Stupor saxoniae inferioris: Ernst Schubert zum 60. Geburtstag 9783897441682

Ernst Schubert, von 1985 bis zu seinem Tod 2006 Professor am Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte der Universität

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Stupor saxoniae inferioris: Ernst Schubert zum 60. Geburtstag
 9783897441682

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INHALT

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Göttinger Beiträge zur Geschichte, Kunst und Kultur des Mittelalters Herausgegeben von Peter Aufgebauer

Band 6

Wiard Hinrichs / Siegfried Schütz / Jürgen Wilke Stupor saxoniae inferioris Ernst Schubert zum 60. Geburtstag

Inh. Dr. Reinhilde Ruprecht e.K.

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ©Duehrkohp & Radicke Wissenschaftliche Publikationen, Göttingen 2001 www.edition-ruprecht.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urhebergesetzes bedarf der vorherigen schriftlichen Zustimmung des Verlags. Diese ist auch erforderlich bei einer Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke nach § 52a UrhG. Satz: Jürgen Wilke ISBN 978-3-89744-168-2

Inhalt

Tabula gratulatoria ......................................................................................

9

Vorwort .......................................................................................................

11

I. Mittelalter Brage Bei der Wieden Der Schwanengesang aus den Carmina Burana .........................................

13

Ida-Christine Riggert-Mindermann Ein Beitrag zu der geplanten Historisch-Landeskundlichen Exkursionskarte, Blatt Harsefeld(-Stade): Die Klöster................................................

21

Nathalie Kruppa Kloster, Adel und Memoria an der Oberweser ..........................................

33

Arend Mindermann Abt Albert von Stade. Ein Chronist des 13. Jahrhunderts........................

51

Frank Huismann Die Eversteinsche Fehde ............................................................................

59

II. Neuzeit Heike Bilgenroth Kriminalität und Zahlungsmoral im Alltag des 16. Jahrhunderts. Eine Untersuchung auf der Grundlage des Duderstädter Strafbuches von 1530-1546 .............................................................................................

83

Peter Burschel Zu Gryphius’ „Catharina von Georgien“...................................................

105

Wiard Hinrichs „Liberté, Égalité, Fraternité“ - Zur Vorgeschichte der französischen Revolutionsdevise .......................................................................................

127

Gerhard Diehl Ein Schiffsjunge aus Exeter am Grabe des Propheten oder: „A faithful account of the Religion and Manners of the Mahometans“ ..

145

Cecilie Hollberg Erzbischof Lothar Franz von Schönborn: Ein Jäger aus Kurmainz ........

159

Bettina Borgemeister „Zum totalen Ruin der Holzung?“ Holzdiebstähle aus Hannovers Stadtwald Eilenriede. Ein Blick in städtische Akten des 18. Jahrhunderts ......

165

Marie-Christina Jhering Austausch von Waren, Dienstleistungen und Informationen. Ostfriesische Studentenbriefe aus Halle 1741-1746..................................

173

Jürgen Wilke Grabendes Volk – Über den Umgang mit Feldhamstern..........................

185

Gunter Ehrhard Die Dienstbeschreibung des Amtes Herzberg von 1776. Agrarreform als Verwaltungsziel in Kurhannover ..........................................................

207

Silke Wagener-Fimpel Das Göttinger Studienjahr des Erbgrafen Carl zu Schaumburg-Lippe (1779-1780) .................................................................................................

215

Thomas T. Müller „Um diese das Landeswohl befassende Absicht zu erreichen ...“ Die Verordnung wegen des Hopfenbaues auf dem Eichsfeld von 1783 und ihre Auswirkungen...............................................................................

237

Siegfried Schütz Joseph Joachims Taufe in der Aegidienkirche zu Hannover am 3. Mai 1855 ..................................................................................................

245

III. Andere Perspektiven Claudia Kaufold Der Ertrag der historischen Ausbildung für die Arbeit im Verlag, oder: Was in aller Welt mache ich hier? ..............................................................

257

Stefan Brüdermann Vom Gehen, Radeln und Fahren in Rom ..................................................

261

Beate Schuster Der Blick über den Zaun - die Universität in Frankreich .........................

271

Siegfried Schütz Verzeichnis der Veröffentlichungen von Ernst Schubert .........................

281

Tabula gratulatoria Brage Bei der Wieden, Lehrte-Ahlten

Arend Mindermann, Stade

Heike Bilgenroth, Berlin

Thomas T. Müller, Worbis

Bettina Borgemeister, Göttingen

Klaus Nippert, Köln

Dirk Brandhorst, Gerolsbach

Heung-Sik Park, Seoul

Stefan Brüdermann, Rom

Gustav Partington, Braunschweig

Peter Burschel, Moos

Wolfgang Petri, Vechelde

Gerhard Diehl, Rosdorf

Thomas Raschke, Göttingen

Gunter Ehrhard, Göttingen

Thomas Reller, Göttingen

Guido Ewald, Göttingen

Ida-Christine Riggert-Mindermann, Stade

Hajo Gevers, Frankfurt am Main

Siegfried Schütz, Göttingen

Ilka Göbel, Salzhausen

Beate Schuster, Strasbourg

Wiard Hinrichs, Göttingen

Gerhard Sternitzke, Lüneburg

Cecilie Hollberg, Göttingen

Rikwa Stübig, Osterode am Harz

Frank Huismann, Horn–Bad Meinberg

Katja Unverhaun, Göttingen

Marie-Christina Jhering, Göttingen

Silke Wagener-Fimpel, Bückeburg

Claudia Kaufold, Oldenburg

Jürgen Wilke, Göttingen

Ralf Kirstan, Göttingen

Ulrike Witt, Göttingen

Antje Koolman, Schwerin

Klaudia Woede, Göttingen

Sebastian Kreiker, Magdeburg

Kai Yamaguchi, Göttingen

Nathalie Kruppa, Göttingen

Vorwort Doktorandenkolloquien nehmen eine Randstellung im Lehrbetrieb der Universität ein. Zeitlich gilt dies im besonderen Maße für eine Veranstaltung, die anfänglich am Samstagmorgen um 10.00 Uhr c.t. begann. In ruhiger Kaffeeatmosphäre entzogen sich die Teilnehmer des Kolloquiums Neue Forschungen zur niedersächsischen Landesgeschichte unter der Leitung Ernst Schuberts der wochendendlichen Einkaufshektik. Ihre Aufmerksamkeit galt in den nächsten zwei Stunden einem von Sitzung zu Sitzung gewählten historischen Thema, das nicht notwendigerweise an den Landesgrenzen Niedersachsens halt machen mußte. Bei einer „niedersächsischen Landesherrin“ – Katharina der Großen – führte die Diskussion bis nach Archangelsk und zu den Amish People Pennsylvaniens. Mitunter konnten sich Themen auch zu einem semesterfüllenden Programm auswachsen, wie bei der Lektüre vielhundertseitiger historischer Romane. Geschichte im Wechsel der Erinnerungsmedien: Fleckenssiegel, Historiengemälde, Wilhelm Buschs Gedichte, Karikaturen, Landkarten, Revolutionslieder und Stummfilme konnten genauso Gegenstand sein wie Verwaltungsschriftgut oder Selbstzeugnisse – die klassischen Quellen des Historikers. Schon diese Vielfalt zeigt, daß das Kolloquium keine Pflichtveranstaltung für Prüfungskandidaten war und ist. Dennoch fanden hier auch Examenskandidaten, Magistranden und Doktoranden ein Forum für ihre im Entstehen begriffenen Arbeiten. Neben diese universitär bedingten Themen traten gemeinsam ausgewählte Lektüren neuer Veröffentlichungen, mitunter auch die Präsentation der Ergebnisse kommunaler Auftragshistoriographie. So beschäftigten wir uns beispielsweise mit Diplomatie und Musik am Welfenhof in Gestalt des Abbé Agostino Steffani, mit der Rekonstruktion bäuerlichen Lebens und Arbeitens auf dem Brümmerhof bei Hösseringen in der Lüneburger Heide und verfolgten die Entwicklung des Wappens von Herzberg am Harz durch die Geschichte von Amt und Stadt. Für die Einübung wissenschaftlicher Dialogformen unter den Bedingungen der Massenuniversität stellt das Kolloquium das dar, was die Experimentierbühne für das Staatstheater ist. Selten blieb es beim Zwiegespräch zwischen Dozent und Vortragendem, vielmehr entstanden regelmäßig lebhafte und offene Diskussionen, die den Teilnehmern oft überraschende Einsichten ermöglichten und gelegentlich auch zu unerwarteten Konfrontationen führten. In solchen Momenten konnten die Vortragenden mit allem rechnen, nur nicht damit, ihr Referat zu einem planmäßigen Ende zu bringen. Diesen Erörterungen war auch manches Werk des Lehrstuhlinhabers ausgesetzt. Eine solche Runde debattierte einmal heftig, wie man wohl niedersächsische Landesgeschichte auf einem Dutzend Seiten darstellen könne. Ebenso wurde dem Kolloquium aber auch das Problem präsentiert, eine Geschichte Niedersachsens im Mittelalter auf tausend Seiten aus einer Feder zu schreiben.

12 Den sicheren Abstand der Historiker zu vergangenem Geschehen durchbrach 1989 die Öffnung der südöstlichen Grenze Niedersachsens, zufällig am Vorabend einer anberaumten Kolloquiumssitzung. Das vorbereitete Sitzungsthema fiel den aktuellen politischen Vorgängen zum Opfer - sicherlich eine der intensivsten Diskussionen, die wir im Kolloquium geführt haben. Uns öffnete sich nun auch ohne die Hilfe der KöniglichHannoverschen Armee der Weg nach Langensalza, wo wir beim Versuch, den Schlachthergang nachzuvollziehen, feststellten, wie sehr die Anschaulichkeit eines Ortes zum Verständnis historischen Geschehens beiträgt. Interdisziplinarität, offene Gespräche und die Bereitschaft sich auf immer neue und ungewöhnliche Themen einzulassen, waren - neben Kaffee und Gebäck - wesentliche Bestandteile einer Lehrveranstaltung, die durch ihre Wiederkehr von Semester zu Semester für uns alle ein Moment der Kontinuität und freundschaftlichen Gemeinsamkeit im ansonsten individualisierten Studienalltag bot. Während des letztjährigen Treffens in Göttingen entstand die Idee, es nicht bei der traditionellen Feuerzangenbowle ehemaliger und gegenwärtiger Schüler bewenden zu lassen. Mit den hier versammelten Aufsätzen wollen wir vielmehr Ihnen, lieber Ernst Schubert, als Ihr Kolloquium zum sechzigsten Geburtstag mit einem gemeinsamen Geschenk gratulieren. Wir hoffen, das unsere Beiträge für Sie ebenso kurzweilig sind, wie es das eben doch nicht so randständige Kolloquium für uns war, das uns in den vergangenen fünfzehn Jahren so oft in Staunen und Heiterkeit zu versetzen vermochte! Göttingen im Mai 2001

Die Herausgeber

Der Schwanengesang aus den Carmina Burana Brage Bei der Wieden

Zu den bekanntesten Beispielen der Vagantenlyrik 1 zählt, von Carl Orff einprägsam vertont, Nr. 130 der Carmina Burana: Olim lacus colueram, olim pulcher extiteram, dum cignus ego fueram. miser, miser! REFLOIT: Modo niger et ustus fortiter. Girat, regirat carcifer, propinat me nunc dapifer, me rogus urit fortiter. miser, miser! REFL. Mallem in aquis vivere, nudo semper sub aere, quam in hoc mergi pipere. miser, miser! REFL. Eram nive candidor, quavis ave formosior, modo sum corvo nigrior. miser, miser! REFL. Nunc in scutella iaceo et volitare nequeo, dentes frendentes video miser, miser! REFL. 1 Zum sozialen Hintergrund der Vagantenlyrik s. Ernst S CHUBERT : Fahrendes Volk im Mittelalter, Bielefeld 1995, S. 98f., 246f., 251; zu ihren Inhalten Karl L ANGOSCH : Profile des lateinischen Mittelalters. Geschichtliche Bilder aus dem europäischen Geistesleben, Darmstadt 1965, S. 242 – 249.

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Brage Bei der Wieden

(Einst wohnte ich auf dem See, einst erschien ich schön, als ich Schwan noch war. Ich Armer, armer! - Jetzt bin ich schwarz und stark angesengt. Hin und her dreht mich der Küchenknecht. Jetzt trägt der Truchsess mich auf. Der Rost brennt heftig. Ich Armer, armer ... Lieber schwebte ich auf dem Wasser, immer unter freiem Himmel, als in diesen Pfeffer getaucht zu werden. Ich Armer, armer ... Ich war weißer als Schnee, von schönerer Gestalt als jeder andere Vogel. Ich Armer, armer ... Nun liege ich in der Schüssel und kann nicht fliegen, Zähne, die knirschen, sehe ich. Ich Armer, armer ...) 2 Littera gesta docet ... Der Codex Buranus enthält eine Sammlung von Liedern, die vielleicht in den 1230er Jahren am Hof des Bischofs von Seckau in der Steiermark entstanden sind. 3 CB 130 steht unter den Liebesliedern, gehört aber zu einer Gruppe von Klagen ganz unterschiedlicher Art. Hier singt ein Schwan am Spieß. Er klagt über seinen jetzigen Zustand und vergleicht ihn mit dem früheren. Die erste und zweite, die vierte und fünfte Strophe wechseln vom Perfekt ins Präsens. Nur die dritte, die mittlere Strophe, hat ein neues Tempus, den Konjunktiv Imperfekt als Modus des unerfüllbaren Wunsches. Unendlich lieber wäre es ihm, das ewige Leben zu erhalten, als zu sterben, vor allem: so zu sterben. Sein Lied thematisiert den Gegensatz: Olim ... nunc, lacus ... scutella, volitare ... girari und vor allem: pulcher, candida, formosa ... niger. Den Kommentatoren ist weiter dazu nichts eingefallen als der Hinweis auf den Planctus cygni 4 und die Vermutung: „Wir dürfen annehmen, daß die gesamte Tafelrunde den Refrain mitsang.“ 5 Quid credas allegoria ... Er war schön, weißer als Schnee, von angenehmer Gestalt, d. h. es handelte sich um einen adulten Höckerschwan. Das Fleisch des ausgewachsenen Schwans hat aber selbst das Mittelalter nicht geschätzt. „Sein Fleisch ist schwarz ... und hart wie das aller großen Wasservögel“, schreibt Albertus Magnus. 6 Er kam gewöhnlich als Schauessen auf den Tisch,

2 Carmina Burana, hg. von Benedikt Konrad V OLLMANN (Bibliothek des Mittelalters 13), Frankfurt/M. 1987, S. 460; Carmina Burana. Lateinisch/Deutsch. Ausgewählt, übersetzt und hg. von Günter B ERNT , Stuttgart 1992, S. 186 – 189. 3 LMA 2, 1983, Sp. 1513f. 4 Analecta hymnica medii aevi, Bd. 7: Prosarium Lemovicense. Die Prosen der Abtei St. Martial zu Limoges, hg. von Guido Maria D REVES , Leipzig 1889, S. 253. Der Gedanke, der hier ausgeführt wird, ist ein ganz anderer: Der Schwan als Seelenvogel verdeutlicht die Bedrängnis der Seele, die sich zu selbstsicher auf die eigene Kraft verlassen hat, in der Prüfung aber ihre Ohnmacht erkennt und gerettet wird. Der Hinweis auf den Planctus cygni stammt aus einer Rezension von H. S PANKE im Literaturblatt für germanische und romanische Philologie 1 - 2, 1943, Sp. 35 – 46, hier Sp. 44. 5 V OLLMANN (wie Anm. 2), S. 1117. 6 Caro autem eius nigra et praecipue pedes et caro eius est dura sicut omnium avium aquaticarum magnarum. A LBERTUS M AGNUS : De animalibus libri XXVI. Nach der Cölner Urschrift hg. von Hermann S TADLER (Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters 15), Bd. 2, Münster 1916, S. 1447. Aus der frühen Neuzeit lassen sich zahlreiche Zeugnisse dieser Einschätzung anführen.

