist es höchste Zeit, dem Sohn das Leben zu schenken. Dies geschieht durch das Selbstopfer, aus Liebe zu einem Anderen, welches größer als man selbst ist. Nachdem Mafarka kleinere und unwichtige Menschen zum 29 Analog zum Verhalten Jesu im Tempel von Jerusalem peitscht Mafarka seine Arbeiter aus und deren Streit erlischt. 30 Ebd., S. 188. 31 Ebd., S. 192. 32 Ebd., S. 209. 117

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Wohlergehen des Sohnes geopfert hat, schreckt er nicht davor zurück, auch sich selbst, den Größten aller Menschen, zu opfern. Wir erleben daher „La Naissance de Gazourmah, le Héros sans sommeil“. Der Vater genießt ihn lange Zeit, lobt ihn, küsst ihn, lässt ihn uns petit à petit mit betrachten: Gazourmah hat ein schönes Gesicht („Je craignais de ne pas savoir donner à ton visage l’harmonie idéale!“33), der metallische Sohn ist die schöne Frucht seines Willens, seines heiligen Stolzes („Orgueil sacré“): „Tu es sans doute plus beau que rien qui soit au monde, du moment que c’est toi, par la seule splendeur de ton corps, c’est toi qui viens d’apaiser la furie de la mer et mettre en fuite cette tourbe de nuages sales et gluantes!...“34 Der Sohn ist gehirnlos und ohne Schlaf, denn beide würden ihn schwächen und schließlich zum Tode führen: „Oh! La joie de t’avoir enfanté ainsi, beau et pur de toutes les tares qui viennent de la vulve maléficiante et qui prédisposent à la décrépitude et à la mort!...Oui! tu es immortel, ô mon fils, ô héros sans sommeil!“35 Hier erscheint plötzlich noch einmal Colubbi, die die Geburtstunde Gazourmahs aus einem Versteck heraus erspäht und miterlebt hat. Colubbi erklärt sich als Mutter und Liebhaberin des Sohnes, dessen unendliche Kraft sie liebt. Diese Frau besitzt keine heroische Idee, sondern nur eine unendliche Wolllust, wie Mafarka ihr vorwirft, und trotzdem schafft sie es, ihm das Fest zu verderben, indem sie die psychologische Intimität und Nähe zum Sohn zerstört. Aber als Abwechslung zu Colubbi ertönt aus der Ferne die Stimme von Mafarkas Mutter, die ihn zum Selbstopfer auffordert: „Ô caressante haleine de ma mère! Tu me pousses dans les bras de mon fils! Tu m’ordonnes d’anéantir mon corps en lui donnant la vie! ... Je t’obéis! Je me hâte! ...“36 Nach einem allerletzen Gespräch und einem letzten Kuss gibt Mafarka dem Sohn den letzten Schubs, setzt ihn in Bewegung, wird dadurch tödlich verletzt und auf den Boden geschlagen. Das Opfer ist vollbracht. Die ersten Worte Gazourmahs gelten nicht dem Vater, sondern bilden ein selbstherrliches Gespräch mit Sonne, Meer und Himmelsbriesen: „[…] ô Soleil, mon esclave! Je veux étancher enfin ma soif immémoriale de force absolue et d’immortalité! […] A genoux! … Embrasse mes pieds! ...“ „Quant à toi, ô Mer, je te méprise, ô lourde Mer massive […]“37 Colubbi hat inzwischen die Wette mit Mafarka endgültig verloren, eine Wette, die nie explizit ausgesprochen, aber stets implizit wiederholt 33 34 35 36 37

Ebd., S. 212. Ebd. Ebd., S. 214. Ebd., S. 221. Ebd., S. 226. 118

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worden war: ihn in die Netze ihrer Sinnlichkeit zu fesseln, einen Sohn von ihm zu gebären, diese Wette ist jetzt vollkommen unnötig geworden (unnötig als Sexualität und unnötig als Mutterschaft). Daher fleht sie den Sohn an, sie zu töten und, erotisch hingestreckt auf dem Meeresfelsen, bietet sie sich seinem Stoß an. Der Sohn, der gerade den Vatermord hinter sich hat, vollstreckt auch den Muttermord ohne zu zögern, während die sterbende Colubbi ihn ermahnt: „Tu as broyé mon coeur sous tes côtes de bronze! ... C’est la Terre que tu as tuée en me tuant!“38 Aber als Vater- und Muttermörder zugleich, nachdem unendlich viele um seinetwegen und für ihn gestorben sind, fliegt Gazourmah in die Breite des Himmels empor: er ist so wunderschön mit seiner Metallschnauze, so elegant mit seinen Flügeln aus Plastik, dass alle jungfräulichen Wolken ihn begehren: „ – Nous te culbuterons dans nos lits orageux! ... Nous te culbuterons pour t’embrasser partout! ... – Je m’allongerai sur vous, pour mordre vos lèvres […] et je vous dépucellerai toutes ô Brises charmantes et narquoises, fougueusement, en traversant l’espace! ...“39 Marinettis „Poesia Aerospaziale“ darf jetzt entstehen…

I I I . S c hl u s s fol g e r un g e n: di e un b arm h er z ig e K o n seq u en z a us M a ri ne tti s li te r a ri sc her P r axi s Cesare Borgia soll gesagt haben, er hätte nie einen Menschen grundlos umbringen lassen: Das gleiche gilt für diesen blutrünstigen Roman.. Um den Rang und die Bedeutung der verschiedenen Todesfälle im Roman unterscheidend zu klassifizieren, würde ich von drei Kategorien sprechen: BEDEUTUNGSLOSE TOTE: Im Laufe der Erzählung biegt Mafarka alle Begebenheiten unter seinen Willen, ohne Rücksicht auf menschliche Verluste. Das heißt, dass weder der Einzelne noch die Masse den gleichen Rang des höheren Willens besitzen. (Im Kapitel II werden die geheimen Waffen des Brabane-el-Kibir beschrieben und mit „Organismen“ aus der botanischen oder gar biologischen Welt verglichen: Es gibt die Blumen-Waffe, die Heuschrecken-Waffe, die Skorpion-Waffe und die Schildkröten-Waffe. Deren Perfektion besteht in der Fähigkeit, die Körper der Feinde, zu zerfetzen. Auch Mafarka besitzt „Kriegsgiraffen“: per-

38 Ebd., S. 229. 39 Ebd., S. 228. 119

GRAZIA DOLORES FOLLIERO-METZ

fekte Zerstörungsmaschinen, die von Marinetti ebenso verherrlicht und mit Organismen gleichgesetzt werden).ϰϬ WEIBLICHE TOTE: Gelegenheitstote (die Vergewaltigungsopfer), nützliche Tote (Ouarabelli), notwendige Tote (beide Tänzerinnen). BEDEUTUNGSTRÄCHTIGE TOTE: Mafarka und Colubbi. Beide sterben, wie sie gelebt haben. Mafarka stirbt für eine große Idee, Colubbi hingegen, indem sie sich dem stärkeren Mann anbietet, eben ihrem Sohn. Wegen ihrer Vater- und Mutter-Rolle kommt hinzu, dass beide Todesfälle auch einen symbolischen Wert besitzen und den Roman vollenden. Mafarkas Lebenslauf hat ein glückliches Ende erfahren; ihm ist es gelungen, den Sohn seines Willens und seines Geistes zu gebären. Daher kann man schließen, dass Mafarka, der sein Leben für die Technik gegeben hat, wieder auferstanden ist: Dank der Technik ist er wieder auferstanden, hat jene Ewigkeit gelangt, die ihm seine Sterblichkeit untersagte. Auch Colubbi erfährt den ihr gebührenden Tod: Während Mafarka als Erfinder zum Vater wird, bleibt Colubbi aufgrund ihrer armseligen biologischen Mütterlichkeit unnötig und überholt: Sie ist die nutzlose, denn kinderlose Mutter. Colubbis Tod ist daher der endgültige Tod einer Frau, die keine höheren Funktionen mehr hat. Und am Ende des Romans wird die Erotik des weiblichen Körpers durch die Erotik der Naturkräfte ersetzt. Es geht um Naturgewalten, die sich nach Gazourmahs Aufmerksamkeit sehnen und gleichseitig seine stürmischen Triebe entzücken: „[…] jolies bergères des vagues!... […] Vous avez la tête légère, la taille élancée, presque pas de mamelles, mais vos hanches sont dodues et sensuelles et vos cuisses sont fortes […] je m’assiérai sur vos genoux qui sont plus denses que vos seins vaporeux!...“41 Die Sinnlichkeit und Erotik der Formen gehen von der Welt des Menschlichen zur Welt der Technik und der Dinglichkeit über. Erinnert dies nicht an frühere Szenen? Bereits im ersten Kapitel des Buches hatte Mafarka sich nach der Umarmung einer kosmischen Jungfrau gesehnt: „Je veux une vierge ardente, élastique et vaporeuse comme ces voiles qui, là-bas, dans les soieries de la mer, ont l’air de marcher sur les genoux, tant elles sont épuisées de chaleur, tant elles ont joui sur les cous-

40 In Anbetracht der Kriegsmassaker findet man hier das absolute Gegenteil der ethischen Gesinnung eines Leonardo: Obwohl auch der RenaissanceErfinder monströse Kriegsmaschinen entworfen hatte, wünschte er sich nichtsdestoweniger, menschliche Leben zu retten, und daher hielt er seine gefährlichsten Erfindungen geheim. Dagegen besingt Marinetti den absoluten Willen, der seinen Weg bis ans Ende geht, koste es, was es wolle. 41 Ebd., S. 227. 120

DIE FRAU(EN) BEIM FRÜHEN FILIPPO TOMMASO MARINETTI

sins de l’alcôve marine!...“42 Seinem Sohn gelingt dies, der Kreis der Generationen ist daher geschlossen! Schlussfolgerungen und Fazit: Marinetti hatte das (menschliche) Ich zwar erst 1912 mit seinem Manifesto tecnico del Futurismo aus der Literatur verbannt und es durch die Freundschaft mit allem Materiellem ersetzt, sogar mit der Technik (dazu macht er sich zum Herold eines literarischen Stils, welcher immer breitere Metaphern benutzt); mit seinem Roman Mafarka (1909) hatte er jedoch dieses Programm bereits selbst erfüllt. Denn der Kern der Romanwidmung fasst den Krieg gegen das Sentimentalische ins Auge, und zwar als die notwendige Voraussetzung für die Entstehung des neuen Kunstwerks und der neuen Kultur der Technik. In diesem Roman gipfeln die Zerstörungsszenen des ewigen Weiblichen in der Tötung der Mutterschaft und damit in der Liquidierung des geheimnisvollen und eigentlichen Wesens der Frau. Mit der Substitution der biologischen Mutterschaft durch die mentale Vaterschaft kann das Alter der Technik wirklich beginnen. Auf der Ebene der Gleichnisse und Metaphern herrscht keine Hierarchie mehr, sondern eine Gleichheit unter allen Elemente; Maschinen werden deswegen mit Organismen verglichen und Organismen mit Maschinen, Gemütszustände degegen mit Naturgegebenheiten (Wind, Himmel, Regen, Sonnenaufgang und Sonnenuntergang). Interessant ist Marinettis Wahl einer afrikanischen Inszenierung als Ort der Romans: vielleicht weil eben dieser Ort die europäische geschichtliche Tradition, die europäische Gesellschaft und deren sozio-religiöse Tradition der Parität unter den Geschlechtern nicht kennt. Auch spätere Hollywood-Filme haben eine science-fiction oder eine exotische Situierung bewusst gewählt, – denn beide Ambientes sind ahistorisch und nichteuropäisch – und wenn eine geschichtliche Situierung stattgefunden hat, ist sie meistens vom Standpunkt der Negation oder gar Deformation der europäischen Geschichte aus erfolgt. Das ‚Weib‘, das bei Mafarka als Objekt der männlichen Begierde fungiert, ist das Männer verzehrende Weib à la D’Annunzio. Aber während D’Annunzio sowohl reine und Hoffnung verheißende Frauen als auch verlorene Frauen porträtiert, ist bei Marinetti nur das zweite Modell anwesend. Marinettis Sprache orientiert sich an Nietzsches Sprache, und Mafarkas Weg ist ein einsamer Weg der Selbstüberwindung, denn nur sehr wenige können etwas Ähnliches leisten. Dennoch ist der Sinn von Mafarkas Weg ganz weit entfernt von Nietzsche. Eine so geringe Achtung für das Menschliche war noch nie in einem Roman zu finden.

42 Ebd., S. 28. 121

„S O M E I M M A C H I N A T I O N “: V O N F.T. M A R I N E T T I S „G A Z U R M A H “ Z U T H O M A S P Y N C H O N S „R O C K E T M A N “ DIETMAR FRENZ In Thomas Pynchons jüngstem Roman Against the Day1 hat mit der Amerikanerin Dally Rideout eine der wie gewohnt zahlreichen Heldinnen nicht nur eine Affäre mit der schönsten aller italienischen Städte, Venedig, sondern – natürlich – auch mit einem Eingeborenen, dem divisionistischen Maler und Anarchisten Andrea Tancredi: „He sympathized with Marinetti and those around him who were beginning to describe themselves as ,Futurists‘, but failed to share their attraction to the varieties of American brutalism.“ (AD, 584).2 Tancredi, dessen neueste Bilderserie zwar der Tabula-rasa-Phantasie der Avantgarden scheinbar nahekommt, insofern er die Serenissima bei Nacht und Nebel darstellt, hat indes im Gegensatz zu den Futuristen den Gefallen an dieser „cloaca massima del passatismo“,3 an den alten Gebäuden, die hinter dem Nebel zu erahnen sind,4 nicht verloren: „,Not like Marinetti and his circle‘, Tancredi confessed. ,I really like the old dump. […]‘“ (AD, 587).5 1

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Thomas Pynchon: Against the Day, London 2006 (im Folgenden AD). Weitere Werke Pynchons werden zitiert nach den Ausgaben: V., London 1975 (V); Gravity’s Rainbow, London 1975 (GR). Die Episode spielt vor dem Wiederaufbau des 1902 eingestürzten Campanile („The Campanile had collapsed a few years before and had not yet been rebuilt […]“, AD, 575); der neue Turm wurde am 25.4.1912 ein-geweiht. F.T. Marinetti/Umberto Boccioni/Carlo Carrà/Luigi Russolo: „Contro Venezia passatista“, in: Luciano De Maria (Hg.), Marinetti e i futuristi, Mailand 1994, S. 27 „And in fact the next time she visited Tancredi, Dally thought she could see emerging from the glowing fields of particles, like towers from the foschetta, a city, a contra-Venezia, the almost previsual reality behind what everyone else was agreeing to define as ,Venice.‘“ (AD, 587). Dennoch greift Tancredi die Pläne der Futuristen für ein neues Venedig auf: „,Look at it. Someday we’ll tear the place down, and use the rubble to fill in those canals. Take apart the churches, salvage the gold, sell off 123

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Es gibt darüber hinaus, soweit ich sehe, keine weitere explizite Erwähnung Filippo Tommaso Marinettis in Pynchons Werk, der Versatzstücke italienischer Kunst, Politik und Geschichte, von Dante, Botticelli und Machiavelli zu de Chirico, d’Annunzio und Mussolini, doch immer wieder ebenso in sein eigentümliches Erzähluniversum – „it is what the world might be with a minor adjustment or two“, schrieb er in der Ankündigung des neuen Romans – miteinbezogen hatte wie seine Künstlerfiguren die internationale Avantgardekunst in mannigfaltigen Persiflagen und Travestien wiedererstehen lassen. So nimmt es zunächst nicht wunder, dass auch die Forschung sich mit einer solchen Verbindung bislang nicht beschäftigt zu haben scheint.6

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what’s left to collectors. The new religion will be public hygiene, whose temples will be waterworks and sewage-treatment plants. The deadly sins will be cholera and decadence‘ […] ,All these islands will be linked by motorways. Electricity everywhere, anyone who still wants Venetian moonlight will have to visit a museum. Colossal gates out here, all around the Lagoon, for the wind, to keep out sirocco and bora alike.‘“ (AD, 585). Deutlich lassen sich hier die Echos des – sicherlich weniger auf die Gesundheit der Bevölkerung abstellenden – Flugblatts Contra Venezia passatista vernehmen, das Marinetti mit einigen Gleichgesinnten am 8.7.1910 in angeblich 800.000facher Ausfertigung von der Torre dell’Orologio warf („Affrettiamoci a colmare i piccoli canali puzzolenti con le macerie dei vecchi palazzi crollanti e lebbrosi. […] Venga finalmente il regno della divina Luce Elettrica, a liberare Venezia dal suo venale chiaro di luna da camera ammobigliata.“); ähnlich äußerte sich Marinetti im Anschluss an diese Aktion in einer von Tumulten begleiteten Rede im Fenice-Theater („Quando gridammo: ,Uccidiamo il chiaro di luna!‘ noi pensammo a te, vecchia Venezia fradicia di romanticismo! […] E vogliamo ormai che le lampade elettriche dalle mille punte di luce taglino e strappino brutalmente le tue tenebre misteriose, ammalianti e persuasive! Il tuo Canal Grande allargato e scavato, diventerà fatalmente un gran porto mercantile. Treni e tramvai lanciati per le grandi vie costruite sui canali finalmente colmati vi porteranno cataste di mercanzie […]“ Vgl. De Maria: Marinetti e i futuristi, S. 27f. Einmal abgesehen von allgemein gehaltenen Bemerkungen wie etwa bei Leonard Orr: „Pleasures of the Immachination: Transformations of the Inanimate in Durrell and Pynchon“, in: Julius Rowan Raper/Melody L. Enscore/Paige Matthey Bruney (Hg.), Lawrence Durell: Comprehending the Whole, Columbia/London 1995, S. 127-136, hier S. 136: „The most obvious ancestor in this metaphorical tradition would be John Donne; important twentieth-century writers of immachination would include Alfred Jarry, Raymond Roussel, the Italian Futurists, and a large number of 124

VON MARINETTIS „GAZURMAH“ ZU PYNCHONS „ROCKETMAN“

Weil, so Tancredi, der häufige, in veränderlicher Dichte auftretende Nebel die Venezianer dazu bringe, das Gehör der Sicht gegenüber zu privilegieren,7 heißt sein antifuturistischer Zyklus, „all nocturnes, saturated with fog“, La Velocità del Suono (AD, 587). Natürlich verweist dieser Titel den Aficionado des Großmeisters postmodernen Erzählens auf seinen von vielen Fans und Kritikern als Hauptwerk angesehenen Roman Gravity’s Rainbow, dessen aberwitzige Vielfalt von Figuren und Episoden sich um die im Zentrum stehende, schallbrechende Rakete V2 dreht, die als sogenannte „Vergeltungswaffe“ in den letzen Kriegsmonaten gegen London und Antwerpen eingesetzt wurde und bekanntlich den Ausgangspunkt sowjetischer wie amerikanischer Raketentechnik bildete.8 Wie Marinetti in seinem Roman Mafarka le Futuriste,9 der mit dem Flugzeug(über)menschen Gaz(o)urmah der anbrechenden Epoche der Aviatik ein Gesicht verleiht, leistet auch Pynchon in dem 1973 erschienenen Werk gehörige Arbeit am Mythos des Menschen, der sich seine technischen Erfindungen buchstäblich einverleibt, und in Reaktion auf das Raketenzeitalter, das die Geschwindigkeit der Kriege auch in unseren Tagen noch bestimmt, aktualisiert Pynchon den Traum vom Maschinenmenschen durch eingebildete, metaphorische und phantastische Verschmelzungen mit der V2. Wie Marinetti präsentiert er dabei frauenverachtende Dädalusfiguren und durch schwüle afrikanisch-koloniale Träume angefeuerte Dope-Fiends, die ihre Phantasien durch Parthogenese oder zumindest ohne die „vulva malefica“ (M, 209) verwirklichen, und während Marinetti für seinen Roman ein Immoralismusprozess gemacht wurde, scheint Pynchons Werk seinerzeit der drastischen, keineswegs aber durchgehend machistischen Obszönitäten wegen der Pulitzerpreis

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eastern European writers: Kafka, Bruno Schulz, Daniil Kharms, George Konrad, Yuri Olesha, and so on.“ „In Venice, space and time, being more dependent on hearing than sight, are actually modulated by fog.“ (AD, 587). Siehe etwa GR, S. 726: „[…] out of the other silent world, violently (a jet air-plane crashing into faster-than-sound, some years later a spaceship crashing into faster-than-light) Remember The Password In The Zone This Week Is FASTER–THANTHESPEEDOFLIGHT […]“ Der Roman erschien bekanntlich zunächst (1909 oder 1910) auf Französisch, die von Marinettis Privatsekretär Decio Cinti besorgte und von Marinetti begleitete Übersetzung 1910 in Mailand, im Folgenden zitiert nach der Ausgabe: F.T. Marinetti: Mafarka il futurista (Edizione 1910), a cura di Luigi Ballerini, Traduzione dal francese di Decio Cinti, Mailand 2003. Zu den Unterschieden der einzelnen Ausgaben vgl. die Einführung des Herausgebers: Luigi Ballerini: „Marinetti incongruo, ipercolico, inaffondabile“, S. VII-XLVIII. 125

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vorenthalten worden zu sein. Gerade die offensichtlichen Parallelen in beiden Entwürfen mögen erklären, warum Pynchon auf eine explizite Erwähnung des möglichen Vorbilds Marinetti für seine zentralen Allegorien im Debütroman V. und Gravity’s Rainbow, für den sich anlässlich der mannigfaltigen Kontinuitäten „V. 2“ bzw. „V2“ als Krypotitel nachgerade aufdrängt,10 verzichtet hat.11 Die Belebung des Unbelebten und im Gegenzug das Aufgehen des Menschen in seinen technischen Schöpfungen bildet bekanntlich seit den frühen Kurzgeschichten eine Konstante im Œuvre des großen Paranoikers und erreicht einen ersten Höhepunkt in seinem Erstling V. (1963), der hybride Gestalten präsentiert wie etwa den Agenten BongoShaftsbury, der seine Persönlichkeit über einen Schalter im Unterarm steuert, den „Catatonic Expressionist“ Fergus Mixolydian, der seinen Hautwiderstand zur automatischen Abschaltung des Fernsehgeräts nutzt, Rachel Owlglass, die eine intime Beziehung zu ihrem Sportwagen unterhält, oder die beiden Dummies SHOCK und SHROUD, mit denen Benny Profane nächtliche Gespräche führt. Der zweite Protagonist des Romans, Herbert Stencil, ist derweil der mysteriösen Frauenfigur V. auf der Spur, die in immer neuen Verwandlungen durch den Roman geistert und bekanntlich gemeinhin als Allegorie des Faschismus gilt;12 auch sie wird im Laufe der Zeit zunehmend durch anorganische Teile ersetzt. Eine erste Inkarnation, die junge Engländerin Victoria Wren, begegnet nun ausgerechnet 1898 in Alexandria,13 wo Marinetti geboren wurde und aufwuchs; fasziniert von den Machenschaften einer internationalen Agentenschar, nimmt sie an turbulenten Ereignissen, die sich vor dem

10 Zumindest, wenn man, wie Pynchon selbst, das 1964 erschienene Werk The Crying of Lot 49 eher als Erzählung denn als Roman ansieht, als den ihn der Verlag auf den Markt warf. Das paratextuelle Spiel setzt sich fort mit der Interpretation von Vineland (1990) als „V in E(lectric)-Land“. 11 Zu Pynchons Technik der Quellenverschleierung und Irreführung vgl. u.a. Charles Hollander: „Pynchon’s Inferno“, in: Cornell Alumni News (11/1978), S. 24-30. 12 Vgl. z.B. J. Kerry Grant: A Companion to V., Athens/Georgia, London 2001, S. 178: „Cowart notes that Pynchon correctly identifies V. as ,the fascist Zeitgeist… Though we do not see her actually consorting with Hitler and Mussolini, they serve what she represents, and she is of their generation: V., 1880-1943; Mussolini, 1883-1945; Hitler, 1889-1945.‘“ 13 Sollte es sich hier tatsächlich um eine Anspielung auf Marinetti handeln, und nicht nur um einen schönen Zufall, der die hier vorgestellten Spekulationen zumindest nahelegt, müsste Pynchon Mafarka zumindest schon 1961 gekannt haben, als seine Kurzgeschichte Under the rose erschien, auf der dieses Kapitel V beruht. 126

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Hintergrund der Fashodakrise abspielen, teil, bevor sie im darauffolgenden Jahr in Florenz interessiert dem zeittypischen Spektakel anarchistischer Umtriebe zusieht, die Marinetti zur selben Zeit in Paris und Mailand verfolgen konnte. 1913 tritt sie unter dem Namen Lady V. als Sponsorin eines avantgardistischen Theaterbetriebs in Paris auf, der eine mit von deutschen Ingenieuren konstruierten Automaten versehene Persiflage von Strawinskys Le sacre du printemps auf die Bühne bringt.14 Sergei Djagilew, den Leiter der Balletts Russes, die im selben Jahr die Premiere von Strawinskys Stück bestritten, hatte Marinetti 1914 auf seiner Russlandreise in Moskau getroffen.15 Insofern Mélanie l’Heuremaudit, die Hauptdarstellerin des Stücks L’Enlèvement des Vierges Chinoises und Lady V.’s Geliebte, mit der damals gefeierten Tanzpionierin Isadora Duncan verglichen wird,16 scheint V. hier nachgerade für Marinetti eingesprungen zu sein, der die Duncan 1909 in Paris kennen und schätzen gelernt hatte.17 Bereits in Florenz hatte V. die Bekanntschaft des jungen Evan Godolphin gemacht, der im Ersten Weltkrieg als Kampfpilot dienen und eine erste Travestie des futuristischen Flugzeugmenschen abgeben wird, die Marinettis wilde Phantasie in der schrecklichen Banalität des Krieges erdet und somit die von dem Italiener in seiner Überschreibung verherrlichten „gloriosi mutilati“ mit ihren Prothesenkörpern18 wieder auf den nackten Boden der Tatsachen stellt. Der spätere Schönheitschirurg mit dem für Pynchon so typischen sprechenden Namen Schoenmaker, von 14 Vgl. hierzu J.K. Grant: A Companion to V., S. 172 („Cowart identifies ,the famous impresario Serge Diaghilev‘ as the model for Itague [Pynchons Theateragent], while Dugdale claims that he is ,a combination of two figures in Sartre, the waiter and the anti-Semite.‘“) und S. 173. 15 Vgl. Gino Agnese: Marinetti. Una vita esplosiva, Mailand 1990, S. 158f. 16 „The dancer was ecstatic in her praise: another Isadora Duncan!“ (V., 413). Auch Weissmanns Geliebte Katje wird mit der Duncan in Verbindung gebracht (vgl. GR, 657). 17 Vgl. G. Agnese: Marinetti. Una vita esplosiva, S. 91: „Sta di fatto che, galeotto Lugné-Poë, divampa tra Isadora e il poeta un’amicizia che perdura, e sempre su scenari parigini si sviluppa in momenti di passione, in slanci sentimentali e in discussioni sulla danza e le arti. Una volta, superando la giovanile promessa di rinunciare al vincolo matrimoniale, Isadora chiede a Marinetti di sposarla, e intanto gli propone di trascorrere con lei la notte di San Silvestro[.]“; siehe auch Anm. 25, S. 327, zu Zweifeln über das Jahr, in dem dieses Stelldichein stattgefunden haben soll. 18 Vgl. hierzu Walburga Hülk: „Prophetie und Pro(s)thesis: Marinettis phantastische Körpermorphologie und die Replasmation des Wortes“, in: dies. (Hg.), Spektrum. Siegener Perspektiven einer romanischen Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaft, Siegen 2003, S. 119-130. 127

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dem Stencil die Episode erzählt bekommen wird, hat sich in Frankreich unter die Reihen der Flieger, deren Tun (und im Speziellen der junge Evan selbst) in ihm durchaus eine „pure and abstract passion“ (V, 97) auslöst, gemischt: „He’d received his impetus – like the racket itself – from the World War. At seventeen, coeval with the century, he raised a mustache (which he never shaved off), falsified his age and name and wallowed off in a fetid troopship to fly, so he thought, high over the ruined châteaux and scarred fields of France, got up like an earless raccoon to scrimmage with the Hun; a brave Icarus.“ (V, 97)

Bei einer Notlandung verletzt sich der bewunderte „birdm(a)n“ (V, 97)19 Godolphin eines Tages schwer; die komplizierte Rekonstruktion des verstümmelten Gesichts („the worst possible travesty of a human face lolling atop an animate corpse.“, V, 98f.) gelingt zunächst ganz passabel: „The doctor was young, he had ideas of his own, which the AEF was no place for. His name was Halidom and he favored allografts: the introduction of inert substance into the living face. It was suspected at the time that the only safe transplants to use were cartilage or skin from the patient’s own body. Schoenmaker, knowing nothing about medicine, offered his cartilage but the gift was rejected; allografting was plausible and Halidom saw no reason for two men being hospitalized when only one had to be. Thus Godolphin received a nose bridge from ivory, a cheekbone of silver and a paraffin and celluloid chin. A month later Schoenmaker went to visit him in the hospital – the last time he ever saw Godolphin. The reconstruction had been perfect. He was being sent back to London, in some obscure staff position, and spoke with a grim flippancy.“ (V, 99f.)

Die Hybridisierung des Fliegers und Ikaruserben ist jedoch noch denkbar weit entfernt von jenem „Corpo motore dalle diverse parti intercambiabili e rimpiazzabili“20 und der Unsterblichkeit, die Marinetti mitten im Krieg beschworen hatte: „It won’t be good for more than six months.“ (V, 100)21 Die schöne Illusion ist mithin im ersten Nachkriegsjahr dahin, 19 „[…] as the pilot was called in those days“ (Laurence Goldstein: The Flying Machine and Modern Literature, Basingstoke/London 1986, S. 100). 20 F.T. Marinetti: „Donne, dovete preferire i gloriosi mutilati“, in L’Italia futurista (15.6.1916), hier zit. nach W. Hülk: „Prophetie und Pro(s)thesis“, S. 122. 21 Schoenmaker verliert im Laufe der Zeit seine idealistische Motivation, bleibt aber durchaus mit Zivilisationsschäden vertraut: „Schoenmaker’s dedication was toward repairing the havoc wrought by agencies outside his 128

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als Godolphin in seiner Rolle als Chauffeur und Diener ein groteskes Paar mit Veronica Manganese bildet, einer weiteren Verkörperung der proteischen V., die nun auf Malta mit den Mizzisten für eine Anbindung der Insel an Italien eintritt und enge Kontakte zu Mussolini pflegt: „But the face above the lantern did give him [i.e. Stencil] a mild shock. It is too grotesque, too deliberately, preciously Gothic to be real, he protested to himself. The upper part of the nose seemed to have slid down, giving an exaggerated saddle-and-hump; the chin cut off at midpoint to slope concave back up the other side, pulling part of the lip up in a scarred half-smile. Just under the eye socket on the same side winked a roughly circular expanse of silver. […] Stencil saw a change begin to grow in the eyes, all that had been human in the face to begin with.“ (V, 475)

Im Jahr 1922 taucht V., als Vera Meroving, an der Seite des nachmaligen Raketenfetischisten Weissmann – viel mehr kann ein sprechender Name, zumal er ohne Vornamen bleibt, kaum sagen – in der ehemaligen deutschen Kolonie Südwest-Afrika, nunmehr ein südafrikanisches Protektorat, wieder auf. Marinetti hatte seine kriegs- und technikverherrlichende Phantasie in ein ebenso phantastisches Afrika verlegt, in dem die arabischen Kolonisatoren die erhofften zukünftigen italienischen Herrenmenschen wohl nur vertreten, um die ohnehin schon unerhörte Provokation nicht ins Unermessliche zu steigern; eine Pressemitteilung der Redaktion von Marinettis Zeitschrift Poesia, die dem Autor im bevorstehenden Prozess um Mafarka eine geneigte Öffentlichkeit bereiten wollte, verrät eine solche Lesart, insofern sie in Mafarka eine „figura d’Uomo ideale“ sieht, „esaltando l’Eroismo e la Volontà come elementi di un trionfale Avvenire della nostra razza“.22 Mafarkas Beiname „el-Bar“ schließlich scheint nahezulegen, dass sich Marinetti in seinem Titelhelden selbst ein kaum verhülltes Denkmal gesetzt hat.23 In Gravity’s Rainbow begegnet der Überlegenheitsanspruch des Abendlandes, hier vertreten nicht durch jene von Marinetti beschworenen „razze latine“ (Manifesto tecnico della letteratura futurista), sondern durch die germanischen Raketenbauer, unver-

own sphere of responsibility. Others – politicians and machines – carried on wars; others – perhaps human machines – condemned his patients to the ravages of acquired syphilis; others – on the highways, in the factories – undid the work of nature with automobiles, milling machines, other instruments of civilian disfigurement.“ (V, 101). 22 Vgl. L. Ballerini: „Marinetti incongruo, ipercolico, inaffondabile“, S. XXIX (Hervorhebung von L. Ballerini). 23 Vgl. ebd., S. XVI; und natürlich lassen sich etwa mit dem frühen Tod des Bruders biografische Parallelen erkennen. 129

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schleiert; er ist aber, ebenso wie sein Gegengewicht in einer schwarzen Raketentruppe, dem „Schwarzkommando“, tief im kolonialen Afrika verwurzelt: dem Traum von der Beherrschung der Welt und des Alls mittels der Rakete präludiert die afrikanische Episode in V., die in Gravity’s Rainbow zudem mehrmals aufgegriffen und verlängert wird. Vera Meroving und ihr Begleiter, hier noch Leutnant der Reichswehr, feiern einen wüsten „Fasching“ mit internationaler Besetzung auf einer belagerten, festungsartig ausgebauten Farm, der unter anderem Poes Mask of the Red Death zitiert.24 Das Kapitel folgt der Perspektive des Münchner Ingenieursstudenten Kurt Mondaugen, der sich von seinen Experimenten im freien Feld auf das Gehöft gerettet hat. Weissmann, der von einer Rückeroberung der Kolonie und Höherem träumt, wirbt um den jungen Mann, der dann im sogenannten Dritten Reich auch tatsächlich in Peenemünde wieder in Weissmanns Konstrukteursteam auftauchen wird, und spielt dabei auf aktuelle Entwicklungen europäischer Politik an:25 „You’re from Munich,“ Weissmann established. „Ever been around the Schwabing quarter?“ On occasion. „The Brennessel cabaret?“ Never. „Ever heard of D’Annunzio?“ Then: Mussolini? Fiume? Italia irredenta? Fascisti? National Socialist German Workers’ Party? Adolf Hitler? Kautsky’s Independents? „So many capital letters,“ Mondaugen protested. „From Munich, and never heard of Hitler,“ said Weissmann, as if „Hitler“ were the name of an avant-garde play.“ (V, 242)

Weiter unten in „Mondaugen’s story“ erzählt Vera dem Entdecker Hugh Godolphin (Evans Vater), dass sie im Dezember 1920 mit Gabriele 24 „The retreat into merrymaking behind closed doors clearly echoes Poe’s ,Mask of the Red Death‘, while the reference to the state of siege is a forewarning of the likely reappearance of V., whose natural habitat it is.“ (J.K. Grant: A Companion to V., S. 119). Siehe auch Hanjo Berressem: „Godolphin – Goodolphin – Goodol’phin – Good ol’ Pym: A Question of Integration“, in Pynchon Notes 10 (1982), S. 3-17. 25 Mondaugen „had worked, yes, at Peenemunde [sic], developing Vergeltungswaffe Eins und Zwei. The magic initial!“ (V, 226f.). Stencil hört seinen Bericht 1956 auf Long Island. Der Student untersuchte in der namibischen Wüste im Rahmen eines den Globus umspannenden Programms (Mason & Dixon lassen grüßen…) atmosphärische Störungen von Radiosignalen, was Pynchon einmal mehr den Vorwand zu einer metaphorischen Hybridisierung liefert: „,You worry about your antennas as if they sprouted from your forehead [...]‘“ bekommt Mondaugen zu hören, als er zögerlich auf den Rat eines Regierungsvertreters reagiert, sich vor den Aufständischen zu retten (V, 233). 130

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d’Annunzio, über dessen Geliebte Eleonora Duse hier gesprochen wird, im besetzten Fiume war,26 das, allerdings schon kurz nach d’Annunzios Handstreich im September 1919, auch Marinetti aufgesucht hatte. Man vermisst in dieser Aufzählung, die die zeittypische Vermengung von Kunst und Politik aufgreift, Marinetti, der doch die Verbindung von Avantgardekunst und Faschismus so prominent verkörperte wie kein anderer, umso mehr, als in der folgenden Schilderung der Ereignisse in Deutsch-Südwest-Afrika von 1904 Motive des Mafarka anklingen, die über das exotische Setting hinausgehen. Gastgeber der Dauerorgie ist ein gewisser Foppl, der als Soldat unter General von Trotha an der Niederschlagung der Aufstände der Herero und Nama beteiligt war.27 Teile seiner Geschichte, die er Mondaugen erzählt, lässt dieser später in einem halluzinierenden Erleben wiedererstehen,28 und es ist ein Alptraum von sexueller Perversion und umfassender Grausamkeit, für den Pynchon auf zeitgenössische Dokumente und

26 „I was given the Duse too, by the man in fact who gave her to Europe, over twenty years ago, in Il Fuoco. We were in Fiume. Another siege. The Christmas before last, he called it the Christmas of blood. He gave her to me as memories, in his palace, while the Andrea Doria dropped shells on us.“ (V, 247). Vgl. hierzu z.B. J.K. Grant: A Companion to V., S. 124: „The fact that Mussolini drew inspiration from D’Annunzio’s attempt to bring Fiume back under Italian rule suggests another of the novel’s associations of V. with the nascent fascism of the period. The lady V. is rumored to have run off with a ,mad Irredentist‘ after the death of Mélanie L[sic]’Heuremaudit. Dugdale notes the irony of the fact that V. dies on Malta, ,victim of a mad extension of Irredentism in which the Island was bombed to rubble in an impossible attempt to regain it for Italy.‘“ S. auch GR, S. 478. 27 In einer vielzitierten Stelle des Romans parallelisiert Pynchon diesen Vernichtungsfeldzug mit dem Genozid an den Juden und bekräftigt hier einmal mehr seine Auffassung Afrikas als eines kolonialen Übungsfeldes faschistischer Praktiken: „Allowing for natural causes during those unnatural years, von Trotha, who stayed for only one of them, is reckoned to have done away with about 60,000 people. This is only one percent of six million, but still pretty good.“ (V, 245). 28 Freilich ist diese erträumte Geschichte auch noch durch Stencils phantasiereichen Umgang mit seinen Quellen gefiltert: „[…] the yarn had undergone considerable change: had become, as Eigenvalue put it, Stencilized.“ (V, 227). Es bleibt zudem im Unklaren, ob es sich tatsächlich um Foppls Erinnerungen handelt: in Teilen der Literatur wird deswegen schlicht von „Firelily’s rider“ (s.u.) gesprochen. 131

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Berichte zurückgriff.29 Marinettis viertausend Negerinnen aus dem er’sten, skandalträchtigen Kapitel des Mafarka („Lo stupro delle negre“) ist in Form einer Hererofrau, die Foppl als persönliche Kriegsbeute dienen soll, hauptsächlich ein Einzelschicksal entgegenstellt, das einmal mehr Marinettis Groteske mit einer kaum stilisierten, fast realistischen Darstellung begegnet.30 Kurz zuvor erinnert Pynchons Beschreibung der Ermordung eines von der ganzen Truppe vergewaltigten Mädchens an die ihrem Missbrauch zustimmenden „Negerinnen“ im Mafarka:31 „Later, toward dusk, there was one Herero girl, sixteen or seventeen years old, for the platoon: Firelily’s rider was last. After he’d had her he must have hesitated a moment between sidearm and bayonet. She actually smiled then; pointed to both, and began to shift her hips lazily in the dust. He used both. (V, 264)“

Foppls Pferd, Firelily32, erscheint aus dieser Perspektive als weibliches Gegenstück zu jenem Hengst aus Mafarkas Erzählung im Lager Brafanes, dessen Mähne und Schweif nicht nur von feuerroter Farbe sind, sondern durch die Reibungskraft des Windes im Galopp tatsächlich Feuer fangen; auch das Moment sexueller Erregung fehlt bei Marinetti nicht,33 der die Potenz des pfeilschnellen Pferdes dann in eigentümlicher 29 Vgl. J.K. Grant: A Companion to V., S. 133 und Steven Weisenburger: A Gravity’s Rainbow Companion. Sources and Contexts for Pynchon’s Novel, Athens/London 1988, S. 161-167, sowie Pynchons Brief an Thomas F. Hirsch (8.1.1969), abgedruckt in David Seed: The Fictional Labyrinths of Thomas Pynchon, London 1982, S. 240-243. 30 Vgl. dazu auch Andreas Selmeci/Dag Henrichsen: Das Schwarzkommando. Thomas Pynchon und die Geschichte der Herero, Bielefeld 1995. 31 „Biba abbassava ad ogni colpo le palpebre sui lunghi occhi neri, che sembravano galleggiare in un liquore dorato, e ogni volta emetteva grida di gioia dolorosa, tanto acute e strazianti da dominare il frastuono che empiva la cavità sonora. La sua voce rauca e violetta implorava lugubremente la carezza. – Mahmud, ya Mahmud!... uccidimi!... Oh! tu mi riempi d’un piacere caldo!... Tu colmi di zucchero e hallahua la bocca della mia gattina!... Ed essa è felice d’essere rimpinzata, così, di dolciumi!... Le sue labbra succhiano ora un grosso pezzo di zucchero ardente, che si fonderà fra poco, ad un tratto!...“ (M, 29). 32 „He was given a lovely mare named Firelily: how he adored that animal! You couldn’t keep her from prancing and posturing; she was a typical woman. How her deep sorrel flanks and hindquarters would flash in the sun!“ (V, 258); „Firelily, under him, seemed sexually aroused, she curveted and frolicked so about the line of march […]“ (V, 262). 33 „Era un superbo stallone, tutto nero, ma con la criniera e la coda rosse come due torce accese.“ (M, 50); „Ma presto s’avvide, con spavento, che la 132

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Weise auf seinen Protagonisten überträgt. Nachdem Mafarka sich den Penis des Hengstes beim Mahle einverleibt hat, wächst seiner auf ganze elf Meter Länge an:34 „Dopo di aver soddisfatto una ventina di domestiche e quasi altrettante belle schiave, Mafarka-el Bar, sentendosi spossato, volle dormire al fresco del mare e fece disporre un morbido giaciglio sulla terrazza che dava sul molo del porto... [...] Mafarka vi si stese voluttuosamente; ma il suo sesso interminabile, lungo undici metri, era troppo ingombrante!... Quindi, egli pensò di arrotolarlo con cura, come una gomena, accanto al letto; poi si addormentò profondamente. Ora accade che la mattina seguente un marinaio i cui occhi erano ancora offuscati dal sonno s’ingannò, prendendo quel membro per una fune, e lo legò solidamente alla tela di un trinchetto; indi lanciò il tutto oltre il parapetto, ai marinai che erano sulla prua del veliero, e questi cominciarono a tirare in cadenza, gridando: ,Issa – oh!... Issah – oh!‘ per ammainare. Subito, lo zeb smisurato cominciò a irridigirsi, sollevando altissimo e spiegando il trinchetto, che si empiva di vento, sbattendo... E Mafarka, che dormiva ancora, fu così portato via, e navigò sui flutti del mare col suo membro rigido come un albero vibrante, sotto la vela gonfia di brezza favorevole. Si assicura che egli approdò prestissimo a Tell-el-Kibir, dove il re Bubassa, stuzzicato da sì meravigliose avventure, volle esperimentare personalmente le virtù di uno zeb tanto miracoloso. Mafarka-elBar, a quanto pare, si affrettò a soddisfare il re, e approfitando della postura sottomessa che questi aveva presa, lo imbavigliò, lo incatenò e gli rapì lo scettro!...“ (M, 54f.)

Während bei Marinetti also Mafarkas erigiertes Glied als Mast sein Schiff „prestissimo“ macht, geht der Penis des Haupthelden in Gravity’s Rainbow eine mysteriöse Verbindung mit den V2-Raketen ein: Der über weite Strecken des Romans im Mittelpunkt stehende US-Army-Leutnant Tyrone Slothrop, als Kind von einem sinistren Arzt der IG-Farben auf

criniera e la coda dell’animale s’accendevano al vento […]“ (M, 51). „ – Lo zeb… – riprese sorridendo il narratore, – lo zeb di quel cavallo era color di porpora!... Ma aveva la punta tempestata di zaffiri, come quello che le fanciulle di Tell-el-Kibir sognano alla vigilia del matrimonio.“ (M, 50); „Tutto inebriato dall’odore della vulva umida, esso agitava la sua sferzante criniera contro i fianchi della femmina, che trasaliva al bruciore sferrando terribili calci…“ (M, 51). 34 Zur Rolle, die dieses Maß im Prozess spielte, vgl. W. Hülk: „Prophetie und Pro(s)thesis“, S. 124. Vgl. auch F.T. Marinetti: Mafarka der Futurist. Afrikanischer Roman, aus dem Französischen von Michael von Killisch-Horn und Janina Knab, mit einem Dossier zur Prozeßgeschichte, einem Glossar von Leonardo Clerici und einem Nachwort hg. von Michael Farin/Hansgeorg Schmidt-Bergmann, München 2002. 133

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nie ganz geklärte Weise mit dem mysteriösen, „erektilen“ Kunststoff Imipolex G konditioniert, wird bekanntlich zum begehrten Objekt der Geheimdienste, als man entdeckt, dass die Karten der V2-Treffer und Slothrops amouröser Eroberungen in London miteinander korrespondieren, wobei seine Erektionen den Einschlägen kurioserweise im Schnitt um viereinhalb Tage vorausgehen. In V. verfolgen die Partygäste schließlich den Kampf gegen die Belagerer, die in der – historischen – Bombardierung der aufständischen Bondelswarts aus Flugzeugen gipfelt:35 „Now the planes could be heard: a snarling, intermittent sound. They swooped clumsy in a dive toward the Bondelswaartz position: the sun caught suddenly the three canisters dropped from each, turned them to six drops of orange fire. They seemed to take a century to fall. But soon, two bracketing the rocks, two among the Bondels and two in the area where the corpses lay, there bloomed at last six explosions, sending earth, stone and flesh cascading toward the nearly black sky with its scarlet overlay of cloud. Seconds later the loud, coughing blasts, overlapping, reached the roof. How the watchers cheered.“ (V, 276)

Wie Mafarka seinen ersten Triumph von den Zinnen seiner Festung („[…] sotto i merli della fortezza, dall’alto della quale Mafarka-el-Bar, re di Tell-el-Kibir, sorvegliava la enumerazione dei prigionieri negri […]“, M, 7) herab genießt, verfolgen Foppl und seine Gäste das Spektakel vom Dach der Farm aus (etwas später heißt es: „They gazed across the ravine dehumanized and aloof, as if they were the last gods on earth.“, V, 279). Zwar kann Mafarka hier nur seine mechanischen Kriegsgiraffen bewundern, da mit Gazurmah das erste Flugzeug noch auf sich warten lässt; doch war Marinetti bekanntlich im Oktober 1911 als Berichterstatter in 35 Natürlich kann auch dieses Detail auf Poe’s Hypotext bezogen werden: „The story of Pym serves Pynchon, then, as being about one of these last acts of virtù. But now, at Foppl’s siege, Poe’s ,Red Death‘ has taken over: the total annihilation of the masses and modern warfare, to be watched from Foppl’s terrace by the decadent assemblage, far away and unrelated: ,they could see everything spread out in panorama, as if for their amusement […] Doubtless there were human voices down there, uttering cries of command, triumph, pain; but at this distance only the tiny pop-pop of gunshots could be heard.‘ (V, [275]) But as with Prospero’s partygoers, sly Death finds a way. For Pynchon, it is not the plague that comes, but another, equally horrible and indiscriminate sickness: decadence itself (see also ,V. in Love‘), which levels all human feelings, helping to bring on the entropic end-predicament of mankind.“ (H. Beressem: „Godolphin – Goodolphin – Goodol’phin – Good ol’ Pym“, S. 13f.; die Seitenzahl von V. ist an die hier verwendete Ausgabe angeglichen). 134

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Libyen, um vom türkisch-italienischen Krieg zu berichten, wo am 1. November mit dem Abwurf von vier Granaten auf die feindlichen Truppen durch Leutnant Gavotti der erste Bombenabwurf der Kriegsgeschichte erfolgte. In Gravity’s Rainbow kommt Pynchon auf die afrikanischen Tage Weissmanns, der, mit dem Codenamen Blicero, inzwischen zum Hauptsturmführer, dann Sturmbannführer der SS aufgestiegen36 und in leitender Funktion in das geheime Raketenprogramm einbezogen ist, zurück. Denn hier, in den Kolonialreichen, in denen den europäischen „Schutzmächten“ und Eroberern beinahe alles erlaubt ist, und der „weiße Mann“ sich nicht nur hemmungslos austoben darf,37 sondern sich unter den ex-

36 Pynchon schreibt durchgehend „Captain“ bzw. „Major“ (siehe auch S. Weisenburger: A Gravity’s Rainbow Companion, S. 195), was Elfriede Jelinek/Thomas Piltz (Thomas Pynchon: Die Enden der Parabel. Gravity’s Rainbow, deutsch von E. Jelinek und T. Piltz, Reinbek bei Hamburg 1981) mit „Hauptmann“ bzw. „Major“ übersetzen; an anderer Stelle verwendet Pynchon durchaus die entsprechende Rangbezeichnung der SS (s. GR, 432 „The Obersturmbannführer was not at his post when Pökler went into Dora.“), und spielt auch gerne mit den deutschen Bandwurmwörtern: so wird aus „Oberst“ („Standartenführer“?) Enzian auch schon mal eine „Oberhauptberlinerschnauze“ (GR, 660). Zu historischen Vorbildern, die bei der Erschaffung der Figur Weissmanns Modell gestanden haben durften, vgl. u.a. Friedrich Kittler: „Media and Drugs in Pynchon’s Second World War“, in: Joseph Tabbi/Michael Wutz (Hg.), Reading Matters. Narrative in the New Media Ecology, Ithaca/London 1997, S. 157-172 (zuerst als „Medien und Drogen in Pynchons Zweitem Weltkrieg“, in: Dietmar Kamper/Willem van Reijen (Hg.), Die unvollendente Vernunft: Moderne versus Postmoderne, Frankfurt/Main 1987). 37 „[…] wait, wait a minute there, yes, it’s Karl Marx, that sly old racist skipping away with his teeth together and his eyebrows up trying to make believe it’s nothing but Cheap Labor and Overseas Markets…. Oh, no. Colonies are much, much, more. Colonies are the outhouses of the European soul, where a fellow can let his pants down and relax, enjoy the smell of his own shit. Where he can fall on his slender prey roaring as loud as he feels like, and guzzle her blood with open joy. Eh? Where he can just wallow and rut and let himself go on in a softness, a receptive darkness of limbs, of hair as woolly as the hair of his own forbidden genitals. Where the poppy, and cannabis and coca grow full and green, and not to the colors and style of death, as do ergot and agaric, the blight and fungus native to Europe. Christian Europe was always death, Karl, death and repression. Out and down in the colonies, life can be indulged, life and sensuality in all its forms, with no harm done to the Metropolis, nothing to soil those cathedrals, white marble statues, noble thoughts…. No word ever gets back. The 135

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tremen klimatischen Bedingungen auch stärker der Hinfälligkeit des menschlichen Lebens – der zwangsläufige Wärmetod durch stetige Entropiezunahme ist bekanntlich eine von Pynchons Lieblingsmetaphern – bewusst wird, liegen die Wurzeln seines Transzendenzbegehrens; Weissmann, der sein koloniales Abenteuer mit der Lektüre einer druckfrischen Ausgabe der Duineser Elegien an Bord des Frachters begonnen hatte,38 entdeckt in Südwest sein Rilke’sches „Leidland“ und die „Berge des Ur-Leids“ („It’s he, Blicero, who climbs the mountain, has been so climbing for nearly 20 years, since long before he embraced the Reich’s flame, since Südwest… alone“, GR, 98). Motiv und Methode seiner „Wandlung“ – der Abschuss einer V2 mit seinem Gespiele Gottfried an Bord, der die Sterne zu erreichen scheint – entfernen sich nicht allzu weit von Marinettis berüchtigter Bezeichung des Krieges als „einziger Hygiene der Welt“: „I want to break out – to leave this cycle of infection and death. I want to be taken in love: so taken that you and I, and death and life, will be gathered, inseparable, into the radiance of what we would become…“ (GR, 724); mit dem Mischling Enzian, den er nach einem Vers der neunten Elegie taufte, brachte er sich zudem einen farbigen Lustknaben zurück in die Weimarer Republik, „his own African conquest“ (GR, 99), der, nun Anführer des Schwarzkommandos, für den Abschuss einer zweiten bemannten Rakete, deren Passagier Enzian selbst sein wird, verantwortlich zeichnet. Das gedoppelte Motiv der bemannten V2-Rakete bildet indes den Kern von Pynchons aufwendig betriebener Remythisierung der Raketentechnik in seinem opus magnum. Ist die Rakete, „baby Jesus“39 und Phallussymbol, an sich bereits mit einer nachgerade enzyklopädischen Polysemie aufgeladen, erfährt die bemannte V2, die endlich Transzendenz verheißt, ein noch breiteres Spektrum an Assoziationen, Parallelen, und

silences down here are vast enough to absorb all behavior, no matter how dirty, how animal it gets….“ (GR, 317). 38 „Carrying in his kit a copy of the Duino Elegies, just off the presses when he embarked for Südwest, a gift from Mother at the boat, the odor of new ink dizzying his nights as the old freighter plunged tropic after tropic.“ (GR, 99). A. Selmeci/D. Henrichsen: Das Schwarzkommando, S. 23, Anm. 37, verweisen zu Recht darauf, dass die Duineser Elegien erst 1923 in Druck gelegt wurden. 39 „,I think of the A4,‘, sez he [i.e., Miklos Thanatz], ,as a baby Jesus, with endless committees of Herods out to destroy it in infancy – Prussians, some of whom in their innermost hearts still felt artillery to be a dangerous innovation […]‘“ (GR, 464). 136

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Analogien.40 Ein konkretes Vorbild mag die bemannte Rakete zwar im Abschuss einiger Affen an Bord umgerüsteter V2 durch eine Vorgängerbehörde der NASA von 1948/49 haben oder auch in einer Comicerzählung, in der der topisch zynische Nazi Major Uberhart seinen Geiseln, darunter Captain America und Sidekick Bucky Barnes, einen Todesflug nach London eben in der V2 zugedacht hat;41 die Hybridisierungstendenz verweist aber eher auf die konsequente Fortentwicklung des mythischliterarischen Topos der Verschmelzung des Menschen mit seinen Waffen und Fortbewegungsmitteln, die vom antiken Kentauren etwa über Jarrys Radfahrer (Le Surmâle, 1902) bis eben zu Marinettis Flugzeugmenschen führt. Weissmann lässt eine der V2 durch eine mysteriöse „Vorrichtung zur Isolierung“, das sogenannte „Schwarzgerät“ aus Imipolex G (GR, 432, deutsch im Original), dergestalt modifizieren, dass der junge Gottfried darin Platz findet. In den letzten Tagen des Krieges, am Ostersonntag 40 Vgl. etwa GR, 727: „But the Rocket has to be many things, it must answer to a number of different shapes in the dreams of those who touch it – in combat, in tunnel, on paper – it must survive heresies shining, unconfoundable… and heretics there will be: Gnostics who have been taken in a rush of wind and fire to chambers of the Rocket-throne… Kabbalists who study the Rocket as Torah, letter by letter – rivets, burner cup and brass rose, its text is theirs to permutate and combine into new revelations, always unfolding… Manichaeans who see two Rockets, good and evil, who speak together in the sacred idolalia of the Primal Twins (some say their names are Enzian and Blicero) of a good Rocket to take us to the stars, an evil Rocket for the World’s suicide, the two perpetually in struggle.“ 41 „If This Be Treason“ in Marvel Tales of Suspense #70 und #71 (Okt. bzw. Nov. 1965); vgl. Mathew Winston: „A Comic Source of Gravity’s Rainbow“, in: Pynchon Notes 15 (1984), S. 73-76; Winston stellt diese Geschichte lediglich als mögliche Quelle vor („suggestive parallels“); gewagter erscheint indes seine Deutung, die fragmentarische, ausfransende und schnell montierte Ästhetik des Romans insgesamt auf das Stottern von Porky Pig, eine der ausgewiesenen Lieblingsfiguren Pynchons, zurückzuführen („Porky may be part of the inspiration for all the swine in Gravity’s Rainbow, from those driven to market in the Seventeenth century by William Slothrop, to ,Plechazunga, the Pig-Hero‘, whose costume is worn by Slothrop, and later, with less fortunate results, by Major Marvy. Porky may be ultimately responsible for the stutter wich marks the narrative“, S. 74). „If This Be Treason“ ist seither in unterschiedlichen Sammelbänden mehrfach nachgedruckt worden. Winston hat auch auf eine Ausstellung 1954 auf Long Island aufmerksam gemacht, die Pynchons Interesse an der Raketentechnologie geweckt haben könnte: in diesem Zusammenhang erscheint erwähnenswert, dass Stencil Mondaugen gerade dort trifft. 137

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1945, der in jenem Jahr auf den 1. April fiel, feuert Weissmann die Rakete, „this most immachinate of techniques“ (GR, 728), mit der ominösen Bezeichung 00000 ab. Gottfried überlebt den Flug nicht lange und stirbt, als „[t]he first star hangs between his feet“ (GR, 760); durch die unbedingte Liebe seines Schützlings gleichsam am Flug der Rakete teilnehmend, fällt Weissmann hingegen am Extrempunkt der von der Rakete beschriebenen Parabel aus der Zeit:42 „But in the dynamic space of the living Rocket, the double integral has a different meaning. To integrate here is to operate on a rate of change so that time falls away: change is stilled…. „Meters per second“ will integrate to „meters“. The moving vehicle is frozen, in space, to become architecture, and timeless. It was never launched. It will never fall.“ (GR, 301)

In Marinettis beschleunigter Travestie der Heilsgeschichte, die von der Inkarnation direkt in Himmelfahrt und Apokalypse übergeht, haucht Mafarka mit der Geburt seines Sohnes Gazurmah sein Leben aus bzw. belebt ganz traditionell mit seinem Odem küssend den Sohn, der sich zum Herrscher des Universums aufschwingt; in Pynchons Roman ist es hingegen der Schöpfer des Hybriden, der durch die Verschmelzung von Mensch und Maschine transzendiert wird, ist es die „Hexe“, die „Hänsel“ in den „Ofen“ stößt, sind es „They“, die „us“ mithilfe der Technik beherrschen.43 Bleibt das Wesen von Weissmanns Verwandlung, seiner persönlichen Conquête des Étoiles, im Folgenden auch eher im Unklaren,44 so ist hier jedenfalls festzuhalten, dass es gerade die vom Vorden42 Pynchon unterscheidet hier kurioserweise nicht zwischen dem „Brennschluß“, nach dem die Rakete zunächst weiter steigt, und dem Extrempunkt der Parabel (vgl. Bruno Arich-Gerz: „The Comet and the Rocket: Intertextual Constellations about Technological Progress in Bruno Schulz’s ,Kometa‘ and Thomas Pynchon’s Gravity’s Rainbow“, in Comparative Literature Studies 41/2 (2004), S. 231-256, hier S. 237. 43 „It means this War was never political at all, the politics was all theatre, all just to keep people distracted... secretly, it was being dictated instead by the needs of technology... by a conspiracy between human beings and techniques, by something that needed the energy-burst of war, crying: ,Money, be damned, the very life of [insert name of Nation] is at stake,‘ but meaning, most likely, dawn is nearly there, I need my night’s blood, my funding, ahh more, more.... The real crises were crises of allocation and priority, not among firms – it was only staged to look that way – but among the different Technologies, Plastics, Electronics, Aircraft, and their needs which are understood only by the ruling elite...“ (GR, 521). 44 Vgl. etwa GR, S. 324: „Weissmann is probably dead by now.“; S. 660f.: „,If he is alive,‘ he may have changed past our recognition. We could have 138

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ker der Futuristen, Henri Bergson, so vehement attackierte Formelsprache von Mathematik und Physik ist, mit der Pynchon seine Remythisierung der Technik modelliert, kunstvoll angelehnt indes auch sie, wie zuletzt Bruno Arich-Gerz herausgearbeitet hat, an Rilkes Duineser Elegien bzw. die Sonette an Orpheus.45 Diese – freilich noch immer metaphorische – Aktualisierung des Mythos durch die Anbindung an die moderne Wissenschaft stellt sich mithin gegen die rein mythisch-voluntaristische Verwandlung, die Marinetti präsentiert und ihn doch reichlich alt aussehen lässt. Wo Bergson noch gegen eine vermeintlich falsche Wirklichkeitsauffassung der Wissenschaft Einspruch einlegt, die für ihre reiner Pragmatik geschuldeten Modelle doch gar keinen Wahrheitsanspruch erhoben hat, übersetzt Pynchon hier und anderswo die Feststellung der Bewegung in der Zeit in angewandter Kurvendiskussion und Integralrechnung sowie die Bewegungsillusion durch aneinandergereihte Bilder im Film in bizarre pseudoontische Zustände und Abläufe, die freilich ihrerseits die wahrnehmungsverändernden und herrschaftsstabilisierenden Wirkungen und Ambivalenzen moderner Technik und Wissenschaft auf den Menschen behaupten und zugleich persiflieren.46 Die fehlenden Berührungsängste mit den von Marinetti ausgeblendeten Grundlagen futuristischer Technikverherrlichung hindern Pynchon dann auch nicht daran, den vorläufigen Höhepunkt der technisch erzeugten Beschleunigung an driven under him in the sky today and never seen. Whatever happened at the end, he has transcended. Even if he’s only dead. […]“; S. 721: „Will Blicero die no please don’t let him die…. (But he will).“; S. 749: „If you’re wondering where he’s gone, look among the successful academics, the Presidential advisers, the token intellectuals who sit on boards of directors. He is almost sure there. Look high, not low.“ 45 Vgl. B. Arich-Gerz: „The Comet and the Rocket“, S. 232: „In the Duino Elegies and the Sonnets to Orpheus, Rilke links one of the major topoi of his poetry, the yearning for transformation, with a sinister constellation of new stars named ,Rider‘. In Gravity’s Rainbow, it is the sinister Nazi official Weissmann, a fervent Rilke reader, who seeks and in the end apparently indeed achieves this kind of transformation at the rocket’s peak point. Metamorphosed into the supernumerary sky constellation, he comes to portend absolute oppression for those who stay behind.“ 46 Vgl. etwa die groteske Episode der dem Ingenieur Pökler in regelmäßigen Abständen untergeschobenen Mädchen, die man ihm für seine Tochter ausgibt: „There has been this strange connection between the German mind and the rapid flashing of successive stills to counterfeit movement, for at least two centuries – since Leibniz, in the process of inventing calculus, used the same approach to break up the trajectories of cannonballs through the air. And now Pökler was about to be given the proof that these techniques had been extended past images on film, to human lives.“ (GR, 407). 139

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die ältesten Mythen von Transzendenz und zyklischer Zeit zurückzubinden. Es ist der aus der flüchtigen Verbindung eines russischen Seemanns mit einer Hererofrau hervorgegangene Enzian, der mit dem Abschuss einer zweiten bemannten V2 am Tag der Kreuzerhöhung (14. September) ein halbes Jahr später Weissmanns Verwandlung ausbalancieren und zugleich seinem geschundenen Volk neue Hoffnung geben will, als ein Teil der entwurzelten Afrikaner durch die Verweigerung der Fortpflanzung den von den Deutschen begonnenen Völkermord vollenden möchte.47 Die zunächst für einen englischen Propagandafilm erfundene Raketentruppe aus schwarzen SS-Soldaten („Black rocket troops? What bizarre shit?“, GR, 288)48 hat sich in der „Zone“ tatsächlich formiert; die „kraut niggers“, wie sie der glücklose Verfolger Slothrops Major Marvy despektierlich oder bewundernd nennt, haben sich in der Nähe der Mittelwerke in aufgelassenen Stollen („Erdschweinhöhle“) eingerichtet, wo sie der Zusammensetzung ihrer Rakete harren: „What Enzian wants to create will have no history. It will never need a design change. Time, as time is known to the other nations, will wither away inside this new one. The Erdschweinhöhlers will not be bound, like the Rocket, to time. The people will find the Center again, the Center without time, the journey without hysteresis, where every departure is a return to the same place, the only place…“ (GR, 318f.)

Man mag in diesem Motiv, sollten sich die gezeigten Parallelen nicht dem Zufall und der Geschichte verdanken, eine Antwort auf Marinetti lesen, insofern Pynchon das Epos der Kriegsopfer und Verlierer schreibt. Andernfalls könnte man nach den literarischen Zwangsläufigkeiten fra47 „They call themselves Otukungurua. Yes, old Africa hands, it ought to be ,Omakungurua‘, but they are always careful – perhaps it’s less healthy than care – to point out that oma- applies only to the living and human. Otu- is for the inanimate and the rising, and this is how they imagine themselves. Revolutionaries of the Zero, they mean to carry on what began among the old Hereros after the 1904 rebellion failed. They want a negative birth rate. The program is racial suicide. They would finish the extermination the Germans began in 1904.“ (GR, 316f.). 48 „Follows a lurid tale – which sounds like something SHAEF made up, Goebbels’ less than giddy imagination reaching no further than Alpine Redoubts and such – of Hitler’s scheme for setting up a Nazi empire in black Africa, which fell through after Old Blood ’n’ Guts handed Rommel’s ass to him in the desert. […] Well, the black cadres had no more future in Africa, stayed on in Germany as governments-in-exile without even official recognition, drifted somehow into the ordnance branch of the German Army, and pretty soon learned how to be rocket technicians.“ (GR, 287f.). 140

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gen, die das Thema der Körper in Bewegung im Modus der Groteske, Satire und Persiflage generiert; die beschleunigenden Kopfgeburten der Ingenieure („lo spirito dell’uomo è una ovaia inesercitata…“, M, 5) gehen jedenfalls auch bei Pynchon einher mit der Abwehr der Frau, der triumphalen Negation des Weiblichen, hier allerdings freilich als ein Motiv unter vielen. Enzian hat von Weissmann gelernt, „[…] that love, among these men, once past the simple feel and orgasming of it, had to do with masculine technologies, with contracts, with winning and losing. Demanded, in his own case, that he enter the service of the Rocket…. Beyond simple steel erection, the Rocket was an entire system won, away from the feminine darkness, held against the entropies of lovable but scatterbrained Mother Nature: that was the first thing he was obliged by Weissmann to learn, his first step toward citizenship in the Zone. He was led to believe that by understanding the Rocket, he would come to understand truly his manhood.“ (GR, 324)49

Seine Berufung erfährt er, „tradition sez“, „in the course of a wet dream where he coupled with a slender white rocket“ (GR, 279) im steinernen Bauch der Mittelwerke, der ihm die menschliche Gebärmutter ersetzt wie dem Gazurmah Marinettis Felsentheater. Nun mag die Möglichkeit der Parthogenese die zweigeschlechtliche Sexualität ihrer natürlichen Funktion berauben, ihrem sinnlichen Mehrwert sollte dies doch eigentlich keinen Abbruch tun, im Gegenteil; dennoch erfahren die Bauteile, Werkstätten und technischen Geschöpfe in den literarischen Wunschwelten zumeist eine kompensierende, gynomorphe Erotisierung. Bei Marinetti manifestiert sich diese etwa in der angekündigten Kopulation Gazurmahs mit den Winden, bei Pynchon beispielsweise in einer Reihe obszöner Limericks, die Major Marvys Truppe zum Besten gibt; zumal Gottfried, der den Flug im Brautkleid antritt, kommt der sexuellen Vereinigung mit seinem Gefährt nahe: „They are mated to each other, Schwarzgerät and next higher assembly. His bare limbs in their metal bondage writhe among the fuel, oxidizer, live-steam lines, thrust frame, compressed air battery, exhaust elbow, decomposer, tanks, vents, valves… and one of those valves, one test-point, one pressure-switch is the right one, the true clitoris, routed directly into the nervous system of the 00000. She should not be a mystery to you, Gottfried. Find the zone of love, lick, kiss…“ (GR, 751) 49 Vgl. zu dieser und ähnlichen Stellen Alan J. Friedman/Manfred Puetz: „Science as a Metaphor: Thomas Pynchon and Gravity’s Rainbow“, in: Richard Pearce (Hg.), Critical Essays on Thomas Pynchon, Boston/Mass. 1981, S. 69-81. 141

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Endpunkt dieser Entwicklung, der bisher wohl kaum schöner inszeniert wurde als von Chris Cunningham für Björks „All is full of love“ (1999)50, wäre das Verschwinden des Menschen aus dem Liebesspiel, das die Maschinenkomponenten nun gänzlich unter sich austragen.51 Jarry oder etwa Fellinis Casanova spiegeln im Gegenzug das altehrwürdige Motiv, indem sie den menschlichen Liebesakt im Angesicht der Industrialisierung mechanisieren. Ob nun bedauerliches Dekadenzsymptom oder erstrebenswerte Erlösung des Mannes – weder Mafarka noch Weissmann meinen es wirklich ernst mit der Verachtung der Frau; beim Italiener, der in der „Dedica“ seines afrikanischen Romans das allzu gewagte Vorpreschen teilweise zurücknimmt,52 will sich Mafarka nach dem Tod seines Bruders mit der Zeugung Gazurmahs der (ebenfalls toten) Mutter („Oh! mammina!“, M, 153) versöhnen, die ihn zur Tat anspornt („LANGURAMA – Mostrami il tuo figliuolo, Mafarka!... vuoi dunque trastullarti col povero cuore di tua madre?... MAFARKA – No! […]“, M, 154); und Weissmanns Duineser Elegien waren eben zuallererst „a gift from mother.“53 Pynchons Version des Mythos wäre freilich kaum komplett ohne eine Travestie, die die hochfliegenden raketenkosmologischen Metamorphosen Bliceros und Enzians konterkariert und somit einmal mehr auf die Wirklichkeit hinter dem Traum verweist; denn auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist eine Verschmelzung des Menschen mit seinen Fortbewegungsmitteln, wie sie die Menschheit seit jeher ersehnt oder 50 Gregor Schuhen: „Künstliche Seele oder ‚What it feels like for a machine‘“, in: Annette Geiger u.a. (Hg.), Wie der Film den Körper schuf. Ein Reader zu Film und Medien, Weimar 2006, S. 321-334. 51 Vgl. etwa GR, S. 403: „One of these German mystics who grew up reading Hesse, Stefan George, and Richard Wilhelm, ready to accept Hitler on the basis of Demian-metaphysics, he seemed to look at fuel and oxidizer as paired opposites, male and female principles uniting in the mystical egg of the combustion chamber […]“ 52 „Quando io dissi loro: ,Disprezzate la donna!‘ tutti mi lanciarono improperi triviali, come altrettanti tenitori di postriboli, inviperiti da una retata poliziesca! Eppure, io non discuto già del valore animale della donna, ma dell’importanza sentimentale che le si attribuisce.“ (M, 4). 53 Der naheliegenden Interpretation der Ingenieurstätigkeit als regressivem Verhalten hat man zu Marinettis Zeit bekanntlich auch tiefer liegende Ursachen zugesprochen; vgl. L. Goldstein: The Flying Machine and Modern Literature, S. 31: „[…] Freud is led to a view of aviation itself as an expression of infantile erotic desires for supreme control over the external world – the containing figure of the mother.“ Vgl. auch GR, S. 750: „The glove is the cavity in which the Hand fits, as the 00000 is the womb into which Gottfried returns.“ 142

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fürchtet, nicht in Sicht: lässt man einmal die noch kaum absehbaren Folgen avancierter Klontechnik außen vor, liegt, nach dem nicht in Serie gegangenen Mann mit dem Raketenrucksack von der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele 1984 in Los Angeles, die wohl aufregendste Meldung im Zusammenhang mit Marinettis Beschleunigungsphantasien in der Weigerung des Leichtathletikweltverbandes vom vergangenen Januar, eine Startberechtigung an einen unterschenkelamputierten Sprinter für die Spiele in Peking zu vergeben, dessen stark federnde Prothesen immerhin gestandene Athleten das Fürchten lehren könnten. Um seine geheime Verbindung zur Rakete zu erhellen, irrt Tyrone Slothrop, „another rocket-creature“ (GR, 629), nach Kriegsende durch das besetzte Deutschland; von etlichen Diensten verfolgt, nimmt er dabei meist absurd-lächerliche Tarnidentitäten an, darunter auch die der Comic- und Serials-Figur Rocketman.54 In einer Travestie auch der topi-

54 Vgl. Donald F. Larsson: „Rooney and the Rocketman“, in: Pynchon Notes 24-25 (1989), S. 113-115, hier S. 114: „Steven Weisenburger has revealed that there actually was a Rocketman: ,Rocketman was originally the Creation of Ajax Comics in the early forties. In 1952 Ajax/Farell Comics published a single Rocketman issue (all devoted to his adventures), now a rarity‘ [A Gravity’s Rainbow Companion, S. 179]. But Weisenburger does not give the full or correct details of Rocketman’s beginnings. Rocketman first appeared, along with Rocketgirl, in issue number 1 of Scoop Comics, published by Harry ,A‘ Chesler. The flying couple were merely featured performers in Scoop, and the comic itself lasted for just eight issues. In 1943, the caracters of Rocketman and Rocketgirl were apparently sold to Harvey publications, which featured them in the first issue of Hello, Pal Comics. Hello, Pal lasted for only three issues […]“. Die erste Ausgabe von Scoop erschien 1941, Hello, Pal 1943; Larsson verweist auch auf den ähnlich kostümierten Bulletman von 1940, „another cone-headed superhero of the 1940s, who appeared in various comic books by Fawcett“ (S. 115); weder Larsson noch Weisenburger verweisen indes auf die Figur des Rocket Man im 12-teiligen Republic-Serial „King of the Rocket Men“ von 1949: „With the relatively exorbitant licensing fees demanded by the publishers of comic strip heroes in mind, Republic created its own original character, Rocket Man, a masked vigilante, his identity hidden by a bulletshaped steel helmet, who zooms through the air in a jet-propelled flying suit.“ (Roy Kinnard: Science Fiction Serials. A Critical Filmography of the 31 Hard SF Cliffhangers; With an Appendix of the 37 Serials with Slight SF Content, Jefferson/North Carolina, London 1998, S. 149; siehe auch S. 152: „The Rocket Man character, re-named and played by different actors, would reappear in two other Republic serials, Radar Men from the Moon […]; Zombies of the Stratosphere […]; and a series of 12 Commando Co143

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schen „origin story“ der frühen Comic books führt ihn der Geruch einer Haschischzigarette im Berliner Tiergarten zum Einbrecher „Säure“ Bummer und seinen Gespielinnen, die in einem hohlen Baumstamm ihre Tagesbeute, bestehend aus einem kleinen Fundus von Wagnerkostümen, ausbreiten:55 „The girls are moving the coal of the reefer about, watching its reflection in the shiny helmet changing shapes, depths, grades of color…hmm. It occurs to Slothrop here that without the horns on it, why this helmet would look just like the nose assembly of the Rocket. And if he could find a few triangular scraps of leather, figure a way to sew them on to Tchitcherine’s boots… yeah, a-and on the back of the cape put a big, scarlet, capital R – It is as pregnant a moment as when Tonto, after the legendary ambush, attempts to – „Raketemensch!“ screams Säure, grabbing the helmet and unscrewing the horns off of it. Names themselves may be empty, but the act of naming… „You had the same idea?“ Oh, strange. Säure carefully reaches up and places the helmet on Slothrop’s head. Ceremonially the girls drape the cape around his shoulders. Troll scouting parties have already sent runners back to inform their people. „Good. Now listen, Rocketman, I’m in a bit of trouble.“ „Hah?“ Slothrop has been imagining a full-scale Rocketman hype, in which the people bring him food, wine and maidens in a four-color dispensation in which there is a lot of skipping and singing „La, la, la, la,“ and beefsteaks blossoming from these strafed lindens, and roast turkeys thudding down like soft hail on Berlin, sweet potatoes a-and melted marshmallows, bubbling up out of the ground…“ (GR, 366)

Statt also im erträumten Vierfarbparadies der Comic-Hefte56 zu landen, muss Slothrop alias Raketemensch57 für seine Freunde in Potsdam Drody, Sky Marshall of the Universe shorts released to theaters and television by Republic in 1953[.]“ – die beiden erwähnten Serials entstanden 1952). 55 Die Verbindung zu Wagner mag auf eine weitere mögliche Quelle der Figur verweisen, den berühmten Merrie Melodies-Cartoon „What’s opera, doc?“ (1957), in dem die ewige Jagd Elmer Fudds auf Bugs Bunny zu einem Medley von Wagnermelodien und in entsprechenden Kostümen stattfindet. Elmers Kopf verschwindet mehrmals unter dem viel zu großen Helm, der ihm, trotz der Hörner, zusammen mit dem Brustpanzer die Anmutung eines ballistischen Geschosses verleiht, vor allem, wenn er gegen Ende des Cartoons in dramatisches rotes Licht getaucht ist und zu glühen scheint. 56 Vgl. H. Brenton Stevens: „,Look! Up in the sky! It’s a Bird! It’s a Plane! It’s… Rocketman!‘ Pynchon’s Comic Book Mythology in Gravity’s Rainbow“, zit. nach http://pcasacas.org/SPC/scpissues/19.3/stevens.htm vom 02.02.2009, S. 3: „It should be noted, that ,four-colour‘ here is a reference to comic books which were originally printed utilizing a process involving only four colors.“ Auch Weissmann erscheint übrigens einmal als kostü144

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gennachschub akquirieren; entgegen Navysoldat Pig Bodines – auch er schon aus V. (und der Erzählung Low-lands von 1960) bekannt – Vorhersage („All you got to do is fly over there or whatever it is you do, just go in and get it.“ GR, 370), erweist sich diese Aufgabe als doch ziemlich schwieriges Unterfangen, worauf nicht nur der Reichstag, den der berauschte Slothrop für King Kong hält, einen ersten Hinweis abgibt; denn nicht allein dient die Villa, in deren Vorgarten Bodine das Paket vergraben hatte, während der Potsdamer Konferenz Präsident Truman als Residenz; auch unterwegs tun sich ungeahnte Hindernisse auf: „There’s still that big superhighway to get across. Some Germans haven’t been able to get home for 10, 20 years because they were caught on the wrong side of some Autobahn when it went trough. Nervous and leadfooted now, Slothrop comes creeping up to the Avus embankment, listening to traffic vacuuming above. Each driver thinks he’s in control of his vehicle, each thinks he has a separate destination, but Slothrop knows better. The drivers are out tonight because They need them were they are, forming a deadly barrier. Amateur Fritz von Opels all over the place here, promising a lively sprint for Slothrop – snarling inward towards the famous S-curve where maniacs in white helmets and dark goggles once witched their wind-faired machinery around the banked brick in shrieking drifts (admiring eyes of colonels in dress uniforms, colonels’ ladies in Garbo fedoras, all safe up in their white towers yet belonging to the day’s adventure, each waiting for his own surfacing of the same mother-violence underneath…). Slothrop frees his arms from the cape, lets a glean gray Porsche58 whir by, then charges out, the red of its taillights flashing along his downstream leg, headlights of a fast-coming Army truck now hitting the upstream one and touching the grotto of one eyeball to blue jigsaw. He swings sideways as he runs, screaming, „Hauptstufe!“ which is the Rocketman war cry, raises both arms and the sea-green fan of the cape’s silk lining, hears brakes go on, keeps running, hits the center mall in a roll, scampering into the bushes as the truck skids past and stops. Voices for a while. Gives Slothrop a chance to catch his breath and get the cape unwound from around his neck.59 The truck finally starts off again.

mierter Wagnerianer: „At some point in the winter, Pökler came to feel that he could handle a meeting with Weissmann. He found the SS man on guard behind eyeglasses like Wagnerian shields […]“ (GR, 416). 57 Sic: Pynchons falsche Anwendung oder Vernachlässigung des Fugenlauts zieht sich durch den gesamten Roman. 58 Siehe hierzu S. Weisenburger, S. 184f. 59 Ein früher Hinweis auf die Gefahren, die die typische Superheldenuniform birgt; Alan Moore, der Pynchon viel verdankt, hat diesen Umstand in seinem Meisterwerk Watchmen (1986/7, mit Dave Gibbons) thematisiert, von wo das Motiv in den Pixarfilm The Incredibles (2004) wanderte. Hinzuwei145

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The southbound half of the Avus is slower tonight, and he can jog across easy, down the bank and uphill again into the trees. Hey! Leaps broad highways in a single bound!“ (GR, 379f.)