Der Schwanengesang aus den Carmina Burana

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vergoldet oder in der Pracht des eigenen Gefieders. 7 Der Jungschwan dagegen galt als schmackhaft; an einen solchen dachte jener Prälat, von dem Chaucer schreibt: A fat swan loved he best of any roost; 8 einen Jungschwan (cygnet) rühmte der normannische Edelmann Gilles de Gouberville 1556 als fett und zart. 9 Cygnets aber heißen die Schwäne nur im ersten Jahr, wenn sie, als häßliche Entlein, noch graue Federn tragen. Nicht allein hier bricht die literarische Fiktion auf: Wer lässt schon einen teuren Braten verbrennen, dass er schwärzer wird als ein Rabe? Die Deutung muss also — und das kann bei Literatur aus einem geistlichen Umfeld nicht überraschen — zusätzliche Sinnebenen aufspüren. Zunächst: Überdeutlich, doch in den Kommentaren nicht angemerkt: Es handelt sich um einen Schwanengesang: um einen Klagegesang angesichts des Todes. Besonders im übertragenen Sinne, auf das letzte Werk eines Dichters gewendet, ist dieser Topos in der Antike ausgestaltet und tradiert worden. 10 Von den Kirchenvätern hat nur Ambrosius ihn benutzt, aber um 1200 kannte man die einschlägigen Stellen der klassischen Literatur, und so schreibt z. B. Alexander Neckam (1157 – 1217) über den Schwan: „Wenn er erkennt, dass sein letzter Tag gekommen ist, lässt er süß ein Lied ertönen und schmeichelt den Göttern, mit Honig verströmendem Mund grüßt er die vertrauten Gewässer.“ 11 Doch was bedeutet der Schwan? Die Kirchenväter hatten gewöhnlich den langen Hals hervorgehoben und als Zeichen der Superbia ausgelegt. Im 12. Jahrhundert trat eine andere Anschauung hervor. Ich finde sie zuerst bei Hugo von Fouilloy, der in seinem Buch De avibus (zwischen 1132 und 1152) bemerkt: „Der Schwan hat weiße Federn, aber schwarzes Fleisch. In moralischem Sinne bezeichnet der Schwan in seinem weißen Gefieder den Effekt 7 Rezepte: Jeanne B OURIN : Les recettes de Mathilde Brunel. Cuisin médiévale pour table d’aujourd’hui, Paris 1983, dt. München 1991, S. 215 (Viandier de Taillevent), 220f. (Ménagier de Paris); Marx R UMPOLT : Ein new Kochbuch ..., Frankfurt/M. 1581, ND Leipzig 1976; Stefan B URSCHE : Tafelzier des Barock, München 1974, S. 117 (Die Curieuse Köchin). In mittelalterlichen französischen Quellen werden mitunter gepfefferte Schwäne (cisnes enpevrés) erwähnt; dabei wird es sich in der Regel um Jungschwäne handeln. Nachweise: Alwin S CHULTZ : Das höfische Leben zur Zeit der Minnesänger, Bd. 1, 2. Aufl. Leipzig 1889, S. 388, Anm. 6. 8 A Variorum Edition of The Works of Geoffrey C HAUCER , Bd. 2: The Canterbury Tales, The General Proloque, Norman u. London 1993, S. 147 (Z 206). 9 Barbara Ketcham W HEATON : Savouring the Past. The French Kitchen and Table from 1300 to 1789, London 1983, S. 56. Vgl. Norman F. T ICEHURST : The Mute Swan in England. It’s History, and the Ancient Custom of Swan Keeping, London 1957, der S. 16 feststellt, dass es meistens Jungschwäne waren, die zu großen Festen geliefert wurden. 10 Harald Othmar L ENZ : Zoologie der alten Griechen und Römer, deutsch in Auszügen aus deren Schriften, nebst Anmerkungen, Gotha 1856, ND Vaduz 1995, S. 384 – 401; Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaften, hg. von Georg W ISSOWA , 2. Reihe, 3. Halbbd., Stuttgart 1921, Sp. 785 – 787. 11 Extremum cum jam cernit adesse diem,/ Dule melos resonat, demulcet numina cantu,/ Mellifluo notas ore salutat aquas. A LEXANDER N ECKAM : De naturis rerum libri duo. With the poem of the same author De laudibus divinae sapientiae hg. von Thomas W RIGHT (Rerum Brittanicarum Medii Aevi Scriptores: Rolls Series 34), London 1863, ND Nendeln 1967, S. 381.

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Brage Bei der Wieden

der Heuchelei, durch die schwarzes Fleisch versteckt wird, denn die Sünde des Fleisches wird durch Heuchelei verhüllt.“ 12 Hinsichtlich dieses Lasters verstand Hugo keinen Spaß; er hinterließ eine eigene Schrift, eine Invektive De hypocrita. 13 Von Hugo könnte Jakob von Vitry (1160/70 – 1240) die Information über das schwarze Schwanenfleisch gehabt haben; 14 auf diesen bezieht sich Thomas von Cantimpré (um 1201 – um 1270). 15 Ferner sei Hugo von St. Chér angeführt (1190 – 1263), der erklärt: „Der Schwan ist ein weißer Vogel mit langem Hals, großem Leib und schwarzem Fleisch; er bedeutet diejenigen, die sich mehr als billig einer glänzenden Kleidung rühmen, inwendig aber schwarz sind von ihrer Sündenschwärze wie der reiche Mann Lukas 16.“ 16 Auch Berthold von Regensburg (um 1210 – 1272) zieht diesen Vergleich heran, wenn er Deut. 14,17 auslegt und meint, unrein werde der Schwan genannt, weil er ein Heuchler sei. 17 In der hl. Schrift verwirft Jesus die Heuchler (Luc. 12,1); besonders behandelt daneben das Buch Iob dieses Laster, in dem es u. a. heißt: ... spes hypocritae peribit – Die Hoffnung der Heuchler wird verloren sein (Iob 8,13). Die Theologen haben sich relativ wenig mit der Hypocrasis beschäftigt; immerhin heißt es in einem Traktat, der Hugo von St. Viktor zugeschrieben wird: „Die Heuchelei ist ein subtiles Übel, ein verborgenes Gift, ein wachsamer Dieb, rostender Grünspan, eine fressende Motte, eine Pest, vor der man sich in acht zu nehmen hat; aus Heilmitteln macht sie Krankheiten, aus Arzneien Schwachheit; sie verkehrt Heiligkeit in Verbrechen, Gefallen in Schuld, Tugend in Laster, Gewinn in Verlust, Vergebung in Sünde.“ 18 Und 12 Cygnus plumam habet niveam, sed carnem nigram. Moraliter olor niveus in plumis designat effectum simulationis, qua caro nigra tegitur, quia peccatum carnis simulatione velatur. Willene B. C LARK : The Medieval Book of Birds: Hugh of Fouilloy’s Aviarium. Edition, Translation and Commentars (Medieval and Renaissance Texts and Studies 80), Binghamton 1992, S. 242; PL 177, 51B (als Appendix zu den dogmatischen Werken Hugos von St. Viktor). 13 LMA 5, 1991, Sp. 172. 14 Cygnus plumas habet candidas, sed carnes nigras. J ACOBUS DE V ITRIACO : Historia Hierosolimitana, in: [J AQUES DE B ONGARS :] Gesta Dei per Francos, Sive Orientalium Expeditionum, Et Regni Francorum Hierosolimitani Historia, Bd. 1, Hanau 1611, S. 1114. Dass Jakob auch sonst Hugo von Fouilloys Tierbuch benutzt hat, zeigt Goswin F RENKEN : Die Exempla des Jacob von Vitry. Ein Beitrag zur Geschichte der Erzählungsliteratur des Mittelalters (Quellen und Untersuchungen zur lateinischen Philologie des Mittelalters 5, H. 1), München 1914, S. 31, 37. 15 T HOMAS C ANTIMPRATENSIS : Liber de natura rerum. Editio princeps secundum codices manuscriptos ed. H. B OESE , Berlin u. New York 1973, S. 188. 16 Cygnus est avis candida, extenti colli, magna corpore, nigra in carne: Et significat illos, qui splendore vestitus, plus aequo gloriantur, nigri intus nigredine peccatorum, quorum unus erat dives Lucae 16. H UGONIS DE S ANCTO C HARO Cardinalis Opera ominia, Bd. 1, Lyon 1669, S. 112. 17 Nach dem Mittellateinischen Wörterbuch, Bd. 2, München 1999, Sp. 2181. 18 Hypocrisis malum subtile, virus latens, fur custodiens, aegro consumens, tinea demoliens, pestilentia cavenda, quae de remediis creat morbos, conficit de medicina languorem, sanctitatem vertit in crimen, placationem facit reatum, de virtute vitium, de mercede dispendium, de remissione peccatum. PL 177, 753B (Miscellanea: Tractatuum Moralium Fragmenta).

Der Schwanengesang aus den Carmina Burana

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Dante schickt die Heuchler in den sechsten Graben des achten Höllenkreises, nicht mehr weit vom Zentrum entfernt, vom dreimäuligen Luzifer: „Sie trugen Kutten, deren tiefe Kappen/ Bis vor die Augen gingen, nach dem Schnitt/ Gemacht, wie er in Köln den Mönchen eigen./ Vergoldet sind sie außen, daß es blendet,/ Doch innen ganz von Blei und also schwer,/ Daß die von Friedrich Stroh dagegen waren.“ 19 Die Vorstellung eines Sünders im Feuer, durch den Schwan am Spieß evoziert, führt die Überlegungen in eine um 1200 aktuelle Diskussion, die um die Topografie der Hölle kreiste. Jacques Le Goff möchte „die Geburt des Fegefeuers“ auf die Dezennien zwischen 1170 und 1200 datieren; 20 egal, ob man ihm darin folgen will oder nicht: Die Theologen setzten sich in dieser Zeit intensiv mit den jenseitigen Straf- und Reinigungsorten auseinander. Die Differenzierung der Sünden gewann an Bedeutung. Gleichwohl wäre es so haarspalterisch wie spekulativ, wollte man zu entscheiden versuchen, ob der Heuchler, hier der Schwan, zu den ganz Schlechten gehörte, die im höllischen Feuer nur auf das Jüngste Gericht warten, oder zu denen, die eine zerknirschte Reue noch vor dem ewigen Tod bewahren könnte. Das wäre auch müßig: Das Höllenmaul ist weit aufgerissen, und von Reue nichts zu spüren. Die drohenden Zähne bezeichnen dieses Maul, das die Schrift Is. 5,14f. erwähnt: „Daher hat die Hölle den Schlund weit aufgesperrt und den Rachen aufgetan ohne Maß, daß hinunterfahren beide, ihre Herrlichen und der Pöbel, ihre Reichen und Fröhlichen; daß jedermann sich bücken müsse und jedermann gedemütigt werde und die Augen der Hoffärtigen gedemütigt werden.“ (Luther). 21 Die Theologen haben sich von diesem Höllenrachen weniger affizieren lassen, 22 umso mehr die Künstler. Besonders Gerichtsszenen an gotischen Kirchenportalen haben dieses Motiv verwendet: in Autun, in Amiens, in Bourges, Chartres, Bayeux, Conques, Poitiers, St. Omer, St. Sulpice de Favières. 23 Ältere Beispiele bietet die Buchmalerei. 24 Soweit die Betrachtung, die sich vom Hauptstrom der Überlieferung leiten ließ. Hugo de Folietos Vogelbuch bietet aber noch eine andere Möglichkeit. Nachdem der Schwan darin als Zeichen der Heuchelei gedeutet worden ist, nimmt der Autor die ältere Auslegung, die auf die Superbia zielte, wieder auf und verknüpft sie mit der Kontrastvorstellung Schwarz-Weiß. Er schreibt: „Wenn aber der Schwan seines weißen Gefieders entkleidet worden ist, wird 19 Hölle, 23. Gesang: Dante: Die Göttliche Komödie, I. Die Hölle. Übersetzt von Karl E ITNER , Leipzig u. Wien o. J., S. 83f. 20 Jacques L E G OFF : La Naissance du Purgatoire, Paris 1981, dt.: Die Geburt des Fegefeuers, 2. Aufl. München 1991. S. a. Tarald R ASMUSSEN : Hölle II. Kirchengeschichtlich, in: TRE 15, 1986, Sp. 449 – 455. 21 Propterea dilatavit infernus animam suam, et aperuit os suum absque ullo termino; et descendent fortes eius, et populus eius, et sublimes gloriosique eius, ad eum. Et incurvabitur homo, et humiliabitur vir, et oculi sublimium deprimentur. 22 Mit Ausnahmen: S. Herbert V ORGRIMLER : Geschichte der Hölle, München 1993, S. 142f., 171 (Hildegard von Bingen), 359, 361. 23 LCI 2, Sp. 317f. nach Wolf Heinrich von der M ÜLBE : Die Darstellung der Jüngsten Gerichts an den romanischen und gotischen Kirchenportalen Frankreichs, Leipzig 1911. 24 Gertrud S CHILLER : Ikonographie der christlichen Kunst, Bd. 3: Die Auferstehung und Erhöhung Christi, Gütersloh 1971, S. 56 – 66.

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Brage Bei der Wieden

er, an den Spieß gesteckt, am Feuer geröstet. Ebenso: Wenn der hoffärtige reiche Mann (dives superbus) sterbend des irdischen Ruhms entkleidet worden ist und in die höllischen Flammen hinabsteigt [wie bei Hugo von St. Chér also der Hinweis auf den reichen Mann Luc. 16,19 – 31], wird er mit Qualen gestraft werden, und der, der gewohnt ist, seine Nahrung in der Tiefe zu suchen [wieder der Schwan], steigt in den Höllenschlund hinunter und wird eine Nahrung des Feuers.“ 25 Man könnte meinen, der Schwanengesang aus den Carmina Burana versifiziere exakt diese Textstelle. Superbia, das ist die Ursünde: initium omnis peccati. 26 Gregor I. sah sie als „Königin“ die anderen Laster in die Schlacht führen, 27 Dante beschreibt sie als die erste der Todsünden. 28 Noch weniger als der Heuchler kann der Hoffärtige auf Erlösung hoffen. Zwei Fragen bleiben: Warum war es Hugo de Folieto, der dieses Bild vom schwarzen Fleisch unter weißem Flaum gefunden hat? Und wie kam er darauf, das Schwanenfleisch schwarz zu nennen? Hugo hat die Zeit seines Lebens in der Picardie zugebracht, in der Nähe von Amiens. Schwäne müssen ihm gut vertraut gewesen sein, denn in der Picardie bildete sich (wie in England, Holland und Friesland) ein Besitzrecht an Höckerschwänen aus. Gerade in Amiens hielt sich das zeremonielle Einfangen der Schwäne, das sonst in Frankreich im 16. Jahrhundert abkam, noch am Vorabend der Revolution. 29 Tatsächlich haben Schwäne eine dunkle Haut, und rein schwarz sind die Füße und Beine. Die Antithese ließ sich also, zumal wenn man, wie Hugo, den Blick des Malers hatte, 30 leicht herstellen. Besonders auch deshalb, weil die mittelalterliche Farbsymbolik mitschwang, in diesem Falle abgeleitet aus der Licht-Dunkel-Allegorese. 31 Der Prägnanzdruck der geistlichen Deutung bewirkte, dass der Dichter des Schwanengesangs aus den Carmina Burana in einer Hinsicht die Realität verkürzte: Das Fleisch eines ausgewachsenen Schwanes kam gewöhnlich nicht ohne Putz, ohne Gold oder Aufrichtung des eigenen Gefieders auf den

25 Cum vero pluma nivea cignus exuitur, in veru positus ad ignem torretur. Similiter cum dives superbus moriens exuitur, cruciabitur per tormenta, et qui cibum quaerere consueverat in imis, in abyssum descendens fit cibus ignis. C LARK (wie Anm. 12), S. 242 – 244; PL 177, 51C. 26 Eccli. 10, 15, vgl. Tob. 4,14: ... in ipsam enim initium sumpsit omnis perditio. 27 S. G REGORII MAGNI Moralia in Iob, Libri XXIII – XXXV ed. Marcus A DRIAEN (CCSL 143 B), Turnhout 1985, S. 1610f. (XXXI, XLV). 28 Fegefeuer, 10. Gesang: D ANTE : Die Göttliche Komödie, II. Das Fegefeuer. Übersetzt von Karl E ITNER , Leipzig u. Wien o. J. 29 [Pierre Jean-Baptiste] L EGRAND D ’A USSY : Histoire de la vie privée des francais. Première partie. Tome second, Paris 1782, S. 18. 30 Zu Hugo als Maler s. Friedrich O HLY : Probleme der mittelalterlichen Bedeutungsforschung und das Taubenbild des Hugo de Folieto, in: Frühmittelalterliche Studien 2, 1968, S. 162 – 201. 31 Christel M EIER : Die Bedeutung der Farben im Werk Hildegards von Bingen, in: Frühmittelalterliche Studien 6, 1972, S. 245 – 355; Umberto E CO : Arte e bellezza nell’estetica medievale, dt.: Kunst und Schönheit im Mittelalter, 4. Aufl. München 1998, S. 67 - 72.

Der Schwanengesang aus den Carmina Burana

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Tisch. 32 Das war der Ausgangspunkt dieser Darlegung. Sie ermöglichte es, das Thema des genannten Schwanengesangs überraschend genau fassen zu können. Für dessen Datierung ergibt sich: wahrscheinlich Nordfrankreich, nach 1150.

32 Das Grundrezept im 14. Jahrhundert sah vor, den gebratenen Schwan nach Belieben zu vergolden, bis zu den Schulterblättern aufzuschneiden und schließlich mit gelbem Pfeffer zu servieren. B OURIN (wie Anm. 7), S. 215, 220.

Ein Beitrag zu der geplanten HistorischLandeskundlichen Exkursionskarte, Blatt Harsefeld(-Stade): Die Klöster Ida-Christine Riggert-Mindermann

Vorbemerkung Für die geplante Historisch-landeskundliche Exkursionskarte, Bl. Harsefeld(Stade) wurde anfangs überlegt, ob die Stadt Buxtehude mit in das Kartenblatt einbezogen werden solle. Dieses geschah letzten Endes nicht. Damit entfällt auch eine kurze Darstellung der Geschichte von Altkloster. Abweichend zu der geplanten Exkursionskarte wird im Folgenden das für den Elbe-Weser-Raum einst bedeutende Benediktinerinnenkloster Buxtehude bzw. Altkloster mit erfaßt. Es findet sich als ‚Ergänzung’ am Ende des folgenden Beitrages. Womit es sich bei demselben eben doch nicht um einen reinen ‚Vorab-Abdruck’ handelt.

Die ehemaligen Klöster innerhalb des Blattes Harsefeld(-Stade) Zum Blatt Harsefeld(-Stade) gehören fünf ehemalige Klöster bzw. Stifte, von denen drei in der Stadt Stade lagen. Lediglich eines der fünf geistlichen Einrichtungen war dabei ein Frauenkloster. Gemeinsames Merkmal der fünf Klöster bzw. Stifte ist deren Aufhebung, die im 16. und 17. Jahrhundert erfolgte. Eine gewisse Sonderrolle nimmt darunter das Kloster St. Johannis in Stade ein.