Die Verschmelzung mit der Raketentechnik, die in dieser slapstickhaften Episode nur bedingt als Sieger über das Automobil hervorgeht, ist in diesem Fall mithin reine Einbildung;60 Pynchon, der für seine Arbeit am Mythos zuvor Märchen und Poesie, Mathematik und Physik bemüht hatte, bedient sich in dieser neuerlichen Schleife populärer Figuren und Motive aus Comic, Cartoon, Kino und Fernsehen – deren moderne Mythen sich natürlich aus denselben Quellen speisen wie Mafarka61 – und sen ist aber auch auf den tödlichen Unfall der Duncan, deren Schal sich in einem der Räder ihres Wagens verfangen und sie stranguliert hatte. 60 Freilich eine von „Them“ gesteuerte, sind doch die Massenmedien und damit auch die Comics in Pynchons Universum Teil der Verschwörung zur Unterdrückung der „Preterite“; vgl. D.F. Larsson: „Rooney and the Rocketman“, S. 115: „[..] Rocketman, a minor hero from two failed lines of comic books, is a preterite hero – if there ever was one.“ und Stevens, „,Look! Up in the sky! It’s a Bird! It’s a Plane! It’s… Rocketman!‘“, S. 1: „In his Rocketman persona, Slothrop is both the embodiment of the justification of the Rocket State’s policies – Superhero of the elect – and an emblem of the possibility that fantasy holds for escape from the dictates of these policies – superhero of the preterite.“ 61 „All of a sudden, it hits me – I conceive a character like Samson, Hercules and all the other strong men I ever heard of rolled into one“ gab Supermanschöpfer Jerry Siegel zu Protokoll (zit. nach Roger Sabin: Comics, Comix & Graphic Novels. A History of Comic Art, London 2003, S. 61). Vgl. auch Gerard Jones: Men of Tomorrow. Geeks, Gangsters and the Birth of the Comic Book, London 2005, vor allem Kap. 4, „The Perfect Man“, S. 62-86. Freilich verziert Pynchon auch Bliceros Abschuss schon mit einem Comic-Mythem, insofern an der Rampe zwei Soldaten namens Max und Moritz ihren Dienst versehen (GR, 757f.); zum Einfluss Wilhelm Buschs berühmtester Bildergeschichte auf den frühen Comic vgl. z.B. Andreas C. Knigge: „Von der Bildergeschichte zum Comic“, in: Ralf König [u.a.], Wilhelm Busch und die Folgen, Köln 2007, S. 6-18; S. Weisenburger: A Gravity’s Rainbow Companion, S. 223, verweist auf die Taufe zweier A2Raketen von 1934 auf die Namen der beiden Lausbuben, was sich auch in der einschlägigen Literatur wiederfindet und Pynchon somit bekannt gewesen sein konnte. Schließlich wird auch die Ästhetik des Mafarka gerne im Nachhinein mit den bunten Comicwelten verglichen, s. etwa L. Ballerini: „Marinetti incongruo, ipercolico, inaffondabile“, XX: „[…] Glauco Viazzi suggerisce, appunto, che l’equivalente figurativo di Mafarka ,andrebbe cercato nelle inquietanti, brutali raffinatezze sgradevoli dello stile ,Métal Hurlant‘“. 146

VON MARINETTIS „GAZURMAH“ ZU PYNCHONS „ROCKETMAN“

führt zugleich mit der – bei Pynchon freilich ubiquitären – bewusstseinserweiternden Droge ein Hilfsmittel menschlicher Einbildungskraft ein, dessen Wirkung auch Marinettis Held schon kennt: kurz bevor Gazurmah zum ersten Mal in den Himmel steigt, vermeint sein Vater selbst zu fliegen: „Tutto girò, intorno a lui, e, chiudendo gli occhi, egli si sentì sollevare i piedi al disopra del capo, indi il suolo sprofondarglisi e sfuggirgli sotto, come se egli avesse fumato dell’haschich dopo aver mangiato.“62 Mit der Anspielung auf Superman, der, bevor er in den 1940ern das Fliegen lernte und in den Kampf gegen die Nazis eingriff, auch nur große Sprünge (aber die immerhin) machen konnte,63 evoziert Pynchon aber schon die spätere Legende, die sich um den Rocketman und seinen halsbrecherischen „Potsdam Pickup“ in der „Zone“ spinnen und die sich bildende Counterforce inspirieren wird. Mit ihr bekommen „They“, jene andere Hälfte des manichäischen Weltbildes in Pynchons Romanen, und ihr Krieg einen ernstzunehmenden Gegner. Denn im Unterschied zu Marinetti, wenn man in Gravity’s Rainbow noch einmal auch eine Antwort auf den Futuristen sehen möchte, bezeichnet der Krieg bei Pynchon nicht die „sola igiene del mondo“, sondern ist, als Ablenkungsmanöver und Laboratorium transnationaler wirtschaftlicher Interessen, eine Ausgeburt eben jenes bourgeoisen Passatismus, den Marinetti mit demagogischen Parolen („[…] Sappiate che la guerra / è un modo di far sciopero! / [...] /

62 M, S. 212, kursiv im Original; siehe auch M, S. 26: „un fetore di canape, d’orina, di grassume e di sudore.“ und M, S. 30: „Uno di costoro, già colpito dall’haschich […]“. 63 Diese deutliche Verbindung zu Superman fehlt in Stevens’ Katalog (und natürlich prangt das „S“ auf Supermans Brust, nicht auf dem Cape): „Another one of Jamf’s creations, Imipolex G, seems to function like Kryptonite on Slothrop. […] Kryptosam is only one of the many correspondances that Pynchon makes between Rocketman and Superman. When Rocketman is donning his costume, Saure [sic] suggests putting a big, scarlet, capital-[sic]R‘ on the ,back of the cape‘ (S. 366). Superman’s cape has a large capital-S upon it. Superman’s war cry is ,Up, up, and away.‘ Rocketman’s war cries are ,Hauptstufe‘ (S. 380) and ,Fickt nicht mit dem Raketemensch!‘ (S. 435). Similarly, the narrator informs us that the password in the Zone is ,FASTER – THAN, THE SPEEDOFLIGHT‘ (S. 726), which echoes one of Superman’s epithets, namely, that he is ,faster than a speeding bullet.‘ One of Greta’s film roles is ,the dizzy debutante Lotte Lustig‘ (S. 483). Pynchon parodies here the Superman mythology’s predilection for names alliterated with L’s: Lois Lane, Lana Lang, Lex Luthor. Her description best fits Lois Lane who is Superman’s love interest in the comic books.“ („,Look! Up in the sky! It’s a Bird! It’s a Plane! It’s… Rocketman!‘“, S. 3). 147

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La guerra è la rovina del padrone, / che mentre essa dura non può continuare / ad arricchirsi!...“)64 zu bekämpfen vorgab: „Don’t forget the real business of the War is buying and selling. The murdering and the violence are self-policing, and can be entrusted to non-professionals. The mass nature of wartime death is useful in many ways. It serves as spectacle, as diversion from the real movements of the War. It provides raw material to be recorded into History, so that children may be taught History as sequences of violence, battle after battle, and be more prepared for the adult world. Best of all, mass death’s a stimulus to just ordinary folks, little fellows, to try ‘n‘ grab a piece of that Pie while they’re still here to gobble it up. The true war is a celebration of markets.“ (GR, 105)

64 F.T. Marinetti: L’areoplano del Papa. Romanzo profetico in versi libri, introduzione di Giampiero Mughini, Macerata 2006, S. 111. 148

MOMENTS

B EI N G – M O M E N T U M O F B E I N G S : K Ö R P E R B E W E G U N G , E P I P H A N I E N U N D R A D F A H R EN BEI DOROTHY RICHARDSON OF

NICOLA GLAUBITZ Glaubt man dem Literaturtheoretiker und -historiker Terry Eagleton, dann zeichnet sich England durch die ‚auffällige Abwesenheit einer substanziellen Avantgarde‘ aus.1 Englische Literatur und Kunst haben in der Forschung zu den Avantgarden tatsächlich keinen zentralen Platz, denn obwohl der italienische Futurismus auch in der Londoner Kunstszene der 1910er Jahre entscheidende Impulse entfaltete, blieben avantgardistische Bewegungen ephemere Erscheinungen. Eagletons Diagnose stimmt insofern, als die Künstler, die einer britischen Moderne und ihren Vorläufern zugerechnet werden, allesamt Iren – wie Oscar Wilde, James Joyce und Samuel Beckett –, eingewanderte Amerikaner – wie Henry James, Ezra Pound und T.S. Eliot – oder Kanadier sind, wie Wyndham Lewis. Der Kreis der englischen Modernisten schnurrt bei Eagleton auf D.H. Lawrence und Virginia Woolf zusammen, und das Bild verändert sich nicht wesentlich, wenn man die erst neuerdings wieder in den Kanon der literarischen Moderne aufgenommene Erzählerin Dorothy Richardson hinzunimmt. Dennoch lassen sich gerade bei Richardson durchaus Parallelen zum Futurismus aufspüren, wenn man mit einem Avantgardebegriff arbeitet, der neue Medien und Technologien und die von ihnen ermöglichten Modi der Körpererfahrung berücksichtigt. Eagleton macht die stärker spürbaren und spannungsreicheren Modernisierungsschübe in den USA und die Selbstdekolonisierung der Iren für deren höhere Bereitschaft zu avantgardistischen Ausdrucksformen 1

Terry Eagleton: „The Curious Case of the Missing Avant-Garde“, in: Cornelia Klinger/Wolfgang Müller-Funk (Hg.), Das Jahrhundert der Avantgarden, München 2004, S. 145-151, hier S. 148, vgl. auch Roberto Baronti Marchiò: „The Vortex in the Machine: Futurism in England“, in: Günter Berghaus (Hg.), International Futurism in Arts and Literature, Berlin/New York 2000, S. 100-121, hier S. 100. – Dieser Aufsatz entstand im Rahmen des DFG-geförderten SFB/Forschungskollegs ‚Medienumbrüche‘, Universität Siegen. 149

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verantwortlich. Dass es zwar eine Avantgarde in England, aber trotzdem keine im engeren Sinne englische Avantgarde gab, ist für Eagleton auf die Selbstsicht der englischen Gesellschaft in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts zurückzuführen: Bei Intellektuellen und politischen Eliten habe die selbstgefällige, ästhetisch konservative Sicht einer Nation dominiert, die sich ihres Status als Weltmacht noch gewiss war, auf eine über hundertjährige Erfahrung mit industrieller Revolution zurückblicken konnte und weiteren Modernisierungsschüben gelassen gegenübertrat. Dieses Bild ist jedoch eindimensional, denn seit etwa 1880 hatten Wirtschaftskrisen, Streiks, sozialistische Bewegungen und die Suffragettenbewegung die innere Kohärenz des britischen Empire auf die Probe gestellt, und auch außenpolitisch blieb die Vormachtsstellung (mit dem Burenkrieg 1899-1902, dem Ende des Freihandels und dem irischen Osteraufstand 1916) nicht unbeschädigt. Der erste Weltkrieg lenkte vorübergehend von diesen Problemen ab, brachte aber neue soziopolitische Verwerfungen mit sich.2 Vielleicht ist es vor diesem Hintergrund umso erstaunlicher, dass radikale avantgardistische Bewegungen auf Impulse von außerhalb zurückgingen und nicht langfristig Fuß fassen konnten. Zwei post-impressionistische Ausstellungen (1910/11 und 1912/13) hatten in der etablierten Kunstkritik vehemente Ablehnungen hervorgerufen. Resonanz fanden die Bilder von Cézanne, van Gogh, Gauguin, Matisse, Derain, Picasso und anderen jedoch bei jungen britischen Künstlern und Künstlerinnen wie Percy Wyndham Lewis und Edward Wadsworth, die dann in der zweiten Ausstellung vertreten waren. Die Organisatoren der Ausstellungen, Roger Fry und Clive Bell, waren Mitglieder der Bloomsbury Group, der u.a. Virginia Woolf angehörte. Unter diesen Künstlern fand der italienische Futurismus seine ersten Anhänger. Marinetti hatte 1910 zum ersten Mal London besucht und Kontakt zu einer Künstlergruppe um den Maler Christopher Nevinson und den Maler und Schriftsteller Wyndham Lewis aufgenommen: „Ebenso wie in Paris trat Marinetti auch hier direkt an die avanciertesten Künstler heran, um Anhänger für seine futuristische Bewegung zu rekrutieren.“3 Anlässlich von Ausstellungen futuristischer Kunst (1912, 1914) kehrte er in den folgenden Jahren immer wieder in die englische Hauptstadt zurück, zum Teil in Begleitung von Boccioni, Carrà und Russolo. Nur ein Jahr nachdem die Gruppe um Nevinson, 2

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Vgl. Hans Ulrich Seeber: „Vormoderne und Moderne“, in: ders. (Hg.), Englische Literaturgeschichte, Stuttgart: Metzler 1999, S. 306-351, hier S. 306-308. Karin Orchard: „,Ein Lachen wie eine Bombe‘. Geschichte und Idee der Vortizisten.“ in: dies. (Hg.), Blast. Vortizismus – die erste Avantgarde in England 1914-1918. Katalog. Hannover 1996, S. 9-21, hier S. 9. K. Orchard: „,Ein Lachen wie eine Bombe‘, S. 13. 150

KÖRPERBEWEGUNG, EPIPHANIEN UND RADFAHREN BEI DOROTHY RICHARDSON

Lewis und Ezra Pound sich 1913 in einem öffentlich inszenierten Bruch von Fry und seiner Programmatik einer praktisch anwendbaren, im Design von Gebrauchsgegenständen realisierten, avantgardistischen Formensprache distanziert hatte, sagte sie sich auch vom Futurismus los: 1914 distanzierte sich die Gruppe von Marinetti, gründete das Rebel Art Centre und rief mit der Zeitschrift Blast eine neue Bewegung, den Vortizismus, ins Leben. Diese erste und einzige wirkliche Avantgarde in England hatte eine Lebensdauer von kaum zehn Jahren und übernahm aus dem Futurismus die Faszination an Geschwindigkeit und Bewegung und die Verherrlichung von Technik, Zerstörung und Gewalt.4 In der ersten Ausgabe von Blast werden Häfen, ‚rastlose Maschinen‘, Bagger, Kräne, Leuchttürme und Fabrikmauern als Teil der „industrial island machine“ England gepriesen.5 So sehr Lewis und auch Pound die Notwendigkeit betonten, Anschluss an moderne künstlerische Darstellungsformen und Wissensbestände zu finden, so skeptisch traten sie der futuristischen Technikeuphorie und dem Weltveränderungspathos der Marinetti-Anhänger gegenüber: „AUTOMOBILISM (Marinettism) bores us. We don’t want to go about making a hullo-bulloo about motor cars, anymore than about knives and forks, elephants or gas pipes.“6 Lewis erinnert einige Zeilen weiter daran, dass Oscar Wilde schon 20 Jahre zuvor die Schönheit der Automobile besungen habe. Anstelle einer Massenbewegung und anstelle einer völligen Transformation der menschlichen Natur, die in den futuristischen Manifesten gefordert wurde, betonen die Vortizisten den Individualismus und konzipieren den Künstler als ruhenden Pol. Er hat inmitten eines Wirbels (vortex) von Kräften einen festen Standpunkt einzunehmen, von dem aus er die Energien und die Gewalt der modernisierten Welt kontrolliert auf sich wirken lassen kann.7 Pound und Lewis kritisierten die Formlosigkeit der futuristischen Kunst – ihrer Meinung nach nur ein beschleunigter Impressionismus – und ihre Wertschätzung gesteigerter Empfindung und Geschwindigkeit; stattdessen sollte sich Intensität, eine Verdichtung von Empfindungen und Kräften, durch gut gewähl-

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„1920 erklärte Wyndham Lewis den Vortizismus für beendet.“ K. Orchard: „,Ein Lachen wie eine Bombe‘“, S. 21. Vgl. R. Baronti Marchiò: „The Vortex in the Machine“, S. 101. Anonym: Blast 1, Manifesto. wiederabgedruckt in K. Orchard 1996, S. 279. Wyndham Lewis: „Long Live the Vortex!“ in: Blast 1, 1914, S. 7-8, wiederabgedruckt in K. Orchard 1996, S. 274-275, hier S. 274. W. Lewis: „Long Live the Vortex!“ in: Blast 1, 1914, S. 7-8, wiederabgedruckt in K. Orchard 1996, S. 274. 151

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te künstlerische Formen dem Inneren des Subjekts mitteilen.8 Eben dies drücken der Begriff und die Metapher des Wirbels oder Strudels aus, wie Ezra Pound in der ersten Blast-Ausgabe erklärt: „The vortex is the point of maximum energy. It represents, in mechanics, the greatest efficiency. We use the words ‚greatest efficiency‘ in the precise sense – as they would be used in a text book of MECHANICS. You may think of man as that towards which perception moves. You may think of him as the TOY of circumstance, as the plastic substance of RECEIVING impressions. OR you may think of him as DIRECTING a certain fluid force against circumstance, as CONCEIVING instead of merely observing and reflecting.“9

Pound unterstreicht in dieser Passage die aktive Rolle des vortizistischen Künstlers, der sich der rasanten Bewegtheit des modernen Wirtschaftsund Verkehrslebens und der Technisierung der Umwelt nicht ausliefert, sondern ihre Energien kreativ kanalisiert und umformt. Was Pound hier als Opposition aufbaut – den Gegensatz zwischen einer impressionistischen, Sinneseindrücke nur empfangenden künstlerischen Haltung und aktiv-schöpferischer Energie, findet sich als Kontinuum in den Schriften und in der Programmatik von Virginia Woolf, James Joyce und Dorothy Richardson wieder. Virginia Woolfs Konzept der ‚moments of being‘ bezeichnet Augenblicke außergewöhnlich deutlichen und synästhetischen Erlebens, das die Grenzen von Subjekt und Objektwelt verschwimmen lässt und Gegenwart und Vergangenheit zu einem intensiven Momenterleben zusammenzieht. Solche Augenblicke verdichten sich nach Woolf zu einem einprägsamen mentalen Bild und können immer wieder aus dem Gedächtnis abgerufen werden.10 Für das Schreiben von James Joyce spielen die sogenannten Epiphanien oder plötzlichen Erleuchtungen eine ähnliche Rolle. Sie manifestieren sich vorzugsweise anhand ganz alltäglicher und sogar vulgärer Dinge und Situationen. Dorothy Richardsons 13-bändiger, autobiografisch geprägter Romanzyklus Pilgrimage entstand zwischen 1915 und 1935 und ordnet sich gleichfalls um moments of being und Epiphanien herum an. Richardson beschreibt eine tatsächliche Pilgerfahrt, eine lebenslange Suche nach

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Vgl. Hubertus Gaßner: „Der Vortex – Intensität als Entschleunigung“ S. 22-38 in: K. Orchard 1996, hier S. 31-33; R. Baronti Marchiò, S. 112. 9 Ezra Pound: „Pound. Vortex“ in: Blast 1, 1914, S. 153-154, wiederabgedruckt in K. Orchard 1996, S. 292-293, hier S. 292. 10 Deborah Parsons: Theorists of the Modern Novel: James Joyce, Dorothy Richardson, Virginia Woolf, London, New York 2007, S. 75. 152

KÖRPERBEWEGUNG, EPIPHANIEN UND RADFAHREN BEI DOROTHY RICHARDSON

sinnlich und spirituell aufgeladenen Momenten: Die Hauptfigur Miriam Henderson findet in ihrem hektischen Alltag als Zahnarztgehilfin im turbulenten London der Jahrhundertwende immer wieder Zeit, sich z.B. in Stadtansichten und Lichtverhältnisse zu versenken und daraus Inspirationen zu beziehen. Was diese Zustände der Ich-Entgrenzung bei Richardson von denen bei Joyce und Woolf unterscheidet, ist die Tatsache, dass sie fast ausnahmslos mit körperlicher Bewegung, modernen Verkehrsmitteln und, in ihren nichtfiktionalen Schriften, auch mit dem Kino zu tun haben. Das verbindet sie mit dem Futurismus und dem Vortizismus. Richardson hatte trotz ihrer Kontakte zur Londoner Kunstszene offenbar keine Verbindung zu den Vortizisten, und es ist unklar, ob und inwiefern sie den Futurismus zur Kenntnis genommen hat. In ihren Briefe und Schriften finden sie jedenfalls keine Erwähnung.11 Dennoch sind Parallelen festzustellen. Richardsons Hauptfigur Miriam Henderson gerät vorzugsweise dann in einen Zustand der Kontemplation, der inneres Erleben und äußere Wahrnehmung verschränkt, wenn sie Zug oder Bus fährt oder durch die belebten Straßen der Metropole flaniert. In der Schilderung einer Busfahrt durch das abendliche London findet sich sogar die Vorstellung des vortex wieder. In Bewegung versetzt, taucht Miriam unter den sie umkreisenden Geräuschwelten weg, konzentriert sich auf ‚innere Ausblicke‘ und positioniert sich damit im ruhigen Zentrum eines Wirbels: „In the dimly lit little interior, moving along through the backward flowing mist-screened street lights, she dropped away from the circling worlds of sound, and sat thoughtless, gazing inward along the bright kaleidoscopic vistas that came unfailing and unchanged whenever she was moving, alone and still, against the moving tide of London.“12 Mit sehr viel größerer Intensität und Dringlichkeit für den weiblichen Alltag drängen sich solche Erlebnisse aber beim Radfahren auf, denn hier ist die Bewegungserfahrung nicht nur an den bewegten Körper, sondern unmittelbarer an den sich aktiv bewegenden Körper gebunden. Richardsons Romane erzählen von den Jahren zwischen 1895 und 1912, also genau von der Zeitspanne, in der Europa einen regelrechten Fahrradboom

11 Carole Chabries ist den Parallelen zwischen Futurismus und Richardsons Kino-Essays in ihrer Dissertation nachgegangen; auch sie setzt keinen direkten Einfluss voraus. Vgl. Carole Chabries: Sensational Sights. Visual Culture and the Feeling Body, 1863-1933, Ph.D. Dissertation, University of Wisconsin, Madison, 2003. 12 Dorothy Richardson: Pilgrimage, Bd. 3, Deadlock [1921], London 1979, S. 114. 153

NICOLA GLAUBITZ

erlebte13 und als sich am Radfahren noch immer Diskussionen über das Maß an Bewegungsfreiheit entzündeten, das Frauen im öffentlichen Raum und ganz konkret in ihrer Körperlichkeit zugestanden werden sollte. In den 1880er Jahren begann sich das heute gebräuchliche Zweirad mit Diamantrahmen und das Damenrad gegenüber Hochradmodellen durchzusetzen. Abbildung 1: Damen-Hochrad, ca. 1872.

Quelle: Gudrun Maierhof/Katinka Schröder: Sie radeln wie ein Mann, Madame. Als die Frauen das Rad eroberten. Dortmund 1992, S. 21. Das recht gefährliche Hochradfahren war eine Domäne junger, draufgängerischer Männer gewesen und für Frauen, die beim Fahren kaum dem Gebot einer möglichst vollständigen Verhüllung von Beinen und Knöcheln entgegenkommen konnten, verpönt. Auch Dreiräder und die niedrigeren Zweiräder, die sich mit langen geteilten Röcken oder weiten Pumphosen fahren ließen, setzten ihre Fahrerinnen empörten Kommentaren über drohenden Sittenverfall aus.14

13 Richardson kam 1896 nach London; zum gleichzeitigen Fahrradboom und seinen literarischen Echos vgl. Gloria Fromm: Dorothy Richardson. A Biography. Athens, London 1994, S. 25. 14 Vgl. die bei Bijker zitierten Zuschriften an Zeitungen und Magazine zwischen 1885 und 1900: Wiebe E. Bijker: Of Bicycles, Bakelites and Bulbs. Toward a Theory of Sociotechnical Change, [1995] London, Cambridge/Mass. 1997, S. 42-43, zur Entwicklung der Fahrradtechnik und zu den sozialen Trägergruppen des Radfahrens, S. 38-40, S. 93-95. 154

KÖRPERBEWEGUNG, EPIPHANIEN UND RADFAHREN BEI DOROTHY RICHARDSON

Abbildung 2: Hosenrock, 1899.

Quelle: Draisena. Blätter für Damen-Radfahren, Jg. 5, 1899, in: Volker Briese/Wilhelm Matthies/Gerhard Renda (Hg.), Wegbereiter des Fahrrades. Bielefeld 1997, S. 68. Abbildung 3: Teilbarer Rock, ca. 1900.

Quelle: Gudrun Maierhof/Katinka Schröder: Sie radeln wie ein Mann, Madame. Als die Frauen das Rad eroberten. Dortmund 1992, S. 72.

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NICOLA GLAUBITZ

Dennoch wurde das Radfahren für Frauen populär, und die Verfügbarkeit von Leihfahrrädern machte es auch denjenigen zugänglich, die sich die teuren Geräte nicht leisten konnten.15 Auch in Pilgrimage trägt die Aussicht, ihre schweren langen Röcke gegen knickerbockers, weite Pumphosen, vertauschen zu können, für die Protagonistin nicht unwesentlich zum Reiz des Radfahrens bei. Zunächst skeptisch, nimmt sie die Fahrstunden, die ihr eine Bekannte überlassen hat, und ist von dem neuartigen Gefühl von körperlicher Leichtigkeit und Freiheit begeistert: „To go along […] in knickers and a short skirt and all the summer to come… Everything shone with a greater intensity. Friends and thought and work were nothing compared to being able to ride alone, balanced, going along through the air.“16 Ihre wagemutigeren Freundinnen Mag und Jan haben sich sogar ohne Rock in die Öffentlichkeit gewagt und sind im Dunkeln durch London geradelt: „We came home nearly crying with rage at not being able to go about, permanently, in nothing but knickers. It would make life an absolutely different thing,“17 schwärmt Mag und fügt hinzu, sie hätte vor Übermut einen Polizisten zusammenschlagen können. Die andere Freundin, Jan, vergleicht die Erfahrung mit dichterischer Inspiration.18 Auch Miriam ist davon überzeugt, dass das Radfahren das Leben zu etwas ‚völlig anderem‘ mache; man fühle sich wie ein anderer Mensch. Sie denkt über ihre Zukunft nach und sieht die Möglichkeit, anders zu leben als ihre Familie es erhofft hatte – mit kurzgeschnittenen Haaren, Hosenrock und unverheiratet.19 Als Miriam zu einem späteren Zeitpunkt allein eine Überlandfahrt unternimmt, begegnet sie einem männlichen Radfahrer; der kurze Austausch eines Grußes stößt bei ihr Gedanken über uneingeschränkte Kommunikation aus, die eine Entsprechung in der größeren körperlichen Bewegungsfreiheit beim Radfahren findet: „If every one were on bicycles all the time

15 Vgl. Dörte Bleckmann: „Mit gebotener Zurückhaltung. Über die gesellschaftlichen Zusammenhänge des Frauenradfahrens“, in: Volker Briese/Wilhelm Matthies/Gerhard Renda (Hg.), Wegbereiter des Fahrrades, Bielefeld 1997, S. 63-83, hier S. 64f. Bleckmann weist die Annahme zurück, das Radfahren habe die Frauenemanzipation auf breiter Front befördert (S. 76). Sie argumentiert jedoch, dass es bürgerlichen und wohlhabenderen Frauen aber durchaus Bewegungsfreiheit in der Öffentlichkeit und ein Gefühl körperlicher Leistungsfähigkeit vermittelt und insofern eine deutlich veränderte Selbstwahrnehmung der Frauen begleitet habe. 16 Dorothy Richardson: Pilgrimage Bd. 2, The Tunnel (1919), London 1979, S. 145f., vgl. S. 224. 17 Ebd., S. 148. 18 Ebd. 19 Ebd., S. 149f. 156

KÖRPERBEWEGUNG, EPIPHANIEN UND RADFAHREN BEI DOROTHY RICHARDSON

you could talk to everybody, all the time, about everything… sailing so steadily along with two free legs…“20 Beflügelt durch die Empfindung körperlicher Stärke und Freiheit fasst sie den Entschluss, ein unabhängiges Leben zu führen. Insgesamt überwiegt für Miriam allerdings der ‚Eigenwert‘ des Radfahrens, die intensive und an sich bedeutungslose Erfahrung schneller Bewegung. Wenn die Hauptfigur beispielsweise mit Leichtigkeit von einer sachkundigen Erläuterung der technischen Details ihres Fahrrades zur Schilderung von buchstäblich er-fahrenen moments of being wechselt,21 zeigt sich, dass ‚epiphantische‘ Erfahrungsanlässe recht banal sein können. In einer Passage aus Interim gleiten die Gedanken Miriams von Preis und Qualität ihres neuen Fahrrades – und von der Dankbarkeit gegenüber ihren Arbeitgebern, die ihr Geld geliehen und die Anschaffung ermöglicht haben – direkt in eine Erinnerung an frühere Radtouren und die Antizipation künftiger Ausflüge hinüber. Auch hier vermittelt der Bewusstseinsstrom ein Zugleich von Ruhe und Bewegung, so, als ob die (Stadt)Landschaft selbsttätig an der Radlerin vorbei und durch sie hindurch zöge. Der exzessive Gebrauch von Bewegungsverben in der Verlaufsform unterstreicht den Eindruck eines Kontinuums sich relativ zueinander bewegender Körper, die allesamt ‚lebendig‘ und ‚sprechend‘ erscheinen; auch hier scheint das wahrnehmende Subjekt durchlässig zu werden. Der Augenblick intensiven Daseins – moment of being – ist untrennbar mit der Bewegungswucht belebter Wesen – momentum of beings – verflochten. Dennoch bleibt das Subjekt Zentrum der Erfahrung, in dem Vergangenheit und Zukunft zugleich präsent sind: „Lifted off the earth, sitting at rest in the moving air, the London air turning into fresh moving air flowing through your head, the green squares and high houses moving, sheering smoothly along, sailing towards you changed, upright, and alive, moving by, speaking, telescoping away behind unforgotten, still visible, staying in your forward-looking eyes, being added to in unbroken movement, a whole, moving silently to the sound of firm white tyres circling on smooth wood, echoing through the endless future to the riding ring of the little bell, ground easily out by firm new cogs.“ 22

Die Verweise auf die festen weißen Reifen und ihr Geräusch, den glatten Holzbelag der Straße,23 auf die Fahrradklingel und die Ritzel binden die 20 21 22 23

Ebd., S. 230. Vgl. ebd., S. 226, S. 228, dies.: Interim (1919), London 1979, S. 425. D. Richardson: Interim, S. 426. Straßenstücke zwischen Kensington und Hammersmith in London, die mit Holz gepflastert waren und eine glatte Oberfläche aufwiesen, waren bei 157

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ganz in räumliche und zeitliche Bewegung aufgelösten Eindrücke und Empfindungen an Konkretes zurück. Dies wiederholt sich im Fortgang der Textpassage; Miriam erinnert sich, dass ihr selbst ihr altes, klappriges Leihfahrrad solche Erlebnisse ermöglicht hat, und als sie wieder auf die Ebene der erzählten Gegenwart wechselt, berichtet sie anderen Bewohnern ihres Mietshauses stolz und mit lässiger Sachkunde, sie habe eine neue ‚Maschine‘ gekauft: „I’ve bought a machine. A Wolverhampton Humber. With Beeston tyres. B.S.A. fittings. Ball bearings – “.24 Im Kontext des Romanzyklus Pilgrimage als Ganzem zählen die Fahrradepisoden zu den eher marginalen Geschehnissen. Andere Erfahrungsanlässe für kontemplativ-mystisches ‚Stillwerden‘, das die Intensität der sinnlichen Wahrnehmung zunächst steigert, dann hinter sich lässt und in Richtung einer inneren, unaussprechlichen Realitätserfahrung weiterträgt, sind häufiger.25 Auf die Kopplung sinnlicher, körperlicher und emotionaler Empfindung beim Klavierspielen und beim Musikhören etwa kommt die Erzählung immer wieder zurück, und auch die kontemplative Betrachtung alltäglicher Gegenstände und Lichtverhältnisse – eines schäbigen möblierten Zimmers, einer Stadtansicht – findet sich häufig. Diese Situationen haben für Miriam spirituelle und religiöse Erfahrungsdimensionen, sind allerdings nicht darauf festgelegt. Richardson macht in ihren fiktionalen und nichtfiktionalen Schriften zwar Religion und Kunst als privilegierte Bereiche aus, in denen Menschen mystische Erfahrungen machen können oder sich diesen zumindest annähern können, lässt sich aber unbefangen auch auf ganz andere Erfahrungsanlässe ein:26 Radfahren, Flanieren und Busfahren gehören dazu ebenso wie das Kino.

Radfahrern um die Jahrhundertwende sehr beliebt, vgl. W.E. Bijker: Of Bicycles, Bakelites and Bulbs, S. 42. 24 D. Richardson: Interim, S. 426. 25 Das lässt sich sagen, obwohl Pilgrimage sehr viel weniger durch Motive, episodisch wiederkehrende Erzähleinheiten oder Anspielungsfelder strukturiert ist als z.B. die Romane von Woolf oder Joyce. Sehr häufig werden Themen oder Gegenstände, welche die Hauptfigur zeitweilig faszinieren, ohne Konsequenzen wieder fallengelassen. 26 Richardson hatte, bereits bevor sie mit Pilgrimage begann, 1914 ein Buch über die religiöse Praxis der Quäker geschrieben (The Quakers Past and Present). Sie vergleicht die mystisch-religiöse Erfahrung des ‚breaking through the veil of sense‘ mit dem noch unvollkommenen künstlerischen Bewusstsein, das bereits aus den normalen Wahrnehmungs- und Denkgewohnheiten ausbrechen kann, aber dem Sinnlichen noch verhaftet bleibt. Vgl. Paul Tiessen: „A Comparative Approach to the Form and Function of 158

KÖRPERBEWEGUNG, EPIPHANIEN UND RADFAHREN BEI DOROTHY RICHARDSON

In Richardsons späteren Schriften zum Kino gibt es interessante Parallelen zu ihren Überlegungen über die Mystik und zu den Epiphanien, die der Romanfigur Miriam Henderson widerfahren. Am Kino interessiert sie fast ausschließlich die Wahrnehmungserfahrung der Betrachterin innerhalb des apparativ-architektonischen Dispositivs. Die scheinbare Eigenbewegung der Dinge ist für sie faszinierend: Während man sich im Alltag durch die Umgebung bewege und diese nur fragmentarisch wahrnehme, immobilisiere das Kino den Betrachter und zeige die Dinge in ihrer eigenen, bewegten Wirklichkeit.27 Im Alltag, so Richardson, sehen wir eine Landschaft von einem Standpunkt aus oder zerlegen sie in Fragmente, wenn wir durch sie hindurchgehen. Der Film erlaube es hingegen der Landschaft, durch uns hindurchzugehen: „The film, by setting the landscape in motion and keeping us still, allows it to walk through us.“28 Hier, wie beim Radfahren, ermöglicht die Wahrnehmung allgegenwärtiger Bewegung die Erfahrung der subjektiven Zentriertheit. Die Eigenschaft, eine solche Wahrnehmungsweise zu evozieren, schreibt Richardson vor allem dem ‚femininen‘, da nicht primär auf Worten und Sinnzusammenhängen basierenden, Medium Stummfilm zu: „And the film, regarded as a medium of communication, [...] in its quality of being nowhere and everywhere, [...] everywhere by reason of its power to evoke, suggest, reflect, express from within its moving parts and in their totality of movement, something of the changeless being at the heart of all becoming, was essentially feminine. In its insistence on contemplation it provided a pathway to reality.“29

Einer der seltenen Verweise Richardsons auf inhaltliche und formale Aspekte des Films bezieht sich auf die Technik der Zeitlupe, und auch hier sind es Körper in Bewegung, die ihre Aufmerksamkeit fesseln. Aufnahmen von Athleten in Zeitlupe, schreibt sie, seien zuweilen grotesk – doch die Zeitlupenaufnahme eines eleganten Hochspringers rechtfertige das

Novel and Film: Dorothy Richardson’s Theory of Art.“ In: Literature – Film Quarterly, Bd. 3, H. 1, 1975, S. 83-90. 27 D. Richardson: „Continuous Performance: Narcissus“ in: Close Up Vol. VIII, No. 3, Sept. 1931, S. 182-185, hier S. 185. 28 Ebd. 29 D. Richardson: „Continuous Performance: The Film Gone Male“, in: Close Up, Bd. IX, Nr. 1, 1932, zitiert nach: James Donald/Anne Friedberg/Laura Marcus (Hg.), Close Up 1927-1933. Cinema and Modernism, London 1998, S. 205-207, hier S. 206. 159

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Kino als kulturelle Errungenschaft, denn allein der Film könne einer solchen Körperbewegung außergewöhnliche Schönheit abgewinnen.30 Im Vergleich zur Rhetorik der futuristischen Manifeste wirken Richardsons Beschreibungen des Kinos und der neuen Verkehrsmittel recht gesetzt. Parallelen finden sich aber durchaus in der Hoffnung auf gesteigertes Erleben: Die Verherrlichung der Technik im „Ersten Futuristischen Manifest“ Marinettis und im „Manifest zur mechanischen Kunst“ von Prampolini, Pannaggi und Paladini ist nicht nur Selbstzweck; die Verschmelzung von Mensch und Technik soll neue und intensivere Erfahrungsdimensionen eröffnen.31 Verbanden die Futuristen solche Steigerungen mit technischer Beschleunigung durch Autos und Flugzeuge, so fokussiert Richardson einen Intensitätsgewinn bei technisch dynamisierten, aber zugleich auch entschleunigten Bewegungsformen – seien sie inszeniert, wie im Kino, oder aktiv ausgeführt, wie beim Radfahren. Gerade diese Bereitschaft, ‚kunstähnliche‘ und quasi-mystische Erfahrungsweisen auch in Lebensbereichen außerhalb von Kunst und etablierter Religion zu verorten, rückt Richardson in die Nähe der europäischen und russischen Avantgarden32 und unterscheidet sie von den Vortizisten. Wyndham Lewis und Ezra Pound setzten auf sehr viel enger definierte, traditionelle Kunstformen als Akkumulatoren von Lebensenergie. Ludwig Seyfarth zufolge begegnete Lewis der „Komplexität der Moderne […] mit einem Rückzug auf die Kunst“33. Pound tut das Kino als letzte Konsequenz einer „passiven und formlosen Eindruckskunst“ 34 im Gefolge des Impressionismus ab, um im Gegenzug die Leistungen der dichterischen Sprache hervorzuheben. Die These einer ausgebliebenen englischen Avantgarde ist also einzuschränken – vor allem dann, wenn man die Avantgardebewegungen

30 D. Richardson: „Slow Motion“, (1928) reprint in: J. Donald/A. Friedberg/L. Marcus (Hg.), Close Up 1927-1933. Cinema and Modernism, London, S. 182-183, hier S. 183. 31 Vgl. F.T. Marinetti: „Manifest des Futurismus“ (1909), in: Hansgeorg Schmidt-Bergmann (Hg.), Futurismus. Geschichte, Ästhetik, Dokumente, Reinbek: 1993, S. 75-80, hier S. 77; Enrico Prampolini/Ivo Pannagi/Vinicio Paladini: „Die mechanische Kunst“, S. 110-112 hier S. 110f. 32 Ich denke an Wassily Kandinsky und seine Suche nach den spirituellen und geistigen Dimensionen moderner künstlerischer Formsprachen und an Kasimir Malewitschs mystische Vorstellungen. 33 Ludwig Seyfarth: „Wyndham Lewis und Marshall McLuhan“, S. 100-102 in: K. Orchard 1996, hier S. 100. 34 Hubertus Gaßner: „Der Vortex – Intensität als Entschleunigung“ in: K. Orchard 1996, S. 22-38, hier S. 30. 160

KÖRPERBEWEGUNG, EPIPHANIEN UND RADFAHREN BEI DOROTHY RICHARDSON

auch als Medienavantgarden begreift und wenn man ihre anthropologischen Implikationen ernst nimmt. Neue Medien (und neue Fortbewegungstechnologien) fungieren bei Richardson durchaus als Anlass und Rahmen für Körpertechniken und Erfahrungsdimensionen, die in einer nur vermeintlich ‚entzauberten‘ Moderne noch immer einen festen Platz haben.35

35 Vgl. Klaus Vondung/K. Ludwig Pfeiffer (Hg.), Jenseits der entzauberten Welt. Naturwissenschaft und Mystik in der modernen Welt. München 2006; speziell zum Vortizismus vgl. Ralf Schnell: „Die Avantgarde als Retrogarde. Aporien der Medienavantgarden“, in: ders. u.a. (Hg.), Medienanthropologie und Medienavantgarde. Ortsbestimmungen und Grenzüberschreitungen, Bielefeld 2005, S. 121-142. 161

DIE

WEIBLICHKEIT D EL V A U X ’

STILL GESTELLTE

PAUL

IM

WERK

IRIS HERMANN für Volker Roloff, den anderen späten Surrealisten

Wenn das Thema des Sammelbandes die Körper in Bewegung sind, dann 1 ist im Werk des Surrealisten Paul Delvaux das Gegenteil der Fall: Bemerkt werden können weibliche Figuren, die wie gemeißelt erscheinen, 2 sie sind still gestellt. Ihnen ist eine wichtige körperliche Eigenschaft ent3 zogen, die Dynamik des sich bewegenden Körpers. Das Stille und Unbewegliche der weiblichen Körper gewinnt bei Delvaux einen sakralen Charakter, fast ausnahmslos sind diese Körper zudem nackt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Delvaux’ Obsession für die nackte Frau keine un1

2

3

Delvaux ist ein sehr später Surrealist, manches in seinem Werk erinnert an de Chirico, auch an René Magritte, eigentlich gar nichts an Dalí. Volker Roloff ist dieser Aufsatz gewidmet, weil seine Begeisterung für das Surrealistische der Kultur so anregend ist, dass sie mich aufmerksam gemacht hat für surrealistische Verfahrensweisen. Ihm sei gedankt für seine ermutigende Freundlichkeit und viele Anregungen in den „Netpher Gesprächen“. Eine ausführliche kunstgeschichtliche Einordnung Delvaux’ findet sich bei Konrad Scheurmann: Paul Delvaux. Diss. Gießen 1976, S. 213-233. Wie Delvaux’ Werk im Kontext der Surrealisten zu betrachten ist, hat Barbara Emerson gezeigt: Paul Delvaux, Antwerpen 1985. Zur Immobilität der Figuren bei Delvaux bemerkt Jacques Sojcher: „Saisi par la stupeur, l’attention contemplative [...], il sera immobilisé, parfois même pétrifie dans son absence aux autres et à lui même.“ J. Sojcher: Paul Delvaux ou la passion puérile, Paris 1991, S. 7-103, hier S. 26. Der Aufsatz geht auf einen Vortrag zurück, den ich anlässlich der Ausstellung „Paul Delvaux: Geheimnis der Frau“ in der Kunsthalle Bielefeld gehalten habe. Der mündliche Gestus ist deshalb an manchen Stellen noch zu spüren. Ich danke Daniel Neugebauer, der mich zur Begegnung mit dem Werk Delvaux’ angeregt hat. Zur Ausstellung ist der folgende Katalog erschienen: Thomas Kellein/Björn Egging (Hg.), Paul Delvaux. Das Geheimnis der Frau. Katalog anlässlich der Ausstellung in der Bielefelder Kunsthalle, Bielefeld, Leipzig 2006. 163

IRIS HERMANN

gewöhnliche ist. Seit der Renaissance ist die liegende oder stehende nackte Schöne das herausragende Sujet der akademischen Malerei, deren 4 Parameter auch im Werk Delvaux’ noch lange Gültigkeit behalten. Begreift man die exorbitante Nacktheit und zurückgezogene Stille als tendenzielle Gegenpole, lassen sich an ihnen viele fruchtbare Fraugestellungen entwickeln, die vor allem gezeigt werden können. Ich gebrauche hier ganz bewusst dieses deiktische, hinweisende Verb ‚zeigen‘, weil es einerseits bescheidener auftritt als das Wort ‚erklären‘, andererseits natürlich viel genauer das bezeichnet, was man mit Bildern machen kann oder, umgekehrt, was Bilder mit uns machen, bzw. mit unserer Beobachtung und Wahrnehmung, mit der Art und Weise, wie wir es gewohnt sind zu sehen. Das, was auf den Bildern Delvaux’ zu sehen ist, erscheint auf eine bemerkenswerte Art geheimnisvoll: Paradoxerweise stellt sein Werk ein Geheimnis aus, lässt es performativ aufscheinen, indem beispielsweise Heterogenes in Gegenüberstellungen gebracht wird und so eine Spannung hervorruft, die man beim Betrachten wieder auflösen möchte. Im Folgenden werde ich verschiedene Bilder Delvaux’ vor allem beschreiben. In dieser Ekphrasis werden die still gestellten Körper im Mittelpunkt stehen. Dabei kommt es mir darauf an, die Bildkomposition als ganze zu zeigen, denn nur so wird deutlich, welchen Stellenwert der ruhige, nackte, weibliche Körper in Delvaux’ Werk hat.

1. Der Blick und das Blicken In vielen Bildern Paul Delvaux’ wird der Blick zu einem eigenen Thema des Bildes. Das geschieht auf verschiedene Art und Weise, am deutlichsten aber dadurch, dass die Figuren auf den Bildern in besonders hervorgehobenen Blickarrangements gezeigt werden, aber auch dadurch, dass Delvaux zumindest ab Mitte der 1930er Jahre seine Bilder mit einem weit reichenden Bildhintergrund versieht, indem er einen immens nach hinten verlagerten Fluchtpunkt kreiert. Das führt dazu, dass man beim Betrachten viel Aufmerksamkeit auf die in den Bildern ausgestellte Per-

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David Scott begreift Delvaux’ Werk als späten Versuch, die akademische Malerei des 19. Jahrhunderts zu rehabilitieren: David Scott: „It is interesting to consider recent efforts to rehabilitate nineteenth-century academic painting, after nearly a century’s eclipse by avant-garde movements, in the context of an artist whose work ows as much to nineteenth-century French and Belgian painting in the academic tradition to J.A.D. Ingres (17861867), for example, or to Antoine Wiertz (1806-65) – as it does to surrealism.“ David Scott: Surrealizing the nude, London 1992, S. 9. 164

DIE STILL GESTELLTE WEIBLICHKEIT IM WERK PAUL DELVAUX’

spektive verwenden muss: Es gibt, salopp ausgedrückt, aus verschiedenen Blickwinkeln allerhand zu sehen. In dem 1936 fertig gestellten Ölbild Femme dans une grotte ist die erste der von mir thematisierten Möglichkeiten, den Blick zu reflektieren, zu sehen. Abbildung 1: Paul Delvaux: Femme dans une grotte

In einem höhlenartigen Schacht, der von einer im Bildhintergrund angedeuteten Steinlandschaft seine, wenn auch nicht die einzige, Beleuchtung erhält, können die Betrachtenden eine sicher wunderschön zu nennende junge Frau sehen, die bis kurz unter die sehr volle Brust in Seitenansicht in der rechten Bildhälfte angesiedelt ist. Ihr leicht welliges Haar ist hinter die Ohren gesteckt, so dass der Blick auf das leicht verschattet konturierte, noch mädchenhaft wirkende Gesicht fällt, in dem rehbraune, übergroße Augen dominieren. Es sind diese weiblichen Augengesichter Delvaux’, Frauengesichter, die er kaum mehr anders zeigen wird, als mit diesen übergroßen, immer braunen Augen, die manches Mal von den Lidern halb bedeckt werden.5 Hier geschieht das andeutungsweise, die Lider erscheinen lediglich mit der Tendenz, sich zu senken, aber das ist in

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T. Kellein schreibt über die Frauenfiguren Delvaux’: „Als Idealfiguren tritt in den 1950er und 1960er Jahren zunehmend ein feenhaftes Wesen auf. Es hat große dunkle Augen, dunkle Brauen, eine kleine, feine Nase, geschwungene, sinnliche Lippen, lange, wellige Haare, große, üppige Brüste, einen schlanken, langen Oberkörper und sehr schmale Hüften, die mädchenhaft wirken, so dass man sagen könnte, dass sich Delvaux selbst durch sein knabenhaftes Äußeres seiner Figur genähert und sich mithin Tam, von seiner Mutter und den übrigen Frauen seines Lebens entfernt hat.“ T. Kellein: „Odysseus und Penelope. Das Geheimnis der Frau bei Delvaux“, in: ders./B. Egging: Paul Delvaux, S. 27. 165

IRIS HERMANN

der halbseitlichen Darstellung weniger zu sehen als vielmehr dort, worauf der Blick der Betrachtenden bald fällt, auf ein Spiegelbild der schönen Mädchenbüste.6 Überraschenderweise hängt (ja hängt er überhaupt, er wirkt eher wie aus der Luft ‚herabgesegelt‘?) in der Höhle ein mit einer Arabeske versehener ovaler Spiegel, der jedoch nicht groß genug ist, um das ganze Gesicht und den so reizvoll erscheinenden Oberkörper zu reflektieren. Bei genauem Hinsehen wird zudem klar, so wie der Blick der Frau fällt, kann er streng genommen nicht erscheinen: Vielmehr ist es so, dass aus dem Spiegel heraus ein Blick auf die eher nach unten als in den Spiegel schauende Figur fällt. Das Motiv des „In-den-Spiegel-Schauens“ hat in der Kunst und Literatur spätestens seit der Romantik eine reiche Tradition begründet und wir wissen auch, dass mit der Spiegelmetaphorik oft selbstreflexive Funktionen verbunden sind, die zurückweisen auf das Kunstwerk selbst, auf den Künstler (und die Künstlerin) viel7 leicht auch. Hier scheint es so zu sein, als würde das Blicken und Schauen generell kommentiert. Wenn es hier nun eine leicht verschobene Reflexion ist, die wir wahrnehmen, dann ist allein darin schon eine interessante Nuancierung des bekannten Elements des Spiegelbildes zu sehen, mehr noch, wenn wir noch einmal hervorheben, dass die, die da so regungslos zu blicken scheint, eher diffus nach unten blickt auf ein nicht genau Sichtbares, dann lenkt die Reflektion des Spiegels aktiv den Blick zurück auf ihre eigentliche Betrachterin.8 Das ist irritierend und es verweist auf eine Grundkonstellation, die uns in Delvaux’ Bildern immer wieder begegnet. Der Blick, der auf Delvaux’ Bilder fällt, wird zurückgeworfen auf sich selbst, aber er fällt verändert zurück, indem er, nicht immer sehr, manchmal auch leicht, irritiert wird. So hyperrealistisch wie Delvaux rein technisch betrachtet malt, fällt es natürlich auf, wenn Bli-

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Zum Spiegelmotiv bei Delvaux siehe A.M. Hammacher/Renilde Hammacher-van der Brande: „Paul Delvaux und seine Thematik“, in: Renilde Hammacher-van der Brande (Hg.), Paul Delvaux, Ausstellungskatalog München 1989, S. 27. Zum selbstreflexiven Gestus des literarischen und kunsttheoretischen Diskurses siehe Werner Huber (Hg.), Self-reflexivity in Literature, Würzburg 2005. Winfried Menninghaus: Unendliche Verdopplung: die frühromantische Grundlegung der Kunsttheorie im Begriff absoluter Selbstreflexion, Frankfurt/Main 1987. Maurice Nadeau sieht das ganz ähnlich, wenn er bemerkt: „Es ist nicht das Spiegelbild, auf dem der gedankenverlorene Blick der jungen Frau ruht, das Spiegelbild betrachtet vielmehr sie. Das Leben ist von den Dingen in ihr Spiegelbild übergegangen.“ M. Nadeau: „Essay von Maurice Nadeau“, in: Alex Grall (Hg.), Die Zeichnungen von Paul Delvaux, Berlin 1968, S. 11-16, hier S.14. 166

DIE STILL GESTELLTE WEIBLICHKEIT IM WERK PAUL DELVAUX’

cke abgelenkt werden oder wenn ein Spiegel nur einen Ausschnitt zu sehen gibt, wie es hier auch geschieht. Was ist mit der Nacktheit oder, genauer formuliert, mit der ihr verbundenen erotischen Spannung? In der vergleichsweise dunklen Höhle ist eine wahre Aphrodite versteckt, sie ist zwar den Blicken der Betrachtenden mehr als ausgesetzt, aber kein Blick fällt von der Steinlandschaft in die Höhle, die Betrachtenden sitzen sozusagen in der Höhle mit drin. Es ist sicher nicht besonders originell darauf hinzuweisen, dass Delvaux den Höhleneingang wie eine Vagina konstruiert hat, aber, und da wird es interessanter, bei der Höhle mit dem ihr eigenen Ausgang und dem Licht, das in sie von außen hereinfällt, ist durchaus auch an Platons berühmtes Höhlengleichnis zu denken: Dort wurden die ursprünglich in der Höhle gefangenen und mit Schattenbildern abgespeisten Höhlenbewohner schrittweise darauf vorbereitet, schlussendlich in das helle Sonnenlicht selbst zu schauen. Der Gang von der Höhle mit ihren Schattenbildern zum Licht außerhalb der Höhle be9 schreibt metaphorisch den Weg des Erkenntnisprozesses. Delvaux verquickt hier also zumindest zwei Traditionen, die einer antiken Theorie der Erkenntnis und des Sehens mit einer sexuell konnotierten traumsymbolischen Sehweise. Surrealistisch daran ist nicht nur diese Verknüpfung, sondern das Bild selbst: Der Spiegel hängt nicht installiert an der Wand, er wirkt, gerade weil er nicht befestigt ist, wie hineinphantasiert. Von ihm schlängelt sich – eine weitere Tradition aufrufend, die der Schlange im Paradies nämlich – eine reich verzierte Borte herab, die wie eine zusätzliche Textur wirkt, aber dennoch gibt sie nichts zu lesen, was die Darstellung selbst nicht preisgibt. In der Höhle können die Betrachtenden etwas sehen, eine begehrenswert erscheinende Frau, die aber gibt den Blick nicht zurück, sondern wird wie aus einer noch anderen Welt von ihrer eigenen Reflektion ‚gestellt‘. All das ist möglich in einer mit unbewussten Konnotationen ausgestatteten Höhle, wohl nicht aber im planen Licht der Sonne, soviel verrät das Bild, gibt aber seine Geschichte nicht preis. Etwa: Wie ist das Mädchen in die Höhle gelangt, wie der Spiegel? Verlässt das Mädchen die Höhle oder kommt jemand hinein, warum verharrt sie so bewegungslos? Der Blick des Mädchens hat keinen bestimmten Ausdruck, ist dabei aber nicht ausdruckslos. Das trifft auf alle Blicke der weiblichen Figuren zu und mit Abstrichen auch auf die männlichen Figuren im Werk Delvaux’.

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Wie differenziert die Metapher der Höhle in Bezug auf die Erkenntnis, die memoria, aber auch das Vergessen und die Flucht vor zu viel Sichtbarkeit zu begreifen ist, zeigt Hans Blumenberg in seinem großen Entwurf Höhlenausgänge, Frankfurt 1989. 167

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Abbildung 2: P. Delvaux: Femme au Miroir

In einem Bild von 1948, Femme au Miroir, nimmt Delvaux das Spiegelbildmotiv noch einmal auf und variiert es. Ort der Begegnung mit dem Spiegel und dem Spiegelbild ist ein großbürgerlich ausgestatteter Raum mit einer rötlichbraunen Vertäfelung an den Wänden (die später auch noch auf anderen Bildern Delvaux’ wiederkehrt), einer Zimmerpflanze als möglichen Symbolik für die domestizierte, aber dennoch etwas üppig erscheinende Natur und vor allem, darauf deutet die Kleidung (!) der weiblichen Figur hin, scheint es sich um ein Interieur des 19. Jahrhunderts zu handeln. Hochgeschlossen mit einer arabesken und in sorgsam angeordneten Fransen endenden Stickerei bis auf die Schulterpartie ist das auf den Boden wallende Gewand, das dunkelblonde Haar ist gebändigt, indem es sorgsam zurückgesteckt ist (und nicht nur hinter das Ohr gelegt wie in Femme dans une grotte). Wenn man das Bild so beschreibt, wie das hier gerade geschieht, dann entspricht das aber nicht der ‚Richtung‘, die unser Blick beim Betrachten dieses Bildes nimmt. Die Betrachtenden schauen zuerst auf das reizvolle Spiegelbild, das auch hier etwas anderes zurückwirft, als in ihn hineinschaut: Die in den Spiegel Schauende wird als Nackte zurückreflektiert, während das mitreflektierte Interieur realistisch ‚korrekt‘ wiedergegeben wird. Nicht nur in der für unbewusste Phantasien prädestinierten Höhle also begegnet die weibliche Figur ihrer reizvollen Körperlichkeit, sondern auch hier, wo der äußere Rahmen eine eher viktorianisch strenge Umgebung andeutet, erblickt die weibliche Figur ihr nacktes Spiegelbild, ohne selbst nackt zu sein. Ist das sicher als eine Steigerung der Spiegelsituation in der Höhle zu sehen, in der der Blick des Spiegels die leicht an ihm vorbei Blickende trifft, so ist aber doch ähnlich, dass der Blick, der aus dem Spiegel zurückgegeben wird, wesentlich lebendiger, auch weiser wirkt, als der hinein geschickte; beide sehen wir aber auch hier nur aus der Halbansicht. Der Spiegel ist hier nicht in das Interieur integriert, auch wenn er von seiner Farbigkeit 168

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und Rahmung perfekt passen könnte. Das ungemein surrealistisch Wirkende an ihm ist aber die Art und Weise, wie er auch hier wiederum nicht aufgehängt ist, sondern – an unsichtbaren Fäden gehalten wie eine Art Kinoleinwand – den Blick auf die eigene Körperlichkeit freigibt. Delvaux stellt so in beiden Bildern das Blicken selbst auf den Prüfstand, indem er dem eigentlich nur reflektieren könnenden Gegenstand eine ganz eigene Blickkompetenz zukommen lässt. Es blickt ein nackter Körper zurück, wo ein bekleideter ihm dargeboten wird und wo gar nicht richtig in ihn hineingeschaut wird wie in Femme dans une grotte, wird der leicht abgelenkte Blick vom Spiegel sozusagen aufmerksam beobachtet: Was zu bemerken ist, ist die Beobachtung der Beobachtung.10 Was sagt uns das über die Blicke, die wir auf die Bilder Delvaux’ richten? Unser Blick wird von ihm gelenkt auf die reizvolle nackte Frau, die in einer statuenhaften unbewegten Makellosigkeit erscheint, die wir an11 sonsten vielleicht bei Ingres finden, und die jedem Abjekten absolut und das heißt auch bis zur Lebensferne fern ist. So zu malen in einer Zeit, in der die künstlerischen Avantgarden längst mit Experimenten, die beispielsweise dem Zufall eine bedeutende Rolle beim Schaffensprozess 12 zuweisen, spielen, verweist auf Delvaux’ tiefe Verwurzelung in Traditionen des 19. Jahrhunderts, an die er aber nicht einfach nur anknüpft. In leichten Verschiebungen deutet sich an, dass Delvaux diese Traditionen aufbricht, indem er sie befragt und sie den Betrachtenden vorführt, wie hier am Beispiel des Blicks gezeigt. Wir schauen also auf das überaus reizvoll dargebotene Objekt und werden dabei aber einer zusätzlichen Dimension gewahr: Wir sehen nämlich, dass diese von uns Angeschaute sich selbst anschaut in einer visuellen Selbstbefragung, deren Charakter zwar gänzlich offen bleibt, die aber eine deutlich autoerotische Komponente hat. Die Frau in Femme au Miroir hält ihre geöffneten Hände vor sich, so als wolle sie etwas geben oder aber als erwarte sie eine Gabe. 10 Konrad Scheurmann unterscheidet drei verschiedene Spiegelfunktionen bei Delvaux: „Er [der Spiegel, I.H.] richtet sich erstens an den Betrachter, den er mit dem Spiegelbild der Frau und gleichzeitig sichtbaren sich spiegelnden Frau die Erkenntnis von der wesenhaften Einheit der Weiblichkeit simultan vermittelt. Zweitens bedeutet das für die Frau vor dem Spiegel, daß mit dem Spiegelbild ihre Erkenntnisfähigkeit [...] symbolhaft veranschaulicht wird. Und drittens wird der Spiegel, der diese Fähigkeit der Frau symbolisiert, gleichzeitig Attribut der Frau in ihrer wesenhaften Fähigkeit.“ K. Scheurmann: Paul Delvaux, S. 241. 11 Vgl. Paul Fierens: Paul Delvaux, in: Cahiers d’ Art. XX-XXI. Jg. 1945/46. Paris 1946, S. 250. 12 Zur Bedeutung des Zufalls im künstlerischen Schaffensprozess siehe Peter Gendolla (Hg.): Die Künste des Zufalls, Frankfurt/Main 1999. 169

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Das ist ein schönes Bild für die Ambivalenz, in der die Begegnung mit dem eigenen erotischen Potenzial hier verläuft. Gibt die Figur in diese Blickbewegung da etwas hinein oder erhält sie etwas von sich? Das ist genau die ambivalente Spiegelsituation, die wir wahrnehmen konnten: Zwar wird normalerwiese in den Spiegel hineingeschaut, aber andererseits, so wie Delvaux es in diesen beiden Bildern inszeniert hat, auch gerade aus ihm heraus. Ähnlich hatte auch schon die in Rückansicht gezeigte Frau in La Fenêtre von 1936 ihre Hände gehalten und es wird deutlich, dass die Haltung der Hände in Delvaux’ Werk ein eigenes Thema wäre. Abbildung 3: P. Delvaux: La Fenêtre

Es ist das Idealbild einer überaus makellosen, aufgerichteten, aber völlig unbeweglich eingefangenen, deshalb auch gar nicht provozierenden Weiblichkeit, das bei Delvaux zur Darstellung gelangt. Die Spiegelungen, in denen dieses Darstellen selbstreflexiv thematisiert wird, deuten in ihrer Surrealität auf ein hohes unbewusstes, aber nicht so einfach zu verstehendes Potenzial hin. Der Blick auf die mit riesigen Augen versehenen Gesichter konfrontiert uns mit einer die Emotionalität abweisenden, aber Gefühle nicht gänzlich verhindernden Ausdrucksmultiplizität. Gerade die Mehrdeutigkeit lässt uns außerordentlichen Raum, nicht nur um den Blick ungehindert schweifen zu lassen, sondern auch, um das Blicken zu interpretieren und zu bemerken, dass der Blick und das Blicken selbst bei Delvaux auf dem Prüfstand stehen.

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2 . D i e K o n ti g u i t ä t d e r B i l d e l e m e n t e In seinen Bildern ordnet Delvaux die Bildelemente auf eine Weise an, die allein schon für Irritation sorgen kann. Sie befinden sich in einem Nebeneinander, das alles andere ist als beziehungsstiftend. Anders ausgedrückt und damit wäre auch die Kapitelüberschrift erklärt: Die einzelnen Bildelemente erscheinen weniger in einem kausalen Beziehungsverhältnis, als vielmehr in einem der Kontiguität, einem Nebeneinander: Bedeutsam ist sicher, was da nebeneinander aufgeführt ist, aber wir können nicht davon ausgehen, dass die Art der Beziehung, die diese Bildelemente eingehen, in einer Geschichte, einer eindeutigen narrativen Struktur mit zufrieden stellenden Erklärungsmustern aufzulösen ist. Jan Hoet spricht in seinem Dialog mit Thomas Kellein in diesem Zusammenhang 13 von der „kühlen Distanz zwischen den Bildelementen.“ Exemplarisch zeigt sich dies in folgendem Bild: Abbildung 4: P. Delvaux: Les Desmoiselles du Téléphone

Den Bildvordergrund des 1951 entstandenen dominieren drei junge Damen, die eigentlich nur die eine sind, die wir schon kennen. Aber, und das ist ein Kontrast zu den bewegungslosen Körpern, die wir schon gesehen haben: Fast scheint es so, als sei diese eine in Bewegung geraten, bietet doch die linke die Ansicht von der rechten Seite, die mittlere (mit einem verschatteten linke Auge) die Ansicht von vorn und die rechte die Ansicht von der linken Seite, ganz so, als könnte man sich die junge Dame in einer drehenden Bewegung denken. Aber, was den Blick sofort schon wieder magisch anzieht und gefangen hält, sind die wie schamlos

13 T. Kellein/B. Egging: Paul Delvaux, S. 39. 171

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entblößten Brüste der mittleren,14 die zwar noch den roten Samtumhang trägt, der auch die anderen ziert, aber den Hut nicht mehr auf dem Kopf hat und, wie gesagt, ihre Brüste zur Schau stellt, so als gäbe es so etwas wie Schamgefühl überhaupt nicht. All das geschieht in einer Bildumgebung, die so gar nicht zum erotischen „Frontalangriff“ der Dame zu passen scheint: Ein mächtig aufragender Telegrafen- oder Strommast, dessen einzelne Drähte das Bild netzartig durchziehen und es so in Partikel der Aufmerksamkeit aufteilen, am rechten Bildrand eine in gräulicher Farbgebung gestaltete Häuserwand, die einen weiteren Strommast trägt und zudem zwei Fahnen, die auf eine Windbewegung hindeuten, die auch darin zum Ausdruck kommt, dass es der linken Dame gelingt, einen mit einer einfachen Arabeske verzierten Drachen steigen zu lassen. An die Häuserfront ist ein Zettel geklebt, von dem das Wort „proclamation“ zwar nicht vollständig zu lesen, aber unschwer zu ergänzen ist. Diese eigenartige Zusammenstellung der Bildelemente gibt Rätsel auf, die man gerne lösen möchte. Wenn wir sagen, was wir sehen, werden diese Rätsel um die Zusammenstellung der Bildelemente nicht gelöst, aber einer Prüfung unterzogen. Die linke Dame weist auf die mittlere mit einer präsentierenden Bewegung hin: Mehr ist ein Blick nicht lenkbar, ja, hier wird nicht nur der Blick gelenkt, sondern diese Lenkung des betrachtenden Blickes performativ ausgestellt. Gleichzeitig erhält die Situation so etwas Spielerisches und tatsächlich umspielt die Gesichter zwar kein Lächeln, aber etwas leicht Mokantes, das aber wie immer bei Delvaux nur angedeutet bleibt. Und spielerisch ist ja auch der verzierte Drache, den die linke Dame steigen lässt und gleich fällt uns ein, wie gefährlich ein solches Kinderspiel in der Nähe von Strommasten ist! Es ist also ein gefährliches Spiel, das sich uns darbietet, ein Spiel mit dem möglichen Stromschlag, ist es aber auch auf die Zurschaustellung der hier ganz natürlich in unterschiedlicher Größe sich zeigenden Brüste übertragbar? Traumsymbolisch betrachtet, könnten die Masten, die Fahnen und auch das Steigenlassen des Drachens als phallische Symbolik gedeutet werden, und dann hätten wir aus dem Durcheinander des Bildes mit Bildvordergrund und dem offensichtlich ‚unpassenden‛ Hintergrund ein Amalgam aus Erotik, Gefahr und Spiel hergestellt. Tatsache bleibt aber, dass Delvaux auf seinem Bild keine so eindeutige Verknüpfung gestiftet hat. Der Bildhintergrund wirkt eher wie eine Art Fototapete, nicht wie ein die Damen aufnehmender Hintergrund. Sie wiederum wirken wie vor ein Bild 14 Suzanne Houbart-Wilken rückt die so entblößten Brüste in die Nähe der Pop-Art: „L’une de ces femmes vues à mis-corps, exhibe telle une image de pop-art des seins ronds et lumineux.“ Suzanne Houbart-Wilken: Catalogue de l’œuvre peint, in: Michel Butor/Jean Clair/Suzanne Houbart-Willken: Delvaux, Brüssel 1975, S. 131-282, hier S. 140. 172

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gestellt, das nur zufällig den Hintergrund für ihr eigenartiges Tun bietet. Auch der Bildtitel und der Text im Bild, die nicht vollständige „proclamation“, geben keine eindeutige Auskunft: Handelt es sich um Telefonistinnen, dann ist zu den Strommasten oder eben Telegraphenmasten eine Beziehung geknüpft, aber warum sind sie dann in Gewänder gehüllt, die eher an weiter zurückliegende Zeiten denken lassen als an die vergleichsweise moderne Szenerie, die Delvaux hier entworfen hat? Diese grübelnden Lösungsversuche verlassen uns auch angesichts anderer Bilder von Delvaux nicht und wir wollen noch weitere Beispiele, die in dieser Hinsicht interessant sind, konsultieren. Abbildung 5: P. Delvaux: Léda

Delvaux nimmt 1943 Bezug auf den Leda-Mythos der griechischen Mythologie: Leda war von dem Göttervater Zeus verführt worden, er hatte sich ihr in Gestalt eines Schwans genähert.15 Die anmutige Leda auf Delvaux’ Bild wendet sich dem Schwan in der Art und Weise zu, dass sie, die kniet, sich zu ihm hinunterbeugt. Ihr gebeugter Hals befindet sich in Korrespondenz zu dem gebeugten Hals des Schwans, der sein Ziel (ihre Vagina), schon in den Blick genommen hat. Das Bild ist in mancher Hinsicht dem der Telefonistinnen ähnlich, es benutzt ähnliche Farben in allerdings unterschiedlicher Nuancierung, aber die Leda hier ist völlig nackt, auch ihre Scham ist reizvoll ausgestellt: Das Schamhaar ist vom Schwan her ausgehend wie herabgewellt gedacht und die Schattierungen der Federn sind ganz ähnlich gestaltet wie die Haare. Den Bildhintergrund bilden für Delvaux typische architektonische Bilder, die aber keinen einheitlichen Bildhintergrund schaffen, sondern Versatzstücke aus verschiedenen Kontexten sind. Einerseits ist eine Art Eisenbahnschuppen mit einem Dach aus Glas und Stahl erkennbar, andererseits eine Kirche 15 Ovid: Metamorphosen Kap. 6, V. 103-128. 173

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und antikisierende Bauten. David Scott meint, Delvaux habe hier an flämische Traditionen der Interieurgestaltung angeknüpft (typisch etwa da16 für das Schwarz-Weiß-Muster des Bodens). Björn Egging hat die Funktion der antiken Architektur in Delvaux’ Werk wie folgt analysiert: „Ganz gleich, ob es sich um die Architektur der Antike, die Florentiner Renaissance, des 19. Jahrhunderts oder – ausnahmsweise – der Inka handelt, die Stadt hat im Bild eine Mehrfachfunktion, die für alle Werke Delvaux’ gilt. Sie strukturiert als ordnendes Prinzip den Bildraum zunächst zu einem ausgewogenen Gefüge. Anders als in der Malerei der Renaissance haben bei Delvaux Architektur und linearperspektivischer Raum dabei nicht die Aufgabe, den Realismus der Darstellung zu steigern, sondern im Gegenteil das Surreale hervorzuheben. Antike Schauplätze sind für Delvaux zeitlose Orte, an denen Menschliches als Kontinuum erscheint. Die stilistischen Abweichungen und historischen Brüche in den Kulissen tragen zu dieser fiktiven Welt bei, in der der Betrachter 17 letztlich keine realen Bezüge herstellen kann.“ Das ganze Bild ist im Bildraum von einem Rahmen umgeben, der von einem zurückgeschlagenen Vorhang begleitet wird. Dieser zurückgeschlagene Vorhang lässt die nackte Leda erst sichtbar werden. Sie wird ebenso ausgestellt wie die Brüste der Telefonistin auf dem Bild, das drei Jahre später diese aus dem Theaterbereich entstammende Metaphorik des zurückgeschlagenen und den Blick freigebenden Samtvorhangs übernimmt. Wir finden Elemente aus verschiedenen zeitlichen Schichten: der antike Mythos von Leda und dem Schwan, den modernen Eisenbahnschuppen mit den das Bild durchteilenden Elektrodrähten, die Kirche, die antikisierenden Bauten, die zudem die bei Delvaux beliebten Glas- und Eisenkonstruktionen aufnehmen. All das dargeboten als Theater. Die Antike findet sich in unserem Zeitalter nur im Versatzstück wieder, der Mythos wird zwar ganz deutlich präsentiert, aber er wird als Theater gezeigt und er hat seinen antiken Hintergrund zum Teil schon verlassen. Delvaux stellt Dinge nebeneinander, die sich bei ihm auffinden lassen wie die Funde bei einer Ausgrabung, die der Gang der Zeiten so und nicht anders angeordnet hat, erklärbar ist diese Anordnung so einfach aber nicht, hingewiesen werden kann nur auf ihre räumliche Kontiguität. Was Delvaux hier und in anderen Bildern vorführt, ist ein Verfahren, das weniger in Beziehung setzt, als die einzelnen Bildelemente in bewusster Heterogenität, aber auch nicht allein durch den Zufall diktiert, einander auszusetzen. Das geschieht in genauem Kalkül. Bewusst wird so, im Durchgang von Bildelementen, die bis zur Antike reichen, dass Delvaux die Betrachtenden mit verschiedenen

16 D. Scott: Surrealizing the nude, S. 91. 17 T. Kellein/B. Egging: Paul Delvaux, S. 80. 174

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Wahrnehmungsschichten konfrontiert. Im Betrachten des Bildes werden diese Schichten abgetragen wie bei einer archäologischen Operation. Walter Benjamin hat solche Vorgänge des Grabens in verschiedenen Bewusstseinsschichten in seinem Denkbild Ausgraben und Erinnern mit dem Gedächtnis verknüpft und die gefundenen Objekte als „Bilder“ begriffen, „welche, losgebrochen aus allen früheren Zusammenhängen, als Kostbarkeiten in den nüchternen Gemächern unserer späten Einsicht – 18 wie Torsi in der Galerie des Sammlers – stehen“. Genau das kann man bei Delvaux betrachten: In seinen Bildern werden Fundstücke ausgestellt, sorgsam wird darauf geachtet, sie in einer bestimmten Weise anzuordnen, aber sie bilden kein Ganzes mehr, allegorisieren jedoch ein Verfahren, das dem unbewusst Aufgefundenen einen Platz wie auf einer Bühne zuweist, wo aus den Requisiten alter Schauspiele neue ermöglicht schei19 nen.

3. Die Melancholie der still gestellten Nacktheit Abbildung 6: P. Delvaux: L’éloge de la Mélancolie

1948 malt Paul Delvaux dieses großartige und kryptische Gemälde, das so groß wie enigmatisch erscheint.20 Es hat wenig gemein mit Dürers be-

18 Walter Benjamin: Ausgraben und Erinnern, in: ders., Gesammelte Schriften. Bd. 4.1, Denkbilder, Frankfurt/Main 1972, S. 400-401, hier S. 400. 19 Zu surrealistischen Verfahren in der Kunst siehe Uta Felten/Volker Roloff (Hg.), Spielformen der Intermedialität im spanischen und lateinamerikanischen Surrealismus. Bielefeld 2004. 20 Zur Entstehungsgeschichte des Gemäldes siehe J. Sojcher: Paul Delvaux ou la passion puérile, S. 190. 175

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rühmter Melencolia (s. Abb. 7), wenn aber doch, dann ist es die Fülle an Einzelheiten, die zu interpretieren das Gemälde geradezu auffordert. Abbildung 7: Albrecht Dürer: Melencolia

Sein Titel wird im Bild genannt, er steht auf einem an eine Wand gehefteten Zettel im Bildhintergrund. Delvaux bezieht sich damit auf eine lange Tradition der Verbindung von Kunst und Melancholie, aber er hat das Thema nur im wahrsten Sinne des Wortes angeschlagen, er füllt es mit eigenen Bildinhalten. Thomas Kellein hat schon darauf hingewiesen, dass auch schon die Bilder aus den 1930er Jahren durchaus als solche der Melancholie zu sehen sind und gezeigt, wie sich aus dieser Grundkonstellation der ganze weibliche „Rollenkosmos“ von der Penelope bis zur 21 Jungfrau Maria“ bei Delvaux ergibt. Im Bildvordergrund, kunstvoll verhüllt und enthüllt zugleich, befindet sich eine liegende Schönheit, den Oberkörper halb aufgestützt, den Blick unbeteiligt geradeaus gerichtet. Ziseliert ist ein aufwändig gestaltetes Halsgeschmeide. Die dunkelhaarige Frau am linken Bildrand ist von einer arabesk erscheinenden Borte umgeben, auch dort trägt die Verhüllung eher zu ihrer Enthüllung bei: Die Gesichter der beiden Frauen, die einander gegenübergesetzt sind, sind zwar einander zugewandt, aber der Blick geht aneinander vorbei. Beide sind sehr unterschiedlich gestaltet: blond/dunkelhaarig, üppig/schlank, liegend/stehend. Die Umgebung, in die sie gestellt sind, entspricht den kostbaren Details und ist für Delvaux vergleichsweise homogen; sie gleicht der Eingangshalle einer großbürgerlichen Villa und weist doch einige merkwürdige Besonderheiten auf. In der Mitte des Bildes im Bildhintergrund ist eine männliche Statue zu sehen, ihm zur Seite hängen zwei Bilderrahmen, die sich gegenseitig konkurrent überlappen, aber leer geblieben sind. Alle Figuren auf dem Bild richten aber in ihre Richtung 21 T. Kellein/B. Egging: Paul Delvaux, S. 23. 176

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den Blick, ohne sie jedoch genau zu fixieren. In den Bilderrahmen wird nichts gezeigt, vielleicht ist die Zeit des Zeigens auf diesem Bild vorbei. Die Männerfiguren, die ansonsten sehr oft in bürgerlich korrekten schwarzen Anzügen die Bilder Delvaux’ im Kontrast zu den unbekleideten Frauenfiguren bevölkern, sind hier einer Statue gewichen, die zwar zu Stein erstarrt, dennoch aber durchaus ein erotisches Moment umgibt. Das Geschlecht wird gezeigt, das mitgegebene Schwert zeigt die Aufrichtung, die der Penis schicklicherweise nicht zeigen darf. In diesem Bild scheint Delvaux noch einmal all das zu diskutieren, was seinen erotischen Diskurs in den 1930er und 1940er Jahren bestimmt hatte: Reizvoll, aber auch wie erstarrt erscheinende Frauenfiguren, deren Erotik sozusagen eingefroren ist, Männerfiguren, die, kaum berührt von deren Anziehungskraft ihren Tagesgeschäften nachgehen, Zeitung lesen, Wis-senschaft betreiben, Gesteine erforschen usw. Hier ist nun eine Situation 22 entworfen, die diesen Komplex unerfüllter, aber immer wieder aufgerufener Erotik zuspitzt. Die Figuren sind vergleichsweise weit voneinander entfernt, wenn sie sich einmal aufeinander bezogen haben, ist das womöglich eine Weile her. Was zurückbleibt, ist eine melancholisch erscheinende Grundsituation, die nicht mehr Dürers Schwarzgalligkeit meint, sondern subtiler das „animal triste“ herbeizitiert, ohne genau zu wissen, wie weit die Schatten reichen, die das Bild so kunstvoll abdämmen und andererseits auch die Stellen, die nicht verschattet sind, so deutlich aufleuchten lassen. Das Erotische bei Delvaux ist alles andere als dionysisch rauschhaft gedacht, es ist in einer Zurückgenommenheit präsent, die keine eindeutige Aussage über seine wahre Qualität zulässt. Wenn Delvaux das Bild hier „Lob der Melancholie“ nennt, dann fordert er dazu auf, diese melancholische Grundsignatur nicht abwertend zu betrachten, sondern als das, was der Fall ist. Die Schöne thront liegend, entspannt und vielleicht auch ein bisschen gelangweilt auf ihrem Sofa. Es passiert ihr nichts, sie möchte nirgendwohin hin, sie ruht in sich. Ein wenig anders ist ein Bild zu sehen, dass 1967 noch einmal das Motiv der liegenden Schönen aufnimmt:

22 Das trifft aber nicht auf alle Bilder zu, es gibt durchaus Bilder mit offenen Liebesspielen, wie zum Beispiel „La joie de vivre“ von 1938. 177

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Abbildung 8: P. Delvaux: Le canapé bleu

Die Liegende findet sich enthüllter vor, liegt weniger entspannt, als vielmehr preisgegeben auf dem blauen Sofa. Von der Diagnole eines Schattens durchzogen, liegt die Ikonographie der im fahlen Licht Liegenden noch einmal verdoppelt vor in einem Bild, das im Bildhintergrund noch gerade so zu sehen ist. Hier wird doch noch einmal „ausgestellt“, der Blick auf die Liegende selbstreflexiv thematisiert. Eine unter einem braunroten Umhang nicht verborgene, sondern entborgene Frau, der Liegenden aber nicht zugewandt, macht sich an einem Kerzenlicht zu schaffen. Das Interieur ist im Vergleich zum Melancholiebild wesentlich einfacher und, was mir noch wichtiger erscheint, es ist zur Seite hin offener, die Schutzlosigkeit der so drapierten Figur auf dem Sofa dadurch noch deutlicher. Die männliche Präsenz ist einerseits noch weiter reduziert, andererseits doch gesteigert, denn es nähert sich aus dem linken Bildhintergrund ein Mann auf dem Fahrrad. So hell angestrahlt, wie die Figur daliegt, wird sie aus seiner Perspektive mehr als sichtbar sein, der Zugang zu ihr wäre denkbar einfach, denn es existiert dort keine Wand, noch nicht einmal eine Scheibe. Die Figur auf dem Sofa hat die Augen niedergeschlagen und das Gesicht zeigt, deutlicher als sonst bei Delvaux, einen Ausdruck ängstlicher Erwartung, vielleicht sogar der Hingabe. Beim Betrachten wird die Trauer über eine möglicherweise aussichtslose Situation evident. Aber, je länger man dieses Bild anschaut, desto weniger kann man sich seiner Interpretation sicher sein. Wenn man das Gesicht der Liegenden lange betrachtet, weiß man am Schluss kaum noch, wie genau der Gesichtsausdruck einzuschätzen ist. Gerade darin, so denke ich, besteht aber eine Besonderheit der Bilder Delvaux’. Selbst dort, wo ein bestimmter Gesichtsausdruck beim ersten Sehen deutlich aufscheint, scheint er sich bei längerer Betrachtung zu verflüchtigen, ja zu verschwinden. Es ist nicht zu viel gesagt, wenn man die Kunst Delvaux’

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auch als eine Kunst des Ephemeren betrachtet. Das, was zu sehen ist, kann auftauchen und es kann sich wieder verflüchtigen. Das Sehen, das sich auf die Bilder Delvaux’ richtet, kann sich nie im sicheren Besitz eines Seheindrucks wähnen. Das aber, was sich zu entziehen scheint, das Unsichtbare der Bilder Delvaux’ ist Gegenstand des nächsten Punktes.

4. Geheimnisvolle Unsichtbarkeit Unter der Vielfalt, die Delvaux in seinen Bildern zu sehen gibt, angesichts der obsessiven, erstarrten, bewegungslosen Nacktheit der Figuren, bleibt ein Charakteristikum seiner Bilder zunächst verborgen. Es ist die Tatsache, dass Dinge, die auf den Bildern zu erwarten wären, unsichtbar bleiben. Es ist dies eine Unsichtbarkeit, die das so überaus Sichtbare nicht verneint, sondern mit ihm so verbunden ist, wie Merleau-Ponty es deutlich gemacht hat: „Wenn ich nun sage, jedes Sichtbare sei unsichtbar, die Wahrnehmung sei Nichtwahrnehmung, […] Sehen bedeute immer mehr sehen, als man sieht, – so darf man dies nicht im Sinne einer Widersprüchlichkeit verstehen – Man darf nicht denken, daß ich einem Sichtbaren, das vollkommen als Ansich definiert wird, ein Nicht-Sichtbares hinzufüge. […]. – Es gilt zu verstehen, daß „das 24 Sichtbare selbst eine Nicht-Sichtbarkeit enthält.“

Paul Delvaux hat in einem nur in der Bielefelder Ausstellung zu sehenden Interview diese Sichtweise Merleau-Pontys bekräftigt, wenn er dort ausführt: „Wenn ich die Nacht male, dann ist alles sichtbar, und trotzdem ist Nacht.“ Delvaux bekräftigt die Nachtseite der Sichtbarkeit, das Blicken noch dort, wo eigentlich Unsichtbarkeit herrscht oder eingeschränkt ist: in der Dämmerung, im Dunklen, im Schattenreich seiner Bilder. Immer ausgeleuchtet sind aber, zumindest auf den späteren Bildern, die nackten Frauenkörper. Sie sind oft einfach nur dazu da, dem Bild auch Helligkeit kontrastiv mitzugeben, so Delvaux in demselben Interview.

23 Zu Phänomenen des Ephemeren siehe Ralf Schnell/Georg Stanitzek (Hg.), Ephemeres. Mediale Innovationen 1900/2000. Bielefeld 2005. 24 Maurice Merleau-Ponty: Das Sichtbare und das Unsichtbare, übers. von R. Guiliani/B. Waldenfels, München 1986, S. 311f. 179

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Abbildung 9: P. Delvaux: Le paravent

Auf dem 1935 gemalten Bild sehen wir eine nackte Frau mit ratlos, aber auf jeden Fall nicht anmutig, in die Hüfte gestützten Armen, einen merkwürdigen Schatten werfen, ihr Schatten wirkt dabei fast wie ein Spiegelbild.25 Verborgen hinter einem Paravent, unserem Blick entzogen, steht eine Männerfigur, die sich abgewandt hat. Die Trennung und Nichtbezugnahme der Figuren ist evident, Edvard Hopper wird dieses „Aneinandervorbei“ später zum Exzess treiben. Die weibliche Figur vereint das meiste Licht auf ihrem Körper, der jetzt (1935) noch nicht so vollkommen erscheint, nicht so nuanciert, wie die späteren Frauenfiguren. Ansonsten dominiert ein Graugrün und ein Braun, das übrigens, und das erscheint hier ganz passend, schon in der mittelalterlichen Farbsymbolik 26 für das Schweigen steht. Der Frauenfigur zu Füßen befindet sich vertikal ein nur durch wenige weiße Spitzendetails aufgehelltes grünliches Gewand, das, und das ist das Erstaunliche und eminent Surreale des Bildes, nicht etwa daliegt, sondern so erscheint, als befände sich noch ein Körper in ihm. Die Ratlosigkeit der Entkleideten ist vielleicht hiermit verbunden, das Kleid bewahrt die Form des Körpers auf, der aber nicht 25 J. Sojcher bemerkt dazu: „Elle semble contempler sans le voir son rapt d’identité. Car c’est peut-être bien le mannequin ou la robe debout qui sont plus présents qu’elle. L’hésitation, l’ambiguïté au moins demeure, sensible et visible, entre le vivant et l’inerte, la femme nue, immobile. Les bras le long du corps, le regard absent et le mannequin-icône.“ J. Sojcher: Paul Delvaux ou la passion puérile, S. 124. 26 Siehe dazu Uwe Ruberg: Beredtes Schweigen in lehrhafter und erzählender Deutscher Literatur des Mittelalters. München 1978, S. 79, Anm. 20. Des Weiteren auch Volker Roloff: Reden und Schweigen. Zur Tradition und Gestaltung eines mittelalterlichen Themas in der französischen Literatur, München 1973, S. 42, Anm. 111. Für den Hinweis danke ich Meinolf Schumacher. 180

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zurückfindet in seine Hülle.27 Und so ist es fortan auf Delvaux’ Bildern. Die Frauen bleiben in den allermeisten Fällen enthüllt, aber und das ist sozusagen die Kehrseite zum hier gezeigten „Körperumrisskleid“: Unsichtbar bleibt auch in der schonungslosesten Nacktheit eine Hülle der Figuren vorhanden. Selbst die Nackten entkleiden sich zwar, unsichtbar bleibt aber ihr Inneres, bleibt das, was zu fühlen wäre angesichts solch reizvoller Aus- und Ansichten, die aber vor allem eines sehen lassen: ihre Unbeweglichkeit. Die männlichen Figuren ergreifen die Gelegenheit nicht, die weiblichen Figuren sind in einem erotisch aufgeladenen Demonstrieren ihrer Reize erstarrt, das völlig ohne Begehren bleibt. Das Begehren bleibt unsichtbar, es ist per se nicht ausgeschaltet, aber es ist verborgen, nirgendwo erscheint es auf den Bildern Delvaux’. Unentscheidbar ist das, was unsichtbar und nicht gezeigt bleibt. Wo nichts oder kaum mehr etwas verhüllt bleibt, wird auch nicht mehr ersehnt, etwas zu sehen. Der Blick gibt so seine erotische Funktion auf oder doch zumindest beinahe. Diese Vermutung ist aber noch einmal differenzierend zu prüfen an einem späten Bild Delvaux’ von 1972. Dort sind die Frauenfiguren inzwischen wieder bekleidet und es ist zu fragen, wie sich der erotische Komplex angesichts der Verhülltheit ihrer Körperlichkeit verhält.

27 In seiner Bochumer Inszenierung (1982) der Hermannsschlacht Heinrich von Kleists hat Claus Peymann in der sogenannten Hally-Episode die vergewaltigte, getötete und dann in fünfzehn Stücke geteilte Hally auf der Bühne so repräsentiert, dass er ihre Kleider auf dem Boden ausgelegt und sie an fünfzehn Fäden auf der Bühne befestigt hat. Die weißen Kleider Hallys ersetzen den geschundenen, ermordeten Körper, der in seiner Zerstückelung auf der Bühne nicht mehr zeigbar ist. Zur Peymannschen Inszenierung der Hermannsschlacht s. Klaus Kanzog: „Codierung – Umcodierung. Zu Heinrich von Kleists „Hermannsschlacht“ in der Bühnen- und Filmrealisation Claus Peymanns“, in: Kleistjahrbuch 2001, S. 267-277. Iris Hermann: „Theater ist schöner als Krieg. Kleists Hermannsschlacht auf der Bühne“. Erscheint in: Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.), Hermannsschlachten, Bielefeld 2009.

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Abbildung 10: P. Delvaux: Les Vestales

Paul Delvaux gibt hier eine Frauenfigur zu sehen, die ein graues, hoch geschlossenes und perfekt passendes Seidenkleid trägt. Die Hände im Schoß gefaltet, lässt sie sich ergeben von einer anderen Frau von einem mit Gold verzierten Rahmen umgeben. Sie wird ausgestellt, ja zur Darstellung ihrer selbst, eine Ikone unschuldig, ja fast gemartert dreinblickender Weiblichkeit. Sie wirft einen Schatten, aber der ist nicht lang genug, um den Mann noch zu erreichen, der in einem ganz symmetrisch in der Bildmitte des Hintergrunds angeordneten Haus den Betrachtenden den Rücken zukehrt und davongeht: auf das Meer zu, das durch das Haus, das kein Interieur, sondern nur eine Art potemkinsche Fassade aufweist, verheißungsvoll durchschimmert. Auf der rechten Bildhälfte scheinen zwei in Blau gekleidete Frauen den ganzen Vorgang mit leiser Heiterkeit zu überwachen, während die in Grau gekleidete Frau mit nicht abzuweisender Melancholie durch den Rahmen wie in einen Spiegel blickt. Anders als die exorbitante Nacktheit der früheren Frauenfiguren legen diese bekleideten es nahe, das Spätwerk Delvaux’ mit einem Text zu vergleichen, der auf den ersten Blick eine ganz andere Erotik aufweist als die meisten der anderen Bilder. Die Rede ist von Adalberts Stifters Nachsommer, der 1857 erschienen ist, im selben Jahr wie Flauberts Madame Bovary und auch Baudelaires Les fleurs du Mal. Im Nachsommer des Österreichers Stifter wird eine Beziehung der Geschlechter entworfen, die von äußerster Vorsicht und Zurückhaltung geprägt ist, eine Annäherung der Figuren des Romans Heinrich und Natalie geschieht nur sehr allmählich. Die Innenwelt der Figuren bleibt so gut wie ausgespart, stattdessen wird die Welt der Dinge und des Interieurs in einer Detailfülle beschrieben, die an Delvaux’ arabeske und übergenaue Ausgestaltung seiner Interieurs denken lässt. Das soll an einem längeren Zitat verdeutlicht werden, das auch deshalb interessant für unseren Zusammenhang erscheint, weil es ein Blickarrangement entwirft: 182

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„Da ich [gemeint ist Heinrich, I.H.] gegen das Ende des Ganges und in die Nähe der Treppe gekommen war, sah ich eine Thür offen stehen, von der ich vermuthete, daß sie zu den Zimmern der Frauen führen müsse. War die Thür offen, weil man fortgehen wollte oder weil man eben gekommen war? Oder hatte eine Dienerin in der Eile offen gelassen, oder war irgend ein anderer Grund? Ich zauderte, ob ich vorbeigehen sollte; allein, da ich wußte, daß die Thür doch nur in einen Vorsaal ging und da die Treppe schon so nahe war, die mich ins Freie führen sollte, so beschloß ich, vorbei zu gehen und meine Schritte zu beschleunigen. Ich schritt auf dem weichen Teppiche fort und trat nur behutsamer auf. Da ich an der Tür angekommen war, sah ich hinein. Was ich vermuthet hatte, bestätigte sich, die Tür ging in einen Vorsaal. Derselbe war nur klein und mit gewöhnlichen Geräten versehen. Aber nicht blos in den Vorsaal konnte ich blicken, sondern auch in ein weiteres Zimmer, das mit einer großen Glasthür an den Vorsaal stieß, welche Glasthür noch überdies halb geöffnet war. In diesem Zimmer aber stand Natalie. An den Wänden hinter ihr erhoben sich edle mittelalterliche Schreine. Sie stand fast mitten in dem Gemache vor einem Tische, auf welchem zwei Zithern lagen und von welchem ein sehr reicher alterthümlicher Teppich nieder hing. Sie war vollständig gleichsam wie zum Ausgehen gekleidet, nur hatte sie keinen Hut auf dem Haupte. Ihre schönen Locken waren auf dem Hinterhaupte geordnet und wurden von einem Bande oder etwas Ähnlichem getragen. Das Kleid reichte wie gewöhnlich bis zu dem Halse und schloß dort ohne irgend einer fremden Zuthat. Es war wieder von lichtem, grauem Seidenstoffe, hatte aber sehr feine, stark rothe Streifen. Es schloß die Hüften sehr genau und ging dann in reichen Falten bis auf den Fußboden nieder. Die Ärmel waren enge, reichten bis zum Handgelenke und hatten an diesem wie am Oberarme dunkle Querstreifen, die wie ein Armband schlossen. Natalie stand ganz aufrecht, ja der Oberkörper war sogar ein wenig zurückgebogen. Der linke Arm war ausgestreckt, und stützte sich mittelst eines aufrecht stehenden Buches, auf das sie die Hand legte, auf das Tischchen. Die rechte Hand lag leicht auf dem linken Unterarm. Das unbeschreiblich schöne Angesicht war in Ruhe, als hätten die Augen, die jetzt von den Lidern bedeckt waren, sich gesenkt und sie dächte nach. Eine solche reine, feine Geistigkeit war in ihren Zügen, wie ich sie an ihr, die immer die tiefste Seele aussprach, doch nie gesehen hatte. Ich verstand auch, was die Gestalt sprach, ich hörte gleichsam ihre inneren Worte: ‚Es ist nun eingetreten!‘ Sie hatte mich nicht kommen gehört, weil der Teppich den Fußboden des Ganges bedeckte und sie konnte mich nicht sehen, weil ihr Angesicht gegen Süden gerichtet war. Ich beobachtete nur zwei Augenblicke ihre sinnende Stellung und ging dann leise vorüber und die Treppe hinunter.“28

Diese Stelle kann nicht reduziert werden auf den simplen Satz: Heinrich erblickt Natalie. Heinrich geht einen Gang zu Ende (wenige Seiten zuvor 28 Adalbert Stifter: Werke und Briefe, Historisch-Kritische Gesamtausgabe, Bd. 4.3, hg. Alfred Doppler/Wolfgang Frühwald, Stuttgart 2000, S. 13f. 183

IRIS HERMANN

war es zum entscheidenden Liebesgeständnis zwischen Natalie und Heinrich gekommen), aber die Frage, ob die Tür zu den Frauengemächern offen steht, ist für ihn keineswegs damit beantwortet. Er beschließt zwar, nicht hineinzugehen, aber er wagt einen langen Blick hinein. Der Blick geht in den Vorsaal und wird von dort weiter gelenkt, zum einen durch eine ohnehin den Blick gewährende „Glasthür“, andererseits aber auch an der halb offen stehenden Tür vorbei in das Zimmers Natalies, in 29 deren Mitte sie sich (fast) befindet. Der Blick fällt also keineswegs ungehindert auf die Geliebte, sondern wird durch eine umständliche räumliche Anordnung sozusagen „hindurchgeschickt“. Heinrich guckt nicht in das Zimmer Natalies, er „erkennt“ sie nicht einfach, sondern späht nur ganz vorsichtig, aber, er erblickt sie dann doch. Dabei spielt der Erzähler durchaus mit einer möglichen LeserInnenerwartung, die sich von dem Blick Heinrichs vielleicht etwas mehr „erhofft“ als eine eben nicht nur „vollständig bekleidet“[e] Natalie, wie sorgsam bemerkt wird, und die zudem noch ein bis zum Hals geschlossenes Kleid trägt, das keinen Blick auf ihre darunter liegende Gestalt freigibt oder auch nur erahnen lässt. Eine Liebesbegegnung wird hier sorgsam verhindert. An dieser Stelle ist Weiblichkeit ‚ausgestellt‛, wie unter Glas, die Glastür hat sich etwas geöffnet, aber zu betreten wagt Heinrich diesen Raum nicht. Hier bleibt eine Verschlossenheit vorhanden, die sich ein wenig zu öffnen vermag, aber dann doch dazu führt, dass zwar geschaut, aber nicht gehandelt wird. Das Bild Delvaux’ Les Vestales wirkt wie die Fortführung von Stifters Nachsommer. In einer strengen Bildkomposition, die dem starren Ordnungsdenken ähnelt, das Stifter in seinem Buch entfaltet, wird noch einmal die Frau in ihrem Ausstellungscharakter gezeigt, der in bürgerlich neutralem Schwarz gekleidete Mann hat sich entfernt, geht auf das Haus zu, das in seiner Schönheit keinen bergenden Innenraum zu bieten vermag, aber auf das offene Meer verweist. Der Frau bleibt nur die dekorative Rahmung, vorgenommen von einer Geschlechtsgenossin, die den Rahmen passgenau vor die Blonde, Blasse, Graue, starr aufgerichtete Gestalt hält. Die Begegnung der Geschlechter ist vorbei, vielleicht hat sie auch nie stattgefunden, Mann und Frau sind weit entfernt, der Mann geht auf das Offene zu, die Frau verharrt bewegungslos in ihrer rein dekorativen Funktion. Beide wenden einander die Rücken zu. Dem Bild ist eine Melancholie eingeschrieben, die davon kündet, dass eine Liebe nicht oder nicht mehr da ist. Im letzten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts ist 29 Das Prinzip der Mitte hat im Nachsommer eine besondere Bedeutung. Darauf hat Herbert Seidler hingewiesen in: „Die Bedeutung der Mitte in Stifters ‚Nachsommer‘“, in: ders.: Studien zu Grillparzer und Stifter, Wien 1970, S. 185-217. 184

DIE STILL GESTELLTE WEIBLICHKEIT IM WERK PAUL DELVAUX’

die Stifter’sche Häuslichkeit entlarvt als Schattenbild in der an Platons berühmte ‚Schwester‘ erinnernden Höhle, deren Ausgang Paul Delvaux an den oberen linken Bildrand platziert hat. Ein Felsdach, seine Konturen bilden in der Bildmitte einen zusätzlichen Rahmen, kann erkannt werden als Umgebung einer Höhle. So wird das Bild als Phantasie im Konjunktiv, als Vorstellung aus dem Reservoir des Unbewussten gezeigt. Die bloße Möglichkeit eines Bildes wird offenbar, das Bild wird als Schattenbild wie in Platons Höhlengleichnis inszeniert. Vielleicht ist ein Ausgang ins Offene noch denkbar, vielleicht kann die graue Frau noch einmal aus ihrem Rahmen treten, aber das ist nicht gewiss. Und noch etwas wird hier reinszeniert. Das Seelische ist in einen „verschwiegenen Hohlraum“30 entrückt, vorstellbar ist es so, wie Paul Delvaux es ein Jahrhundert später als Stifter traumartig surreal zu sehen gibt. Bei aller Nacktheit in seinem Gesamtwerk, wird hier, am wieder bekleideten und bei sich bleibenden Körper sichtbar, dass der wie eine Statue betrachtet wird: Das Fleisch ist wie Marmor, die stark verhüllenden Kleider in diesem Bild, die auch in Stifters Roman einen Platz finden könnten, unterstreichen dies. Für eine Erotik, die es wagen würde, manifest sexuell sich zu artikulieren, ist hier kein Raum und wenn, dann am ehesten noch dort, wo Statuen wie Körper aus Fleisch erscheinen. Mit Delvaux’ obsessiv vorgetragener Nacktheit geht also eher eine Entsexualisierung einher. Wer so viel sieht, dessen Blick wird zwar im Übermaß als erotischer Blick entlarvt, aber das Begehren prallt an ihm zusehends ab, stellt sich still.31 In diesem Sinne verbindet sich mit der Nacktheit der Leiber bei Delvaux eine Sublimierung. Aber auch das muss nicht das letzte Wort bleiben, das über Delvaux’ vollkommene Körper zu sagen ist. Das Sinnliche ist nicht ganz suspendiert, es gewinnt einen Eigenwert, der weit über das hinausgeht, was am immergleichen Körper zu sehen ist. Alle Frauenkörper werden immens ausgeleuchtet, wie angestrahlt scheinen sie vor ihrer Umgebung auratisch auf und verharren so: ausgestellt, still gestellt, bewegungslos.32

30 Maria-Ursula Lindau: Stifters ‚Nachsommer‘. Ein Roman der verhaltenen Rührung, Bern 1974, S. 41. 31 Vom „Schauspiel keuscher Erotik“ spricht M. Nadeau: „Essay von Maurice Nadeau“, S. 15. 32 A.M. Hammacher/R. Hammacher-van der Brande sprechen von der „unberührten, unberührbaren, in sich selbst verlorenen Schönheit.“ A.M. Hammacher/R. Hammacher-van der Brande: „Paul Delvaux und seine Thematik“, S. 25. K. Scheurmann sieht gerade in der mangelnden Beweglichkeit der Figuren, in ihrem Stillstehen den Grund für die mangelnde erotische Ausstrahlung der Figuren. Vgl. K. Scheurmann: Paul Delvaux, S. 208. 185

GUSTAVE LE BON ALS HISTORIOGRAF DER „M A S S E N I N B EW E G U N G “, O D E R : D E R A U F S T I EG DER FOULES ZUM GESELLSCHAFTLICHEN

LEITMOTIV DANIELA KNEISSL R ac e , p e u p l e u n d f o u le a l s S c h l ü s s e l b e g r i f f e im Werk Le Bons Als 1895 das schmale Werk Psychologie des foules von Gustave Le Bon erschien, begann eine neue Ära. Nicht unbedingt die ère des foules, die er in der Einleitung des Buches ankündigte, sehr wohl aber eine neue Ära in der Geschichte des pseudowissenschaftlichen Bestsellers: Denn Le Bon, der schon mit seinen rassenpsychologischen Werken zu einem der meistgelesenen Sachbuchautoren Frankreichs geworden war1, sollte mit der Psychologie des foules tatsächlich eines der bestverkauften Wissenschaftsbücher aller Zeiten geschrieben haben.2 Sein Einfluss war beträchtlich: Für Sigmund Freund wurde die Psychologie des foules zum Ausgangspunkt seiner 1921 erschienenen Massenpsychologie.3 Hitler las den „Macchiavelli der Moderne“ ebenso wie De Gaulle, und der amerikanische Präsident Theodore Roosevelt. Letzterer stattete dem Autor sogar einmal einen Besuch ab.4 Offenbar traf Le Bon mit seinem Werk und seinem Denken den Nerv einer Epoche, deren gewaltige soziale Umwälzungen im steten Zusammenhang mit den unberechenbaren Kräften der Massen gesehen wurden, ebenso wie mit dem Wunsch danach, diese zu beherrschen. In den letzten Jahren geriet Le Bon jedoch eher im 1 2 3

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Marco Schütz: Rassenideologien in der Sozialwissenschaft, Bern, Berlin 1994, S. 106. Robert A. Nye: The Origins of Crowd Psychology. Gustave Le Bon and the Crisis of Mass Democracy in the Third Republic, London 1975, S. 3. Peter Stadler: „Masse und Macht im 19. und 20. Jahrhundert“, in: Ulrich Lappenküper (Hg.), Masse und Macht im 19. und 20. Jahrhundert. Studien zu Schlüsselbegriffen unserer Zeit, München 2003, S. 16. Stephan Günzel: „Der Begriff der Masse in Philosophie und Kulturtheorie (II)“, in: Dialektik. Zeitschrift für Kulturphilosophie, 2005/1, S. 4. 187

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Rahmen des Interesses am Rassenbegriff des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts ins Blickfeld: „Wenn es überhaupt in Le Bons vielfältiger Gedankenwelt einen zentralen Begriff gibt, so war dies nicht die Masse, sondern die Rasse.“5 Zweifellos stellt Le Bons von strikter Hierarchie geprägte Rassentheorie den Dreh- und Angelpunkt auch seiner von autokratischem und anti-demokratischem Denken durchtränkten Thesen zur sozialen Psychologie dar. 1841 als Sohn einer Beamtenfamilie in Nogent-Le-Rotrou geboren, schloss er 1866 sein Medizinstudium mit der Doktorarbeit ab, ohne jedoch jemals als praktischer Arzt tätig zu werden. Doch seinen Werken, die er stets als le docteur Gustave Le Bon veröffentlichte, verlieh dies eine besondere Aura. Die zahlreichen Bücher wollten einerseits ein möglichst breites, wenn auch gebildetes Publikum ansprechen, erhoben aber gleichzeitig den Anspruch, neueste wissenschaftliche Erkenntnisse nicht nur zugänglich zu machen, sondern selbst zu erarbeiten. Der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten: Schon im Laufe der 1870er Jahre konnte er von den Einkünften seiner Werke leben.6 Die erhoffte Anerkennung von Seiten der Wissenschaft blieb ihm jedoch verwehrt. 1879 trat Le Bon der Société d’anthropologie de Paris bei, die ihm ein Jahr später den prix Godard für sein Mémoire über den Zusammenhang zwischen Gehirnvolumen und Intelligenz verlieh. 1888 aber kam es zum Bruch, da Le Bon sich mit seinen soziologischen Ansätzen nicht ernst genommen fühlte.7 Er war fest davon überzeugt, dass die Klassifikation der Rassen allein durch die Erforschung von Mentalitäten erfolgen könne, die sich nicht in Rassen im anthropologischen Sinne, sondern in peuples widerspiegele. Auslöser dieser Theorie waren zahlreiche Reisen, die er zwischen 1879 und 1885, teils im Auftrag der französischen Regierung, zu Studienzwecken unternahm. Durch Beobachtungen glaubte er verschiedene, typische Charaktere der beobachteten Völker ausmachen zu können. Wie der Begriff der foule, so ist auch der Begriff des peuple bei Le Bon vielschichtig: Le Bon versteht ein peuple als durch Eroberungs-, Vermischungsund Migrationsprozesse gebildete race historique.8 Die Einheit der 5 6 7 8

Marco Schütz: „Von der Anatomie zur Kultur: Die Rassenpsychologie von Gustave Le Bon“, in: Francia 19/3, 1992, S. 57. M. Schütz: Rassenideologien in der Sozialwissenschaft, S. 105-107. Carole Reynaud Paligot: La République raciale 1860-1930, Paris 2006, S. 101f. Gustave Le Bon: Lois psychologiques de l’évolution des peuples. Deuxième édition revue, Paris 1895, S. 43. (1. Auflage 1894), zitiert nach der elektronischen Ausgabe von Jean-Marc Simmonet: http://classiques.uqac.ca/classiques/le_bon_gustave/lois_psycho_evolution _peuples/lois_psy_evolution_peuples.html vom 10.02.2009. 188

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peuples ist also in erster Linie das Produkt einer geschichtlichen Entwicklung, während ihre anthropologische Übereinstimmung zumindest fragwürdig bleibt: Le Bon bezeichnet die peuples auch als races artificielles9 oder race nouvelle plus ou moins homogène.10 Unabdingbare Voraussetzung für die Entstehung eines peuple als race historique ist neben anderen Faktoren jedoch vor allem die charakterliche Ähnlichkeit der Gruppen, die an dem Vermischungsprozess teilnehmen. Ist dies nicht der Fall, so lässt auch die Ähnlichkeit des Milieus kein peuple entstehen. Als Beispiel führt Le Bon die deutschen, ungarischen und slawischen Volksgruppen der Habsburgermonarchie an, die aufgrund ihrer zu großen Verschiedenheit noch niemals Anstalten gemacht hätten, sich in einem peuple zu vereinen. Gleichzeitig könnten rassisch zu verschiedene Gruppen (wie etwa Schwarze und Weiße) durch Vermischung niemals ein peuple im eigentlichen Sinne des Wortes hervorbringen, sondern nur eine degenerierte Nachkommenschaft.11 In Europa sieht Le Bon den Prozess der Bildung von races historiques durch Vermischung als nahezu abgeschlossen an, was zur Stabilität der dortigen Rassen beitrüge: „A mesure que vieillit le monde, les races deviennent de plus en plus stables.“12 An anderen Stellen ersetzt er den Begriff der „Stabilität“ sogar durch den der „Unveränderlichkeit“: „les caractères psychologiques des races possèdent une grande fixité.“13 In dem 1920 erschienenen Buch Psychologie des temps nouveaux14 führt Le Bon die Theorie eines weit gehenden Harmonisierungsprozesses der races historiques noch weiter aus: Ein heterogenes peuple (ergo eine race historique) verwandelt sich in eine neue race homogène, wenn es neben dem gemeinsamen Milieu unter dem Einfluss von weiteren Elementen, nämlich Sprache, Religion und Interessen, zur Bildung einer nationalité kommt.15 Im Bezug auf Frankreich ändert sich Le Bons Urteil interessanterweise im Laufe der Jahre: In Les Lois psychologiques de l’évolution des peuples beklagt er noch eine grundlegende charakterliche Verschiedenheit zwischen den Bewohnern der Provence, der Bretagne, der Auvergne und der Normandie, wohingegen sich in Großbritannien aus Sachsen, Normannen und an9 10 11 12 13 14

Ebd., S. 12. Ebd., S. 44. Ebd. Ebd., S. 48 Ebd., S. 107. G. Le Bon: Psychologie des Temps nouveaux, Paris 1920. Zitiert nach der elektronischen Ausgabe: http://classiques.uqac.ca/classiques/le_bon_gustave/psycho_temps_nouvea ux/temps_nouveaux.html vom 10.02.2009. 15 Ebd., S. 179. 189

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deren ein type nouveau bien homogène gebildet hätte. In Frankreich könne die Schaffung einer communauté de pensée jedoch nur durch eine energische Zentralisierungspolitik bewerkstelligt werden. Diese Verschiedenheit der Franzosen sei zudem die Ursache der häufigen politischen Unruhen.16 Ein Vierteljahrhundert später dagegen bekräftigt Le Bon, dass es in Frankreich genauso wie in Großbritannien oder Italien unter dem Einfluss gemeinsamer Institutionen zur Ausbildung von populations homogènes gekommen sei: „C’est grâce à cette fusion qu’à l’instabilité des premiers âges, la stabilité avait pu succéder.“17 Garantiert wird diese Stabilität des peuple durch eine Art von natürlicher Bremse: der âme de la race: „Cette âme de la race, qui dirige la destinée des peuples, dirige donc aussi leurs croyances, leurs institutions et leurs arts; quel que soit l’élément de civilisation étudié, nous la retrouvons toujours. Elle est la seule puissance contre laquelle aucune autre ne saurait prévaloir. Elle représente le poids de milliers de générations, la synthèse de leur pensée.“18

Dennoch sah Le Bon in der Geschichte auch eines jeden hochentwickelten peuple Kräfte am Werk, die nicht mit seinem spezifischen Charakter erklärbar schienen, sondern in denen andere Kräfte wirken: die der foule. Zu bestimmten Zeitpunkten und unter bestimmten Bedingungen glaubte Le Bon eine zumindest zeitweise Überlagerung der âme de la race durch die âme de la foule zu beobachten, woraus er eine naturgesetzähnliche Massentheorie ableitete. Im Vergleich zu den in den vergangenen Jahren geleisteten sorgfältigen Analysen von Le Bons Rassenbegriff wird der Begriff der foule nach wie vor eher wie ein Steinbruch benutzt, während seine Charakteristik ebenso wie seine Funktion im Verhältnis zu den Konzepten peuple und race noch keineswegs in befriedigender Weise aufgearbeitet wurde. Dieser Aspekt erscheint jedoch zentral, um den Stellenwert der foule als bestimmendem gesellschaftlichen Faktor – und damit die Entwicklung einer Massengesellschaft in Le Bons Denken angemessen bewerten zu können. Es ist richtig, dass Le Bons Rassekonzept in seiner 1894, also ein Jahr vor der Psychologie des foules veröffentlichten Schrift Lois psychologiques de l’évolution des peuples definiert wird und in seinen späteren Werken konstant bleibt.19 Die Phänomenologie der foule ist jedoch schwieriger zu fassen. Unzutreffend ist etwa die von Stephan 16 17 18 19

G. Le Bon: Lois psychologiques de l’évolution des peuples, S. 47. Ders.: Psychologie des temps nouveaux, S. 183. Ders.: Lois psychologiques de l’évolution des peuples, S. 84. M. Schütz: „Von der Anatomie zur Kultur“, S. 115. 190

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Günzel formulierte Annahme, dass die âme de la foule in Le Bons Massentheorie schlichtweg an die Stelle trete, die sonst die âme de la race einnehme.20 Was aber stellt die foule bei Le Bon eigentlich dar, und wie wirkt sie auf die so fundamentale und zivilisationsstützende Vorstellung der race ein? Und vor allem: welche Voraussetzungen leiten den Aufstieg der foule zum zentralen gesellschaftlichen und zivilisatorischen Element ein und welches sind nach Le Bon die entscheidenden Faktoren für diese folgenschwere Entwicklung? In der Einleitung der Psychologie des foules stellt Le Bon die These auf, dass ein grundsätzlicher Umbau der Gesellschaft und ihres ideellen Gefüges in Gang sei, bei dem sich bislang lediglich die zukünftige Führungsrolle der foules abzeichne: „L’âge où nous entrons sera véritablement l’ère des foules.“21 Die Vollendung dieses Übergangs macht jedoch Le Bon ganz unmittelbar vom Zustand des peuple abhängig. So gebraucht er das Phänomen der foule in seinem Werk systematisch dazu, problematische Aspekte des peuple zunächst zu definieren und zu konzentrieren, um sie schließlich vom peuple zu separieren. Stellt also die race das Fundament seines Gesellschaftsbildes dar, so beschreibt das peuple ihre historische Spezifizierung und die foule eine Abweichung. Im Folgenden soll es darum gehen, unterschiedliche Erscheinungsweisen der foule in Le Bons Gesellschafts- und Geschichtstheorie aufzuschlüsseln, und den Zeitpunkt zu identifizieren, an dem diese Kräfte in seiner Vorstellung zur Ausbildung einer Massengesellschaft beitragen, die von Instabilität und ständiger Bewegung geprägt ist.

D i e f o u le o rg an i s é e i n d e r b ü r g e r l i c h e n G e s e l l sc h a f t Die foule organisée bzw. psychologique ist nach Gustave Le Bon eine interessengeleitete Menschenmasse, die aber nicht mit einer zufällig an einem Ort versammelten Menschenansammlung verwechselt werden darf.22 Zwei Hauptgruppen von foules organisées unterscheidet Le Bon:23 Zum einen die foules homogènes, zu denen er Klassen, Kasten, oder Sekten religiöser oder politischer Natur zählt. Auch die gelegentlich in seine Werke gestreuten Verweise auf groupes sociaux sind als foules homogènes zu verstehen. Lediglich in dem 1911 erschienenen Band Les opinions et les croyances widmet er diesen groupes sociaux einen kurzen 20 21 22 23

S. Günzel, 2005/1, S. 126. G. Le Bon: La Psychologie des foules, Paris 1895, S. 3. Ebd., S. 12. G. Le Bon: La Psychologie des foules, S. 143-145. 191

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Abschnitt.24 Als Beispiele nennt er dort Verbände, Kooperativen und Akademien. Diesen foules homogènes spricht er, wenn auch keine schaffende, so doch eine bewahrende Funktion hinsichtlich des von den Eliten geschaffenen kulturellen Fortschritts zu, der so in die âme collective des gesamten peuple übergehen könne. Seine Maximen formuliert Le Bon indessen allein für die foule hétérogène, die sich aus den unterschiedlichsten Individuen zusammensetzen, welche jedoch für gewöhnlich derselben race angehören. Der Einfluss der âme de la race bleibt damit auch in der heterogenen foule zunächst bestehen: So unterscheidet Le Bon zwischen foules latines und foules anglo-saxonnes, wobei er stets die Neigung der ersteren zur Revolution unterstreicht, was aber durch ihre stabile âme de la race nach einer Phase des Exzesses wieder ins Gleichgewicht gebracht wird.25 Die Unterscheidung zwischen rassisch unterschiedlichen foules dient auch der Behauptung, dass sie aufgrund ihrer Wesensunterschiede nicht mit denselben Mitteln erreicht werden könnten. Als Beispiel führt er die Kongresse der kommunistischen Internationale an, die aufgrund der rassischen Unterschiedlichkeit ihrer Teilnehmer zwangsläufig scheitern mussten.26 Im historischen Vergleich hat in Le Bons Urteil in Europa die âme de la race als substratum puissant einer langen Entwicklung die âme de la foule stets dominiert.27 Die Gefahr für die Entstehung einer von den foules tatsächlich dominierten Gesellschaft wäre also erst gegeben, wenn die âme de la race unterliegen sollte, und somit letztlich wohl auch der Vereinigung unterschiedlichster, rassisch uneinheitlicher foules nichts mehr entgegenzusetzen wäre. Die foules hétérogènes werden noch einmal unterteilt, und zwar in die foules anonymes, comme celles des rues28 und die foules non anonymes. Zu letzteren rechnet er u.a. Parlamente, denen er ein Selbstbewusstsein und ein Verantwortungsbewusstsein zugesteht, das der foule anonyme völlig abgeht.29 Zu den höher einzustufenden, kulturbewahrenden foules homogènes will Le Bon die Parlamente aber nicht zählen, da ihre Funktion zu seinem autokratischen Staatsideal im Widerspruch steht. 24 25 26 27

Ders.: Les opinions et le croyances: génèse, évolution, Paris 1911, S. 183f. G. Le Bon: Psychologie des foules, S. 24. Ders: La Psychologie des foules, S. 145. „L’âme de la race domine donc entièrement l’âme de la foule.“ (Psychologie des foules, S. 145.) Vgl. auch: G. Le Bon: La Révolution Française et la psychologie des révolutions, Paris 1983 (1. Auflage 1912), S. 84: „Quand un peuple possède une âme ancestrale stabilisée par un long passé, l’âme de la foule est toujours dominée par elle.“ 28 G. Le Bon: La Psychologie des foules, S. 145. 29 Ebd., S. 171f. 192

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Und dennoch: auch die heterogene foule anonyme – selbst celle des rues stellt im ursprünglichen Le Bon’schen Denken eine gesellschaftlich zwar heterogene, aber rassisch homogene Gruppe dar, in der gleichwohl die âme de la race zumindest zeitweise von der âme de la foule überdeckt wird.30 Le Bon vergleicht dies mit einem chemischen Prozess, innerhalb dessen sich ein Endprodukt herausbildet, das zwar aus den Ausgangsprodukten hervorgegangen ist, aber völlig andere Eigenschaften besitzt.31 Dennoch ist dieser Prozess, zumindest solange die Überlegenheit der âme de la race gegeben ist, nicht unumkehrbar. Le Bon zeigt an verschiedenen Beispielen, wie schnell sich aus einer zufälligen Menschenansammlung eine foule entwickeln kann: Sein Paradebeispiel ist die Anekdote des Schauspielers, der in der Inszenierung eines théâtre populaire den Bösewicht verkörpert hat und nach der Vorstellung vor dem wütenden Publikum beschützt werden muss.32 Eine foule formiert sich also, wenn eine bestimmte Anzahl von Individuen sich durch eine wie auch immer geartete Botschaft angesprochen fühlt und darauf in einem kollektiven Akt reagiert. Es ist kein Zufall, dass Le Bon hier das Beispiel eines théâtre populaire wählt. Die vertus exagérés33 der Bühnencharaktere erfüllen eine wichtige Bedingung, um für die foules verständlich zu sein: Sie erscheinen als vereinfachte images und können zudem wie in einer Laterna magica ausgetauscht werden und somit in kürzester Zeit völlig gegensätzliche Reaktionen hervorrufen, die sich jedoch bei allen Zuschauern gleichen.34 Tatsächlich hatten sich die Pariser Theater im Laufe des 19. Jahrhunderts zu Orten entwickelt, die auch von den unteren Gesellschaftsschichten mit großer Begeisterung frequentiert wurden und somit frühe Orte der Massenkultur waren.35 Das Misstrauen Le Bons leitet sich im Grunde jedoch aus der Geschichte her: Die Theater erscheinen ihm wie eine moderne Version der antiken Devise „Brot und Spiele“, einzig dazu erfunden, um die Mas30 Ebd.: „Préface“, S. 1: „L’ensemble de caractères communs que l'hérédité impose à tous les individus d'une race constitue l'âme de cette race. Mais lorsqu'un certain nombre de ces individus se trouvent réunis en foule pour agir, l'observation démontre que, du fait même de leur rapprochement, résultent certains caractères psychologiques nouveaux qui se superposent aux caractères de race, et qui parfois en diffèrent profondément.“ 31 Ebd., S. 15. 32 Ebd., S. 56. 33 Ebd., S. 46. 34 Ebd., S. 50. 35 Jean-Yves Mollier: „Le parfum de la Belle Epoque“, in Jean-Pierre Rioux/Jean-François Sirinelli (Hg.), La culture de masse en France de la Belle Epoque à aujourd’hui, Paris 2002, S. 95-97. 193

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sen bei Laune zu halten. In Le Bons Denken ist das Theater nichts anderes als ein Transformationsraum, der foules fast wie am Fließband produziert. Innerhalb des Transformationsprozesses, den die Menschenmenge auf dem Weg zur foule durchläuft, verändert sich auch das Individuum: Das betäubte Selbstbewusstsein wird von einer unbewussten Massenpersönlichkeit dominiert. Diese pflanzt sich wie eine ansteckende Krankheit unter den einzelnen Mitgliedern fort. Le Bon vergleicht diese contagion mentale mit dem Zustand der Hypnose.36 Der Mensch in der foule richtet sich somit nach Vorstellungen, die von außen suggeriert werden: „Il n’est plus lui-même, il est devenu un automate que sa volonté ne guide plus.“37 Diese Eigenschaften prägen auch die foule anonyme als Ganzes. Le Bon umschreibt die ihr grundsätzlich innewohnende Unruhe mit Begriffen wie impulsivité, mobilité und irritabilité.38 Zum Spielball äußerer Reize geworden, sind diese foules empfänglich für jedwede Form der Suggestion und können ihren einzelnen Mitgliedern gleichermaßen moralisch weit unterlegen wie überlegen sein, verheerend oder altruistisch, zum Henker als auch zum Märtyrer werden. Auch Intelligenz und Kenntnisstand der einzelnen Mitglieder einer foule spielen dabei keine Rolle mehr.39 Die foule durchläuft dabei einen rasanten Degenerationsprozess und nähert sich dem Niveau des Wilden an: „Aussi, par le fait seul qu’il fait partie d’une foule organisée, l’homme descend de plusieurs degrés sur l’échelle de la civilisation. Isolé, c’était peut-être un individu cultivé, en foule c’est un barbare, c’est-à-dire un instinctif.“40 Nur die Stabilität der âme de la race und ihr Triumph über die âme de la foule können diesen Prozess wieder umkehren. Die Bedingung aber ist, den Teil des peuple zu kontrollieren, in dem diese âme de la race wenig ausgeprägt ist: die Unterschicht.

D i e Un te r s c h i c h t al s f o u le Der Konflikt zwischen peuple und foule ist in Le Bons Werk ein grundlegender. Dies wird bereits in der Einleitung der Lois psychologiques de l’évolution des peuples deutlich:

36 37 38 39 40

G. Le Bon: Psychologie des foules, S. 18. Ebd., S. 20. Ebd., S. 24. Ebd., S. 24-26. Ebd., S. 20. 194

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„La civilisation d’un peuple repose sur un petit nombre d’idées fondamentales. De ces idées dérivent ses institutions, sa littérature et ses arts. Très lentes à se former, elles sont très lentes aussi à disparaître. Devenues depuis longtemps des erreurs évidentes pour les esprits instruits, elles restent pour les foules des vérités indiscutables et poursuivent leur œuvre dans les masses profondes des nations. “41

Im peuple ist also der Gegensatz zwischen esprits instruits und foules, zwischen gebildeter Schicht und „breiter Masse“, zwangsläufig vorhanden. Das Gleichgewicht zwischen diesen durch Bildungsunterschiede definierten Klassen sieht Le Bon als bereits erschüttert an durch Vorstellungen der Gleichheit aller Individuen und Rassen: „Très séduisante pour les foules, cette idée finit par se fixer solidement dans leur esprit et porta bientôt ses fruits.“42 Gesellschaftliche Mobilität bedeutet also den Triumph der Masse. Die durch den Gleichheitsgedanken angestoßenen Revolutionen und Umstürze haben auch dazu beigetragen, das Problem der foule zum gesellschaftlichen Phänomen werden zu lassen. Hierzu trägt auch der Verlust von Traditionen bei. Die Frauenemanzipation sieht Le Bon als Auslöser einer Entwicklung, die den Europäer zu einem nomade sans foyer ni famille machen würde.43 Die Gefahr des Absinkens der europäischen Kultur auf das Niveau von races primitives oder inférieures kündigt sich hier bereits an. Das Schreckgespenst der Wilden – und ihre Verwandtschaft mit der foule organisée – erscheint um so bedrohlicher, als die foule in Le Bons Vorstellung auch die zivilisatorische Stufe der Barbarei bildet: Hier finden sich alle Charakteristika der foule in höchst konzentrierter Weise44, solange bis aus dem Chaos von multitudes de races diverses allmählich ein peuple entsteht.45 Analog bildet die foule aber auch die Schwundstufe eines dekadent gewordenen peuple, in dem sich die âme de la race weitgehend verloren hat und die Zivilisation sich zurückentwickelt um schließlich zu verschwinden.46 Der Begriff der sauvages ist aber noch vielschichtiger: Le Bon unterteilt die Rassen in globaler Hinsicht in vier Gruppen: races primitives, races inférieures, races moyennes und races supérieures. Letztere werden selbstverständlich nahezu ausschließlich von den Europäern vertreten. Nichtsdestoweniger stellt Le Bon die Unterschichten (les couches les plus basses) der europäischen Industriegesellschaften mit 41 42 43 44 45 46

G. Le Bon: Les lois psychologiques de l’évolution des peuples, S. 10. Ebd. Ebd., S. 12. G. Le Bon: Psychologie des foules, S. 188f. Ebd., S. 143. Ebd., S. 190. 195

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den races inférieures oder sogar primitives (darunter etwa die steinzeitlich lebenden Feuerländer) auf eine Stufe. Er unterstellt ihnen eine mehr oder weniger ausgeprägte Unfähigkeit zu denken und hält sie für leichtgläubig und unkritisch.47 Sie scheinen folglich mit dem höher entwickelten peuple, dem sie eigentlich angehören, kaum wesensverwandt zu sein. Auch wenn Le Bon immer wieder bekräftigt, dass sich in einer foule jedes Individuum ungeachtet seiner Bildung gleich verhalte, so stellen doch die Unterschichten das eigentliche Potenzial der foule dar. Die Übergänge zwischen masse profonde, couches les plus basses und foule erscheinen jedoch fließend, wenn Le Bon über die Gesellschaft um 1900 spricht. In seinem Buch La Révolution Française et la psychologie des révolutions klärt Le Bon zumindest in historischer Hinsicht die Unterschiede zwischen peuple – in der Bedeutung des Dritten Stands – und der foule. Hier unterteilt er das peuple in zwei Kategorien. Die erste, mehrheitliche Schicht umfasst Bauern, Händler und Handwerker, die zwar unter bestimmten Bedingungen von Revolutionen profitieren, aber selbst nicht daran denken würden, sie anzuzetteln. Diese masse du vrai peuple verwandelt sich kurzfristig und nur unter dem Einfluss von Aufrührern zu einer foule, löst sich aber unter dem Einfluss der race ebenso schnell wieder auf und verlangt die Wiederherstellung der ursprünglichen Verhältnisse.48 Das politische Ideal dieser Schicht siedelt Le Bon nahe bei der Diktatur an, was er schon in Les Lois psychologiques de l’évolution des peuples als Eigenart der peuples latines beschreibt. Der Umbau der Republik zur Diktatur durch Napoleon Bonaparte hätte diesem Rasseninstinkt unbedingt entsprochen.49 Die zweite Schicht, der Le Bon die Hauptrolle in allen troubles nationaux zuweist, sind dagegen die foules bruyantes et malfaisantes, die aus Bettlern, Kriminellen, Alkoholikern und arbeitslosen Handlangern bestehen, kurz: der Abschaum der Gesellschaft.50 Diese notorischen foules, die durch Mitläufer weiter verstärkt werden, stellen somit einen uneigentlichen Bestandteil des peuple dar. In der Psychologie des foules unterstreicht Le Bon zudem, dass diese foules latines noch „weiblicher“ – und damit unkontrollierbarer und sprunghafter seien als die foules in anderen peuples.51 In Les Opinions et les croyances (1911) führt Le Bon seine Überlegungen zur Rolle der foules in der Geschichte weiter aus. In der Vergangenheit – avant l’âge moderne – sei der Schaden der von den foules aus47 48 49 50 51

G. Le Bon: Les lois psychologiques de l’évolution des peuples, S. 30. Ders.: La Révolution Française et la psychologie des révolutions, S. 56f. Ders.: Les lois psychologiques de l’évolution des peuples, S. 25. Ders.: La Révolution Française et la psychologie des révolutions, S. 58f. Ders.: Psychologie des foules, S. 27. 196

GUSTAVE LE BON ALS HISTORIOGRAF DER „MASSEN IN BEWEGUNG“

gelösten Katastrophen – wie etwa die Bartholomäusnacht – durch das umsichtige Handeln der Eliten begrenzt worden. Diese Eliten sieht Le Bon nun jedoch als geschwächt an.52 Ihr Abstieg begünstigt den Aufstieg der foules: Wiederum ist die Veränderung des gesellschaftlichen Gefüges also die Wurzel des Übels.

F o u le , E l i te n u n d ö f f e n tl i c he M e i n u n g Gewinnt die foule an Boden, so ist dies in jedem Fall als Alarmzeichen zu werten: „Quand l’édifice d’une civilisation est vermoulu, ce sont toujours les foules qui en amènent l’écroulement.“53 Auf die Frage aber, wann der Zustand der Zivilisation so fragil ist, dass die âme de la foule tatsächlich über die âme de la race eines peuple triumphieren kann, gibt Le Bon keine eindeutige Antwort. Als wichtiges Indiz erscheint ihm in jedem Fall die Diktatur der extrem instabilen öffentlichen Meinung. 1911 beschreibt er in Les opinions et les croyances die Ausbreitung dieser Meinungen und Überzeugungen mit denselben Mechanismen, die er in der Psychologie des foules als Strategie der Anführer und Aufwiegler entlarvt hatte, um Ideen in den foules zu verankern, nämlich das System von affirmation und ständiger répétition, was zur contagion mentale führt. Die Folge dieser contagion mentale ist die unfreiwillige Übernahme bestimmter Meinungen und Überzeugungen, die nicht mehr rational geprüft werden.54 Dies bedeutet vor allem, dass die Eliten ihr Meinungsmonopol – und damit auch die Möglichkeit, die foule zu kontrollieren – eingebüßt haben. Die Wirkungsrichtung der Meinungsbildung und der Verbreitung von grundsätzlichen Ideen und Idealen hat sich dabei umgekehrt. In der Geschichte der Zivilisationen sieht Le Bon eine Ausbreitung der Ideen von oben nach unten, wobei in den unteren Schichten für gewöhnlich keine komplexen philosophischen und künstlerischen Vorstellungen ankommen, sondern religiöse und politische Begriffe; auch diese jedoch nur in entstellter und vereinfachter Form.55 Die Verwandtschaft dieses „gesunkenen Kulturguts“ mit den images, welche die foule zu fesseln vermögen, ist offensichtlich. In der Psychologie des foules beschreibt er dagegen den Aufstieg von Meinungen, die sich in den unteren Schichten des Volkes ausgebreitet 52 53 54 55

Ders.: Les opinions et les croyances, S. 178. Ders.: La psychologie des foules, S. 6. Ders.: Les opinions et les croyances, S. 194-196. Ders.: Les lois psychologiques de l’évolution des peuples, S. 111. 197

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haben, in die Kreise der Eliten, wo der Mechanismus der contagion mentale sich auch gegen persönliche Interessen durchsetzt. Interessanterweise sieht er dies besonders im Falle der sozialistischen Lehren als gegeben an56, wodurch sich die zerstörerische Wirkung, die er dieser Ideologie in seinen späteren Werken zuweist, schon ankündigt. Die wachsende Bedeutung, die Le Bon der contagion mentale zuerkennt, spiegelt sich vornehmlich in seinem sich wandelnden Blick auf die Presse: In der Psychologie des foules sieht er diese nur noch als Schatten ihrer einstigen, durch große Journalisten getragenen Bedeutung und urteilt, dass sie sich von einer directrice de l’opinion zum bloßen reflet de l’opinion gewandelt habe.57 In Les opinions et les croyances (1911) spricht er der Presse dagegen einen immensen Einfluss auf die öffentliche Meinung zu58 und in der Psychologie des temps nouveaux (1920) nennt er sie schließlich grand facteurs de l’opinion.59 Die Instabilität und Unkontrollierbarkeit der öffentlichen Meinung wandelt sich in Le Bons Verständnis also vom Symptom eines gesellschaftlichen Auflösungsprozesses hin zu einer der Ursachen. Erst durch die Presse wird letztlich der Aufstieg von opinions populaires bzw. collectives zur opinion générale ermöglicht. Einerseits kann dies zwar bedeuten, dass grundlegende Überzeugungen damit wieder in die oberen Schichten aufsteigen, von wo sie oft gekommen sind, zunächst aber nur eine Randerscheinung waren. Zumindest in deformierter Form bleibt ein gewisser geistiger Führungsanspruch der Eliten also bestehen.60 Gleichzeitig bedeutet dies aber, dass die Rolle einer opinion populaire als bestimmendem gesellschaftlichen Faktor auf eine Anfälligkeit der aus verschiedenen Schichten oder Gruppen bestehenden Gesellschaft verweist, eine foule zu werden.61 Zwar wirken auch hier noch immer stabilisierende Faktoren. Le Bon vergleicht kurz vor dem Ersten Weltkrieg die Beweglichkeit der öffentlichen Meinung in Frankreich mit dem Bild von Meereswellen, die sich über stilles Wasser brechen, was aber nur eine oberflächliche Bewegung über einem stabilen Element darstelle.62 Nichtsdestoweniger hat die allmächtige opinion collective, populaire oder publique das Potenzial, eine Art von ortsunabhängiger foule entstehen zu lassen, die Le Bon in derselben Weise funktionieren sieht wie die foules des rues, die aber noch wesentlich unkontrollierbarer sind. 56 57 58 59 60 61

Ders.: La psychologie des foules, S. 116. Ebd., S. 138. Ders.: Les opinions et les croyances, S. 158. Ders.: Psychologie des temps nouveaux, S. 125. Ders.: La psychologie des foules, S. 117. Ders.: Les opinions et les croyances, S. 181: „Les foules deviennent chaque jour plus impérieuses.“ 62 Ebd., S. 176. 198

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Die Angst vor der Entstehung einer grenzübergreifenden foule, die nicht mehr von rassischen Paradigmen kontrolliert wird und entsprechend verheerend agieren würde, kündigt sich an.

D i e f o u le a l s g e s e l l s c h a f tl i c he s P r i n z i p n a c h d e m E r s t e n W e l tk r i e g Le Bon sieht die foule bei allen großen Umbrüchen der Geschichte am Werk. Diese grands faits historiques, die in essentieller Weise auf Massenbewegungen beruhen, sind etwa die Christianisierung, die Ausbreitung des Islam, die Reformation oder die Französische Revolution.63 Bei der Beschreibung der Entwicklungen um 1900 ist er diesbezüglich zurückhaltender. Es scheint, als wollte er eventuelle Umsturzszenarien bewusst klein halten und keineswegs zu grands faits historiques anwachsen lassen. In der Psychologie des foules spricht er zwar von schwindenden idées fondamentales, sieht aber die petites idées transitoires nicht an deren Stelle treten.64 Auch in der 1898 erschienenen Psychologie du socialisme leugnet Le Bon die immer wache Lust an der Revolution in der foule bei hoch entwickelten Völkern und belegt damit eine beruhigende Unvereinbarkeit zwischen foules und Sozialismus. „Ce qui domine en réalité les foules, chez les peuples ayant un long passé, ce n’est pas la mobilité, c’est la fixité. Leurs instincts destructeurs et révolutionnaires sont éphémères, leurs instincts conservateurs ont une ténacité extrême. Les instincts destructeurs pourront permettre au socialisme de triompher un instant, mais les instincts conservateurs ne lui permettront pas de durer.“65

Auch hier meint er eine foule, die als masse du vrai peuple umschrieben werden kann, während die bedrohlichen foules, die er in der Französischen Revolution am Werk sah, nicht erwähnt werden. Doch 1910, in dem Werk Psychologie politique et la défense sociale, warnt er vor der Gefahr des Sozialismus und Syndikalismus, die ähnliche Kräfte wie die in der Französischen Revolution wieder auferstehen lassen könnten, indem sie an barbarische Instinkte appellieren und dazu animieren, das gesellschaftliche Gefüge zu zerstören.66 Von der dieses Gefüge 63 64 65 66

Ders.: La psychologie des foules, S. 57. Ebd., S. 49. Ders.: Psychologie du socialisme, S. 101. Ders.: Psychologie politique et la défense sociale, S. 317: „Le mouvement révolutionnaire actuel n’est, comme tous ceux qui l’ont précédé, qu’une réaction d’instincts barbares aspirant à secouer le joug de liens sociaux assez 199

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stabilisierenden âme de la race ist hier keine Rede mehr, stattdessen von einer tief greifenden Verunsicherung selbst der Eliten. Dies wird nur durch die zu diesem Zeitpunkt noch nicht absehbare Heranreifung der neuen Ideen aufgefangen. Entscheidend für die Entstehung einer veritablen ère des foules ist also eine folgenschwere Erschütterung des sozialen, moralischen und politischen Gefüges. Diese Situation sieht Le Bon nach dem Ersten Weltkrieg als gegeben an und geht davon aus, dass die daraus resultierende Verunsicherung mehrere Generationen andauern werde.67 Erschwerend kommt hinzu, dass barbarische Instinkte durch den Krieg wieder freigesetzt worden seien: „La guerre a exercé une grande influence sur le caractère, la moralité et l’intelligence. Elle a ressuscité les instincts de sauvagerie ancestrale et fait dévier la justesse des jugements.“68 Die Konsequenzen für den Zustand des peuple sind verheerend: Schon in den 1915 erschienenen Enseignements psychologiques de la guerre européenne wird die Verwandlung des peuple zur foule de facto vollzogen. Ohne Angabe der Quelle zitiert er etwa Georges Clémenceau mit den Worten: „La peuple est foule par définition.“69 In diesem Buch betont er auch deutlicher als je zuvor, dass jedes noch so stabile peuple auf gesellschaftliche Bremsen nicht verzichten könne, um die légion des caractères flous70 zu bändigen, die aufgrund ihrer charakterlichen Schwäche unfähig seien, selbständig zu handeln. Die Zusammensetzung dieses bedrohlichen Teils des peuple, in dem die stabilisierende âme de la race kaum aktiv ist, erscheint nun noch vager als in früheren Werken, scheint aber in beachtlicher Weise angewachsen zu sein. Dass diese légions der notorischen foule ähneln, die Le Bon am Beispiel der französischen beschreibt, wird hier mehr als deutlich. Dieses Phänomen droht nach dem Krieg auf das gesamte peuple überzugreifen: In der Psychologie des temps nouveaux von 1920 wird der Geist der neuen Zeit mit Instabilität gleich gesetzt: „L’esprit nouveau se révèle surtout comme un état de mécontentement général accompagné d’un besoin de changements. Cet état mental est la naturelle conséquence de l’effroyable bouleversement dont le monde n’est pas encore sorti.

67 68 69 70

affaiblis pour qu’on puisse espérer les détruire. Ce que beaucoup d’esprits aveuglés par des chimères, considèrent comme le progrès, est une simple régression vers des formes inférieures d’existence.“ Ebd., S. 169. Ders.: Psychologie des temps nouveaux, S. 28. Ders.: Enseignements psychologiques de la guerre européenne, Paris 1915, S. 230. Ebd., S. 24. 200

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Il a ébranlé des conceptions dont les sociétés avaient vécu et qui s’étant montrées inefficaces ont perdu leur prestige. Des idées d’apparence nouvelle sont nées. Elles bouillonnent violemment et prétendent s’imposer par la force. L’esprit de révolte s’observe aujourd’hui chez tous les peuples, dans toutes les classes.“71

Verschiedene Begriffe beginnen sich unter dem Eindruck des Krieges zu vermischen: Eine Armee bezeichnet Le Bon zwar als foule homogène, weist ihr aber die Eigenschaften zu, die er vorher nur bei den foules hétérogènes gesehen hatte, wie vor allem suggestibilité und émotivité intense.72 Auch die Unterschiede zwischen den Begriffen foule und peuple beginnen zu verschwimmen. In den Kriegswirren sah Le Bon das vereinende Element der Rasse noch durchaus am Werk. So beschreibt er, wie sich in den Schutzräumen, wohin die Pariser während Artillerieangriffen flüchteten, aus Angehörigen verschiedener Klassen eine Art Familie gebildet habe, geleitet von der Rasse wie von einer déesse invisible. Interessanterweise schreibt Le Bon die Entstehung dieses Gemeinschaftsgefühls nun jedoch der contagion mentale zu, die er zuvor niemals mit der âme de la race in Verbindung gebracht hatte.73 Die schockierenden Erfahrungen des Krieges bringen also die Grundlagen seiner Rassentheorie ins Wanken. Mehr noch, die Rasse scheint sich der foule annähern zu müssen, um mit den neuen Gegebenheiten fertig zu werden. Nach dem Krieg konstatiert Le Bon im peuple einen grundlegenden Verlust des Willens. Dies bedeutet, dass auch der mächtige Einfluss der âme de la race nicht mehr gegeben ist. Das peuple macht somit dieselbe Entwicklung durch wie der willenlose Einzelne in der foule, der zum Spielball äußerer Reize wird. Zusätzlich werde sich durch die Folgen des Krieges das Heer der Deklassierten, die schon an sich eine foule bilden, weiter vergrößert. Le Bon sieht die europäischen Gesellschaften nach dem Ersten Weltkrieg dadurch samt und sonders durch Bürgerkriege bedroht, in denen die peuples sich, wie in Russland und Deutschland schon geschehen, gegen sich selbst wenden werden.74 Zwar interpretiert er die Folgen der Nach-

71 Ders.: Psychologie des temps nouveaux, S.8f. 72 Ebd., S. 76. 73 Ebd., S. 124. Außerhalb der foule sah Le Bon lediglich in den groupes sociaux, die er als foules homogènes begreift, eine starke Form von contagion mentale am Werk, die den Zusammenhalt sichert. Vgl. ders.: Les opinions et les croyances, S. 203f. Die Rasse bildet in seinem ursprünglichen Verständnis dagegen ein so tief verwurzeltes gemeinsames Fundament, das zwangsläufig wirksam ist. 74 Ders.: Psychologie des temps nouveaux, S. 203. 201

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kriegsrevolutionen nach wie vor als an bestimmte mentalités gebunden75, doch kann er nicht mehr umhin, den Kommunismus als eine jener Massenbewegungen, einen jener grands faits historiques, zu erkennen, die nachhaltig das Antlitz der Welt verändern: „En dehors des croyances religieuses peu de mouvements se sont manifestés avec une intensité semblable à celle de l’anarchie révolutionnaire qui ravage actuellement une partie du monde. “76 Die Freisetzung dieser zerstörerischen Kräfte lastet Le Bon in erster Linie dem deutschen Aggressor an, der ihnen freilich selbst zum Opfer gefallen ist: „Les forces destructives n’ont pas disparu après avoir brisé le peuple allemand qui les avait fait naître. Répandues dans l’univers, elles menacent les plus brillantes civilisations.“77 Die entscheidende Veränderung durch den Krieg besteht aber in einer weltweiten Freisetzung des destruktiven Geistes, der Grenzen überschreitet und das Gefüge der Zivilisation selbst bedroht. Wie Le Bon in seinem Werk an unterschiedlichen Beispielen immer wieder demonstrierte, handelt es sich bei diesen forces destructives um die entfesselte foule. Nach dem Ersten Weltkrieg scheinen nun viele bislang isolierte Faktoren zusammenzuwirken: Das Anwachsen der ohnehin schon gefährlichen Unterschicht, die Ausbreitung eines esprit de révolte selbst bei den Eliten, die Freisetzung barbarischer Instinkte durch den Krieg, schließlich die Bedrohung des Zusammenhalts der peuples selbst durch die Gefahr von Bürgerkriegen. Der Anbruch der eigentlichen ère des foules als Auflösung der Zivilisation scheint also nicht mehr fern.

75 Ebd., S. 25. 76 Ebd., S. 145. 77 Ebd., S. 154. 202

D I E Ä S T H E T I K DE S F L Ü C H T I G E N . P A S S A N T E N I N P A R I S Z U R Z E I T DE R MOMENTFOTOGRAFIE CHRISTINA NATLACEN Fotografische Straßenszenen führen den Begriff des Flüchtigen auf doppelte Weise vor Augen: einmal motivisch, indem sie die Passanten als die Bewohner der modernen Großstadt darstellen und ein andermal medial, indem durch die jeweiligen technischen Möglichkeiten der Fotografie Anschauungen von Flüchtigkeit auch ästhetisch festgeschrieben werden. Die Fotografie des 19. Jahrhunderts ist insgesamt von Bemühungen gekennzeichnet, die Belichtungszeiten zu verkürzen und die Kameraoptik so zu verbessern, dass Bilder von Körpern und Objekten in Bewegung möglich werden. Damit versucht sie sich als modernes Bildmedium zu etablieren und zwar just zu einem Zeitpunkt, als auf gesellschaftlicher, geistesgeschichtlicher und künstlerischer Ebene die Auseinandersetzung mit Modernität einen zentralen Stellenwert einnimmt. Das Feld der fotografischen Straßenfotografie verdeutlicht am Beispiel von Repräsentationen von Passanten sowohl die Modernität des Großstadtlebens als auch die Modernität der fotografischen Bildtechnik. Im Folgenden stehen Fotografien vom Straßenleben im Paris des 19. Jahrhunderts im Fokus, die vor und nach der Erfindung der Momentfotografie entstanden sind. Diese visuellen Inszenierungen der belebten Großstadt werden als symptomatisch für jene Vorstellung von Modernität interpretiert, die sich über das Beiläufige, Flüchtige und Momenthafte definiert. Bereits Anfang der 1850er Jahre wurde eine Verknüpfung von Darstellungen des öffentlichen Lebens und der Modernität im Bereich des Mediums Fotografie hergestellt. In der ersten Hälfte der 1850er Jahre stellen die Fotokritiker Ernest Lacan und Paul Nibelle fest, dass der Raum und die Menge, „l’espace et la foule“, die zentralen Aspekte des modernen Lebens sind, welche nur Fotografen hinreichend vermitteln können.1 Damit wurde dem Bildmedium Fotografie rund 20 Jahre vor 1

Paul Nibelle: „La photographie et les fêtes publiques“, in: La Lumière, 4. Jg., Nr. 34, 27.8.1854, S. 135 und Ernest Lacan: „La photographie et les fêtes publiques“, in: La Lumière, 4. Jg., Nr. 38, 23. 9. 1854, S. 149 (vgl. 203

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dem Aufkommen des Impressionismus die Befähigung bescheinigt, adäquat auf die Ausprägungen moderner Urbanität zu reagieren. Nicht zufällig wird der Diskurs um die Darstellung von Passanten gerade in Paris eröffnet. Paris gilt als die paradigmatische europäische Großstadt des 19. Jahrhunderts und behauptet zudem ihren Status als „Wiege der Straßenfotografie“2. Eine der ersten Fotografien überhaupt, 1838 unmittelbar vor der offiziellen Bekanntgabe der Erfindung dieses neuen Mediums entstanden, zeigt erstaunlicherweise eine Straßenszene in Paris: LouisJacques-Mandé Daguerres berühmte Daguerreotypie des Boulevard du Temple. Eine Variante von zwei existierenden Straßenansichten, die aus unterschiedlichen Stockwerken vom Fenster aus aufgenommen wurden, macht mit dem auf der Platte belichteten Schuhputzers, der seiner Arbeit nachgeht, klar, welche Bedeutung der Zufall für die Abbildung von Wirklichkeit spielt. Hinterließen sämtliche sich während der Belichtungszeit von geschätzten 20 Minuten durch das Bild bewegende Personen und Fahrzeuge keine sichtbaren Spuren auf der lichtsensiblen Platte, gelang es allein den über einen längeren Zeitraum eine immobile Haltung einnehmenden Schuhputzer und seinem Kunden, als silhouettenhafte Gestalten in Erscheinung zu treten. Durch diese Laune des Zufalls wird besonders einprägsam verdeutlicht, in welcher Relation die Fotografie zum Faktor Zeit steht. Shelley Rice führt an diesem Beispiel vor, inwieweit es bei Straßenaufnahmen nicht nur um eine räumliche, sondern auch um eine zeitliche Einschreibung geht: Indem eine minutenlange Szene auf der Fotografie zu einem einzigen Augenblick kondensiert wird, wird Zeitliches in Räumliches umgewandelt.3 Diese Aufnahme bescheinigt exem-

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3

Shelley Rice: Parisian Views, Cambridge/Mass., London 1997, S. 208, Fußnote 23). Julian Stallabrass: Paris in Bildern, Köln 2002, unpaginiert. Die nach wie vor grundlegende Untersuchung der Straßenfotografie stammt von Colin Westerbeck und Joel Meyerowitz (Bystander. A History of Street Photography, London 1994). Vgl. weiter die dem Beispiel Wiens gewidmete Ausstellung und Publikation von Michael Ponstingl (Straßenleben in Wien. Fotografien von 1861 bis 1913, Wien 2005) und die anhand von Bildmaterial aus Paris unternommene aktuelle Studie von Clive Scott (Street Photography. From Atget to Cartier-Bresson, London, New York 2007). Eine Gegenüberstellung der städtischen Atelierfotografie mit der Straßenfotografie hat jüngst eine Ausstellung der Tate Modern unternommen (Ute Eskildsen u.a. (Hg.): Street & Studio. An Urban History of Photography, Ausstellungskatalog Tate Modern London, London 2008). „[A photograph] is the fixing of light in space over time.“ (S. Rice: Parisian Views, S. 6). 204

DIE ÄSTHETIK DES FLÜCHTIGEN

plarisch durch ihr zeitliches Festhalten von Licht im Raum, dass die Fotografie ein flüchtiges Ereignis ist, das in ein Objekt verwandelt wird.4 Abbildung 1: Adolphe Braun, Rue de Rivoli ( um 1855)

Der Ereignischarakter der Fotografie tritt auch Mitte der 1850er Jahre auf den Stadtansichten von Adolphe Braun deutlich hervor. Im Fall der Aufnahme der Rue de Rivoli (s. Abb. 1), die von Baron Haussmann am Reißbrett entworfen wurde, wird ein einziger Straßenzug fotografisch in den Fokus genommen. Mit dieser Ansicht eines nach modernen urbanistischen Kriterien konzipierten Boulevards erfolgt eine erste Festschreibung des fortan bestehenden Bildes von Paris als moderner Großstadt. Elementar für das Einbinden des Konzepts Modernität in bestimmte Darstellungsformen ist das Abbilden des auf der Straße vonstatten gehenden Bewegungsflusses. Dieser erstreckt sich über die gesamte gigantische Dimension der Rue de Rivoli, deren Länge mit freiem Auge nicht mehr ermessen werden kann. Um einen Eindruck der Endlosigkeit zu geben, um aber auch die Bewegung selber effektvoll im Bild zu vermitteln, wendet Braun einen zentrierten Blick von oben an. Unterstützt durch die architektonische Besonderheit eines bis zum Dachgesims standardisierten Höhenmaßes, schreiben sich die Fluchtlinien einheitlich und ohne Unterbrechung in einen diagonalen Tiefenzug ein, der den Eindruck von Be-

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Gunnar Schmidt nimmt diese Daguerreotypie zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen im Buch Visualisierungen des Ereignisses. Medienästhetische Betrachtungen zu Bewegung und Stillstand, Bielefeld 2008. Er sieht die Funktion der Aufnahme des Boulevard du Temple nicht darin begründet, das Ereignis Stadt zu zeigen, sondern auf es zu verweisen (vgl. S. 811). 205

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schleunigung hervorruft. Die haussmannisierte Rue de Rivoli scheint schon auf ihre Bildwirkung hin konzipiert worden zu sein.5 Adolphe Brauns Fotografien aus der Mitte der 1850er Jahre sind bereits bevölkert. Sie geben dadurch den Eindruck des zeitgenössischen Paris, in dem alles in Bewegung war – auch dies eine wichtige Intention von Haussmann, authentisch wieder. Die städtische Bewegung gilt per se als Signum der Modernität: Modern ist der Stadtbewohner, der mobil ist, der am Bewegungsfluss partizipiert. Die Fotografie hatte nun die Möglichkeit, diesen schnellen Bewegungsfluss anzuhalten. Dadurch wird ein zufälliger zeitlicher Moment eingefroren. Ein Bild des modernen Stadtlebens, das sich durch seine stete Veränderung auszeichnet, entsteht. In der Straßenszene wird somit ein wesentliches Charakteristikum der Fotografie motivisch verdeutlicht: das der Kontingenz. Der Begriff der Kontingenz, trotz seiner darüber hinaus gehenden Bedeutung oft synonym mit dem Begriff des Zufalls verwendet, leitet sich vom lateinischen contingere ab, das soviel wie „sich berühren, zusammenfallen“6 heißt, und zwar sowohl in einem zeitlichen als auch räumlichen Sinn. Es benennt somit das gemeinsame Auftreten zweier Ereignisse mit offenem Ausgang im Sinne einer Möglichkeit unter vielen. Dem Begriff der Kontingenz kommt innerhalb des fotografischen Aktes entscheidende Bedeutung zu. Denn kontingent ist jede Szene, die momentan fotografisch aufgezeichnet wird: „[W]as die PHOTOGRAPHIE endlos reproduziert, hat nur einmal stattgefunden: sie wiederholt mechanisch, was sich existentiell nie mehr wird wiederholen können. In ihr weist das Ereignis niemals über sich selbst hinaus auf etwas anderes […]; sie ist das absolute BESONDERE, die unbeschränkte, blinde und gleichsam unbedarfte KONTINGENZ, sie ist das BESTIMMTE […], kurz, die TYCHE, der ZUFALL, das ZUSAMMENTREFFEN, das WIRKLICHE in seinem unerschöpflichen Ausdruck.“7

Diesem aus Roland Barthes’ für die Bestimmung des Wesens der Fotografie programmatischer Schrift Die helle Kammer entnommenen Zitat kommt in Hinblick auf Straßenszenen besondere Bedeutung zu, denn hier treffen verschiedene unbekannte Personen, die durch keinen ursäch5

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Auch Shelley Rice weist auf die Kameratauglichkeit von Haussmann’s Paris hin: „Everything in Haussmann’s city became an open-ended perspective, a point of view that could be captured, piecemeal, by a camera […].“ (S. Rice: Parisian Views, S. 18). http://de.wikipedia.org/wiki/Kontingenz vom 7. 12. 2008. Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, Frankfurt/Main 1985, S 12. 206

DIE ÄSTHETIK DES FLÜCHTIGEN

lichen Zusammenhang oder eine bestimmte Intention miteinander verbunden sind, aufeinander. Der Kunsthistoriker Max Imdahl, der in einem grundlegenden Aufsatz der Evokation von Kontingenz mit malerischen Ausdrucksmitteln anhand des berühmten Gemäldes Le Compte Lepic (Place de la Concorde) (um 1875) von Edgar Degas nachgeht, definiert dort explizit fotografische Straßenszenen als Zeugnisse der Kontingenz: „Straßenszenen sind genuin kontingente Szenen. Man kann nicht bezweifeln, daß Straßenszenen immer schon als kontingente Szenen aufgefaßt wurden. Es bedurfte freilich einer Entdeckung, um kontingente Straßenszenen als bildwürdig zu erachten. Diese Entdeckung verdankt sich der Momentfotografie.“8 Die Kontingenz als eines der Symptome der Momentfotografie wird nicht nur von Degas, sondern auch von zahlreichen anderen impressionistischen Malern auf struktureller Ebene in ein komponiertes Bild überführt. Daraus ergibt sich ein Bildsinn, der sich über folgende „Kriterien des Unzusammenhangs“ definiert: „Isolation, Richtungsdivergenz, Ortlosigkeit“.9 Dem Kriterium der Kontingenz kommt mit der technischen Etablierung der Momentfotografie auch auf stilistischer Ebene Bedeutung zu. Die Einführung der Silbergelatine-Trockenplatte und das Aufkommen von leicht bedienbaren tragbaren Kastenkameras in den frühen 1880er Jahren bedingt nicht nur eine revolutionäre Modifizierung der fotografischen Technik und Praxis, sondern auch der Ikonografie. Mussten sich vorher Maler oder Fotografen mit ihrer Staffelei bzw. ihrem Kamerastativ für die Passanten weithin sichtbar im Stadtraum postieren, bewegt sich der ,Knipser‘ in diesem weitgehend unbemerkt als Teil des bewegten Geschehens. Der Stil dieser Aufnahmen bricht dermaßen radikal mit allen herrschenden Sehgewohnheiten, dass es zunächst ausschließlich Amateurfotografen sind, die sich der authentischen Darstellung des Straßenlebens verschreiben. Sie treten gleichzeitig in verschiedenen Großstädten auf: George Hendrik Breitner in Amsterdam, Henri Rivière in Paris, Alice Austen in New York oder ein anonymer ‚Knipser‘ in Wien (s. Abb. 2). Mit diesen Amateuren etabliert sich eine radikal neue Sicht auf die Passanten in der Stadt: Indem aus der Bauchnabelperspektive heraus fotografiert wird, der Fotograf also nicht durch einen Sucher blickt, kommt dem Zufall eine entscheidende Rolle zu. Motive, die selber in Bewegung sind, werden fragmentiert, oft dezentral und asymmetrisch wiedergegeben. Der Eindruck von Flüchtigkeit stellt sich über die Aus-

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Max Imdahl: „Die Momentfotografie und ‚Le Comte Lepic‘ von Edgar Degas“, in: Wilhelm Schmid (Hg.), Wege zu Edgar Degas, München 1988, S. 298-309, hier S. 299. Ebd., S. 308. 207

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schnitthaftigkeit unvermeidbar ein. Eine komplett neue Ästhetik, die bis heute für die Street Photography bestimmend bleibt, wird begründet. Abbildung 2: Anonymer Knipser, Wiener Straßenszene (um 1890)

Diese Aufnahmen weichen entscheidend von den bisher topografisch ausgerichteten Stadtaufnahmen ab. Es ist nicht mehr der konkrete Ort, der interessiert, denn die Stadt tritt nur mehr bruchstückhaft und ausschnitthaft auf den Plan. Stattdessen geht es um die Verknüpfung von Individuum und Stadtraum, die vom Fotografen auf sehr subjektive Weise festgehalten wird. Diese Fotografien sind daher weniger Aufnahmen von Paris als von Großstädtern am Ende des 19. Jahrhunderts, die nicht mehr an einen konkreten Ort gebunden sind. Abbildung 3: Charles Nègre, Les ramoneurs en marche (vor Mai 1852)

Die Skizzenhaftigkeit der Straßenfotografie wurde bereits vor der Momentfotografie als adäquate Ausdrucksweise für die Flüchtigkeit des Stadtlebens erkannt. Der Fotograf Charles Nègre bediente sich ganz bewusst der noch verbesserungswürdigen fotografischen Technik für die Darstellung des Momenthaften. Er setzte ganz auf das Atmosphärische 208

DIE ÄSTHETIK DES FLÜCHTIGEN

und Impressionistische (ein Begriff, der in den 1850er Jahren noch nicht etabliert war) und war der Überzeugung, dass sich Bewegung besser durch das Unscharfe und Verwischte als in Form eines klar konturierten eingefrorenen Bildes vermitteln lässt.10 Seine in Paris am Quai de l’Hôtel de Ville aufgenommenen Marktszenen sowie die vor seinem Atelier vorbeigehenden Schornsteinfeger (s. Abb. 3) sollen den Einruck vermitteln, direkt aus dem Straßenleben herausgegriffen zu sein. In diesem Sinne wurden sie auch von der zeitgenössischen Kritik aufgenommen. So heißt es etwa bei Lacratelle: „C’est la vie elle-même, et M. Nègre l’a arrêtée par un prodige dans un centième de seconde.“11 Elementar ist der Eindruck der Unmittelbarkeit, der sich auf der Bildoberfläche einschreibt. Daher ist es auch zweitrangig, ob Nègre mit Mitteln der Inszenierung die natürliche, lebendige Haltung der vorbeiziehenden Schornsteinfeger zu erzeugen suchte. Er ist somit den Knipsern, die am Ende des 19. Jahrhunderts das Leben auf der Straße in all seiner Flüchtigkeit und Momenthaftigkeit einfangen, in seiner fotografischen Haltung bereits sehr nahe.