Benediktinerkloster St. Marien zu Harsefeld Die Vorgeschichte des späteren Benediktinerklosters Harsefeld beginnt etwa um 1002. Als Sühne für ihre Beteiligung an der Ermordung des Markgrafen Eckhard I. von Meißen sollen die Brüder Heinrich und Udo von Katlenburg zu dem genannten Zeitpunkt ein Stift für Weltgeistliche in Harsefeld gegründet haben. Die Stifter, bei denen es sich um Angehörige der Grafen von Stade handelte, statteten die Propstei mit Eigenbesitz aus, der bei Stade und Harsefeld lag. Errichtet wurde das Stift an dem Ort, an dem sich die ehemalige Burg der Grafen von Stade befand. Den Platz hatte Graf Heinrich d. Gute von Stade zur Verfügung gestellt. In der Folgezeit müssen die Grafen von

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Stade das Stift als Eigenstift betrachtet haben. Versuche des Erzbischofs von Bremen, Einfluß auf dessen geistiges Leben zu nehmen, scheiterten an den Grafen, denen die Propstei als Grablege diente. 1082 entstanden Gedanken darüber, das Stift in ein Benediktinerkloster umzuwandeln. Federführend war hierbei die Stifterfamilie selbst, in der Person der Markgräfin Oda, Witwe des Grafen Luder Udo II. Unter Beteiligung der Stifterfamilie wurde die Umwandlung schließlich 1101 vollzogen. Der Konvent entstand aus Mönchen des Ilsenburger Konvents, von denen ein Teil, nach der Vertreibung der Mönche aus Ilsenburg, nach Harsefeld gekommen war. Einige der bisherigen Stiftsherren traten in den neuen Benediktinerkonvent ein, andere wurden abgefunden. Im Jahr darauf, 1102, übertrug die einstige Stifterfamilie das Kloster der römischen Kurie; Papst Paschalis II. nahm es als Eigenkirche an. Durch diese Maßnahme unterstand Harsefeld direkt dem Papst, war somit befreit von der geistlichen Jurisdiktion und Aufsicht des Erzbischofs von Bremen, zu dessen Diözese es gehörte. Aufgaben und Rechte der Erzbischöfe wurden auf wenige, unentgeltlich zu leistende Weihehandlungen beschränkt. Die dem Kloster zugesicherte freie Abts- und Vogtswahl unterlag hinsichtlich letzterer gewisser Einschränkungen: bis zum Tod des letzten Stader Grafen, im Jahre 1144, blieb die Vogtei als Erbvogtei bei der ehemaligen Stifterfamilie. Wenig bekannt ist zur Größe und sozialen Zusammensetzung des Konvents. Die meisten Patres stammten aus Adelsfamilien des Erzstiftes Bremen sowie der Lüneburger Territorien bzw. des Stiftes Verden; darüber hinaus handelte es sich spätestens seit dem 15. Jahrhundert z.T. auch um Sühne aus Stader und Bremer Patrizierfamilien. Von der Größe her betrachtet war dabei der Konvent offensichtlich stets recht klein: 1386 gab es mehr als 10 Mitglieder, zu den Abtswahlen 1440 und 1462 außer dem Abt je acht wahlberechtigte Konventualen. Von seiner Bedeutung her war Harsefeld seit der Umwandlung in ein Benediktinerkloster die vornehmste Abtei im Erzstift Bremen. Ausschlaggebend hierfür war die Exemtion. Seit dem ausgehenden 14. Jh. führten die Äbte von Harsefeld zudem den Titel eines Erzabtes, auch dieses ein Zeichen der Stellung und des Selbstbewußtseins Harsefelds. Eine besondere Rolle nahm darüber hinaus das Kloster innerhalb der bremischen Landstände ein, die sich Ende des 14. Jh.s als feste Institution bildeten: die Harsefelder Äbte übernahmen faktisch die Rolle des Sprechers der Landstände gegenüber dem Landesherrn, dem Erzbischof von Bremen. Damit übten sie gleichsam die Rolle des Vorsitzenden der Landstände aus und „damit [wurden sie] zu Inhabern einer der einflußreichsten Positionen im Lande“ (Schulze 1979, S. 140). 1147 war Harsefeld maßgeblich an der Gründung des Klosters St. Marien vor Stade beteiligt, dessen Konvent mit Harsefelder Mönchen gebildet wurde. Wenige Jahre später setzten die Versuche der Erzbischöfe von Bremen ein, die Exemtion Harsefelds einzuschränken. Ansatzweise gelang dieses, besonders nach Einführung der durch die Erzbischöfe geförderten Bursfelder Reform. Offiziell aber blieb Harsefeld bis zu seiner Auflösung exemt. 1236 und 1242 zerstörten Brände das Kloster zum größten Teil. 1545 und 1546

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erfolgte abermals eine Vernichtung der Klosteranlage, als in zwei Überfällen der mecklenburgische Ritter Joachim Pentz auf seinem Feldzug gegen Erzbischof Christoph von Bremen Harsefeld plünderte und niederbrannte. Wie im 13. Jh. kam es zu einem Neubau, jedoch nun wohl nicht mehr in der alten Größe. Dreieinhalb Jahrzehnte vor dieser vorerst letzten Zerstörung war es in Harsefeld zur Einführung der Bursfelder Reform gekommen, die vom Bremer Erzbischof Johann Rode gefördert wurde. 1510 trat Harsefeld, zusammen mit dem Kloster St. Marien in Stade, offiziell der Bursfelder Kongregation bei. Im Vorfeld dieser Maßnahme war es, unter Beteiligung des Bremer Erzbischofs, 1508 zur Resignation des amtierenden Harsefelder Abtes gekommen. An seine Stelle trat Heinrich Dudenrath, der aus dem Kloster Huysburg stammte, einem Zentrum der Reformbewegung. Der sich wenige Jahre später ausbreitenden lutherischen Reformation schloß man sich in Harsefeld nicht an. Man blieb als katholisches Kloster bestehen, gab sich 1603 sogar noch neue Statuten. Zunehmend wurde es aber schwierig, die exemte Stellung des Klosters aufrecht zu erhalten. Unter maßgeblicher Beteiligung Erzbischof Friedrichs wurde Ende Mai 1632, nach dem Einfall der Schweden in das Erzstift, das Kloster aufgehoben, das Klostergut vom Erzbischof beschlagnahmt. Der Konvent floh nach Köln, wo die letzten drei Mönche, nach dem Tod des bisherigen Amtsinhabers, 1634 einen neuen Abt wählten. Im selben Jahr kam es in Harsefeld, durch vier zurückgebliebene Mönche, zu einer Restituierung des Klosters. Gefördert worden war die Maßnahme, der schließlich der Erzbischof zustimmte, durch die Stände. Kontakt zu anderen Katholiken oder Bekehrung zum katholischen Bekenntnis wurde verboten, zugleich galt die freie Religionsausübung innerhalb der Klosterherrschaft. 1635 wählte der Konvent den letzten Harsefelder Abt. Eine Anerkennung des Klosters durch die Bursfelder Kongregation unterblieb. 1647 erfolgte die endgültige Aufhebung des Klosters durch Königin Christine von Schweden. Die letzten Konventualen erhielten eine Abfindung, 1671 starb der letzte Erzabt. 1690 bis 1885 ist Harsefeld Amt. Geblieben ist von der alten Klosteranlage lediglich die Kirche, die im 18. und 19. Jh. umgebaut wurde und deren Innenausstattung überwiegend aus dem 19. Jh. stammt. Nach Ausgrabungen in den Jahren 1981-1984 und 1987 kam es 1984 zur Gestaltung des archäologischen Klosterparks. 1986 folgte die Einrichtung des Museums für Kloster- und Heimatgeschichte.

Benediktinerinnenkloster Neukloster Das Benediktinerinnenkloster Neukloster wurde 1274 durch den Ritter Johannes Schulte de Lu mit Zustimmung seiner Frau Hildeburg im Kirchspiel der oberen Lühe (dem späteren Kirchspiel Neuenkirchen) gestiftet. Vorausgegangen war durch den genannten Ritter die Stiftung einer neuen Kirche, der nunmehrigen Klosterkirche, deren Bau im April 1270 vom zuständigen Verdener Bischof bestätigt worden war. Die Nonnen des neuen Konvents, an dessen Spitze eine Priorin stand, kamen aus Buxtehude/Altkloster. Wie dort

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stand dem Konvent die freie Propstwahl zu. Und wie in Altkloster war der Diözesanherr der Bischof von Verden, der Landesherr dagegen der Erzbischof von Bremen. Eine weitere Parallele zu Altkloster besteht schließlich in dem Auslöser der Klosterstiftung: wie die Stifter von Altkloster besaß der reiche niederadelige Ritter Johannes de Lu keine männlichen Erben, verwendete somit Eigengüter für die Gründung des neuen Klosters. Bereits wenige Jahre nach der Stiftung des Nonnenklosters kam es zu einer Verlegung desselben an den damaligen Ort Bredenbeck. In der Folgezeit erhielt der Ort den heutigen Namen Neukloster. 1286 bestätigte Bischof Conrad von Verden die ‚translatio’, die auf Vorschlag des Klosterstifters vermutlich 1283-1286 erfolgte. Als Grund der Verlegung wird angegeben, daß der neue Ort fruchtbarer und geeigneter sei. Über die inneren Verhältnisse des Klosters ist wenig bekannt. 1286 legte der Konvent die schwarze Benediktinerinnentracht ab und nahm statt dessen das graue Habit an, da dieses strenger und würdiger sei. Bischof Conrad von Verden genehmigte den Wechsel. Zugleich bestimmte er aber, daß die Nonnen stets nur eine Priorin und einen Propst wählen dürften, nie eine Äbtissin, da diese nur bei den Zisterziensern üblich sei. Die möglicherweise angestrebte Umwandlung in ein Zisterzienserinnenkloster war damit unterbunden. Angaben zur Größe des Konvents liegen erstmals für 1600 vor. Zahlenmäßig war der Konvent dabei vermutlich stets kleiner als der in Buxtehude/Altkloster. Die meisten Nonnen scheinen dabei aus Buxtehuder, Stader, Lüneburger und Hamburger Bürgerfamilien gekommen zu sein. Genaue Angaben sind nicht möglich. Wirtschaftlich betrachtet war Neukloster eine relativ arme geistliche Frauengemeinschaft. Nach einer scheinbar positiven ökonomischen Entwicklung im 14. Jahrhundert hatte das Kloster seit der Mitte des 15. Jhs. zunehmend massive wirtschaftliche Probleme. Zeitweilig waren die Nonnen sogar gezwungen, auf den zweimal im Jahr stattfindenden Jahrmärkten sowie zu anderen besonderen Anlässen - in Stade zu betteln. Belegt ist dieses durch eine im Jahr 1454 erfolgte Stiftung des Stader Bürgers Claus Tamme. Durch eine jährlich der Priorin und dem Konvent zu zahlende Rente von fünf Mark sollte solche Bettelei künftig unterbunden werden. Weitere Hinweise auf die Armut des Klosters bestehen unter anderem darin, daß zum Beispiel zwischen 1443 und 1461 Bischof Johann von Verden anordnete, es dürfe nur als Nonne eingekleidet werden, wer eine Rente von drei bis vier Mark mitbringen würde; 1473 rief Bischof Bertold von Verden, unter Gewährung eines Ablasses von 40 Tagen, zur Unterstützung des Klosters auf, da der Konvent so arm war, daß man quasi aus einem Topf essen mußte; 1495 bitten Priorin und Konvent den Rat der Stadt Lüneburg, zu dem das Kloster in diesen Jahren offensichtlich enge Beziehungen besaß, um finanzielle Unterstützung. Die Armut des Klosters war der Grund dafür, daß es erst im Dezember 1477 in Neukloster zu der Einführung der hier auf der Bursfelder Reformbewegung basierenden großen Klosterreform des ausgehenden 15. Jahrhunderts kam. Neben den drei vom Verdener Bischof Bertold eingesetzten Visitatoren - dem Prior von St. Michaelis in Lüneburg, dem Ebstorfer Propst und dem Buxtehuder Magister Gerhard Halepaghen - unternahmen fünf

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Nonnen des Klosters Ebstorf die Reformation. Wie in den meisten Fällen wurde im Zuge dieser Reform die bisherige Priorin ihres Amtes entbunden. Ein gleiches geschah mit der Subpriorin und anderen Amtsträgerinnen. Neue Priorin wurde hierauf die aus Ebstorf stammende Nonne Gertrud von der Brake, neue Subpriorin die Ebstorfer Nonne Gertrud Rammes, die zwei Jahre später das Amt der Priorin in Altkloster übernahm. Wie auch in anderen Klöstern ließen sich aber schon bald in Neukloster Abweichungen von den Reformbestimmungen feststellen. Eine konsequente Einhaltung derselben war hier aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Situation nicht möglich. Anfang Dezember 1499 flohen die Nonnen, wie ihre Ordensschwestern in Altkloster, vor der Großen Garde in den Schutz der Stadt Buxtehude. Das Kloster wurde durch die Söldnertruppe besetzt und zerstört. Der Wiederaufbau des Klosters erfolgte mit Unterstützung des Lüneburger Rates. Die wenige Jahre später einsetzende lutherische Reformation hatte, rein formal gesehen, vorerst keinen Einfluß auf den Konvent. Wie Altkloster blieb Neukloster als katholisches Nonnenkloster bestehen. Wie in Altkloster führte aber die schwedische Eroberung der Stifte Bremen und Verden 1645 auch in Neukloster schließlich zur Aufhebung des Klosters. Die Nonnen durften auch hier weiterhin im Kloster wohnen bleiben. Ihre materielle und religiöse Versorgung war seit 1650 abschließend geregelt. 1705 stirbt mit Margarethe Janssen die letzte Nonne des Klosters Neukloster. Erhalten hat sich von der Klosteranlage nichts. Die noch lange Zeit bestehende spätromanische Klosterkirche riß man zu Beginn des 20. Jahrhunderts wegen Baufälligkeit ab.

Stade Prämonstratenserkloster St. Georg 1132/1137 gründeten der Stader Graf Rudolf II. und seine Mutter Richardis das Prämonstratenserkloster St. Georg, das teilweise auch als Stift bezeichnet wird. 1137 erfolgte die Bestätigung der Gründung durch den Bremer Erzbischof Adalbero, zu dessen Diözese Stade gehörte. Errichtet wurde das Kloster an einem recht ungewöhnlichen Platz, nämlich auf einem zur Schwinge steil abfallenden Geesthügel, mitten in der Stadt, am heutigen Pferdemarkt. Die Mönche des ersten Konvents kamen auf Initiative der Klosterstifter aus dem Kloster Gottesgnaden an der Saale. Nähere Kenntnisse zum Konvent fehlen. Schon bald nach seiner Gründung, spätestens aber zu Beginn des 13. Jh.s, nahm das Kloster St. Georg mit Unterstützung des Stadtherrn und der Bürger eine Sonderstellung unter den geistlichen Einrichtungen Stades ein: St. Georg besaß das Patronatsrecht über alle Stader Kirchen, mit Ausnahme des Klosters St. Marien vor Stade. Dieser Vorrang war jedoch z.T. umstritten, das Verhältnis zu den anderen Kirchen und Klöstern teilweise so gespannt, daß der Chronist Albert von Stade das Kloster nicht in seinen Annalen erwähnte.

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1232 erfolgt durch eine päpstliche Untersuchungskommission die Bestätigung der von St. Georg beanspruchten Patronatsrechte. Endgültig durchgesetzt aber hat sich die Vorrangstellung St. Georgs offensichtlich erst durch die 1257 vom Bremer Erzbischof Gerhard II. ausgestellten Bestätigungsurkunden der vermeintlichen Gründungsprivilegien des Klosters. Dessen Sonderstellung kam von nun an u.a. auch darin zum Ausdruck, daß es Altarstiftungen und Vikarien in den Stader Stadtkirchen bestätigte. Die Bedeutung St. Georgs kam darüber hinaus darin zum Ausdruck, daß dessen Pröpste mehrfach als päpstliche Exekutoren tätig waren. Die Exemtion aber erlangte St. Georg nie. Generell ist sehr wenig über dieses einst große und bedeutende Kloster bekannt, das im 16. Jh. sehr schnell die lutherische Reformation annahm. Möglicherweise ist sogar der 1520 das Kloster verlassende Prior Johannes Osnabrugensis identisch mit dem Hamburger Reformator und ersten Stader Superintendenten Johannes Ossenbrügge. 1520 bestand der Konvent noch aus 17 Mitgliedern, 1529 waren es nur noch 10. Bei der Wahl des letzten Propstes waren zwei der Mönche zugleich schon Pfarrer, einer von ihnen soll bereits verheiratet gewesen sein; 1543 gab es nur noch zwei Mönche. Um 1550 bestand in St. Georg kein Konvent mehr. Erzbischof Christoph von Bremen hatte die Besitzungen des Klosters an sich genommen. Eine Restitution des Klosters erfolgte nicht. Einen Teil der Einkünfte und die Klosterkirche, die nach 1566 verfallen zu sein scheint, übernahm 1587 der Stader Rat. Mit einem Zuschuß des Bremer Domkapitels wurde die Kirche durch die Stadt wiederhergestellt und der sich in Stade zu dieser Zeit niedergelassenen Kompanie der Merchant Adventurers übergeben. Diese hielt hier ihre reformierten Gottesdienste ab. Nach dem Abzug der Engländer 1611 kam es zu einem endgültigen Verfall der ehemaligen Klosteranlage. Bis in die Gegenwart hinein auf dem ehemaligen Klosterareal erfolgte Baumaßnahmen bewirkten schließlich, daß heute nur noch geringe Reste von St. Georg erhalten sind. Freigelegt und für Besucher zugänglich gemacht ist hiervon ein kleiner Teil unter dem ehemaligen Zeughaus, das Ende des 17. Jhs. über dem Ostteil der Klosterkirche erbaut wurde. Geblieben ist auch als Institution das „Athenäum“, jenes Gymnasium, das durch den Rat der Stadt um 1588 aus der einstigen Klosterschule von St. Georg hervorgegangen ist.