10 Diese Ästhetik der Skizzenhaftigkeit und des Unvollendeten wird in den 1860er und 1870er Jahren für jene Maler der französischen Avantgarde bedeutend, die sich der Darstellung des haussmannisierten Paris und seiner Bewohner verschreiben. T. J. Clark interpretiert im Kapitel „The View from Notre-Dame“ diese Gemälde als vermarktbare Masse von Repräsentationen der Stadt als Spektakel, die sich in mehrerer Hinsicht in Modernitätskonzepte einschreiben (vgl. T. J. Clark: The Painting of Modern Life. Paris in the Art of Manet and his Followers, London 1999, S. 23-78). 11 André Jammes: Charles Nègre photographe, 1820-1880, Paris 1963, S. 21, zit. nach Françoise Heilbrun (Hg.), Charles Nègre photographe 1820-1880, Ausstellungskatalog Musée d’Orsay Paris, Paris 1980, S. 56. 209

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Abbildung 4: Anonym, Paris, Place du Châtelet (1860er Jahre)

Stellt man Nègres Aufnahmen den im darauffolgenden Jahrzehnt entstehenden Stereo-Aufnahmen (s. Abb. 4) gegenüber, treten die Unterschiede in der Wiedergabe der Bewegung der Passanten besonders deutlich zu Tage. Trotz ihrer berechtigten Bezeichnung als erste Ausprägung der Momentfotografie (aufgrund der kurzbrennweitigen Objektive der Stereokameras und des kleinen Negativformats konnten Ergebnisse mit bisher ungekannter Bildschärfe erzielt werden) wird der Eindruck von Bewegung nur unzureichend vermittelt. Auf diesen redundanten Ansichten zahlreicher bevölkerter Straßen und Plätze, die durch einen Betrachter gesehen ein dreidimensionales Bild entstehen lassen, erscheinen die sich durch den Bildraum bewegenden Städter wie kürzelhafte Staffagefiguren, die ein Streumuster ergeben. Als momentanes Zustandsbild friert die Fotografie die Aktivität der abgebildeten Personen ein und schreibt ihnen die Funktion von Bewegungsvektoren im Raum zu. Zu einem Zeitpunkt, in dem sich auch der Begriff und die Vorstellung von Urbanismus herausbilden, der sich ja zu einem guten Teil über die Konkretisierung städtischer Bewegung definiert, findet die Stereofotografie zu einer zeichenhaft-stereotypen Wiedergabe von Menschen in Bewegung. Trotz dieser arretierten Bewegungsdarstellung gelten die Stereofotos als erste Zeugnisse großstädtischer Modernität, die sich auf fotografischer Ebene durch die visuelle Übersetzung des Transitorischen, Vorübergehenden auszeichnet. Obwohl zeitgleich mit der Verbreitung der Stereofotos die Diskussion anfing, dass die Momentfotografie es nur unzureichend verstehe, die Dynamik eines Prozesses wie des Gehens bildlich zu vermitteln und insbesondere der Eindruck von Leblosigkeit kritisiert wurde, stellten diese Momentaufnahmen von gehenden Personen einen bedeutenden Einschnitt in die bisher herrschenden Sehgewohnheiten dar. In verschiede210

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nen Handbüchern zur Fotografie finden sich zahlreiche Hinweise auf die noch ungewohnten Fotografien von Passanten. So heißt es etwa in Hermann Wilhelm Vogels Photographischer Kunstlehre: „[K]omisch erscheinen viele Momentbilder gehender Menschen, bei denen der eine Fuss [sic] nach vorn ausgestreckt ist. Man glaubt, sie machen einen Tanzpas.“12 Da bislang davon keine Bilder als Schnitt durch die Zeit verfügbar gewesen waren, mussten die Betrachter erst lernen, diese zu lesen. Dazu erschien beispielsweise in dem der Momentfotografie gewidmeten Buch des Fotohistorikers Josef Maria Eder eine Auseinandersetzung mit dieser neuen Menschendarstellung im Kapitel „Der Mensch in Bewegung“. Dort gibt er die erstarrte Bewegung formelhaft wieder, indem er ausgehend vom „Ungewohnte[n], ja sogar Absonderliche[n] in der Haltung der einzelnen Personen“13 eine Grafik mit Silhouetten dieser Figuren als Leseanleitung erstellt. Abbildung 5: Auguste Renoir, Pont Neuf (1872)

Die Darstellung von anonymen, gesichtslosen und vereinzelten Personen im öffentlichen Stadtraum unter Wahl eines erhöhten Blickpunktes ist ein Motiv, das ab den 1870er Jahren auch von den Malern der Avantgarde praktiziert wird. Wie die Stereofotos fokussiert auch Auguste Renoirs Bild Pont Neuf von 1872 (s. Abb. 5) kein einzelnes bestimmtes Ereignis, sondern ein von Passanten überzogenes räumliches Netzwerk.14 Den Ma-

12 Hermann Wilhelm Vogel: Photographische Kunstlehre oder die künstlerischen Grundsätze der Lichtbildnerei für Fachmänner und Liebhaber (=Handbuch der Photographie, IV. Theil), Berlin 1891, S. 160. 13 Josef Maria Eder: Die Moment-Photographie in ihrer Anwendung auf Kunst und Wissenschaft, Halle/Saale ²1886, S. 177. 14 Nancy Forgione behandelt in ihrem grundlegenden Aufsatz über das malerische Motiv von gehenden Menschen im Paris des 19. Jahrhunderts Re211

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ler interessiert nicht ausschließlich das haussmannisierte Paris, das als künstlerisches Thema einen gänzlich neuen Blick auf die Stadt bot, sondern eben der für das neue urbanistische Konzept charakteristische Bewegungsfluss. Dieser wird aus gebührender Distanz von oben in den Fokus genommen. Damit kommt ein Blickdispositiv zum Tragen, das Otto Stelzer als „Sonderleistung der Fotografie“15 apostrophierte. Die Draufsicht, die sich meist in Form des Blicks aus dem Fenster konkretisiert, ist wesentlich für das Sehen im 19. Jahrhundert und erhält durch das Medium Fotografie seine markanteste Repräsentationsform. Sie definiert sich über eine optisch dominierte, wenig körperliche Sichtweise, die mehr auf das Ganze denn auf das konkrete Detail abzielt. Abbildung 6:

Henri Rivière, Sur le pont du Louvre (1885-1895)

Im Gegensatz dazu steht die neue mit dem Aufkommen der Handkameras einhergehende Sichtweise. Indem sich der Fotograf von seinem erhöhten Standort hinunter auf Straßenniveau begibt, ist er direkt in das Geschehen involviert. Der distanzierte Blick von oben wird zugunsten einoirs Bild als Symptom für die Beziehung zwischen Körper und Raum, die als Rhythmus der modernen Großstadt definiert wird (vgl. Nancy Forgione: „Everyday Life in Motion: The Art of Walking in Late-Nineteenth Century Paris“, in: Art Bulletin 4 (Dezember 2005), S. 664-687, hier S. 665ff.). 15 Otto Stelzer: Kunst und Photographie. Kontakte, Einflüsse, Wirkungen, München 1966, S. 55ff. In der Literatur wird der Blick von oben aus dem Fenster bereits vor der Erfindung der Fotografie angewandt. Ein Beispiel hierfür ist E.T.A. Hoffmanns Erzählung „Des Vetters Eckfenster“ aus dem Jahr 1822, in dem zwei Personen „das ganze Panorama“ des Treibens auf dem Gendarmenmarkt in Berlin beobachten (E.T.A. Hoffmann: „Des Vetters Eckfenster“, in: ders.: Sämtliche Werke, hg. von Hartmut Steinecke und Wulf Segebrecht, Bd. 6, Frankfurt/Main 2004, S. 468-497, hier S. 469). 212

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ner körperlichen Beziehung zum umgebenden urbanen Geschehen aufgegeben (s. Abb. 6). Dadurch tritt ein Paradigmenwechsel ein: Die realistische, objektive Stadtfotografie des 19. Jahrhunderts wird verdrängt von einer subjektiven Sichtweise, die sehr stark vom Tastsinn bestimmt wird. Dem bereits etablierten Motiv des ‚kalten Blicks‘16 muss nun der ‚warme Blick‘ entgegen gesetzt werden. Abbildung 7: Constantin Guys: Femme en pied (Schreitende Frau)

Der mit einem tragbaren Fotoapparat ausgerüstete ‚Stadtdurchstreifer‘ stellt eine neue Spielart der traditionellen Figur des Flaneurs dar. Das Interesse des Flaneurs richtet sich nicht auf die unveränderlichen Parameter des modernen Lebens, sondern vielmehr auf das momentan Auftretende und alles, was einem steten Wandel unterworfen ist: Sein Element sind „flüchtige Vorgänge, Szenen und Ereignisse, denen entweder der transitorische Charakter der Orte ihres Geschehens – Café, Boulevard, Vergnügungsstätten – oder aber die Haltung des an ihnen vorbeigehenden 16 Vgl. Gert Mattenklott: Der übersinnliche Leib. Beiträge zur Metaphysik des Körpers, Reinbek bei Hamburg 1982, insbesondere das zweite Kapitel mit dem Titel „Kalte Augen“, S. 47-77. Der Topos des kalten Blicks wird wiederholt in Bezug auf Straßenaufnahmen ins Feld geführt. Shelley Rice beschreibt die Fotografen im 19. Jahrhundert im Gegensatz zur Haltung eines Peter Henry Emerson und Alfred Stieglitz als „more objective […]; their images seem almost cold when viewed by contemporary standards, as if their authors, like the Realist writers, were trying to be transparent, to disappear.“ (S. Rice: Parisian Views, S. 27) und Jeremy Millar sagt in Bezug auf die generelle Haltung des Street Photographers, dass diese „intrusive and aggressive“ sein kann und der fotografische Akt mit „cold, clear eyes“ ausgeführt wird („La Foto Chiari: Some Thoughts towards a Neorealist Photography“, in: U. Eskildsen u.a. (Hg.), Street & Studio, S. 179-184, hier S. 179). 213

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Spaziergängers die zeitliche Begrenzung vorgibt.“17 Indem der Flaneur sich dem Temporären zuwendet, verortet er sich in jenem Komplex von Modernität, der von Charles Baudelaire als „die flüchtige, vergängliche Schönheit des gegenwärtigen Lebens“18 definiert wurde. Als exemplarische Figur, die sich der bildlichen Darstellung des modernen Lebens in all seiner Flüchtigkeit widmet, wählt Baudelaire Constantin Guys aus. Guys, über den schon der Fotograf Nadar mit einer aus dem Bereich der Momentfotografie kommenden Begrifflichkeit sagte: „Il découvrit l’instantané avant nous.“19, verschreibt sich der Darstellung des Momenthaften mit grafischen Mitteln. Die Zeichnung einer Passantin aus dem Louvre (s. Abb. 7) beinhaltet alle Baudelaire’schen Kategorien der Modernität („das Vorübergehende, das Entschwindende, das Zufällige“20) und führt diese am Beispiel des bewegten Lebens auf der Straße vor. Damit erlangt der Prozess des Vorbeigehens als Ausprägung des modernen Lebens sowohl auf einer motivischen als auch auf einer ästhetischen Ebene Ausdruck. Thematisch und stilistisch kann ein Naheverhältnis zu den etwa zeitgleich entstehenden Straßenfotografien von Charles Nègre behauptet werden. In beiden Fällen kommt dem Begriff der Skizze zentrale Bedeutung zu: So wie Nègres Aufnahmen nicht in abwertendem Sinn als „esquisses photographiques“21 bezeichnet wurden, wird bei Guys die Skizze als vollwertiges künstlerisches Ausdrucksmittel anerkannt. Durch seine zeichnerischen Unschärfen, Verwischungen und doppelten Linienführungen kommt dem Momenthaften per se ein eigener Wert zu. Liegen fotografische und zeichnerische Darstellung hier nah beieinander, so treten auch Parallelen in der Haltung des Autors auf: Sowohl der Maler als auch der Fotograf nähern sich in ihrem Begehren, all die flüchtigen Eindrücke des vorbeiziehenden Lebens festzuhalten, der Figur

17 Eckhardt Köhn: Straßenrausch. Flanerie und kleine Form. Versuch zur Literaturgeschichte des Flaneurs bis 1933, Berlin 1989, S. 67. Vergleiche weiter zur Figur des Flaneurs Keith Tester (Hg.), The Flâneur, London, New York 1994 und Harald Neumeyer: Der Flaneur. Konzeptionen der Moderne, Würzburg 1999. 18 Charles Baudelaire: „Der Maler des modernen Lebens“, in: ders.: Der Künstler und das moderne Leben. Essays, „Salons“, Intime Tagebücher, Leipzig ²1994, S. 290-320, hier S. 320. 19 Interview mit Nadar aus dem Jahr 1910, zit. nach: Jean Prinet und Antoinette Dilasser: Nadar, Paris 1966, S. 213f. 20 C. Baudelaire: „Der Maler des modernen Lebens“, S. 301. 21 Henri de Lacratelle: „Beaux-Arts, Revue photographique (1)“, in: La Lumière, 2. Jg., Nr. 10, 28.2.1852, S. 37, zit. nach F. Heilbrun (Hg.), Charles Nègre photographe 1820-1880, S. 53f. 214

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des Flaneurs an. Nach Baudelaire ist es dazu unabdingbar, sich physisch mitten in das Gewühl der Menschenmenge zu begeben. In seinem weithin bekannten Zitat aus „Der Maler des modernen Lebens“ spricht er von der Leidenschaft, „sich der Menge zu vermählen. Für den vollkommenen Flaneur, für den passionierten Beobachter ist es ein ungeheurer Genuß, in der Masse zu hausen, im Wogenden, in der Bewegung, im Flüchtigen und Unendlichen.“22 Dem Flaneur ist also der eigene Körper, mit dem er sich in die Menge hineinbegibt, wichtigstes Werkzeug der Stadterfahrung. In seinem körperlichen Erfassen von flüchtigen Begebenheiten begründet er eine neue Form der Wahrnehmung, deren Ziel die Fixierung von momenthaften Bildern ist – vergleichbar dem Vorgehen des Schnappschussfotografen. Die Parallelen zwischen dem Großstadtfotografen und der Figur des Flaneurs sind von unterschiedlichen Autoren aufgezeigt worden. Ein frühes Beispiel dafür ist Victor Fournel mit seinem Buch Ce qu’on voit dans les rues de Paris von 1855. Dem Stadtbeobachter Fournel geht es rein um eine punktuelle Schilderung des sich unaufhörlich wandelnden Pariser Lebens. In seinen Abschnitt über den Flaneur vergleicht er ihn mit „einer mobilen und leidenschaftlichen Daguerrotypie [sic!], in der sich selbst die geringsten Spuren abzeichnen und sich der Verlauf der Dinge, die Bewegung der Stadt, die facettenreiche Physiognomie des öffentlichen Geistes, die Glaubensrichtungen, die Antipathien und die Bewunderungen der Masse mit wechselnden Reflexen widerspiegelt.“23 Auch Susan Sontag schreibt in ihrem Buch Über Fotografie den Vergleich des Fotografen mit einem Flaneur fest: „Neugierig, innerlich unbeteiligt und routinemäßig die Realität begaffend, in der andere Menschen leben, arbeitet der allgegenwärtige Fotograf so, als ob seine Tätigkeit jenseits aller Klasseninteressen und seine Perspektive allgemeingültig wäre. Tatsächlich aber bestand die Fotografie ihre erste große Bewährungsprobe als eine Art zusätzliches Auge des Flaneurs aus der Mittelschicht, dessen Lebensgefühl Baudelaire so treffend charakterisiert hat. Der Fotograf, eine bewaffnete Spielart des einsamen Wanderers, pirscht sich an das großstädtische Inferno heran und durchstreift es – ein voyeuristischer Spaziergänger, der die Stadt als eine Landschaft wollüstiger Extreme entdeckt. Ein Adept der Schaulust und Connoisseur des Effektvollen, findet der Flaneur die Welt – pit-

22 C. Baudelaire: „Der Maler des modernen Lebens“, S. 297. 23 Victor Fournel: Ce qu’on voit dans les rues de Paris, Paris: E. Dentu 1867, S. 268 (Übersetzung von Karin Sagner, „‚Die Eroberung der Straße begann im 19. Jahrhundert‘“, in: Die Eroberung der Straße von Monet bis Grosz, Ausstellungskatalog Schirn Kunsthalle Frankfurt, München 2006, S. 12-20, hier S. 15). 215

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toresk. Was Baudelaires Flaneur entdeckte, wurde auf vielfältige Weise durch die ungestellten Momentaufnahmen veranschaulicht, die Ende des 19. Jahrhunderts […] gemacht wurden […].“24

Sontags Kritik am Momentfotografen als voyeuristischen Lüstling25 und dessen spiegelbildliche Gleichsetzung mit dem Momentfotografen übersieht jedoch grundlegende Unterschiede in der jeweiligen Herangehensweise. Während der Flaneur das flüchtige Geschehen allein über den Sehsinn rezipiert und bereits in diesem Moment eine Reflexion stattfindet, zeichnet sich der Momentfotograf durch ein intuitives Erfassen einer atmosphärischen Situation aus. Der Akt der Aneignung findet nicht ausschließlich über das Auge statt, sondern basiert auf dem Moment des Abdrückens als einem Ereignis, für das der Tastsinn konstitutive Bedeutung hat. Als moderner Chronist des Straßenlebens ist der Momentfotograf mit einer tragbaren Kamera ausgerüstet, die es ihm ermöglicht, mit einem einfachen Klick eine Szene einzufangen. Dadurch bringt er ein wesentliches neues Charakteristikum des Stadtchronisten zum Ausdruck: die Vermittlung des Gehens aus seiner eigenen Perspektive heraus. Indem er mit seinem Körper den Akt des Gehens vollzieht, verkörpert er das Dargestellte selber. Eine Beziehung zwischen Körper, Bewegung und Sehen ist die Folge. Das erste Ausdrucksmittel der modernen Großstadtchronisten ist der literarische Bericht. Schon hundert Jahre vor der Momentfotografie entsteht mit Louis-Sébastien Merciers Tableau de Paris eine umfangreiche Sammlung mit Schilderungen momenthafter Eindrücke des Pariser Straßenlebens. In seinen kleinen Prosastücken nimmt der unermüdliche Spaziergänger Mercier ganz unterschiedliche Erscheinungen des Großstadtlebens ins Visier. Nicht nur im Titel, auch im Vorwort ist die Thematisierung der Bedeutung des Sehsinns über zahlreiche visuelle Metaphern Programm: Er skizzierte in seinem „Bild“ von Paris, was ihm vor Augen kam, er „malte“ ein Bild von ganz verschiedenen Seiten und es war sein Ziel, sich wahrheitsgetreu des „Malpinsels“ zu bedienen.26 Mercier kann sich zu seiner Zeit nur Analogien aus dem Bereich der Ma24 Susan Sontag: Über Fotografie, Frankfurt/Main 1996, S. 57. 25 Gert Mattenklotts Gleichsetzung des kalten Blicks mit dem phallischen Prinzip (G. Mattenklott: Der übersinnliche Leib, S. 57) findet im Sehdispositiv des Flaneurs seine deutlichste Ausprägung. Der Flaneur als die paradigmatische Verkörperung des männlichen voyeuristischen Blicks, der die Frau als Objekt des Spektakels betrachtet, schreibt ein schon bestehendes phallozentristisches Geschlechterverhältnis fort. 26 Louis-Sébastien Mercier: Tableau de Paris. Bilder aus dem vorrevolutionären Paris, Zürich 1990, S. 7ff. 216

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lerei bedienen, dennoch kann sein Vorgehen bereits als proto-fotografisch bezeichnet werden, was dem Schnappschuss vergleichbar ist. Das mit der Momentfotografie aufkommende spontane Festhalten von zufälligen Begegnungen mit Passanten auf der Straße hat gravierende Folgen für das Individuum im öffentlichen Raum. Ist die Problematisierung des Individuums in der Moderne ein viele verschiedene Bereiche tangierendes Thema, so stellt das ungefragte Fotografieren der Knipser in der Stadtöffentlichkeit ein besonders heikles Terrain dar. Die von Max Imdahl definierten Repräsentationskriterien der Momentfotografie – Stichwort „Unzusammenhang“27 – stellen die Individuen als vereinzelte, isolierte und ortlose Figuren dar und thematisieren somit das oft beklagte Lebensgefühl des modernen Großstädters. Die Krise des Individuums ist Ausdruck für die moderne Erfahrung des öffentlichen Raumes und der Auflösung tradierter Gemeinschaftsvorstellungen. Interaktion bedeutet nun das zufällige Zusammentreffen mit dem Einzelnen in der anonymen Menge; der Kontakt kann dabei nur flüchtig und spekulativ bleiben. Daraus resultiert eine Dualität von Faszination und Angst, die sich in Vorstellungen des Untergehens in der Menge und „einer Art von physiognomischer Amnesie“28 konkretisiert. Durch die Umwandlung der Grands Boulevards zu hochgradig öffentlichen Räumen wurden die Zeitgenossen gezwungen, neue Strategien des Umgangs mit dieser Öffentlichkeit zu entwickeln. Richard Sennett zufolge traten die Stadtbewohner des 19. Jahrhunderts einen Rückzug ins Private an und flüchteten in die segregierten Orte der Hochkultur.29 Wenn sich das Individuum nun in diesem neu definierten Stadtgefüge als prekäres Wesen erlebt, müssen Bilder diesen Eindruck noch verstärken. Tatsächlich werden am Ende des 19. Jahrhunderts die Auswirkungen der Schnappschussfotografie auf das Individuum diskutiert. Da die Form der Darstellung mit allem bisher Dagewesenen bricht, stoßen diese ‚Knipserfotos‘ auch bei den ‚Opfern‘30 auf Widerstand. Der oft

27 M. Imdahl: „Die Momentfotografie und ‚Le Comte Lepic‘ von Edgar Degas“, S. 308. 28 Mit ‚physiognomischer Amnesie‘ ist die Unmöglichkeit, sich all die anonymen Gesichter auf der Straße zu merken, gemeint (Matthias Ulrich: „Die Stadt der Gesellschaft“, in: Die Eroberung der Straße von Monet bis Grosz, S. 222-225, hier S. 223). 29 Vgl. Richard Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt/Main 2002. 30 Der Begriff des ‚Opfers‘ wird wiederholt im zeitgenössischen Diskurs um das ‚Recht am eigenen Bilde‘ angeführt. Individuen, die ohne ihr Wissen fotografiert werden, büßen einen Großteil ihrer Autonomie ein (vgl. dazu 217

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willkürliche und für die Person wenig schmeichelhafte Ausschnitt unterläuft jede individualisierende Schilderung. Außerdem erleben die Passanten die potenzielle Anwesenheit unsichtbarer Fotografen als Bedrohung. Immer und überall in der Öffentlichkeit fotografiert zu werden war damals noch ungewohnter als heute, als der Gang zum Fotografen etwas Seltenes und Besonderes war, dem man besondere Aufmerksamkeit angedeihen ließ. Für das Porträtstudio machte man sich besonders aufwändig zurecht, man begab sich in eine repräsentative Kulisse, die etwa ein großbürgerliches Wohnzimmer darstellte und nahm eine dem eigenen Stand entsprechende Pose ein. All dies war dem Passanten auf der Straße nicht möglich – ja, die Momentfotografie lief allen performativen Inszenierungsversuchen zuwider. Daher wurden diese Fotografien als Angriff auf die persönliche Sphäre empfunden. In Folge kommt der Diskurs um das sogenannte ‚Recht am eigenen Bild‘ auf, der sich anhand von Präzedenzfällen damit auseinander setzt, wo die Grenzen von Privatheit liegen.31 Abbildung 8: Anleitung zu Genreaufnahmen (Illustration aus: Alexander Niklitschek, Ratschläge für Amateurphotographen)

Beate Rösslers Ausführungen zum Konzept der informationellen Privatheit in: Der Wert des Privaten, Frankfurt/Main 2001, S. 201ff.). 31 Bestimmend für die Diskussion um das ‚Recht am eigenen Bilde‘ ist Hugo Keyssner: Das Recht am eigenen Bilde, Berlin 1896. Siehe auch Georg Cohn: Neue Rechtsgüter. Das Recht am eigenen Namen; das Recht am eigenen Bilde, Berlin: Otto Liebmann 1902, S. 39-58, Karl Gareis: „Wie weit ist ein Recht am eigenen Bild anzuerkennen und zu schützen? Gutachten I“, in: Verhandlungen des 26. Deutschen Juristentages, Bd. 1, 1902, S. 3-17 und Kurt Hirsch: Das Recht am eigenen Bilde, Dissertation. Bonn [o.J.] 218

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In fotografischen Handbüchern wird wiederholt darauf eingegangen, wie man als Amateur richtig diese ungestellten Fotografien aufnehmen kann. Niklitschek illustriert die richtige und falsche Vorgehensweise folgendermaßen (Abb. 8): Möchte man eine Genreszene von einem städtischen Marktgeschehen anfertigen, wendet man am besten den Personen, die abgebildet werden sollen, den Rücken zu und hantiert unauffällig mit der unter dem Mantel versteckten Kamera, die bald schon den Namen ‚Detektiv- oder Geheimkamera‘ zugeschrieben bekamen. Seine Anweisung lautet folgendermaßen: „Man muss immer so arbeiten, dass die ‚Opfer‘ vom Fotografiertwerden möglichst wenig bemerken. […] Durch Rückwärtsschauen über die Achsel beobachtet man unausgesetzt das Motiv und dreht sich erst dann um und schießt los, wenn ein geeigneter Moment gefunden ist.“32 Nicht zielführend sei ein offensichtlicher Umgang mit dem Apparat, der es den Personen ermöglicht, für die Aufnahme bewusst zu posieren, wie es an den beiden Kindern dargestellt wird.33 Die neue Ästhetik des Flüchtigen und Transitorischen, die ohne Rücksicht auf Schutzzonen von Privatpersonen verwirklicht wird, zielt auf den ungeplanten, unmittelbaren und unauffälligen Bildakt ab. Statt technisch gute Bilder zu erhalten und Augenmerk auf einen austarierten Bildaufbau zu legen, geht es vielmehr darum, dass der Fotograf aus einer direkt mit dem Geschehen involvierten Position abdrückt – im Willen um eine authentische Wiedergabe der Realität. Die Modernität hat also einen Preis, der vom Individuum selber getragen werden muss. Diesem wird jede Möglichkeit zur Selbstdarstellung, die man einer fremdbestimmten und übergriffigen Abbildungsweise entgegensetzen könnte, genommen. Während im 20. Jahrhundert dem Individuum bedingt durch die weite Ver-

32 A. Niklitschek: Ratschläge für Amateurphotographen, Wien: o.J. 1930, S. 90f. 33 Genreszenen, die ein Mittun der Dargestellten voraussetzen, sind sogenannte Typenaufnahmen. Dieses internationale Phänomen sucht bestimmte Berufstypen, die im öffentlichen Raum vorkommen, inventarisch zu erfassen. Bevor diese typisierten Genredarstellungen um 1900 in der Fotografie eine Blüte erlebten, existierten sie bereits in der Malerei, Grafik und Literatur. Bei diesen Fotografien ist die Inszenierung Programm: Sowohl die Darsteller werden gebeten zu posieren als auch die Bildidee selber ist inszeniert, da es sich meist um Vertreter von Berufsgruppen handelt, die bereits dem gesellschaftlichen Wandel zum Opfer gefallen sind. Man kann hier also auch von einer Sicht auf das Flüchtige sprechen, allerdings meint hier das Flüchtige das Vergangene, das Nicht-mehr-Existente, das mit nostalgischem Blick gezeigt wird (vgl. E. Atget, Géniaux, Vert. Petits métiers et types parisiens vers 1900, Ausstellungskatalog Musée Carnavalet, Paris 1984 und M. Ponstingl: Straßenleben in Wien, S. 26ff.). 219

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breitung von Illustrierten, Werbefotografien oder Modeaufnahmen bereits Bilder von Prominenten, die als Vorbilder für die eigene Selbstdarstellung taugen, zur Verfügung stehen, steht man Ende des 19. Jahrhunderts dem ungefragten Bildakt im öffentlichen Raum hilflos gegenüber. Das nötige Handwerkszeug, sich selber performativ für die Kamera zu inszenieren, ohne in Bedrängnis zu geraten, ist noch nicht ausgeprägt.

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F O T O /F I L M E O DE R : F I L M I S C H E (R E -) A N I M A T I O N D E S FOTOGRAFISCHEN STILLSTANDES BEATE OCHSNER Die 1989 veröffentlichte Videoarbeit At one view (1989) von Paul und Menno de Nooijer fasst die medialen Pole der folgenden Überlegungen in Wort und Bild: Zwei Männer, Vater und Sohn de Nooijer, sitzen auf Stühlen vor einem flackernden Kaminfeuer. Vor ihre Gesichter halten sie im Stop-Motion-Verfahren animierte Porträts ihrer selbst, die sie einmal im Profil, dann wieder frontal und wieder im Profil zeigen: „There is no real difference between photography and film. One day, I discovered, film is a trick, film is hundreds of snapshots after each other. Realizing that, I immediately stopped film-making.“ (Off-Ton) Die Fotografien werden gedreht, gekippt, die darauf zu erkennenden Köpfe bewegen sich parallel zu den bewegten Portraits. Plötzlich werden die fotografierten Gesichter bis zur grobkörnigen Unkenntlichkeit vergrößert (Abb. 4) – Blow up – und wieder auf Normalgröße gebraucht. Danach halten die beiden Männer die Portraits vor die Brust, ihre Kopfbewegungen im Film wiederholen diejenigen auf den Fotografien (Abb. 5). Die Bilder werden zerknüllt, wieder entfaltet, schließlich nehmen sie den ganzen Bildraum ein (ab Abb. 6), wobei die Bewegungen an chronofotografische Bewegungsstudien erinnern. Die ganze Zeit über sind im Off Reflexionen über Fotografie respektive Film zu hören sind: „I’m not a photographer. Ich bin ein Fotograf. Ich bin kein Fotograf.“

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Abbildung 1-8: Paul de Nooijer: At one view (1998)

Einleitung Nach der erfolgreichen Ausstellung Film und Foto 1929 in Stuttgart, nach dem nur ein Jahr später veröffentlichten Film Menschen am Sonntag (Robert Siodmak, 1929/30) – mit einer der ersten Filme, die die Praxis der Familien- und Freizeitfotografie anhand der Stillstellung von Portraits im Film thematisierten – sowie nach dem Erscheinen des wohl berühmtesten Fotofilms La Jetée (1962) von Chris Marker, konstatiert der französische Fototheoretiker André Rouillé in seinem Vorwort zu einer die besonderen Beziehungen zwischen Kino und Fotografie thematisierenden Sondernummer der Recherche Photographique Ende der 1980er Jahre ein neuerliches Interesse an medialen Interrelationen zwischen Film und Fotografie wie z.B. Fotografie im Kino, Kino in der Fotografie, von der Fotografie zum Kino, Filmfotografie, Regisseure, die als Fotografen arbeiten und umgekehrt,1 Filme, die sich mit der Thematik der Fotografie auseinandersetzen oder Filme, die gar fotografische Formen anzunehmen scheinen, etc.2 Die Bedeutung dieser komplexitätssteigernden, auf filmische respektive fotografische Praktiken, Figuren oder Werke verweisenden Deklinierungen bestätigt auch die 2006 in Köln und Berlin nebst Tagung veranstaltete Filmreihe zum Thema Fotofilme.3 1 2

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Cindy Sherman: Office Killer (1997), des Weiteren Wim Wenders, Robert Frank und Larry Clark. André Rouillé: „Le cinéma, la photographie“, in: La Recherche photographique 3 (1987), S. 3-4, hier S. 3: „[...] la photographie dans le cinéma, le cinéma dans la photographie, de la photographie au cinéma, la photographie de film, les photographies cinéastes, les films à thème ou à forme photographiques ...“. Programm sowie Einleitungstext finden sich unter: http://www.fdkberlin.de/arsenal/programmtext222

FOTO/FILME

Wie Philippe Dubois bestätigt, habe besonders die zeitgenössische Kunstfotografie nie aufgehört, vom ‚Gespenst kinematographischer Bewegung verfolgt‘ zu werden,4 während das Kino seinerseits versuche, den Stillstand zu träumen; Tendenzen, die sowohl auf den fotografischen Ursprung des Kinos wie auch auf das Kino als Erfüllung der Fotografie verweisen. In diesem Kontext entwickelt Dubois eine Geschichte medialer Bilddispositive, innerhalb derer von der Camera obscura über Fotografie, Kino und Video bis hin zu synthetischen Bildern die Maschinisierung von Produktion über Rezeption und Transmission hin zum Referenten fortschreite.5 Im Rahmen dieses teleologisch gefassten Modells erscheint filmische Wahrnehmung immer schon fotografisch-medial konfiguriert, wobei sich vielfältige Überlagerungen und Passagen zwischen fotografischen und kinematografischen Bildzuständen („états d’images“) sowie ihren Diskursen ergeben.6 „Bis heute“ – so Dubois – „[kann man] nur noch über eine Kunst oder ein Medium durch ein jeweils anderes hindurch (à travers) sprechen [...], man [kann] die Fotografie [...] offenbar nur noch in der Art theoretischer Unreinheit denken [....], als Raum von Überschneidungen, wo sich vielfältige ‚effets d’écriture‘ gegenseitig interpretieren.“7 Alain Badious und Denis Lévys Funktionalisierung der Unreinheit als Indikator für den Grad medialer Selbstreflexion zeigt, dass dies in gleicher Weise auch für das Kino gilt: „Le ci-

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anzeige/archive/2006/11/article/688/212.html ?cHash=ec1cd643fc vom 22.04.08. Auch im digitalen Zeitalter stießen die hier vorgeführten, analysierten und diskutierten Konstellationen zweier ‚alter‘ Medien auf offensichtliches Interesse. Thomas Todes eindringliches „Plädoyer für die Bastardisierung“ sowie die unterschiedlichen Filmreihen „Wieviel Bewegung braucht ein Bild?“, „Das tanzende Foto“, „Erinnern und Gedächtnis“, „Das filmisch Fotografische“, „Fotoroman“ oder „Die Plastizität des Moments“ entwickelten verschiedene Problemstellungen, die sich aus und an den Schnittstellen von Fotografie und Film ergeben und die auch jüngere Künstler (so z.B. Sabine Höpfner, Doris Eißfeldt, Letizia Werth u.a.) seit einiger Zeit verstärkt für sich entdecken. „[...] la photographie créative [...] n’a cessé de se montrer littéralement hantée par le cinéma [...].“ Philippe Dubois: „Les métissages de l’image“, in: La Recherche Photographique, 11/1992, S. 24. „Cette fois, c’est ‚le réel‘ même qui se fait machinique.“ (P. Dubois: „Les métissages“, S. 24). „Elles [les photographies, Verf.] investissent, orientent, travaillent le film, jusqu’au paradoxe d’une image immobile produite par un défilement continu, jusqu’à la situation ultime de l’arrêt sur l’image.“ (A. Rouillé: „Le cinéma, la photographie“, S. 4) P. Dubois: „La photo tremblée et le cinéma suspendu“, in: La Recherche photographique 3 (1987), S. 19. 223

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néma est un art impur. Il est bien le plus-un des arts, parasitaire et inconsistant. Mais sa force d’art contemporain est justement de faire idée, [...] de l’impureté de toute idée.“8 Die sich an die oben ausgeführten Thesen anschließenden Überlegungen zum Thema Fotografie und Film siedeln sich im Zwischenraum von stillgestelltem Film und (re-)animierter Fotografie an, der Schwerpunkt liegt auf der Dis-Positionierung von Fotografien im filmischen Dispositiv bzw. auf ihrer Projektion „à travers le cinéma“9. Dabei dienen Arbeiten des holländischen Filmemachers und Fotografen Paul de Nooijer (Transformation by Holding Time, 1976), der jungen österreichischen Künstlerin Letizia Werth, des österreichischen Filmemachers Virgil Widrich (Copy Shop 2001) sowie der finnischen Fotografin SirkkaLiisa Konttinen (Writing in the Sand aus den Jahren 1991 bzw. 2000) als Anschauungsmaterial, um hybride Konstellationen zwischen fotografischen Stillstand und filmischer Reanimation respektive Re-Narrativie8

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Alain Badiou/Denis Lévy: „Le cinéma comme faux mouvement“, in: L’Art du cinéma 4 (2001). Denis Lévy unterscheidet zwischen „impureté locale“ und „globale“, wobei ersteres einzelne Anleihen des Kino an andere Künste (z.B. die romaneske Person, der dramatische Held, Opern- und Operettenmusik etc.) meint, während die globale Unreinheit sich auf die Übernahme formaler Paradigmen anderer Kunstformen bezieht. Das Interesse des Filmwissenschaftlers Raymond Bellour nun zielt auf die Bilder zwischen kinematografisch animiertem und fotografisch eingefrorenem Bild, auf die „entre-images“, die als „arrêts sur l’image“ die (Illusion einer) Stillstellung des filmischen Bildes erzeugen oder als „images bougées“ oder „floues“ die (Illusion von) Bewegung im fotografischen Bild entstehen lassen. (Raymond Bellour: Entre-Images. Photo, cinéma, vidéo, T 1, Paris 2002 und L’Entre-Images 2. Mots, Images, Paris 1999. Vgl. auch den Ausstellungsband Moving Pictures, der zwischen der Inszenierung mit Filmbildern (Szene, Location, Raumbezogenheit, z.B. Mori, Günter, Heck, Sherman oder Jürfüß’ Videos: Film Stills werden produziert oder aber als Material elektronisch oder per Computer verfremdet, Collage mit fotografischem Material (z.B. Abda, Eitner, Kahrs u.a.), häufig Identitätskonstrukte, Suche nach den Ursprüngen), Fotografien, die sich einer kinematografischen Herangehensweise bedienen (arbeitet mit Filmtechniken wie Editing, Montage, verwischten/ver-schleierten Bildern und Übergängen; rhythmische Überlagerung, lineare Sequenzen oder horizontale Präsentation (Filmstreifen) stimulieren die Betrachter, die einzelnen Bilder zu narrativieren (Aitken, Lockhart, Probst, Schneider etc.), Reflexionen und Refaktionen fiktionaler Filmwelten: Gvetadze, Heimerdinger u.a. und konzeptuelle Arbeiten zwischen den Genres: Monk, Saint-Loubert Bié, Forschungsgruppe_f unterscheidet. (Moving Pictures, hg. von Renate Wiehager, Ostfildern 2001) 224

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rung aufzuzeigen und zur Diskussion zu stellen.10 Schwerpunkte der intermedialen Verfransungen bilden dabei die Frage nach der (Illusion von) Bewegung im Bild und der Möglichkeit, die Bewegung zu sehen (respektive sichtbar zu machen),11 die Bedeutung des neu geschaffenen Raumes (vor allem auch des Offs) sowie die Rolle des Tones.

M e ti s sag e I : V o m F o t o z u m F i l m : S e k u n de n ( L e ti z i a W e r t h , 2 0 0 4 ) Der 5-minütige Foto/Film Sekunden der österreicherischen Künstlerin Letizia Werth steht produktions- wie auch rezeptionsästhetisch zwischen Fotografie und Film: Der Film besteht aus 409 gefunden privaten Aufnahmen, sog. found footage, kulturelle Fragmente, die sich aus Spuren von Gesten, Räumen, Beziehungen, Verhaltens- und Bewertungsweisen zusammensetzen. Die künstlerische Beschäftigung mit von fremder Hand erstelltem fotografischem Material ist im österreichischen Grenzgängerkino als Technik des ‚zweiten Blicks‘ traditionell verankert; diese Beobachterfunktion markiert Letizia Werth medial durch die Deplatzierung der Fotografie im Film, wobei die im Stop-Motion-Verfahren12 erzielte Bewegung (neue) Korrespondenzen zwischen den Bildern entstehen lässt.

10 Die Luhmann’sche Systemtheorie interpretiert diese Operation als Beobachtung: Es wird etwas unterschieden und gleichzeitig von etwas anderem – dem Unbeobachteten – unterschieden. Dadurch ist das System in der Lage, diese Operation in sich selbst zu behandeln, wodurch eine beobachtete Unterscheidung und beobachtende Unterscheidung entsteht. 11 „Wenn das Bild Bewegung ist, kann es dann noch Bild sein? Aber wenn die Bewegung nicht Bild werden kann, wie kann man dann eine Bewegung denken, die zu der Möglichkeit führt, sie zu sehen?“ (Marie-Claire RoparsWuilleumier: L’idée d’image, Paris 1995, S. 50) 12 Stop-motion-Verfahren bedeutet Animation von Gegenständen, die für jedes einzelne Bild des Filmes immer nur geringfügig verändert werden. Als filmhistorische Referenz dienen Georges Méliès’ ab 1896 produzierte Trickfilme, die im Laufe der Zeit immer weiter perfektioniert wurden (vgl. The Lost World, King Kong und die weiße Frau bis zu Terminator oder Star Wars, The Nightmare Before Christmas u.a.). Heute findet das Verfahren meist nur aus nostalgischen Gründen Anwendung, wie z.B. in South Park, der diese Technik allerdings nur simuliert, denn hier kommen letztlich Computer und Software (3D-Programm Maya) zum Einsatz. 225

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Abbildung 9-12: Letizia Werth: Sekunden (2004)

Die Fotografien zeigen allesamt Frauen unterschiedlichen Aussehens und Alters. Die Damen posieren im Freien und in Räumen, tragen Wintermäntel, Skikleidung, Hochzeitsgewänder, Sommerkleidchen, Trachten, Bademoden oder auch Dessous, sie lehnen sich an Autos, Bäume und Geländer, stützen sich auf Skistöcke oder Verkehrsschilder, tragen Sonnenbrillen, Hüte oder Kopftücher, sitzen auf Bänken, Balustraden, Decken, Gartenstühlen, Sesseln oder einfach im Gras. In der ‚Zusammensetzung der Fotos‘ zu einem Film, werden die abgebildeten Subjekte und Objekte zum zweiten Mal ihrer Zeit entrissen und in einer anderen Welt, einer anderen Art von Zeit untergebracht. In der raschen Bildabfolge überlagern sich die einzelnen Posen respektive Positionen, die voneinander unabhängig aufgenommenen Frauen scheinen in der Serialisierung zu einem Objekt zu verschmelzen, das teilweise, unterstützt durch den gleichwohl nur minimal wandernden Rahmen, sogar kurze Bewegungsabläufe und Körperdrehungen zu unternehmen scheint. Der von Letizia Werth bewusst inszenierte Eindruck einer „kollektiven Erinnerung unzähliger Momente“ verdankt sich freilich auch dem Umstand, dass sich die Köpfe der nacheinander erscheinenden Frauen im filmischen wie im fotografischen Bild auf nur minimal differierender Höhe befinden, während die in einzelne Phasen aufgespaltene Hebung oder Senkung der Arme mit der Bewegung der Füße nach vorne oder zur Seite korrespondiert und somit präkinematografischen Animationsversuchen ähnelt, die – so Lev Manovich – im Gegensatz zum Film den diskreten Charakter von Raum und Bewegung zeigen. Schön auch eine im filmischen Ablauf wahrnehmbare Bewegung von links nach rechts und wieder zurück, die sowohl von den im Bild wahrzunehmenden Personen wie auch vom (fotografischen) Bild selbst vollzogen wird. Im Gegensatz zum folgenden filmischen Beispiel, Writing in the Sand (Konttinen, 2000), aber bleibt die filmische Rahmung des rechteckigen Format der Fotos konsequent bestehen, die Kamera bleibt unbewegt, die für das Genre des Foto/Films typische Choreografie aus in die Bilder hineingehenden, ihnen Echtheit und Lebensnähe verleihenden Zooms, Schwenks und Fahrten, bleibt ebenso aus wie auf den Film verweisende Überblendungen oder ein betont filmischer Soundtrack ....

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Die einzelne Fotografie kann in der Schnelligkeit der Aneinanderreihung nicht mehr wahrgenommen werden, doch macht die durch die (Illusion der) Bewegung, die in der Wiederholung zahlreicher ähnlicher, nur minimal voneinander abweichender, gleichwohl voneinander unabhängiger Momente, die Aufnahme(n) zum Film? Vielleicht nicht, doch die Lektüre der Fotos in den Zwischenräumen des filmischen Dispositivs (das durch die Rahmung der Fotografien betont wird), erlaubt gleichwohl sinnstiftende Kopplungen, Ein-Sichten in eine ‚andere‘ Zeit. Der Schnitt der Fotografie durchtrennt Dubois zufolge sowohl den Faden der zeitlichen Dauer wie auch das Kontinuum des Raums: es bleibt ein AbSchnitt, ein „kleiner Block Dasein“, das mit einem Schlag („coup“) geschnitten („couper“) bzw. abgetrennt wird.13 So entsteht die Außerzeitlichkeit („hors-temps“) und letztlich -örtlichkeit („hors-champ“), die Fotografie entfremdet von der anderswo ablaufenden Zeit der Welt: Dieser Zeitspalt nun kann nur gefüllt werden, wenn man die stehen gebliebene Erinnerung wieder in einen (hier filmischen) Ablauf einfügt, sie ‚von außen‘ kontextualisiert: Das von Außen Kommende ist bei Letizia Werth nun keine (neue) Geschichte, vielmehr ‚bewegt‘ sie die Bilder, indem sie die durchgeschnittenen Zeiten – die so nie eine Einheit gebildet haben! – im raschen Wechsel von Ein-Halt und Bewegung „zusammennäht“ und aus dieser Rekonstitution „ein Metaphantasma“14, eine An-Ordnung oder Dis-Position erstellt. Dabei ist es die Sichtbarmachung der Illusion von Bewegung in der kinematografischen Reanimation, die diese filmische Fiktion – im Gegensatz zu allen Filmen, die die Synthese unsichtbar machen – so bemerkenswert erscheinen lässt. Gleichzeitig stellt sich in diesem Kontext die Frage nach dem Film auch insofern, als Letizia Werth selbst ihre Arbeit seltener im Kino denn in Ausstellungskontexten präsentiert.15 Und so geht es – wie auch in den folgenden Beispielen – weniger darum, was Film ist, sondern darum, wie etwas sein muss, damit es Film ist, als Film erscheint und als solcher wahrgenommen wird.16

13 Vgl. P. Dubois: Der fotografische Akt, Dresden 1998, S. 157. 14 Ebd., S. 160. 15 So z.B. auch im Rahmen des Workshops „An den Rändern des Films“ in der Galerie „fluctuating images“ in Stuttgart 2004. 16 Andrzej Gwódz: „(Inter)Medialität als Gegenstand der Filmwissenschaft“, in: Heinz-B. Heller u.a. (Hg.), Über Bilder Sprechen. Positionen und Perspektiven der Medienwissenschaft, Marburg 2000, S. 69-78, hier S. 71. Vgl. ebenso P. Dubois (Hg.), L’Effet-Film, matières et formes du cinéma en photographie, Lyon, Galerie Le Réverbère II 1999. 227

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W r i t i n g i n t h e S an d ( K o n tt i n e n , 2 0 0 0 ) Beim Fotofilm, so die Regisseurin Katja Pratsche, gehe es um die Lücke zwischen den Bildern, die als Berührungspunkt von Bewegung und Stillstand in Fotografie und Film, als „Bewusstlosigkeit in der Bilderproduktion“ zu verstehen sei.17 Ohne auf die spätestens seit Chris Markers „photo-roman“ La Jetée (1962) entstandene Berühmtheit des Foto/Films einzugehen, möchte ich die Besonderheiten dieses faszinierenden Genres anhand des 2000 von Sirkka Liisa Konttinen in Zusammenarbeit mit der Amber-Group produzierten Fotofilms Writing in the Sand aufzeigen. Der 43-minütige, mit zahlreichen Preisen ausgezeichnete18 Film besteht aus 400 ausgewählten, in Manier der Schnappschussästhetik auffallend zufällig inszenierten Bildern nordenglischer Badestrände,19 die Konttinen über einen Zeitraum von ca. 20 Jahren aufgenommen hat.20 Die mit einer Videokamera abgefilmten Aufnahmen, die mit Hilfe verschiedener filmsprachlicher Mittel wie Zooms, Schwenks oder Fahrten sowie Stop-Motion-Verfahren in Bewegung versetzt wurden und den Bildraum erweitern, kombiniert mit einem nachträglich aufgenommenen, wahlweise aus instrumenteller Musik, Gesang, einzelnen Worten oder Gesprächsfetzen sowie einem poetischen Kommentar bestehenden Ton, scheinen Geschichten aus einer anderen Zeit zu wiederholen: ein Familientag an einem ostenglischen Strand, körperlose, aus dem Sand ragende Köpfe, herumtollende Kinder und Teenager, lachende Menschen, bellende Hunde, aufspritzende Wasserfontänen, Imbissbuden und Picknickge-

17 Vgl. „Mind the gap!“ Online-Rezension von Ulrike Mattern zu einem Symposium zum Thema Fotofilme, das an der Kunsthochschule für Medien in Köln Ende April stattfand. http://www.jump-cut.de/fotofilmekoeln.html vom 22.04.08. 18 So z.B. mit dem Autorship Award Northern Electric Arts Award (1991), dem Prix du Documentaire, Cinéma du Réel (Paris 1992) sowie dem Grand Prix City of Melbourne Award (ebenfalls 1992). 19 Während die bewusst in die Kamera blickenden Frauen auf den Fotografien Werths das Off markieren, scheint Konttinen ebenso bewusst Aufnahmen ausgewählt zu haben, in denen der direkte Blick weitestgehend vermieden wird. Eine Ausnahme besonderer Art stellt die einzige Farbsequenz dar, deren Portraitierte allesamt bewusst in die Kamera schauen. Weiterhin werden die Beobachtersituation bzw. das Fotografieren selbst – wenn auch nicht exzessiv – so doch anhand mehrerer Bilder thematisiert. Auffallend ist, dass die in der Fotografie Portraitierten wie auch ihre Fotografen stets im Bild- und Blickraum der sie einbettenden Aufnahme bleiben, ihren Rahmen mithin nicht transgredieren. 20 Insgesamt handelte es sich um ca. 2000 Fotografien. 228

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lage, und immer wieder das Meer, fließend, beweglich, das absolute Gegenteil von Stillstellung. Den Meeresbildern folgt zumeist die Auffahrt in einen jegliche Rahmungen überschreitenden Himmel, der bemerkenswert oft Wolken aufweist, was sicherlich zum einen auf die in Ostengland im allgemeinen herrschende Wetterlage, zum anderen aber auch – so Dubois – auf Wolken als Spuren, Reflexe oder Entwicklungsmomente eines ihnen physikalisch-indexalisch verbundenen Phänomens verweist. In den Wolkenbildern bilde die Fotografie im Grunde ihren eigenen Repräsentationsprozess ab, hier sei das Off als das Unendliche stärker und unhintergehbarer als sonst irgendwo.

I l l u si o n d e r B e w e g u n g Abbildungen 13-20: Sirkka Lisa Konttinen: Writing in the Sand (2000)

Die klassische Filmkamera supplementiert den Stillstand der Bilder, indem sie sie letztlich nicht einfach nacheinander projiziert, sondern Bild über Bild (er)setzt, um so die Lücken zu schließen, Fetischen gleich, die in sich die Position des Verlustes bzw. der Abwesenheit mit seiner symbolischen Vermeidung verbinden.21 Das Dispositiv des Foto/Films hingegen lässt diese Abwesenheit, die Lücke im Zwischenraum von Einzelbild und Film aufscheinen, die widerständige Fotografie, die der Film zum Verschwinden bringen soll, figuriert vor dem filmischen Hintergrund.22 So erzielt die besondere Anordnung des Foto/Films, die Rekursion der Fotografie in das filmische Feld, im Misslingen des Filmischen (d.h. dem 21 Christian Metz: „Foto, Fetisch“, in: Hubertus von Amelunxen (Hg.), Theorie der Fotografie IV, München 2000, S. 345-355, hier: S. 349. 22 „Die Anordnung des Dispositivs ist das Wissen um den Bruch, der sich in seinem Diskurs artikuliert, um den Bruch zu maskieren oder ihm zum Durchbruch zu verhelfen.“ (Joachim Paech: „Überlegungen zum Dispositiv als Theorie medialer Topik“, in: ders., Der Bewegung einer Linie folgen, Berlin 2002, S. 85-111, hier S. 103) 229

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Verschwinden um des Erscheinens Willen) den ihr eigenen Effekt einer Wahrnehmbarkeit dieser Perzeptionsgrundlage des Kinobildes.23

N ar r a ti o n Peter Wollen24 zufolge weisen Foto-Filme darauf hin, dass die filmische Bewegung nur Illusion, vielleicht gar ein Köder ist: Der Fotograf skandiert die Zeit rhythmisch, er zerlegt die Bewegungen in minimal voneinander abweichende immobile Posen, deren geregelter Ablauf von Hemmung und Weitertransport die (Illusion filmischer) Bewegung begründen. So existiert diese Bewegung nur als Fiktion einer Gedächtniszeit, die die einzelnen Momente der Nicht-Bewegung zu einer filmischen Synthese aneinanderzureihen bereit ist bzw. aufgrund physiologischer Besonderheiten von Stroboskopeffekt und Nachbildwirkung. Während dies bei Sekunden durch die ruckhafte Stakkatobewegung, die statische Kamera, die Markierungen von filmischem und fotografischem Rahmen sowie die fehlende Narration immer wieder ausgesetzt wird, gelingt es Writing in the Sand, durch das defilement der Bilder in der Zeit (auf die der Zuschauer keinerlei Einfluss hat) und – häufig unbeachtet – aufgrund der Musik und der Off- bzw. On-Töne trotz der fotografischen „logique médusante“25 Zeit und mithin Narration entstehen zu lassen.26 In fast natürlicher, homogener Weise passen sich die nachträglich aufgenommenen Tonaufnahmen den Bildern an: Wir hören, was wir sehen, wir sehen, was wir hören. Wie Jean-Louis Baudry im Kontext seiner ApparatusTheorie konstatierte, dienen auch hier die Töne als ‚Zwischenglied‘, die zwischen dem Simulakrum der Bilder und ihrer Projektion einen zusätzlichen Realitätseffekt produzieren.27 23 Jacques Aumont: L’Image, Paris 1990, S. 132: „[L]’un des caractères perceptifs fondamentaux de l’image de film, [...] est cette apparition brusque, par tout ou rien, qui a au moins une conséquence importante: le contour de l’image, ses bords [...] sont vus comme appartenant à l’image, tandis que l’image elle-même apparaît comme ‚plaquée‘ sur son fond, l’écran.“ Vgl. ebenso: „L’image de film est une apparition.“ 24 Vgl. Peter Wollen: „Feu et glace“, in: Photographies 4, März 1984, S. 1722 (wiederabgedruckt in: Hubertus von Amelunxen (Hg.), Theorie der Fotografie IV, S. 335-361). 25 P. Dubois: „Les métissages“, S. 31. 26 Vgl. P. Wollen: „Feu et glace“. 27 Vgl. hierzu ebenso: Jean-Louis Baudry: „Das Dispositiv: metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks“, in: Psyche 48, (11/1994), S. 1052. 230

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Die zeitliche Dramaturgie des Films sorgt für den nötigen narrativen Rahmen, der mit einem Morgen am Strand beginnt und dem Abend endet („the day was done“), und in dessen Verlauf auch der Jahreszeitenwechsel vom Sommer zum Herbst und Winter eingebaut ist. Mit Wollen zu sprechen, produziert Konttinens Foto/Film narrative Kleinstformen (wie sie im übrigen aus dem frühen Film bekannt sind), wobei der amerikanische Fototheoretiker den Begriff des Aspektes bzw. der Aspektualität,28 im Sinne der zeitlich-kausalen Eingebettetheit einer Proposition in den Kreis ihrer Umstände, vorzieht: Dabei fragt er – was von der zyklisch angelegten Struktur des Films unterstützt wird – ob das Signifikat der Fotografie als Zustand („state“), Vorgang („process“) und Ereignis („event“) zu begreifen, ob es statisch-perfektiv oder imperfektiv und dynamisch sei? Dass die Bilder selbst punktuell erscheinen bedeutet nicht, dass es den Situationen, die sie repräsentieren, an Dauer mangele. Freilich wird die zeitliche Dimension des Geschehens wie in der unten stehenden Bilderserie durch die (vermeintlich) sequentielle Folge der Handlungen und Geräusche gedehnt, gleichwohl aber scheint der einzelne Bildinhalt bereits als Verbform (springen, werfen, rufen) wahrnehmbar zu sein. Abbildung 21-26: Sirkka Liisa Konttinen: Writing in the Sand (2000)

So bestätigt sich Wollens Annahme, dass Bewegung keine genuine Eigenschaft der „movie pictures“ sei, sie vielmehr durch harten Schnitt aus einzelnen „still photographies“ illusionär erzeugt werden können – vorausgesetzt, die Bilder sind unter bestimmten Aspekten rhythmisiert, d.h. semantisiert. Darüber hinaus – und das scheint unumgänglich – benötigen sie eine Tonspur. 28 P. Wollen: „Feu et glace“, S. 17. Vgl. auch Michel Foucault: „Distance, aspect, origine“, in: Critique 198, Nov. 1963, S. 931-945; wiederabgedruckt in: Dits et écrits, Bd 1, Paris 2001, S. 300-313. 231

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D a s Un h e i m l i c he d e s O f f s Der in der Forschungsliteratur häufig thematisierte Unterschied zwischen Fotografie und Film liegt in ihrem jeweiligen Bildraum (seiner Rahmung bzw. Nicht-Rahmung) bzw. (und dies im wahrsten Sinne des Wortes!) im Off: Während die Fotografie Christian Metz29 zufolge über kein diegetisch aktives Off verfüge (alles, was sich während des Auslösens außerhalb des Bildausschnitts befinde, bleibe für immer absent), so bestätigt er doch Pascal Bonitzers Ansatz, dem filmischen „hors champ étoffé“ einen „hors champ subtil“ der Fotografie – dem Barthes’schen punctum vergleichbar – gegenüberzustellen.30 Das durch den Akt der fotografischen Aufnahme und des zeitlichen Durchschnitts ausgeschlossene Off wird in Writing in the Sand in erster Linie durch die akustische Ebene präsent(iert). Dabei wechselt der Film geschickt von Off-Musik, und –Kommentar zu On-Tönen wie Lachen, Lieder, Gesprächsfetzen etc. und schafft auf diese Weise eine dokumentarisch-lebendige und, gleichzeitig, durch den das Gedicht Holiday Memory von Dylan Thomas zitierenden Kommentar, poetisch-entrückte Dimension. Ein weitere Passage öffnet sich, als der bislang im Wesentlichen dokumentarisch anmutende Film plötzlich mit einem Trick arbeitet, der an frühe Filme der Avantgardisten, René Clair, Man Ray bzw. explizit Luis Buñuel erinnert:

29 C. Metz: Foto, Fetisch (1980/85), S. 353. 30 Vgl. Pascal Bonitzer: „Le hors-champ subtil“, in: Cahiers du cinéma 311 (5/1980), S. 4-7, hier: S. 5: Aus der Konfrontation von filmischer Bewegung und fotografischem Stillstand, im parafilmischen Raum des Fotogrammes, ergibt sich – so Bonitzer – der sens obtus als das ‚eigentlich‘ Filmische, das in der Bewegung des klassischen narrativen Kinos verdrängt wird. 232

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Abbildung 27-34: Sirkka Liisa Konttinen: Writing in the Sand (2000)

Zu sphärischen Klängen erhält die von einer Schaufensterpuppe gehaltene Glaskugel eine unheimliche Eigendynamik,31 und „comme si l’image lançait le désir au-delà de ce qu’elle donne à voir“32, beginnt sich die Kugel vor dem schwarz gewordenen Bildhintergrund (in Eisenstein’scher Manier!) zu drehen, in ihr das sich bewegende tosende Meer, bis sich schließlich das Buñuel’sche Bild des Mondes darüberlegt. Eine Wolke zieht vorbei, das Bild färbt sich schwarz. Ein mit einem schwarzen Skelett bemalter weißer Drache kommt von links unten ins Bild, der Sand erinnert an eine Mondlandschaft. Im Bild mit der Schaufensterpuppe kann man übrigens in Spiegelschrift das Wort TRICK erkennen, nur wenig zuvor erschien im Fenster der Begriff PLAYER. Vielleicht eine bewusste Anspielung auf die Gemachtheit des Trick-Foto-Films, der mit der Meereskugel die Ankunft der Filmbilder ankündigt.

Von der Fotografie zum Film Wie im genreprägenden Film La Jetée wird auch in Writing in the Sand die Standbildprojektion unterbrochen, gelingt der Ausbruch des tosenden Meeres, das sich, durch die Blaufärbung betont, deutlich vom Rest der Bilder absetzt, sich nahezu zu verselbstständigen scheint.

31 P. Bonitzer: „Le hors-champ subtil“, S. 6: „une vacillement de la représentation, un vertige, une béance“. 32 R. Barthes: La chambre claire, Paris 1980, S. 93. 233

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Abbildung 35-42: Sirkka-Liisa Konttinen: Writing in the Sand (2000)

In einer kurzen beschleunigten Sequenz, die wie ein Rückwärtslaufen des Filmes bzw. des Meeres anmutet, kehren wir – nun von sphärischer Musik begleitet – zur Fotografie einer jungen ‚Sirene‘ zurück, deren Pose mit erhobenen, abgewinkelten Armen puppenhaft anmutet. In einem neuerlichen dissolvin$g view, der die Lücke durch die doppelte Sichtbarkeit der Überblendung ausfüllt und gleichzeitig erkennbar macht, geht es erneut zum Film, um, nach einer kurzen Leuchtturmsequenz zur Fotografie verschiedener, aus dem Sand ragender, in den Sand eingeschriebener Figuren zurückzukehren. Die zweifache Hinwendung zum Film, der eine zweifache Rückkehr zur Fotografie antwortet, scheint mir nicht nur die Bewegung des Meeres aufzugreifen, vielmehr betont der Wechsel zwischen den (Ge-)Zeiten die temporale Partikularität des Zwischen-Film-und-Fotografie-Seins der Foto/Filme. Die Figuren des Dazwischen erscheinen hier zum einen motivisch in der hybriden Gestalt der Sirene, in den Bildern von Sand und Meer als Elemente, deren beständige Unbeständigkeit die Beziehung zwischen Film und Fotografie zu metaphorisieren scheint, vor allem aber in der Montage der flüssigen Bewegung des durch die Gravitation des Mondes verursachten vordringenden und sich zurückziehenden Meeres und dem in fotografischer Stillstellung verharrenden jungen Mädchen bzw. den Sandpuppen. „[I]n einem“ – wie Joachim Paech formuliert – „Prozeß der Figuration“ werden die „Bild[er] der Bewegung und die Bewegung de[r] Bild[er] aufeinander bezogen“33, die entstehenden Zwi-

33 „Bild und Bewegung werden [...] in einem Prozeß der Figuration aufeinander bezogen, wobei jede Seite Medium für den Formprozeß der anderen Seite sein kann, je nachdem, ob wir das ‚Bild der Bewegung‘ oder die ‚Bewegung des Bildes‘ beobachten: Die ‚Bewegung des Bildes‘ erschließt sich uns im Medium der Form und ihrer raum-zeitlichen Veränderungen, zu denen ein ‚Bild der Bewegung‘, nämlich die Differenzfigur zwischen den Bil234

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schenräume erschienen ereignishaft, nicht die Relation zwischen Bewegung und Stillstand, Erstarrung und Verflüssigung auf der Oberfläche darstellend, sondern sie dynamisch formulierend.

D i e E n tw i c k l u n g d e r Z e i t: P o l ar o i d T r an s f o rm at i o n b y h o l d i n g T i m e (Muse, 1976) In der ebenfalls von Paul de Nooijer stammenden Arbeit Transformation by holding time (Muse, 1976) zeigt die Kamera uns zunächst einen Atelierraum mit einem weiblichen, in Zwartjes-Manier geschminkten, bewegungslosen Modell auf einem Sofa. Die nackte Frau wird von einem Fotografen, den wir, die Zuschauer, von der Seite beobachten, abgelichtet und die so entstandenen, noch in der Entwicklung begriffenen fünfzehn Polaroids werden wiederum auf eine zunächst unsichtbare Glasplatte vor der Kamera geklebt, bis nur noch diese Bilder zu sehen sind. Die fünf Fotos von Kopf, Ober- und Unterkörper des nun den Zuschauer (die Filmkamera, zuvor die Polaroidkamera) anblickenden Modells, die jeweils von linker bis rechter Frontalansicht reichen, werden zu einem zweidimensionalen Mosaik des Mädchens, das dennoch alle drei Dimensionen berücksichtigt, zusammengesetzt. Abbildungen 43-46: Paul de Nooijer: Transformation by holding time (Muse) (1976)

Bedeutung erhält das Projekt zum einen durch die technische Besonderheit, dass die Fotos mit Polaroidfilmen für den Typ SX 70 gemacht wurden, der in den 1960er und 1970er Jahren Verwendung fand.34 Die sichtbare Vorführung des zeitlichen Verlaufs der fotografischen Entwicklung lässt die endgültige Gestalt der Bilder (individuell und als Kollektiv von drei Reihen à fünf Polaroids) erst allmählich vor dem Zuschauer entste-

dern, als Form des Mediums Bewegung komplementär ist.“ (J. Paech: „Der Bewegung einer Linie folgen“, S. 157). 34 Vgl. die Ausstellung „Polaroid als Geste“, 2005 in Braunschweig. 235

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hen. Damit dekonstruiert der niederländische Medienkünstler die traditionell aus geregelter Alternierung von Fortbewegung und Stillstand einzelner Fotogramme bestehende filmische Bauweise: aus der Sukzession und reihenweisen Anordnung der Einzelbilder ergibt sich kein Film, vielmehr fügt der Film eine Collage aus mehreren nacheinander, entstandenen und sich langsam entwickelnden Polaroids zusammen. Während de Nooijers Projekt Transformation by holding Time (Landscape, 1976) der bildinhaltlich fast identische, fünfzehnfache Prozess der Vergegenwärtigung des Offs im Vordergrund steht, so entsteht in diesem Beispiel eine Bewegungscollage, wie man sie – auch aufgrund der surrealistischen Farbgebung – aus avantgardistischen Bewegungsstudien zu kennen glaubt. Wenn auch (vielleicht) kein Film, so liefert de Nooijers Projekt gleichwohl die Darstellung von etwas, was nur im Medium Film wahrnehmbar wird. Abbildungen 47-54: Paul de Nooijer: Transformation by holding time (Muse) (1976)

Bei näherem Betrachten fällt auf, dass das letzte Bild nicht vollständig ist, der rechte Rand fehlt, hier endet der Film. Jedes der fünfzehn Bilder zeigt uns dasjenige, was wir nicht sehen, in der Entwicklung der Bilder bzw. Bildausschnitte, sehen wir, was wir nicht sehen, nämlich nichts anderes als die Repräsentation des Offs als den Ort der Entstehung des Films aus und in der Sicht einer in einer doppelt (als Einzelbild und Gesamtarrangement) begrenzten Dauer sich entwickelnden Serie von fünfzehn Polaroids.

A u sb l i c k Ganz zum Schluss und in gebotener Kürze zwei Verweise auf unterschiedliche, gleichwohl beide mit Polaroids arbeitende Filme aus der jüngeren Hollywoodproduktion. Während Memento (Christopher Nolan, 236

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2000) das Polaroid nicht nur im Sinne der Authentizität der fotografischen Spur instrumentalisiert, sondern stets in seinem fotografischen Bild-Werden zeigt, figurieren in Stay (Mark Forster, 2005) die außerhalb des Films existierenden Kunstpolaroids Stefanie Schneiders weder als pure Requisiten der Handlung, noch als Indizien oder Spuren für das Gewesene.35 Als unentscheidbare Bilder, die sich zwischen Traum und Realität, Innen- und Außenwelt der Protagonisten ansiedeln, sind sie Forsters Filmbildern absolut gleichwertig, wobei die Ästhetik der Fotografien auf den Film einwirkt und das Geschehen zu entrücken bzw. zu erweitern scheint. Memento hingegen funktionalisiert das Polaroid vielmehr als Geschichte des Films – desjenigen, den wir sehen sowie des Films als solchem: Zu Beginn beobachten wir die Entwicklung des Polaroids, allerdings in einer kinematografischen Verkehrung, denn wir sehen den Prozess rückwärts ablaufen: Das Polaroid verkörpert also nicht nur den fotografischen Abdruck, die Spur als Indiz für das Geschehene, sondern zeigt sich in der Miniatur als komplexes Dispositiv des Fotografischen, während der Film in der Folge zurückschaut, zuerst in das immer blasser werdende Bild, dann auf den Tat-Ort, an dem schließlich der Schuss fällt: Es ist so gewesen.