Benediktinerkloster St. Marien Die Gründung des Klosters St. Marien zu Stade - ursprünglich, da vor der Stadt gelegen, St. Marien vor Stade - beginnt um 1141. 1147 erfolgte die Gründungsbestätigung durch Erzbischof Adalbero von Bremen, 1165 durch seinen Nachfolger die Weihe des Klosters. Vorausgegangangen war (zwischen 1154 und 1159) die päpstliche Bestätigung der Klostergründung. Hinter derselben standen die Stader Vögte, die spätere Familie von Brobergen, die auch bei der Entstehung des Stader Johannisklosters eine wichtige Rolle spielten. Neben den Stader Vögten war zudem das Kloster Harsefeld an der Entstehung von St. Marien beteiligt: zum einen stellte Harsefeld den Klosterbezirk zur Verfügung, zum anderen kamen von dort die Mönche des ersten

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Konvents. An der Spitze des Konvents von St. Marien stand ein Abt, dessen freie Wahl dem Konvent garantiert worden war. Über die inneren Verhältnisse des Klosters ist wenig überliefert. Die Bindungen an das Mutterkloster Harsefeld blieben lange Zeit sehr eng. Gleichrangig standen die Äbte von St. Marien und Harsefeld nebeneinander, sollten aber in entscheidenden Angelegenheiten, zum Beispiel in Synodalangelegenheiten, stets gemeinsam handeln. Als Schiedsrichter waren die Äbte von St. Marien häufig im päpstlichen Auftrag östlich der Elbe tätig. 1232 wurde der bekannte Chronist Albert von Stade zum Abt des Klosters geweiht. Vergeblich versuchte er zwischen 1236 und 1240 das Benediktinerkloster in ein Zisterzienserkloster umzuwandeln. 1240 resignierte er schließlich, legte sein Amt nieder, verließ Kloster und Orden und wurde im August 1240 Franziskaner in Stade, in dem vermutlich bereits zu diesem Zeitpunkt bestehenden Johanniskloster. Rund 260 Jahre später gab man das Kloster St. Marien vor Stade auf und verlegte es in die Stadt. Die Ursache hierfür bestand - wie in Alt- und Neukloster - in der Bedrohung durch die Söldnertruppen der Großen Garde, die in dieser Zeit in das Gebiet des Erzstifts Bremen eindrangen. Im November 1499 suchten die Mönche von St. Marien Schutz in der Stadt. Voraussetzung für ihre Aufnahme war offensichtlich die auf verschiedenen Gründen beruhende Forderung der Stadt, das bisherige Kloster zu zerstören. Jenes lag in etwa dort, wo sich heute der Stader Bahnhof befindet. Zur Wiedererstellung des Klosters - an dem Platz, an dem sich heute das Staatsarchiv befindet - erhielt der Konvent vom Kloster St. Georg die Heiliggeistkapelle mit aller Ausstattung, Zubehör und Gemeinde. Die Stadt übergab weiteren Besitz und einen Bauzuschuß. Wenige Jahre nach der Verlegung in die Stadt schloß sich St. Marien 1509, ebenso wie Harsefeld, der Bursfelder Union an. Verbunden war dieser Schritt, eine weitere Parallele zu Harsefeld, mit dem vom Bremer Erzbischof veranlaßten Amtsverzicht des bisherigen Abtes. Und schließlich ebenso wie Harsefeld wurde auch St. Marien 1510 in die Bursfelder Kongregation inkorporiert. Vorerst unberührt blieb St. Marien von der seit 1522 in Stade sich langsam ausbreitenden lutherischen Reformation, die sich hier um 1545 durchgesetzt hatte. 1583 aber trat langsam eine Wende ein. In dem nominell weiterhin katholischen Kloster wurden auf Beschluß des Konvents künftig evangelische Predigtgottesdienste abgehalten. Ein während der kaiserlichen Besetzung Stades (zwischen 1628 und 1632) unternommener letzter Versuch, das Klosterleben im Sinne der Bursfelder Kongregation wieder herzustellen, scheiterte. Nach dem Sieg der schwedischen Truppen kam es 1638 zur Aufhebung des Klosters. Der noch vorhandene Klosterbesitz fiel auf Anordnung der Königin Christine an die Stadt, die für die Abfindung der Angehörigen des Klosters zu sorgen hatte. Die Klostergebäude wurden Sitz der schwedischen Regierung für die Herzogtümer Bremen und Verden, die Kirche diente als Etats- und Garnisonskirche sowie als Grablege der Grafen von Königsmarck. Starke Beschädigungen während der dänischen Belagerung im Jahr 1712 führten schließlich zum Abriß der Kirche. Auf dem einstigen Kirchengelände entstanden 1735 Kasernen. 1965 wurde hier das heutige Staatsarchiv errichtet.

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Architektonische Relikte haben sich von dem einstigen Benediktinerkloster St. Marien (vor Stade) nicht erhalten.

Franziskanerkloster St. Johannis Die Gründung des Klosters St. Johannis dürfte in der ersten Hälfte des 13. Jh.s erfolgt sein. Möglicherweise bestand das Kloster aber auch schon vor 1236. In der wissenschaftlichen Diskussion werden zur Zeit als in Frage kommende Gründungsdaten meist konkret die Jahre 1236 sowie (als spätestes Datum) 1240 genannt. Beide Jahreszahlen stehen im Zusammenhang mit der Person des Abtes Albert, der zwischen 1236 und 1240 vergeblich versuchte, das Stader Kloster St. Marien in ein Zisterzienserkloster umzuwandeln, schließlich resignierte und 1240 dem Franziskanerkonvent in Stade beitrat (s.o. Art. St. Marien). 1240 ist dabei lediglich ein „domus“ der Franziskaner in Stade belegt. Hierbei handelte es sich möglicherweise wirklich nur um ein Haus, eine Niederlassung des Ordens, und noch nicht um ein Kloster. Unbekannt ist auch, wo sich in der Stadt dieses „domus“ befand. 1355 wird der Kirchhof der Minderbrüder (Franziskaner) genannt, 1389 ist dann erstmals eindeutig die Rede von einem Kloster („claustrum“). Derzeit letzte wissenschaftliche Erkenntnisse gehen davon aus, daß das Kloster St. Johannis zwischen 1284 und 1312 errichtet worden sein muß (spätestens zwischen 1284 und 1318). Unbekannt sind die Begründer der einstigen Niederlassung der Stader Franziskaner. Daß der berühmte Abt Albert von Stade möglicherweise eine Rolle bei der Klostergründung spielte, ist reine Spekulation. Förderer der Klostergründung müssen jedoch auf jeden Fall die Vögte von Stade (die spätere Familie von Brobergen) gewesen sein, denn auf ihrem Grundbesitz entstand das Kloster. Über das genaue Aussehen der einstigen Klosteranlage, die wirtschaftliche Ausstattung des Klosters, die Größe des Konvents sowie die Herkunft der Mönche und sonstige innere und äußere Belange von St. Johannis ist nichts oder nur sehr wenig bekannt. Anhand der äußerst dürftigen Quellen kann man aber wohl, zum Teil durch Rückschlüsse, von einem nicht gerade armen und durchaus angesehenen Kloster ausgehen. Für dessen Ansehen spricht hierbei, daß in einer im Jahr 1500 ausgestellten Urkunde der damalige Gardian des Johannisklosters als Kustos der Franziskaner in der Kustodie Bremen bezeichnet wird. Die Verwaltung der Klostergüter scheint in der Hand des Rates gelegen zu haben. Unbekannt ist der Zeitpunkt, zu dem die lutherische Reformation hier eingeführt wurde. Gleiches gilt für Voraussetzungen und Maßnahmen, unter denen sie erfolgte. Bis 1527 hatte die Reformation aber offensichtlich bereits zur Auflösung des Klosters geführt. Über den Verbleib der Mönche ist nichts bekannt. Das Kloster ging in städtischen Besitz über und wurde unter dem Namen St. Johannis in ein Hospital bzw. Armenhaus für bedürftige Bürger und Bürgerinnen umgewandelt. Diese Umwandlung, in deren Zusammenhang eine Restaurierung der Gebäude erfolgte, war spätesten 1563 vollzogen. In

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den folgenden Zeiten erhielt das Armenhaus reiche Stiftungen. Die Kirche, in der wieder Gottesdienste stattfanden, wurde ein beliebter Begräbnisplatz für reiche Bürger der Stadt, aber auch für angesehene Nichtbürger. Aber nicht nur als Armenhaus diente das Kloster: reiche Bürger kauften sich hier ein, wohnten in von ihnen an den Klostergebäuden errichteten Buden und wurden, wie die Armen, auf Kosten des Klosters versorgt. Wenige Jahrzehnte nach der Umwandlung in ein Hospital bzw. Armenhaus kam es 1528 im Zuge des Dreißigjährigen Krieges zu einer kurzfristigen Restauration als Franziskanerkloster. Bereits 1632 erhielt es die Stadt zurück und nutzte es wiederum wie vor der Rückkehr der Franziskaner. Bei dem großen Stadtbrand von 1659 wurde das Kloster, an und in dem bis zu diesem Zeitpunkt verschiedene Veränderungen vorgenommen worden waren, zum Teil zerstört. 1672/73 erfolgte der Neubau als Armen- und Altenheim St. Johannis. Als solches bestand das einstige Kloster in seinem heutigen äußeren Erscheinungsbild bis in die 1970er Jahre. Nach Auflösung des Heimes kam es in den Jahren 1979-1981 zu umfangreichen Sanierungen des Gebäudes, welches seit Abschluß derselben unter anderem als Sitz sozialer und kultureller Institutionen der Stadt dient. Sichtbare Relikte des ehemaligen Franziskanerklosters haben sich nicht erhalten. Sich im Norden des heutigen Gebäudekomplexes befindende „Mauerreste“, welche auf die ehemalige Klosterkirche hinweisen, wurden nach Abschluß von archäologischen Untersuchungen auf dem einstigen Klostergelände (1979 und in den 1980er Jahren) errichtet. Eine an der Außenwand des Stadtarchivs angebrachte Tafel zeigt, basierend auf ergrabenen Befunden, den Grundriß des mittelalterlichen Klosters St. Johannis. Das heute in Stade unter dem Namen „Johannisheim“ bestehende Altenheim hat mit dem ehemaligen Armen- und Altenheim St. Johannis nichts zu tun.

Ergänzung: Benediktinerinnenkloster Buxtehude/Altkloster Im Jahre 1196 gründeten die Edelherren von Buxtehude das Benediktinerinnenkloster Buxtehude, für das sich seit dem 15. Jh. zunehmend die Bezeichnung altes Kloster bzw. Altkloster durchsetzte. Die Ursache dieser Namensumwandlung bestand darin, daß der Name Buxtehude zunehmend auf die um 1285 in der Nähe des Klosters neu gegründete Stadt übertragen wurde, die zunächst die neue Stadt bei (dem Kloster) Buxtehude hieß. Mit an der Gründung des Klosters beteiligt war neben den genannten Edelherren ein nicht näher identifizierbarer Kleriker mit Namen Sigeband. Geistlich gehörte Buxtehude zum Bistum Verden, Landesherr war der Erzbischof von Bremen. Anlaß der Klostergründung war die Tatsache, daß die dem höheren Adel angehörenden reichen Edelherren von Buxtehude keine männlichen Erben hatten. Die sich im Aussterben befindende Familie nutzte somit große Teile ihres Eigengutes zur Stiftung des Klosters. So war auch die unter dem Patrozinium der Mutter Maria und des hl. Laurentius stehende Klosterkirche ursprünglich wohl adelige Eigenkirche. Die Vogtei über das Kloster übertrugen die Stifter der Verdener Kirche, ebenso die Patronatsrechte. Die dem

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Konvent erteilte freie Propstwahl hatte im Einvernehmen mit dem Bischof von Verden zu erfolgen. An der Spitze des Konvents stand eine Priorin. Unbekannt ist, woher die Nonnen des neuen Konvents kamen - möglicherweise aus dem Benediktinerinnenkloster Lüne. Wenig bekannt ist auch über die soziale Herkunft der späteren Nonnen. Mehrfach lassen sich unter ihnen Töchter aus Lüneburger und Hamburger Bürgerfamilien nachweisen. Vermutlich stand der Konvent aber allen Ständen offen. Die seit dem Ende des 15. Jhs. überlieferten Zahlen lassen dabei darauf schließen, daß es in Buxtehude/Altkloster stets einen recht großen Konvent gab. Wirtschaftlich stand das Kloster, von vereinzelten zeitweiligen Einbußen und Schwierigkeiten abgesehen, stets so gut da, daß es als reich bezeichnet werden kann. Für die Bedeutung des Klosters spricht auch, daß das Kloster bis zur lutherischen Reformation die vom Propst ausgeübte Kirchenherrschaft über die um 1285 durch den Erzbischof von Bremen neu gegründete Stadt Buxtehude besaß. 1479 erfolgte im Zuge der großen monastischen Erneuerung des ausgehenden 15. Jahrhunderts die Reform des Klosters. Initiator hierzu war der Buxtehuder Magister Gerhard Halepaghen. Durchgeführt wurde die Reform unter Mithilfe des Konvents des Klosters Ebstorf. Die bisherige Priorin wurde abgesetzt, an ihre Stelle trat die aus Ebstorf stammende Nonne Gertrud Rammes, die seit 1477 Subpriorin in dem bereits reformierten Kloster Neukloster war; ihre 1487-1530 als Priorin tätige Nachfolgerin, Margarethe Snitkers, stammte ebenfalls aus Ebstorf. Rund 20 Jahre nach der Reform bedrohte die „Große“ (oder auch „Schwarze“) Garde das Kloster. Im Dezember 1499 flohen die Nonnen in die Stadt Buxtehude, wo sie rund acht Monate blieben. Im Juli 1500 konnten sie in ihr inzwischen wieder hergestelltes Kloster zurückkehren, das nicht durch die Söldner, sondern durch Buxtehuder Bürger ausgeplündert und teilweise in Brand gesteckt worden war. Dreieinhalb Jahrzehnte später setzte dann, seit 1535, langsam der Einfluß der lutherischen Reformation auf das Kloster ein: so ging 1542 die Kirchenherrschaft über die protestantisch gewordene Stadt Buxtehude verloren, es gab schließlich auch protestantische Pröpste in Altkloster. Der Konvent selbst blieb katholisch. Möglich war letzteres dadurch, daß die Erzbischöfe von Bremen als Landesherren vorerst katholisch blieben und später, als sie lutherisch wurden, beide Konfessionen duldeten. 1648 aber kam es im Zuge des Westfälischen Friedens zur Aufhebung des Klosters. Die noch zum Konvent gehörenden Frauen (15 Nonnen, 1 Novizin, 6 Laienschschwestern) durften auf Lebenszeit im Kloster wohnen bleiben. Ihre materielle Versorgung erfolgte aus ehemaligem Klosterbesitz. Die katholischen Gottesdienste wurden für sie beibehalten. Neue Nonnen durften nicht aufgenommen werden. 1700 starb die letzte Nonne. Mit ihrem Tod endete die Geschichte von Altkloster, das „wohl als das bedeutendste Frauenkloster im Süderelbegebiet zu gelten hat, gegen das alle anderen erheblich abfielen“ (K APPELHOFF /S CHULZE 1984, S. 151). Geblieben ist von der alten Klosteranlage nichts. Der Abriß derselben erfolgte überwiegend bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts, den Abschluß

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bildeten 1769 die Kirche und der Glockenturm. Seit einigen Jahren ist jedoch, nach archäologischen Grabungen, in der Stadt Buxtehude mit Hilfe von Feldsteinmauerwerk und Granitsäulen der Grundriß der ehemaligen Klosteranlage sichtbar gemacht worden.

Literatur Auf den Spuren des alten Stade. Ein Arbeitsbericht zur Stadtkernforschung der letzten Jahre, hrsg. von der Stadt-Sparkasse Stade. Stade 1986. B OHMBACH , Jürgen: Das Kloster St. Georg in Stade, in: Stader Jahrbuch 1982, S. 36-55. Stade 1982. L ÜDECKE , Torsten: Die Zeughausgrabung in Stade, Teil I: Die Grablege des Bremer Erzbischofs Gottfried von Arnsberg im Prämonstratenserstift St. Georg, mit Beiträgen von Jürgen B OHMBACH , Konrad E LMSHÄUSER , Monika P RECHEL und Sibylle R Uß , Hrsg. Stadt Stade. Stade 1998. Ein Platz im Brennpunkt der Geschichte - Burg, Stift, Kapellen und Kloster zu Harsefeld. Ergebnisse der archäologischen Untersuchungen in den Jahren 1981-1984 und 1987, Hrsg. Landkreis Stade. Stade 1989. 1196 - 1296 - 1996: 800 Jahre Altes Kloster und 700 Jahre St.-Petri-Kirche in Buxtehude, hrsg. von der Stadt Buxtehude und der Stadtsparkasse Buxtehude. Buxtehude 1996. K APPELHOFF , Bernd / S CHULZE , Heinz-Joachim: Buxtehude, Altkloster, in: Germania Benediktina, Bd. XI: Norddeutschland. Die Frauenklöster in Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Bremen, bearb. von Ulrich F AUST OSB, S. 134-159. St. Ottilien, 1984. S CHULZE , Heinz-Joachim: Harsefeld, in: Germania Benediktina, Bd. VI: Norddeutschland. Die Benediktinerklöster in Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Bremen, bearb. von Ulrich F AUST OSB, S. 137-152. St. Ottilien, 1979. S CHULZE , Heinz-Joachim: Stade, in: Germania Benediktina, Bd. VI: Norddeutschland. Die Benediktinerklöster in Niedersachsen, SchleswigHolstein und Bremen, bearb. von Ulrich F AUST OSB, S. 463-482. St. Ottilien, 1979. 700 Jahre Neukloster. Dorfchronik, Hrsg. Ortschaft Neukloster der Stadt Buxtehude. Buxtehude 1986.

Kloster, Adel und Memoria an der Oberweser Nathalie Kruppa

Die folgenden Ausführungen sind der Beginn einer Untersuchung über Kloster und Adel an der oberen Weser, also des heutigen Südniedersachsen, Ostwestfalen und Nordhessen, vor allem im hohen Mittelalter. Diese Untersuchung wird sich auf Hochadelsgeschlechter, also Grafen und Edelherren, konzentrieren. Die heute vorgestellten Teile werden wie folgt gegliedert: 1. Rahmen der Untersuchung; 2. die Memoria im allgemeinen; 3. exemplarische Darstellungen anhand von bestimmten Familien: a. Klostergründungen, b. Memoria und 4. schließlich bisherige Ergebnisse und Probleme. 1. Die Untersuchung wird nicht auf die Memoria der Familien, das Thema der heutigen Ausführungen, beschränkt bleiben, sondern es soll das Verhältnis zwischen den Adligen und den in demselben Raum gelegenen geistlichen Institutionen auf unterschiedlichen Ebenen betrachtet werden. Dies beginnt mit der Gründung eines Klosters durch eine Familie, setzt sich fort über die Nutzung der Klostervogteien zum Ausbau der eigenen Herrschaft, die Schenkungen an die Klöster zum Zwecke des Gedächtnisses also Memoria -, bis schließlich zum Eintritt der Kinder einer Familie in die Klöster der Region. Da eine Adelsfamilie bei der Versorgung ihrer Kinder egal ob durch Heirat oder geistliche Laufbahn - stets darauf bedacht war, ihren Stand zu wahren, ist durch die Feststellung, in welchen Klöstern ihre Kinder untergebracht waren, auch eine Aussage über die Stellung und Anerkennung des einzelnen Klosters zu treffen. Bei der Untersuchung der Verbindungen zwischen den einzelnen Familien und den durch sie gegründeten, bedachten oder durch die Vogtei verwalteten Klöstern soll auch auf ihre geographische Lage geachtet werden, d.h. wie nah bzw. fern lagen sie von dem jeweiligen Besitzmittelpunkt der Familie. 1 Zudem stellt sich die Frage, ob eine Veränderung des Besitzmittelpunktes auch zu einer Änderung des Hausklosters - der zentralen Gedenkstätte der Familienmemoria - führte oder ob die Familie ihrem, von ihr oder ihren Vorfahren gegründeten Kloster treu blieb? Am Ende der Untersuchung sollen die ausgewählten Familien und die von ihnen bedachten und verwalteten Klöster und Stifte kartiert werden. Die Frage ist, ob sich die Familien auf bestimmte Klöster beschränkten, die innerhalb ihres Einflußbereichs - also Güter und Rechte - lagen, oder ob sie 1 Beispiel: die Grafen von Schwalenberg - Kloster Marienmünster. Das Kloster wurde an ihrem alten Hauptsitz gegründet, ihr Besitzmittelpunkt verlagerte sich um wenige Kilometer in das heutige Schwalenberg.

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diesen verließen und so weiter entfernt ebenfalls Einfluß nehmen wollten. Eine Sonderrolle spielen dabei Domstifte. Dabei ist aber auch interessant, ob sich die Adligen bei der Unterbringung ihrer Kinder in diesen auf ihre Region beschränkten - in unserem Untersuchungsgebiet also vor allem Paderborn, Minden und Hildesheim – oder ob sie hier wesentlich weiter ausgriffen. 2 Der zeitliche Rahmen ist schwer genau einzugrenzen. Der Hauptuntersuchungsgegenstand sind die Adelsfamilien des hohen und beginnenden späten Mittelalters, wie z.B. die Grafen von Schwalenberg mit all ihren Nebenlinien (Pyrmont, Alt-Sternberg, Sternberg und Waldeck), die Grafen von Everstein und Dassel, die durch weitere, benachbarte Familien (unter anderem: Schöneberg, Schaumburg, Homburg, Plesse, Spiegelberg) ergänzt werden. Ferner sollen die im hohen Mittelalter ausgestorbenen Familien, wie z.B. die Grafen von Northeim, Katlenburg und Winzenburg, nicht ausgeschlossen werden, da sie denselben Raum besiedelten und vielfach die Grundlagen, z.B. die von ihnen gegründeten Klöster, für die späteren Familien legten. Inwieweit die Untersuchung in das frühe Mittelalter zurückreichen wird, ist noch nicht ersichtlich. Rück- bzw. Ausblicke werden aber nicht ausgeschlossen, da sich die frühesten Gründungen von Weserklöstern in die Ottonenzeit zurückverfolgen lassen - von dem karolingischen Corvey einmal abgesehen. Den Endpunkt markiert die Zeit um 1300, da im 14. Jahrhundert vielfach die sog. jüngeren Adelsfamilien auszusterben begannen. Zudem war zu dieser Zeit der Herrschaftsausbau weitgehend abgeschlossen: Familien und Klöster hatten ihre Gebiete festgelegt. Schon im 13. Jahrhundert verlor auch das frühere hochbedeutsame Herrschaftsinstrument der Familien über die Klöster - die Vogtei - größtenteils seine Rolle, so daß auch dies einen Abschluß um 1300 begründen kann. 2. Zunächst möchte ich ein paar allgemeine Anmerkungen über die Memoria und ihre einzelnen Ausprägungen machen. Sie gehörte zu den wichtigsten Aspekten des mittelalterlichen Lebens. Sie sollte das Gedächtnis an eine Person oder Familie erhalten. Die Grundintention bei der Einrichtung einer entsprechenden Stiftung, angefangen von einfachen Land-, Güter- bzw. Geldüber Bücherschenkungen, wie z.B. dem Evangeliar Heinrichs des Löwen, bis hin zu großen und einmaligen Stiftungen wie Kirchen oder Klöster, galt der Erhaltung des Gedächtnisses an bestimmte Vorfahren respektive der ganzen Familie. Die Stiftung bzw. Schenkung von Gütern oder Geld an eine geistliche Institution war mit der Hoffnung auf Fürbitten zugunsten des Schenkenden verbunden.

2 Bei den Grafen von Dassel konnte festgestellt werden, daß aufgrund von Verwandtschaft auch das eigentliche Kerngebiet in Südniedersachsen/Nordhessen dadurch verlassen wurde. Neben den Domstiften Magdeburg und Merseburg fallen vor allem die zwei Kanoniker im Domstift von Würzburg auf, vgl. N. K RUPPA , Die Grafen von Dassel (wie Anm. 2), Bielefeld 2001 (Veröffentlichungen des Instituts für historische Landesforschung der Universität Göttingen 41), im Druck, Kap. III. 8.

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In den Urkunden werden in der Regel vier verschiedene Begriffe (memoria, remedium animae, fraternitas und anniversarium) für Memoria benutzt. Die Adligen wünschten von der Institution für sich und die Familie zukünftig wiederholende Gebete für das Seelenheil wie auch die Aufnahme in die Gebetsbruderschaft des jeweiligen Klosters. Die Formulierungen wurden gewöhnlich einzeln verwendet, es kommen aber auch Beispiele von Kombinationen vor. Mit dem Begriff memoria werden im Lateinischen Phänomene bezeichnet, die im Deutschen in „Gedächtnis“ einerseits und in „Erinnerung, Andenken bzw. Gedenken“ andererseits getrennt werden können. 3 Im Zentrum stand die Person des einzelnen Toten. Die Aufzeichnung und die Nennung seines Namens war das bestimmende Moment der Totenmemoria, die nach dem Prinzip der Individualität ausgerichtet war. Die Aufzeichnungsformen der Personennamen, die vor allem im liturgischen Totengedächtnis Verwendung fanden, waren im frühen Mittelalter die sog. liber vitae oder liber memorialis. Diese libri wurden während der täglichen Eucharistiefeier zur Namensnennung und anschließenden Niederlegung auf dem Altar genutzt. Als im Laufe der Zeit die Namenslisten zu umfangreich wurden und man sich lediglich auf die Niederlegung auf dem Altar beschränkte, verloren die liber vitae an Bedeutung. Das gleichzeitige Einsetzen des Bedürfnisses nach Individualität führte zu der Einführung der Nekrologe. Diese hatten die Form eines Kalendars, in dem die Namen der zu Kommemorierenden an ihren Todestagen eingetragen wurden. Der Nekrolog wurde täglich im liturgischen Teil des Kapiteloffiziums zur Prim herangezogen, um die Einträge der Verstorbenen, derer am folgenden Tag gedacht werden sollte, vorzulesen. 4 Die fraternitas, die Gebetsverbrüderung, ist die älteste Form der Bruderschaft und stammt aus dem frühen Mittelalter. Sie enthält die Verpflichtung der Klostergemeinschaft zu bestimmten Gebets- oder Opferleistungen, im Gegenzug wurden ihr Wertgegenstände oder Land überlassen. 5 Um Aufnahme in diese wird schon zu Lebzeiten des Schenkenden gebeten, ihre Auswirkungen - d.h. die Gebete - wurden erst nach dem Tod des Bittenden sichtbar. Zunächst waren die Bruderschaften rein religiös, differenzierten sich aber im Verlaufe des Mittelalters in geistliche, wie z.B. Kalande, und weltliche, wie z.B. Gilden. Die Gebetsverbrüderung war dem gegenseitigen Gebetsgedächtnis, dem Totengedächtnis, gewidmet und sollte die Erinnerung durch Totenmessen und Gebete gewährleisten. Die Gebetsbruderschaften waren ursprünglich für Priester und Laien offen, im Laufe des hohen und späten Mittelalters erfuhren aber die Priesterbruderschaften besondere Förderung,

3 O. G. O EXLE , Memoria und Memorialbild, in: K. S CHMID , J. W OLLASCH (Hg.), Memoria. Der geschichtliche Zeugniswert des liturgischen Gedenkens im Mittelalter, München 1984 (Münsterische Mittelalter-Schriften 48), S. 385. 4 Chr. S AUER , Fundatio und Memoria. Stifter und Klostergründer im Bild 1100-1350, Göttingen 1993 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 109), S. 20f. 5 K. S CHMID , J. W OLLASCH , Die Gemeinschaft der Lebenden und Verstorbenen in Zeugnissen des Mittelalters, in: Frühmittelalterliche Studien 1, 1967, S. 370.

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die im norddeutschen Raum zur ihrer Sonderform, den Kalanden, führte. 6 Auch im hohen und späten Mittelalter blieb die alte Form der Gebetsbruderschaft als eine Form der Totenmemoria für Laien bestehen. Durch den Schenkenden war die plena fraternitas erwünscht, die der Laie oder der Weltkleriker erst nach seinem Tode erreichte, da er zu Lebzeiten an den Aufgaben des Klosters nicht teilnehmen konnte. Erst nach deren Tod wurden die weltlichen Brüder wie Mitglieder der in Frage kommenden geistlichen Institution behandelt, 7 d.h. die Gebete und andere liturgische Handlungen wurden ihnen, entsprechend den verstorbenen Konventsmitgliedern, zuteil. Von den bisher untersuchten Familien haben fast ausschließlich die Grafen von Dassel Urkunden mit der fraternitas-Bitte hinterlassen, nur eine ist auch für Albrecht von Everstein erhalten. Die Dasseler sind auch die einzigen, deren Mitglieder in einem Kaland nachgewiesen sind, und zwar Simon und Sophia von Dassel, jedoch erst zwischen 1300 und 1325. 8 Im Zusammenhang mit einer Schenkung an eine geistliche Institution, z.B. ein Kloster, verrichteten die Konventsmitglieder Fürbitten für den Schenkenden. Die Gebete und Messen, die sie für ihn abhielten, sollten zu seinem Seelenheil beitragen. Dabei wird die Schenkung und das Gebet der Beschenkten als Tauschgeschäft verstanden. Das Gebet als Einlösung der Verpflichtung durch die Beschenkten ist die liturgische Form der Memoria. Dieser Tausch wird in den Urkunden häufig mit Formulierungen wie pro remedio animae besonders betont und wird in der Literatur „Seelgerätstiftung“ genannt. Es ist im hohen und späten Mittelalter die am häufigsten vorkommende Form der Stiftung. Die drei genannten Formeln gehören, neben dem ebenfalls vorkommenden Begriff anniversarium, in den Bereich der Memoria, dem Andenken und dem Gebet für verstorbene Mitglieder einer Familie. Bei allen Begriffsvariationen geht es letztendlich darum, daß für den/die Verstorbenen „ausreichend“ gebetet wird. Die Ausdrücke anniversarium und jar tyd verdeutlichen dies, indem sie den Tag der Gebete auf den Todestag festlegten, der in den Nekrologen der geistlichen Institutionen festgehalten wird. Eine ungewöhnliche Form, deren Zugehörigkeit zu der Memoria sicherlich zwiespältig gesehen werden kann, ist die Bitte des Einzelnen nach Südenerlaß (pro remedio peccaminum). Da es letztendlich bei der Memoria aber um das Heil der Seele und, salopp ausgedrückt, um die Aufnahme in den Himmel geht, 6 R. W EIGAND , B.-U. H ERGEMÖLLER , Art.: Bruderschaft, in: Lexikon des Mittelalters II, 1983, Sp. 738; zu den Kalanden siehe M. P RIETZEL , Die Kalande im südlichen Niedersachsen. Zur Entstehung und Entwicklung von Priesterbruderschaften im Spätmittelalter, Göttingen 1995 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 117). 7 J. W OLLASCH , Das Projekt ‘Societas et Fraternitas’, in: D. G EUENICH , O. G. O EXLE (Hg.), Memoria in der Gesellschaft des Mittelalters, Göttingen 1994 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 111), S. 18. 8 N. K RUPPA , Grafen von Dassel (wie Anm. 2), Reg. 627. Die Datierung der Urkunde im Original ist unvollständig, sie beträgt in der Datumszeile nur: M CCC. J. D. G RUBER , Zeit- und Geschichtbeschreibung der Stadt Göttingen II, Buch 3, Hannover/Göttingen 1736, S. 43/44, gab als Jahresangabe dagegen M CCC XXV an, dem sich das UB Göttingen I, 107 anschloß. Wegen ihres Inhalts gehört die Urkunde sicher vor das Testament Simons von Dassel, N. K RUPPA , Grafen von Dassel (wie Anm. 2), Reg. 628.

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gehörte der Sündenerlaß dazu. Dies ist auch der Grund, warum Urkunden, in denen diese Wendung vorkommt, im Folgenden aufgenommen wurden. So weit die Vorstellung der Untersuchung, die sich allerdings noch in einem frühen Stadium befindet. Neben der Sichtung der Literatur und der edierten Quellen wurde damit begonnen, das Verhalten von drei Familien der Grafen von Schwalenberg mit Nebenlinien, der Grafen von Everstein und der Herren von Brakel - im Zusammenhang ihrer Memoria zu betrachten. Die vierte - die Grafen von Dassel - stützt sich auf die Ergebnisse meiner Dissertation zu diesem Thema. Bei den Brakelern, Schwalenbergern und Eversteinern wurde vorerst verzichtet, die entsprechenden Schenkungen von geistlichen Familienmitgliedern zu untersuchen. Es ist aber zu erwarten, daß sie entsprechende Schenkungen machten. 3a. Die Klostergründung gehörte zu den aufwendigsten Schenkungen einer adligen Person oder Familie. Auch sie war letztendlich der Memoria gewidmet, denn die Insassen des Klosters verpflichteten sich, für das Seelenheil des Stifters und auch seiner Familie zu beten. 9 Zudem gab es in dem Stiftergrab einen Verehrungsort, der bei den „einfachen“ Memoriastiftungen nicht vorhanden war. Von den bisher untersuchten Familien haben drei ein oder mehrere Klöster gestiftet. Nur für die Herren von Brakel, deren Überlieferungslage problematisch ist, ist keine Klostergründung belegt. Die Grafen von Dassel geben ebenfalls in dieser Hinsicht Probleme auf, denn eine Stiftung eines Klosters ist für sie nicht nachgewiesen. Dennoch ist es nicht auszuschließen, daß sie an einer solchen beteiligt gewesen sein könnten. Einer Urkunde des Jahres 1470 ist zu entnehmen, daß ein Graf Johannes von Dassel das Augustinerchorfrauenstift Fredelsloh (um 1132) gegründet habe. 10 Auch mehrere Chroniken des 16. Jahrhundert weisen auf eine Beteiligung der Grafen von Dassel, eines Johannes, Hermann und/oder Adolf hin. Es konnte nachgewiesen werden, daß der in der Frühzeit des Stifts erwähnte Konventuale Johannes von Fredelsloh tatsächlich ein Graf von Dassel war. 11 Auch spricht die Lage des Stifts - es gehörte weder zu den Gütern der Grafen von Northeim noch der Welfen und lag zudem am nördlichen Rand des Mainzer Einflußgebietes - für eine Dasseler Beteiligung an der Gründung, die allerdings nicht in der Gründungsurkunde und in den frühen Urkunden des Stiftes überliefert ist. Zudem hatten die Grafen von Dassel sowohl in Fredelsloh selbst als auch in dessen nächster Umgebung als einzige hochadlige Familie Besitz. Die Grafen von Everstein haben ein Kloster, Wormeln, relativ spät (vor 1246) und recht weit weg von ihrem eigentlichen Herrschaftsmittelpunkt 9 So zuletzt auch K.-H. S PIEß , Liturgische Memoria und Herrschaftsrepräsentation im nichtfürstlichen Hochadel des Spätmittelalters, in: W. R ÖSENER (Hg.), Adelige und bürgerliche Erinnerungskulturen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit, Göttingen 2000 (Formen der Erinnerung 8), S. 100. 10 N. K RUPPA , Die Grafen von Dassel (wie Anm. 2), Reg. 651. 11 N. K RUPPA , Die Grafen von Dassel (wie Anm. 2), Kap. III. 1. und VI. 2. 5.