35 Stefanie Schneider: Stranger than paradise, Ostfildern 2006. 237

BEWEGTE OBERFLÄCHE: SPUREN EINER INTERMEDIALEN ÄSTHETIK IN RILKES SONETT „A R C H A Ї S C H E R T O R S O A P O L L O S “ NICOLE PÖPPEL Geht man davon aus, dass Texte Bewegung nicht nur beschreiben oder von Bewegung erzählen können, sondern dass ihnen selbst eine Bewegung innewohnen kann1 und sie eine Dynamik entfalten können, so ist es interessant, danach zu fragen, wie sich Bewegung als Moment eines lyrischen Textes beschreiben und verstehen lässt. Dem Gedanken von „Textbewegungen“ kann man sich mit dem Konzept der Performativität annähern. Die Eigenschaft eines Textes, eine nachvollziehbare (Sprach-)Bewegung hervorzubringen, wird hier als ein spezieller Aspekt von Performativität verstanden: „Textuelle Eigenbewegtheit meint ein performatives Moment von Texten und kann als ein spezielles Phänomen von Performativität konzeptualisiert werden.“2 Bewegung soll hier als performatives Element des Textes betrachtet werden, als Merkmal, das in der sprachlichen Gestaltung des Texts selbst angelegt ist. Auf die Bedeutung von Bewegung als wichtiges Moment der Lyrik Rainer Maria Rilkes wird ebenso wie auf performative Eigenschaften seiner Texte in aktuellen Arbeiten an mehreren Stellen hingewiesen.3 Als 1

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Dieser Gedanke liegt dem 2007 erschienenen Band Textbewegungen 1800/1900 zugrunde, der auch den Schaffenszeitraum und das Werk Rainer Maria Rilkes mit einbezieht. Vgl. dazu: Jana Schuster: „‚Tempel im Gehör‘. Zur Eigenbewegtheit des Klinggedichts am Beispiel des ersten der „Sonette an Orpheus“ von Rainer Maria Rilke“, in: Matthias Buschmeier/Till Dembeck (Hg.), Textbewegungen 1800/1900, Würzburg 2007, S. 354-373. Guido Isekenmeier: „Textuelle Performativität als Produktion von Sinn. Julia Kristevas Texttheorie und die Semiologie der Paragramme“, in: Matthias Buschmeier/Till Dembeck (Hg.), Textbewegungen 1800/1900, S. 72-90, hier S. 73. Das ästhetische Moment der „Bewegung“ wird vor allem innerhalb des Spätwerks – Duineser Elegien und Sonette an Orpheus – beobachtet. Interessant ist in dem Zusammenhang, dass Erika Fischer-Lichte ihrer Ästhetik 239

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Beispiel wird hier Rilkes Sonett „Archaïscher Torso Apollos“ (1908) dienen. Damit wird das performative Potenzial, die Fähigkeit eines Textes Bewegung zu generieren, an einer Stelle verortet, wo man aufgrund des denkbar regungslosen Gegenstands – der Betrachtung eines antiken Torsos – die Relevanz von Bewegung als ästhetischer Kategorie am wenigsten vermuten dürfte. Doch gerade in diesem Gedicht ist Rilkes Umgang mit dem Gegenstand deutlich von etwas gezeichnet, dass man als Resultat intermedialer Ästhetik4 auffassen kann. Diese noch näher zu beschreibende Herangehensweise des Dichters ist eng mit seiner Bewunderung für die Bildende Kunst, insbesondere des Bildhauers Auguste Rodin, verbunden. Das Gedicht „Archaïscher Torso Apollos“ erscheint 1908 in Der Neuen Gedichte Anderer Teil und ist mit der Widmung „à mon grand ami Auguste Rodin“5 jenem Künstler zugeeignet, der für Rilkes künstlerische Entwicklung wichtige Impulse gab. Am Vorbild der Skulptur und der Malerei schult sich Rilkes ‚Sehen‘, das er in der Pariser Zeit zum poetologischen Programm seines Schaffens erhebt.6 Aus diesem Grund sollen im ersten Teil des vorliegenden Texts vor allem Rilkes Überlegungen zu Rodin betrachtet werden, während anschließend das genannte Gedicht auf die beschriebene Fragestellung hin analysiert wird. In den Neuen Gedichte von 1907/1908 ist ein Bezug zu dem um die Jahrhundertwende virulenten „Faszinationsmuster Bewegung“7 schon anhand der Titelwahl einiger Gedichte erkennbar. Ein genauerer Blick in die Sammlung zeigt, dass sie z.B. mit „Das Karussell“, „Der Panther“, „Der Toten-Tanz“ oder „Römische Fontäne“ eine Reihe an Gedichten enthält, in denen die Betrachtung bewegter ‚Dinge‘ im Vordergrund

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5 6 7

des Performativen das XII. der Sonette an Orpheus mit dem Eingangsvers „Wolle die Wandlung“ voranstellt. Siehe: E. Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt/Main 2004, S. 7. Unter „Intermedialität“ verstehe ich hier mit Irina Rajewsky zunächst ganz allgemein einen Sammelbegriff für jene „Mediengrenzen überschreitenden Phä-nomene, die mindestens zwei konventionell als distinkt wahrgenommene Medien involvieren“. Hier sind damit die Skulptur und die Lyrik gemeint. I. Rajewsky: Intermedialität, Tübingen, Basel 2002, S. 13. Zum spezifischen Verständnis der hier als intermedial bezeichneten Ästhetik soll die Textanalyse Aufschluss geben. Joachim W. Storck in: M. Engel (Hg.), Rilke-Handbuch, S. 8. Vgl. Antje Büssgen in: Manfred Engel (Hg.), Rilke-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2004, S. 134. Vgl. Walburga Hülk: „Vorwort“ dieses Bandes, S. 9-10, hier S. 10. 240

SPUREN EINER INTERMEDIALEN ÄSTHETIK IN RILKES „ARCHAЇSCHER TORSO APOLLOS“

steht. 8 Die Erscheinungsform von Bewegung in den Neuen Gedichten lässt sich häufig als Darstellung „abstrahierende[r] Bewegungsabläufe“9 beschreiben, der eine Tendenz zur sprachlichen Nachbildung der beschriebenen Dinge zueigen ist.10 Die Kennzeichnung der Bewegungstendenzen als ‚abstrakt‘ impliziert, dass es im rilkeschen Gedicht um Bewegungsmuster in der lyrischen Sprache selbst geht: „Es sind nicht zuletzt sprachliche Bewegungen, welche die Dinge zugleich in ihren Bezügen entfalten und als plastisch konturierte auflösen.“11 Die Tatsache, dass verschiedene Beschreibungsansätze der Bewegungsmuster in Rilkes Lyrik bestehen, zeigt zum einen, dass es die Bewegung bei Rilke nicht gibt, aber vor allem auch, dass mit der Betrachtung des Phänomens ein wichtiger Aspekt seiner Ästhetik aufgegriffen wird. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, dass sich die Bedeutung der Bewegungsästhetik im Werk Rilkes von den Neuen Gedichten bis zum Spätwerk der Duineser Elegien und Sonette an Orpheus wandelt, insofern, als sich „die in den Neuen Gedichten entworfenen Bewegungs-‚Figuren‘ […] nicht von den konkret geschauten Erscheinungen der Dinge ablösen.“ Im Gegensatz dazu stehen die weitaus abstrakteren und in der Forschung mehr beachteten Bewegungstendenzen seines Spätwerks.12 Hier geht es um die spezifische Gestaltung von Bewegungsmomenten in Rilkes mittlerer Schaffensphase. Es soll gezeigt werden, wie in „Archaïscher Torso Apollos“ eine Form von Bewegung in Erscheinung tritt, die in Korrespondenz mit der von Rilke beschriebenen Wirkungsästhetik der rodinschen Plastik zu sehen ist. Als Basis für die Betrachtung

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Diese werden als „Bewegungsgedichte“ bzw. als „Bewegungsstudien“ bezeichnet, vgl. Wolfgang Müller in: M. Engel (Hg.), Rilke-Handbuch, S. 306-307. 9 Sabine Schneider: Verheißung der Bilder. Das andere Medium in der Literatur um 1900, Tübingen 2006, S. 242. 10 W. Müller in: M. Engel (Hg.), Rilke Handbuch, S. 302-303. Hier wird das fließende Wasser im Gedicht „Römische Fontäne“ als Beispiel für eine ikonische Sprachgestaltung angeführt, indem der syntaktische Fluss die Fließbewegung des Wassers nachbildet. Die ikonische Funktion poetischer Gestaltungsmittel spielt in den Neuen Gedichten insgesamt eine wichtige Rolle. Das Gedicht „Archaïscher Torso Apollos“ wird in der einschlägigen Forschung, was diesen Aspekt angeht, allerdings nicht beachtet. Dazu auch Georg Braungart: „Prägnante Momente. Rainer Maria Rilkes ‚Archaїscher Torso Apollos‘ und das Ende ästhetischer Beliebigkeit“, in: Dieter Heimböckel/Uwe Werlein (Hg.), Der Bildhunger der Literatur. Festschrift für Gunter E. Grimm, Würzburg 2005, S. 229-237. 11 S. Schneider: Verheißung der Bilder, S. 243. 12 W. Müller in: M. Engel (Hg.), Rilke Handbuch, S. 307. 241

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des Sonetts sollen vorab einige Überlegungen zur Wirkung der Skulpturen Auguste Rodins angestellt werden, die Rilke in der Monografie Auguste Rodin (1902)13 zum Ausdruck bringt. In dem als Auftragsarbeit begonnenen Buch schlägt sich in Form von Beobachtungen und Reflexionen zum Schaffen und Denken des Bildhauers in erster Linie die Bewunderung Rilkes für das Werk seines ‚Meisters‘14 nieder. Dass für Rilke die Beschäftigung mit Bildender Kunst, vor allem der Paul Cézannes (1839-1906) und Auguste Rodins (1840-1917) wichtig war und wesentlich zu seinen „poetologische[n] Positionsbestimmungen“15 beitrug, ist eine der bereits erwähnten Voraussetzungen, die in diesem Zusammenhang eine Rolle spielt. Rilkes Begegnung mit Rodin, für den er zwischenzeitlich als Privatsekretär tätig war, gilt als besonders einflussreich für den Dichter, was seine Korrespondenzen aus diesem Zeitraum belegen.16 Man kann Rilkes Reise nach Paris und seine Begegnung mit Rodin aus biografischer und künstlerischer Perspektive als Grenzüberschreitung17 ansehen. Rilkes Auseinandersetzung mit der Plastik Rodins steht repräsentativ für einen Prozess der rilkeschen Ästhetik, innerhalb derer „die Grenze zwischen zwei Kunstbereichen überschritten und die Grundregeln der einen für die andere Disziplin als verbindlich erklärt“18 werden. Es sind die Bedingungen und Grenzen der beiden Künste – Literatur und Bildende Kunst – die angesichts der Beobachtung Rodins zum Gegenstand seiner Überlegungen werden, und auf sein eigenes künstlerisches Schaffen wirken. Die Auseinandersetzung mit der anderen Kunstform beinhaltet bei Rilke ein produktives Moment, da die andere Kunst nicht als Konkurrenz aufgefasst wird oder zur Degradierung der eigenen oder anderen Darstellungsmittel führt. Im Gegenteil: Rilkes

13 Rainer Maria Rilke: „Auguste Rodin“, in: Werke. Bd. 4: Schriften, hg. v. Manfred Engel [u.a.], Frankfurt/Main, Leipzig 1996, S. 401-484. Der erste Teil des Buchs wird 1902 fertig gestellt. Der zweite Teil stammt aus dem Jahre 1905 und wird in modifizierter Form 1907 als Vortrag von Rilke veröffentlicht. Den Auftrag für die Monografie bekam Rilke vom Breslauer Kunsthistoriker Richard Muther. M. Engel (Hg.): Rilke Handbuch, S. 5. 14 Rilke spricht Rodin in Briefen als „Meister“ an, oft mit zusätzlichen Attributen wie „lieber großer Meister“, z.B. S. 117 [Brief vom 26. Okt. 1905]. Siehe: Rätus Luck (Hg.): Rainer Maria Rilke und Auguste Rodin: Der Briefwechsel und andere Dokumente zu Rilkes Begegnung mit Rodin, Frankfurt/Main, Leipzig 2001. 15 A. Büssgen in: M. Engel (Hg.), Rilke-Handbuch, S. 131. 16 Vgl. Anmerkung 13. 17 Vgl. R. Luck (Hg.): Rainer Maria Rilke und Auguste Rodin, S. 17f. 18 Ebd. 242

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Schulung an der Bildenden Kunst kann man als produktive Umdeutung eines Paragones, des tradierten Abgrenzungsgestus und Hierarchiedenkens zwischen den Künsten und Medien ansehen. Umso interessanter ist, dass Rilke in der Rodin-Monografie zum Beobachter eines Bildhauers wird, der seinerseits Inspiration aus der Lyrik schöpft. Hervorzuheben ist diesbezüglich die gedankliche Verbindung, die Rilke zwischen der Lyrik Dantes und Baudelaires und den Plastiken Rodins herstellt. Es ist wichtig zu betonen, dass hier allein Rilkes Blick auf ihn und nicht Rodins Ästhetik oder andere kunstwissenschaftliche Einschätzungen von Interesse sind. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass Rilkes Monografie über den Bildhauer statt als Beitrag zur Kunstwissenschaft vielmehr als Bestätigung eines eigenen ästhetischen Programms gelesen werden muss.19 Eine erste Erwähnung intermedialer Beziehungen bietet die folgende Schilderung aus der Rodin-Monografie, der zufolge sich die Auseinandersetzung mit der hochformalen Lyrik Charles Baudelaires für den Bildhauer als besonders anregend erweist: „Und in diesen Versen [Baudelaires] gab es Stellen, die heraustraten aus der Schrift, die nicht geschrieben, sondern geformt schienen, Worte und Gruppen von Worten, die geschmolzen waren in den heißen Händen des Dichters, Zeilen, die sich wie Reliefs anfühlten, und Sonette, die wie Säulen mit verworrenen Kapitalen, die Last eines bangen Gedankens trugen. Er fühlte dunkel, daß diese Kunst, wo sie jäh aufhörte, an den Anfang einer anderen stieß, und daß sie sich nach dieser anderen gesehnt hatte […].“20

Rilke zeichnet hier in poetischer Verdichtung die vermeintliche Wahrnehmung Rodins der formal hoch artifiziellen Lyrik Baudelaires auf und imaginiert eine folgenreiche Konfrontation von plastischer und sprachlicher Kunst. Das Zitat zeigt deutlich eine imaginäre Grenzüberschreitung zwischen den Kunstformen Text und Plastik auf, die hier am Beispiel Rodin-Baudelaire als Quelle eines produktiven Anstoßes durch das andere Medium erscheint. Auch wenn es sich bei Rilkes Zitat um eine suggestive, poetisch-bildhafte Darstellung handelt, so tritt daraus deutlich ein Gedanke hervor; nämlich dass Versen eine plastische Qualität zugeschrieben werden kann. Unabhängig davon, ob und wie sich Rodin durch Dichtung inspiriert sah,21 wichtig ist hier das ästhetische Substrat 19 Vgl. Michaela Kopp: Rilke und Rodin: Auf der Suche nach der wahren Art des Schreibens, Frankfurt/Main [u.a.] 1999. 20 R.M. Rilke: Werke. Bd. 4, S. 413. 21 Rodin schafft zum Beispiel eines seiner großen Werke, das Höllentor, in Anlehnung an Dantes (Divina) Commedia. Außerdem fertigt er eine Büste 243

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Rilkes. Er stilisiert Rodin zum Nachfolger des Dichters Charles Baudelaire, der, ebenso wie Rodin für die Bildende Kunst, als Dichter eine Schlüsselposition für die Moderne einnimmt: „[…] er fühlte in Baudelaire einen, der ihm vorausgegangen war, einen, der sich nicht von den Gesichtern hatte beirren lassen und der nach den Leibern suchte, in denen das Leben größer war, grausamer und ruheloser.“22 Aus kunsttheoretischer Sicht implizieren die wenigen Zeilen etwas Grundsätzliches, das für Rodin sowie für Rilke gelten muss und zwar die Überwerfung des angedeuteten klassischen Denkmodells, welches Gotthold Ephraim Lessing prominent in Laokoon23 thematisiert und die Anschauung über das Verhältnis zwischen Bildender Kunst und Literatur lange prägt. Der klassische Diskurs ist deutlich von der Trennung der Künste, ihrer Einteilung nach Gegenstandsbereichen bestimmt. Rilke stellt nun Rodin, den Bildhauer, in eine Traditionslinie mit den modernen Dichtern und schreibt der Dichtung einen größeren Einfluss auf dessen Werk zu als vorhergehenden Bildhauern: „In jener Zeit, wo seine Kunst sich formte und vorbereitete, wo alles Leben, das sie lernte, namenlos war und nichts bedeutete, gingen Rodins Gedanken in den Büchern der Dichter umher und holten sich dort eine Vergangenheit.“24 Eines der Elemente, das in Rilkes Rodin-Betrachtung wiederholt zur Sprache kommt, ist das der Bewegung. Es sind Kategorien wie Raum, Zeit und Bewegung, die angesichts der Wirkung der Plastik im Hinblick auf Rilkes dichterisches Schaffen an Bedeutung gewinnen. Die konventionelle Unterscheidung der beiden Medien als Raum- bzw. Zeitkunst, wie es Lessing im Laokoon exemplarisch anhand der Malerei und der

mit Baudelaires Kopf an und illustriert für einen Sammler eine Ausgabe der Fleurs du Mal, vgl. R.M. Rilke: Werke. Bd. 4, S. 431. 22 R.M. Rilke: Werke Bd. 4, S. 413. 23 Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie (1766). Darin vergleicht Lessing die Malerei und die Poesie miteinander. Seine Referenz ist die klassizistische Lesweise der antiken Skulpturen durch Johann Joachim Winckelmann: „Das allgemeine vorzügliche Kennzeichen der griechischen Meisterstücke in der Malerei und Bildhauerkunst setzet Herr Winckelmann in eine edele Einfalt und stille Größe, sowohl in der Stellung als im Ausdrucke. ‚So wie die Tiefe des Meeres‘, sagt er [zitiert nach: Von der Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst], ‚allezeit ruhig bleibt, die Oberfläche mag auch noch so wüten, ebenso zeiget der Ausdruck in den Figuren der Griechen bei allen Leidenschaften eine große und gesetzte Seele.“ http://gutenberg.spiegel.de/?id=5&xid=1617&kapitel=2&cHash=f1dedc42 7f2#gb_found vom 24.03.2009. 24 Ebd., S. 414. 244

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Poesie illustriert, werden mit dieser intermedialen Perspektive überholt. Die Festlegung der Darstellungsmöglichkeiten, innerhalb derer die Dichtung das „Nacheinander der Dinge in der Zeit“ und die Malerei das „Nebeneinander der Dinge im Raum“25 ermöglicht, formieren sich mit Rilkes Blick auf Rodins Plastiken neu. Bei Lessing dient die „Idee der Bewegung“ allein dazu, die „Gattungsdifferenz zwischen Malerei und Dichtung zu veranschaulichen“.26 Hier ist es gerade die Frage danach, wie Bewegung über die Oberfläche sichtbar werden, einen Gegenstand bewegt erscheinen lassen kann, die von der einen Kunst zur anderen überleitet. Wenn auch die grundsätzliche Gattungsdifferenz der Künste durch die Revision der klassischen Denkmuster nicht aufgehoben werden kann, und jeder Künstler an die Materialität seiner Kunstform gebunden bleibt, so ist es hier gerade das Moment der Bewegung, das durch seine besondere Ausprägung in der rodinschen Plastik für Rilke zum Ideal wird. Rilkes Ausführungen zufolge ist die Erzeugung von Bewegung in den Skulpturen Rodins auf besondere Weise gegeben. Sie zeichnen sich durch vielschichtige Bewegungsmomente aus, die von der Oberflächenwirkung im Zusammenspiel mit Licht zustande kommen. Rilke beschreibt diesen Prozess folgendermaßen: „[…] denn die Bewegtheit der Gebärden, die in dieser Skulptur viel bemerkt worden ist, geht innerhalb der Dinge vor sich, gleichsam als ein innerer Kreislauf, und stört niemals ihre Ruhe und die Stabilität ihrer Architektur. Es wäre auch keine Neuerung gewesen, Bewegtheit in die Plastik einzuführen. Neu ist die Art von Bewegung, zu der das Licht gezwungen wird durch die eigentümliche Beschaffenheit dieser Oberflächen, deren Gefälle so vielfach abgewandelt ist, daß es da langsam fließt und dort stürzt, bald seicht und bald tief erscheint, spiegelnd oder matt.“27

Rilke schreibt den Plastiken eine spezifische Bewegungsdimension zu, die er als Rodins Errungenschaft bestimmt. Interessant ist diese Beschreibung, weil sie ein charakteristisches Merkmal mit dem Torso aus Rilkes Gedicht teilt, aus dem eine, dem ‚Ding‘ innewohnende Bewegung „strahlt“, die über den Gegenstand hinaus weist und auf den Betrachter übergeht.28 Die hier zugrunde liegende Vorstellung, dass

25 Dirk Oschmann: Bewegliche Dichtung. Sprachtheorie und Poetik bei Lessing, Schiller und Kleist, München 2007, S. 215. 26 Ebd., S.116. 27 R.M. Rilke: „Auguste Rodin. Zweiter Teil“, in: Werke Bd. IV, S. 462. 28 Die Lichtmetaphorik ist in der Wirkung der Plastik ebenso wie in Rilkes Torso-Gedicht zentral. Auch wenn die Strahlkraft vom Objekt ausgehend 245

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Texten eine Bewegung zueigen sein kann, wurzelt in Vorstellungen, die maßgeblich in der Romantik vorgeprägt werden. Dort „verschiebt sich jetzt das Interesse mehr und mehr auf Konzeptionen von Bewegung im Kunstwerk selbst.“29 Bezeichnend ist auch, dass seiner Ansicht nach das „Licht gezwungen wird“, in bestimmter Weise über das Objekt zu gleiten. Diese Formulierung verweist auf etwas, das in der Analyse des Torso-Gedichts später deutlich werden soll und zwar, wie sehr es Rilke um die Auseinandersetzung mit der Beschaffenheit des Kunstwerks und die Erforschung seiner Materialität und Wirkung geht. Außerdem deutet sich in der Beschaffenheit der Skulptur, die keinen einheitlichen, unmittelbaren Effekt generiert, sondern einen Prozess verschiedener Wahrnehmungsweisen in Gang setzt, auch ein performatives Element an. Der Akzent verschiebt sich damit vom Blick auf das Kunstwerk auf den Betrachter und den Rezeptionsakt und stellt die Wirkung des Kunstwerks in den Vordergrund. Im Rodin-Buch gibt es auch Stellen, die deutlich auf den Traditionszusammenhang klassizistischer Kunstbetrachtung Bezug nehmen. In der folgenden Passage greift Rilke die Gedanken der neuen Antike-Rezeption im Horizont der nietzscheanischen Hervorkehrung des dionysischen Moments in der Geburt der Tragödie30 auf und macht sie für Rodins Kunst geltend: „Es gab nur Bewegung in der Natur; und eine Kunst, die gewissenhafte und gläubige Auslegung des Lebens geben wollte, durfte nicht jene Ruhe, die es nirgends gab, zu ihrem Ideale machen. In Wirklichkeit hat auch die Antike nichts von einem solchen Ideal gewußt. […] Nicht die Bewegung war es, die dem Sinne der Skulptur (und das heißt einfach dem Wesen des Dinges) widerstrebte; es war nur die Bewegung, die nicht zu Ende geht, die nicht von anderen im Gleichgewicht gehalten wird, die hinausweist über die Grenzen des Dinges.“31

dominant erscheint, behält die Beschreibung stets die Ambivalenz zwischen einer äußeren und inneren Herkunft des Lichts. Das Licht ist ein ikonographisches Zeichen für Apollon, den Gott der Dichtkunst, und verweist als autoreflexives Moment auf die Aufgabe des Künstlers. Zweitens ist das Licht die Bedingung, die ein Sehen, im Sinne des Begreifens des Gegenstands erst ermöglicht. 29 Ebd., S. 70. 30 Rilke war Nietzsches Geburt der Tragödie bekannt. Außerdem setzte mit seinem Paris-Aufenthalt ab 1902 auch eine Beschäftigung mit der Antike ein (vor allem mit Apollo), vgl. M. Engel (Hg.): Rilke Handbuch, S. 33. 31 R.M. Rilke: „Auguste Rodin“, in: Werke Bd. 4, S. 417. 246

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Rilke differenziert zwei Auffassungen von Bewegung. Jene ins Unendliche gehende Bewegung, die er bei Rodin wiederfindet, klassifiziert er als die Form von Bewegtheit, die der klassischen Sicht auf die antiken Skulpturen widerstrebt. Die mit der winckelmannschen Formel der „edlen Einfalt“ und „stillen Größe“ belegte Wirkung des Kunstwerks basiert auf der Ausstrahlung innerer Stabilität. Die über sich hinausweisende, Grenzen sprengende Bewegungsdimension ist Ausdruck einer Energie, bei der die Formung eines vollkommenen Eindrucks in den Hintergrund gerät. Mit Bildhauer Rodin wird das Fragment32 erst zum eigentlichen Produkt des künstlerischen Schaffens. Mittels der unruhigen Oberflächenstruktur und der Lichtwirkung setzen sie einen Imaginationsprozess frei, eine Denkbewegung, die mehr an die romantische Theorie anzulehnen ist. Das folgende Zitat zeigt, dass die Wahrnehmung von Bewegung nicht nur als Merkmal der visuellen Wahrnehmung gedeutet wird, sondern dass sie auch ein existenzielles Moment beinhalten kann: „Als Rodin diese Maske schuf, hatte er einen ruhig sitzenden Menschen vor sich und ein ruhiges Gesicht. Aber es war das Gesicht eines Lebendigen und als er es durchforschte, da zeigte sich, dass es voll von Bewegung war, voll von Unruhe und Wellenschlag. […] Es gab also keine Ruhe, nicht einmal im Tode; denn mit dem Verfall, der auch Bewegung ist, war selbst das Tote dem Leben noch untergeordnet.“33

Die Bewegungsdimension, die anhand der Oberfläche bei Betrachtung der Plastik sichtbar wird – hier auf das Beispiel der Skulptur Homme au nez cassé bezogen –, verweist immer auf eine tiefer gehende Bedeutung von Bewegung. Überträgt man diesen Aspekt auf die Bewegungsstudien Rilkes, so kann man sie, auch wenn sie an den sichtbaren Erscheinungen verhaftet bleiben, als Ausdruck einer durch die Oberfläche hervorscheinenden, existenziellen Idee lesen.34 Die ausgeführte Perspektive Rilkes auf die Bildende Kunst ist aus dem Grund besonders interessant, weil man sie als Baustein einer intermedialen Ästhetik auffassen kann, die sich auch konzeptuell in den Neuen Gedichte niederschlägt. Vielleicht besitzt gerade Lyrik als Sprach32 Vgl. Justus Fetscher: „Fragment“, in: K.H. Barck u.a. (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 2, Stuttgart, Weimar 2001, S. 551-588, hier S. 573. 33 R.M. Rilke: „Auguste Rodin. Erster Teil“ [1902], in: Werke Bd. 4, S. 415417. 34 Der Gedanke soll hier nur angedeutet werden, da er auf ein grundlegendes Problem des künstlerischen Schaffens und des Individuums in der Moderne verweist. Dieser Komplex führt hier allerdings zu weit vom Thema weg. 247

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kunst von äußerster Kürze und Dichte – die auf Formung und Reduzierung des Sprachmaterials auf das Notwendigste angelegt ist – eine Tendenz zum Räumlichen, was wiederum eine strukturelle Nähe zur Plastik suggeriert. Wichtig ist deutlich zu machen, dass, wenn hier von intermedialer Ästhetik gesprochen wird, keine Mischung der Kunstformen selbst gemeint ist. Die Tatsache, dass Rilkes Gedicht eine Ekphrasis des Kunstwerks darstellt, könnte man einem sehr weit gefassten Verständnis von Intermedialität zuordnen.35 Es geht hier aber konkreter um eine in der theoretischen Reflexion des Dichters angelegte Öffnung für die Wirkungspotenziale der Bildenden Kunst, die auf den Umgang mit dem eigenen künstlerischen Material Einfluss nimmt. Die oben beschriebenen Kategorien wie Bewegung, Oberfläche, Wirkung im Raum und Zeit sind Suchbegriffe für die Betrachtung des Gedichts, in dem sich Rilke thematisch einem Gegenstand der Bildenden Kunst widmet. Archaïscher Torso Apollos Wir kannten nicht sein unerhörtes Haupt, darin die Augenäpfel reiften. Aber sein Torso glüht noch wie ein Kandelaber, in dem sein Schauen, nur zurückgeschraubt, sich hält und glänzt. Sonst könnte nicht der Bug der Brust dich blenden, und im leisen Drehen der Lenden könnte nicht ein Lächeln gehen zu jener Mitte, die die Zeugung trug. Sonst stünde dieser Stein entstellt und kurz unter der Schultern durchsichtigem Sturz und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle;

und bräche nicht aus allen seinen Rändern aus wie ein Stern: denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. Du mußt dein Leben ändern.36

„Archaïscher Torso Apollos“ ist eines der meistinterpretierten Gedichte Rilkes.37 Diese Tatsache illustriert das mannigfaltige Interesse und das unausdeutbare Potenzial des Gedichts, das auch hier wieder auf die Probe gestellt wird. Vielleicht verweist es sogar auf das, was hier unter dem 35 Vgl. I. Rajewsky: Intermedialität, S. 3. 36 R.M. Rilke: Werke, Bd. I: Gedichte 1895-1910, S. 513. 37 G. Braungart: „Prägnante Momente“, S. 232. 248

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Stichwort Performativität gefasst werden soll, dass ihm ein ereignishaftes und lebendiges Potenzial zueigen ist, das sich in jeder Lektüre neu entfaltet. Der Titel „Archaïscher Torso Apollos“ hat ganz im Stil der Neuen Gedichte einen materiellen Gegenstand – ein ‚Ding‘ – zum Thema. Schon der Titel deutet bereits auf zwei grundlegende Referenzen des Gedichts hin und konstruiert einen intermedialen Bezugsrahmen. Erstens ruft der Torso als antikes Artefakt einen Bezug zu anderen klassizistischen Kunstbetrachtungen, wie sie z.B. Winckelmann mit dem „Torso von Belvedere“ geprägt hat, auf. Wichtig ist zusätzlich die mit Rodin für die Plastik geltend gemachte Sicht auf das Fragment als vollständiges Kunstwerk, das seine gedanklichen Vorläufer in der Romantik hat. Zweitens wird mit Apollo nicht nur ein Hinweis auf den antiken Gott der Dichtkunst hergestellt, sondern auch ein Querverweis auf Nietzsches Geburt der Tragödie und die darin begründete Revolutionierung der klassizistischen Kunstbetrachtung geliefert, die oben schon mitgeführt wurde. Zunächst kann man feststellen, dass es Rilke nicht um eine reine Beschreibung des Kunstwerks zu gehen scheint, auch wenn das Gedicht auf ein real existierendes Objekt Bezug nimmt.38 Vielmehr stehen im Gedicht der Betrachtungsprozess des Torsos und dessen Wirkung im Vordergrund. Es wird personal mit einem „wir“ eingeleitet, welches anfänglich eine kollektive Beobachterperspektive suggeriert. Das „wir“ ist Teil einer programmatischen Beobachtungssituation, die mittels einer Negation gefasst wird: „wir kannten nicht...“. Das, was sich dem Betrachter erschließt, ist keine vollendete Form, die anhand der Anlage des Torsos ersichtlich werden könnte, sondern es sind das Eigenleben des Torsos und seine vitalistischen und energetischen Potenziale, die er ausstrahlt. Diese werden durch Vergleiche und durch die Metaphorik des Wachsens, Flimmerns und Strahlens herbeigeführt („sonst stünde dieser Stein entstellt […] und flimmerte nicht so wie Raubtierfelle“)39. Für die Betrachtung des Torsos als einer unvollständigen, nur als Fragment erhaltenen Figur bildet der Konjunktiv den sprachlichen Reflexionsmodus. Der Prozess der Imagination, den das beobachtete Objekt in Gang setzt, steht inhaltlich im Zentrum des Gedichts. Der hier thematisierte Prozess des

38 Bei dem Gegenstand handelt es sich um einen Jünglingstorso aus Milet, eine frühgriechische Plastik aus dem Louvre. Rilke Werke Bd.1: Gedichte 1895-1910, S. 918. 39 In der Metaphorik kann man in Bezug auf Nietzsches Kunsttheorie der Geburt der Tragödie eine Verschmelzung apollinischer Attribute (vor allem das Licht) und dionysischer Merkmale, vor allem durch den Hinweis auf die „Lenden“ und die „Raubtierfelle“, finden. 249

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Schauens repräsentiert die Faszination, die die Bildende Kunst auf den Dichter ausübt und für das ‚Sehen Lernen‘ ausschlaggebend war.40 Was die formale Gestaltung von „Archaïscher Torso Apollos“ angeht, scheint Rilke auf den ersten Blick die klassische Sonettform beizubehalten. Beim genaueren Hinsehen wird deutlich, wie die verschiedenen Gestaltungselemente die konventionelle Sonettstruktur unterlaufen. Die typische strukturelle Gliederung des Sonetts sowie der daran gekoppelte semantische Aufbau – zwei Quartette und zwei Terzette, die These- und Antithese darstellen – wird vordergründig aufrechterhalten. Die klangliche Gliederung durch den Endreim wird auch beibehalten, dieser werden allerdings durch Alliterationen und Assonanzen Kontrapunkte innerhalb der Verse entgegengesetzt, wie z.B. in Strophe eins: Haupt – Augenäpfel – Schauen. Durch den Einsatz der Klangmittel wie den genannten Assonanzen oder Alliterationen wie in „der Bug der Brust dich blenden“ oder „leisen Drehen der Lenden“ erhält das Sonett eine „Binnendynamik“41, die hauptsächlich auf dem Klang basiert. Hinzu kommt die syntaktische Gestaltung, die auf dem Einsatz von Enjambements, dem Vers- und sogar der Strophensprung („sein Schauen, nur zurückgeschraubt, // sich hält und glänzt“) gründet. Diese Binnenstruktur erzeugt eine Dynamik, die die Grundlage des Bewegungseffektes innerhalb des Textes ist. Die Eigenbewegtheit des Sonetts kann man als „Wahrnehmungseffekt einer Eigenbewegung der Sprachelemente, den deren Korrespondenz oder Differenz hervorruft“42 verstehen. Diese Definition kann man vor allem auf den Klang anwenden, da die Laute eindeutige Korrespondenzen und Differenzen hervorbringen. Zu den bereits genannten konstitutiven Gestaltungsmitteln des Texts – dem Klang und dem visuell-

40 Walter Busch: Bild – Gebärde – Zeugenschaft. Studien zur Poetik von Rainer Maria Rilke, Bozen 2003, S. 74. 41 J. Schuster: „,Tempel im Gehör‘“, S. 355. Wenn sich dort durch das Zusammenspiel der klanglichen Beziehungen innerhalb des Gedichts ein „Klangraum“ entfaltet, so ist es die räumliche Dimension, die im „Torso“Gedicht hervortritt. Schuster entwickelt für die Betrachtung von Bewegung im Sonett folgendes: „Die Figur, die Rilke im Zyklus der Neue[n] Gedichte entwickelt, läßt sich als Konzept von Vermittlung von sichtbarer Gestalt und amorpher Bewegungsenergie [Hervorhebung N.P.] fassen: Im Medium einer dynamisierten Verssprache beschreiben die Gedichte jeweils die kinetische Qualität binnendynamischer (so in dem berühmten Sonett „Archaïscher Torso Apollos“ von 1908) oder im Raum bewegter Gegenstände […]“ Die Charakterisierung der „Bewegungsenergie“ als „amorph“ scheint sehr interessant, weil sie zu der Vorstellung des Performativen im Gegensatz zu einer augenblicklich fassbaren Form passt. 42 Ebd., S. 354. 250

SPUREN EINER INTERMEDIALEN ÄSTHETIK IN RILKES „ARCHAЇSCHER TORSO APOLLOS“

grafischen Eindruck – kommt noch die syntaktische und modale Gestaltung des Textes hinzu. Die drei genannten Gestaltungsmittel sind es auch, die in ihrem Zusammenspiel eine Spannung hervorbringen und die Wahrnehmung des Texts als bewegt ermöglichen. Dabei spielt die Differenz zwischen der äußeren Form und den beschriebenen dynamischen Elementen der Verssprache und des Klangs auch eine wichtige Rolle. Die Wirkung des Gedichts gründet demnach auf der Differenz zwischen der scheinbaren Gestalt(ung) und den beschriebenen Verfahren, die diese Eindeutigkeit unterlaufen. Um das Gedicht nicht allein strukturell zu beschreiben, ist natürlich auch das Thema, die Beschreibung des Torsos, von Bedeutung. Ein Spannungsmoment kommt auch durch den Widerspruch zwischen der nach Geschlossenheit und einer klaren Struktur strebenden Sonettform und dem Thema des Fragments43 zustande. Dabei ist die syntaktische Zergliederung ein Merkmal, das den Gegenstand als nicht im eigentlichen Sinne abgeschlossen markiert. Die beschriebene Gestaltung des Torso-Gedichts; das sichtbar werdende Oszillieren zwischen der Anlage als Sonett, dem Thema des Fragments, der formalen Gestaltung der Brüche und dadurch hergestellten binnendynamischen Korrespondenzen des Kunstwerks, die ihm eine über sich hinausweisende Bewegungsenergie verleihen, korrespondieren deutlich mit der rilkeschen Leseweise der rodinschen Plastik: „Man hat viel von Bewegung bei Rodin gesprochen; aber sie ist nicht in den Gebärden, wo immer sie aufgehoben wird durch das Gleichgewicht und die angeborene Ruhe des Dinges: sie liegt in diesem tausendfach abgewandelten Fließen, Zögern, Stürzen und Schäumen des Lichts über das nirgends zufällige Gefälle der Oberfläche. […] Denn das Modelé zwang, ganz absichtslos zunächst, das Licht in einer bestimmten Weise über diese Gegenstände hinzugehen, anders als über andere. Es war nicht mehr irgendein Licht das sich bewegte wie es ihm gefiel, es war das Licht dieses Dings, so ihm gehörig, als ob es von ihm ausstrahlte.“44

Es handelt sich um eine erst im Nachlass publizierte Stelle des RodinBuchs, in der ein Aspekt hinzukommt, der im Hinblick auf die Wirkung des Torsos bedeutsam ist; nämlich das strahlende „Ding“.45 Der Torso 43 Vgl. W. Busch: Bild – Gebärde – Zeugenschaft, S. 72-73. 44 R.M. Rilke: „Rodin“ [Ursprüngliche Fassung des Vortrags 1905 aus dem Nachlass] in: R.M. Rilke: Werke, Bd. IV, S. 495-511, hier: S. 506-507. 45 Man muss klarstellen, dass in Rilkes Lyrik und Rodins Plastik (nach Rilke) die Bewegung nicht als Zufälligkeit erscheint, sondern Teil des Konzepts ist. Ebenso dürfen die Kunstwerke beider eben nicht als unabgeschlossen verstanden werden – im Gegenteil. Performativität bezieht sich vor allem 251

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entfaltet im Akt der Beobachtung und in seiner Exponiertheit im Raum ein Eigenleben, das in Rilkes Gedicht durch die vitalistischen Charakteristika bezeugt wird. Rilkes Torso ist mit einem großen energetischen Potenzial ausgezeichnet. Mit der Strahlkraft und der über sich hinaus weisenden Wirkung des Kunstwerks wird die schwer fassbare, qualitative Größe des Kunstwerks symbolisiert. Dieses autoreflexive Moment, das sich auf die Anforderungen des künstlerischen Schaffens beziehen lässt, wird letztlich durch die Rückwendung des Blicks auf den Betrachter illustriert („denn da ist keine Stelle, die dich nicht sieht. / Du mußt dein Leben ändern“). An dieser Stelle wird besonders deutlich, dass es im Gedicht nicht um die Nachbildung eines plastischen Gegenstands, sondern um die Wahrnehmungsweise desselben geht. Der Torso als energetisch aufgeladenes Ding setzt beim Beobachter einen Reflexionsvorgang in Gang. Dieser Prozess bildet den eigentlichen Gegenstand des Gedichts und führt zur emblematischen conclusio. „Du musst dein Leben ändern“ steht am Schluss als Aufforderung sowohl für den Künstler als auch für den Leser, der angesichts der Wirkmacht des Kunstwerks auf sich selbst zurückgeworfen wird. Die lyrische Sprache wird hier auf die Möglichkeiten erprobt, eine plastische Gestalt und Kontur nachzuzeichnen, Bewegung nicht bloß zu beschreiben, sondern rhythmisch, lautlich und syntaktisch herbeizuführen. Dabei ist es eigentlich nicht der Torso, der in Bewegung ist. Genauer gesagt ist es die Erscheinung des Kunstwerks, die in der Wahrnehmung des Betrachters bewegt erscheint. Das Gedicht steht hier als Beispiel für den Einfluss der Inspiration und Schulung, die Rilke durch die Beschäftigung mit der Plastik gewonnen hat. Diese kann als Impuls angesehen werden, durch den der Dichter sein künstlerisches Material – die Verssprache – die lyrischen Ausdrucksmittel und die Gedichtform auf neue Wirkdimensionen hin erprobt. Die Besonderheit liegt darin, dass die kunsttheoretischen Konstanten überdacht werden, ohne die eigenen Darstellungsmittel vollständig zu revolutionieren, wie es kurz darauf die Avantgarden praktizieren. Eines der Elemente anhand derer sich dieser Unterschied demonstrieren lässt ist das Thema des Raums im Gedicht. In „Archaïscher Torso Apollos“ spielt der Raum eine wichtige Rolle: das Objekt wirkt im Raum, der Blick überwindet eine räumliche Distanz und auch die Gestaltung des Gedichts beinhaltet räumliche Facetten. Durch die Spannung zwischen der Markierung durch Vers- und Strophengrenzen und ihrer syntaktischen Überschreitung entsteht beispielsweise ein räumlicher Effekt, der durch die sprachliche Struktur erfasst wird und erst in der Lektüre entauf die Gestaltungsprinzipien des Kunstwerks, in denen Bewegungsmomente enthalten sind, die aber erst während der Betrachtung in Erscheinung treten können. 252

SPUREN EINER INTERMEDIALEN ÄSTHETIK IN RILKES „ARCHAЇSCHER TORSO APOLLOS“

steht. Rilkes Lyrik zeigt damit im Vergleich mit zeitgleichen oder früheren Versuchen der Raumaneignung, z.B. in der Lyrik der Avantgarden ein anderes Verfahren.46 Die Möglichkeiten des Gedichts, sich dem Raum als (im klassischen kunsttheoretischen Diskurs) dem Medium der Bildenden Kunst anzunehmen, bietet eine Anschlussfrage an die bisherigen Ausführungen, die hier nur knapp behandelt werden soll. Bei Rilke ist die Erschließung einer räumlichen Wirkdimension des Gedichts kein grafisch fassbares Element des Wortmaterials, wie es in den Gedichten oder Collagen der futuristischen parole in libertà oder früheren Experimenten wie Stéphane Mallarmés „Un coup des dés jamais n’abolira le hasard“ angelegt ist. Das Moment der Räumlichkeit findet sich im „Apollo“-Gedicht in der oben skizzierten Spannung zwischen einer Formerwartung und der sprachlichen Gestaltung. Die syntaktische Gestaltung des Gedichts sowie die Metaphorik des Ausbrechens initiieren eine räumliche Vorstellung, die durch die scheinbare Beibehaltung der Sonettform und dem Übertreten ihrer Grenzmarkierungen zustande kommt. Ein zweites Konzept von Räumlichkeit tritt durch die bildliche Beschreibung des Beobachtungsvorgangs und seines Resultats in Erscheinung. Das Gedicht setzt den Rezeptionsvorgang eines Textes- und eines Bildkunstwerks gleich. Beide Gegenstände können in ihrer den Betrachter bzw. Leser affizierenden Wirkung nur im Raum und in der Zeit erfasst werden. Der Blick, das Sehen, als Grundlage des künstlerischen Schaffens wird vom betrachteten Objekt auf den Betrachter selbst zurückgeworfen. Diese Wende markiert den selbstreflexiven und poetologischen Aspekt des Gedichts besonders prägnant. Die Erkundung des Torsos im Gedicht obliegt, genau wie die Betrachtung einer rodinschen Plastik, einer zeitlichen und räumlichen Dimension, die beide ineinander verzahnt sind. Diese Zusammenfügung von räumlich-zeitlichen und akustisch-sprachlichen Gestaltungsprinzipien bildet den performativen Kern des Gedichts. Die Schwierigkeit, das Gedicht laut zu lesen,47 ist ein Beleg für die Performativität, da es sich zumindest rhythmisch einer eindeutigen Lektüreweise zu entziehen scheint.

46 Wenn Peter Por sieht, dass Rilke in den Neuen Gedichten „die allgemeine (Raum)problematik der europäischen Lyrik seiner Zeit aufnimmt und weiter folgert, dass Rilke sich keiner der möglichen drei möglichen Raumaneignungsweisen (realistisch, symbolistisch und avantgardistisch) wirklich vollzieht“, so kann man das auch für das ausgewählte Gedicht geltend machen. Peter Por: Die orphische Figur. Zur Poetik von Rilkes „Neuen Gedichten“. Heidelberg 1997, S. 81. 47 Vgl. W. Busch: Bild – Gebärde – Zeugenschaft, S. 73. 253

NICOLE PÖPPEL

Die Ausführungen legen folgende Schlussfolgerungen nahe: Das Apollo-Gedicht bewegt sich in seiner sprachlichen Gestaltung zwischen Autoreferenzialität und Performativität und bildet damit ein poetologisches Gedicht des „Neuen Sehens“48 Rilkes, das Referenzen zur Wirkungsweise der rodinschen Plastik aufzeigt. Die Poetik als Theorie der Dichtung und über Prinzipien des künstlerischen Schaffens wird hier zum Nachdenken über das Sehen, das so „selbst zum Objekt künstlerischer Wahrnehmung“49 wird. Somit liefert das Gedicht ein Zeugnis der intensiven Auseinandersetzung des Dichters mit der Bildenden Kunst, die sich deutlich im Rodin-Buch niederschlägt, und mit der hier eingenommenen Perspektive als konstruktives Potenzial einer intermedialen Ästhetik sichtbar wird. Das Gedicht lässt durch die Spannung zwischen visueller Textoberfläche und ihren semantischen, syntaktischen sowie klanglichen Bezügen den Gegenstand „Torso“ in plastischer Weise entstehen. Die vordergründige Gestalt des Torsos ist nicht die eines geformten Konstrukts, sondern ein energetisches aufgeladenen Objekts, das in seiner Wirkung dargestellt wird. Das Gedicht besitzt einen performativen Grundzug, der sich aus dem Zusammenwirken der beschriebenen Gestaltungselemente ergibt und in den darin enthaltenen Differenzen und Korrespondenzen nur im Prozess erfahrbar ist. Die angestoßene Denkbewegung in Rich-tung der Schlussfolgerung wird anhand des Beobachtungsprozesses des Kunstobjekts generiert. Rilke stellt sich hier in die Tradition eines Bildhauers, den er zuvor selbst zu einem Schüler der Dichter stilisiert hatte. Darin wird noch einmal die Bedeutung der hier beschriebenen Relation für einen kunsttheoretischen Moderne-Diskurs sichtbar, der statt einer Abgrenzung der Künste die Produktivität von intermedialen Sichtweisen sichtbar macht. Dieser gedankliche Impuls einer Überwindung der Form- und Gattungsgrenzen bewegt sich bei Rilke, anders als bei den gleichzeitig einsetzenden Avantgarden jedoch in einem Rahmen, in dem die Grenzen des eigenen künstlerischen Materials nicht aufgebrochen werden. Rilke hält am Material des Dichters, der Verssprache, fest und versucht gleichzeitig den Gegenstand des Bildhauers, den Torso, und dessen Wirkungspotenziale im Gedicht entstehen zu lassen. Damit zeigt „Archaïscher Torso Apollos“, wie das bildlich-imaginative Potenzial, genauer noch; die Möglichkeiten eines Gedichts, Merkmale wie Oberfläche und Bewegung im Raum sprachlich zu erzeugen, erprobt wird.

48 Ebd., S. 74 49 Ebd. 254

„E P P U R S I M U O V E !“ 1 I T A L I E N I S C H E L I T E R A T U R I N B EW E G U N G LAURA ROMAN DEL PRETE Die Kreativität besteht darin, neue Verbindungen zwischen bekannten Dingen heraus zu finden. (Vilfredo Pareto).

PRÄMISSE Bevor ich mit meinen Ausführungen über neuere Entwicklungen in der heutigen italienischen Literatur und vor allem über jene besondere an das Internet gebundenen Texte anfange, die eine Art kreative Avantgarde repräsentieren, möchte ich zunächst auf ein historisches und bis heute nicht gänzlich behobenes Problem Italiens hinweisen: die Alphabetisierung oder eben: der Analphabetismus. An diesem Phänomen in all seinen Formen und den daraus folgenden Schwierigkeiten wird deutlich, wie schwierig es war und noch ist, aus den Italienern ein Volk von Viellesern zu machen. So sind jegliche Entwicklungen, die eindeutige Hinweise liefern, wie aus einer Kultur von Papiermedien eine immer facettenreicher werdende multimediale Kultur entsteht, nur dann nachvollziehbar, wenn die besondere italienische Situation in Bezug auf Alpha1

Legendärer Ausruf Galileis: „Eppur (la terra) si muove!“ 255

LAURA ROMAN DEL PRETE

betisierung, Buchproduktion, -markt und -konsum beleuchtet worden ist. Besondere Aufmerksamkeit verdient die Analyse des allgemeinen Leseverhaltens, welches auch in historischer Perspektive immer unterentwickelt war. Erst vor diesem Hintergrund ist die heute stattfindende vermehrte Hinwendung der italienischen Bevölkerung zu den neuen medialen Technologien zu interpretieren, die aktuell zu einem Umbruch bei den sonst festgefahrenen Produktions- und Konsumstrukturen im Kulturbereich geführt haben. War es während des ganzen vergangenen Jahrhunderts unter diesen Umständen schwierig, einen stabilen Markt für das Medium Buch und für die Presse im Allgemeinen zu etablieren, welcher eine landesweite Literaturproduktion hätte fördern und mittragen können, so lässt sich neuerdings eine positive Entwicklung erkennen, die infolge der sich verbreitenden Nutzung der neuen Medien Fuß fasst und an Bedeutung zunimmt.

EIN RÜCKBLICK Den negativen Voraussetzungen, die den kulturellen Abstand Italiens zu den übrigen europäischen Ländern ausmachten und weitgehend noch ausmachen, möchte ich im Folgenden u.a. anhand von statistischem Material ausführlicher auf den Grund gehen. Betrug 1861, im Jahr der Entstehung der italienischen Nation, prozentual die Zahl der Analphabeten 78% der Gesamtbevölkerung – wobei bei dieser statistischen Erhebung bei der verbleibenden Prozentzahl noch nicht zwischen Fast-Analphabeten (solchen, die minimal im Stande waren zu lesen jedoch kaum ihren Namen schreiben konnten) und der alphabetisierten Bevölkerung unterschieden wurde – so lassen neue Schätzungen vermuten, dass damals insgesamt nur 2,5% der Italiener mit Lesen und Schreiben vertraut waren. Das Problem des Analphabetentums wurde zu jener Zeit zu Recht damit begründet, dass die Mehrheit der Bevölkerung dialektophon und daher noch in einer vorwiegend mündlich tradierten Kultur verankert war. Dieser Zustand wurde durch die Haltung der katholischen Kirche erschwert. Offiziell (siehe 1868 die Position der Jesuiten, wie sie in deren Zeitschrift Civiltà Cattolica vertreten wurde) sprach sich die Kirche gegen eine allgemeine Schulpflicht aus. Auch andere Erschwernisse spielten eine wichtige Rolle: die Kluft zwischen Stadt und Land, Norden und Süden, Männern und Frauen. Nur sehr schleppend konnten all diese Hindernisse abgebaut werden. 1881 betrug die Zahl der Analphabeten noch 62%, 1911 38%, 1931 21% (wobei im

256

ITALIENISCHE LITERATUR IN BEWEGUNG

gleichen Jahr die Zahl im Süden des Landes noch 38% betrug), 1951 13% (im Süden 28%). Neue Erhebungen aus dem Jahr 2005 lassen auf eine Zahl von zwei Millionen Analphabeten in Italien schließen, mit Prozentzahlen (je nach Region, zwischen 2 bzw. 4 und 12%, allerdings werden hier hundert-prozentige Analphabeten und Halbanalphabeten zusammengerechnet), die Italien eine Schlussplatzierung im weltweiten Ranking der 30 am weitesten alphabetisierten Länder bescheren, gerade noch vor Portugal und Mexiko.2

DER BUCHMARKT

IN

ITALIEN

Aus der Interpretation der hier zur Verfügung stehenden Daten lässt sich eine Beschreibung der Bedingungen ableiten, unter denen der Buchmarkt in Italien operiert. Gerade die vergleichsweise ‚unnormale‘ italienische Situation erweist sich als interessantes Untersuchungsobjekt, wenn man sie in die Analyse der neueren Medien miteinbezieht. Die mir zur Verfügung stehenden Daten wurden in der Phase ab dem Zweiten Weltkrieg erhoben. Seit den 1950er Jahren bis etwa Mitte der 1990er Jahre des letzten Jahrhunderts lässt sich eine – nicht immer gleichbleibende – Steigerung der produzierten und verkauften Bücher beobachten. Zwischen 1980 und 1997 hat sich diese Zahl sogar verdoppelt, auch wenn gleichzeitig pro Buch immer weniger Exemplare in Druck gehen: waren es 1980 durchschnittlich noch 8.500 Kopien pro Titel, wurden es 1990 weniger als 6.000, heute sind es nur noch ca. 4.500.3

2 3

Vgl. http://www.pbmstoria.it/dizionari/storia_mod/a/a045.htm vom 01.04.2008. Vergleich mit Deutschland. Im Jahr 2004 wurden 3566 Mio. Bücher veröffentlicht. Vgl. http://www.gfk.com/imperia/md/content/ps_de/chart_der_woche/2008/kw1 1_08_buchmarkt2007.pdf vom 01.11.08. 257

LAURA ROMAN DEL PRETE

Abbildung 1: Buchproduktion in Italien – 1980-20044

Quelle: Elaborazione Aie su dati Istat

ZUM LESEVERHALTEN

DER ITALIENISCHEN

BEVÖLKERUNG

Fokussiert man die Aufmerksamkeit auf das Leseverhalten, so lassen sich in einem eher deprimierenden Gesamtbild auch einige erfreuliche Zahlen ausmachen. Immerhin hatten 2005 42,3% der italienischen Bevölkerung über sechs Jahre innerhalb eines Jahres mindestens ein Buch gelesen (mit einer Steigerung von 1% gegenüber 2004 und 2,2% gegenüber 2002). Überhaupt ist in den letzten fünf Jahren eine positive Gegentendenz festzustellen: Im Jahr 2000, in dem der Tiefpunkt der letzten zehn Jahre erreicht wurde, hatten nur 38,3% der Bevölkerung mindestens ein Buch pro Jahr gelesen und nur 5,6% ein Buch pro Monat. Versucht man herauszufinden, wer heute mehr liest als früher, so lassen diese Zahlen eine gewisse Ernüchterung aufkommen: Diejenigen, die bereits früher viel gelesen haben, lesen heute noch mehr! Mit anderen Worten: Der Gewohnheitsleser liest jetzt noch mehr (auch hier mit den üblichen Unterschieden zwischen dem Norden und dem Süden: 50,4% der Bevölkerung über sechs Jahre lesen gewohnheitsmäßig im Norden, während es im Süden nur 30,4% sind). Nach neueren Erhebungen ist es nicht mehr die Hälfte der Bevölkerung, die nie liest, sondern – trotzdem erschreckend genug – ‚nur‘ ein Drittel! 4

Aus: „Abbondanza e scarsità di informazione e comunicazione – Un’evoluzione complessa fra cambiamenti e continuità“. Un contributo di Giancarlo Livraghi al quinto rapporto del Censis – maggio 2006.

258

ITALIENISCHE LITERATUR IN BEWEGUNG

Eine weitere interessante Information in diesem Kontext stellen jene Zahlen dar, die sich auf die Ausgaben für den Kauf von Büchern beziehen. Wenn man bedenkt, dass der Schulbuchmarkt 9,6% des gesamten Buchmarktes beträgt5, und dass Schulbücher hauptsächlich in den Buchhandlungen erworben werden, stellen sich die Ergebnisse (siehe Statistik Nr. 2) in einem ‚relativierten‘ Licht dar. Nicht weniger bedeutungsvoll ist der Anteil der Bücher, der am Zeitungskiosk in Form von Beilagen zu verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften verkauft wird. Dieses Phänomen, das sich zuerst in Frankreich und dann rasch in Italien und Spanien zeigte, kann nicht mehr als Randerscheinung bagatellisiert werden. Wenn man sich z.B. auf die Biblioteca der Tageszeitung La Repubblica bezieht, so gehören zu dieser Serie 50 Romane bzw. Klassiker der Weltliteratur, von denen bis zu 600.000 Exemplaren im Monat verkauft werden konnten. Abbildung 2: An Zeitungskiosken verkaufte Bücher – 2002-2004 Angabe der Exemplare in Millionen

Quelle: AIE – Associazione Italiana Editori6 Das damit erzielte ökonomische Ergebnis ist beträchtlich. Viele Verlagshäuser können nur durch dieses Verkaufsformat jene durch ausgebliebene Werbeeinnahmen entstanden Defizite wettmachen. Aber auch unter 5 6

In Italien tragen die Familien alle Kosten für Lehrmittel. Darin beziehen sich die Zahlen einmal auf den Buchverkauf – obere Linie –, der über den Buchhandel, die Buchmessen und ähnliche Strukturen läuft, während die untere Linie sich auf den Bücherverkauf bezieht, der über den Zeitungskiosk abgewickelt wird. Die Trendlinien für 2005 basieren auf einer Marktbeobachtung nicht auf numerischen Daten, die bisher nicht zur Verfügung stehen. 259

LAURA ROMAN DEL PRETE

einem soziokulturellen Gesichtspunkt sind diese neuen Entwicklungen von Bedeutung. Sie machen durchschnittlich pro Familie fünf Bücher mehr im Jahr aus. Das ist nicht wenig in einem Land, in dem die Verbreitung des Buchs immer noch stockt. Nimmt man allerdings ein anderes Medium unter die Lupe, nämlich das Fernsehen, hat man es mit einer völlig anderen Situation zu tun. Im europäischen Vergleich weisen nur Portugal und Polen eine ähnliche Vorherrschaft des Fernsehens und eine entsprechende Schwäche bei den Druckerzeugnissen auf wie Italien. Abbildung 3: Ausgaben für Bücher pro Person in 30 Ländern7.

VOM LESEVERHALTEN

ZUM

BÜCHERBESITZ

2006 behaupteten 84,1% der italienischen Familien Bücher zu besitzen, ein Viertel davon mehr als hundert Bücher, 62,6% bis höchstens hundert Bücher, während 12,3% erklärten, gar kein Buch zu besitzen (das bedeutet zwei Millionen Menschen und 800.000 Familien). Vervollständigt man das Puzzle der Informationen, indem man die Daten über den Fernsehkonsum (auch die überdurchschnittliche Verbreitung von Handys – siehe Statistik Nr. 4 – müsste hier Erwähnung finden) hinzufügt, entsteht 7

Vgl. http://gandalf.it/cens2006/c2006-08.htm vom 01.04.2008. 260

ITALIENISCHE LITERATUR IN BEWEGUNG

ein Bild, welches eine klare Verschiebung zugunsten des letzt genannten Mediums ergibt. Es ist bekannt, dass Fernsehen überproportional dort verbreitet ist, wo besondere ökonomische und soziale Bedingungen es begünstigen. Im ‚Fall‘ Italiens, das mit Fernsehsendungen niedrigen Niveaus überflutet wird, ist nicht die Tatsache wichtig, dass dort mehr Fernsehapparate (96% von 100 Wohneinheiten haben einen Fernsehapparat – siehe genannte Censis Quellen) vorhanden sind sondern, dass die breite Masse der Bevölkerung über eine geringe Wahl alternativer Informationsquellen verfügt. Nun ist das Fernsehen das ‚passive‘ Medium par excellence! Ein Transfer von kulturellem Reichtum von der einen begünstigten in die nächste benachteiligte Gesellschaftsschicht lässt sich leider nicht einfach bewerkstelligen, es sei denn, man würde an die Wurzel des Problems gehen (z.B. durch eine Reform des Schulsystems und durch viele andere Maßnahmen zur Alphabetisierung und Weiterbildung – auch im Sinne einer Erziehung zum Lesen – der Bevölkerung). Bleibt die jetzige Situation bestehen, ist eher eine Vertiefung der bereits existierenden Kluft zu erwarten. Insgesamt weist die Analyse der italienischen Medienlandschaft auf ein starkes und nicht nur quantitatives Ungleichgewicht hin: Auf der einen Seite ist man mit einer Verlagsindustrie konfrontiert, deren Konkurrenzfähigkeit klare Defizite aufweist, auf der anderen Seite findet keine angemessene Evolution der Informations- und Kommunikationssysteme statt: Sowohl die Presse, die unter den gleichen Schwierigkeiten leidet wie der Buchmarkt, als auch das Internet – siehe nächster Absatz – welches sich zwar stetig jedoch langsam verbreitet, übernehmen noch nicht den Platz, der ihnen heute in einer Industrienation selbstverständlich zustehen würde. Folgendes Zitat bringt die italienische Situation in Bezug auf Massenmedien in ihrer Funktion als Kulturträger auf den Punkt: „Wer Hunger hat, bzw. gezwungen ist, sich schlecht oder ungenügend zu ernähren, ist sich dessen sofort bewusst. Auch wer zuwenig Geld hat, selbst bei leichtem Überschreiten der Armutsgrenze, nimmt seine unbefriedigende Situation deutlich wahr. Kulturelle Entbehrung dagegen ist nicht weniger schwerwiegend, aber weniger offensichtlich.“8

8

„Un contributo di Giancarlo Livraghi al quinto rapporto del Censis – maggio 2006”, vgl. http://www.gandalf.it/cens2006/index.htm vom 01.11.08.

261

LAURA ROMAN DEL PRETE

Abbildung 4: Anzahl der Handys in Italien – 1985-2005 (Angabe in Millionen)

Quelle: Istat und Eurostat

„E

IL NAUFRAGAR

NEUE MEDIEN (NAVIGAR) M’È MARE“9

DOLCE IN QUESTO

Sind die Papiermedien wichtige Akteure im Prozess des Kulturtransfers, so sind hier heute die neueren Medien, also Computer und Internet, nicht mehr wegzudenken. Das Handy repräsentiert zwar durch seine multimedialen Möglichkeiten für Linguisten und Kommunikationswissenschaftler ein äußerst interessantes Studienobjekt, hinsichtlich des Kulturtransfers spielt das Handy10 heute jedoch noch eine marginale Rolle. Das wird sich sicherlich ändern mit der zunehmenden Verbreitung derartiger Geräte, bei denen die mobile Telefonie nur eine der Einsatzvarianten darstellt. Der PC und das Netz stellen eine breite Palette von Anwendungen zur Verfügung, deren Rolle sich in Bezug auf die Schrift und die Lektüre sehr gefestigt hat. Bereits 2005 hat sich, quantitativ gesehen, die Zahl der übers Internet geschriebenen Worte im Vergleich zu deren Zahl bei dem traditionsreicheren Papiermedium angeglichen. Und es ist anzunehmen, dass sich diese Tendenz weiterhin festigen wird. 9 Aus dem Gedicht L’Infinito von Giacomo Leopardi. 10 In Italien hat die Zahl der Handys im Jahr 2002 die der Festnetzanschlüsse überholt. 262

ITALIENISCHE LITERATUR IN BEWEGUNG

Betrachtet man die Funktion der Medien als Kulturträger – unabhängig davon, ob auf Papier oder nicht – die Qualitätsinhalte transportieren und stilvolle Sprache verwenden, so lässt sich feststellen, dass im Netz alle Ebenen der Kommunikation vertreten sind. Beschränkt man sich auf die rein kulturellen Kanäle, so werden Inhalte und Stil genau so wichtig wie beim Papiermedium. D.h., auch in den neuen Medien spielt das geschriebene Wort eine unersetzliche Rolle. Paradoxerweise hat die Schrift in einer Welt, die von der audiovisuellen Kommunikation dominiert zu sein scheint, gerade durch das Internet enorm an Bedeutung gewonnen. Das Netz kann benutzt werden um Musik, Bilder oder Filme auszutauschen, doch der geschriebene Text bleibt das tragende Element. Findet man online einen längeren Text, den man vertieft analysieren möchte, ist es üblich, diesen Text auszudrucken. Ein reger Austausch zwischen den Medien findet ununterbrochen statt, allerdings werden die üblichen Kanäle (Verlag, Buchhandlung, usw.) meist nicht zwischengeschaltet, wobei diese durchaus im Netz präsent sind und ihre Dienstleistungen den neuen Bedingungen angepasst haben. Nebenbei bemerkt: Seit zehn Jahren ist eine der erfolgsreichsten Internetfirmen eine, die Bücher verkauft! In Italien hatte die Verbreitung des Internets erst in den Jahren 1998 bis 2000 eine massive Steigerung zu verzeichnen. Danach ist die Zunahme bei der Nutzung des Internets, wie bereits erwähnt, langsam aber stetig gestiegen (etwa um 10 % jährlich). Auch deren Einsatz hat sich zugunsten einer deutlichen Steigerung der häuslichen Nutzung verändert. Abbildung 5: Internetnutzer in Italien – 1995-200511

11

Vgl. http://gandalf.it/cens2006/c2006-08.htm vom 01.04.2008. 263

LAURA ROMAN DEL PRETE

Bei genauerer Betrachtung des Mediums Internet stellt man fest, dass in diesem neuen Ambiente viel Altes mit Neuem koexistiert. Andererseits, da erwiesenermaßen der Gebrauch des geschriebenen Wortes auch im Netz weiterhin eine tragende Rolle spielt, wird man hierbei keine weltbewegende Veränderung feststellen können. Das geschriebene Wort als solches kann sich auf eine 6000 Jahre alte Tradition stützen, das seriell gedruckte Papier ist älter als 500 Jahre. In Bezug auf Textvielfalt erweist sich das Internet als unerschöpfliche und unendlich erweiterbare Quelle. So hat sich das Verb ‚navigieren‘ für den Umgang mit dem Netz als sehr nützliche Metapher etabliert (und manchmal erleidet man im Sinne Leopardis auch Schiffbruch dabei), da man von Hyperlink zu Hyperlink ständig ‚auf Reise sein‘ kann. Hyperlinks sind „das Salz in der WWW-Suppe“12 heißt es, und in der Tat scheint sich die enzyklopädische Wissensstruktur im Netz nach dem Modell der aggregativen Atomstruktur darzustellen. Bei dieser Fülle kann nur ein sowohl bewusstes wie auch selektives Vorgehen Qualitätsstandards erreichen und ermitteln. Auch hier entscheidet wie beim Buch die Bildung des Nutzers darüber, welche Inhalte als qualitativ akzeptabel erachtet werden. Hier sind, zusätzlich zu den tradierten Buchkompetenzen, solche gefragt, die mit den Möglichkeiten des Mediums verknüpft sind: multimediale Kompetenzen. Insofern lässt sich das Qualitätsproblem – metaphorisch gesprochen – nicht einfach dadurch lösen, dass man ein Werkzeug durch ein anderes ersetzt, sondern indem man das passende Werkzeug für jede Art der Verwendung einsetzt und dieses mit anderen Werkzeugen kombiniert, um die Effektivität zu steigern. Jedoch ist es nicht zu leugnen, dass der Einsatz des Internets dabei helfen kann, althergebrachte Barrieren zu überwinden. Inzwischen kann man dessen Einsatz weder als ‚Invasion‘ noch als Ersatz für andere Medien betrachten. Erwiesenermaßen erweitern diese neuen ‚Instrumente‘ das Betätigungsfeld der alten, sie ‚eliminieren‘ sie nicht. Aber, jenseits der Wissensorganisation, wie interagieren das Internet und seine Nutzer? Sprach man vor zwanzig Jahren noch von der Informationsgesellschaft13, erobert sich heute eine andere Definition ihren Platz: die vernetzte Gesellschaft (società di relazione). Die Etablierung der Massenmedien „a senso unico“ (die wie eine Einbahnstraße funktionieren) hat zu einer Verbreitung von Informationen geführt, die ihresgleichen sucht. Aber die vernetzte Gesellschaft (network society) ist etwas 12 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Hyperlink vom 01.11.08. 13 Der Begriff wurde allerdings indirekt bereits in den 1920er Jahren durch N. Wiener und P. Teilhard de Chardin geprägt, um später (in den 1960ern) genauer von Steinbuch, Haefner und Umesao mit der aktuellen Bedeutung versehen zu werden. 264

ITALIENISCHE LITERATUR IN BEWEGUNG

anderes: Sie betont die Werte der Kommunikation und der Gemeinschaft gegenüber dem einfachen Begriff der ‚Information‘. Es wäre ein Fehler anzunehmen, dass es die technologische Struktur ist, die das System funktionieren lässt. Die Technologie kann nur die Basis dessen bilden, was für den Menschen soziokulturell von Nutzen ist. Nicht zufällig ähnelt die Struktur des Internets der des menschlichen Gehirns weit mehr als jener einer einfachen elektronischen Maschine. Seine Infrastruktur kommt der eines Ökosystems sehr nahe. Wie in jedem biologischen System14 stellt Andersartigkeit einen positiven Wert dar, die Qualität beeinflusst das Wachstum, die (Umwelt-)Verschmutzung ist ein Problem und jeder künstlich eingebrachte Zwang ist ein Schaden. Es ist also sinnvoll, dass Internet wie eine Art ‚Lebewesen‘ zu betrachten, d.h. als ein Aggregat aus mit Menschen verkoppelten Maschinen, ausgestattet mit Software und mit den Datentransfer regelnden Protokollen. In der vernetzten Gesellschaft gilt heute mehr als je zuvor die sokratische Maxime „Je mehr ich weiß, umso mehr weiß ich, dass ich nichts weiß“ sowie Heraklits Weltanschauung des panta rhei, alles vergeht, alles verändert sich ständig. So ist heute im Internet ein Leben im Fluss, gespickt mit unerwarteten Gelegenheiten, wobei der Weg zu den gesuchten Informationen interessante Nebenschauplätze bieten kann. KANN, denn der Nutzer ist immer noch der Entscheidungsträger im Verhältnis Mensch-Maschine-Information – Maschine-Mensch. Die vom Netz ermöglichte Intermedialität ist einzigartig. Wenn man vom webwriter spricht, dann meint man damit jene Person, die eine Art der Schrift beherrscht, die die vielfältigen Möglichkeiten des Netzes miteinbezieht. Dazu kommen wietere besondere Formen: das kollaborative Schreiben und die verschiedenen Arten literarischer Performanz sowie Sprachspiele, bei denen der Autor gleichzeitig Regisseur, kreativer Geist und Programmierer ist. In der besonderen italienischen Situation ist die Frage von Bedeutung, inwiefern diese neuen Medien als Kulturmultiplikatoren aktiv werden (können) und dadurch tatsächlich mehr Publikum erreichen als ältere Medien. Diese Frage kann heute noch nicht endgültig beantwortet werden, da eindeutige Zahlen fehlen. Schaut man jedoch auf die Menge der vorhandenen Seiten in italienischer Sprache, die im engeren Sinne kulturelle Inhalte transportieren, stellt sich das Angebot in seiner Breite bereits jetzt als so groß dar, dass es letztendlich kaum zu erfassen ist. Beschränkt man sich jedoch auf ausgewählte Beispiele, die im Folgenden präsentiert werden sollen, scheint bewiesen zu sein, dass die Möglichkeiten des In-

14 Vgl. G. Livraghi: La coltivazione dell’internet, Mailand 2000/2001 (Il Sole 24 Ore). 265

LAURA ROMAN DEL PRETE

ternets durchaus als Plattform für neue, auch literarische Avantgarden, fungieren können. Auch in Italien haben sich Foren, Blogs, Chats und Communities aller Arten gebildet, die literarische Aktivitäten fördern. Das geschieht sowohl auf der Ebene der Literaturkritik, mittels spezialisierter Internetzeitschriften, wie durch die Förderung der Literaturproduktion bis zu ihrem ‚In-Umlauf-Bringen‘ durch die (Erst-)Veröffentlichung im Netz. Neben traditionellen Kanälen wie Buchmessen, Lesemarathons, Literaturpreisverleihungen behauptet sich immer mehr eine alternative Kultur, die gezielt jene typischen Mechanismen der offiziellen Kultur vermeidet (in Italien – aber auch anderswo – heißt das konkret: die Kulturregulierenden machen oft auch politischen Lobbyismus). Dabei versucht auch diese alternative Kultur, sich selbst zu disziplinieren, indem durchaus auf ästhetische Kriterien geachtet wird. In diesen neuen Kanälen werden junge Schriftsteller, neue Inhalte und eine neue ‚komprimierte’ ausdrucksvolle Sprache präsentiert. Gerade aufgrund der schwierigen Sprachgeschichte Italiens, die dazu geführt hat, dass Italiens Kultur fast ausschließlich eine elitäre Stellung beziehen konnte, und weil die italienische Schule lange Zeit bar jeder Aufmerksamkeit für didaktisch-pädagogische Aspekte den Literaturunterricht als Übertragung jener elitären Kultur angesehen hat, ist der neue Wind, den man im Internet zu spüren bekommt, wohltuend und frisch. Es wäre naiv anzunehmen, dass die offizielle institutionalisierte Seite der Kultur nicht ebenfalls im Internet präsent wäre, doch das Netz ist groß und erlaubt (noch) viel Freiheit. Es wäre denkbar, sich eine Zukunft vorzustellen, in der das Netz als Bindeglied zwischen den zwei Fronten (Kultur der Elite und Popkultur) fungieren könnte, zwischen der Kultur der Wenigen und der demokratischen der Vielen. Die Internetzeitschriften15 L’Attenzione und Fuori Pagina (F.P.) versuchen, aus ihren Foren heraus Antworten hinsichtlich der neuen Möglichkeiten des Netzes zu finden. Dort geht es darum, technische, ästhetische und ethische Probleme des neuesten Mediums zu erörtern. Zum Beispiel hat Fuori Pagina bei einer Tagung16, die die Stiftung Carige 2002 in Mailand organisiert hatte, die Frage gestellt: „Ist Literatur, was man veröffentlicht?“ Und bezüglich dessen, was schon im 1909 erschienenen Gründungsmanifest der italienischen Futuristen steht (u.a. die Schließung von Museen und Bibliotheken, als Aufbewahrer 15 Siehe auch http://www.liquida.it/riviste-letterarie-on-line/ vom 01.11.2008. 16 An der Tatsache, dass ein Internetforum eine Tagung organisiert, ist die ‚Verknotung‘ der medialen mit den sog. „‚first Life‘-Aktivitäten“ zu beobachten, bei denen Impulse aus dem Netz hinausströmen und die Pfade der traditionellen akademischen Welt beschreiten. 266

ITALIENISCHE LITERATUR IN BEWEGUNG

‚toter‘ Kultur), behaupten die Redakteure von F.P.: „È fondamentale togliere alla letteratura quell’aria di sacralità che la circonda, così come è importante portarla fuori dalle librerie“ (Zitat: O. Ponte di Pino). Aus dieser Perspektive heraus lässt sich die bereits erwähnte Strategie des Verkaufs von Literatur am Kiosk, wie marktkonform auch immer eine solche Maßnahme gewesen sein mag, als ein erfolgsreiches Beispiel einstufen, Kultur von ihrem Sockel herunterzuholen. Andere spezifische Internetinitiativen wie die des sog. ‚Bookcrossing‘ (das betrifft die Zirkulation von gebrauchten Büchern, die im Netz mit einer besonderen Nummer gekennzeichnet werden und deren unentgeltliche Übergabe von Leser zu Leser im Netz zu verfolgen ist) bereichern das sich sonst ziemlich statisch verhaltende Kulturangebot.

JUKEBOX

LETTERARIO

Oliviero Ponte di Pino und Davide Franzini haben zusammen die Idee eines Jukebox letterario realisiert. Hintergrund dieser Idee war gerade eine Literatur out of aula zu präsentieren: neue Prosastücke oder Gedichte zu veröffentlichen, gleichzeitig im Netz und als gedrucktes Buch (mit einer Auflage von bis zu 13.000 Exemplaren). Entlang den mäandernden Verkehrswegen der Mailänder U-Bahn wurden diese Texte seit 2002 den Vorbeieilenden gratis zur Verfügung gestellt. Diese Initiative, die zuerst in Mailand startete, hatte sofort viel Erfolg und wurde im nachfolgenden Jahr von anderen Städten übernommen. Heute beteiligen sich außer Mailand, Venedig, Rom, Neapel und Palermo. Genua, Turin und Mantua sollen dieses Jahr (2008) dazukommen. Im Rahmen dieser Initiative findet jedes Jahr im Internet ein Wettbewerb statt, an dem Schreibende unter 35 Jahren teilnehmen und unveröffentlichte Manuskripte einreichen dürfen. Aus den tausenden Einsendungen wählt eine Jury zwölf Erzählungen (und entsprechende Gedichte, die in einem 13. Band extra gesammelt werden) aus. Diese werden gedruckt und an hoch frequentierten U-BahnPassagen verteilt, bzw. im Internet zum Lesen, Downloaden oder als Audioversionen angeboten. Damit das Lesen während der Fahrt in der UBahn und die richtige Textauswahl optimiert werden können, wird die Länge (eigentlich: Lesedauer) der Erzählungen nach eingeschätzten Haltestellen angegeben. Vor dem eigentlichen Text steht also immer, für wie viele Haltestellen der Text gedacht ist, welchem Genre er angehört (Krimi, Komik, Drama usw.) und eine Präsentation des Textes, welche als Zusammenfassung bzw. Rezension und Kritik zu verstehen ist. Auch inhaltlich sollten die Erzählungen mit dem Thema ‚metropolitanes Reisen‘ oder ganz allgemein mit der Nutzung von öffentlichen Transportmitteln

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als Alltagsdimension der meisten Menschen unserer Zeit, eine Dimension ansprechen, die im wahrsten Sinne des Wortes mit „bewegten Körpern“ zu tun hat. In die narrative Ebene übersetzt, übernehmen die Fahrt von A nach B, der tägliche Parcours zur Schule und zum Arbeitsort, oder, wie in einem Fall, das Hundertmeter-Rennen während einer Schülermeisterschaft, die occasio für die Geschichte. Die conditio humana der sich in Bewegung befindenden Körper, die typisch für unser Zeitalter ist, führt zu einer Veränderung in den erzählten Situationen: Nach oder während der Reise bzw. dem Gang wird quasi ‚ein Knoten‘ gelöst und das Ende der Erzählung fügt sich fast als naturgegeben hinzu. Die Initiative des Jukebox letterario wurde wie erwähnt zu einem großen Erfolg und in all den wichtigeren Tageszeitungen wie Corriere della Sera, La Repubblica, La Stampa besprochen. Die Bücher in Kleinstformat sind noch lange vor Ende des jeweiligen Jahres „weggekommen“, verteilt worden, die entsprechenden Internetseiten sind von mehreren tausend Besuchern konsultiert worden. Bezüglich des sprachlichen Stils versuchen die Erzählungen, in all der Vielfalt und Differenz, eine dichte im Alltag gesprochene Sprache zu verwenden, die nur noch wenig mit der typisch italienischen Literatursprache zu tun hat. Haben nicht etwa auch (hinsichtlich ihres literarischen Wertes) zweifelhafte Bucherfolge wie Tamaros Va dove ti porta il cuore in den 90ern oder der zeitlich nähere Bestseller des Autors Moccia Tre metri sopra il cielo den Bedarf, gar die Notwen-digkeit einer neuen Literatursprache unterstrichen? In Italien sehnt sich die Leserschaft nach einer Sprache, die ihr eher entspricht, nach jenem journalistischen Stil, der ohne an Niveau zu verlieren, besser zu der heutigen Zeit passt. Sicherlich haben frühere Avantgarden auch Sprach-ex-perimente unternommen. Der italienische Realismo mit dem Dialekt, der Futurismo mit seiner ‚explodierenden‘ Sprache, der Ermetismo mit der Kondensierung des Wortes und der Neorealismo mit seiner, diesem neuen Sprachstil am nächsten, Suche nach dem „gesprochenen Italienisch“, der jedoch vor allem für die Textpassagen in der direkten Rede eingesetzt wurde, also noch nicht für würdig genug gehalten wurde, den gesamten narrativen Stoff wiederzugeben. In den 1960ern wagte Gianni Rodari, Kinderbücher zu schreiben, die der Gattung der Kinderliteratur einen kräftigen Stoß versetzten. Er bewies, dass Sätze wie „mi scappa la pipì“ („ich muss Pipi machen“) durchaus ihre Berechtigung haben, in einem Text für Kinder vorzukommen. Auch der Skandal um diese Art von Sätzen hielt sich, rückblickend betrachtet, in Grenzen, während die Kinder schließlich mit Geschichten konfrontiert wurden, die ihnen weit mehr entsprachen als die Gedichte und die Märchen, die in einer Sprache verfasst waren, die sie zum großen Teil nicht verstanden. Dass Banalität und stilistischer Verfall nicht automatisch zu einem so genannten ‚nie-

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ITALIENISCHE LITERATUR IN BEWEGUNG

drigeren‘ Sprachstil gehören, haben wichtige Schriftsteller des letzten Jahrhunderts unter Beweis gestellt: Der frühe Italo Calvino und das Schriftstellerduo Fruttero und Lucentini orientierten sich stilistisch eher an den amerikanischen Vorbilder der 1920er und 1930er Jahre, die keine Scheu hatten, die Sprache der Straße, die, bei einem alltäglichen Telefonat, oder beim Plaudern an einer Bar-Theke gesprochen wurde, in ihren Romanen und Erzählungen zu verwenden. Im Jukebox letterario scheint es, als wäre die „Questione della Lingua“, die sich von Dante bis in die heutige Zeit entlang des italienischen Kulturdiskurses bewegt hat, gelöst worden. Ob die ‚Hohe Literatur‘ heute vielleicht ganz einfach ‚Literatur‘ geworden ist? Es ist vielleicht noch zu früh, um das zu behaupten, aber Dank z.B. solcher Initiativen wie dem Jukebox letterario kommt man dem Ziel gewiss etwas näher: „Gli ingredienti principali di Volata finale sono toccanti, quasi patetici. Un ragazzino che vive la morte del padre. Uno sport epico e crudele come il ciclismo. Le difficoltà dell?adolescenza e le competizioni dei ragazzini. Una disperazione profonda ma trattenuta, inesplosa. Al tempo stesso il racconto ha una costruzione complessa e sapiente, una meccanica controllata e intelligente che si apre al passato attaverso una serie di flashback. Così in poche pagine Massimiliano Maestrello insegna al suo Marco una diversa consapevolezza di sé e del mondo, in un fulmineo romanzo di formazione che lo cambia per sempre. Volata finale ci fa capire, con pudore, quando di sadico e di masochista ci sia in ogni rapporto tra padre e figlio, tra maestro e allievo […] Il traguardo è a poche decine di metri quando Marco smette di spingere sui pedali e si volta. È primo, e con la coda dell’occhio può vedere il piccolo gruppo che lo insegue: sono tutti piegati sui manubri, impegnati nella volata finale, nel tentativo di annullare il più velocemente possibile i metri che mancano alla striscia bianca tracciata sull’asfalto che segna la fine del percorso. Marco sente le grida del pubblico, in piedi dietro le transenne, lungo la strada. Non gli è difficile immaginare i volti di quelle madri e di quei padri – li ha visti decine e decine di volte – mentre incitano i figli, mentre urlano e applaudono e fischiano, accanto a quei genitori che, invece, silenziosi, aspettano di veder comparire il proprio ragazzo nell’ultimo tratto del tracciato. Di solito, questi ultimi, sono quelli che si producono in certe scenate imbarazzanti, nei parcheggi, alla fine della gara, rimproverando al figlio la mancanza di impegno e di carattere e di spirito di competizione. Come se fossero gare importanti, quelle, e non si trovassero invece – come capita quasi ogni domenica – in un piccolo paese, a una delle tante tappe che compongono il campionato per ciclisti della sua età, pensa Marco. Come se non ci fossero le solite premiazioni, dopo: qualche trofeo, qualche targa ricordo e molti cesti di prodotti tipici gentilmente offerti dagli

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sponsor. Marco pensa che da qualche parte, dietro le transenne, c’è anche sua madre. Solo sua madre, per la prima volta. Mette la mano sul freno. […]“17

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Aus: Massimiliano Maestrello: „Volata finale“, lunedì 19 maggio 2008, Vorwort von Oliviero Ponte di Pino, Racconto di formazione, 4 fermate, in: ders.: Juke box letterario 2008. Siehe auch: http://www.subwayletteratura.org/index.php?option=com_content&task=view&id=25&Itemi d=36 vom 31.10.2008. 270

EINE

WECHSELSPANNUNGEN – TANZTENSIONENINTENSITÄTEN: GESCHICHTE DER SPANNUNGSUMBRÜCHE MELANIE SCHMIDT

Medienumbrüche werden zugleich immer auch als Spannungsmoment wahrgenommen. An ihnen vollziehen sich Biegemomente, an denen etwas um Kanten gebogen wird, bis sich die Materialität schließlich an der dünnsten Stelle zur vermeintlichen Leere ephemerisiert. Es sind also gerade diese Umbruchstellen, an denen sich Spannungen akkumulieren und bis zur Unsichtbarkeit intensivieren. Es sind solche Umbruchsmomente, die in performativen Kontexten mit ihrer „Grammatik der Diskontinuitäten“1 schließlich verstärkt die geistige und körperliche Flexibilität von Darstellern und Rezipienten herausfordern und dies angesichts des Mediums ,Tanz‘ in besonderem Maße. Bevor spezifische Eigenschaften des Tanzes diesbezüglich in den Blickpunkt gerückt werden, möchte ich einige begriffliche Überlegungen voranstellen: Greifen wir doch im Kontext der ,Spannung‘ – und damit eng verbunden, der kinesis – auf Vorstellungsmuster zurück, die aus dem 19. bzw. dem frühen 20. Jahrhundert stammen und die nach heutigen Diskussionsperspektiven der Modifikation bedürfen. Ausgehend von aktuellen Diskussionen der Bild-, Medien- und Theaterwissenschaften ist zu beobachten, dass das Thema ,Tensionen‘ disziplinenübergreifend zunehmend zu einem eigenen Programm avanciert. Dies liegt wohl mit daran, dass dieser Terminus gleich ein ganzes Begriffsfeld mit ,aufspannt‘, das Notionen wie At-tension, In-tensität (und im Rahmen der Nachhaltigkeitsdiskurse die ,Qualität‘2) in den

1

2

Gabriele Brandstetter: „Defigurative Choreographie. Von Duchamps zu William Forsythe“, in: Gerhard Neumann (Hg.), Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft, Stuttgart, Weinheim, S. 598623, hier S. 614. Rekurriert man auf Henri Bergsons Betrachtungen zum Begriffsfeld der Spannungen, Intensität und Qualität, dann wird deutlich, dass sie ineinan271

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Blickpunkt rückt, die für Kultur- wie Medienwissenschaften gleichermaßen von Bedeutung sind. Der Ausdruck ,Spannung‘ wird ferner in unterschiedlichsten Bedeutungen und Zusammenhängen verwendet: elektrische, kreative, politische, religiöse oder sexuelle Spannungen sind in aller Munde. Wie das Institute for Cultural Inquiry Berlin für sein zukünftiges Fellowship-Programm zum Thema ,Tensionen‘ definiert, bezeichnet „Spannung statische, aber instabile Zustände am Rande von produktiven oder destruktiven Prozessen. Gerade deswegen bannen Spannungszustände unsere Aufmerksamkeit und rufen uns auf den Plan.“3 Worin liegt also die Spezifizität des Spannungsbegriffs? Kehrt man zurück zu François Lyotards Schlagwort der Intensität, das zum Schlüsselbegriff des Postmodernitätsdiskurses der 1970er Jahre wurde, werden die Gemeinsamkeiten deutlicher: Bei Intensitäten handele es sich, so Lyotard, stets um „Verschiebungen an Ort und Stelle“4 – um Bewegungsvorgänge, die sich in einer Unschärferelation an ein und demselben Ort vollziehen. Unter den Spannungsbegriff lassen sich also dichotomische Zustände des ,Zugleichs‘ subsumieren, die zugleich das Moment von stasis und dynamis, von Immobilität und kinesis, enthalten und die zugleich eine Punkt- und eine Raumkomponente in sich bergen, in denen Bewegungen entgegen dem Kant’schen Konzept der Kraft5, gleichermaßen gerichtet und ungerichtet vorliegt. Es handelt sich also um Zustände, die in der ‚Ästhetik des Performativen‘ im Sinne Erika Fischer-Lichtes als charakteristisch für Ereignishaftigkeit und Präsenz definiert werden.6 Um die antagonistische Beschaffenheit des Begriffs der Spannung deutlicher zu illustrieren, lohnt es sich, einen Blick in naturwissenschaftliche Modelle aus der Wissenschaft der Spannungen par excellence, der Elektrotechnik, zu werfen. Man wird rasch erkennen, dass sich der nun schon jahrhundertealte Streit zwischen den Anhängern Henri Bergsons und

3 4 5 6

der umwandelbar sind. Vgl. Henri Bergson: Zeit und Freiheit, Hamburg 1999, S. 85. Vgl. Institute for Cultural Inquiry Berlin: Projekt „Tension/Spannung“, www.ici-berlin.org vom 02.02.2009. Jean- Francois Lyotard: Essays zu einer affirmativen Ästhetik, Berlin 1982, S. 38. Zu Kants Definition der Kraft als stets gerichteter Größe vgl.: Walter Reese-Schäfer: Lyotard zur Einführung, Hamburg 1988, S. 144. Ebd., S. 154. Vgl. Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt/Main 2004. 272

TANZTENSIONENINTENSITÄTEN

Jules E. Mareys zu deren gegensätzlichen Bewegungsbegriffen, das heißt über die Frage, ob sich Bewegung als Kontinuum oder fragmentarisch konstituiert, als hinfällig erweist. Zur Vergegenwärtigung seien kurz die Standpunkte Bergsons und Mareys skizziert: Mit Hilfe seiner chronofotografischen Arbeiten dokumentierte Marey die infinitesimal kleine Atomisierung der Lokomotionen und visualisierte hiermit die Arbitrarität von Raumformel und Körperformel. Abbildung 1: Jules Etiennes Marey: „Salto arrière“ (1881)

Bergson hingegen illustriert sein Konzept des Bewegungsvorgangs mit den Begriffen der lignes de forces und der durée als Kontinuum, das lediglich durch eine Folge von unterschiedlichen Intensitäten differenzialisierbar wird: „Kurz, es gilt in der Bewegung zwei Elemente zu unterscheiden, den durchlaufenen Raum und den Akt, durch den er durchlaufen wird, [...] Das erste dieser Elemente ist eine homogene Quantität; das zweite hat nur in unserem Bewusstsein Wirklichkeit; es ist, wie man will, eine Qualität oder eine Intensität.“7

Lenkt man nun den Blick auf den Spannungsbegriff der Elektrotechnik, wird deutlich, dass sich dieser gerade im ,Zwischenraum‘ zwischen diesen beiden Konzepten situiert und sich überhaupt als ,Raum‘-Begriff par excellence manifestiert. Er veranschaulicht damit ein Modell, das sich in vielerlei Hinsicht für visuelle Darstellungen wie mediale oder theatrale performances fruchtbar machen lässt: In der Elektrotechnik, angefangen mit der Leidener Flasche bis hin zum Kondensatorenmodell, wird die Genese einer Spannung als Auseinanderziehen zweier elektrischer Antipoden als Energiedifferenz und damit also als Herbeiführung eines Zwischenraums zwischen oppositionären Kategorien unter Kraftanwendung verstanden.8 7 8

H. Bergson: Zeit und Freiheit, S. 85. In der Elektrotechnik werden dazu zwei gegenpolig aufgeladene Kondensatorplatten auseinander gezogen. Je stärker die Stromstärke und je größer die Entfernung (die verrichtete Arbeit) zwischen den Platten ist, desto stärker ist die resultierende Spannung. Vgl. zu den frühen naturwissenschaftsgeschichtlichen Experimenten zur Spannung: Berend Wilhelm Feddersen: 273

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Abbildung 2 u. 3: Links: Leidener Flasche, Pieter von Musschenbroek, 1776. Rechts: Kondensatorplatten.