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Everstein (zwischen Stadtoldendorf und Bodenwerder) gegründet. 12 Jedoch lag dieser Ort im Bereich ihres zweiten Herrschaftskomplexes, der Grafschaft Donnersberg bei Warburg. 13 Die Grafen bestimmten die Parochie Wormeln zur Gründung eines Klosters und übergaben sie an die angekommenen Zisterzienserinnen. Im Verlaufe des 13. Jahrhunderts statteten die Grafen von Everstein das Kloster mit weiteren Gütern zusätzlich aus, dazu zählten unter anderem Übertragungen von Patronatsrechten in Wormeln, Heddingehausen und Wettesingen. 14 Aber: das Kloster spielte für die Grafen keine hervorragende Rolle, sie bedachten es zwar regelmäßig, besondere Aufmerksamkeit, etwa als Grablege der Familie oder zur Unterbringung der eigenen Töchter, erfuhr es jedoch nicht. Älterer Tradition zufolge waren die Grafen von Everstein auch an der Gründung des Zisterzienserinnenklosters Mariengarten bei Göttingen beteiligt. Jedoch konnte festgestellt werden, daß ihre Rolle nur marginal war. Sie nahmen sie im Grunde nur ein, als sie als Kirchenherren von +Welderekeshusen (heute Mariengarten) der Exemtion des Ortes von Sieboldehausen zustimmten. 15 Die Grafen von Schwalenberg gehörten zu den „fleißigsten“ Klostergründern im Untersuchungsgebiet. Bereits 1128 gründete Widekind I. von Schwalenberg, der erste Vertreter seiner Familie, das Kloster Marienmünster. 16 Der Stifter wurde im Kloster beerdigt, ihm folgte später seine 12 B. Chr. von S PILCKER , Geschichte der Grafen von Everstein und ihrer Besitzungen, aus Urkunden und anderen gleichzeitigen Quellen zusammengestellt, Arolsen/Speyer 1833 (Beiträge zur älteren deutschen Geschichte 2 und 3), UB LXXIX (5. Mai 1246). 13 G. S CHNATH , Die Herrschaften Everstein, Homburg und Spiegelberg. Grundlegung zur historischen Geographie der Kreise Hameln und Holzminden, Göttingen 1922 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hannover, Oldenburg, Braunschweig, Schaumburg-Lippe und Bremen. Studien und Vorarbeiten zum Historischen Atlas Niedersachsens 7), S. 10. 14 B. Chr. von S PILCKER , Everstein UB LXXXIV (21. März 1250), LXXXVI (25. Dezember 1250) und CXXXVIII (8. April 1266), XCIIII (4. Mai 1252). Dazu kamen noch andere Güter wie Höfe, Hufen, Einkünfte etc., siehe UB Everstein CII (1255), CXI (14. Mai 1258), CLXIX (20. April 1276), CLXXVI (1277), CLXXVII (6. März 1278). 15 M. von B OETTICHER (Bearb.), Urkundenbuch des Klosters Mariengarten, Hildesheim 1987 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 37, 8; Göttingen-Grubenhagener Urkundenbuch 2), 7 (19. Juni 1250) und 10 (1257). Vgl. ders., Mariengarten, in: U. F AUST (Bearb.), Die Männer- und Frauenklöster der Zisterzienser in Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Hamburg, St. Ottilien 1994 (Germania Benedictina XII), S. 375-390. 16 Heinrich August E RHARDT , Regesta historicae Westfaliae, accedit codex diplomaticus, Bd. I-II, Münster 1847-51 [zit. als W UB I bzw. II], 205 (15. August 1128). Zur Geschichte des Klosters siehe W. K NACKSTEDT , Marienmünster, in: R. H AACKE (Bearb.), Die Benediktinerklöster in Nordrhein-Westfalen, St. Ottilien 1980 (Germania Benedictina VIII), S. 446-468, und ders., Marienmünster, in: K. H ENGST (Hg.), Westfälisches Klosterbuch. Lexikon der vor 1815 errichteten Stifte und Klöster von ihrer Gründung bis zur Aufhebung 1, Münster 1992 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen 44; Quellen und Forschungen zur Kirchen- und Religionsgeschichte 2,1), S. 568-574. Regesten des Kloster siehe: F. X. S CHRADER , Regesten und Urkunden zur Geschichte der ehemaligen Benediktiner Abtei Marienmünster, unter Berücksichtigung der früher incorperierten Pfarreien, Erster Theil, Von der Gründung bis

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Frau. 17 Die Stiftung erfolgte wohl unter Einfluß eines Verwandten des Grafen, des Paderborner Bischofs Bernhard von Oesede. 18 Für die Grafen von Schwalenberg war dies das eigentliche Familienkloster, wohin sie zahlreiche Memoriastiftungen leisteten und im 13. Jahrhundert sogar einen Sohn als Mönch unterbrachten. 19 Trotz der Konzentration auf Marienmünster stifteten aber Widekinds I. Nachfahren aus verschiedenen Gründen fünf weitere Klöster bzw. Stifte: Barsinghausen wurde zwischen 1185-1193 von dem ansonsten wenig belegten Widekind II. von Schwalenberg gegründet. Dies geht aus einer Urkunde Bischof Thietmars von Minden von 1203 hervor, in der er die Gründung in seinem Schutz nimmt. 20 Die Grafen versorgten es weiterhin mit einigen Schenkungen und auch mit zwei Memorialstiftungen. Das Augustinerchorfrauenstift Volkhardinghausen, gelegen im Waldeckischen, ist die nächste Klostergründung der Grafen von Schwalenberg. Es wurde vor 1221 gestiftet, von welchem Grafen ist allerdings unklar. Die erste überlieferte Schwalenberger Urkunde für das Kloster stammt aus dem Jahr 1252. 21 An das Kloster sind im 13. Jahrhundert keine Memoriaurkunden der Familie gegangen. Die Brüder Volkwin IV. von Schwalenberg (1214-1248) und Adolf I. von Waldeck (1219-1271) gründeten 1228 das Zisterzienserinnenkloster Netze, das ein zweiter Mittelpunkt der Familienmemoria, allerdings nur für die Linie Waldeck und erst in späterer Zeit, wurde. Aber schon im 13. Jahrhundert bedachte die Familie es unter anderem mit einer Memoriaurkunde. Die ältere Vermutung, das Kloster sei als Sühne für die Ermordung Erzbischofs Engelbert von Köln († 1225) gegründet worden, kann nicht belegt werden. Ein Sühnekloster könnte es trotzdem gewesen sein, denn um 1227 mußte

zum Tode des Abtes Georg I (1128-1518), in: Zeitschrift für vaterländische Geschichte und Altertumskunde [Westfalens] 46/II, S. 132-200. 17 F. X. S CHRADER , Regesten und Urkunden zur Geschichte der ehemaligen Benediktiner Abtei Marienmünster, unter Berücksichtigung der früher incorperierten Pfarreien. Vorbemerkungen, in: Zeitschrift für vaterländische Geschichte und Altertumskunde [Westfalens] 45/II, S. 131. 18 Unter seiner Führung wurden auch die Klöster Arolsen (1131), Gehrden (um 1138), Hardehausen (1140) und Willebadessen (1149) gegründet, vgl. Marienmünster, in: Germania Benedictina VIII, S. 447. 19 Vgl. F. X. S CHRADER (wie Anm. 16), in: Zeitschrift für vaterländische Geschichte und Altertumskunde [Westfalens] 46/II, passim, und F. F ORWICK , Die staatsrechtliche Stellung der ehemaligen Grafen von Schwalenberg, Münster 1963 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen 22; Geschichtliche Arbeiten zur westfälischen Landesgeschichte 5), Stammtaf. 1. 20 A. B ONK (Bearb.), Urkundenbuch des Klosters Barsinghausen. Hannover 1996. (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 37; Quellen und Untersuchungen zur Geschichte Niedersachsens im Mittelalter 21) 5, vgl. F. F ORWICK (wie Anm. 19), S. 8. und 41f. 21 W UB IV 510 (1252).

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Volkwin IV. auf zahlreiche Rechte und Güter in der Diözese Paderborn verzichten, nachdem er in dieser „gewütet“ hatte. 22 Ein für die Familienmemoria ähnlich wichtiges Kloster wie Marienmünster war das um 1228 ebenfalls von Volkwin IV. gegründete Zisterzienserinnenkloster Burghagen. Es wurde 1247 nach Falkenhagen verlegt. Die Grafen von Schwalenberg machten im 13. Jahrhundert hier unter anderem fünf Memoriaschenkungen, die Grafen von Pyrmont schlossen sich mit dreien an. Damit sind für das Kloster genauso viele Seelheilstiftungen in diesem Jahrhundert belegt wie für Marienmünster. Die letzte Schwalenberger Gründung war die des Klosters Ullenhausen (OSB). Es zählt zu den „am schlechtesten dokumentierten Klöstern“ 23 und wurde wahrscheinlich in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts gegründet, entweder erneut von Volkwin IV. oder von seinem Sohn, Heinrich III./I. von Schwalenberg-Sternberg. Mit dieser Anzahl an Klostergründungen fallen die Grafen von Schwalenberg auf. Zudem war Volkwin II. von Schwalenberg (1137-1178) auch an der Gründung des Klosters Auliburg (später Haina, OCist) beteiligt und sein Vater soll zudem bei der Stiftung von Arolsen eingebunden gewesen sein. 24 Es war durchaus für hochadlige Familien üblich, ein oder vielleicht in Ausnahmefällen zwei Klöster zu stiften, aber sechs erscheinen doch als sehr ungewöhnlich. Die Ursachen für diese rege Tätigkeit sind bis heute nicht aufgehellt worden. Mit den wenigen Bemerkungen konnte gezeigt werden, daß alle adligen Familien versuchten mindestens ein Kloster zu stiften. Dieses war dann in der Regel die Grabstätte der Familie und auch das Zentrum der Memoria. Ob der letzte Punkt tatsächlich zutraf, sollen die folgenden Ausführungen zeigen. 3b. Die Detailuntersuchung über die Memoria dieser Familien wurde mit der in ihrem sozialen Stand schwer faßbaren Familie der Herren von Brakel begonnen. Ab der zweiten Nennung des ersten Brakelers, Werner I. (1155/1184-1203), gehörten sie zu den Paderborner Ministerialen 25 und fielen daher eigentlich aus dem Untersuchungsrahmen, der Grafen und Edelherren umfassen sollte, heraus. Aber: ihr Heiratsverhalten, ihre Verwandten und die Unterbringung ihrer Kinder in geistlichen Institutionen, unter anderem in den 22 Gründung: J. A. Th. L. V ARNHAGEN , Grundlage der Waldeckischen Landes- und Regentengeschichte. Bd. 1. Göttingen 1825, UB XIX (1228); Verzicht auf Paderborner Güter und Rechte W UB IV 152; vgl. F. F ORWICK (wie Anm. 19), S. 9f. und 42. 23 H. R ÜTHING , Ullenhausen, in: K. H ENGST (Hg.), Westf. Klosterbuch 2, Münster 1994, S. 379-381. 24 E. G. F RANZ , Klosterarchive. Regesten und Urkunden, Bd. 5: Kloster Haina, Bd. 1 1144 – 1300. Marburg 1962 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen und Waldeck 9,5), 1. K. W IEDERHOLD , Die Gründung des Klosters Aroldessen 1131, in: Geschichtsblätter für Waldeck 71, 1983, S. 20f. 25 Ersterwähnung Werners I. von Brakel 1184: W UB II 449 und Add. 66. 1186, W UB II 460, wird Werner von Brakel in der Zeugenreihe einer Urkunde Bischof Siegfrieds von Paderborn als erster der Ministerialen genannt: Nomina ministerialium: Wernherus de Brachel ...

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Domstiften von Hildesheim und Paderborn, deuten darauf hin, daß sie ursprünglich edelfreier Abkunft waren. Im Verhältnis zu den sicher hochadligen Familien sind wenig Memoriaurkunden von ihnen erhalten. Eine Klostergründung oder die Beteiligung an einer solchen läßt sich für sie nicht nachweisen. Es ist aber nicht ausgeschlossen, daß ihre Vorfahren zu den Gründerausstattern des Klosters Hardehausen gehört haben könnten. 26 1155 bestätigte Bischof Bernhard I. von Paderborn dem Kloster seine Besitzungen. Dabei wird auch die Schenkung der Frau eines Werners und ihrer Söhne Werner und Hermann erwähnt. 27 Den Namen nach könnte es sich hierbei um Werner I. von Brakel, seinen sonst nicht belegten Bruder Hermann und ihre Eltern handeln. Auch die wenigen, allerdings wesentlich späteren Memoriaurkunden würden auf dieselbe Familie hinweisen, denn von sechs Memoriaschenkungen bzw. Seelgerätstiftungen der Herren von Brakel sind zwei für Hardehausen überliefert zumindest soweit es die gedruckt vorliegenden Quellen zeigen. 1292 resignierte Johannes von Brakel (1261-1292) zusammen mit einem Hermann Marschall dem Kloster einen bestimmten Morgen in Scherfede (nw Warburg) zu deren Seelenheil. 28 Sechs Jahre später resignierten Werner V. (1298-1319) und Hermann IV. (1298-1312) in die Hände des Abtes von Corvey ihre Ansprüche an den Gütern in Rimbeck, damit sie dem Kloster zu ihrem Seelenheil übertragen werden. 29 Andere, entsprechende Stiftungen sind an Marienmünster und Wormeln überliefert. Am 14. April 1261 verzichtete Werner III. von Brakel (1245-1281) mit dem Einverständnis seiner Frau Mechthild (von Oesede, 1252-1261), seines Sohnes Bernhard (1252-1313) und seiner Tochter Reilind/Regelind (Nonne in Gehrden, 1252-1261) auf seinen Anteil an den Gütern in Gundeshem zugunsten Marienmünsters, damit dort für ihr Seelenheil gebeten werde. 30 In dem selben Jahr verzichteten auch die Ritter Berthold (12131273), Werner III. (1245-1281) und Hermann III. (1245-1286) von Brakel zusammen mit ihren Erben Berthold [II. von Dassel, Burchard] 31 von der

26 Hardehausen, 1140 gegründet durch die Ansiedlung von Zisterziensern aus Kamp von Bischof Bernhard I. von Paderborn. Die Stiftungsurkunde des Klosters stammt vom 5. Mai 1150, vgl. W. K UHNE , in: K. H ENGST (Hg.), Westf. Klosterbuch 1, S. 389-395. 27 N. S CHATEN , Annalium Paderbornensium. T. 2 p. 1. Münster 1774, S. 561. 28 R. W ILMANS , H. F INKE , Westfälisches Urkundenbuch, Bd. IV. Die Urkunden des Bistums Paderborn (1201-1300), Münster 1874/94 (ND Osnabrück 1973/74) [zit. als W UB IV] 2216 (21. Oktober 1292). 29 W UB IV 2507 (13. Juli 1298). 30 W UB IV 886. 31 In den Kopialbüchern ist an dieser Stelle Bertoldo de Asseburgh überliefert, wie es auch bei Graf J. B. von B OCHOLZ -A SSEBURG , Asseburger Urkundenbuch, Urkunden und Regesten zur Geschichte des Geschlechts Wolfenbüttel-Asseburg und seiner Besitzungen, Erster Theil bis zum Jahre 1300, Hannover 1876, 312, gedruckt ist. Jedoch ist F. X. S CHRADER (wie Anm. 16), in: Zeitschrift für vaterländische Geschichte und Altertumskunde [Westfalens] 46/II, 48, der Ansicht, daß es sich hierbei entweder um einen Schreibfehler für Burchardo de Asseburg anstatt Bertoldo handelt, oder eine Lücke im Original anzunehmen sei, die wie oben in dem Regest zur ergänzen wäre, hierzu vgl. weitere