Tension artikuliert sich dort als diejenige Kraft, die sich durch die paradoxale Eigenschaft auszeichnet, dass sie erst der Kluft bedarf, um dann wieder als Kopula (als Spannungsbogen) zwischen den Antipoden ihre zusammenhaltende Wirkung zu demonstrieren. Anders als bei Marey bleiben diese Kluften jedoch nicht mit „Leere“ gefüllt, sondern sind von Kräften und Spannungen, von Mikrokinesis, durchzogen9 – ein Modell das durch die Spannungsbögen also die Nähe zu Bergsons Konzept10 suggeriert, sich von diesem aber insofern unterscheidet, als es an einer dialektischen Konstitution der Bewegung festhält.

Entladung der Leidener Flasche: intermittierende, kontinuierliche, oszillatorische Entladung und dabei geltende Gesetze, Leipzig: Engelmann 1908; A. Ortleb: Physikalische Experimente: Belehrung über Magnetismus, Elektricität, optische Erscheinungen. 9 Vgl. Georges Didi-Huberman: L’image survivante. Histoire de l’art et temps des fantômes selon Aby Warburg, Paris 2002, S. 185: „Ceux-ci ne sont jamais éliminés l’un par l’autre ou par une troisième entité supérieure qui les ‚harmoniserait‘, [...]: ils persistent dans leurs contrariétés mises en mouvement ou, mieux en battement.“ 10 Vgl. H. Bergson: „Matière et Mémoire“, in: ders.: Œuvres, hg. v. André Robinet, Paris 1970, S. 338; G. Deleuze: Henri Bergson zur Einführung, Hamburg 2001, S. 96f. 274

TANZTENSIONENINTENSITÄTEN

Die Begriffe des Raums – des Zwischenraums als drittem Raum, wie Claudia Breger ihn bezeichnet – und der Spannung als enjambement stehen hier in direkter Beziehung.11 Es formuliert sich also zwischen Marey und Bergson, im buchstäblichen „third space“, ein drittes Modell, das sich im Sinne des Spannungsbegriffs naturgemäß durch ein Paradoxon darstellt: Es ist gewissermaßen die Distanz, die die Kontinuität schafft, die Distanz, die Tensionen und damit kinesis schafft. Doch nun zum Tanz! Oder war nicht bereits die ganze Zeit die Rede vom ,Tanz‘? Sein Name ist hier tatsächlich Programm. Wie der japanische ButôTänzer Ushio Amagatsu immer wieder betont, geht der Begriff ,Tanz‘ auf die althochdeutsche Bedeutung von dansôn als „dehnen“ bzw. „auseinanderziehen“ zurück, wie ebenso der Sanskrit-Begriff tan, das griechische teinein oder das lateinische teneo als etymologische Wurzeln der danse oder dance auf die Signifikanz des Ziehens verweisen.12 Der Tanz als Medium der Körperspannung, der Spannung zwischen Geist und Körper, Ephemerität und Präsenz, souplesse und Schlagkraft – die Liste der Dichotomien ließe sich noch lange fortführen – präsentiert sich also nicht nur als Medium des ,Zwischens‘ sondern in der Formulierung Nietzsches zuvorderst als Medium der Dehnung und der ,gesteigerten Gebärde‘13 – als Medium des „mehr“, des „plus“ – das aufgrund seiner, im wörtlichen Sinne, ,At-traktivität‘ unsere Aufmerksamkeit und Wahrnehmung in extremisierter Weise auf den Plan ruft. Sein Faszinosum liegt immer wieder auch darin, in der unendlichen Neuproduktion von visuellen Mustern, die der Nachvollziehbarkeit und insbesondere einer kognitiven Sinnstiftung immer schon voraus sind, unser ,Verstehen wollen‘ sozusagen permanent hinter sich her zu ziehen. Das heißt, dass im Tanz mediale Kategorisierungen bis zur Transgression gedehnt, und daher die wissenschaftlichen Kategorien von Konstanz und Wiederholbarkeit selbst auf den Prüfstand gestellt werden.

11 Zu Bergsons Begriff der ,lignes de force‘ vgl. z.B. ders.: „Matière et mémoire“, S. 337; „L’évolution créatrice“, S. 708ff.; „L’énergie spirituelle“, S. 815ff.; „Le rire“, S. 404ff. Alle Seitenangaben beziehen sich auf H. Bergson: Œuvres, vgl. Anm. 10. 12 Ushio Amagatsu: Dialogue avec la gravité, Paris 2000, S. 13. 13 Friedrich Nietzsche: „Die dionysische Weltanschauung“, in: ders.: Kritische Gesamtausgabe, hg. v. Giorgio Colli/Mazzino Montinari, 3. Abt. (Werke), Bd. II (Nachgelassene Schriften 1870-1873), Berlin 1973, S. 4569, hier S. 67. 275

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Innerhalb der bestehenden tanztheoretischen Ansätze lassen sich bislang drei Gruppen unterscheiden:14 Zur semiotischen Betrachtungsweise des Tanzes, z.B. im Sinne Claudia Jeschkes, gehört insbesondere Vorstellung des Tanzes als Bewegungstext, in der es nicht um die definierte Zuordnung von Signifikant und Signifikat geht, sondern nach der sich Bedeutung allgemein nur in Bewegung bzw. als Produkt einer Prozesshaftigkeit konstituiert, in der also der Zuschauer durch Bildimpulse als ,networker‘, so Boenisch,15 in Interaktion mit individuellen Gedächtnisakten tritt, um Sinnstiftung zu produzieren.16 Demgegenüber entwirft Gabriele Brandstetter eine rhetorische Konzeption des Tanzes, in dem sie seine Verfasstheit als figura in den Mittelpunkt stellt. Darin vollzieht sich Tanz als prozessuale Gestaltbildung in „Toposformeln“, die auf Rezipientenseite in der Interaktion von Lektüreund Gedächtnisprozessen zu Figuren chiffriert werden. Gerald Siegmund entwirft hierzu eine Konzeption ,auf der Gegenseite‘ von Präsenz und Repräsentation, indem er nicht das denkende, sondern das begehrende affizierte Subjekt und damit gerade die Eigenschaft der Abwesenheit, der Flüchtigkeit, des Gedächtnisakts und des Todes, der im Tanz stets Partner bleibt, in den Blickpunkt rückt: Tanz als Medium, dass der Abwesenheit Raum gibt – in dem die Abwesenheit aber auch als Motor von Bewegung instrumentalisiert wird.17 Diesen drei Perspektivierungen lässt sich mit der Vorstellung des Tanzes als In-tensitäts-medium ein weiterer und zugleich übergeordneter Versuch der Konzeptionalisierung von Tanz hinzufügen. Verweist doch der Zustand der Spannung über die physiologische Körperspannung und die Steigerung der Gebärde hinaus auf ein meta,physisches‘ Konzept weniger des rückbindungslosen Bruchs als eines Zustands der Dehnung und des in ,Kommunikation Haltens‘ von Antipoden, sei dies im Kontext der Bühnenwissenschaften die Spannweite zwischen Gedächtnisakt und Präsenz, zwischen Rolle und individuellem Körper, zwischen Anwesenheit und Ephemerität, Lebendigkeit und Tod, zwischen Akteur und Rezipient: Es handelt sich um den Akt der kinesis an Ort und Stelle, derjenigen Bewegtheit, Vibration oder Mikrokinesis (wie man es auch bezeich14 Gerald Siegmund: Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes. Willliam Forsythe, Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Meg Stuart, Bielefeld 2006. 15 Claudia Jeschke: Tanz als BewegungsText, Tübingen 1999. 16 Peter M. Boenisch: KörPERformance 1.0. Theorie und Analyse von Körper und Bewegungsdarstellungen im zeitgenössischen Theater, München 2002. 17 Vgl. G. Siegmund: Abwesenheit, S. 46ff. 276

TANZTENSIONENINTENSITÄTEN

nen möchte), die noch wirkt, wenn die Verortung der Gebärde, ihre Visualisierung, bereits verschwunden ist. Da die ausführliche Erörterung einer Ästhetik der Spannung den hiesigen Rahmen sprengen würde, möchte ich im Folgenden an einer kurzen Stilgeschichte des Bühnentanzes jedoch aufweisen, dass sich bereits seine Historie wie eine Geschichte der Körpertensionen und -intensitäten, als Geschichte der Umspannungen und Relais liest: eine Geschichte der ,Spannungswechsel‘. Kehrt man zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert zurück, vollzog sich hier nicht nur eine Entwicklung vom körperbetonenden Tänzer der danse d’école hin zum vergeistigen Tänzer des freien Tanzes, der später in den Expressionismus mündete, sondern es vollzogen sich in ästhetischer und kinesiologischer Hinsicht Umbrüche im Spannungsgehalt der Bewegungen in einem ganz basalen Sinne, der Körper- und Muskelspannung. Verlangte das klassische Ballett noch nach einer bis in die äußersten Extreme gestreckten Haltung der Extremitäten, die einer streng cartesianisch-linearen Geometrie gehorchten, galt es im freien Tanz einer Isodora Duncan oder Mary Wigman Körperlinien der natürlichen Umgebung und der inneren Seelenlandschaft anzupassen, in der sich die Vegetation nicht nach orthogonalen Winkeln richtete. Abbildung 4: Mary Wigman (1886-1973)

Was nun zählte, war der elan der schwingenden und pendelnden Glieder, wie sie in der Gymnastik Jacques-Dalcrozes vorgeführt wurden. Ziel war es nicht mehr im akrobatischen Sprung sekundenlang im ballon der Höhe zu verweilen, sondern die fließende Bewegung, „Spannung und Gegen277

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spannung, [die] Dynamik aus dem Spiel mit der Körperschwere“18 zur Schau zu stellen, um die Durchlässigkeit von Körper und Umgebung (des Durchdringens von Körper und Äther) zu demonstrieren. Denn wie Saburo Teshigawara in den 1990er Jahren bemerkte, spüre man die Luft nicht, wenn der Körper gespannt sei.19 Was in den ersten beiden Dekaden des 20. Jahrhunderts einem Experimentieren mit den Ausdruckspotenzialen und Freiheitsgraden des Körpers glich, wurde in den 1930er Jahren systematisiert. Es verlagerte sich der Blickpunkt auf physiologische Spannungs- und Entspannungsmomente als gezielte Generatoren von Bewegung überhaupt und von Bewegungsmustern, die in der Entwicklung des Modern Dance eine Tanzästhetik sui generis erzeugten: In den Prinzipien Fall und Rebounce als Trainingsmethode und choreografisches Figurationsmittel bei Ruth Saint Dennis, der Gegenüberstellung von Contraction und Release in den Inszenierungen Martha Grahams und später weiteren Release-Formen bei Joan Skinners, Marsha Paludans oder Mary Fulkersons, die von Relaxionstechniken und asiatischen Vorstellungen des durchlässigen Körpers aus Taiqichuan oder Aikido beeinflusst wurden.20 Ihre Wirkung setzte sich bis über die 1960er Jahre mit Alvin Aileys Choreografien hinaus in den postmodernen Tanz fort. In Antwort auf Merce Cunninghams Postulat der Zweckfreiheit der Geste beginnt man in den 1960er Jahren im Umkreis des Judson Dance Theatre New York Intensitäten andere spannungsgenerierende Parameter als der Muskelspannung zu erforschen. In den Inszenierungen des später als Postmodern und Postpostmodern Dance bezeichneten Kreationen – Choreografien der Extremen – etwa Yvonne Rainers, Trisha Browns, Steve Paxtons, David Gordons oder später der kanadischen Kompanie La La La Human Steps geht es nun einerseits um choreografische Verfahren, in denen der Einsatz aleatorischer Verfahrenswiesen Spannung im Prozess des Choreografierens selbst Kluften und Tensionen erzeugen.

18 Gabriele Brandstetter: Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde, Frankfurt/Main 1995, S. 449f.; vgl. ebenso Christiane Berger: Körper denken in Bewegung, Bielefeld 2006, S. 74. 19 Saburo Teshigawara/Irmela Kästner: „Im Moment des Erwachens. Ein Gespräch mit Saburo Teshigawara“, in: tanzdrama 67, Köln 2002, S. 12-15, hier S. 14: „Es hat mit der Entspannung der Muskeln zu tun. Wenn diese angespannt sind, fühlt man die Luft nicht. Wenn man sich entspannt und weniger Energie von innen aufbaut, spürt man um so mehr von außen.“ 20 Thomas Kaltenbrunner: Contact Improvisation. Bewegen. Tanzen und sich Begegnen. Mit einer Einführung in New Dance, Aachen 1998, S. 31. 278

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Abbildungen 5 u. 6: Links: Kontaktimprovisation nach Steve Paxton. Rechts: La La La Human Steps: „Infante c’est destroy“, 1993.

Andererseits wird mit den materiellen Körpergrößen wie Kraft und Ausdauer und des Körpers als schiere Masse bis an die Grenzen der körperlichen Leistungsfähigkeit, bis zum Bersten durch ins Extreme gesteigerte Bewegungsgeschwindigkeiten und Fallszenarien, experimentiert, nach denen die Tänzer die Bühne mit spannungsentleerten, hier im Sinne von geschundenen Körpern verlassen. Als dem extremen Aktionismus diametral gegenüber gestelltes Ausdrucks-, Trainings- und choreografisches Verfahren der stasis, arbeiteten zeitgleich Choreografen wie Douglas Dunn, William Forsythe oder später auch Teshigawara oder Akram Khan mit gezielten Verfahren zur Entspannung der Muskeln.21 So präsentierte Douglas Dunn in seiner 1974 uraufgeführten Inszenierung Four for Nothing eine Choreografie bewegungsloser Tänzer, deren Beobachtung dabei lediglich auf die Mikrokinesis innerhalb des Körpers auf die Relaxion der Muskulatur gerichtet bleiben sollte22 – eine Inszenierung, die gleichwohl Hochspannung im Wahrnehmungsprozess der Rezipienten bedeutete. Diese Choreografie reiht sich in Versuche ein, Immobilitäten, d.h. vermeintliche Leerstellen der Bewegung als Tensionsmomente zu visualisieren, die Gabriele Brandstetter mit dem Begriff der ‚fantasmata‘23 um-

21 Vgl. hierzu C. Berger: Körper denken in Bewegung, S. 53, S. 69ff. 22 Vgl. hierzu auch: G. Brandstetter: „Still/Motion. Zur Postmoderne im Tanztheater“, in: dies.: Bild-Sprung. TanzTheaterBewegung im Wechsel der Medien, Berlin 2005, S. 67. 23 Vgl. G. Brandstetter: „Choreographie und Memoria. Konzepte des Gedächtnisses von Bewegung in der Renaissance und im 20. Jahrhundert“, in: Claudia Öhlschläger/Birgit Wiens (Hg.), Körper-Gedächtnis-Schrift. Der 279

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schrieb: „Der Übergang von der Bewegung zum Innehalten und umgekehrt, er steht für die Bewegung als Phantom ihrer selbst: stets im Begriff des Übergangs, immer im Status des Innehaltens, ohne doch in stasis gehalten zu sein [...]. Und so ist Bewegungskomposition in der Postmoderne denkbar in der Spannung zwischen ,Still‘ und ,Motion‘.“24 Es präsentiert sich hier ein Körper als durchlässiger Korpus, der einer angespannten Physis als Kräftekörper und formierter, räumlich umgrenztem Korpus gegenübergestellt wird. Während in den Choreografien der 1960er bis 1980er Jahre primär die Extremen auf der Skala der Bewegungsintensitäten ausgeforscht wurden, stehen um die Wende zum 21. Jahrhundert Choreografien im Blickpunkt, die ihren Fokus gerade auf die Zwischenzone des Übergangs legen. Als Beispiel sei hier auf Akram Khans und Sidi Larbi Cherkaouis „Zero Degrees“ aus dem Jahr 2005 verwiesen, in dem der Topos der Parallelwelten und der Passage, von einer Kultur in die andere, vom Leben in den Tod, von einem Körper in den anderen, im Mittelpunkt steht. Abbildung 5: „Zero Degrees“ (2005) mit Akram Khan und Sidi Larbi Cherkaoui

Darin sitzen zu Beginn die beiden Tänzer an der Proszeniumskante nebeneinander im Schneidersitz. Beide beginnen, identische Monologe vorzutragen, die exakt von den gleichen Gebärden und Sprechpausen, dem gleichen nachdenklichen Kratzen am Kopf, begleitet werden. Trotz der spiegelbildlichen Anlage sitzen sie nebeneinander, nicht gegenüber. Es präsentieren sich also gleichartige Körper, die dennoch entzweit sind. Körper als Medium kultureller Erinnerung, Berlin 1997, S. 196-218, S. 201. 24 G. Brandstetter: „Still/Motion“, S. 68. 280

TANZTENSIONENINTENSITÄTEN

Während in der Montage als charakteristischem Verfahren der historischen Avantgarden die Pluralität der Welten zum Ausdruck gebracht werden sollte, wird hier eine Identität inszeniert, die erst durch ihre Verschiebung „an Ort und Stelle“ zu Fragmenten spazial auseinandergespannt werden und auf Tensionen innerhalb der Einheit verweisen: auf die „In-tensität“ des Moments. Ähnlich wie in Zero Degrees wird in Khans und Silvie Guillems neuester Choreografie Sacred Monsters – Monstres Sacrées aus dem Jahr 2006 die innere Spannung bis zur Zerrissenheit der großen Diven der Belle Époque vermittels Gebärden ständigen Verschiebens demonstriert – eine aktuelle thematische Tendenz im Bühnentanz um die Wende zum 21. Jahrhundert: Es geht kaum mehr um die Suche nach Grenzwertigkeiten in der physischen oder wahrnehmungsakrobatischen Leistungsfähigkeit, sondern um die Korporalisierung der mit Tensionen angereicherten Prozesse im Zwischenraum.

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PSYCHE, EROS UND AUTOKOLONNEN BÜGELN DEN ASPHALT – ZUM BEWEGUNGSKONZEPT IN S A V I N I O S R O M AN A N G E L I C A O L A N O T T E D I M A G G I O (1927) SABINE SCHRADER Psyche, Eros und Autokolonnen bügeln den Asphalt – das wäre im weitesten Sinne ein kurze Zusammenfassung des Romans Angelica o la notte di maggio, den Alberto Savinio Anfang der 1920er Jahre geschrieben, aber erst 1927 veröffentlicht hat.1 Alberto Savinio war lange Zeit eine Randfigur der Moderne, die den Italienern fremd geblieben ist. Es gibt vielleicht kaum einen anderen italienischen Schriftsteller im Novecento, der sich so quer zu den gängigen Kanones und Klassifizierungen verhalten hat und infolgedessen lange zu den „scrittori che finiscono cacciati in ‚qualche nota a piè di pagina‘ nelle storie letterarie“2 zählte. Zwar zählt Giulio Ferroni im Jahr 2002 Alberto Savinio zu den „irrinunciabili“ der Narrativik des Novecento, allerdings versieht er seine Romane mit dem Hinweis, dass es sich nicht um „veri romanzi“ handele.3 In den letzten drei Jahrzehnten hat allerdings in Italien und seit wenigen Jahren auch in Deutschland eine rege Forschungstätigkeit zu dem Werk Alberto Savinios eingesetzt,4 doch noch immer fehlen weiterführende Studien, der

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Vgl. zur Datierung: Peter Gahl: Die Fahrt des Argonauten: das Werk Alberto Savinios von der „scrittura metafisica“ zum „surrealismo archeologico“, München 2003, S. 11. Leonardo Sciascia: „Introduzione“, in: Alberto Savinio: Opere. Scritti dispersi. Tra guerra e dopoguerra (1943-1952), Mailand 1989, S. 7-11, hier S. 10. Giulio Ferroni: „Sul canone del romanzo del Novecento“, in: Amedeo Quodam (Hg.), Il canone e la biblioteca. Bd. 1, Rom 2002, S. 117-132, hier S. 130; vgl. Guidi Oretta: Irregolari novecenteschi: Bontempelli, Savinio, Landolfi, Penna, Curto, Ravenna 2006. Andrea Grewe: Melancholie der Moderne. Studien zur Poetik Alberto Savinios, Frankfurt/Main 2001; P. Gahl: Die Fahrt des Argonauten; A. Grewe (Hg.), Savinio europäisch, Berlin 2005; Martin Weidlich: De revolutionibus ordinum caelestium terrestriumque. Alberto Savinio zwischen Koper283

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Roman Angelica o la notte di maggio beispielsweise ist bis heute in der Forschung weitgehend unbeachtet geblieben.5 Angelica o la notte di maggio ist nicht nur ein wenig kohärenter, daher schwer zugänglicher, sondern auch ein weitgehend widersprüchlicher Text. Savinio reaktualisiert in seinem Roman den Mythos von Eros und Psyche.6 Im Mittelpunkt steht ein Körper, der sich der Bewegung verweigert, nämlich der Körper der zentralen Figur des Romans, Angelica. Sie fällt recht früh in einen fortwährenden Schlaf und damit in eine weitgehend körperliche Bewegungslosigkeit; ihr Schlaf zieht sich wie ein roter Faden durch den Roman. Gleichzeitig handelt es sich bei Angelica o la notte di maggio um einen höchst beweglich anmutenden, fragmentarischen Textkörper. In den elf Kapiteln, die wiederum in kurze Unterkapitel gegliedert sind, werden zahlreiche, nicht immer logisch erscheinende Fährten gelegt, der Leser bleibt, wie Silvana Cirillo zu recht notiert, „disorientato“7 zurück. Savinio montiert Beschreibungen von materieller und absurder/visionärer ‚Realität‘ aneinander, entsprechend durchziehen motivierte und unmotivierte Orts- und Zeitenwechsel den Roman. Mit anderen Worten: Im Text wird ein Bewegungskonzept, das sich in logisch nachvollziehbaren Kategorien wie Raum und Zeit denkt, gesprengt. Bewegung wird in Savinios Roman vielmehr im Spannungsfeld von Immaterialität und Materialität gedacht. Damit geraten zeitgenössische Bewegungskonzepte in die Diskussion, die – so lautet meine These – im Text wiederum durch intermediale Bezüge auf den Film realisiert werden.8 Das geschieht – das sei hier erwähnt, ohne

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nikus und Ptolemäus, Wilhelmsfeld 2006. In Italien begann die SavinioRezeption in den ausgehenden 1970er Jahren und hatte ihren Höhepunkt in den 1990er Jahren, vgl. zur Rezeption A. Grewe: Melancholie der Moderne, S. 32-53 und Stefano Zampieri: „Il punto su Savinio“, in: Bollettino ’900 (1-2), 2002. http://www3.unibo.it/boll900/numeri/2002-i/Zampieri1.html vom 07.02.2009. Knappe Überlegungen zu Angelica o la notte di maggio finden sich in: Walter Pedullà: Alberto Savinio scrittore ipocrita e privo di scopo, Cosenza 1979; Luigi Fontanella: Il surrealismo italiano, Mailand 1983, S. 125ff.; Silvana Cirillo: Alberto Savinio: humour, sensi e nonsense, itinerario guidato nel mondo letterario di Savinio e delle avanguardie, Rom 1994, S. 301ff. Die verschriftlichte Fassung von Amor und Psyche stammt von Apuleius (2. Jh. n.C.), vgl. Lucius Apuleius Madaurensis: Metamorphosen oder Der goldene Esel, Berlin 1978, 4,28-6,24. S. Cirillo: Alberto Savinio, S. 304. Intermediale Bezüge können verstanden werden als „Mediengrenzen überschreitende Phänomene, die mindestens zwei konventionell als distinkt 284

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dass an dieser Stelle weiter darauf eingegangen werden kann – wie immer bei Savinio auf eine höchst ironische und absurde Art und Weise, durch die er eine relativierende Distanz zum Erzählten erzeugt. Im Folgenden soll nun der Roman vorgestellt, Savinios Bewegungskonzept mit Hilfe seiner theoretischen Schriften zur Kunst skizziert und am Beispiel des Romans analysiert werden.

E r o s u n d P sy c h e i n d e r G r o ß s t a d t Der Roman rankt um die Beziehung des Barons Rothspeer und Angelica Mitzopolus. Rothspeer kann als Karikatur des jüdischen Finanzbürgertums bezeichnet werden. Seine jüdische Herkunft wird durch die Namen seiner Eltern, Aron Scialòm und Allegra Birnenbaum, assoziiert; ein antisemitischer Einschlag ist dabei offensichtlich. Er verliebt sich während einer Theateraufführung von Eros und Psyche in die Hauptdarstellerin namens Angelica Mitzopulos, die von fast göttlicher Schönheit ist: „Arno“ esclamò – „vero che quella fanciulla è bellissima?“ // „Ja, Herr Baron.“ // „Perfetta divina?“ // „Ja, Herr Baron.“ // „Vero che dal tempo degl’Iddii replica più fedele della divina Psiche non era comparsa tra i mortali?“ […] // Il fischio di una locomotiva fende la notte.“ (19)9

Die um den Lebensunterhalt ringende Familie Costa-Mitzopulos willigt in die Ehe ein. Angelica fällt kurz nach der Trauung, noch auf den Kirchentreppen, in einen fortwährenden Schlaf mit offenen Augen. Rothspeer entdeckt später, in einer Nacht im Mai, neben Angelica Eros, „un angelo malincolico e bello, curvo e le ali ripiegate“ (25); er verletzt bzw. tötet ihn (im Roman wird das offen gelassen), Eros verschwindet, Angelica scheint umher zu irren, um ihn zu suchen. Das Ende erfährt man aus der Feder des Briefes eines bis dato nicht eingeführten Protagonisten namens Lorenzo Montano, dem die Flucht in die USA gelungen ist; er berichtet von einer Welle an Selbstmorden (105) und von Mordanschlägen (106). Erst wenn Psyche ihren Liebsten gefunden habe und somit die Liebe lebbar sei, werde die Welt wieder zu Ruhe kommen (108). Diese so schöne wie profane Botschaft wird in dem abschließenden Dialog von Theaterleuten am Schluss des Romans verkündet.

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wahrgenommene Medien involvieren“, Irina O. Rajewesky: Intermedialität, Tübingen [u.a.], 2002, S. 13. Die Seitengaben beziehen sich auf Angelica o la notte di maggio (EV 1927), Mailand 1979. 285

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Das obige Zitat markiert sehr deutlich den Mythos und am Ende des Romans kommt es zu einer expliziten Parallelisierung von Angelica und Psyche: „Berger: ‚Mais quoi! c’était elle, Psyché?‘ Io: Questo non lascia dubbio“ (108). Doch der Mythos wird stark verfremdet. Die für ihn konstitutive Trennung von Geist und Körper, die durch die Protagonisten Psyche und Eros symbolisiert ist, wird aufgehoben. Angelica, die eben nicht nur auf der Theaterbühne die Rolle der Psyche zufällt, wird als außerordentlich sinnlich beschrieben („palpitante di voluttà“, 21). So gerät allein schon im Kern des reaktualisierten Mythos die Überwindung des Dualismus von Immaterialität und Materialität in den Fokus, die auch für Bewegungskonzepte um die Jahrhundertwende, wie sie beispielsweise Bergson vorgelegt hat, maßgeblich sind. Die weiteren Verfremdungen sind eher spielerischer Natur und weniger explizit im Hinblick auf die Frage nach Bewegung. Eros schützt Angelica à la Psyche nicht vor der Hochzeit mit dem so reichen wie langweiligen, fast monströsen Rothspeer: „[…] lo spettatore grasso“ (18) //„La parte viva, come vedete, fa pensare tanto a una materia calcarea, quanto a una sostanza gommosa. Il tempo non esercitava autorità su questa faccia ,finanziaria‘. Onde lievissime, impercettibili contrazioni increspavano la cute, svegliavano di quando in quando gli occhietti nudi di ciglia, determinavano lo schiudersi sempre assai rado delle labbra, onde la parola spirava meno vicina alla voce che al silenzio, decrepita di lontananza, con l’acquistato suono dell’eternità […].“ (49)

Angelica fällt in einen schlafähnlichen Zustand, der allerdings anders als im Mythos motiviert ist: Der Grund liegt im Roman nicht in ihrem erneuten Scheitern an einer Treueprüfung, sondern vielmehr an ihrem Versuch, sich Rothspeer zu entziehen. Obwohl sie ‚körperlich‘ anwesend ist, steht sie – sehr zum Leidwesen von Rothspeer – nicht zur Verfügung. Angelicas Schlaf mit offenen Augen stellt einen entrückten, geistigen Zustand dar. Allein mit der Inszenierung der schlafenden Angelica vermag Savinio zwei Diskurstraditionen aufzurufen. In diachroner Perspektive natürlich Ariosts Protagonistin Angelica, die im Orlando furioso ihren Liebhabern flieht. Savinio behält das Thema der Flucht bei, doch vollzieht sich diese in Angelica o la notte di maggio durch eine geistige Bewegung in eine andere Bewusstseinssphäre und führt eine räumliche Flucht daher ad absurdum. Schon hier offenbart sich, dass Savinio den Geist bzw. das Bewusstsein prioritär – vor die Materie – setzt. In synchroner Perspektive erinnert der Schlaf zunächst an die zeitgleiche „épi-

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démie de sommeil“ der französischen Surrealisten,10 die einen Raum für die sich dem Logos entzogene Reflexion öffnet. Von Angelica erfahren wir allerdings nichts, der Roman verweigert weitgehend jede Form der Introspektive bzw. Psychologisierung. Auch die anderen Protagonisten in Angelica o la notte di maggio sind von einer gewissen Schwerelosigkeit, zwar werden die jeweiligen familiären Hintergründe genannt, doch werden sie weder ausgeleuchtet, noch spielen sie eine signifikante Rolle. So reiht sich der vorliegende Roman in das narrative Schaffenswerk Savinios ein, in denen der Autor „rende mirabilmente il senso di spersonalizzazione del personaggio, il suo stato di indifferenza e la correlativa opacità delle cose.“11 Angelica hat daher weder eine individuelle Geschichte, noch eine ausgelotetes Innenleben, noch ein Unbewusstes. Der tranceähnliche Schlaf der Angelica bleibt letztlich ein blinder Fleck und dient vor allem der Verweigerung ihrer Eingliederung in ein funktionales Leben. Damit greift Savinio zwar ein im französischen Surrealismus äußerst beliebtes Motiv auf, doch weist er ihm eine neue Bedeutung zu, indem der Schlaf kein möglicher Ort des automatischen Schreibens,12 sondern einer nicht beschreibbaren Entrückung ist.13 Diese Differenz ist sehr aussagekräftig für Savinios Haltung zum Surrealismus, zu dem er immer wieder gezählt wird; Savinio selbst hat sich immer wieder vom Surrealismus distanziert, indem er hervorhob, dass Kunst nicht aus dem Unbewussten stammen könnte, sondern ausschließlich eine intellektuelle, geistige Haltung sei.14

10 Louis Aragon: „Une vague de rêves“ (1924), in: ders.: L’œuvre poétique, Bd. II., Paris 1974, S. 227-551, hier S. 238. 11 Giudetta Isotti Rossowsky: „Alberto Savinio o l’umorismo tra essere e fare“, in: Anna Dolfi (Hg.), Nevrosi e follia nella letteratura moderna, Rom 1993, S. 391-413, hier S. 393. 12 Vgl. L. Aragon: „Une vague de rêves“, S. 238f. „Les hommes dans leurs sommeil travaillent et collaborent aux évènements de l’univers“, André Breton: Les vases communicants, Paris 1985, S. 156. Körper und Geist werden in dort zu den Medien des automatischen Schaffens erklärt. 13 In diesem Sinne argumentiert auch Giovanna Bavarese. Im Vergleich zu Texten von Borges notiert sie, dass bei Savinio die Suche nach sich selbst fehle, seine Texte belegen eher „la mancanza di sè“. G. Savarese: Alberto Savinio: „Vedere e non guardare“, in: Silarus: Rassegna bimestrale di Cultura 37 (191-192), 1997, S. 63-70, hier S. 69. 14 Eine surrealistische Bewegung hat in Italien nicht existiert. Zum französischen Surrealismus und Savinio, vgl. P. Gahl: Die Fahrt des Argonauten, S. 230ff. und G. Isotti Rossowsky: „Savinio, Frankreich und der Surrealismus“, in: A. Grewe: Savinio europäisch, S. 69-82. Gerade durch diese kritische Distanzierung geht Angelica o la notte di maggio laut Fontanella 287

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In dieser geistigen Haltung ist qua Erinnerung ein Bogenschlag von der Gegenwart zur Vergangenheit möglich und so setzt Savinio die memoria gegen den Traum, der er als ‚primitiv‘ und geschichtslos charakterisiert.15 Auch die Liebe wäre für Savinio ein Zustand der Entrückung und so stößt der Baron Rothspeer; der „parvenu delle passioni“ (28) in neue, ihm unbekannte Sphären vor. Zum einen ist der Baron ständig unterwegs. Auf der Ebene der histoire wird zunächst mit Rothspeers Reisen, geografisch bedingte und daher zunächst lokalisierbare Bewegung in den Roman geholt: „La Scandinavia sotto la neve. In Germania lo sgelo, e grandi acque precipitavano dai monti. Sul corpo dorato di Roma, il cielo non faceva una grinza.“ [Rothspeer]: „C’è di nuovo a Berlino?“ (94). Zum anderen befindet er sich abwechselnd entweder mit seinem treuen Sekretär Arno Brephus oder mit seinen längst verstorbenen Eltern Aron Scialòm und Allegra Birnenbaum im Gespräch. Er ist mal Kind, mal Erwachsener; mit anderen Worten seine Vergangenheit wird unablässig in die Jetztzeit geholt. Darüber hinaus wird eine Multiperspektivität im Text erzeugt.16 Dass der Baron Rothspeer heimlich in Angelicas Zimmer schleicht und dabei Eros entdeckt, scheint eine weitere ironische Wendung des Mythos zu sein. Nicht die Eifersucht Aphrodites und später die der Schwestern bestimmen das Schicksal Angelicas, sondern die Eifersucht und der Reichtum des Barons, „Direktor des Deutschen Diskontokonzerns“ und reichster Mann Deutschlands (16). Die um den Lebensunterhalt ringende Familie Angelicas willigt aus finanziellen Gründen in die Heirat ein; die Liebe, AMOR, wiederum wird zum Passwort für Rothspeers Tresor. Der Baron lässt dann das Theater namens Orfeo schließen, in dem die Schauspielerin Angelica arbeitet, um sie – wie sich ja herausstellen wird vergeblich – ganz für sich zu haben. Und so ist es in einem gewissen Maß der Ausverkauf der Liebe und der Kunst im bürgerlichen, materiell gedachten Zeitalter, den Rothspeer hier verschuldet. Der Name des Theaters unterstreicht den Ausverkauf, aber auch den Überlebenswillen der Kunst. In seiner Nuova enciclopedia wird Savinio schreiben: „Or-

über die Orthodoxie der surrealistischen Schreibweise hinaus; vgl. L. Fontanella: Il surrealismo italiano, S. 125. 15 A. Savinio: „Primi saggi di filosofia delle arti (III)“, in: Valori plastici III (5), 1921, S. 103-105, S. 104f. Da der Traum ohne Vergangenheit und Zukunft sei, wäre er auch für die Kunst nicht interessant. 16 Vgl. zu ähnlichen Verfahren in Savinios narrativem Werk: A. Grewe: Melancholie der Moderne, S. 151. 288

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feo è colui che porta agli uomini luce e verità. Orfeo non è morto. Gli Orfei sono tanti e si rinnovano.“17 Die recht amüsante histoire bietet meines Erachtens vor allem Anlass, ein Spannungsfeld zwischen dem durch die Entrückung Angelicas erzeugten Stillstand und der Bewegung in Raum und Zeit von Rothspeer zu schaffen. Insbesondere letztere impliziert die Dialektik von Vergangenheit und Gegenwart. Sowohl die in die Gegenwart gesetzten Gespräche Rothspeers mit seinen Eltern als auch die Aktualisierung des Mythos in die moderne Gesellschaft stellen eine offensichtliche Verbindung vergangener und gegenwärtiger Zeit dar, die eine individuelle und eine kollektive Dimension aufweisen. Dieses ständige Hin- und Hergleiten wird durch das Figurenensemble in Angelica o la notte di maggio unterstrichen. Abgesehen davon, dass Rothspeer sich als Othello fühlt (100), wird der Roman durch zahlreiche, zur Handlung wenig beitragende Protagonisten bevölkert, die zum einen zeitgenössische Eigennamen, zum anderen mythische Namen tragen, wie der Kellner Saturnio (59) oder Sohn und Mutter Anteo und Terra (65), Mercurio (59) Apollo (67) und l’innamorato Achille (89). Genannt sind darüber hinaus auch Lord Byron (29) und Apollinaire (46). Mit diesen Namen markiert Savinio keine textrelevanten intra- bzw. intermedialen Bezüge, er zeigt vielmehr die Lebendigkeit der Geschichte in der Gegenwart. Die Einbindung mythischer Figuren in eine recht alltägliche, bürgerliche Umgebung ist ein typisches Verfahren für Savinio, mit dem er darüber hinaus eine ironische Distanz sowohl zum Mythos als auch zur Gegenwart schafft. Darüber hinaus verliert der Mythos von Eros und Psyche in Angelica o la notte di maggio seinen Kern und taucht vielmehr in Fragmenten auf. In diesem Zusammenhang sei ein Blick auf Savinios Mythoskonzeption geworfen, die auch in seinen anderen literarischen Texten eine bedeutsame Rolle spielt.18 Mythen sind für Savinio die konzentrierte Form der kollektiven Erinnerung, es sind daher „Erinnerungsfiguren“,19 die 17 A. Savinio: Nuova Enciclopedia (1977), Mailand 1978, S. 284. Die Stilisierung des Orpheus als Figur der Transgression findet sich auch in den zeitgleichen französischen surrealistischen Texten. 18 Vgl. zum Mythos bei Savinio: Silvia Pegorato: „Il mito tra parodia e allegoria“, in: Fausto Curi (Hg.), Studi sulla modernità. Bologna 1989, S. 197235; mit Beispielen aus den Theaterstücken vgl.: Patrizia Di Blasi: „Il mito impossibile“, in: Giorgio Barberi Squarotti (Hg.), La letteratura in scena. Il teatro del Novecento, Turin 1985, S. 221-235; Antonella Usai: Il mito nell’opera letteraria e pittorica di Alberto Savinio, Rom 2005. 19 Jan Assmann: „Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität“, in: ders./Tonio Hölscher (Hg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt/Main 1988, S. 9-19, hier S. 15. 289

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Ideen veranschaulichen, damit sie dem Menschen im Gedächtnis bleiben. Auf diesem Wege werden sie laut Savinio zum Bestandteil der gegenwärtigen Kultur: „La memoria à la nostra cultura. E l’ordinata raccolta dei nostri pensieri. Non solamente dei nostri propri pensieri: è anche l’ordinata raccolta dei pensieri degli altri uomini, di tutti gli uomini che ci hanno preceduto.“20 Für Alberto Savinio ist vor allem die kollektive Erinnerung von Interesse – im Gegensatz zum beginnenden Erfolg der Psychoanalyse setzt er diese gegen die Verabsolutierung individueller Erinnerung. Der Kunst kommt die Aufgabe zu, die Mythen zu revitalisieren. Allerdings kann der Mythos in einer modernen „mondo sdivinizzato“ nicht mehr zur Erklärbarkeit und Totalität der Welt herangezogen werden, er verliert seine Funktion als archetypische Ursprungsgeschichte, das Zusammenspiel seiner Fragmente wird vielmehr zum Emblem einer dezentralisierten und destabilisierten Welt. Savinios Entwurf der modernen Gesellschaft ist dabei ambivalent. Zum einen wird die von Rothspeer verkörperte kapitalistische, bürgerliche Moderne ironisch erzählt, die bürgerliche Gesellschaft gegen die Kunst inszeniert. Gleichzeitig aber werden die Menschenmassen, die schon erwähnten, den glänzenden Asphalt bügelnden Autokolonnen (16),21 die Hotels und Cafés, die Hand in Hand im Lichtermeer die Straße säumen (17) mit großer Faszination beschrieben. Und so wird deutlich, dass sich die Moderne für Savinio weniger an den gesellschaftlichen und technischen Neuerungen misst, stattdessen vielmehr eine autonome, selbstreflexive Geisteshaltung in einer säkularisierten Welt darstellt: „Moderno è ogni spirito non misticamente ispirato dai miti come Eschilo o Dante, ma cosciente dalla propria autonomia mentale e che liberamente e spassionatamente contempla intorno a sé il mondo sdivinizzato.“ 22 Unter Modernität versteht Savinio demnach eine geistige Beweglichkeit, die nicht nur fortschreibt, sondern durch beständige Reflexion Neues zu schaffen vermag. In diesem Zusammenhang ist der Mythos für Savinio auch von besonderem Interesse. Schließlich vermag er das Spannungsverhältnis von „hochgradiger Beständigkeit“ im Kern (durch die Erinne20 A. Savinio: „Primi saggi di filosofia delle arti (III)“, in: Valori plastici III (5), 1921, S. 103-105, hier S. 103. 21 In diesem Hin- und Hergleiten können starke Ähnlichkeiten mit den Surrealisten ausgemacht werden. So schreibt Aragon „O Texaco motor oil, Eco, Shell, grandes inscriptions du potentiel humain! bientôt nous nous signerons devant vos fontaines“, in: L. Aragon: Le paysan de Paris, Paris 1994, S. 145. 22 A. Savinio: [Vorwort zu] „Luciano di Samosata“ (1944), in: ders.: Opere. Scritti dispersi. Tra guerra e dopoguerra (1943-1952), Mailand 1989, S. 3458, hier S. 36. 290

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rung) und „ausgeprägter marginaler Variationsfähigkeit“ zum Ausdruck zu bringen.23

L e b e n i st B e w e g u n g Diese Überlegungen laden dazu ein, einen Blick auf das Zusammenspiel von Stillstand und Bewegung in den kunsttheoretischen Schriften von Alberto Savinio zu werfen, die er in der Kunstzeitschrift Valori plastici in den Jahren 1918-1922 veröffentlicht hat und die als Folie für sein eigenes Schaffen gelesen werden können. Die Moderne als säkularisierte Zeit begreifend, kann es laut Savinio nicht mehr darum gehen, das Leben als Bewegung hin zu Gott zu begreifen, sondern als Dynamik, als Wandel an sich. Belebt wird daher Heraklits Konzeption des Lebens als horizontale Bewegung, denn „alles fließt“. Savinio spricht davon, dass das Leben Bewegung sei („la vita è movimento“),24 es sei ein „continuo divenire“, Ursprung für existenzielle Angst und Stimulus des Geistes:25 „Questo angoscioso stato di continuo divenire che implica un’ansia mai calmata, un’inquietudine mai spenta ed una dolorosità continua […]; nel suo profondo, è un misterioso stimolo, una perenne fonte da cui scorre quell’eau de jouvence che stuzzica perpetuamente la nostra sagace movibilità […] scioglierci dalle basse preoccupazioni della materia“26

Savinio beschreibt in einem anderen Essay das Paradox der Kunst, Bewegung in einer Form festzuhalten zu wollen: „[…] riprodurre gli aspetti della vita nell’attività del loro moto, annullerebbe di per se stesso ogni possibilità di rappresentazione, poiché il moto, per confondere le varie forme in una forma unica, le distrugge particolarmente.“27 Das Grundproblem des Menschen besteht darin, zwischen Bewegungsimpuls und Beharrungsvermögen zu schwanken.28 Diese Bewegung zwi-

23 Hans Blumenberg: Die Arbeit am Mythos, Frankfurt/Main 2001, S. 40. 24 A. Savinio: „Primi saggi di filosofia delle arti (I)“, in: Valori plastici III (2), 1921, S. 25-29, S. 26. 25 A. Savinio: „Anadioménon“, in: Valori plastici I (4-5) 1919, S. 7. 26 Ders.: „Fini dell’Arte“, in: Valori plastici I (6-10), 1919, S. 17-21, S. 18f. 27 A. Savinio: „Primi saggi di filosofia delle arti (I)“, in: Valori plastici III (2), 1921, S. 25-29, S. 26. 28 Dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Frage nach der säkularisierten Zeit eine dringliche war, steht außer Frage. In diesem Zusammenhang sei auch an Pirandellos Unterscheidung zwischen „vita“ und „forma“ in sei291

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schen den Gegensätzen bezeichnet Savinio als „drammaticità“. In einer entheiligten Welt wird die drammaticità zum Hauptmerkmal eines Seins, das weder fixiert werden kann noch einer Vorherbestimmung folgt. Anschließend an diesen Gedanken unterscheidet er dann, analog zu Henri Bergson, zwei Formen der Bewegung. Bergson spricht von einer relativen, messbaren Bewegung (im Raum gestückelte Zeit, „le temps“) und einer absoluten, subjektiven Wahrnehmung von Bewegung, die über die ständige Anwesenheit der Vergangenheit in der Gegenwart, also in der Reaktualisierung der Erinnerung möglich ist, die Bergson als durée bezeichnet und die er als wirkliche Zeit bestimmt – als eine Zeit, die nur im Bewusstsein dank der Intuition erfahrbar ist.29 Ziel von Bergson ist es bekanntlich, die Gegenstände trotz der ihnen widerfahrenden Veränderungen (bzw. Bewegungen) im ‚Andauern‘ zu begreifen, so gerät nicht die Vergänglichkeit, sondern die Beständigkeit des Seins in den Blick. Savinio Konzept des lirismo kann analog zu Bergsons Auffassung der durée beschrieben werden.30 Ziel der Kunst ist es, die drammaticità zu überwinden. Namentlich grenzt Savinio sich sowohl gegen die naturalistische als auch futuristische Kunst ab, die seiner Meinung nach nur die relative Bewegung einzufangen versucht und damit die Bewegung immer schon verrät.31 Savinio sieht vielmehr in der immobilità den Schlüssel, einen Gegenstand in seiner idealen Totalität darzustellen. Die Unbeweglichkeit entzieht sich der äußeren Bewegung und der Gegenstand kann

nem frühen Essay „L’umorismo“ (1908) erinnert. „Vita“ bezeichnet hier (analog zum „continuo divenire“ Savinios) das ununterbrochene Fließen, während sich „forma“ auf die Strukturen, in die das Leben vom Menschen gefasst wird, bezieht. Schließlich versucht der Mensch, das Leben in seiner sich ständig verändernden Form in eine feste Form zu fassen, mit starren Begriffen zu definieren, zu fixieren und stabilisieren. Das, was Savinio als „drammaticità“ bezeichnet, nennt Pirandello im weitesten Sinne als „sentimento di contrario“. Diese recht ähnliche Konzeption des Lebens hat jedoch unterschiedliche Implikationen für die Ästhetik von Pirandello und Savinio. Für Pirandello findet der „vita“/„forma“-Konflikt seinen ästhetischen Ausdruck im „umorismo“. Luigi Pirandello: L’umorismo (1908), Mailand 1995. 29 Vgl. Henri Bergson: Matière et mémoire. Essai sur la relation du corps à l’esprit (1896), Paris 1946, S. 72. 30 A. Savinio: „Primi saggi di filosofia delle arti (I)“, in: Valori plastici III (2), 1921, S. 25-29, S. 27. Savinio, als ausgesprochener Kenner der französischen Kultur, wird die Texte von Bergson rezipiert haben, ohne dies in seinen Ausführungen kenntlich zu machen. 31 Ders.: „Primi saggi di filosofia delle arti (I)“, in: Valori plastici III (2), 1921, S. 25-29, S. 26. 292

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daher in seiner Zeitenthobenheit dargestellt werden.32 Am sinnfälligsten verwirklicht werden kann diese Zeitenthobenheit in der Plastik, da den anderen Künsten wie der Literatur eine lineare, rhythmische Bewegung zugrunde liegt. In diesem Sinne ist Savinios Protagonistin Angelica eine mise en abîme seines Konzeptes. Trotz dieser Gemeinsamkeiten sei noch kurz auf eine entscheidende Differenz zwischen der Lebensphilosophie Bergsons und der Ästhetik von Savinio eingegangen. Grundlegend für Savinios lirismo ist die intellektuelle, geistige Tätigkeit und nicht die Intuition, denn, so Savinio: „la nostra intuizione del mondo non è solamente sensoria ma è soprattutto intellettiva, […] cerebrale.“ Nicht der „spirito creatore“, sondern der „spirito compositore“ vermag gegen die relative, an die wahrnehmbare, an die Materie gebundene Bewegung zu denken.33 Mit der Dominanzsetzung des Geistes über die Materie wirkt Savinio sowohl der Fortschreibung positivistischer Strömungen wie der futuristischen Besessenheit der Materie entgegen.34 Außerdem verweigert er sich der These einer – wie auch immer gearteten – evolutionären Geschichtsphilosophie; Geschichte / Mythos sind vielmehr Teile der Gegenwart,35 der moderne Mensch trägt die Antike in sich – es gibt bei ihm also keine Entwicklung vom Mythos zum Logos hin, sondern nur eine permanente, horizontale Wechselbewegung wie er sie in Angelica o la notte di maggio vorführt.

32 Ders.: „Primi saggi di filosofia delle arti (II)“, in: Valori plastici III (3), 1921, S. 49-53, S. 53. 33 Ders.: „Arte = Idee moderne“, in: Valori plastici I (1), 1918, S. 3-8, S. 6, S. 4. Entsprechend setzt er sich auch mit dem Originalitätsgedanken auseinander, wie er beispielsweise nochmals von den Futuristen propagiert wurde. Stattdessen kann Kunst nur an „lo stato dell’intelligenza“ gemessen werden (7). 34 Vgl. F.T. Marinetti: „Manifesto tecnico della letteratura futurista“ (11.05.1912), in: Luciano De Maria (Hg.), F.T. Marinetti: Teoria e invenzione futurista), Mailand 1968, S. 46-54, hier S. 50. 35 A. Grewe hat darauf hingewiesen, dass das mythische Welterleben bei Savinio nicht nur als phobischer Reflex wie bei Aby Warburg zu denken ist, sondern als ein überschwängliches Glücksgefühl; vgl. A. Grewe: „Kultur, Memoria und Mythos“, in: dies. (Hg.), Savinio europäisch, S. 153-167, hier S. 161ff. 293

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Gedächtnis und Fantasie Savinio verfügt als Literat, Komponist, Maler, Literatur-, Theater-, Kunst- und Filmkritiker über ein sehr breites Spektrum an künstlerischen Schaffensmedien. Zugleich verbindet er die einzelnen Künste durch intermediale Bezüge miteinander, d.h. in seinen Werken werden andere ‚Kunstsysteme‘ in der Regel entweder erwähnt oder transponiert. In Angelica o la notte di maggio rekurriert Savinio nicht nur auf den Film, sondern auch auf die Bildenden Künste. So erfolgte beispielsweise die Rezeption des Mythos von Eros und Psyche vor allem in den Bildenden Künsten – auch wenn es eine literarische Rezeption gab.36 Savinio überführt also ein konventionell als ‚visuell‘ wahrgenommenes Motiv in die Literatur. Und so deutet sich mit der Themenwahl in Angelica o la notte di maggio ein ‚Bildgedächtnis‘ an, das generell dem Kunstverständnis von Savinio zugrunde liegt. Narrativik ist linear und dennoch versucht Savinio in Angelica o la notte di maggio, sich in der Literatur über eine äußerliche Bewegung, die sich in logischen Kategorien wie Raum und Zeit denkt, hinwegzusetzen – sowohl auf der Ebene der histoire, aber auch in der Gestaltung. Der fragmentarisierte Mythos wird durch die montageartige Struktur des Romans hervorgebracht. Die kurzen Unterkapitel folgen weder einer strengen chronologischen noch einer thematischen Logik, d.h. die einzelnen Abschnitte – Augenblicke – werden scheinbar beiläufig zusammenmontiert, die erzählte Zeit aufgehoben. Nicht gesondert markiert sind die Träume und Ängste, Rückblicke, Briefe oder die Beschreibungen von kleinen Dokumentarfilmvorführungen. Dieser weitgehende Verzicht auf logische, lineare Verknüpfungen, deskriptive Kommentare oder Psychologisierungen richtet die Geschichte auf eine präsentische Oberfläche aus. „There is no limit to the number of threads which may be interwoven. A complex intrigue may demand cooperation at half a dozen spots, and we look now into one, now into another, and never have the impression that they come one after another.“37

36 Sonia Cavicchioli: Amore e Psiche, Mailand 2002; Christiane Holm: Amor und Psyche: die Erfindung eines Mythos in Kunst, Wissenschaft und Alltagskultur (1765-1840), München [u.a.] 2006. 37 Hugo Münsterberg: Film: A Psychological Study – The Silent Photoplay (1916), New York 1970, S. 45. [dt.: Lichtspiel: Eine psychologische Studie [1916] und andere Schriften zum Kino, hg., kommentiert u. übersetzt von Jörg Schweinitz, Wien 1996, S. 62]. 294

ZUM BEWEGUNGSKONZEPT IN SAVINIOS ROMAN ANGELICA O LA NOTTE DI MAGGIO

Dieses Zitat, dass so treffend den Roman Angelica o la notte di maggio zu beschreiben scheint, stammt von Hugo Münsterberg und zielt auf die Beschreibung des jungen Mediums Film, das seiner Meinung nach analog zu Gedächtnis und Fantasie des Menschen funktioniert. Diese Analogie erklärt, so meine These, warum der filmbegeisterte Alberto Savinio – bei aller Hybridität des Romans – intermediale Bezüge auf den Film dominieren lässt. Die überwiegend mimetischen Szenen (der Text wird vor allem in Dialogform erzählt) tragen zur Präsenz bzw. Unmittelbarkeit des Erzählten bei und suggerieren darüber hinaus ein Drehbuch; schließlich gab es auch in der Stummfilmzeit ausformulierte Drehbücher. Regieanwiesungen wie im folgenden Zitat unterstützen diesen Eindruck: „Quattro pareti nude. Camera di clinica modello. L’antro della potenza rothspeeriana. Per l’uscio corazzato entra frettoloso il segretario. Brephus: Signor barone, i nitrati sono precipitati di cinquanta punti. Rothspeer: Ti ho avvertito più di una volta che le iperboli non mi vanno a genio.“ (25)

Nun könnte dieses Drehbuch als Dramentext gelesen werden, doch sind im Roman sehr viele Hinweise auf den Film, so dass die Dialoge und Regieanweisungen entsprechend filmisch rezipiert werden. Gleich zu Beginn des Romans wird der Reichtum Rothspeers zweimal als ein kleiner Dokumentarfilm vor einem nicht näher bestimmten Publikum vorgeführt (20; 26). Die ebenfalls in Dialogform geschriebenen Szenen lassen den Fotografen / Filmemacher Alessandro Sturnara den Besitz des Barons, wie den Luxusdampfer Armenius vor einem neugierigen Publikum erläutern. Dabei streift er die technischen Daten, die Inneneinrichtung und aus einer Regieanweisung entnimmt der Leser, dass die Deutschen unter den Zuschauern „Deutschland, Deutschland über alles“ singen: „Preme la perina di gomma: lampo violetto, musica. Coro di spettatori: Che bella nave! Che bella nave! Un bimbo: Dove va il batimentino, mammà? […] ,Si levano gravi sospiri tra gli spettatori.‘ […] L’apparecchio di Alessandro Sturnara crepita come l’olio in ebollizione. La sala piomba nel buio. Grida degli spettatori. Il bimbo scoppia in pianto.“ (20)

Der vorgeführte Reichtum erscheint genauso fremdartig wie die fremden Länder, die in der Regel in den zeitgenössischen Dokumentarfilmen im Kino gezeigt werden. Der bürgerliche Besitz bedarf des staunenden Zuschauers, er wird medial inszeniert und somit nochmals potenziert. Der 295

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Film wird hier als ‚Spektakel‘ erzählt und ironisiert. Am Ende vollzieht sich dann in einem übertragenden Sinne die Ironisierung des Reichtums, dessen Demonstration sich durch das brennende Vorführgerät in Flammen auflöst. Die Szene ist wie ein Drehbuch angelegt. Der allerletzte Absatz markiert darüber hinaus noch in einer anderen Hinsicht den Film, denn er zitiert die zeitgenössischen Paratexte zum neuen Medium. Trotz aller Narrativität hat das Kino in der Stummfilmzeit seinen Charakter als sinnliches, Aufsehen erregendes Ereignis nicht verloren. Die in kurzen Sätzen erzählte unheimliche Atmosphäre des dunklen Kinosaals, die Schreie der Zuschauer, das Weinen des Kindes – mit oder ohne Kinobrand zitieren fast wortwörtlich die Berichte über den Film, die seit 1906 in den italienischen Zeitungen zu finden sind.38 Damit verweisen diese frühen Szenen mit diversen Verfahren auf den Film. Angelica o la notte di maggio spielt noch in anderer Hinsicht mit dem Film – den Unterkapiteln werden Ortsbestimmungen wie „Sulla spiaggia“ (66) oder „Nel bar“ (68) vorangestellt, die wiederum an die Zwischentitel im Stummfilm erinnern. Diese Textstelle ist aber nicht die einzige, in der Savinio auf den Film rekurriert. Auch im folgenden Passus haben wir es erneut mit einer Mehrfachmarkierung zu tun, die eine doppelte Ironisierung schafft. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Seitenhieb auf die Psychoanalyse. Rothspeer sucht nach professioneller Unterstützung für die ‚Genesung‘ der mit offenen Augen träumenden, bewegungslosen Angelica. Dass der Fachmann Bischoff dafür in Sigmund Freuds Heimatstadt Wien wohnt, ist natürlich nicht zufällig und in dem folgenden Dialog wird eine psychoanalytische Ausdeutung des Schlafs ad absurdum geführt, denn der Gesichtsausdruck des Analytikers Bischoff als „colui che ‚vede‘ che ‚capsice‘“ und seine „eh, eh“ (86) bewirken schlichtweg gar nichts: „Ma Bischoff sta a Vienna.“ „E non ciò?“ „Avevamo stabilito di svernare qui...“ „Vorrai scherzare! Lascia fare a me.“ (Gira l’interruttore. Buio. Rumore di macchine. Sullo schermo sfilano via via le campagne della Normandia, il Belgio piovoso, la Germania sotto la neve, gli abeti neri dell’Austria, le prima case di una città;Vienna! Sono le 2 e 30) „Il professore Rudolf von Bischoff somiglia a un Rimsky-Korsakov in camicia. Professore (Al barone): Il signore? Rothspeer (Indicando l’Angelica): Mia moglie. […] Bischoff (Si gratta la barba): Eh, eh…“ (85f.)

38 Vgl. Verf.: ‚Si gira!‘ – Literatur und Film in der Stummfilmzeit Italiens, Heidelberg 2007. 296

ZUM BEWEGUNGSKONZEPT IN SAVINIOS ROMAN ANGELICA O LA NOTTE DI MAGGIO

Was passiert in diesem Textausschnitt? Ein Schalter wird gedreht, es wird dunkel und auf einer Leinwand fliegen die Landschaften vorbei – bis Rothspeer und Angelica sich in der Praxis von Professor Bischof befinden. Eine messbare, mechanische Bewegung ist nicht mehr logisch nachzuvollziehen, räumliche und zeitliche Distanzen, Kategorien herkömmlicher menschlicher Wahrnehmung werden irrealisiert und damit aufgelöst. Rothspeer ist beispielsweise immer unterwegs, ohne dass die Reise bzw. eine Abfahrt oder eine Ankunft thematisiert wird. Er ist im Text immer anwesend – unabhängig davon, wo er sich geografisch aufhält. Genauso wie in denjenigen Passagen, in denen Rothspeer sich plötzlich im Gespräch mit seinen Eltern befindet. Auch in zahlreichen anderen Szenen – immer ohne erklärende Überleitungen – werden geografisch weit entfernte Orte aneinander montiert, wie in dem obigen Zitat: „La Scandinavia sotto la neve. In Germania lo sgelo, e grandi acque precipitavano dai monti. Sul corpo dorato di Roma, il cielo non faceva una grinza“39 (94). Rothspeer zeigt also ein Maximum an räumlicher und zeitlicher Beweglichkeit, doch kommt er damit Angelica bzw. der Liebe nicht näher. Es entstehen ein Atopos aller möglichen Orte und ein Achronos der Zeiten, die in Angelica o la notte di maggio mit dem Film assoziiert werden. Christian Metz’ Beobachtungen des Kinos als ein Wachtraum, an dessen Pole tatsächlich unterschiedliche Orte liegen können, sind auf Savinios Roman ohne Mühe übertragbar. Während Metz hier das Filmdispositiv im Blick hat, das den Zuschauer immer an dem gleichen Ort wieder aufwachen lässt, suggeriert Savinio in Angelica o la notte di maggio das Leben als einen fortwährenden Schwebezustand. Einzigartig ist dabei zweierlei: zum einen Savinios literarischer Rekurs auf den Film, der in den 1920er Jahren in Italien weiterhin sehr ungewöhnlich ist.40 Zum anderen stellt die Analogie zwischen dem Film und einer geistigen Sphäre, sei sie als Bewusstsein, Komposition oder Fantasie gedacht, in der Frühzeit des Films eine Ausnahme dar. Zwar widmete sich Hugo Münsterberg in der Stummfilmzeit in The photoplay (1916) dieser Parallele, indem er betont, dass der Film seiner Meinung nach noch stärker als das Theater durch die Rückblenden und Großaufnahmen zum einen und zum anderen durch harte oder weiche Schnitte und Überblendungen Verfahren unseres Bewusstseins aufzugreifen ver39 Vgl. Christian Metz: „The Fiction Film and it’s Spectator: A Metapsychological Study“, in: ders.: Psychoanalysis and Cinema. The Imaginary Signifier, London 1982, S. 104. 40 Vgl. zu Savinio als Filmkritiker: Vf.: „Un dilettante al cinema: Alberto Savinio“, in: Studi Novecenteschi XXVIII 2001, 61, S. 111-124; in abgeänderter Form: „,Arte impura‘ – Alberto Savinios Plädoyer für den Film“, in: A. Grewe (Hg.), Savinio europäisch, S. 121-136. 297

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mag, doch ist seine Filmtheorie bis in die ausgehenden 1960er Jahre weitgehend unbeachtet geblieben:41 „In short, it can act as our imagination acts. It has the mobility of our ideas which are not controlled by the physical necessity of outer events but by the psychological laws for the association of ideas. In our mind past and future become intertwined with the present. The photoplay obeys the laws of the mind rather than those of the outer world. […] Life does not move forward on one single pathway. The whole manifoldness of parallel currents with their endless interconnections is the true substance of our understanding.“42

Savinios Roman ist in vielerlei Hinsicht herausragend in der italienischen Literatur des frühen 20. Jahrhunderts. Die großen Erzählungen (die Apotheose einer technisch gedachten Simultaneität der Futuristen bzw. ihr Feiern der Materie, die Ausdeutung des Schlafs / Unbewussten sei es kreativ im Surrealismus, sei es in der Psychoanalyse) – all diese Erzählungen werden in dem Roman aufgegriffen, aneinander montiert und gleichzeitig demontiert, so dass eine sehr ironische Collage entsteht, die auf eine Modernekritik hinausläuft. ‚La vita è movimento‘ schreibt Savinio in den Valori plastici und meint damit eine geistige Beweglichkeit und erhebt die Vernichtung des herkömmlichen Zeit-Raum-Kontinuums zu seinem ästhetischen Prinzip. Die Aufgabe des Dichters ist es also, Bewegung (= Leben) nicht über die empirisch überprüfbare Materie zu begreifen, sondern diese vielmehr geistig zu durchdringen, sprich als geistige Tätigkeit über die memoria zu verstehen, und sie dann in der Kunst zu materialisieren. Eine Arbeit am Mythos von Eros und Psyche scheint in diesem Zusammenhang besonders geeignet zu sein. Der Mythos ist immer wieder als ein Aufstieg der menschlichen Seele zu Gott gelesen worden, also als eine absolute Bewegung des ‚nach oben Strebens‘. In einer entgöttlichten Welt, so führt Savinio in Angelica o la notte di maggio vor, kann die Bewegung nur noch horizontal und als Pendelbewegung verlaufen.

41 Vgl. zur Rezeption: Jörg Schweinitz: „Psychotechnik, idealistische Ästhetik und der Film als mental strukturierter Wahrnehmungsraum: Die Filmtheorie von Münsterberg“, in: Das Lichtspiel 1996, S. 9-26, hier S. 16f. 1970 ins Italienische und Polnische übersetzt. Münsterberg zeichnet die wahrnehmungspsychologischen Experimente des 19. Jh. nach (Muybridge etc. Phasen – Bewegung), knüpft dann Psychologie an (subjektive Synthese der zerlegt aufgezeichneten Bewegung). 42 H. Münsterberg: A Psychological Study (1916), 1970, S. 39f. u. S. 44 [dt.: S. 59 u. S. 61]. 298

BEWEGUNGSFIGUREN IM SYMBOLISMUS: MAETERLINCK, RIMBAUD, MALLARMÉ ANDREA STAHL Richtet man den Blick vom italienischen Futurismus und dessen Begeisterung für das Rennautomobil auf historisch vorausgehende Ausdrucksformen, so stößt man mit dem Symbolismus auf eine frühe Faszination an technischen Bewegungsmustern, die unter anderem in den von Maurice Maeterlinck geschilderten Szenen „En automobile“ Gestalt annehmen. Bei dem erst 1904 in der Essaysammlung Le double jardin veröffentlichten Bericht handelt es sich um die Jahre zurückliegenden Eindrücke eines Autofahrers aus den Anfängen des technischen Zeitalters, „wo man des Morgens abfuhr beim dumpfen Getöse eines Kolbens, der um so geräuschvoller und selbstgefälliger war, weil er sich als unübertroffen fühlte, und wo man des Abends niemals nach Hause kam.“1 Die neu erfahrene Mobilität lässt die schreckliche Gewissheit aufkommen, dem fahrenden Ungetüm selbst dann nicht Herr zu sein, wenn man das Steuerrad und die Hebel fest in der Hand und auch die Bremse unter dem Fuße hat. So fühlt sich der Autofahrer des fin de siècle einer geheimnisvollen Macht ausgeliefert, durch die die Fahrt von Rouen nach Paris zu einem unvorhersehbaren Wagnis wird. Auch die Tatsache, dass zuvor das Innere des Automobils gewissenhaft untersucht worden ist und die vermeintlichen Geheimnisse seines Mechanismus erklärlicher als der eigene Körper erscheinen, trägt kaum dazu bei, die schwelende Unruhe beim Antritt der Fahrt zu verringern: „On m’a dévoilé son âme et son cœur, et la circulation profonde de sa vie. Son âme, c’est l’étincelle électrique qui, sept à huit cent fois à la minute, vient enflammer son souffle. Son terrible cœur compliqué, c’est d’abord ce carburateur au double visage étrange, qui dose, prépare, volatilise l’essence, fée subtile endormie depuis la naissance du monde, qu’il rappelle au pouvoir et qu’il unit à 1

So ein Prolog Maurice Maeterlincks, der dem veröffentlichten Text vorangestellt wurde, allerdings nur in der deutschen Übersetzung zu finden ist: Maurice Maeterlinck: „Im Automobil“, in: ders., Gedanken über Sport und Krieg, Leipzig, Berlin, o.J., S. 7-21, hier S. 7.

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l’air qui la réveille. Ce mélange redoutable est avidemment pompé par le gros viscère voisin, qui contient la chambre d’explosion, le piston, les soupapes à ressort, toutes les forces vives du moteur. Autour de ces viscères qui ne forment qu’un faisceau de flammes, constamment appelée pour apaiser l’ardeur intime qui les ronge et les transformerait en une coulée de lave, infatigable et toujours refroidie par le radiateur posté à l’avant de la voiture, aspirant la fraîcheur des vallons et des plaines pour calmer de ses longues caresses glacées les fièvres mortelles du travail, circule sans répit l’eau vigilante et pure. [...] L’âme obéit au corps proprement dit, et le corps obéit à l’âme dans une harmonie ingénieuse.“2

Allerdings hängt die in Erinnerung gerufene Harmonie der Motorik unseligerweise von dem Unterbrecher und der Zündkerze ab, den beiden eigentlichen Sorgen des Chauffeurs, zu denen sich noch sieben oder acht weitere gesellen: „la compression, la carburation, le graissage, la circulation de l’eau, l’ampérage des piles, où le voltage des accumulateurs, etc., etc.“3 Erst nach langem Zögern und mit zitternder Hand wird die Fahrt des Automobils beschleunigt. War das bedrohliche Gefährt zuvor noch geruhsam an den umliegenden Kornfeldern vorbeigezogen, scheint nun die Straße selbst vor dem zu schneller Fahrt ansetzenden Automobil senkrecht in den Abgrund zu stürzen: „Les arbres qui le bordent avec sérénité depuis tant d’années lentes redoutent un cataclysme. On croirait qu’ils accourent, rapprochent leurs têtes vertes, se massent, se concertent devant le phénomène qui surgit, pour lui barrer la voie. Puis soudain, domme il ne s’arrête pas, les voilà pris d’effroi. Ils se sauvent, se dispersent, regagnent à tâtons leur place séculaire, se penchent tumultueusement sur mon passage, et, répercutant dans leurs millions de feuilles la joie presque insensée de la force qui chante, murmurent à mes oreilles les psaumes volubiles de l’Espace qui admire et acclame son antique ennemie, toujours vaincue jusqu’à ce jour mais enfin triomphante: la Vitesse.“4

Von der nachhaltigen Faszination an der Geschwindigkeit zeugen auch in Arthur Rimbauds Sammlung der Illuminations aus dem Jahr 1874/75 2 3 4

M. Maeterlinck: „En automobile“, in: ders., Le double jardin, Paris 1904, S. 51-65., hier: S. 54f. Ebd., S. 57f. Ebd., S. 61f. In La Vie de l’Espace zitiert Maeterlinck diese Passage mit den Worten: „le naïf témoignage dans une page du Double Jardin, (...) où lyriquement je célébrais la route“ (M. Maeterlinck: La vie de l’Espace, Paris 1928, S. 138.) Diese Äußerung ist als weitere Brechung des zwischen Emphase und zuweilen subtiler Ironie changierenden Berichts aufschlussreich. 300

BEWEGUNGSFIGUREN IM SYMBOLISMUS

zahlreiche lyrisch heraufbeschworene Bewegungsmomente.5 In dem Prosagedicht Métropolitain fehlt zwar anders als bei Maeterlinck jede ironische Komponente, doch schon der erste Satz gibt durch die Aufzählung eine Hast zu erkennen, so als solle alles in einem Atemzug genannt werden, was sich vor Augen des Betrachters ausbreitet. Als säße auch dieser in einem Automobil oder einem vorbeifahrenden Zug, folgen schnelle Dekorwechsel aufeinander, lösen sich in rascher Bewegung ein regenfeuchtes, von Passanten belebtes Großstadtviertel und ein heraufbeschworenes Verkehrsgewühl ab, bis sich schließlich Kaskaden von Bildern überstürzen, die den Realitätsbezug des Gesehenen mehr und mehr verblassen lassen. Wie vor das Scheinwerferlicht eines Fahrzeugs gezogen, tauchen in einem vorüber ziehenden Farbenrausch unzählige Gegenstände vor Augen auf, die in Sekundenschnelle wieder verschwinden.6 „Du désert de bitume fuient droit en déroute avec les nappes de brumes échelonnées en bandes affreuses au ciel qui se recourbe, se recule et descend, formé de la plus sinistre fumée noire que puisse faire l’Océan en deuil, les casques, les roues, les barques, les croupes. – La bataille! Lève la tête: ce pont de bois, arqué; les derniers potagers de Samarie; ces masques enluminés sous la lanterne fouettée par la nuit froide; l'ondine niaise à la robe bruyante, au bas de la rivière; ces crânes lumineux dans les plans de pois – et les autres fantasmagories – la campagne.“7

Der mit beiden Beispielen deutlich werdende Nachdruck auf das Moment der Beschleunigung soll im Folgenden zum Anlass genommen werden 5

6

7

Vgl. zur Betonung der Bewegungsmomente in den Illuminations zuletzt Walburga Hülk: „Müsste ich einen gemeinsamen Nenner aller Illuminations finden, so wäre es der Begriff der Bewegung, alternativ der Begriff der Energie oder Intensität. Bewegung, Energie, Intensität – das schwindelerregende Tempo und die differentielle Komplexität der kleinen Prosagedichte, der Gesamtheit der Texte, der phonetischen, graphischen, semantischen Verbindungen, der bis dahin unerhörten Harmonien und Dissonanzen, der unerwarteten Graphismen, inszenieren ein unbegrenztes und gleichwohl operationelles, gut organisiertes Imaginäres.“ (W. Hülk: „Die chemische Metapher im 19. Jahrhundert: Wissen und Dichtung (Goethe, Stendhal, Rimbaud)“, in: Thorsten Greiner/Hermann H. Wetzel (Hg.), Die Erfindung des Unbekannten. Wissen und Imagination bei Rimbaud, Würzburg 2007, S. 49-61, hier S. 57f. Eberhard Valentin: „Arthur Rimbaud: ‚Métropolitain‘“, in: Hans Hinterhäuser (Hg.), Die französische Lyrik. Von Villon bis zur Gegenwart, Düsseldorf 1975, Bd. II, S. 115-126, hier S. 115f. Arthur Rimbaud: Œuvres complètes, Bibliothèque de la Pléiade, Paris 1972, S. 143f. 301

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für die Suche nach einem geeigneten theoretischen Rahmen, mit dem sich das Unbestimmte der Bewegung, ihr akzidentelles Entstehen und Vergehen sowie die historischen Besonderheiten der symbolistischen Bewegungsfiguren erfassen lassen.8 Als zentrale Kategorie werden dafür der Begriff und das theoretische Modell der Artikulation herangezogen. Da der Artikulationsbegriff auf eine Pluralität von Ausdrucksformen verweist, lässt sich ein solches Verständnis der Bewegung im Sinne einer anthropologischen Kategorie einführen, die umso prägnanter für eine Auseinandersetzung mit Körpern in Bewegung nutzbar zu machen ist, als der französische Begriff articulation auf den anatomischen Bereich eines Gelenks verweist. Ausgehend von der Vorstellung, dass sich mit dem 20. Jahrhundert und zunächst insbesondere den historischen Avantgarden die Faszination an den Bewegungs-Bildern, wie Deleuze sie mit Blick auf das Kino nennt, auf vielfältige Weise verändert, soll im Zuge einer solch artikulationstheoretisch inspirierten Lektüre der Versuch unternommen werden, die symbolistischen Studien sowohl körperlicher als auch technisch generierter Bewegungsabläufe vor dem Hintergrund zentraler anthropologischer Aspekte darzustellen.