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Asseburg, Bernhard (1252-1313), Berthold (1261-1303), Werner IV. (12611298) und Johannes (1261-1292) auf ihren Anteil ebenda, damit in Marienmünster ebenfalls für ihr Seelenheil gebeten werde. 32 1299 machten Berthold (1261-1303) und Werner [IV., 1261-1298, oder V., 1298-1319] von Brakel dem Kloster Wormeln Schenkungen für ihr Seelenheil in demselben Ort. 33 Eine recht frühe und etwas ungewöhnliche Memoriaschenkung ist die von 1213 an die Brakeler Pfarrkirche. Hermann II. (1203-1246), Werner II. (1213-1244), Burchard (1213) und Berthold (1213-1273) von Brakel schenkten der Kirche bzw. dem Pfarrer in Brakel zwei Zehnte, damit er in der Burgkapelle den Gottesdienst ausführt. Dieser Schenkung schließt sich auch die Bitte um Gebete zu ihrem Seelenheil an. 34 Mit den Schenkungen hat ein Teil der Herren von Brakel für sein Seelenheil vorgesorgt. Aufgrund der Forschungslage über diese Familie ist es schwierig, die Schenkenden eindeutig genealogisch einzuordnen. 35 Es scheint, daß nur bestimmte Zweige - nämlich die Brüder Hermann II., Werner II. und Berthold sowie deren Nachkommen - für ihre Memoria sorgten. Vermehrte Schenkungen einer Person, wie bei hochadligen Geschlechtern durchaus üblich, sind bei den Herren von Brakel im 13. Jahrhundert bei Berthold (12131273), Werner III. (1245-1281), Bernhard (1252-1313) und Johannes (12611292) nachgewiesen. Die Herren von Brakel blieben mit ihren Schenkungen in dem Gebiet, wo sich ihre Herrschaft konzentrierte, keines der Klöster ist sonderlich weit von Brakel entfernt. 36 Eine ganz andere Familie, sowohl was ihren Stand als auch ihr Memoriaverhalten betrifft, waren die Grafen von Schwalenberg. Das 1128 gründete Kloster Marienmünster bildete den Mittelpunkt der Familienmemoria. Von den bisher 27 gefundenen Seelgerätstiftungen der Grafen von Schwalenberg in allen Nebenlinien (Pyrmont, Sternberg, und Waldeck) waren acht an dieses Kloster gerichtet, die anderen gingen an Falkenhagen, Barsinghausen, Hardehausen, Beriche, Brenkhausen, Abdinghof, Busdorf, Fritzlar, Netze und Wennigsen. Auffällig ist, daß die Klostergründungen im 12. und in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts vonstatten gingen, der größte Teil der Schenkungen aber aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts stammte. Eine der Ursachen dafür ist sicherlich die allgemeine Zunahme der Schriftlichkeit in diesem Jahrhundert und damit die vermehrte Überlieferung. Aber es ist denkbar, daß in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts die Grafen einfach noch nicht so Brakeler Urkunden in: N. K RUPPA , Die Grafen von Dassel (wie Anm. 2), Reg. 409 und 410. 32 Asseburger UB I 312 (1261). 33 W UB IV 2575 (13. September 1299). 34 W UB IV 56. 35 Vgl. F. Baron F REYTAG VON L ORINGHOVEN , Europäische Stammtafeln 3, Marburg 1976, Tafel 62b. 36 Marienmünster liegt knapp 15 km nördl. Brakel, Hardehausen 30 km südwestl. und Wormeln 30 km südl. Die Schenkungen der geistlichen Brakeler wurden hier noch nicht untersucht, es ist aber wahrscheinlich, daß die Hildesheimer und Paderborner Domherren vor Ort Schenkungen für ihr Seelenheil machten.

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viele Einzelschenkungen machten, da sie durch die Klostergründungen für ihre Memoria sorgten. Erst in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts, als die Gründungen aufhörten, sorgten die einzelnen Mitglieder für ihre Memoria durch Einzelschenkungen. Die Stiftungen in Marienmünster begannen 1214 mit der Schenkung Volkwins IV. für sein und seines Vaters Heinrich I. Seelenheil. 37 Weitere Schenkungen an das Kloster aus der Linie der Grafen von Schwalenberg kamen von Widekind VI. und seinen Brüdern Adolf II. und Albrecht I. Alle drei waren Söhne Volkwins IV. Widekind VI. (1238-1264) stiftete ca. 1250 für sich und seine Eltern eine Memoria, was er 1251 wiederholte. 38 Zehn Jahre später bestätigten seine Brüder Adolf II. und Albrecht I. seine Stiftung, nachdem er bereits verstorben war. 39 Zwei Stiftungen für ihr Seelenheil sowie für das ihrer Eltern folgten 1288 und 1290. 40 Auch die Grafen von Pyrmont bedachten das Kloster mit Seelenheilstiftungen. 1251 bestätigte Gottschalk II. von Pyrmont die Schenkung seines Vaters Gottschalk I. an das Kloster, die verbunden war mit dem Eintritt seines Bruder Widekind in den Konvent von Marienmünster. Gleichzeitig sollten die Einkünfte des verschenkten Zehnts für sein und seiner Familie Seelenheil sowie als Präbende für seinen Bruder verwendet werden. 41 Ein Jahr später bestätigte Abt Hermann von Corvey den Eintritt Widekinds in Marienmünster und die Schenkungen dessen Vaters Gottschalk I. Er erwähnte auch, daß Gottschalk einen Zehnten für sein Seelenheil dem Kloster geschenkt hatte. 42 Genauso viele Schenkungen wie an Marienmünster gingen auch an das von Volkwin IV. gegründete Kloster Burghagen/Falkenhagen. Die Stiftungen begannen 1265 und wurden von den Grafen Adolf II. und Albrecht I. von Schwalenberg sowie von Konrad, Hermann III. und Hildebold von Pyrmont vorgenommen. In den ersten Schenkungen bedachten die Schwalenberger Brüder ihre Eltern und ihren Bruder. Zuerst schenkte Adolf II. dem Kloster verschiedene Felder zum Seelenheil für seine Eltern und seinen verstorbenen Bruder, 43 was er und sein Bruder drei Jahre später ergänzten. Zudem standen die Güter ihrer Mutter und Schwester Kunigunde, die Äbtissin in Falkenhagen war, zu. 44 1276 bestätigten beide Brüder eine frühere Schenkung Widekinds VI., die er einst für sein Seelenheil machte 45 und sorgten schließlich 1290 für ihr eigenes Seelenheil. 46 Von den Pyrmonter Grafen schenkte zuerst 1282 Konrad Güter für sein und seiner Eltern Seelenheil an

W UB IV 58 (21. September 1214). F. X. S CHRADER (wie Anm. 16), in: Zeitschrift für vaterländische Geschichte und Altertumskunde [Westfalens] 46/II, 26; W UB IV 1003 (27. September 1264). 39 W UB IV 1274 (12. März 1261). 40 W UB IV 1976 (2. Februar 1288) und W UB IV 2121 (1290). 41 W UB IV 449 (1. August 1251). 42 W UB IV 509 (1252). 43 W UB IV 1031 (10. Mai 1265). 44 W UB IV 1151 (1268). 45 W UB IV 1420 (1. Februar 1276). 46 W UB IV 2074 (3. Mai 1290). 37 38

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Falkenhagen, 47 dem sich ein Jahr später Hermann III. und Hildebold I. zusammen mit ihm, ihrem Cousin, anschlossen. 48 1295 schenkten dieselben Grafen dem Kloster noch zwei Höfe für ihr Seelenheil. 49 Das Kloster Hardehausen empfing im 13. Jahrhundert zwei Memoriastiftungen aus der Schwalenberger Familie. 1247 erkannten die Grafen Gottschalk II. und Hermann II. von Pyrmont eine Schenkung ihres Vater Gottschalk I. für sein und seiner Familie Seelenheil an. 50 1263 überließ Graf Adolf I. von Waldeck dem Kloster das Eigentum an eineinhalb Hufen für sein Seelenheil. 51 An das von dem Grafen Widekind II. von SchwalenbergPyrmont gegründete Kloster Barsinghausen gingen zwei Memoriastiftungen seiner Nachkommen. 1255 bestätigte Ludolf von Hallermunt die entsprechende Stiftung seiner Frau Kunigunde von Pyrmont, 52 die ihr Bruder Hermann II. 1264 bekräftigte. Zudem erwähnte er, daß Kunigundes Stiftung auch das Seelenheil ihrer Eltern beinhaltete. 53 Dem waldeckischen Kloster Netze, in dem sich später die Grablege der Grafen von Waldeck befand, bestätigte Bischof Widekind von Osnabrück (1265-1269), geborener Graf von Waldeck, eine Schenkung seiner Schwägerin Mechthild von ArnsbergWaldeck und ihrer Söhne Adolf, Gottfried und Otto, die sie zum Seelenheil seines verstorbenen Bruders, des Grafen Heinrich von Waldeck, gemacht hatten. 54 Für die Grafen von Schwalenberg lassen sich noch folgende Memoriastiftungen finden: 1227 verzichtete Volkwin IV. auf Besitzungen des Klosters Abdinghof, erhielt sie als Amtslehen vom Abt, der sich gleichzeitig verpflichtete, die jährliche Memoria für dessen Eltern zu feiern. 55 1270 stiftete der Paderborner Dompropst Heinrich II. von Schwalenberg eine Memoria für seine Eltern, Heinrich I. und Hazzeke, in dem Paderborner Stift Busdorf. 56 1274 nahm er eine Schenkung an die Kirche in Fritzlar zu seinem, seiner Eltern, seines Bruders Adolfs I. sowie dessen Sohnes Heinrich von Waldeck Seelenheil vor. 57 Schließlich stimmten die Grafen Adolf II. und Albrecht I. dem Verkauf eines Grundstücks zu und schenkten es dem Kloster Brenkhausen für ihr Seelenheil. 58 Im Verlaufe seiner Lebenszeit entsagte Graf Adolf I. von Waldeck allen Diensten und Grafenrechten, die er an dem

W UB IV 1669 (31. März 1282). W UB IV 1739 (27. Mai 1283). 49 W UB IV 2365 und 2366 (beide 30. September 1295). 50 W UB IV 385 (1247). 51 W UB IV 958 (29. September 1263). 52 A. B ONK , UB Barsinghausen (wie Anm. 20), 34 (6. Juli 1255). 53 Ebd. 50 (1264). 54 W UB IV 1129 (wohl 1267); die Urkunde gibt 1277 als Datum an, was aber so nicht stimmen kann, vgl. Anm. ebenda. 55 W UB I 57; Urkunde mit falschen Datum, vgl. ebenda. 56 W UB IV 1226; J. P RINZ (Bearb.), Die Urkunden des Stifts Busdorf in Paderborn, Lfg. 1. Münster 1975 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen 37) 38 (1270). 57 W UB IV 1375 (1. Dezember 1274). 58 W UB IV 2089 (14. August 1290). 47 48

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Gütern des Klosters Beriche besaß zu seinem Seelenheil. 59 Die Grafen Hermann III., Hildebold I. und Konrad von Pyrmont beschenkten zudem 1293 das Kloster Wennigsen zu ihren Seelenheil. 60 Die letzte Stiftung, die hier erwähnt werden soll, ist gleichzeitig die einzige, die sich bisher für die schwalenbergische Nebenlinie der Grafen von Sternberg hat finden lassen. Heinrich III./I. von Schwalenberg-Sternberg, der erste dieser Linie, schenkte dem Kloster Marienfeld sein Eigentum und die Vogtei in einem Ort zu seinem und all seiner Verwandten Seelenheil. 61 Für das 13. Jahrhundert lassen sich auf diese Weise für fast alle weltlichen Grafen von Schwalenberg in allen Linien Memoriastiftungen nachweisen. Die schlechteste Überlieferung in dieser Hinsicht bitten die Grafen von Sternberg, für die nur eine entsprechende Urkunde erhalten ist. Die Schwalenberger Familie war sehr um ihr Seelenheil bemüht, was auch schon die zahlreichen Klostergründungen andeuteten. Daß bevorzugt die Familienstiftungen bedacht wurden, ist nicht sonderlich überraschend. Daß dennoch vielfach andere Klöster beschenkt wurden zeigt jedoch, daß die Grafen sich nicht nur auf eigene Kirchen beschränken wollten. Die Streuung der beschenkten Klöster ist allerdings nicht sonderlich groß, einzig Marienfeld in der Diözese Münster liegt nicht im unmittelbaren Einflußgebiet der Grafen. Für die Memoria der Grafen von Dassel spielte das von ihnen wahrscheinlich mitgegründete Stift Fredelsloh keine besondere Rolle, obwohl auch hier drei Seelgerätstiftungen stattfanden. 62 Das zentrale Familiengedenken war in dem mainzischen Lippoldsberg angesiedelt. Das Benediktinerinnenkloster, wenige Kilometer von dem eigentlichen dasselischen Hauptsitz Nienover entfernt, bekam die meisten Seelgerätstiftungen der Grafen (10), auch wenn sie andere geistliche Institutionen ebenfalls bedachten. 63 In Lippoldsberg

V ARNHAGEN , Grundlage (wie Anm. 22), UB XXVII, ohne Datum. W. von H ODENBERG , Calenberger Urkundenbuch, Abt. 7. Archiv des Klosters Wennigsen. Hannover 1858 [zit. als Cal. UB VII] 89 (11. Oktober 1293). 61 L. von L EDEBUR , Die Grafen von Sternberg in Westfalen, in: Zeitschrift für vaterländische Geschichte und Alterthumskunde [Westfalens] 7, 1844 (ND 1971), S. 78f. 62 N. K RUPPA , Grafen von Dassel (wie Anm. 2), Reg. 152 (1222) für Reinold III. und Sigebodo von Dassel, 212 (1235) für Adolf II. von Dassel und 458 (13. Juli 1270) für Heidenreich und Adolf IV. von Dassel. 63 Insgesamt haben die Grafen von Dassel 51 geistliche Institutionen mit Schenkungen bedacht, 32 von ihnen erhielten Memoriaurkunden. Neben Lippoldsberg und Fredelsloh gehörten dazu: das Kloster Amelungsborn (OCist) (2), Braunschweig, Hospital im Altenwieck (1), Dortmund, St.-Katharina-Stift (OPraem) (1), Einbeck, Alexanderstift (1), alle Göttinger geistlichen Institutionen, die 1325 oder zuvor existierten (je eine) und der Göttinger St.-Georgs-Kaland (2), Kloster Helmarshausen (OSB) (1), Domstift Hildesheim (2) und die Hildesheimer Stifte Johannes (1) sowie Bartholomäus (1), Kloster Himmelpforten (OESA) (2), das Franziskanerkloster in Höxter (1) sowie Niggenkerken (1) ebenda, das Zisterzienserkloster Loccum (1), das Domstift in Mainz (1), das Zisterzienserinnenkloster Mariensee (4), das Zisterzienserkloster Mariental (3), das Kloster Northeim (OSB), das Stift Obernkirchen (CanA) (1), das Stift Oelinghausen (OPraem) (1), das Kloster Steina (OSB) (2) und schließlich die Kirche in Uslar (1), vgl. N. Kruppa, Grafen von Dassel (wie Anm. 2), Kap. IV. 59 60

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wurde vielfach nur den/der bereits Verstorbene/n gedacht, 64 dagegen sorgten die noch Lebenden in andern Klöstern für ihre Memoria. 65 Zwischen 1210 und 1220 schenkten die Grafen Adolf II. und Ludolf III. dem Kloster Lippoldsberg Güter zum Seelenheil ihres verstorbenen Vaters Ludolf II. und bestimmten, daß am Jahrestag seines Todes die Messe gefeiert werden solle. 66 1220 verpfändete Adolf II. Güter an das Kloster, wobei er einen Teil des Pfandgeldes gleich dem Kloster für das Anniversar seines Bruders und von dessen Frau überließ. Gleichzeitig gab er dem Kloster einen halben Neurodzehnten für das Seelenheil aller seiner Vorfahren und Nachkommen. 67 Mit seinen Söhnen Adolf V. und Ludolf VI. hatte Graf Adolf II. von Dassel weitere Memoriastiftungen für seinen verstorbenen Vater Ludolf II. 68 und für seine tote Frau Ermentrud 69 angeordnet. Auch in dem Verzicht Clementias von Dassel auf die Vogtei über Lippoldsberg aus dem Jahre 1241, in dem sie den Verzicht ihres verstorbenen Mannes Ludolf IV. bestätigte, ist eine Memoriabitte enthalten. Diese galt den Grafen Adolf I. († 1223), Ludolf IV. († 1233) sowie ihren Söhnen Adolf IV., Ludolf V. und Wilbrand. 70 1257 bestätigte wiederum Ludolf V., Clementias Sohn, ihre Stiftung an das Kloster und bestimmte die Gedächtnisfeierlichkeiten an ihrem Todestag. 71 Daneben erbaten einzelne Grafen noch zu ihren Lebzeiten für sich Gebete in Lippoldsberg. Die frühesten sind die Grafen Adolf IV. und Ludolf V. mit Gebeten für ihr und ihrer Vorfahren Seelenheil. 72 Adolf II., der zahlreiche Gedächtnisstiftungen für tote Mitglieder seiner Familie in Auftrag gab, vergaß sich selbst nicht und übertrug 1256 einen Zehnten zu seinem Seelenheil. 73 Hinzu kommt das Testament Simons von Dassel, in dem er den Jahrestag für 64 N. K RUPPA , Grafen von Dassel (wie Anm. 2), Reg. 131 (1210-1220) für Ludolf II. († nach 1197); Reg. 138 (1220) für Ludolf III. und seine Frau Benedicta († vor 1220); Reg. 265 (1241) für Adolf I. († nach 1. März 1224), Ludolf IV. († 1233), beide also bereits verstorben, und allgemein für seine Söhne; Reg. 368 (1235-1257) für Ludolf II.; Reg. 373 (1257) für Clementia († nach 1255) und schließlich Reg. 375 (1257) für Ermentrud († vor 1257). Demgegenüber stehen, von Reg. 265 abgesehen, nur noch zwei Schenkungen von Grafen zu ihren Lebzeiten, Reg. 328 (1250) von und für Adolf IV. und Ludolf V. und Reg. 367 (1256) von und für Adolf II. 65 N. Kruppa, Grafen von Dassel (wie Anm. 2), Reg. 101 (1204) von und für Gottfried von Arnsberg und Adolf I.; Reg. 122 (1215) von und für Adolf I. und Adolf III.; Reg. 152 (1222) von Adolf II. im Auftrag seiner Brüder Reinold III. und Sigebodo für diese; Reg. 160 (1224) von und für Siegfried von Eppstein und Adolf I.; Reg. 212 (1235) von und für Adolf II.; Reg. 291 (ca. 1244) von und für Reinold III.; Reg. 389 (1257/58) von und für Adelheid von Ravensberg, Ludolf V. und Berthold I.; Reg. 444 (1268) von und für Ludolf V. und Adolf VII.; Reg. 458 (1270) von und für Heidenreich und Adolf V.; Reg. 504 (1282) von Ludolf V. für Bruderschaft für diesen, seine Frau Ermengard, Adolf VII. und Simon; Reg. 526 (1285) von und für Ludolf VI. 66 N. Kruppa, Grafen von Dassel (wie Anm. 2), Reg. 131 (1210-1220). 67 Ebenda, Reg. 138 (1220). 68 Ebenda, Reg. 368 (o.D.). 69 Ebenda, Reg. 374 (1256). 70 Ebenda, Reg. 265 (1241). 71 Ebenda, Reg. 373 (1257). 72 Ebenda, Reg. 328 (1250). 73 Ebenda, Reg. 367 (1256).