I. Die Bewegung des Körpers im Zeichen einer Theorie der Artikulation Terminologisch eingeführt ist der Artikulationsbegriff in der Sprachwissenschaft, wo er in zwei verschiedenen Varianten vorkommt. Einmal ist damit der „physiologische Vorgang der phonetischen Lautbildung“ gemeint, also die lautliche Gliederung von Rede und Sprache in deutlich unterschiedene Einzellaute, Lautgruppen, Wörter und Redeteile und die Verschränkung mit sprachlich-performativen Erscheinungsformen wie Tonfall, Tonhöhe, Lautstärke, Phrasierung und Begleitmimik. Zum anderen bezeichnet der Begriff im Rekurs auf Wilhelm von Humboldt eine Beziehung zwischen lautlicher und geistiger Artikulation. Auch in der Alltagssprache entspricht die Verwendung des Artikulationsbegriffs dieser Variante, denn als artikuliert gilt jemand, der sowohl deutlich spricht als auch mittels der Sprache seine geistige Beweglichkeit ausdrückt, also mit dem symbolischen Instrumentarium gekonnt umzugehen versteht.9 8 9

Den Begriff der ‚Figur‘ verwende ich entsprechend der lateinischen figura im Sinne von ‚Gebilde‘‚ ‚Gestalt‘. Magnus Schlette/Matthias Jung: „Einleitende Bemerkungen zu einer Anthropologie der Artikulation“, in: dies. (Hg.), Anthropologie der Artikulation. Begriffliche Grundlagen und transdisziplinäre Perspektiven, Würzburg 2005, S. 7-26, hier S. 11ff. 302

BEWEGUNGSFIGUREN IM SYMBOLISMUS

Für den Entwurf eines artikulationstheoretischen Bewegungsmodells lässt sich die sprachwissenschaftliche Konzeption der linearen Verschränkung von phonetischer Lautbildung und symbolischer Bedeutungsgenerierung durch philosophische Ansätze stützen. Der Artikulationsbegriff tritt als philosophischer Terminus im Zusammenhang mit den Begriffen ‚Ganzheit‘ und ‚Struktur‘ auf. Bei der Unterscheidung des bloßen Aggregats gemeiner Erkenntnis vom wissenschaftlichen System bestimmt Kant das Ganze als „gegliedert (articulatio) und nicht gehäuft (coarcervatio)“.10 Darauf bezieht sich auch Wilhelm Dilthey, wenn er ‚Struktur‘ allgemein als „die Artikulation oder Gliederung eines Ganzen“ nennt. Es ist vor allem Dilthey, der in seiner Lehre von der „Entwicklung des Seelenlebens“ die dynamische Seite der Artikulation betont und darauf drängt, „daß lebendiger Zusammenhang die Grundlage aller Entwicklung ist und alle Differenzierung und klareren, feineren Beziehungen aus dieser Struktur sich entwickeln“.11 Im Anschluss daran sowie an Motive und Grundbegriffe Ernst Cassirers hat zuletzt Matthias Jung das Konzept der Artikulation in den Kontext lebensweltlicher Erfahrung integriert.12 Artikulation benennt hier die interne Relation zwischen Erleben und Ausdruck, die darin besteht, dass das Erleben durch seinen Ausdruck erst in seinem Gehalt semantisch gebildet wird und damit „eine symbolische Klärung und fixierend-deutende Auseinanderlegung“ erfährt. Mit dem Aspekt der Sequentialität der Erfahrungs- und Handlungsepisoden betont Jung, dass diese praktischen Vollzüge des Menschen – sowohl sein Sprechen wie sein Handeln – sich sukzessive in der Zeit vollziehen, und zwar durch die an konstitutiven Regeln orientierte Kombination unselbständiger Elemente innerhalb übergreifender linearer (Sprach- bzw. Handlungs-)Einheiten.13

10 Joachim Ritter (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Darmstadt 1971, Bd. 1, S. 535. 11 Ebd. und Wilhelm Dilthey: „Abhandlungen zur Grundlegung der Geisteswissenschaften“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 5, Stuttgart 1957, S. 217. Dilthey bezieht sich auf den folgenden Seiten im Kontext der Ästhetik auf den Begriff der Artikulation als ‚Gestaltung‘. 12 Vgl M. Jung: „‚Das Leben artikuliert sich‘. Diltheys performativer Begriff der Bedeutung. Artikulation als Fokus hermeneutischen Denkens“, in: Revue Internationale de Philosophie 226, 4/2003 im Rekurs auf Ernst Cassirer: An Essay on Man. An Introduction to a Philosophy of Human Culture, New Haven 1944. 13 Vgl. M. Schlette/M. Jung: „Einleitung“, S. 13f und M. Jung: „Making us explicit: Artikulation als Organisationsprinzip von Erfahrung“, in: M. Schlette/ders. (Hg.), Anthropologie der Artikulation, S. 103-142. 303

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Wie lassen sich die genannten Aspekte im Hinblick auf die Artikulation von Bewegung konkretisieren? Für eine bewegungstheoretische Akzentuierung des Artikulationsbegriffs ist entscheidend, dass Artikulationen strukturell auf der Grundlage drei konstitutiver Ebenen zu erfassen sind. Wer sich artikuliert, symbolisiert Bewusstseinsprozesse in Ausdrucksgestalten, die aus sprachlichen Einheiten oder körperlichen Bewegungsmustern erzeugt werden und subjektives Erleben bzw. eine mögliche interpretierend-wertende Deutung indizieren. Der Artikulationsbegriff deckt insofern ein „expressives Kontinuum“14 ab, das innerhalb dieser Dreiecksrelation generiert wird und den Vorgang der Rede mit reflexiv eingeschliffenen Körperhaltungen wie einem geraden Rücken, motorischen Bewegungsabläufen oder streng vorgegebenen Schrittfolgen des Tanzes vergleichbar macht. In allen Fällen kommt es erst durch die artikulierende Gliederung der Sequenzen zu einer Suggestion des Sinns, zu einem Ganzen, das an jeder Stelle zu einer allmählich an Bestimmtheit gewinnenden Handlungslinie erwächst.15 Dabei ist die Abfolge geformter Körperbewegungen im Zuge der Intersubjektivität der Artikulation als Träger einer ihr nicht unmittelbar innewohnenden potenziellen Bedeutung zu verstehen. Solche Bedeutungen können von ungefähren Eindrücken wie Leichtigkeit, Vitalität, Anspannung, Festigkeit, Kraft oder Schwere bis hin zu komplexen Bezugsebenen wie Beharrlichkeit oder Selbstgewissheit und ihren möglichen semantischen Dimensionen reichen. Die okkasionelle Ausübung von Bewegungen spricht dabei nicht gegen eine Theorie der bewussten Artikulation, sondern verweist auf die Beherrschung von Körpertechniken, auf die „Einverleibung“16 im Sinne Plessners oder das Natürlich-Werden von Bewegungsabläufen.17 Damit setzt eine anthropologisch verstandene Artikulation der Bewegungsprozesse voraus, dass die Übergänge zwischen konventionell deutbaren Körperbewegungen und schwer zugänglichen Leiberfahrungen begrifflich zusammen geführt werden. 14 M. Schlette/M. Jung: „Einleitung“, S. 14f. Vgl. auch Katrin Arnold: „Ausdruck und Artikulation. Ein Grenzgang zwischen Philosophischer Anthropologie und Symbolischem Interaktionismus“, in: M. Schlette/M. Jung (Hg.), Anthropologie der Artikulation, S. 85-102. 15 J. Ritter: Historisches Wörterbuch der Philosophie, S. 535. 16 Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin/Leipzig 1928, S. 310. 17 Vgl. dazu auch Gunter Gebauer, der Bewegung immer zugleich als natürlich und sozial verstanden wissen will. G. Gebauer: „Ordnung und Erinnerung. Menschliche Bewegung in der Perspektive der historischen Anthropologie“, in: Gabriele Klein (Hg.), Bewegung. Sozial- und kulturwissenschaftliche Konzepte, Bielefeld 2004, S. 23-41. 304

BEWEGUNGSFIGUREN IM SYMBOLISMUS

I I . V o n t e c hn i s c h e n z u k ö r p e r l i c h e n B e w e g u n g sa r t i k u l a ti o n e n Wie sich bei einem Blick auf die Bewegungsfolgen bei Maeterlinck und Rimbaud zeigt, sind die dargestellten Szenen darin verwandt, motorische Bewegungsabläufe in ihrer Sequentialität zum Gegenstand zu machen. Während sich die Dynamik in dem Prosagedicht Rimbauds allerdings durch die Betonung linearer Bildfolgen artikuliert und den Eindruck einer forttreibenden Bewegung vermittelt, die beinahe ohne Handlungsverben auskommt, resultiert die Unbändigkeit der Bewegung bei Maeterlinck aus der Wahrnehmung eines zirkulären Zusammenspiels verschiedener körperähnlicher Organe. Von den motorischen Abläufen des Automobils ist in Analogie zu dem menschlichen Körper die Rede, so dass die Fahrt im Automobil, ähnlich wie die bekannten Chronofotografien von Eadweard Muybridge oder Etienne-Jules Marey, die relationale Struktur funktionaler Glieder hervortreten lässt. Die Dynamik der Bewegung artikuliert sich über Kräfte und Gegenkräfte, die in Beziehung zueinander gesetzt werden und – ununterbrochen aufeinander bezogen – als Funktionieren von Teilen in Erscheinung treten. Versteht man Artikulationen als potenziell bedeutungshaltige Gestaltbildungen des subjektiven Erlebens im Vollzug der Interaktion,18 so bleibt neben den bislang erörterten technologisch generierten Bewegungsprozessen zu fragen, inwiefern die symbolistische Ästhetik die Artikulation der Bewegung mit der Ebene des körperlichen Empfindens zum Gegenstand macht. Mit Blick auf ein Erleben von Bewegungsmomenten verweist beispielsweise Serge Lifar auf die Monotonie der Armhaltungen und die zumeist gleichförmige Stellung der Hände, denen in einer Geschichte der Körperbewegungen neben verschiedensten Bodenkontakten der Füße kaum ein spezifisches Empfindungsvermögen zugestanden wurde.19 Umso interessanter erscheinen in diesem Kontext die bekannten, auf einen Fächer geschriebenen Gedichtfolgen Mallarmés, die sich wie auch die von Maeterlinck verfassten Studien Eloge de la boxe oder Eloge de l’épée in eine noch zu schreibende Bewegungsgeschichte der Hände einreihen ließen. Ein prägnantes Beispiel für die Analyse der Bewegung als Artikulation des geformten subjektiven Erlebens liefert gegenüber den von Maeterlinck und Rimbaud evozierten motorischen Bewegungsabläufen insbesondere das 1884 und drei Jahre später mit dem neuen Titel überschriebene Gedicht Autre éventail:

18 Vgl. K. Arnold: „Ausdruck und Artikulation“, S. 85. 19 Serge Lifar: La Danse. La Danse Académique et l’Art Choréographique, Genf1965, S. 161. 305

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„O rêveuse, pour que je plonge Au pur délice sans chemin, Sache, par un subtil mensonge, Garder mon aile dans ta main. Une fraîcheur de crépuscule Te vient à chaque battement Dont le coup prisonnier recule L’horizon délicatement. Vertige! Voici que frissonne L’espace comme un grand baiser Qui, fou de naître pour personne, Ne peut jaillir ni s’apaiser. Sens-tu le paradis farouche Ainsi qu’un rire enseveli Se couler du coin de ta bouche Au fond de l’unanime pli! Le sceptre des rivages roses Stagnants sur les soirs d’or, ce l’est, Ce blanc vol fermé que tu poses Contre le feu d’un bracelet.“20

Je mehr die Verse in den Blick genommen werden, desto deutlicher lösen sich die Linien einer fortlaufenden Handlung oder gegenständlichen Motivik auf; gemäß des von Hugo Friedrich festgehaltenen Hangs zur „Entdinglichung“21 bei Mallarmé könnte vorrangig von dem Entwicklungsbogen einer überschwänglichen Bewegung die Rede sein. Mit der ersten Strophe lassen die Verse, die in der Regel eine betonungsschwache, fast monotone Sprechweise fordern, ein Eintauchen „Au pur délice sans chemin“ erkennen, ziehen hinein in ein „battement, / Dont le coup prisonnier recule / L’horizon délicatement“, bis sich die Bewegung der mittleren Strophe in einem „vertige“ artikuliert, und „l’espace comme un grand baiser / Qui, fou de naître pour personne, / Ne peut jaillir ni s’apaiser“. Die daran anschließenden Verse lassen an ein langsames Absinken der Bewegung denken, evozieren stagnierende und geschlossene Formen neben einem „rire enseveli / Se couler du coin de ta bouche / Au fond de 20 Stéphane Mallarmé: Œuvres complètes, Paris 1998, S. 31. 21 Hugo Friedrich: Die Struktur der modernen Lyrik von der Mitte des neunzehnten bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, Hamburg 1973, S. 104. 306

BEWEGUNGSFIGUREN IM SYMBOLISMUS

l’unanime pli!“ Nimmt man im Sinne der schon von Zeitgenossen betonten obscurité oder des nebulösen blanc der Mallarmé’schen Verse die Hinweise auf den Fächer sowie den Kuss zumindest als vage Bezugsebenen, so erweist sich der Körper als raum- und konturlos, doch sind Kopf und Hand so zueinander in Beziehung gesetzt, dass sich am ehesten bei ihnen eine Bewegung erwarten lässt.22 Was mit den Verben plonger à, reculer, jaillir, se couler, ensevelir wahrzunehmen ist, sind Richtungsbewegungen und Linienführungen, denen im Zuge beschleunigender oder retardierender Abläufe, dem Unterbrechen und Einstellen von Bewegungen sprachliche Gestalt verliehen werden. Wie Rudolf zur Lippe körperliche Erfahrungen im Akt der Bewegung mit sozialpsychologischen Prozessen in Verbindung bringt, die durch die Kunst sichtbar gemacht werden, könnte man bei dem Versuch, die Bewegungsfiguren Mallarmés in eine historische Perspektive einzuordnen, die mit der Hand vollführten Linien zunächst als letzten Schritt einer „Geometrisierung des Körpers“ betrachten, die mit der Unterwerfung körperlicher Bewegung unter das Diktat des Absolutismus im 17. Jahrhundert begann, und sich mit der Industrialisierung des 18. Jahrhunderts fortsetzte.23 Mit Bewegungsmustern, die den Erfordernissen körperlicher Disziplinierung gehorchen, findet diese Geometrisierung im Tanz ihren sichtbaren Ausdruck. Genauso sind seit dem Aufkommen der Fechtkunst die Bewegungen der Arme geometrischen Mustern angepasst, die sich der Fechtende in der Luft vorzustellen hat.24 Setzt man die Auseinandersetzung mit historisch wechselnden Körperbewegungen fort, zeigt sich mit der Kunst des 19. Jahrhunderts eine zunehmende Bewusstwerdung der Bewegungsabläufe, die sich – wie die Beispiele Maeterlincks, Rimbauds, aber auch Muybridges und Mareys deutlich machen – insbesondere in deren Dekomposition zu artikulieren scheint. In Anlehnung an Jonathan Crary tritt damit eine Dissoziation von Wahrnehmung und Bewegung ein,25 die anstelle der disziplinierten Artikulation ganzheitlich gedachter Erfahrungen mehr und mehr auf isolierte Bewegungssequenzen Bezug nimmt. Das Gestaltungsprinzip der Geometrisierung, so ließe sich wieder ein Bogen zu den Untersuchungen Rudolf zur Lippes 22 Vgl. August Nitschke: Körper in Bewegung, Gesten, Tänze und Räume im Wandel der Geschichte, Zürich 1989, S. 59. 23 Rudolf zur Lippe: Naturbeherrschung am Menschen II. Geometrisierung des Menschen und Repräsentation des Privaten im französischen Absolutismus, Frankfurt/Main 1974, S. 11; vgl. auch ders.: Vom Leib zum Körper. Naturbeherrschung am Menschen in der Renaissance, Hamburg 1988. 24 Vgl. A. Nitschke: Körper in Bewegung, S. 243. 25 Jonathan Crary: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, Frankfurt/Main 2002, S. 124ff, S. 214. 307

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spannen, wird dabei offenbar auf die Beobachtung zirkulärer oder linearer Linienführungen verlagert. Im Zuge der fragmentarisch skizzierten Bewegungsartikulationen des Symbolismus ist der Rekurs auf eine solche Geschichte der Körperbewegungen allerdings lediglich als Annäherung an weitaus vielschichtigere Konfigurationen zu verstehen. Denn so plausibel die Unterschiede im Bezug auf historisch wechselnde Formen der Körperbewegungen sind, erfordern solche Darstellungen, wie sie etwa auch der Historiker August Nitschke entwirft, weit reichende theoretische und historische Rückgriffe. Von einer linearen Bewegungsgeschichte auszugehen, die sich darüber hinaus anhand einer präzisen Korrelation zwischen Bewegungsformen und besonderen historischen Bedingungen nachzeichnen ließe, legt allein aufgrund der häufig vorausgesetzten Geschlossenheit historischer Kontexte ein zu wenig differenziertes Verständnis der Bewegungsfiguren nahe.26 Wie die bei Mallarmé mit der Hand vollführten Bewegungsfiguren vor diesem Hintergrund deutlich machen, wird eine „Geometrisierung des Körpers“ zwar anzitiert, in der unabgeschlossenen Leichtigkeit des Vollzugs allerdings gleichzeitig dementiert. So lassen sich die von Mallarmé evozierten aufsteigenden oder herabsinkenden, im Schwung befindlichen Bewegungen vielmehr in eine Geschichte der Körperbewegungen einordnen, die auf unterschiedlichen Formen des Bewegungswechsels beruht. Während es dabei mal um die Bekämpfung eines Widerstands gehen kann, nach dessen Überwindung eine entspannte, schnelle Bewegung wie bei einem Sprung möglich wird oder auch um eine Verlagerung des Gleichgewichts, die den Körper in Spannung versetzt und eine darauf folgende entspannte Bewegung herbeiführt, handelt es sich bei der von Mallarmé lyrisch heraufbeschworenen Bewegung der Hände um den Wechsel selbst,27 der im Mittelpunkt steht und nach jedem neuen Absinken erneut ansteigen könnte. Während allerdings andere Bewegungsabläufe eine Erwartung suggerieren, zu deren Vollzug immer eine neue Art der Bewegung unmittelbar bevorsteht, drängt mit den von Mallarmé geschilderten Bewegungsartikulationen nichts nach Veränderung.28 26 Vgl. K. Ludwig Pfeiffer: „Natural, Yet Not Nature: On Art, Artifice, and Artificiality in Movements“, in: Gunnar Iversen (Hg.), Estetiske teknologier 1700-2000, Oslo 2006, S. 155-178, hier S. 162f. 27 Die Erfahrung des Bewegungswechsels wird nach Nitschke Ende des 18. Jahrhunderts mit dem Eislauf angedeutet. „Um diese Wechsel auszukosten, werden dann im neu aufkommenden Turnen Barren und Reckstange zu zentralen Geräten.“ (A. Nitschke: Körper in Bewegung, S. 289f.) 28 A. Nitschke: Körper in Bewegung, S. 321. 308

BEWEGUNGSFIGUREN IM SYMBOLISMUS

Vor dem Hintergrund eines leeren, abstrakten Raums lässt das Gedicht Bewegungsfiguren hervortreten, die trotz einer semantischen Intention der Verben auf ihre Unabgeschlossenheit verweisen. Entsprechend des von Mallarmé in seinem programmatischen Text La crise des vers formulierten Postulats, ein Bild möge sich im Aufscheinen verflüchtigen, evoziert die Bewegung des Autre éventail die Suspendierung eines Bewegungsvollzugs, die noch der oxymoralen Semantik der Literatur und Dichtung des fin de siècle entspricht, allerdings eine allmähliche Reduzierung der Kontraste zugunsten einer „Ästhetisierung des perpetuierten suspens“29 erfahren hat. Im Verweis darauf lässt sich die Artikulation der Bewegungsformen bei Mallarmé mit einem Verhältnisbegriff konkretisieren, der um die Relation zwischen nach oben und nach unten führenden Linien kreist und dem semantischen Geflecht diffuser Relationen gleicht, mit dem, so Karlheinz Stierle, produktionsästhetisch spezifische Wirkungen der Unschärfe und Unbestimmtheit intendiert sind.30 Die Stimmungen, die hier genannt werden, haben insofern nichts mehr mit den Bewegungsmomenten zu tun, die im ausgehenden 18. und vielleicht etwa bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts im Vordergrund standen.31 Die von August Nitschke nachgewiesenen Paradigmen der Antithese ließen körperliche Spannungen aufkommen, die sich in Bewegung und gesteigerte Energie umsetzen ließen. So richtet sich das Augenmerk auf solche Ereignisse, bei denen zwei einander entgegen gesetzte Tendenzen nach einer Aufhebung drängten – wie auch das Scheiden des Tages und das Heraufkommen der Nacht.32 Mit den symbolistischen Artikulationen des unabgeschlossenen Bewegungswechsels, dem Aufscheinen und gleichzeitigen Verflüchtigen von Bildern, geht es jedoch nicht

29 Gerhard Regn: Konflikt der Interpretation. Sinnrätsel und Suggestion in der Lyrik Mallarmés, München 1978, S. 89. 30 Vgl. Karlheinz Stierle: „Möglichkeiten des dunklen Stils in den Anfängen moderner Lyrik in Frankreich“, in: Wolfgang Iser (Hg.), Immanente Ästhetik – Ästhetische Reflexion, München 1966, S. 157-194, S. 169 und Maria Moog-Grünewald: „Poetik der Décadence – eine Poetik der Moderne“, in: Rainer Warning/Winfried Wehle (Hg.), Fin de siècle, München 2002, S. 165-194, hier S. 173. 31 August Nitschke spricht vom „ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert“ und grenzt diverse Erregungszustände von mit dem Impressionismus aufkommenden Harmonien und Stimmungen ab. (A. Nitschke: Körper in Bewegung, S. 323.) 32 Vgl. A. Nitschke: Körper in Bewegung, S. 318 sowie in anderem Kontext die Analysen des Energetischen von Melanie Schmidt: Balancen der Antithese. Körperbilder des Energetischen in Maurice Béjarts Choreographien des Balletts des XX. Jahrhunderts, Heidelberg 2008. 309

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mehr um einen spannungsgeladenen Übergang, wie er noch mit Baudelaires Topos des coucher du soleil heraufbeschworen wird. Nun handelt es sich um Figurationen, die mit keinerlei weiterer Veränderung rechnen, die anstelle vielfältiger Spannungen und möglicher Widerstände eine Tendenz zur Lockerung und Auflösung in Erscheinung treten lassen und alles im Verweis auf das Gegenteil, das Aufscheinen des Vorausgegangenen, in einen leicht schwebenden Zustand versetzen.33 Man könnte den weiteren Ausführungen August Nitschkes folgen und die Bewegungsfiguren Mallarmés mit der Anfang des 20. Jahrhunderts aufkommenden rhythmischen Bewegungslehre in Verbindung bringen.34 Allerdings wäre es allein im Zuge der bruchstückhaften Lektüre der skizzierten Artikulationsmuster literatur- und bewegungsgeschichtlich sinnvoller, die symbolistischen Bewegungsfiguren als frühe Phase einer Verdichtung der Dynamisierung, Formgebung und des subjektiven Erlebens zu werten, die sich, wie auch die von Maeterlinck und Rimbaud evozierten Bewegungsabläufe zeigen, sowohl in einer text- als auch körperinternen Spekularität Ausdruck verschaffen.

33 A. Nitschke: Körper in Bewegung, S. 291, 318ff. und M. Moog-Grünewald: „Poetik der Décadence – eine Poetik der Moderne“, S. 371. 34 A. Nitschke: Körper in Bewegung, S. 324. 310

FUTURISMUS & ALPINISMUS. SZENARIEN DER I N T E N S I T Ä T B E I F.T. M A R I N E T T I , A N G E L O M O S S O U N D L UI S T R E N K E R DANIEL WINKLER D a s H o c hg e b i r g e al s S t e i g e r u n g sr au m I n t e n si t ä t u n d M o d e r n i tä t Der Begriff der Intensität, ursprünglich als Messgröße im Kontext der Erfindung der Differenzial- und Grenzwertberechnung sowie der Elektrizität klar naturwissenschaftlich konnotiert, prägt bald über den mathematisch-physikalischen Bereich hinaus auch die philosophische Auseinandersetzung mit Fragen der Energie und Spannung. Als „gleitender, energetisch aufgeladener Leitbegriff“ erlaubt er neue Wahrnehmungs- und Empfindungsformen in Worte zu fassen1. Die Möglichkeit über ihn nicht statische und klar abgrenzbare Phänomene, sondern dynamisch und graduell verlaufende Prozesse beschreiben zu können, die erst auf einer Effektebene fassbar werden, macht den Begriff über seinen Entstehungskontext hinaus interessant. Denn die Intensität lässt als qualitative Beschreibungsgröße, vorerst in der Theorie, ein „mobiles Weltbild“ entstehen.2 Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert setzen sich in Anschluss daran zahlreiche Künstler und Wissenschaftler der Moderne in vielfältiger Weise mit dem Komplex der Intensität auseinander; sie beschwören im Sinne einer künstlerischen und wissenschaftlichen Praxis eine neue Ästhetik, die einem beschleunigten und jugendlich-kraftvollen Lebensgefühl sowie einem Bruch mit der Tradition Ausdruck verleiht. Diese ästhetischen Ideale der verschiedenen modernistischen und avantgardistischen Gruppen sind eng mit den massiven sozialen und ökonomisch-technischen Veränderungen in den pulsierenden Metropolen verknüpft. Doch damit ist gleichzeitig auch eine intensive Beschäftigung mit dem ländlichen Raum verbunden, der vielen Künstlern als realer Flucht1 2

Erich Kleinschmidt: Die Entdeckung der Intensität. Geschichte einer Denkfigur im 18. Jahrhundert, Göttingen 2004, S. 10. Ebd., S. 12. 311

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punkt der Sommerfrische und (imaginärer) Ort der Inspiration dient. Eine besondere Rolle nimmt dabei das Hochgebirge ein, das als Inbegriff des ‚Erhabenen‘ und der Steigerung der Empfindungen, aber zunehmend auch eines körperlich-geistigen Vitalismus verstanden wird.3 Neben Schlüsselwerken der Moderne, die das Gebirge, beispielsweise in Form der Alpen, ins Zentrum rücken wie Scipio Slatapers Il mio Carso (1912) oder Richard Strauss’ Alpensinfonie (1914) sind einige Kunstwerke entstanden, die als alpine Randtexte der ersten Avantgarde bezeichnet werden können. Darunter sind popularkulturelle Werke zu verstehen, die die Berglandschaft in Szene setzen. Einen besonderen Blick auf Fragen der Intensität weisen solche Randtexte auf, die das Hochgebirge im Kontext des Ersten Weltkriegs verorten und sich so wie zahlreiche klassische futuristische Texte mit Extremsituationen des (Er-)Lebens auseinandersetzen – allerdings oft in einem weniger phantastischen als erfahrungsbasierten Sinn. Nach einer Annäherung an den Konnex von Gebirge, Intensität und Krieg bei dem Experimentator Angelo Mosso und dem Futuristen Filippo Tommaso Marinetti sollen hier Werke der Kriegsliteratur im Zentrum stehen, die den alpinen Raum als Ort der österreichisch-italienischen Front thematisieren und von autobiografischen Erfahrungen geprägt sind. Insbesondere anhand der Verfilmung von Trenkers Roman Berge in Flammen (1931) soll schließlich untersucht werden, inwieweit die Alpen und der Alpinismus vor dem Hintergrund des Futurismus und des Ersten Weltkriegs als paradigmatische Topoi der Intensitätssteigerung verstanden werden können.

Mosso und Marinetti Die Bergwelt stellt einen materiellen und symbolischen Ort der Kulturgeschichte der Moderne dar, der vor dem Hintergrund ihrer Erschließungsgeschichte zu lesen ist: Im 19. Jahrhundert sind die Alpen v.a. Ort der Naturbegeisterung, und sie werden als „erhabenes ‚Theater‘“ und „Laboratorium der Natur“ beschrieben; der Naturforscher Horace Bénédict de Saussure betont so beispielsweise, dass hier „die Erscheinungen der allgemeinen Physik mit einer Größe und Majestät hervortreten, von der die Bewohner der Ebenen keinen Begriff haben“4. Doch spätestens um die Jahrhundertwende, als die Alpenreise zum Massenphänomen 3 4

Wolfgang Hackl: Eingeborene im Paradies. Die literarische Wahrnehmung des alpinen Tourismus im 19. und 20. Jahrhundert, Tübingen, S. 34-48. Philipp Felsch: Laborlandschaften. Physiologische Alpenreisen im 19. Jahrhundert, Göttingen 2007, S. 7. 312

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wird, gilt das Gebirge nicht mehr als ein rein kontemplativ-erhabener Ort, sondern als Raum, der den Prinzipien des Experiments und der Bewegung unterworfen ist. Der Alpenraum wird über die Physik hinaus für die im fin de siècle an Körperfragen interessierten Lebenswissenschaftler zu einem physiologischen Labor – gewissermaßen im Vorfeld der Entstehung der Arbeitswissenschaft und der Luftfahrtmedizin als Disziplinen. So betreibt der Turiner Experimentator Angelo Mosso hier seine Studien zur Ermüdungsforschung, zur Nervenreaktion auf Umweltreize und erfindet diverse Registriergeräte wie den Ergografen, der die menschlichen Organ- und Nervenregungen mittels grafischer Kurven festhalten soll. Neben der technisch-baulichen Umgestaltung durch Bergbahnen und Sanatorien wird das Gebirge also auch mittels allerlei wissenschaftlicher Gerätschaften erschlossen; die Alpen gelten für Mosso u.a. als idealer Experimentierort, um „die Funktionsweise des menschlichen Motors unter Wirklichkeitsbedingungen zu erforschen.“5 Teile der Ergebnisse hält er in der Folge auch in Buchform wie z.B. in der Studie La fatica (1892ff.) fest.6 Vor diesem Hintergrund wird das Hochgebirge auch für viele experimentierfreudige Literaten zu einem dynamisch-erhabenen Ort und gilt um die Jahrhundertwende als Stätte intensiver Wahrnehmung. Viele Intellektuelle greifen bei ihren Versuchen, das Naturerleben in Worte zu fassen, auf das Wortfeld der Steigerung zurück und sehen das Hochgebirge als einen das Leben herausfordernden Raum, der aber mit einer traditionellen sprachlich-menschlichen Logik nur bedingt versöhnbar ist: Georg Simmel hat so auf die Formlosigkeit, das Monströse des Gebirges hingewiesen, das menschliche Maßstäbe übersteigt und gleichzeitig einen Gutteil seines Reizes für den Menschen ausmacht: „Aus dem Eindruck des Hochgebirges aber sieht uns eine Ahnung und ein Symbol entgegen, daß das Leben sich mit seiner höchsten Steigerung an dem erlöst, was in seine Form nicht mehr eingeht, sondern über ihm und ihm gegenüber ist.“7 In indirekter oder direkter Form werden das Hochgebirge und der Alpinismus in der Moderne zu Metaphern für gesteigerte Empfindungen und ein dynamisiertes Leben, was über das Wortfeld der Intensität fassbar gemacht werden soll. Das Gebirge kann also im Kontext der Moderne als eine „zona di vita intensa“ verstanden werden, einen Begriff, den 5 6 7

P. Felsch: Laborlandschaften, S. 15. Ebd., S. 7-13. Georg Simmel: „Die Alpen“, in: ders.: Philosophische Kultur. Über das Abenteuer, die Geschlechter und die Krise der Moderne. Gesammelte Essais, Berlin 1998, S. 125-130, hier S. 130.

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F.T. Marinetti 1913 in seinem Manifest Distruzione della sintassi. Immaginazione senza fili. Parole in libertà prägt und der das Ideal des permanenten Ausreizens der Grenzen der Wahrnehmungen und Empfindungen in Extremsituationen wie Kriegen, Erdbeben und Revolutionen deutlich machen soll.8 Die Figur der Intensität gilt also im frühen 20. Jahrhundert weniger als quantitative (Mess-)Größe, denn als ein qualitatives Beschreibungsattribut für ein am Außergewöhnlichen und Unfassbaren orientiertes Lebensgefühl. Sie schlägt sich in dieser Form auch in anderen Texten Marinettis nieder – wie dem Gründungsmanifest des Futurismus von 1909. Bezeichnenderweise greift der Autor hier auch auf die Gipfelmetapher zurück, die im Sinne des grenzenlosen Anspruchs seiner ‚Bewegung‘ einen Moment der Steigerung markiert: „Ritti sulla cima del mondo, noi scagliamo una volta ancora, la nostra sfida alle stelle!“9 In seinem kurz darauf entstandenen Manifest Uccidiamo il Chiaro di Luna (1909) erscheint das Gebirge sogar ganz konkret in Form des heiligen Doppelgipfels Gauri-Sankar im Himalaya. Dieser tritt als materieller und symbolischer Ort der Unterscheidung zwischen wahren Futuristen, die den Gipfel überfliegen, und am Abhang verbleibenden Massen von passatisti im Rahmen eines kriegerischen Szenarios auf: „Io regolerò il tiro!... L’alzo a ottocento metri! Attenti!... Fuoco!... Oh! l’ebbrezza di giocare alle biglie della Morte!... E voi non potrete carpircele!... Indietreggiate ancora? Questo altipiano sarà presto superato!... [...] Attenti!... Fuoco!... Il nostro sangue?... Sì! Tutto il nostro sangue, a fiotti, per ricolorare le aurore ammalate della Terra!... Sì, noi sapremo riscaldarti fra le nostre braccia fumanti, o misero Sole, decrepito e freddoloso, che tremi sulla cima del Gorisankar!...“10

In beiden Texten wird der Gipfel als Schlusspunkt gewählt; er soll den heroisch-elitären Anspruch Marinettis im Sinne eines Lobpreisens des Neuen, Kraftvollen, Chaotisch-Destruktiven metaphorisch versinnbildlichen. Im Zentrum steht die „Feier intensiver Momente, einer Intensität,

8

F.T. Marinetti: „Distruzione della sintassi. Immaginazione senza fili. Parole in libertà“ [1913], in: Luciano De Maria (Hg.), Marinetti e i futuristi, Mailand 1994, S. 100-111, hier S. 103. 9 Ders.: „Fondazione e Manifesto del Futurismo“ [1909a] in: L. De Maria (Hg.), Marinetti e i futuristi, Mailand 1994, S. 3-9, hier S. 9. 10 Ders.: „Uccidiamo il Chiaro di Luna“ [1909b] in: L. De Maria (Hg.), Marinetti e i futuristi, Mailand 1994, S. 9-20, hier S. 19-20.

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die von der (männlichen) Aggression lebt“11. Es werden im Verbund mit Bildern von topografischen wie existentiellen Extremen (Himmel, Feuer und Tod) „energetische Steigerungs- und Abfallverläufe“ deutlich gemacht, die das Moment des Kriegerisch-Dynamischen ins Zentrum rücken.12 Die Manifeste machen so deutlich, dass das Hochgebirge um die Jahrhundertwende zu einem vitalistischen Ort der „Experimentalisierung des Lebens“ wird – in der Literatur, aber auch ganz konkret in Form der Ausreizung der Grenzen des menschlichen Körpers.13 Mosso, zu dessen Tod F.T. Marinetti und Gabriele d’Annunzio kondolieren, spricht so bei einem seiner Experimente mit einem italienischen Gebirgsjäger, der die steilsten Anstiege ohne Körpererwärmung erklimmt, nicht zufällig vom „Übermenschen“14. Im Rahmen seiner alpinen Experimente gelangt er wie manche Philosophen und Literaten der Zeit zur These, dass die Intensität und Geschwindigkeit der körperlichen Betätigung mit der des Geistes in einem unmittelbaren Zusammenhang stehen; der Berliner Physiologe Nathan Zuntz spricht gar davon, dass der menschliche Körper sich in den Alpen in permanenter „Kriegsbereitschaft“ befände, und kommt damit den Idealen Marinettis sehr nahe.15 Die Begeisterung für das Hochgebirge in einem materiellen und metaphorischen Sinn bei Marinetti, Mosso und Zuntz zeigt, dass die hier verorteten Ideale des Ausreizens der Körpergrenzen und Lebenskräfte im Zeichen des Fortschrittsgeists und Jugendkults um die Jahrhundertwende eine breite gesellschaftliche Resonanz erfahren, die weit über Kreise futuristischer und faschistischer Ideologen hinausgeht. Positionen wie die der Beschwörung des Neuen und der Forderung nach einem Bruch mit der Vergangenheit sind Vertretern der Moderne wie dem österreichischtschechischen Schriftsteller Karl Kraus, dem russischen Futuristen Wladimir Majakowski und F.T. Marinetti gemeinsam. Sie alle teilen mit vielen marxistischen Modernen sozialrevolutionäre und antiklerikale Positionen und streben eine Technisierung und Beschleunigung des Lebens im Sinne einer „Potenzierung der menschlichen Fähigkeiten“16 an. Aller11 Thomas Hecken: Avantgarde und Terrorismus. Rhetorik der Intensität und Programme der Revolte von den Futuristen bis zur RAF, Bielefeld 2006, S. 19. 12 E. Kleinschmidt: Die Entdeckung der Intensität, S. 11. 13 P. Felsch: Laborlandschaften, S. 11. 14 Ebd., S. 44f. 15 Ebd., S. 8f., S. 167f. 16 Alfred Pfabigan: „‚Kopf hoch! Das ist besser!‘ Filippo Tommaso Marinettis Präventivkrieg gegen die Enttäuschungen der Moderne“, in: ders.: Die Enttäuschung der Moderne, Wien 2000, S. 9-45, hier S. 22. 315

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dings unterscheiden sie sich deutlich in ihren Bedürfnissen nach sozialer Harmonie und Stabilität, in ihrem Verhältnis zur ‚Masse‘ sowie in ihren Ansprüchen bzgl. der Zielorientiertheit ihrer Maxime.17

Alpine Kriegsbilder um 1915 J a hi e r , S o f f i c i , T r e n k e r Auf andere Weise gilt das vitalistische Motto der Intensität für die Kriegsliteratur autobiografischer Prägung. Hier ist die Bergwelt nicht nur eine Metapher, über die wie bei Marinetti ideologische Fragen in Form einer Ästhetisierung des Lebens ausgehandelt werden. Sie ist als Raum der Frontstellung auch ein materieller Ort, an dem die physiologischen Grenzen des Menschen in doppelter Hinsicht ausgereizt werden: Im Hochgebirge wird die Körperenergie unter klimatischen und topografischen Extrembedingungen gefordert, gleichzeitig schließen die Kriegsbedingungen auch Todeserfahrungen mit ein. Piero Jahier und Ardengo Soffici, die beide für die Zeitschrift La Voce tätig waren, setzen sich so in ihren Kriegstagebüchern Kobilek (1918) und Con me e con gli alpini (1918) mit den Bedingungen des Ersten Weltkriegs an der italienisch-österreichischen Front auseinander. Beide sind als Gebirgsjäger in den Ersten Weltkrieg gezogen und haben ihre Einberufung mit Ungeduld erwartet. Jahiers Dichiarazione, die sein zwischen 1916 und 1917 entstandenes und ab 1918 in unterschiedlichen Versionen erschienenes Tagebuch eröffnet, ist sowohl von der von Marinetti bekannten Höhenmetaphorik als auch von der Kriegsbegeisterung deutlich geprägt: „Altri morià solo, ma io sempre accompagnato: / eccomi, come davo alla ruota la mia spalla facchina. / Sotto, ragazzi / se non si muore / si riposerà, allo spedale. / Ma se si dovesse morire / basterà un giorno di sole / e tutto Italia ricomincia a cantare.“18

Der Alpenraum wird hier v.a. als Ort opferreicher Kämpfe, eines heroisch-todesmutigen Nationalismus und der Männerfreundschaften beschrieben. Der Krieg in den Alpen überwindet bei Jahier die Grenzen sozialer Schichten und militärischer Ränge: „Jahier considera il servizio

17 Ebd., S. 9-30. 18 Piero Jahier: Con me e con gli alpini, Mailand 2005, S. 18.

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militare soprattutto generatore del sentimento di fratellanza: la virtù comunitaria del popolo si manifesta nella guerra“.19 Viele Texte der Kriegsliteratur entbehren weitgehend des aus den Manifesten bekannten elitären Geistes in Form des Preisens des ‚erhöhten‘ Einzelnen. Sie enthalten über eine erzieherische und ästhetische Beschwörung des Krieges als Mittel zur Lösung sozialer Konflikte z.T. auch kriegskritische Passagen; dies gilt insbesondere für im fortgeschrittenen Kriegsverlauf abgefasste Texte.20 Literarische Kriegstagebücher, wie das von Soffici, markieren nicht nur über das Genre, sondern auch über die Alltagserfahrung eine ästhetische und ideologische Differenz zu Marinetti. Die autobiografischen Erfahrungen sind den Werken insgesamt über eine Ambivalenz bezüglich der Einschätzung des Krieges als „zona di vita intensa“21 in einem identifikatorischen Sinn eingeschrieben. Soffici widmet seinen Text dem Major Alessandro Casati, den er als „esempio di pretta Italianità negli studi della pace e nelle azioni di guerra“ bezeichnet.22 Doch er, der selbst verwundet wird, beschreibt trotz der letztlich erfolgreichen Eroberung des Berges Kobilek die „sensazione vera della sinistra tragicità della guerra“23 in einem mehrschichtigen Sinn und lässt sein Buch mit einer satirisch markierten Szene im Lazarett enden. An die Schilderung seiner äußeren Erscheinung mit Augenklappe, Armschlaufe und Infanteristenhose, die ein Freund mit der von „Don Chisciotte dopo la battaglia col biscaino“ vergleicht, schließt er den Besuch der Herzogin von Aosta an, mit der er sich auf Französisch unterhält. Sie ist mit einem „fine spirito di parigina di razza regale“ ausgestattet und preist das Schlafen auf dem Boden als Soldatentugend.24 Der Kult der Intensität tritt bei Soffici im Sinne einer Distanznahme zum Kriegsgeschehen, das Gegensätze zwischen sozialen Schichten verschärft, deutlich gebrochen auf: „Mi domandò cosa pensassi della vita di guerra, ed io le risposi che mi pareva molto bella ed estremamente naturale. Dormire in terra è seccante, ma ci si abitua e il risposo è forse più grande. [...] Accusò noi scrittori, noi uomini di studio, di aver inventato le case, dove si soffoca e ci si abbrutisce.“25

19 Martina Meidl: „Poesia e Grande Guerra“, in: Flavio Andreis/Gualtiero Boaglio/Michael Metzeltin (Hg.), Testualità e mito. Il discorso politico italiano dall’Ottocento ad oggi, Wien 2000, S. 117-134, hier S. 119. 20 Ebd., S. 129. 21 F.T. Marinetti [1913], S. 103. 22 Ardengo Soffici: Kobilek, Florenz 1966, S. 5. 23 Ebd., S. 13. 24 Ebd., S. 140. 25 Ebd., S. 140. 317

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Diese Ambivalenz gilt auch für Luis Trenkers Auseinandersetzung mit seinen Kriegserfahrungen aus Tiroler Perspektive in Berge in Flammen / Montagne in fiamme (1931). Er, der im Gegensatz zu Jahier und Soffici keine literarischen Berührungspunkte mit der italienischen Avantgarde hat, tut dies mit deutlicher Distanz zu seinem Erleben als Gebirgsjäger und in der Form eines klassischen Populärromans. Der Titel, der auf Deutsch und Italienisch erscheint, trägt in seiner Erstfassung den Untertitel Ein Roman aus den Schicksalstagen Südtirols, der sich auf die Grenzverschiebungen zwischen Italien und Österreich im Ersten Weltkrieg bezieht, die im Vertrag von Saint-Germain geregelt werden und der bezeichnenderweise in späteren Fassungen getilgt wird.26 Der Text wird durch die fiktive Figur des Tirolers Dimai perspektiviert, der erst in Galizien kämpft und schließlich mit Eintritt der Italiener in den Krieg an die italienisch-österreichische Front nahe seines Heimattals versetzt wird.27 Während auch dieser Roman eine (lokal-)patriotische Färbung aufweist – die italienischen Truppen werden bereits im Vorwort als „Gegner“ 28 eingeführt –, steht die Erzählung gleichzeitig im Zeichen der Freundschaft der Protagonisten Florian Dimai und Arturo Franchini, die an entgegengesetzten Frontabschnitten in den norditalienischen Alpen nahe Cortina d’Ampezzo kämpfen. Wie in den anderen beiden Texten wird hier die Gebirgswelt als vom ‚Kameradschaftsgeist‘ geprägtes Universum gezeichnet, das im Zeichen der Intensität keine Vergänglichkeit und Begrenzung kennt: „Zwei Bergsteiger sitzen auf dem Gipfel der hohen Felskuppe. Sie schauen ins Bergland. Zwei Hände greifen ineinander. „Dimai“, sagt Conte Franchini, „wir haben ein schönes Sprichwort, du kennst es vielleicht: Le montagne stanno ferme, / Gli uomini camminano! / Die Menschen kommen und gehen, / Aber ewig stehen die Berge!“29

Die drei Werke stellen auf unterschiedliche Weise Fragen nach der Grenze des menschlich Machbaren und loten über den Konflikt von Mann, Berg und Krieg das Verhältnis von Natur, Kultur und Technik, aber auch von Aktion, Bewegung und Kontemplation aus. Dabei stehen einerseits 26 Luis Trenker: Berge in Flammen, Wien 1949. 27 Eine klassisch autobiographische Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg liefert Trenker 1977 mit dem Buch Sperrfront Rocca Alta. Der heroische Kampf um das Panzerwerk Verle. Meine Zeit 1914-1918 (München, Verlag J. Berg) sowie einer TV-Dokumentation mit dem gleichen Titel. Sie ist im DVD-Set „Berge in Flammen“ enthalten (101 Pixel, 2004). 28 L. Trenker: Berge in Flammen, S. 5. 29 Ebd., S. 334. 318

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das Außergewöhnliche und Existentielle, andererseits – wesentlich weniger futuristisch – das wenig rühmliche Schicksal der Masse bzw. des ‚einfachen Soldaten‘ in einem spezifisch verorteten Kontext im Vordergrund. Obwohl sie ästhetisch sehr unterschiedlich einzuordnen sind, ist ihnen gemeinsam, dass sie regionale Randtexte der Avantgarde sind.30 Elemente des Phantastischen wie technisierte Schöpfungs- und Kriegsphantasien, wie sie aus dem Manifesto del futurismo und Marinettis ‚afrikanischem‘ Roman Mafarka le futuriste (1908/10) bekannt sind, treten hier nicht auf den Plan; die Inszenierung von Technik im Kontext der Bezwingung der Bergwelt wird in den Texten weitgehend auf eine lebens- bzw. kriegsweltliche Dimension reduziert – abseits von ‚klassisch‘ futuristischen Inszenierungen (der Destruktion).31 Sie bieten damit in Hinblick auf die Rezeptionsebene stärker erfahrungsbasierte Identifikationsmöglichkeiten an.

B e r g e i n F l am m e n Bergfilm und Cinema di montagna Aus Trenkers Roman wird noch im Erscheinungsjahr 1931 unter dem gleichen Titel ein Autorenfilm, der dem Genre des Bergfilms zuzurechnen ist und als deutsch-französische Koproduktion internationale Erfolge feiert. Parallel dazu entstehen auch eine französische und amerikanische Version mit national unterschiedlichen Teams, aber Trenker in der Hauptrolle (Les Monts en flammes, 1931 bzw. The Doomed Battalion, 1932). Der Bergfilm, der in der Zwischenkriegszeit seinen ersten transalpinen Boom erlebt und als Subgenre des Heimatfilms gilt, verkörpert über seine visuellen Möglichkeiten und seinen Produktionskontext noch deutlicher als die Kriegsliteratur den Kult der Intensität. Schon in Stummfilmen wie Maciste alpino von Luigi Romano Borgnetto und Luigi Maggi (1916), der an Giovanni Pastrones Cabiria (1914) anschließt und unter seiner Supervision entsteht, wird über den Darsteller der Figur des Maciste, Bartolomeo Pagano, die für das Genre typische athletische Körper30 Ausgerechnet der Secolo d’Italia, das Organ der Alleanza Nazionale, widmet im Dezember 2006 den „intellettuali della montagna“ einen Artikel und schreibt u.a. Jahier und Trenker in diesen Kontext ein. (Vgl. Luigi G. De Anna: „Gli intellettuali della montagna“, in: Secolo d’Italia, 05.12.2006. S. 10-11.) 31 Vgl. zum Verhältnis von Technik, Avantgarde und Populärliteratur: Birgit Wagner: Technik und Literatur im Zeitalter der Avantgarden, München 1996, S. 33-38. 319

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ästhetik in Szene gesetzt; dies geschieht nicht zuletzt über den Handlungskontext des Ersten Weltkriegs und den Eintritt Italiens in den Krieg. Der Film trägt aber v.a. auch zur gesteigerten (inter-)nationalen Popularität der Figur des Maciste, ihres Darstellers Pagano und des (patriotischen) Bergfilms kommerzieller Prägung bei.32 Charakteristika des Bergfilms modernistischer Prägung, wie ihn Luis Trenker in den 1920er und 1930er Jahren vertritt, sind demgegenüber neben den extremen topografischen Bedingungen Laiendarstellertum, Improvisation und die Arbeit in kleinen Teams; auf klassische Funktionsverteilungen zwischen SchauspielerInnen und Kameraleuten wird verzichtet. Denn das dem Genre (wie der Moderne insgesamt) eigene Bild von Authentizität und Männlichkeit im Sinne der Inszenierung eines neuen, jugendlichen, überdurchschnittlich kraftvollen und schönen Menschen macht das Drehen abseits der Studios, also im Hochgebirge, und den vollen körperlichen Einsatz zu einem Muss.33 Dazu gehört, dass wie in Arnold Fancks Stummfilm Der heilige Berg (1926) auch Lawinen künstlich ausgelöst werden, unter denen SchauspielerInnen wie Leni Riefenstahl dann ihrer Bergung harren müssen. Statt zögernd-fragiler Figuren stehen heroische alpine Cowboys im Zentrum, die wie die von Luis Trenker verkörperten Figuren ihren Körper ohne Einschränkungen der Gefahr aussetzen.34 Sie werden zwar nicht in einem technisch-phantastischen Verständnis als Maschine gezeichnet, aber ihre Körper erscheinen als „Körperpanzer“ 35, die vital, asketisch-athletisch und unanfällig für Sentimentalitäten sind bzw. diese im Zeichen eines ‚höheren Ziels‘ unterdrücken. Trenker avanciert in den 1920er Jahren im Rahmen der so genannten Freiburger Schule über die Zusammenarbeit mit Arnold Fanck und Leni Riefenstahl zum prototypischen ‚Helden‘ dieses Genres, wird aber bald auch als eigenständiger Filmemacher des Bergfilms aktiv. Berge in Flammen ist nach Der Sohn der weißen Berge (1930) der zweite Autorenfilm Trenkers, in dem er nicht nur spielt, sondern – noch im Team mit Karl Hartl, ehemals Assistent von Alexander Korda – auch für die Regie und das Drehbuch verantwortlich zeichnet. Aus dem Freiburger Milieu 32 Piero Canotto: „Il cinema di montagna in Italia“, in: Aldo Audisio/Stefan König (Hg.), Il mito di montagna in celluloide. Luis Trenker, Turin: Museo Nazionale della Montagna Duca degli Abruzzi/Club Alpino Italiano Turin 2000, S. 67-86, hier S. 67-71. 33 A. Pfabigan: „‚Kopf hoch!‘“, S. 25. 34 Julia Friehs/Daniel Winkler/Marie-Noëlle Yazdanpanah: „Alpine Medienavantgarde? Luis Trenker, der John Wayne der Dolomiten“, in: Sinnhaft. Journal für Kulturstudien 21 (2008), S. 80-91, hier S. 82. 35 Klaus Theweleit: Männerphantasien 2, in: ders.: Männerphantasien 1+2, München, Zürich 2000, S. 12. 320

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stammen auch einige andere Mitwirkende von Berge in Flammen, wie der Kameramann Sepp Allgeier, mit dem Trenker bis Ende der 1930er Jahre eng zusammenarbeitet.36 Im Gegensatz zum Roman ist der Film nicht nur – wie es im Vorwort heißt – als „Gruß [...] an alle Kameraden, an die Berge und an die Heimat“ 37 konzipiert. Berge in Flammen weist vielmehr eine politisch und ästhetisch mehrdeutige Anlage auf, die ihn weder als deutsch-österreichischen Propagandafilm noch als klassischen internationalistischen Antikriegsfilm charakterisieren lässt. Der Streifen ist zudem der einzige Film Trenkers aus den frühen 1930er Jahren, der sich mit Italien über den (Süd-)tiroler Kontext hinaus auseinandersetzt. Ihm folgen ab Mitte der 1930er Jahre eine Reihe von in Italien und auf Italienisch produzierten Spielfilmen und Dokumentationen, die einen (unfreiwilligen) Bruch Trenkers mit der deutschen Filmproduktion der NS-Zeit markieren. Am bekanntesten ist der in der Renaissance zwischen Dolomiten, Florenz und Rom angesiedelte protofaschistische Streifen Condottieri (1937), den Trenker zusammen mit Werner Klingler als italienisch-deutsche Koproduktion dreht. Er thematisiert die vom Filmhelden Giovanni Medici (Luis Trenker) und seinen Truppen anvisierte Einigung Italiens, die sich nicht realisiert, aber als Vision für die Zukunft dargestellt wird. Der Film, der bis heute unter Kopierschutz steht, baut dabei auf Naturmythik, große Aufmärsche sowie „gralsartige“ Settings; sowohl die italienische als auch die deutsche Regierung haben für die Produktion Soldaten bzw. SS-Männer zur Verfügung gestellt. Der Film wurde immer wieder als Analogie auf Mussolinis Marsch nach Rom und als papistischer Streifen gelesen. In der unzensierten Fassung enthält Condottieri u.a. eine Sequenz, in der ein SS-Mann vor Papst Pius XI. kniet; er endet mit Bildern von dem in einer Kirche aufgebahrten Sarg Giovannis. Dies hat Vertreter des NS-Regimes wie Joseph Goebbels deutlich verstimmt; sie gehen zunehmend auf Distanz zum einstigen Lieblingsregisseur Trenker, der zudem 1940 in der Optionsfrage Südtirols lange zögert.38

36 In Berge in Flammen wirken weiters Albert Benitz und Giovanni Vitrotti als Kameraleute mit. Benitz arbeitet mit Trenker vereinzelt bis in den 1950er Jahren zusammen, Vitrotti nur anlässlich der verschiedenen Versionen von Berge in Flammen. 37 L. Trenker: Berge in Flammen, S. 5. 38 Franz A. Birgel: „Luis Trenker: A Rebel in the Third Reich? ‚Der Rebell‘, ‚Der verlorene Sohn‘, ‚Der Kaiser von Kalifornien‘, ‚Condottieri‘, and ‚Der Feuerteufel‘“, in: Robert C. Reimer (Hg.), Cultural History through a National Socialist Lens. Essays on the Cinema of the Third Reich. Rochester, New York 2000, S. 37-55, hier S. 48-54. 321

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Coll’alto Das intensive (Er-)Leben der Bergwelt spielt in Berge in Flammen, der in der Nähe von Innsbruck gedreht wird, eine zentrale Rolle, allerdings weist der Streifen über seine Anlage als Kriegsfilm eine ästhetische Differenz zur Kriegsliteratur und zu vielen Bergfilmen auf: Hier steht nicht die anonyme und solidarische Masse der Soldaten im Zentrum, wie etwa in Con me e con gli alpini, und nur scheinbar eine Männerfreundschaft wie in Kobilek: Der Römer Arturo Franchini (Luigi Serventi) und der Tiroler Florian Dimai (Luis Trenker) haben sich als Bergsteiger und Bergführer vor dem Ersten Weltkrieg in den Dolomiten kennen gelernt und geraten im Krieg unmittelbar an die entgegen gesetzten Seiten der alpinen Front, ohne sich aber körperlich zu begegnen. Während der Aristokrat Franchini eine höhere Position einnimmt und die italienische Besetzung von Cortina d’Ampezzo, Dimais Heimatort, leitet, repräsentiert der von Trenker verkörperte k.u.k. Kaiserjäger Dimai den populären ‚Helden‘ der Bergwelt und des Films, dessen Division unweit von Cortina auf dem Coll’alto stationiert ist. Die Dolomiten werden hier anhand dieses Gipfels, analog zur Charakterisierung der Protagonistenfigur, in mehrfacher Hinsicht als „Steigerungsraum“39 inszeniert: Sie sind Ort der Frontstellung zwischen Österreich und Italien sowie der zentrale Handlungsort, der nur an wenigen Stellen – zu Beginn sowie gegen Mitte und Ende des Krieges am Coll’alto – über Szenen im Tal kontrastiert wird. Über eine Rahmenhandlung, die die beiden Protagonisten im August 1914 und August 1931 beim Bergsteigen zeigt, steht der Film über den Kriegskontext hinaus unter dem Zeichen der Kameradschaft. Trenker dreht mit dem Streifen seinen einzigen ‚Actionfilm‘, indem er die modernistische Bildästhetik des Bergfilms der Stummfilmzeit mit einer Intensivierung der Montage paart: Er arbeitet mit genretypischen Szenarien der Bedrohlichkeit, die hier aber im Filmverlauf immer wieder im Zeichen der Beschleunigung und der Ästhetisierung des Lebens stehen (z.B. Abfahrten im Kugelhagel). Während der Filmbeginn klassische Panoramabilder von Bergmassiven im Nebel bei einer Gipfelbesteigung von Franchini und Dimai in Friedenszeiten zeigt, schließt sich schon kurz darauf eine Sequenz an, die den alpinen Kriegsschauplatz verortet und über rascher wechselnde Einstellungen einen Kontrast bildet: Nahaufnahmen von schneeverhangenen Bergen werden mit rasch wechselnden Einstellungen von Drahtgrenzziehungen und einem Gipfelkreuz als Todeszeichen, von im Schnee liegenden Soldaten in Frontstellung, Transportmanövern zur Errichtung einer Holzbaracke sowie von ersten Schuss-

39 P. Felsch: Laborlandschaften, S. 7. 322

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wechseln, Explosionen und Verletzungen gezeigt. Daran schließen sich zwei kurze Sequenzen an, in denen die beiden Kriegsparteien den Status quo besprechen und erstmals das Italienische als Filmsprache zum Einsatz kommt. Während auf österreichischer Seite ein er’ster Rückzug in die Baracken die prekären Verhältnisse auf dem Coll’alto thematisiert, besprechen die Italiener die Einnahme dieses Gipfels unter der Führung von Franchini. Neben abendlichen Szenen aus dem Lager der k.u.k. Truppen folgt der erste Versuch der Italiener, den Gipfel einzunehmen. Kurz: Der Film baut über die Schilderung des Alltags der Soldaten im Hochgebirge und die modernistische Inszenierung der Berglandschaft auf eine Ästhetik des Kontrasts und der Aktion. Die Filmsprache ist zwar nicht als futuristisch einzuordnen, markiert den Streifen aber als populärkulturelles Werk mit ästhetischen wie ideologischen Berührungspunkten zu dieser ersten italienischen Avantgarde. Diese ambivalente Position prägt Trenkers Film wie die Kriegstagebücher Jahiers. Sie setzen Aspekte eines energetisch-dynamischen Weltbildes über eine kontrastive Ästhetik der Beschleunigung um, berichten aber auch Kriegserlebnisse der ‚einfachen‘ Soldaten und beschwören den Kameradschaftskult.

Bohren, Sprengen, Vibrieren Auf einer ästhetischen Ebene werden die modernistischen Aspekte des Films eng mit der Kriegsdynamik verwoben. Nach dem erfolglosen Versuch, den Gipfel zu stürmen, versuchen die italienischen Truppen, den Coll’alto unterirdisch zu bezwingen. Die Bohraktionen, das langsame Vordingen über einen Tunnel und das anschließende Sprengen machen die technophile Megalomanie des Krieges deutlich. Der Berg, der mit ‚natürlicher‘ Körperkraft alleine nicht bezwungen werden kann, wird technisch von innen erzwungen. Ideale, die aus den oben zitierten Manifesten und Tagebüchern unter unterschiedlichen Vorzeichen bekannt sind, stehen wie Leitmotive über dieser Szenerie: der Patriotismus, der menschliche Machbarkeitswahn, die militaristische Zerstörung und die Beschleunigung. Die Bohr- und Sprengaktionen und das langsame Vordringen der Italiener strukturieren den Film nicht nur ab seinem zweiten Drittel, sondern erzeugen auch eine Ästhetik der Akzeleration und die psychologische Spannung des Streifens: Das Bohren wird über eine Besprechung zweier italienischer Militärs, die über einem Plan des Coll’alto sitzen, erstmals zum Thema. Es schließen sich Aufnahmen an, die den Tunnel und Soldaten bei Bohr- und Sprengarbeiten zeigen. Neben explikativen Bildern, die den Vorgang deutlich machen (z.B. Abtransport von Geröll), sind insbe-

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sondere die Nahaufnahmen von Bedeutung, die abwechselnd die langen Bohrstäbe bzw. das Zündmaterial in der Wand sowie die bohrenden Soldaten über Einstellungen der Gesichter und der Beine zeigen. Die Bilder sind nicht nur durch das Moment der Bewegung der Maschine charakterisiert, sondern auch durch das der Körper, die über sie in Vibration versetzt werden. Die Einzelaufnahmen repräsentieren zudem nicht nur – wie bei Marinetti40 – das Vibrieren als Steigerungsform der Bewegung, sondern versinnbildlichen auch über die z.T. unscharfen, mehr vibrierenden als bewegten Bilder die psychologische (An-)Spannung, der die Soldaten in den dunklen Baracken am Gipfel wie die ZuseherInnen im Kinosaal ausgesetzt sind. Während kürzer gehaltene Bohr- und Sprengszenen über ähnliche Aufnahmen, v.a. von den Bohrstangen und Zündschnüren, mehrmals wiederkehren, ändert sich nach und nach ihre Kontextualisierung. Wird die erste Bohrszene noch durch poetische Gipfelaufnahmen mit dem ins Heimattal blickenden Dimai kontrastiert, der Geröll am unteren Bergteil herunterfallen sieht, so werden dem in der Folge abendliche, fast wortlos gehaltene, statische Aufnahmen vom Inneren des Gipfellagers in Form einer Parallelmontage entgegengehalten. Bohr- und Sprenggeräusche werden nun auch in der Unterkunft am Gipfel spür- und hörbar. Die Vibration der Bohrmaschinen wird im Sinne der der Intensität eigenen Momente der Wiederholung und des (emotionalen) Überschusses zunehmend zu einem Sinnbild für die innere Verfasstheit der Soldaten am Gipfel und die exzessive, traumatisierende Form der Intensität der alpinen Kriegserfahrung.41 Das alpine Imaginäre ist hier untrennbar mit einem medientechnischkünstlerischen Modernismus verbunden und Trenker verzichtet weitgehend auf die für den frühen Bergfilm typischen langen handlungslosen Sequenzen, in denen die Berglandschaft der Kontemplation freigegeben wird. Neben einer dynamisierten Inszenierung der Berglandschaft setzt er über das Leitmotiv der Vibration auf Psychologisierung und Spannung: Die von Lagertraumata geprägten Soldaten sind Gefangene in ihrer eigenen Bergstation und können diese nicht ohne ‚Verrat‘ der Heimat verlassen (wie Leutnant Kall, der Stationsleiter, im weiteren Verlauf betonen wird: „Ihr wisst, worum es geht: um Tirol, um eure Heimat.“). Die Vibration bildet so auch einen Gegenpol zu den Wünschen der Soldaten und macht deutlich, dass Berge in Flammen nicht nur Momente eines 40 Vgl. das Manifest „Distruzione della sintassi. Immaginazione senza fili. Parole in libertà“: „Non perderà tempo a costruire i periodi. […] Unica preoccupazione del narratore rendere tutte le vibrazioni del suo io.“ Marinetti [1913], S. 103-104. 41 E. Kleinschmidt: Die Entdeckung der Intensität, S. 13. 324

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Antikriegsfilms, sondern auch eines Heimatfilms in sich trägt. Die Soldaten wollen den Krieg beendigt sehen und zurück ins Tal zu ihren Familien. Sie, wie die mit ihnen indentifizierten ZuschauerInnen, hoffen auf eine zeitliche Entschleunigung (der Bohraktion) und Rettung vor der erwarteten Sprengung, die Dimai erst in letzter Minute herbeiführen wird.

Körper in Bewegung Im Mittelpunkt stehen bei Trenker eindeutig die österreichischen Kaiserjäger am Gipfel. Franchinis Truppe wird nur über kurze Passagen und meist fixe, dunkel gehaltene Einstellungen ins Bild gerückt – wie bei der Sprengungsaktion – und als technisch gut ausgestattet in sicheren Zonen im Tal und in Innenräumen gezeigt. Auffallend ist, dass die Charakterisierung der Figuren und Gruppen entlang von binären Oppositionen verläuft: Berg versus Tal, Körper- versus Technikeinsatz, statische versus Bewegungsbilder und helle versus dunkle Einstellungen.42 Anders als in vielen Kriegsberichten und in der futuristischen Beschwörung des Krieges verzichtet Trenker aber auf das In-Szene- Setzen kriegerischer Handlung; die Annäherung der Truppen erfolgt lediglich über die Beschleunigung der Montage. Diese Dramaturgie beschreibt die Situation im Hochgebirge, wo die Intensität des Kriegserlebens, also Angst- und Erregungsgefühle auch auf die Ungreifbarkeit und Unsichtbarkeit der Masse bzw. der gegnerischen Truppen zurückgeführt werden können.43 Den Prinzipien des Alpinismus und dem damit verbundenen Körpereinsatz kommt den ganzen Filmverlauf hindurch eine positive Wertschätzung zu. Dieser Aspekt wird über die von Trenker selbst verkörperte (fiktive) Figur des Florian Dimai deutlich. Wie in den meisten TrenkerFilmen der Zwischenkriegszeit ist sie ein aus dem ‚einfachen Volk‘ stammender, aber herausgehobener, athletischer ‚Held‘ mit großem Identifikationspotential: Trenkers Held unterscheidet sich deutlich von anderen Bergfilmhelden seiner Zeit wie dem alpinen Maciste von Luigi Romano Borgnetto und Luigi Maggi. Dimai ist zwar kräftig, aber kein tumber Muskelprotz. Er symbolisiert als neuer Männer- und Menschentypus die ästhetischen, intellektuellen und moralischen Ideale seiner Zeit. Der ‚neue Mensch‘ wird in dieser Figur im Sinne eines Freisetzens von Körperenergie und Leben gepriesen. Ein wesentliches Element der Tren42 Diese entsprechen aber nicht nur den nationalen Fronten: Zwar pirschen sich die Italiener über den Tunnel hinterrücks und passatistisch heran, aber auch die oberen Militärs der österreichischen Truppen werden in Innenräumen gezeigt. 43 K. Theweleit: Männerphantasien, S. 41. 325

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ker’schen Moral ist dabei, dass der Protagonist sich der Gefahr des Krieges für die Gemeinschaft aussetzt, ohne aber sein Propagandist zu sein: Er geht zwei Mal unter Lebensbedrohung auf Patrouille, um zu erkunden, wo gesprengt wird bzw. wie weit die Vorbereitungen der Sprengung fortgeschritten sind. Beide Szenen, die in einer Logik der Steigerung aufeinander aufbauen, stehen unter dem Zeichen der Intensität und zeigen den Protagonisten in doppeltem Sinne als „hochstehendes Ich“44, integrieren aber auch Kriegskritik. Die erste Exkursion unternimmt Dimai auf den benachbarten Berg Fanesturm mit sechs anderen Soldaten. Während die auch farblich dunkel gehaltenen Sequenzen vom Gipfellager über Heimweh und Postzensur, die klimatischen Bedingungen und die Materiallage kriegskritische Aspekte schildern und vom „Saukrieg“ (Dimai) die Rede ist, sind die Außenaufnahmen durch Schneelandschaft und einige wenige Soldaten sowie deren athletische Körpersprache geprägt. Dem Moment des Statischen am Gipfel werden Einstellungen entgegengesetzt, die die körperliche Beweglichkeit unter Kugelhagel beschwören und von einer Intensivierung der Montage geprägt sind. Zentral sind hier Abfahrtsszenen, die unter dem Motto der beschleunigten Körper stehen: Anstatt einer Beschwörung der Technik bezieht sich das Moment des Heroischen auf die Leistung des Einzelnen unter extremen Bedingungen. Die Körper der Soldaten, die mit weißen Anzügen bekleidet sind, sind kaum von der weißen Berglandschaft abgehoben, bewegen sich schwungvoll und symmetrisch den Berg hinab – ohne von den Geschossen verletzt zu werden. Zu melodramatischer Musik, die über den Einsatz von Alphörnern auch volksmusikalische Momente enthält, vollziehen die Soldaten fast tänzelnde Bewegungen, die an Leni Riefenstahls Filme erinnern, bis sie unter dem Feuer der Italiener landen. Das Geräusch der Maschinengewehre löst die Musik ab und das Tempo der Soldaten gleicht sich dem des Kugelhagels an. Die Schnittfrequenz wird deutlich erhöht und es folgen Kriegsbilder, die einer stärker avantgardistischen Ästhetik folgen. Sie tragen die Handschrift von Trenkers Kameramann Sepp Allgeier, der u.a. auch bei den avantgardistischen NS-Propagandafilmen Der Sieg des Glaubens und Triumph des Willens (1933/35), die die Nürnberger Reichsparteitage 1933 und 1934 in Szene setzen, mitgewirkt hat. Die Aufnahmen sind durch das Moment der Unschärfe im Sinne einer Dynamisierung der Bilder geprägt; der Schnee wird durch Geschosse und Abfahrtstempo so aufgewirbelt, dass die Konturen verschwimmen und die Abfahrtsszenen das Leitmotiv der Vibration auf ei-

44 Ebd., S. 54. 326

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ner bildästhetischen Ebene aufnehmen.45 Kurz: Der ‚neue Mensch‘ muss im Sinne der Intensitätssteigerung den unwirtlichen Bedingungen mit seinen körperlichen Kräften allein trotzen. Die Bilder beschwören zwar Kraft und Form der ‚bloßen‘ Körper in der ‚reinen‘ Natur, allerdings wird die entsprechende Ästhetik erst über den Einsatz der modernen Medientechnik erzielt. Doch das Hochgebirge wird nicht nur im Sinne einer modernistischen Bewegungsästhetik als Ort des Vitalismus inszeniert; im Rahmen des Patrouillengangs wird die Berglandschaft auch im Marinetti’schen Sinn zu einer „zona di vita intensa“46: An die Abfahrtsszene schließt sich eine Bergfilmsequenz an, die einen ästhetischen Bruch vollzieht und auf die Kriegsereignisse fokussiert: Während fünf der Soldaten am Bergrumpf warten und militärische Deckung geben, steigt Dimai mit seinem Kollegen Innerhofer auf den Gipfel des Fanesturm. Wie in den Szenen mit Franchini zu Anfang und Ende des Films wird Dimai die Rolle des Überlegenen zugeschrieben; er klettert voraus und zieht seinen Freund nach sich. Die beiden erspähen den Tunneleingang der Italiener am Coll’alto, die den Stollen gerade mit Sprengstoffkisten beladen. Während sie weiterziehen und Rast machen, um in ihr Heimattal hinabzublicken, wird Innerhofer erschossen. Die filmische Dramaturgie fokussiert also nach und nach im wörtlichen und metaphorischen Sinn auf einen „hochstehenden“ Einzelnen, der prototypisch für das intensive (Er-)Leben des Krieges im Hochgebirge steht und seine Beobachtungen nur seinem Leutnant, aber nicht ‚der Masse‘ der Kameraden mitteilt.47 Auch die Figurenzeichnung der Rahmenhandlung ist von dieser Logik geprägt: Hier werden Franchini und Dimai zwar als Freunde geschildert, aber ihre Charakterisierung weist gleichzeitig eine klare Hierarchisierung auf. Mit der interkulturellen Bergbesteigung des Fanesturm bzw. des Coll’alto von Franchini und Dimai in Friedenszeiten am Beginn bzw. Ende des Films wird die Kameradschaft als Extremform „männlicher Vergemeinschaftung“48 über Kriegszeiten hinweg beschrieben. Doch gleichzeitig wird Franchini hier als römischer Aristokrat klar ‚fremd‘ markiert; Dimai ist als Tiroler Bergführer schon in der Eröffnungsszene der überlegene Protagonist, der Franchini vor dem Absturz beim Klettern rettet. Während Dimai klassisch maskuline Körpereigenschaften wie

45 46 47 48

E. Kleinschmidt: Die Entdeckung der Intensität, S. 13. F.T. Marinetti [1913], S. 103. K. Theweleit: Männerphantasien, S. 47-48. Wolfgang Schmale: Geschichte der Männlichkeit in Europa (1450-2000). Wien u.a. 2003, zit. n. Ute Frevert: Geschichte bewegt. Über Spurensucher und die Macht der Vergangenheit, Hamburg 2006, S. 197. 327

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Kraft, Größe und Stärke zugeschrieben werden, wird Frachini zudem durch seine schmächtigere Figur deutlich feminisiert.

B e r g u n d T al Im Sinne eines alpinismo eroico populärkultureller Prägung steht Dimai für das Unterordnen von sozialen und familiären Bindungen unter ‚höhere‘, (lokal-)patriotische gemeinschaftsstiftende Ziele im Sinne einer „Opferfunktion“, die ab dem 19. Jahrhundert Teil der männlichen Geschlechteridentität wurde.49 Im Vordergrund steht hier aber nicht die „pflichtgemäße Erfüllung eines Auftrages, sondern die subjektbildende Grenzüberschreitung im Konflikt zwischen zwei Normen“50, der Kameradschaft und der Familienbindung. Der Kaiserjäger, der sich immer wieder ohne Scheu der Gefahr aussetzt, versinnbildlicht über moralische Reinheit, athletische Schönheit und Heimatgefühl den ‚neuen Menschen‘. Die Ästhetik des Kitsches, die Trenkers Heimatfilme der Nachkriegszeit markiert und Elemente der Seifenoper vorwegnimmt, fokussiert die Berge demgegenüber nicht als Reservate intensiven (Er-)Lebens, sondern als Orte der Gefahr, wo sich zwielichtige oder gesellschaftlich geächtete Personen aufhalten – im Sinne einer Gefährdung der kleinbürgerlichen Idylle. Dies ist beispielsweise in der italienisch-deutschen Produktion Prigioniero della montagna (Flucht in die Dolomiten, 1955) der Fall, an der Pier Paolo Pasolini als Drehbuchautor mitgearbeitet hat. Hier verkörpert Trenker den zu Unrecht des Mordes verdächtigten Giovanni Testa, der in die Berge flüchten muss, um der Justiz zu entkommen. Der Fokus wird aber v.a. auf das Tal als Ort der katholisch-kleinbürgerlichen Familienmoral gerichtet, in dem auch der zentrale Teil der Handlung und das letztendliche Happy End verortet werden. Derartige Streifen folgen also in Hinblick auf Raumlogik, Berg- und Körperinszenierung weniger dem Berg- als dem Heimatfilm und entbehren auch der innovativen Bildästhetik von Allgeier und Kollegen. Die davon klar abweichende Inszenierung Dimais als ‚Held der Berge‘ wird noch einmal anhand der zweiten Patrouille deutlich gemacht, die unter das Motto von Berg und Tal gestellt werden kann und der Er49 Ebd., S. 195-196. 50 Klaus Kanzog: Der Kampf als inneres Erlebnis. Der Traktat Ernst Jüngers ‚Kriegsbriefe gefallener Studenten‘ und der Mythos des Kämpfers in Luis Trenkers Film ‚Berge in Flammen‘, in: Marijan Bobinac (Hg.), Literatur im Wandel. Festschrift für Viktor Žmegač zum 70. Geburtstag, Universität Zagreb/Abteilung für Germanistik der Philosophischen Fakultät 1999, S. 309323, hier S. 318. 328

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mittlung des Zeitpunkts der Sprengung dienen soll. Bei der Suche von Leutnant Kall (Claus Clausen) nach Freiwilligen meldet sich Dimai und will alleine absteigen („Ein Einzelner kommt am leichtesten durch.“). Sein Weg in Richtung des italienischen Lagers wird im Stil des Bergfilms über Landschaftsaufnahmen eingeleitet. Während die sich anschließende Abstiegssequenz durch neoromantische Motive illustriert wird – Trenkers Filmkomponist Giuseppe Becce experimentierte hier mit Melodien des Liedes Wir Kameraden der Berge –, bricht die Musik bei Dimais Ankunft im Lager ab und ein italienisches Volkslied wird vernehmbar. Schon diese Leitmotive charakterisieren Dimai und die Masse der italienischen Soldaten als heroisch respektive harmlos. Dies wird besonders deutlich, wenn man den Originaltext von Wir Kameraden der Berge bedenkt, der Mut und Überlegenheit der Alpinisten über Höhenmetaphern und Steigerungsformen beschreibt.51 Dimai pirscht sich demgemäß gelassen an das Zeltlager der Italiener heran, beschafft sich Schi, Mantel und Hut der Gebirgsjäger und fährt in Richtung seines Heimatdorfes hinab.52 Auf diese Weise wird zum melodramatischen Höhepunkt übergeleitet, zur nächtlichen Ankunft Dimais im von den Italienern belagerten Cortina und der Begegnung mit seiner Frau Pia. Doch als Dimai erfährt, dass der Coll’alto am nächsten Tag gesprengt werden soll, ist er fest entschlossen, sofort wieder in Richtung Gipfel aufzubrechen, um das Leben seiner Kameraden zu retten. In buchstäblich letzter Minute gelangt er verwundet durch einen Kugelschuss von Tiroler Seite wieder auf den Gipfel; die Soldaten verlassen rechtzeitig vor der Sprengung die Baracke und können in der Folge die Stellung verteidigen.53 Wie zu Beginn leitet schließlich das Einblenden einer Proklamation des österreichischen „Kriegspresseberichts“ vom 17.04.1917, der das Kriegsende verkündet, auf die (Rahmen-)Handlung über. Anstatt eines destruktiven Gestus wird über die Texteinblendung sowie Dimais und 51 Vgl. „Wir Kameraden der Berge leben auf sonnigen Höh’n / Wir Kameraden der Berge sehen von oben die Welt / [...] / Es ist kein Weg uns zu steil und zu weit / Und keine Schlucht uns zu tief und zu breit / Wir Kameraden der Berge sind gegen alles gefeit.“ 52 Diese Abfahrt wird noch einmal von Becces Musik untermalt und stellt bezüglich Tempo eine Steigerung dar. Hier werden nicht nur Körperformen im Kontext der Natur unter dem Motto der Bewegung fokussiert, sondern Totalen mit Detailaufnahmen kontrastiert. Der den Berg hinab fahrende Dimai wird im Profil gezeigt und es werden Oberkörper bzw. Gesicht im Schneewirbel fokussiert. 53 Die Sprengung erfolgte in der Realität am 20.06.1916 (K. Kanzog: Der Kampf als inneres Erlebnis, S. 314). 329

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Franchinis Besteigung des Coll’alto zu Friedenszeiten das Prinzip der Wiederholung stark gemacht. Das Leitmotiv der Bewegung tritt über das Wandern und Klettern enttechnisiert und entschleunigt zu Tage – fern von Assoziationen der Vibration; das anti-bürgerliche Pathos der Intensität macht wieder kleinbürgerlichen Normen Platz. Trenkers Protagonist erweist sich so nicht nur als mutig und stark, sondern er führt auch eine Wendung des Schicksals und des Wertegefüges herbei: Mit der Rettung der Kameraden und dem Abschluss der Kriegshandlung am Coll’alto wird vom Kult der Intensität im Sinne eines „dynamisiert projizierten Lebens“54 Abstand genommen und dem Definitiven und Alltäglichen wieder Bildrecht zugestanden. Allerdings basiert diese pazifistische Rhetorik der ‚Normalisierung‘ auf einer Verleugnung von Konflikten: Der Alltag kann in Form einer Männerfreundschaft nur wieder Bildrecht erlangen, wenn das Außergewöhnliche, also das Kriegsgeschehen verschwiegen wird: Der Film thematisiert weder Kriegsgründe noch Ausgang des Krieges in einem überregionalen Sinn; Dimai und Franchini erwähnen ihre Kriegsbeteiligung an gegnerischen Fronten und den Status des nun italienischen Südtirols nicht.55 Berge in Flammen rückt so die Norm der Kameradschaft in Friedenswie in Kriegszeiten ins Zentrum. Kriegseinsatz und Alpinismus werden als Lebensformen geschildert, die den Menschen auf ähnliche Weise herausfordern, mit Aktion, Athletismus und Selbstüberwindung verbunden sind und keinen Raum für Reflexion lassen. Diese Form der Inszenierung von existenziellen Erfahrungen nimmt so Elemente einer präfaschistischen Ästhetik vorweg, ist aber im Kontext eines allgemein-gesellschaftlichen Verständnisses von Bio-Politik im frühen 20. Jahrhundert zu sehen, das auf einer „kollektiven emotionellen Intensität“ basiert.56 Nicht von ungefähr stehen insbesondere die meist wortlos gehaltenen Szenen der Bedrohung wie die Abfahrtseinstellungen unter dem Zeichen der bewegten, vibrierenden Körper und Bilder. Die männliche Symbiose mit der hochalpinen Natur, die sich bis in die Form- und Farbgestaltung niederschlägt, erlaubt keine ‚geschwätzige‘ Ablenkung.

54 E. Kleinschmidt: Die Entdeckung der Intensität, S. 12-13. 55 Lediglich über die Bildsprache wird der Krieg in der Rahmenhandlung bei der Besteigung des Coll’alto zum Thema: Aufnahmen des Gipfelkreuzes als Todessymbol, die für Trenker typischen Wolkenbilder gegen Filmende und Kriegsrelikte wie Grenzmarkierungen aus Draht und Stahlhelme thematisieren die Opfer des Krieges. K. Kanzog: Der Kampf als inneres Erlebnis, S. 318. 56 A. Pfabigan: „Kopf hoch!“, S. 7ff. 330

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Liebe in Zeiten des Krieges Auffallend ist im Kontext der Ambivalenz von Berg und Tal, dass der Komplex der Intensität hier zwar eng mit Fragen des athletischen und virilen Körpers verbunden ist, aber sexuelle Beziehungsformen ausgespart bleiben. Zwar findet der futuristische Anspruch des „disprezzo della donna“, wie er im Punkt 9 des Manifesto del Futurismo 1909 formuliert und von den in Italien breit rezipierten Schriften des Antifeministen Otto Weininger inspiriert wurde, bei Trenker (und in den Kriegstagebüchern) keinen manifesthaften Raum57. Doch wenn Trenker das Beziehungsthema nicht völlig eliminiert, so erscheinen die zentralen Leidenschaften des Protagonisten doch von sexueller Liebe befreit. Dimais Frau Pia, die wie viele Frauenfiguren in Trenkers Filmen der Zwischenkriegszeit mehr als Mutter denn als Geliebte gezeichnet wird, erscheint nur zu Filmbeginn bei der Verabschiedung (Kriegseinzug), einer kurzen Zwischenszene mit Kriegsversehrten und bei Dimais späteren Erkundungen im Tal kurz im Bild. Über den norddeutschen Akzent und die tragisch-theatrale Spielweise Lissy Arnas, die ihre Verankerung im Stummfilm- und Theatermilieu verrät, wird sie wie Franchini als ‚fremd‘ markiert. Die Rahmenhandlung macht zudem deutlich, dass ein Einbeziehen von (familiären) Alltagsrealitäten in die Bergwelt auch in Friedenszeiten als Normverstoß gilt. Pia kann samt Kind den Attraktionen des homoerotischen Gipfelkultes nichts entgegenhalten.58 Wenn man bedenkt, dass selbst Trenkers Mussolini’scher Condottieri noch einen rahmenden Liebesplot enthält, kann in Bezug auf Berge in Flammen von einem „deprezzamento dell’amore“ gesprochen werden.59 Denn die Liebe, die laut Marinetti zu seiner Zeit engstens mit dem Luxus verknüpft und so dem Verfall preisgegeben ist, scheint auch bei Trenker nicht mit dem Kult der (kriegerischen) Intensität in den alpinen Höhen vereinbar zu sein. Berg und Tal erscheinen in Uccidiamo il Chiaro di Lu57 F.T. Marinetti 1909, S. 6; A. Pfabigan: „‚Kopf hoch!‘“, S. 33. 58 Damit weicht die Ästhetik dieses Bergfilms deutlich von der von Arnold Fancks Der heilige Berg (1926) oder Leni Riefenstahls und Béla Balázs’ Das blaue Licht (1932) ab, in denen nicht nur Raum für Liebesbeziehungen ist, sondern weibliche Protagonistinnen auch einen deutlich zentraleren Stellenwert einnehmen und Zugang zum hochalpinen Raum haben. 59 Zwar wird, als Dimai wieder in Richtung Gipfel aufbricht, deutlich, dass einer verzweifelt nach ihm rufenden Frau mit Kind ein gerührter Ehemann gegenübersteht (K. Kanzog: Der Kampf als inneres Erlebnis, S. 116). Doch Dimais Anspannung und das Unterdrücken von Tränen zeichnen ihn v.a. als ‚Helden‘, der seine Gefühle unterdrückt und sich ‚gestählt‘ auf die ‚Tugend‘ der Kameradschaft konzentriert. (F.T. Marinetti [1913], S. 102). 331

DANIEL WINKLER

na und in Berge in Flammen unter dem Vorzeichen der Intensität als deutlich gegendert. In beiden Fällen wird der Gipfel zum Hort der virilen Futuristen und Krieger stilisiert. Scheitert bei Marinetti die dem Kult der Intensität abholde, harmlose und ‚verweichlichte‘ Masse der passatisti am Aufstieg, müssen bei Trenker Kinder, Frauen und Greise im Tal als Inbegriff des Kleinbürgertums zurückbleiben.

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R Ä D E R W E R K C AR A V A N S É R A I L . BEWEGUNG UND GESCHWINDIGKEIT FRANCIS PICABIA

BEI

SCARLETT WINTER In seinem literarischen Selbstporträt berichtet Man Ray von seiner ersten Reise durch Frankreich, zu der ihn sein Künstlerkollege Francis Picabia Anfang der 1920er Jahre einlädt.1 Die Fahrt mit dem Automobil, das Picabia steuert, erweist sich als Blitzjagd von Paris an die französische Steilküste. Die Schönheit der Landschaft vermag Man Ray − so bemerkt er mit einem gewissen Verdruss − kaum aufzunehmen, zu schnell fliegt diese als flüchtiges Bilderband an ihm vorüber, packt ihn zudem der Schrecken, wenn Picabia den Wagen rasant an den Rändern der abschüssigen Corniche manövriert. Man Ray durchschaut die übersteigerte Leidenschaft, die Picabia für schnelle Autos hegt. Sein Fotoporträt von 1924, das Picabia hinter dem Steuer seines Rennwagens in Cannes zeigt, trägt die Widmung „A Picabia en grande vitesse“.2 Die Effekte der Geschwindigkeit provozieren im Bild eine neue Sichtbarkeit. Verwischt sind die Konturen in der Bewegung des Fahrzeugs, das die Anwesenheit des Fahrers nur mehr erahnen lässt. Die Aufnahme fixiert nicht den Fahrer, sie ästhetisiert das Moment der Bewegung im Augenblick des Betrachters.

1 2

Vgl. Man Ray: Selbstporträt. Eine illustrierte Autobiographie, München 1983 [1963], S. 186-195. Es sei angemerkt, dass Picabia plante, dieses Foto auf der Titelseite seines Romans Caravansérail zu platzieren. In der „Introduction“ des posthum veröffentlichten Romans Caravansérail, Paris 1974, S. 7-19, schreibt LucHenri Mercié hierzu, S. 7f.: „Sur la page de titre: ,Francis Picabia, Caravansérail, avec une préface de Louis Aragon et un portrait de l’auteur par Man Ray, 1924.‘ […] C’est un instantané de l’auteur, au volant d’un de ses bolides. […] Francis Picabia, dans l’exercice de sa raison d’être.“ 333

SCARLETT WINTER

Abbildung 1: Man Ray: Fotoporträt von Picabia (1924)

Schnelligkeit und Geschwindigkeitsrausch als Grenzerfahrungen der menschlichen Existenz und Sinneswahrnehmung prägen maßgeblich die Lebens- und Denkweise Picabias und schreiben sich als Motiv- und Kompositionsstruktur ein in seine künstlerisch-literarische Praxis. Sie wird verstehbar im vielschichtigen Kontext der europäischen Avantgardebewegungen des frühen 20. Jahrhunderts, die mit neuen Verfahren, Techniken und Materialien experimentieren und dabei mit Begeisterung die Vernetzungen zwischen Technik, Ästhetik und Medialität neu ausloten und reflektieren. Neben den Dadaisten und Surrealisten sind es vor allem die Futuristen, die die Errungenschaften des technischen Fortschritts − vornehmlich technischer Apparaturen, Maschinen und Motoren − zur Steigerung bzw. Übersteigerung erfahrbarer Lebens- und Wahrnehmungsintensitäten nutzen. Bekanntermaßen propagiert Marinetti 1909 in seinem futuristischen Manifest Dynamik und Geschwindigkeit als Bedingungen einer neuen Zeit, in der die Maschinenästhetik besondere Bedeutung gewinnt. Der Rennwagen wird zur Schönheitsikone stilisiert, die der modernen Welt des Mechanischen Ausdruck verleiht; besungen wird der Mann, der „das Steuer hält, dessen Idealachse die Erde durchquert, die selbst auf ihrer Bahn dahinjagt“.3 Das Paradigma der Geschwindigkeiten, der Dynamik und Simultaneität, so wird deutlich, indiziert eine Unord3

Filippo Tommaso Marinetti: „Manifest des Futurismus“, in: Wolfgang Asholt/Walter Fähnders (Hg.), Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde, Stuttgart 1995, S. 4-7, hier: S. 5. 334

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nung und Umwertung bisheriger Lebens- und Welterfahrung. Tradierte Denkschemata und Normvorstellungen von Raum und Zeit werden ad absurdum geführt. Gleichzeitiges und Ungleichzeitiges, Nähe und Distanz, Mensch und Maschine werden in ihren Fixierungen aufgelöst und in paradoxer Weise in eins gesetzt. Die Futuristen und die ihnen nachfolgenden Avantgardebewegungen bahnen den Weg für eine Mythologie der Bewegung und Geschwindigkeiten, die eine neue Ästhetik des Sehens und der Sinne einfordert. In diesem konzeptuellen Spielraum der futuristisch-dadaistischen Avantgarde setzt Picabia als Medienkünstler und Grenzgänger zwischen Malerei, Literatur, Theater und Kino eigene Akzente der künstlerischen Gestaltung und Provokation. Er experimentiert mit ästhetischen Wahrnehmungsformen, Schreib- und Funktionsweisen der Bewegung und Beschleunigung, der Zirkulation, der Rhythmik, des Cut. Dabei werden nicht nur verschiedene Verfahren und Konzepte avantgardistischer Positionen zitiert, kombiniert und bisweilen ironisiert, sondern auch immer wieder Mediengrenzen und Diskurse unterbrochen, verschoben und neu verschaltet. Im Kontext der Avantgardebewegungen dominiert das experimentelle Zwischenspiel der Medien und Künste. Auf die Frage, warum er sich mit Literatur beschäftige, erklärt Picabia 1927 „weil Malerei Literatur“ sei.4 Die Grenzen des Einzelmediums (Literatur, Malerei, Theater, Film) werden im ästhetischen Prozess der „Verfransung“5 überschritten und verwischt. Die Geschlossenheit des Kunstwerks weicht einem offenen System medialer Brüche und Interferenzen. Unter diesem Blickwinkel eines Wandels literarischer und kulturästhetischer Paradigmen widmen sich die folgenden Ausführungen dem im Jahr 1924 verfassten (und erst 1974 veröffentlichten) Roman Caravansérail,6 einem Schlüssel- und Rätselwerk der historischen Avantgarde, das − so die These −, den Kult der Geschwindigkeiten, der Bewegungsläufe und der veränderten Wahrnehmungsmechanismen erkundet, damit zu4

5

6

Zit. nach Peter Funken: „Dada ist das Benzin und das Publikum der Motor“ (Vorwort), in: Francis Picabia: Caravansérail, Gießen 1988, S. 5-9, hier: S. 5. Vgl. zum Konzept der ,Verfransung‘: Theodor W. Adorno: „Die Kunst und die Künste“, in: ders.: Gesammelte Schriften 10/1, Frankfurt 1977, S. 432453. Nach Adorno fließen „die Grenzen zwischen den Kunstgattungen“ ineinander, „genauer: ihre Demarkationslinien verfransen sich“; siehe hier auch die von Apollinaire 1917 proklamierte ,Synthese der Künste‘: „la synthèse des arts, de la musique, de la peinture et de la littérature“ (Guillaume Apollinaire: „L’esprit nouveau et le poètes“, in: Œuvres complètes, hg. v. Pierre Caizergnes/Michel Décaudin, Bd. 2, Paris 1991, S. 943-954). F. Picabia: Caravansérail (1974). 335

SCARLETT WINTER

gleich verschiedene Spielarten und Provokationen einer medial reflektierten Imaginations- und Rezeptionsästhetik zur Anschauung bringt. Liest sich der Text zum einen als Gesellschaftsporträt und kritische Analyse moderner Großstadterfahrung zu Beginn der 1920er Jahre, erweist er sich zum anderen als avantgardistisch-hybrides Medienexperiment, das unterschiedliche Genres und Stile anspielt, mischt und dabei in fortschreitender Verzahnung die Ästhetik und Automatik einer Literatur der bewegten Bilder erzeugt. Bereits 1915 entstehen die ersten so genannten Maschinenbilder und dadaistischen Maschinenporträts Picabias und bringen seine Faszination für die Zusammenschau von Technik, Ästhetik und Bewegung zum Ausdruck. An der Seite Marcel Duchamps taucht Picabia 1915 in die New Yorker Künstlerszene ein und gerät in den Rausch sowohl eines ausschweifenden großstädtischen Nachtlebens als auch einer exzessiven Arbeitsphase mit dadaistischen und futuristischen Impulsen. Die hoch technisierte und mechanisierte Welt Amerikas inspiriert ihn zu neuen künstlerischen Ausdrucksformen.7 Die Maschine bzw. das Mechanische tendiert zur ästhetischen Provokation für das im engen Sinne nicht Kunstgemäße. Alltägliche, technische Gebrauchsgegenstände (Zündkerzen, Schrauben, Winden, Glühbirnen etc.) werden aus ihrem Bedeutungszusammenhang gerissen, durch Textfragmente verfremdet oder in neuen irritierenden Bild-Titel-Bezügen ausgestellt.8 Daneben entstehen Maschinenbilder − Marie (1917), Novia (1917), Le papa (1919) − in denen der abstrakte Entwurf des Mechanischen dominiert und der Eindruck zum Teil einfacher, zum Teil komplexer Bewegungs- und Schaltsysteme entsteht. Hier dominieren Kreise, Linien, Scheiben und Punkte, dargestellt als schlichte geometrische Formen, als Knöpfe oder auch Köpfe, Schnüre und Seile, angeordnet in wohl kalkulierten Modellen und Schaltplänen, die Spannungsmomente zwischen Mensch und Maschine, zwischen Bewegung und Stillstand, Wort, Bild und Ton evozieren. Je nach Les- und Sehart mögen sich im Kopf des Betrachters diese mechanischen Apparaturen und Skizzenmodelle in Bewegung setzen, beschleunigen, surren, ja lärmen, im Automatismus des Räderwerks einrasten und laufen oder auch überdrehen und 7

8

Vgl. den Kommentar Picabias in der Zeitschrift New York Tribune (24.10.1915), zit. nach: Elke Orth: Das dichterische Werk von Francis Picabia, Frankfurt/Main 1994, S. 76: „Almost immediately coming to America it flashes on me that the genius of the modern world is in machinery and that through machinery art ought to find a most vivid expression.“ So trägt beispielsweise das Bild einer Zündkerze den Titel Portrait d’une jeune fille américaine dans l’état de nudité (1915), das Bild einer Glühbirne den Titel Américaine (1917). 336

BEWEGUNG UND GESCHWINDIGKEIT BEI FRANCIS PICABIA

eskalieren. Suggeriert die Mechanik der Bilder einerseits Regelhaftigkeit und Automatik, birgt sie andererseits immer wieder das Moment des Zufalls, auch des Unfalls im System. Gefährlich haltlos balanciert (auf der ersten Seite des von Picabia entworfenen Ballettprogramms Relâche) ein Tänzer auf dem Schalterhebel eines Radsystems, das ihn, wie die zerfallende Buchstabenkette unter ihm − VIVE LA VIE − , mit der nächsten Bewegung, dem nächsten Wortschwall aus dem Megaphon, in die Leere werfen könnte. Dieses reizvolle, gleichsam unwägbare Kalkül zwischen Mensch und Motor, Zufall und Notwendigkeit, Maß und Exzess, Wort und Bild, welches die Maschinenporträts ebenso wie die poèmes-dessins9 der DadaZeit spannungsvoll markieren, gewinnt in Picabias Romanwerk Caravansérail − so gilt es zu zeigen − eine eigene thematische und stilistische Schärfe. Die in der Maschinenmalerei projektierte Bewegung gestaltet der Roman in der Progression der erzählten Bilder, seiner narrativen Verfahren der Verschachtelung, Beschleunigung und Verrätselung. Zwölf durchgängig nummerierte Kapitel reiht Picabia in Caravansérail aneinander. Wird damit zunächst der Anschein eines chronologischen, Kontinuität stiftenden Diskurses geweckt, verrät die Lektüre indes den skizzenhaften Entwurf einzelner Momentaufnahmen, in denen Gedanken, Personen und Orte aufscheinen, miteinander verknüpft werden, um im nächsten Moment wieder auseinander zu stäuben. Nicht zufällig nennt Luc-Henri Mercié den Roman „une suite de tableaux − ce qui est la moindre des choses pour un peintre“10 und signalisiert damit sowohl die Bildhaftigkeit der literarischen Schreibweise als auch die Fragmentarizität ihrer Komposition. Gleich szenischen Fragmentstücken fügt Picabia die Kapitel lose aneinander und stellt sie als eine temporeiche Folge wechselnder Szenerien und Einstellungen aus. Die Kapitelüberschriften erscheinen hierbei als kryptische, polyvalente Geheimformeln. Unter Überschriften wie z.B. „La bulle de savon“, „Out“, „Les rideaux de mousselins“ oder „Cache-cache“ werden u.a. Einladungen und Abendessen bei Freunden geschildert, nächtliche Besuche in obskuren Bars und Hotels, Roulettepartien im Casino von Monte Carlo oder spiritistische Sitzungen in der Rue Fontaine. Zugleich ruft der gezeichnete szenische Reigen dekadenter Lebensfreuden in den französischen Städten der 1920er Jahre das literarische Porträt seiner Künstler auf: Duchamp, Picasso, Breton, Eluard, Péret, Cocteau, Aragon oder Tzara. Ein „literarisches Gruppenbild“ figuriert sich in Caravansérail, „ähnlich demjenigen, 9

Vgl. z.B. Prostitution universelle (1916), Mouvement Dada (1919) oder Chapeau de paille (1919). 10 Luc-Henri Mercié, zit. aus dem Klappentext der französischen Ausgabe von Caravansérail. 337

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welches Max Ernst von Bretons Zirkel in dem Gemälde Au rendez-vous des amis“ festgehalten hat.11 Picabia zitiert, diskutiert und inszeniert die namhafte Avantgarde seiner Zeit, nicht ohne dabei immer wieder die literarischen Techniken der Verfremdung, Maskierung und Surrealisierung zu erproben. Pseudonyme werden gewählt und Namen vertauscht, Gesten, Züge oder Werke einzelner Künstler genannt, um sie sogleich zu verrätseln und neu anzuordnen. So entstehen kritisch-ironische Momentaufnahmen avantgardistischer Künstler und ihrer Ästhetik als Rätselfiguren und Konstruktionsspiel für den aufmerksamen Leser.12 Unter ihnen skizziert Picabia gleichermaßen ein Porträt seiner selbst, verborgen hinter der Maske des Ich-Erzählers, der autobiografische Züge, Leidenschaften und Standpunkte des Maler-Dichters respektive des Avantgardekünstlers durchscheinen lässt. Erzählt wird die Geschichte zwischen dem (namenlosen) Ich-Erzähler und seiner Freundin Rosine Hauteruche, die sich weniger als Liebesgeschichte, weit eher als eine Geschichte der Reisen, der Autofahrten, der Ortswechsel und Zufälle liest. Den Auftakt ihrer Beziehung bildet eine Einladung zur Spazierfahrt, die beide zunächst im Taxi, dann in einer der zahlreichen Limousinen des Erzählers unternehmen.13 In Schwindel erregendem Tempo durchkreuzen sie nicht nur die Straßen von Paris, sie jagen ohne Unterbrechung nach Marseille, von hier aus nach Monte Carlo, schließlich nach Cannes. Aufbruch und Ruhelosigkeit motivieren ihre Fahrten ebenso wie der Rausch der Geschwindigkeiten und der Reiz eines ‚gewünschten Unfalls‘: „Au fond de moi-même, je cachai soigneusement que j’avais eu le désir de l’accident! Accident qui m’aurait séparé de cette compagne momentanée, accident qui l’aurait tuée et m’aurait tué moi-même.“14 Die imaginierte tödliche Gefahr bezeugt nicht nur eine übersteigerte Form der Liebeserklärung und Liebesbindung, sie erscheint zugleich als zweifelhafte Verlockung, um der Monotonie des Alltags und einer möglichen Sinndeutung des Lebens zu entgehen.15 Das Automobil 11 Vgl. hier Gerhard Wild: „Francis Picabia“ (Werkartikel), in: Kindlers Literatur Lexikon, München 2009. 12 Man beachte an dieser Stelle den von Luc-Henri Mercié minutiös recherchierten Anmerkungsapparat, der zahlreiche Doppeldeutigkeiten und Rätsel des Romans gleich einer Geheimschrift zu deuten sucht. In über 200 Anmerkungen verweist er auf mögliche biographische und zeithistorische Anspielungen und Dokumente, die die ausnehmend komplexe enigmatische Struktur dieses Textes verdeutlichen. 13 F. Picabia selbst, dies sei angemerkt, soll 127 Automobile besessen haben. 14 F. Picabia: Caravansérail, S.45. 15 Ebd., S. 49: „Cette folle vitesse, le danger constant qui en résultait, m’avaient lié à cette femme plus que des années passées près d’elle n’auraient 338

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als ‚magisches Objekt‘16 und Signum der Moderne wird in Caravansérail zum Indikator eines neuen Lebensgefühls, das Kontingenz und Widerspruch behauptet. Dabei bedingt der, durch die Mechanik evozierte Taumel der Geschwindigkeiten sowohl Veränderungen der Wahrnehmung als auch neue Lebensformen, bis hin zu neuen Körperkonzepten, Identitätsmustern, veränderten Raum- und Zeitvorstellungen. Maschinen und Medien, so dokumentiert Picabia im Roman, haben das Reisen und das Wahrnehmen von Städten und Landschaften verändert. Durch die Windschutzscheibe des Automobils oder aus dem Cockpit des Flugzeugs erscheint die Außenwelt nunmehr als schnell vorbeiziehender Film, der in der Flüchtigkeit und Magie der Bilder zu waghalsigen Mutproben, paradoxen Wahrnehmungsverschiebungen und Obsessionen führt. So wird beispielsweise die Geschichte einer Wette erzählt, bei der ein junger Leutnant waghalsig mit einem Militärflugzeug durch das offene Hotelfenster der von ihm sehr verehrten Marthe Chenal hinein geflogen sei.17 Die Geschichte findet bei der zuhörenden Gesellschaft regen Beifall; ein solch leichtsinniger Gewaltakt wird zur Heldentat stilisiert. Die Realität tendiert zum Spiel, zum Trick, zur surrealen Vision.18 Die medialen und technischen Errungenschaften zur Erzeugung von Bewegung und Geschwindigkeit bringen die Wirklichkeit zum Schwinden und provozieren neue, fiktionsgesteuerte Faszinationsmuster und verschobene Blickwinkel. Nicht die Schönheit der Landschaft oder der Städte lenkt folglich das Interesse des Erzählers, sondern allein der Blick auf das Tachometer, das den Kilometerstand und damit die Länge der zurückgelegten Strecke an-

pu le faire (…). Tant il est certain que la monotonie ne peut que détacher les êtres les uns les autres, alors que l’imprévu, avec tout ces dangers, les unit davantage.“ 16 Vgl. Roland Barthes: „Mythologie“ (La nouvelle Citroën), in: Œuvres complètes, Bd. 1, 1942-1965, hg. v. Eric Marty, Paris 1995, S. 565-722; hier S. 655: „Je crois que l’automobile est aujourd’hui l’équivalent assez exact des grandes cathédrales gothiques: je veux dire une grande création d’époque, conçue passionnément par des artistes inconnus, consommée dans son image, sinon dans son usage, par un peuple entier qui s’approprie en elle un objet parfaitement magique.“ 17 Vgl. F. Picabia: Caravansérail, S. 57f. 18 Vgl. hier beispielsweise auch (ebd., S. 126) die surrealistisch anmutenden Obsessionsbilder, mit denen eine unbekannte Chanson-Sängerin den IchErzähler in ihre Wohnung lockt. Sie behauptet nicht nur, dass sich in ihrer Wohnung ein Spiegel befände, in dem man sich von hinten sehe, wenn man sich von vorne darin betrachte, sondern auch, dass nachts um zwei Uhr dreiundzwanzig ein Zug durch ihre Küche rase. 339

SCARLETT WINTER

zeigt. Warum er nicht unterwegs anhalte, um sich etwas anzusehen, fragt Rosine Hauteruche, die das allgemeine Desinteresse ihres Begleiters für die Natur konstatiert. ,Er habe schon alles gesehen‘, so lautet die Antwort: „et dans la nature il n’y a qu’une chose qui compte, c’est le soleil.“19 Die Natur wird allein auf die Sonne reduziert und damit auf das Moment der Energie und der Kraftintensität. Die Wahrnehmung der Außenwelt ist mit dem Maß der potenziellen Energie und Geschwindigkeit gemessen. Natur und Landschaft, Orte und Städte schwinden im Tempo der Beschleunigung und in der zunehmenden Auflösung des Sichtbaren. Es entsteht ein abstraktes Wahrnehmen in Entfernungen, in dem die Zielorte zu Übergangsorten und damit zu austauschbaren Marken werden: „Je suis d’avis que les distances n’éloignent ni ne rapprochent, nous sommes toujours à la même distance de tout. L’Amérique est à Paris, Paris est en Amérique.“20 Der Ich-Erzähler proklamiert ein Denken in Paradoxien, das die Ordnung der Dinge aufs Spiel setzt und die Austauschbarkeit und Umkehrbarkeit der Zeichen behauptet. Mit den neuen Transportmitteln (Motorräder, Automobile, Flugzeuge) wird das Reisen (und das Sehen) schneller. Die Verteilung der Weltstädte und Länder scheint verschiebbar, ja willkürlich und flüchtig innerhalb eines Schaltund Wahrnehmungssystems, in dem die Koordinaten in Bewegung geraten. Mit der Steigerung der Geschwindigkeit löst sich die Fixierung des Raums ebenso wie die Bedeutung der Komplexität von Wirklichkeit auf. Besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Beschreibung eines Luxushotels in Marseille, das als mise en abyme für die paradoxen Raum- und Wahrnehmungskonstruktionen – das fiktive Karawanenlager – im Roman funktioniert. In diesem Hotel, in dem der Erzähler für kurze Zeit logiert, tragen die Zimmer keine Nummern, sondern Städtenamen: London, New York, Madrid usw. Bezeichnenderweise sind hierbei die Proportionen verschoben (Bern immens groß; New York mikroskopisch klein) und alle Räume bzw. Städte sind durch Gucklöcher („au moyen de voyeurs“) miteinander verbunden, die in die Zwischenwände eingearbeitet sind.21 Das Hotel redupliziert die Welt en miniature und spiegelt sie als virtuellen Schauplatz und Wahrnehmungsspiel, in dem die Städte transparent werden und allein der voyeuristische Blick Distanzen überwindet und das urbane Netzsystem durchschaut. Die mediale Wahrnehmung erzeugt eine paradoxale Spannung zwischen Nähe und Distanz, Realität und Fiktionalität. So breitet sich ein Raum aus, der zunehmend imaginärer Natur ist.

19 Vgl. ebd., S. 50. 20 Ebd., S. 102. 21 Vgl. ebd., S. 73f. 340

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Nicht weit scheint hier der Sprung zu den geschwindigkeitstheoretischen und kulturkritischen Überlegungen Paul Virilios, der wie auch Picabia die komplexen Zusammenhänge und Faszinationsmuster zwischen Technisierung, Subjekt und Wahrnehmung erkundet. „Wo sind wir, wenn wir reisen?“ − möchte man an dieser Stelle mit Virilio fragen − „Wo liegt dies ,Land der Geschwindigkeit‘, das nie genau mit dem zusammenfällt, das wir durchqueren?“22 Mit dem Phänomen von Bewegung und Geschwindigkeit reflektiert Virilio die Grenzen unserer Wahrnehmung von Raum und Zeit und zugleich die tief greifenden Veränderungen des Sehens, das die Realität aus dem Auge verliert und sich zunehmend dem Illusionismus nähert. Wir gehen von einem Bewegungszustand zum nächsten über, ohne uns darum zu kümmern, was sie bedeuten; wir werden mitgenommen an ein Ziel, an einen Ort, werden an den Endpunkt unserer Strecke befördert, aber das Hier und Jetzt der Geschwindigkeit und Beschleunigung entgehen uns, obwohl sie schwersten Einfluss auf das Bild der durchquerten Landschaft haben.23 Die Geschichte der Fahrzeuge und Geschwindigkeiten liest sich unter diesen Vorzeichen als die fortschreitende Vermischung von Nähe und Ferne, Gegenwart und Zukunft, Realem und Irrealem. Dabei birgt die Faszination der Maschinen auf die Menschen zugleich die Gefahr ihrer Automatisierung und Austauschbarkeit, eines Sinnes- und Realitätsverlusts im Rausch der Geschwindigkeiten oder auch in der Implosion eines „rasenden Stillstands“.24 In diesem Sinne Virilios nennt Peter Funken Caravansérail zu Recht einen „dromologischen Roman“, in dem „die Geschwindigkeit die Lebensweise völlig bestimmt“.25 Die Wirkungen der Mechanisierung und Medialisierung auf das Subjekt entwirft Picabia in Caravansérail in einer Mixtur aus Reisebildern, Maschinenbildern, Porträtzeichnungen, Literatur- und Konversationsstücken, die allesamt das Moment der Bewegung und Schnelligkeit thematisieren und variieren, und zwar begeistert und provozierend, aber auch kritisch, distanziert und heiter-ironisch. Die Geschwindigkeit, so erhellt Picabia in seinem Roman, hat die Gangart des Menschen verändert. Der zu Fuß gehende Mensch, der durch die Stadt streifende Flaneur, ist durch den Automobilisten ersetzt worden. Dieser wird durch die Motoren des Fahrzeugs in Bewegung gebracht, ist, wie Picabia ironisch pointiert, 22 Paul Virilio: „Fahrzeug“, in: Karlheinz Barck/Peter Gente u.a. (Hg.), Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1990, S. 47-82, hier S. 47. 23 Ebd. 24 P. Virilio: Rasender Stillstand, Frankfurt 1997. 25 P. Funken: „Dada ist das Benzin und das Publikum der Motor“, S. 8. 341

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gleichwohl Teil der Maschine geworden: Maschinenkörper. Das Konzept der Montage von Mensch und Maschine durchzieht den Roman mit unterschiedlicher Akzentuierung. Die Offiziere, so erläutert der Erzähler – und bringt damit seine kritische Haltung gegenüber der futuristischen Kriegsverherrlichung zum Ausdruck – zwängen sich selbst täuschend in die Uniformen ihrer Automobilmarken „Fiat, Rolls-Roys, Citroën ou Ford“, ohne ihre Funktionalisierung zu durchschauen: „La folie des hommes est de se mouler dans un écrin et de croire que cet écrin a la forme d’un cœur“26. Er selbst konstatiert die Maschinisierung seines Körpers und die damit einhergehende Unruhe fast beiläufig: „Je le [Eric Satie] quittai à une station de taxis, désirant me rendre chez un de mes amis docteur. J’ai l’habitude de faire vérifier, de temps en temps, les boulons de ma machine pour me tranquilliser.“27 Die Selbstwahrnehmung des Erzählers ist maschinell eingestellt, sein Körper im Automobil verschaltet. Dabei geht es ihm nicht, wie den Offizieren, um Macht und Ruhm, sondern um das Erleben von Geschwindigkeit, welches Zerstreuung, Abwechslung und Ortlosigkeit verspricht. Caravansérail: Der Titel des Romans wird in diesem Sinn zum Schlüsselbild moderner, zersplitterter Lebensformen, der Netzwerke und Fluchtlinien moderner, motorisierter Nomaden. Im städtischen Karawanenlager Paris, Cannes oder Nizza kreuzen sich die Menschen (und Automobile), um im nächsten Moment auseinander zu schnellen. Als Knoten- und Kreuzpunkt der Begegnungen signalisiert dieser Fiktionsort der Überlagerungen zugleich eine Fragmentierung in zahlreiche Subräume und Bühnen, die Menschen durchqueren, ohne sich wirklich zu begegnen. Wenn sie – meist zufällig – im Café, im Hotel oder Casino, auf der Straße oder im Automobil zusammen treffen, scheinen sie gleichwohl weit entfernt von einander zu sein: „en ce moment même, vous avez l’air tellement ailleurs, serait-il indiscret de vous demander à quoi vous pensez?“28. Der Kontakt bleibt auf Distanz, die Wahrnehmung des Anderen diffus im Rausch der Drogen, der hitzigen Wortwechsel, der flüchtigen erotischen Abenteuer. Der multiple, magische Raum der Großstadt, so deckt Picabia auf, fördert eine Überreizung der Sinne, die Dekadenz der Lebensformen, die Fragmentierung der Lebensläufe zutage.29 Der Mensch als Passagier im beschleunigten Räder26 27 28 29

F. Picabia: Caravansérail, S.63. Ebd., S. 120. Ebd., S. 48. Siehe hier auch Picabias Gedicht „Magic City“, in: 391. Revue publiée de 1917 à 1924 par Francis Picabia, hg. v. Michel Sanouillet, Paris 1976, IV/8, S. 40, in dem es heißt: „Idéal inattendu. Rupture d’équilibre. Enervement croissant. Emancipations. (…) Opium. Whisky. Tango.“ 342

BEWEGUNG UND GESCHWINDIGKEIT BEI FRANCIS PICABIA

werk der Stadt gerät hierbei zum automatisierten, austauschbaren Subjekt. Leitmotivisch verdeutlicht Picabia diesen Mechanismus der Kontingenz und einer zwangsläufigen Automatik mit Blick auf die Beziehung zwischen dem Erzähler und Rosine, die durch den jungen Literaten Lareincay nicht nur permanent gestört und unterbrochen wird, sondern schließlich auch zerbricht. Schon die ersten Seiten des Romans führen Lareincay als vermeintlichen Freund des Erzählers ein, der diesen mit seinen schriftstellerischen Experimenten bestürmt, allein um Lob und Bestätigung zu hören. Immer wieder taucht Lareincay an Orten und zu Zeiten auf, da man ihn keineswegs vermutet und beginnt in aufdringlicher Manier Gedichte und vor allem Passagen aus seinem Manuskript „L’Omnibus“ vorzutragen. Während den Erzähler diese Texte langwieligen, er Lareincay bisweilen schmeichelt, nur um ihn schnell wieder loszuwerden, scheint Rosine mehr und mehr begeistert und verführt von den zum Teil biederen Liebestexten und verworrenen Dialogen des jungen Dandy. Die Beziehungskonstellation verschiebt sich fast zwangsläufig. Rosine wird die Geliebte Lareincays, der nun den Platz des Erzählers einnimmt. Der Fiktion einer zitierten Liebespassage aus „L’Omnibus“ folgend, heiratet das Paar sehr bald und begibt sich auf Weltreise. Das vermeintliche Schlussbild verrät sich indes als Auftakt einer neuen Geschichte: Zwei Jahre später trifft der Erzähler Rosine und Lareincay in Paris wieder. Die Szene beherrscht nun ein neuer Literat, der junge Jacques Hona, Wiedergänger Lareincays (und Spiegelfigur des Erzählers), der Rosine fasziniert und Lareincay mit seinen Auftritten und unermüdlichen Rezitationen auf die Nerven geht. Lareincays Interesse – so vertraut er dem Erzähler an – hat sich von der Literatur auf die Motorwelt verschoben: „Je m’amuse avec une magnifique quarante HP.“30 Das offene Ende des Textes signalisiert das mechanistische Verzahnen von Lebensläufen, Handlungsmustern und Momentaufnahmen, die Fortsetzung der Geschichten und Rollenspiele in einem circulus vitiosus. Oder anders, mit einem der zahlreichen visionären Bilder des Romans, veranschaulicht: Wir sehen ein endloses Kreisen und Aufmarschieren auf den in Manegen verwandelten Plätzen der Stadt: „les places publiques sont des manèges de cochons, de chameaux ou d’automobiles qui tournent toujours dans le même sens, au bout d’un rayon de dix mètres.“31 Mit der Figur des Literaten (des Erzählers, Lareincays, Jacques’) stellt Picabia die Selbstreferenzialität und Metadiskursivität als durch-

30 F. Picabia: Caravansérail, S. 148. 31 Vgl. ebd., S. 84. 343

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gängige Struktur des Romans aus. Verschachtelungskonstruktionen (des Romans im Roman), Spiegelungen und Variationen kennzeichnen dabei gleichermaßen Motive, Erzählweisen und Figuren und motivieren eine reflektierte, grenzüberschreitende Lektüre. Die wiederkehrenden Diskussionen und Kommentare über Kunst und Literatur legen den Roman in seiner Konstruiertheit, seiner Textualität und Medialität offen. Figurenund Ortswechsel korrespondieren mit einem Wechsel verschiedener Textsorten und Schreibweisen. So wie die Beziehungen und Begegnungen immer wieder geschnitten sind und sich neu konstellieren, liest sich der Roman selbst als Text der Cuts und Brüche, der Leerstellen und Inkohärenzen.32 Caravansérail als Roman überschreitet die Grenzen seiner Genrefixierung, ist zugleich Gedicht, Collage, Fotoporträt, Kunstdiskurs, Traumtheater oder auch (mit Blick auf Entr’acte) Filmvision. Ein avantgardistischer Hybridtext, ein ästhetischer „monstre“, so möchte man behaupten, der den Widerspruch, die Störung und Irritation zum Ausdruck bringt.33 Im Jahr 1924, in dem André Bretons „Manifeste du surréalisme“ erscheint, entwirft Picabia mit Caravansérail einen experimentellen Text, der die Bezüge und Entwicklungen zwischen Futuristen, Dadaisten, Kubisten und Surrealisten aufgreift, in Widerstreit setzt und in einer Surrealität und Automatik der bewegten Gedanken- und Schriftbilder aufgehen lässt. Caravansérail spiegelt – wie Mercié formuliert – die ,Summe der Gedanken Picabias‘34 und dies in einer Weise, so ist hinzuzufügen, die Picabia als Nonkonformist und Jongleur zwischen den verschiedenen literatur- und kunstästhetischen Diskursen charakterisiert.35 Der Text gerät zum Anti-Roman und Anti-Manifest.36 Die wiederkehrenden Frau-

32 Anzumerken ist, dass einige Seiten in dem von Luc-Henri Mercié und Germaine Everling rekonstruierten Text fehlen. Diese Auslassungen sind durch Punktlinien markiert. 33 Vgl. hierzu die Formulierung, die Lareincay wählt, wenn er von seinem Kind mit Rosine spricht, das nicht am Leben blieb: „une sorte de monstre, il n’avait ni bras ni jambes“. F. Picabia: Caravansérail, S.149. 34 Vgl. L.-H. Mercié: „Introduction“, S.10 35 Picabia setzt sich mit verschiedenen künstlerischen Bewegungen und Stilen auseinander. Dazu zählen u.a. der Impressionismus, Kubismus, Futurismus, Dadaismus und Surrealismus. 1917 gründet er die Dada-Zeitschrift 391, die er bis 1924 herausgibt. Sein Anschluss an die surrealistische Bewegung ist von kritischen Auseinandersetzungen mit Breton und Aragon begleitet. 36 Vgl. hier die Anmerkung von L.-H. Mercié: „Introduction“, S. 19: „ce roman apparaît comme l’anti-manifeste par excellence. A défaut de système, Picabia propose un art de vivre, toute dialectique étant vécue par lui comme une machination et une limitation. A la rigueur dogmatique de Bre344

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gen danach, was Dada, Kubismus oder Expressionismus sei, lösen kryptische Gedankenläufe und Provokationen aus, die sich in einer Schleife der Wiederholungen, Behauptungen und Verrätselungen fortsetzen.37 Auf diese Weise bringt Picabia den paradigmatischen Wechsel zwischen den Avantgarden zum Ausdruck, der 1924 den Weg für eine Ästhetik surrealistischer Schreib- und Denkweisen bahnt. Die Bewegung und Beschleunigung der Motoren korrespondieren in Caravansérail mit der unaufhörlichen Bewegung und Rhythmik der Gedanken, der Bilder und Poesie. Beschreibungen wie die Hypnoseexperimente im Atelier Bretons (7. Kapitel „Les rideaux de mousseline“) oder eingestreute Gedichte (Lareincays oder des Erzählers) evozieren phantastische Reihungen und traumanaloge Assoziationsketten. Die unter Drogen oder Hypnose erzeugten Wahnbilder fördern geheime Wünsche und Obsessionen zutage: „Le désert monte dans la cheminée, il monte comme une fumée et se transforme en parasol pour recouvrir Paris. L’obscurité est si profonde que les lampes elles-mêmes n’éclairaient plus. Une femme va comme une folle criant qu’elle voudrait être un Puvis de Chavannes! (…), el le chœur des étudiants tel (sic) une Citroën, simule des pannes. Dans le garage des Rolls-Royce, la fumée descend du ciel et transforme toutes les guitares en parapluie! “38

Picabia experimentiert mit dem Verfahren der écriture automatique, das den freien Fluss der Gedankenassoziation erprobt und die latent verfügbaren Traumbilder und Phantasien an die Oberfläche bringt. Im fortschreitenden Spiel der Metamorphosen und Verschachtelungen bricht ein Imaginarium der Bilder und Assoziationen auf, die sich ineinander schieben, verwandeln und überschreiben. Das Gleiten der Bildeindrücke indiziert eine Surrealität des Imaginären, mit der Kontinuität und Sinnzusamton, il oppose une incorrigible désinvolture qui est l’affirmation de sa liberté.“ 37 Vgl. F. Picabia: Caravansérail, S. 61-63: „Y a-t-il une différence entre les Cubistes et les Dadaïstes? – Je ne sais pas, peut-être. – Voyons, ne vous moquez pas, expliquez-nous le Cubisme. […] – Eh bien, mais … de la peinture. – Allons, il n’y a rien à faire, vous ne voulez donner aucune explication? – Que voulez-vous, ce sont toujours les autres qui m’en donnent. – Et Dada? Au moins, vous ne pouvez nous refuser de dire ce que c’est que Dada. […] – L’essence, c’est Dada, le moteur, c’est le public.“; zur Definition des Expressionismus vgl. ebd., S.87f.: „– Qu’est-ce que c’est que l’expressionisme? – C’est la neuvième connerie, inventée par Freund. – Qu’est-ce que c’est que Freund? – Freund? C’est le marchand en gros des sexes de paraffine.“ 38 Ebd., S. 83f. 345

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menhänge unterbrochen und aufgelöst werden. Die Prozesse der Automatisierung, der Fragmentierung und Beschleunigung korrelieren mit einer Zersetzung des Realen und einem unaufhörlichen Neuverschalten von Bildern und Visionen ,auf der Leinwand unserer Gedanken‘. „Sur la toile des idées“ – so heißt es in dem von Lareincay rezitierten Gedicht „Lac“ – : „Les théâtres / Les femmes / Les ramoneurs / Une lampe électrique posée sur la soie rose / Un poisson mort / Tout forme une guirlande que l’on attache / Dans son cerveau. “39 Die Bilder beginnen zu laufen und es entsteht ein innerer Film, ein Räderwerk der Gedanken und Einbildungen, die sich im Lauf der Geschwindigkeiten, der Wiederholungen und Überblendungen verzahnen und im imaginären Raum eines Kopfkinos verflüchtigen. Die imaginär organisierte Bewegung, die in Caravansérail entsteht, weist auf die Dramaturgie eines poetischen Filmtheaters im Kopf und auf der Leinwand. Das Konzept dieser literarisch gestalteten Film- und Bewegungsvision wird für Picabia, noch während seiner Arbeit am Roman zur neuen Herausforderung in den Medien Tanz/Theater und Film. Er beginnt, zusammen mit René Clair und Eric Satie, mit den Skizzen und Entwürfen für das Ballett Relâche, in das der Film Entr’acte (als ,Pausenfüller‘ zwischen den Akten) eingeschoben ist.40 Für Relâche entwirft Picabia Bühnenbilder und Kostüme, für Entr’acte schreibt er das Drehbuch. Es entsteht ein intermedial komponiertes Gesamtkunstwerk zwischen Ballett, Theater, Kunst und Film, in dem alle Aufführungs- und Genrekonventionen in Frage gestellt werden und die Sehgewohnheiten des Zuschauers ins Visier einer Überraschungs- und Schockästhetik geraten.41 Die dadaistisch-futuristische Begeisterung für Maschinen und Geschwindigkeiten ist allgegenwärtig. Die Bühne dominiert ein gewaltiger Hintergrund aus metallisch-glänzenden Reflektoren, mit denen das Publikum geblendet wird. Es treten Tänzer und Tänzerinnen in vornehmer Abendgarderobe auf, zum Teil in Autos, in Schubkarren oder Rollstühlen. Der

39 Ebd., S. 81f. 40 Zur Analyse des Films Entr’acte als intermediales Avantgardeprojekt im Kontext von Dadaismus und Surrealismus siehe Franz-Josef Albersmeier: „Zwischen den Künsten und Medien (Film/Tanz/Theater) zwischen den Fronten (Tradition/Avantgarde) René Clair: Entr’acte“, in: Michael Lommel/Isabel Maurer Queipo [u.a.] (Hg.), Französische Theaterfilme – zwischen Surrealismus und Existentialismus, Bielefeld 2004, S. 215-233. 41 So ist beispielsweise im Programmheft vermerkt: „Apportez des lunettes noires et de quoi vous boucher les oreilles“ (in: 391, XIX/4, S. 130). Der Film beginnt damit, dass ein Kanonenlauf auf das Publikum gerichtet ist, aus dem schließlich ein Schuss abgefeuert wird. 346

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Tanz der Körper wird zum Tanz der Räder und Motoren. Picabia und Satie selbst fahren zu Beginn des zweiten Aktes im Citroën auf die Bühne. Der Film Entr’acte steigert die Bewegungsformen in einer temporeichen Montage. Dem Zuschauer erschließt sich das pulsierende Leben der Großstadt Paris als ein Netzwerk der Verkehrswege und Kreuzungen, der Automobile, Züge, Schiffe und Seifenkisten, der Passanten, Kamele und Zauberkünstler. Motive und Visionen aus Caravansérail werden aufgenommen, in Filmbilder transformiert und collagiert. Picabia gelingt zusammen mit seinen Künstlerkollegen (René Clair, Eric Satie, Man Ray, Marcel Duchamps und Antonin Artaud) eine provokative, heiter-ironische Inszenierung bewegter Bilder und Geschwindigkeiten, die eine surreale Schau- und Traumlust einlöst. Dabei werden, wie schon im Roman, zusammenhanglose Bilder im Spiel der Metamorphosen aneinander gesetzt und überblendet.42 Kracauer bezeichnet Entr’acte in diesem Sinn als „den Tagtraum eines Großstädters frei auf die Leinwand phantasiert“. „Bilder der Wollust vermischen sich mit Straßeneindrücken, die von Aragon herrühren könnten, und mit Larven des Grauens. Herrscht am Anfang vor allem die Arabeske vor, so wird gegen das Ende zu immer entschiedener die gewohnte Oberfläche echt surrealistisch aufgelöst.“43 Entr’acte dekuvriert das Medium Film als Bewegungsmaschine respektive Zauber- und Trickkasten, der permanent Bildkontraste schafft, Bildeinstellungen fragmentiert, wiederholt und verfremdet, Bewegungsläufe verlangsamt oder beschleunigt und damit eine karnevaleske, bisweilen groteske Wahrnehmung der Wirklichkeit zur Schau stellt. Körpermechanik und Kinoästhetik greifen ineinander.44 Wir sehen eine (bärtige) Tänzerin, von unten gefilmt, deren Ballettrock sich im slow-motionRhythmus ihrer Sprünge mechanisch öffnet und schließt. Wir sehen eine Trauergesellschaft, die zunächst in Zeitlupe, dann in akzelerierter Montage slapstickartig einem, von einem Kamel gezogenen Leichenwagen, hinterher jagt. Die Bewegung steigert sich schwindelerregend, wenn der Wagen sich löst, über Wege, Straßen und Schienen holpert und flitzt und die Bilder der Wirklichkeit im Kameraauge verwackeln, sich drehen, 42 Vgl. hier die Ausführungen von Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt/Main 1991, S. 81, der u.a. mit Blick auf Entr’acte den Status der Traumbilder erklärt. 43 Siegfried Kracauer: „Französische Avantgarde“ (1930), in: ders.: Kino. Essays, Studien, Glossen zum Film, hg. v. Karsten Witte, Frankfurt/Main 1974, S. 124f. 44 Vgl. hier auch den ebenfalls 1924 gedrehten Film Ballet mécanique von Fernand Léger, der durch kalkulierte Schnittmontage abstrakte Maschinenbewegungen ästhetisiert und in Beziehung zu einer Mechanisierung menschlicher Körper in Szene setzt. 347

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mehr und mehr verwischen. Was bleibt ist die filmische Illusion der Wirklichkeit im flüchtigen Tempo des Augenblicks. „Der Film soll keine Imitation, sondern eine vielsagende Aufforderung sein, so schnell wie das Denken in unserem Gehirn“45 – so formuliert Picabia in seinem Plädoyer für den Instantanéisme und apostrophiert einmal mehr die Denkfigur einer unaufhörlichen Bewegung und Geschwindigkeit. „Le seul mouvement c’est le mouvement perpetuel.“46 In den Mittelpunkt der avantgardistischen Literatur- und Medienästhetik Picabias rückt die Bewegung selbst, genauer: die Sichtbarkeit der dynamischen Bewegung, der Beschleunigung und Automatik, die den Lauf der Gedanken und Träume ebenso wie den menschlichen Körper und das Medium Kino betrifft. Die Beschleunigung der Moderne hat die Anordnung der Dinge und des Sehens verändert. Gedanken, Körper, Maschinen und Motoren wirbeln die Realität im Bild auf, um sie als Momentaufnahme zu bewegen und in der Virtualität der Bewegungs- und Medienbilder neu aufscheinen und schwinden zu lassen.

45 F. Picabia: „Instantaneismus“, in: W. Asholt/W. Fähnders (Hg.), Manifeste und Proklamationen der europäischen Avantgarde, S. 337-338, hier: S. 338. 46 Vgl. das Titelblatt des Journal de l’Instantanéisme, in: 391, XIX/1, S. 127; vgl. auch die Ausführungen von Michel Sanouillet, ebd., S. 16, der das Gesamtwerk Relâche als Manifestation der neuen Bewegung des Instantanéisme und in seiner Nähe zum Surrealismus beschreibt. 348

AUTORINNEN

UND

AUTOREN

Baldissone, Giuseppina, Dr., Studium der Literaturwissenschaften an der Universität Turin, Hochschulabschluss mit einer Arbeit über Eugenio Montale (Il male di scrivere. L'inconscio e Montale, Turin 1979). Seit 1994 ist sie Universitätsprofessorin für italienische Literatur an der Università del Piemonte Orientale in Vercelli. Sie hat Monografien zu den literarischen Gattungen, so zur Novellentheorie (Le voci della novella, Florenz 1992), zu Mythen in der Literatur (Gli occhi della letteratura. Miti, figure, generi, Novara 1999) und diversen Autoren des 14. bis 21. Jahrhunderts mit besonderer Berücksichtigung der Frauenfiguren veröffentlicht. Ein weiterer Forschungsschwerpunkt liegt auf den italienischen Avantgarden, insbesondere Filippo Tommaso Marinetti (Filippo Tommaso Marinetti, Mailand 1986). Des Weiteren publiziert sie für diverse wissenschaftliche Zeitschriften und hat Werksausgaben von Gozzano (Utet), De Amicis (Mondadori) und Nicolò Barbieri (Interlinea) herausgegeben. Brabant, Dominik, Studium der Kunstgeschichte, Anglistik und Psychologie in München (LMU), dann Master-Studiengang ‚Historische Kunst- und Bilddiskurse‘ in Eichstätt, München und Paris (ENS). Nach der Magisterarbeit über die kunstphilosophischen Schriften Georg Simmels untersucht er nun als Doktorand an der Ludwig-MaximiliansUniversität München die Rodin-Rezeption im 20. Jahrhundert mit Blick auf die bildmedial vermittelte Genese von Modernekonzepten. OnlineVeröffentlichung der Magisterarbeit: ‚Moderner Heraklitismus‘- Georg Simmels Arbeit an einer Philosophie der Kunst in Bewegung: http://www.e-pub.ub.uni-muenchen/de/9136/. Dobbe, Martina, Dr., Professorin für Kunstgeschichte/Kunstwissenschaft mit dem Schwerpunkt „Geschichte der Kunst ab 1800“ an der UdK Berlin; Studium der Kunstgeschichte, Germanistik und Philosophie an den Universitäten Hamburg, Düsseldorf und Bochum; 1997 Promotion an der Ruhr-Universität Bochum; 2006 Habilitation an der Universität Siegen; Veröffentlichungen u.a.: Fotografie als theoretisches Objekt. Bildwissenschaft – Medienästhetik – Kunstgeschichte, München 2007; „Für eine Bildtheorie des Fotografischen“, in: Zeigen. Die Rhetorik des 349

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Sichtbaren, Veröffentlichung der Jahrestagung 2007 des NFS „Bildkritik“ / eikones, München 2009 (im Druck). Erstić, Marijana, Dr., Studium der Germanistik, Italianistik und Kunstgeschichte in Zadar und Siegen. 2002-2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin in unterschiedlichen DFG-Forschungsprojekten, zuvor Promotionsstipendiatin des Graduiertenkollegs „Intermedialität“ und des Landes NRW. Seit April 2009 Habilitationsstipendiatin des Zentrums für Gender Studies der Universität Siegen. Dissertation über die (Familien)Bilder bei Luchino Visconti (Kristalliner Verfall, Heidelberg 2008, Studienpreis der Universität Siegen, 2007), Veröffentlichungen zu den Avantgarden, zur Intermedialität sowie zu den Konzepten von Bewegung, Wahrnehmung und Gedächtnis um 1900 und 2000. Hg. der Anthologie Zagreb erlesen (Klagenfurt 2001). Mithg. von Avantgarde – Medien – Performativität (Bielefeld 2005), von Gesichtsdetektionen in den Medien des zwanzigsten Jahrhunderts (Siegen 2006). Fetscher, Justus, PD, Dr., Studium der Germanistik, Geschichte und Theaterwissenschaft. 1990-1995 wiss. Mitarbeiter am Institut für Allg. und Vergl. Literaturwissenschaft der FU Berlin. Seit 2005 Mitarbeiter am DFG-geförderten Projekt „Der Umbau hinter der Restauration. Eine Mediengeschichte der Nachkriegszeit“. 2008 Einreichung der Habilitationsschrift Bruchstueckwerke. Stationen einer Aesthetik des Fragments 1790-1970 am Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der FU Berlin. Zur Zeit Gastdozentur am German Department der Vanderbilt University Nashville/TN, USA: Publikationen (Auswahl): Verzeichnungen. Kleists „Amphytrion“ und seine Umschrift bei Goethe und Hofmannsthal, Köln u.a. 1998; Mithg. von: Pictogrammatica. Die visuelle Organisation der Sinne in den Medienavantgarden (1900-1938), Bielefeld 2006; Die Gruppe 47 in der Geschichte der Bundesrepublik, Würzburg 1991; Cross-Cultural Encounters and Constructions of Knowledge in the 18th and 19th Century / Interkulturelle Begegnungen und Wissenskonfigurationen im 18. und 19. Jahrhundert. Außereuropäische und europäische Forschungsreisen im Vergleich, Kassel 2004. Werkartikel „Fragment“ in: Ästhetische Grundbegriffe. Ein historisches Wörterbuch, hg. v. Karlheinz Barck u.a., Bd. 2, Stuttgart/Weimar 2001. Folliero-Metz, Grazia Dolores, PD, Dr., Studium der Philosophie, der Literaturwissenschaft, der Kunstgeschichte und der Orientalistik. Dozentin an den Universitäten Lateranense – Rom (Philosophie), Marburg, Gießen, Siegen. Buchveröffentlichungen: La Grecia ‚tedesca’ fra nostalgia e mito. Schiller, Hegel, Nietzsche ‚das Land der Griechen mit

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AUTORENVERZEICHNIS

der Seele suchend‘, Rom 1990. (Hg.): Francisco de Hollanda, Diálogos em Roma (1538). Conversations on Art with Michelangelo Buonarroti, Heidelberg 1998. Le ‚Rime‘ di Michelangelo Buonarroti nel loro contesto, Heidelberg 2004. Zahlreiche Aufsätze im Bereich der Ästhetik und der Literaturwissenschaft, u.a.: „Futurismus beim frühen Marinetti und Hermetismus beim frühen Ungaretti – eine Gegenüberstellung poetischer Konzepte“ in: M. Erstić/G. Schuhen/T. Schwan (Hg.), Avantgarde – Medien – Performativität, Bielefeld 2005. Frenz, Dietmar, Dr., Studium der Romanistik und Germanistik in Siegen, Mailand und Valenciennes; seit 2003 arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Romanische Sprachen und Literaturen der Universität Frankfurt. 2006 erschien die mediävistische Dissertation Kunstvolles Schmähen: Frühe toskanische Dichtung und mittellateinische Poetik, Tübingen: Niemeyer); aktuelle Aufsätze beschäftigen sich etwa mit dem italienischen Film der 1960er, dem portugiesischen Comic oder katalanischer Kunsttheorie. Glaubitz, Nicola, Dr., Literaturwissenschaftlerin (Anglistik), wissenschaftliche Koordinatorin des DFG-Forschungskollegs ‚Medien-umbrüche‘ an der Universität Siegen. Habilitationsprojekt zu Patricia Highsmith. Weitere Schwerpunkte: Roman und Philosophie in der schottischen Aufklärung (Diss.), Literatur und audiovisuelle Medien im 20. Jahrhundert, Film. Publikationen: „Matadors, duellists and suicidal authors: A. L. Kennedy and the discontents of writing“, in: Anglistik. International Journal of English Studies, Bd. 18, Nr. 2, 2007, S. 163174; „Reanimationsversuche des Spielfilms. Kopplungen von Zeichentrick und Realfilm und das Kino der 1990er Jahre“, in: R. Leschke/J. Venus (Hg.): Spielformen im Spielfilm, Bielefeld 2007, S. 41-66; „Medienexperimente nach den Avantgarden“, in: M. Lommel/I. Maurer Queipo/V. Roloff (Hg.): Surrealismus im Film. Von Fellini bis Lynch, Bielefeld 2008, S. 19-35. Hermann, Iris, Dr., Privatdozentin für Germanistik und Komparatistik, Lehrstuhlvertretungen und Gastprofessuren in Siegen, Münster und Bamberg, Forschungsschwerpunkte: Mediale Reartikulation der Stimme; Schmerz in Literatur, Musik und Psychoanalyse von der Antike bis zur Gegenwart; Ästhetik der Literatur in der Konfrontation mit außerliterarischen Kontexten; Literatur des 19. Jahrhunderts (Kleist, Jean Paul, Stifter); Jüdische Literatur nach 1945; Gender. Publikationen in diesem Kontext: Raum – Körper – Schrift: Mythopoetische Verfahrensweisen in der Prosa Else Lasker-Schülers, Paderborn 1997; Schmerzarten. Prole-

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gomena einer Ästhetik des Schmerzes in Literatur, Musik und Psychoanalyse, Heidelberg 2006. Hülk-Althoff, Walburga, Dr., Professorin für Romanische Literaturwissenschaft in Siegen; Lehrtätigkeiten in Freiburg, Gießen, Berkeley; 2008 Forschungsprofessur FMSH, Paris. Forschungsschwerpunkte: Literatur des Mittelalters und der Neuzeit; Fragen der literarischen und medialen Anthropologie und der Medienästhetik; wissenschaftsgeschichtliche Themen im Kontext der Metaphoriken der „two cultures“; Publikationen u.a. zu Schrift-Spuren von Subjektivität“ im Mittelalter, zu „Sinnesgeschichten“ in der Literatur, zu Rousseau, Kleist, Flaubert, Proust; Leiterin des DFG-Forschungsprojekts: Macht- und Körperinszenierungen. Modelle und Impulse der italienischen Avantgarde. Neues Forschungsprojekt (zus. mit Georg Stanitzek): Boulevard, Bohème und Jugendkultur. Verhandlungen von Massenmedialität und Marginalität. Kneißl, Daniela, Dr., Studium der Neueren und Neuesten Geschichte, der Kunstgeschichte und Vergleichenden Literaturwissenschaft in Augsburg und Paris. Seit 2005 Referentin für Neueste Zeitgeschichte am Deutschen Historischen Institut Paris. Forschungsschwerpunkte: Kulturgeschichte der Europäischen Integration, Deutsch-Französische Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert, Geschichte der III. Französischen Republik, Visuelle Geschichte. Neuere Veröffentlichungen: „La série de photos „Die Toten“ („Les Morts“) de Hans-Peter Feldmann (1998) ou: la réconciliation visuelle entre mémoire et événement“, in: Images re-vues 5, 2008: L’image-événement (Online-Zeitschrift) http://www.imagesrevues.org/Article_Archive.php?id_article=35; „EuroVisionen. Die Bildsprache des sich einigenden Europa“, in: Gerhard Paul (Hg.), Das Jahrhundert der Bilder, Bd. II: 1949–2007, Göttingen 2008, S. 48-57; „Le regard naïf? Mediologische Fragestellungen in der historischen Bildwissenschaft: Das Beispiel Fotografie“, in: Thomas Weber/Birgit Mersmann (Hg.), Mediologie als Methode, Berlin 2008, S. 271-292. Natlacen, Christina, Dr., Studium der Kunstgeschichte in Wien, Graz und Lausanne; 2006 Promotion mit einer Dissertation zu den fotografischen Selbstinszenierungen von Arnulf Rainer; 2006/07 wissenschaftliche Mitarbeiterin der Fotosammlung Albertina, Wien; 2007/08 Stipendiatin an der Fotosammlung des Rijksmuseums, Amsterdam; seit 2008 Habilitandin an der Universität Siegen. Lehraufträge an den Universitäten Graz und Wien; kuratorische Tätigkeiten im Ausstellungsbereich. Publikationen (Auswahl): „Bewegte Gesichter, erstarrte Masken. Zu den Mimikstudien von Hermann Heller“, in: Fotogeschichte, 91 (2004), S. 15-32; „Physiognomien außerhalb der Norm. ‚Wahre‘ Bilder von 352

AUTORENVERZEICHNIS

Verbrechern und Show Freaks“, in: Schau mich an. Wiener Porträts, Katalog der Ausstellung im Wien Museum, Wien 2006, S. 88-103; „Objektinszenierungen in der Dunkelkammer“, in: I. Nevole/M. Schindelegger/C. Natlacen (Hg.), Fotogramme 1920 > now, Katalog der Ausstellung im Künstlerhaus Wien, Passau 2006, S. 22-29. Ochsner, Beate, Dr., Professorin für Medienwissenschaft an der Universität Konstanz. 1996-2002 wissenschaftliche Mitarbeiterin, Lehrstuhl Romanistik, Universität Mannheim; von 1998-2001 Mitarbeit im DFGProjekt: Intermedialität der Fotografie, von 2002-2007: Hochschuldozentur (Romanistische Literatur-, Medien- und Kulturwissenschaften). Verschiedene Lehraufträge an den Universitäten Innsbruck, Basel und St. Gallen. Buchveröffentlichungen: Digressionen. Charles Nodier, Heidelberg 1998; Pornoskopie. Sex im Bild, hg. zus. m. Charles Grivel, Aachen 2000; Intermediale. Kommunikative Konstellationen zwischen Medien, hg. zus. Charles Grivel, Tübingen 2001; Jarry: Le Monstre 1900 / Jarry: Das Monster 1900, (Hg.), [Medusa-Médias 4] Aachen 2002, Medium und Gedächtnis. Von der Überbietung der Grenze(n), hg. zus. m. Franziska Sick, Frankfurt/Main 2004; DeMONSTRAtion. Zur Repräsentation des Monsters und des Monströsen in Literatur, Fotografie und Film, Habilitationsschrift, München 2009. Pöppel, Nicole, 2003-2007: BA-Studium der Literary, Cultural and Media Studies an der Universität Siegen und der Lettres Modernes und Arts du Spectacle in Tours, Bachelorarbeit über den Poetry Slam als Genre der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Werkartikel in Kindlers Literatur Lexikon zu Lyrikern des 20. und 21. Jh.s (erscheint 2009), seit 2007 Masterstudium der Vergleichenden Literatur- und Kulturwissenschaften (mit den Schwerpunkten Germanistik und Romanistik) in Siegen. Roman del Prete, Laura, Dr., Lektorin für italienische Sprache, Literatur und Kultur an der Universität Siegen, Veröffentlichungen: UNItaliano, Siegen 2008; diverse Artikel für: Italien-Lexikon, (Hg. R. Brütting), Berlin 1997; Aufsätze zum Voyeurismus bei Moravia und zur Commedia all'’italiana; Herausgeberschaft: Kanon der Autorinnen, (zus. m. Isabel Maurer Queipo), Siegen 2008. Schmidt, Melanie, Dr., Studium der Romanistik, Erziehungswissenschaften und Chemie an den Universitäten Siegen, Bonn und Tours. Von 2002-2006 wissenschaftliche Mitarbeiterin am kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg Medienumbrüche an der Universität Siegen. Seit 2008

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DAAD-Stipendiatin der Fondation Maison des Sciences de l’Homme, Paris. Aktuelle Forschungsinteressen und Veröffentlichungen in den Bereichen der tanzwissenschaftlichen Theoriebildung und performativen Praxis des europäischen und asiatischen zeitgenössischen Tanzes. Dissertation zur Thematik des energetisch verfassten Körpers in Maurice Béjarts Choreographien des Balletts des 20. Jahrhunderts. Schuhen, Gregor, Dr., Studium der Romanistik und Anglistik in Siegen und Paris. Derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter im DFG-Forschungsprojekt Macht- und Körperinszenierungen. Modelle und Impulse der italienischen Avantgarde an der Universität Siegen, bis Okt. 2006 Mitarbeiter am Lehrstuhl Uta Felten an der Universität Leipzig. Forschungsschwerpunkte: Französische Literatur vom 18. bis 20. Jh., Gender Studies, Pop- und Jugendkultur, klassische Avantgarden, Intermedialität im aktuellen Film. Veröffentlichungen zur genderspezifischen Lektüre von Marcel Proust, zum zeitgenössischen Film, zur Jugendkultur. Dissertation: Erotische Maskeraden. Sexualität und Geschlecht bei Proust (Heidelberg 2007). Mithg. von: Avantgarde – Medien – Performativität. Inszenierungs- und Wahrnehmungsmuster zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts (Bielefeld 2005), (Post-)Gender. Choreographien/Schnitte (Bielefeld 2006). Aktuelle Forschungsprojekte: Jugend-Stile 1800/1900. Kulturelle, literarische und mediale Konfigurationen eines Schwellenphänomens (Habilitation) sowie Boulevard, Bohème und Jugendkultur. Verhandlungen von Massenmedialität und Marginalität (beantragtes DFG-Projekt zus. mit Walburga Hülk u. Georg Stanitzek). Schrader, Sabine, Dr., Professorin für italienische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Innsbruck. Derzeitiges Forschungsprojekt: La Scapigliatura – Italiens Weg in die Moderne. Rezente Publikationen u.a.: „Si gira!“ – Literatur und Film in der Stummfilmzeit Italiens (Heidelberg 2007); „‚Wer ist Dante?‘ zu Zu Tomaž Pandurs Dante-Inszenierung Inferno. A book of the soul am Hamburger ThaliaTheater (2001), in: Deutsches Dante Jahrbuch 82, 2007, S. 175-200; „Palermo als Broadway und die Mafia als Musical: Tano da morire (1997)“, in: Gisela Febel/Natascha Ueckmann (Hg.): Europäischer Film im Kontext der Romania: Geschichte und Innovation (Münster 2007), S. 215-230. (Mit Dirk Naguschewski): Kontakte, Konvergenzen, Konkurrenzen. Film und Literatur in Frankreich und frankophonen Ländern (Marburg 2008) und: „Die Ordnung der Blicke. Genderkonstruktionen in den Filmen des algerischen Regisseurs Merzak Allouache“, in: Susanne Gehrmann/Mechthild Gilzmer (Hg.), Genderperspektiven in Nordafrika: Literatur, Film und Gesellschaft (Mainz 2008), S. 113-135. 354

AUTORENVERZEICHNIS

Stahl, Andrea, M.A., wissenschaftliche Mitarbeiterin für französische und spanische Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaft an den Universitäten Siegen und Marburg; Promotionsstipendiatin der FriedrichEbert-Stiftung. Dissertationsprojekt zu Artikulationsformen des Körpers in den Fotografien und Texten Claude Cahuns. Bisherige Forschungsschwerpunkte zu Perspektiven anthropologischer Körper- und Bildtheorien, der französischen und spanischen Moderne sowie der historischen Avantgarde. Winkler, Daniel, Dr., Studium der Vgl. Literaturwissenschaften und Romanistik in Aix-en-Provence, Paris und Wien. Assistent am Institut für Romanistik der Universität Wien. Co- Herausgabe der Zeitschrift Sinnhaft. Journal für Kulturstudien. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Popularkultur der Avantgarde; Theater und Aufklärung; Migrationsfilm/-literatur. Publikationen: Transit Marseille. Filmgeschichte einer Mittelmeermetropole. Bielefeld, 2007; „Questioni meridionali, questioni europee? Ethnische und kulturelle Alterität im italienischen Kino der Gegenwart. Mit einem Exkurs zu Gianni Amelios Lamerica“, in: Quo vadis Romania? Zeitschrift für eine aktuelle Romanistik 33/2009 (im Druck); „Esilio interiore, esilio anteriore. Bianca Zagolins Familienromane des urbanen Nomadentums“, in: V. Berger/F. P. Kirsch/D. Winkler (Hg.), Montréal – Toronto. Stadtkultur und Migration in Literatur, Film und Musik. Berlin 2007, S. 200-220; „Empereurs de Californie? Blaise Cendrars et Luis Trenker à la recherche littéraire et cinématographique de L’Or“, in: Ritm. Recherches Interdisciplinaires sur les Textes Modernes 36/2006, S. 81-100. Winter, Scarlett, Dr., PD, wissenschaftliche Assistentin am Institut für Romanische Literaturen und Sprachen der Universität Frankfurt/Main, mit Schwerpunkt im Bereich der iberoromanischen Kultur- und Medienwissenschaft. Habilitation 2006 an der Universität Siegen. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Europäische Theater- und Filmgeschichte, Avantgardebewegungen in Frankreich und Spanien, Intermedialität von Dichtung und Malerei. Publikationen (Auswahl): Körper – Ästhetik – Spiel. Zur filmischen écriture der Nouvelle Vague, Tübingen 2004; RobbeGrillet, Resnais und der neue Blick, (hg. zus. m. Susanne Schlünder), Heidelberg 2007.

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Kultur- und Medientheorie Cristian Alvarado Leyton, Philipp Erchinger (Hg.) Identität und Unterschied Zur Kulturtheorie von Differenz und Transdifferenz Oktober 2009, ca. 450 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1182-3

Gunther Gebhard, Oliver Geisler, Steffen Schröter (Hg.) Von Monstern und Menschen Begegnungen der anderen Art in kulturwissenschaftlicher Perspektive Oktober 2009, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1235-6

Barbara Gronau, Alice Lagaay (Hg.) Ökonomien der Zurückhaltung Kulturelles Handeln zwischen Askese und Restriktion Dezember 2009, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1260-8

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Kultur- und Medientheorie Jürgen Hasse Unbedachtes Wohnen Lebensformen an verdeckten Rändern der Gesellschaft Juni 2009, 254 Seiten, kart., zahlr. Abb., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1005-5

Thomas Hecken Pop Geschichte eines Konzepts 1955-2009 August 2009, ca. 546 Seiten, kart., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-89942-982-4

Christian Kassung (Hg.) Die Unordnung der Dinge Eine Wissens- und Mediengeschichte des Unfalls Juni 2009, 476 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-721-9

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Kultur- und Medientheorie Moritz Csáky, Christoph Leitgeb (Hg.) Kommunikation – Gedächtnis – Raum Kulturwissenschaften nach dem »Spatial Turn« Februar 2009, 176 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN 978-3-8376-1120-5

Stephan Ditschke, Katerina Kroucheva, Daniel Stein (Hg.) Comics Zur Geschichte und Theorie eines populärkulturellen Mediums Juli 2009, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1119-9

Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Alma-Elisa Kittner (Hg.) Kampf der Künste! Kultur im Zeichen von Medienkonkurrenz und Eventstrategien Juli 2009, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-89942-873-5

Insa Härtel Symbolische Ordnungen umschreiben Autorität, Autorschaft und Handlungsmacht April 2009, 326 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1042-0

Kristiane Hasselmann Die Rituale der Freimaurer Zur Konstitution eines bürgerlichen Habitus im England des 18. Jahrhunderts

Albert Kümmel-Schnur, Christian Kassung (Hg.) Bildtelegraphie Eine Mediengeschichte in Patenten (1840-1930) Februar 2010, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1225-7

Christoph Neubert, Gabriele Schabacher (Hg.) Verkehrsgeschichte und Kulturwissenschaft Analysen an der Schnittstelle von Technik, Kultur und Medien Juli 2009, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1092-5

Susanne Regener Visuelle Gewalt Menschenbilder aus der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts September 2009, ca. 220 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-89942-420-1

Wladimir Velminski (Hg.) Sendungen Mediale Konturen zwischen Botschaft und Fernsicht Juli 2009, ca. 212 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1113-7

Annette Vowinckel, Rebekka Ladewig, Natascha Adamowsky (Hg.) Am Ball der Zeit Fußball als Ereignis und Faszinosum August 2009, ca. 176 Seiten, kart., ca. 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1280-6

Januar 2009, 376 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-89942-803-2

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ZfK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften

Karin Harrasser, Helmut Lethen, Elisabeth Timm (Hg.)

Sehnsucht nach Evidenz Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2009 Mai 2009, 128 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-1039-0 ISSN 9783-9331

ZFK – Zeitschrift für Kulturwissenschaften Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent: Neben innovativen und qualitativ hochwertigen Ansätzen besonders jüngerer Forscher und Forscherinnen steht eine Masse oberflächlicher Antragsprosa und zeitgeistiger Wissensproduktion – zugleich ist das Werk einer ganzen Generation interdisziplinärer Pioniere noch wenig erschlossen. In dieser Situation soll die Zeitschrift für Kulturwissenschaften eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über Kultur und die Kulturwissenschaften bieten. Die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur, historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus kann so mit klugen interdisziplinären Forschungsansätzen fruchtbar über die Rolle von Geschichte und Gedächtnis, von Erneuerung und Verstetigung, von Selbststeuerung und ökonomischer Umwälzung im Bereich der Kulturproduktion und der naturwissenschaftlichen Produktion von Wissen diskutiert werden. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften lässt gerade auch jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen zu Wort kommen, die aktuelle fächerübergreifende Ansätze entwickeln.

Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen die Ausgaben Fremde Dinge (1/2007), Filmwissenschaft als Kulturwissenschaft (2/2007), Kreativität. Eine Rückrufaktion (1/2008), Räume (2/2008) und Sehnsucht nach Evidenz (1/2009) vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected] www.transcript-verlag.de

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