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sich, seine Frau, seine Eltern, Graf Ludolf von Dassel und Herzog Otto von Braunschweig bestimmte. 74 An Lippoldsberg lassen sich zudem für Ermentrud, Simon und Sophia von Dassel Bestattungen bzw. Wünsche nach solchen urkundlich nachweisen. 75 Bei den Grafen von Dassel konnte festgestellt werden, daß sie vielfach zunächst den Streubesitz für Schenkungen benutzten und daher auch Klöster bedachten, die von ihrem Stammsitz weiter entfernt lagen. Ob dies auch für die anderen Familien zutrifft, muß erst noch festgestellt werden. Von den Grafen von Everstein wurden bisher 24 bzw. 25 Memoriaurkunden gefunden. Die meisten von ihnen gingen an das ihrem Stammsitz benachbarte Zisterzienserkloster Amelungsborn. Auch die anderen bedachten Klöster und Stifte lagen in der Umgebung der eversteinischen Besitzungen im Solling, rund um Göttingen bzw. im Grenzbereich zwischen dem heutigen Nordhessen und Westfalen. Die sehr frühe Schenkung an Corvey für das Seelenheil eines Grafen Konrad und seiner Familie, die für Eversteiner gehalten werden können, von 1113, hat sich als eine Fälschung Johannes Friedrich Falkes, des Corveyer Chronisten des 18. Jahrhunderts, herausgestellt. 76 Die erste Stiftung von 1197 nach Amelungsborn - überhaupt eine der frühesten Memoriastiftungen im Untersuchungsgebiet - vom Grafen Albrecht II. von Everstein (1162-1197) und seinem Sohn Albrecht III. (1197-1214) war dem Grafen und seinen Erben gewidmet. 77 Erst knapp 70 Jahre später ist eine weitere Schenkung an das Kloster urkundlich belegt. 1266 stiftete Graf Ludwig I. (1224-1284) mit seinen Söhnen Albrecht VI. (1254-1284) und Ludwig III. (1266-1312) eine Memoria für seine Frau Adela [von Gleichen, 1254-1258]. 78 1275 und 1280 machte Graf Otto II. (1219-1282) von Everstein je eine Memoriaschenkung an das Kloster für seinen verstorbenen Sohn Albrecht V. (1235-1274) und seine ebenfalls verstorbene Frau Ermengrad (von Arnstein, † 1244). 79 Ein Jahr später bezeugte Ludwig III. (1266-1312) eine Schenkung seiner Mutter, die sie zu ihrem Seelenheil gemacht hatte. 80 Das eversteinische Kloster Wormeln bedachten die Grafen mit vier Memoriaurkunden, wenn man die Klosterstiftungsurkunde von 1245

Ebenda, Reg. 628 und 629 (1325). Siehe N. K RUPPA , Grafen von Dassel (wie Anm. 2): für Ermentrud Reg. 375 (28. Dezember 1257), Simon und Sophia Reg. 628 (1. Mai 1325). 76 Siehe R. W ILMANS , Additamenta zum Westfälischen Urkundenbuch, Münster 1877, S. 10ff., bes. S. 12, und J. B ACKHAUS , Die Corveyer Geschichtsfälschungen des 17. und 18. Jahrhunderts, in: F. P HILIPPI (Hg.), Abhandlungen über Corveyer Geschichtsschreibung, Münster 1906 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen 10), S. 36. 77 J. F. F ALKE , Codex traditionum Corbeiensium, Leipzig/Wolfenbüttel 1752, S. 854; W UB II R. 2393 (1197). 78 J. F. F ALKE , Codex traditionum Corbeiensium, S. 558 (1266). 79 B. Chr. von S PILCKER (wie Anm. 12), UB Everstein CLXI (1275) und CLXXXV (1280). 80 Ebd. CLXXXIX (9. April 1281). 74 75

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mitzählt. 81 1250 übertrug Graf Otto II. von Everstein Wormeln das Patronatsrecht über die Kirche in Heddingehausen zu seinem Seelenheil. 82 1276 und 1277 übertrug er dem Kloster einmal Güter und das zweite Mal Einkünfte jeweils zu seinem Seelenheil. 83 An das Benediktinerinnenkloster Lippoldsberg richteten die Grafen drei Memoriaurkunden. Bereits 1202 schenkte Albrecht III. (1197-1214) dem Kloster Güter für sein und seiner Eltern Seelenheil. 84 Fünf Jahre später übertrug er dem Kloster mit dem Einverständnis seiner Frau Agnes [von Wittelsbach] seinem Ministerialen zu seinem und seiner Eltern Seelenheil. 85 1245 schließlich bestätigte Konrad III. von Everstein (1217-1254) zu seinem Seelenheil mit dem Einverständnis seines Sohnes Konrad IV. (1243-1283) eine Schenkung seines Vaters. 86 1239 trat Otto II. dem Stift Arolsen die Pfarrechte an der Kirche in Wittmar zu seinem, seiner Vorfahren und Nachkommen Seelenheil ab und wünschte gleichzeitig die Einrichtung einer Anniversarfeier an seinem künftigen Todestag. 87 1252 bezeugten zwei Brüder Gropen von Gudensberg, daß Otto mit dem Einverständnis seiner Ehefrau Ermengard dem Stift Arolsen zu seinem Seelenheil und für die Feier seiner Memoria die Patronatsrechte über die Kirchen in Wittmar, Volkmarsen und Benevelt übertrug. 88 Konrad III. von Everstein genehmigte schon 1226 die Bestätigung der Schenkungen seiner Vorfahren, die sein Bruder Otto II. (1219-1282) zugunsten des Klosters Gehrden ausstellte. Diese Genehmigung enthielt eine Memoria, ohne sie genauer zu spezifizieren. 89 1249 schenkte Otto II. von Everstein für sein, seines Sohnes Albrecht V. (1235-1274) und seiner verstorbenen Frau Ermengard [von Arnstein] Seelenheil diesem Kloster das Achtwort über einen bestimmten Wald. 90 Die beiden Schenkungen an das St.-Bonifatius-Stift in Hameln stammten von 1245. Eine stiftete Otto II. von Everstein zusammen mit seinen Söhnen Walter I. (1245-1289) und Konrad V. (1239-1298) sowie dem Grafen Albrecht zu seinem, seiner Vorfahren und Nachkommen Seelenheil. 91 Die andere stammte von Konrad V. von Everstein und beruhte auf einer Verpfändung. Sollte der Graf sie nicht wieder einlösen, sollten die Einkünfte zu seinem, seiner Vorfahren und Nachkommen Seelenheil genutzt 81 Ebd. LXXIX (5. Mai 1245). Die Stiftung erfolgte unter anderem zum Erlaß der Sünden der Grafen Konrad III. (1243-1283), Otto II. (1219-1282), Hermann I. (1226-1268) und Ludwig I. (1224-1284) von Everstein, die die Urkunde ausstellten. 82 W UB IV 423 (25. Dezember 1250). 83 W UB IV 1437 (1. Juni 1276) und W UB IV 1456 (12. Februar 1277). 84 B. Chr. von S PILCKER (wie Anm. 12), UB Everstein XXIIIa (1202). 85 Ebd. XXIX (1207). 86 Ebd. LXXVIa (1245). 87 J. V ARNHAGEN , Beitrag zur Geschichte der Grafen von Everstein und deren Besitzungen, in: Archiv für Geschichte und Altertumskunde Westfalens 2, 1828, S. 148f. (4. März 1239). 88 B. Chr. von S PILCKER (wie Anm. 12), UB Everstein XCVI (1252). 89 W UB IV 147 (8. Dezember 1226). 90 W UB IV 401 (11. März 1249). 91 O. M EINARDUS (Bearb.), Urkundenbuch des Stiftes und der Stadt Hameln, Bd. 1. Bis zum Jahre 1407. Hannover 1887 (ND Osnabrück 1977) (Quellen und Darstellungen zur Geschichte Niedersachsens 2), Bd. 1, 30 (1245).

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werden. 92 1206 wurde Albrecht III. von Everstein zusammen mit seiner Frau und seinen Söhnen in die Bruderschaft des Klosters Hardehausen aufgenommen, dem er auch die Memoria für seine Eltern bestätigte. 93 1233 bestätigten die Grafen Konrad III., Otto II., Hermann I. und Ludwig I. eine Schenkung ihres Onkels Konrad II. (1200-1213) zur Erlösung ihrer und ihrer Eltern Sünden an das Kloster Willebadessen. 94 Die Exemtion des Klosters Mariengarten von 1257 war ebenfalls mit einem Wunsch nach dem Erlaß ihrer Sünden durch die Grafen Otto II., Ludwig I., Albrecht, Propst von St. Crucis in Hildesheim (1226-1260), und Friedrich, Propst von Nörten (1230-1257), verbunden. 95 1267 bekundeten die Grafen Otto II., Hermann I., Ludwig I. und Konrad III. [?], daß ihr Lehnsmann Heinrich von Wieden Land dem Deutschen Orden übertragen hatte, unter anderem zu ihrem Seelenheil. 96 Diese Schenkung war aber nicht von den Grafen, sondern von deren Lehnsmann initiiert, so daß die Grafen auf die Auswahl des Empfängers offensichtlich keinen Einfluß besaßen. 4. Mit diesen kurzen Ausführungen konnte an Hand von vier Familien gezeigt werden, daß die Memoria, hier in ihrer einfachsten Form, der Seelgerätstiftung, einen breiten Raum im Denken und Handeln der Menschen einnahm. Alle Familien sorgten, entsprechend ihrer Möglichkeiten, für solche Stiftungen. Dabei versuchten sie möglichst alle Familienmitglieder abzudecken. Von meiner Dissertation weiß ich, daß dies bei den Grafen von Dassel auch weitgehend verwirklicht werden konnte, wobei die dasselischen Töchter ihre Memoria vielfach in den Familien, in die sie einheirateten, erhielten. Die bisherige Untersuchung zeigt, daß für einen Großteil der Schwalenberger des 13. Jahrhunderts Seelgerätstiftungen überliefert sind. Ebenso konnten für fast alle Grafen von Everstein in diesem Jahrhundert Memorialschenkungen nachgewiesen werden. Auch die Brakeler, die sozialhierarchisch etwas aus dem Rahmen fallen, zeigen zumindest in Zweigen ihrer Familie große memoriale Bestrebungen. Dabei zeigt sich, daß die Schenkungen in der Regel den Schenkenden selber meinen. Vielfach werden die Eltern oder allgemeiner die Vorfahren in den Memoriastiftungen bedacht. Was nun auffällt ist, daß die Kinder selten erwähnt werden, es sei denn die Schenkung geht generell an die „Vorfahren und Nachkommen“ des Schenkenden. Die Schenkungen wurden von allen Familien relativ breit gestreut, d.h. es wurden unterschiedlichste geistliche Institutionen bedacht. Dahinter stand wohl das Verlangen, die Memoria an vielen Orten und von vielen Personen unterschiedlichster religiöser Lebensweise zu sichern. Aufgefallen ist auch, daß die Gründung oder Bestimmung eines Klosters zu dem Hauskloster einer Familie die anderen nicht hinderte, dorthin eigene Memoriaschenkungen Ebd. 31 (1245). B. Chr. von S PILCKER (wie Anm. 12), UB Everstein XXVIII; W UB IV 23 (1206). 94 Ebd. XLIX. 95 M. von B OETTICHER , UB Mariengarten (wie Anm. 15), 10 (1257). 96 H. H OOGEWEG , Westfälisches Urkundenbuch, Bd. VI. Die Urkunden des Bistums Minden vom Jahr 1201-1300, Münster 1898 (ND Osnabrück 1975), 877 (24. Juli 1267). 92 93

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vorzunehmen (z.B. Brakel in Marienmünster oder Eversteiner in Lippoldsberg). Die Klöster blieben also nicht den einzelnen Familien vorbehalten, sondern standen für alle offen. Was hier noch nicht unternommen wurde, ist die Auswertung von möglichen Nekrologien, soweit sie erhalten oder ediert sind. Im Amelungsborner Nekrolog z.B. sind Eintragungen für die Grafen von Everstein und Dassel auf jeden Fall enthalten. 97 Weniger einheitlich ist das Bild bei den Klostergründungen. Dabei ist aber zu beachten, daß eine Klostergründung mit erheblichen finanziellen Belastungen verbunden war. Nicht jede Familie konnte sich leisten, ein großes Hauskloster zu gründen. Dennoch scheinen alle Hochadelsfamilien zumindest versucht zu haben, ein eigenes Kloster zu gründen bzw. zu besitzen. In dieser Hinsicht schlagen die Grafen von Schwalenberg mit ihren sechs Gründungen eindeutig aus dem Rahmen. Die Grafen von Everstein mit einer Klosterstiftung und einer „Genehmigung“ liegen wohl, soweit die bisherige Vermutung, eher im Durchschnitt. Gleichwohl ist bei ihnen überraschend, daß sie nicht ihr Kloster als ihren zentralen Gedenkort benutzt haben. Die Wahl für das ihrem Hauptsitz benachbarte Amelungsborn ist aber nachvollziehbar. Interessant, aber bisher noch nicht weiter verfolgt, ist die Frage nach der Wahl der Orden, sowohl bei den Neugründungen als auch - mit Einschränkungen - bei den bedachten geistlichen Institutionen. Bei den hier genannten Klöstern handelte es sich ausschließlich um Benediktiner, Zisterzienser und Augustinerchorherren/-frauen. Auffallend ist das völlige Fehlen der Prämonstratenser, nicht nur bei den Gründungen der Familien, sondern auch insgesamt in diesem Raum. Die nächsten Prämonstratenserstifte sind: KasselAhnaberg, Wedinghausen, Oelinghausen und Rumbeck im Sauerland sowie Pöhlde am Harz.

97 H. D ÜRRE , Anniversaria fratrum et benefactorum ecclesie Amelungsbornensis oder Das Nekrologium des Klosters Amelungsborn, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Niedersachsen 1877, passim.

Abt Albert von Stade. Ein Chronist des 13. Jahrhunderts. * Arend Mindermann

„Daraufhin sagte Firri: ‚Wohlan Tirri, ich will nach Rom reisen; unterrichte mich über die Wegeverhältnisse.’“ Mit diesen Worten beginnt ein höchst aufschlußreicher fiktiver Dialog in dem wohl berühmtesten Werk des Albert von Stade, der Chronica, oder den Stader Annalen, wie sie im 19. Jahrhundert genannt wurden. Mit diesem fiktiven Dialog sind wir mitten hineingetaucht in das Leben dieses ungewöhnlichen Geistlichen des 13. Jahrhunderts. Denn wenn auch der lange Dialog zwischen Firri und Tirri, Kosenamen für Friedrich und Dietrich, fiktiv ist - die geschilderte Romreise war es nicht. Albert von Stade war tatsächlich von Stade nach Rom gereist und hatte den Reiseweg in seine Chronik einfließen lassen. Man mag sich nun fragen, warum denn ein Stader Abt nach Rom zog und wer dieser Albert überhaupt war. Diesen Fragen möchte ich im Folgenden nachgehen. Geboten wird aber keinesfalls eine ausführliche Biographie Abt Alberts. Geboten wird auch keine detaillierte Werkschau der literarischen Werke Abt Alberts; hierzu bedürfte es eines Alt-Philologen und nicht eines Historikers. Vielmehr konzentriert sich der folgende Beitrag lediglich auf einzelne Aspekte von Alberts Leben und Wirken sowie auf das politische, soziale und geistige Umfeld, in dem er agierte. Begonnen sei zunächst einmal damit, was über Albert alles nicht bekannt ist: Unbekannt ist, wann er geboren wurde, wo er geboren wurde und wer seine Eltern waren. Ebenso unbekannt ist, in welchem Jahr er gestorben ist, wo er gestorben ist und wo er begraben liegt. Auch über sein Aussehen haben sich keinerlei Zeugnisse erhalten. Genaugenommen weiß man von ihm nur, was er in den Jahren zwischen 1206 und 1256 getan hat. Alles andere ist lediglich durch Vermutungen zu erschließen. Gerade diese Jahre, insbesondere die 1230er Jahre, aber waren ungemein turbulente Jahre im Elbe-Weser-Dreieck, und Albert von Stade nahm zunächst als hochrangiger Geistlicher und als Politiker in hohem Maße aktiv teil * Überarbeitete und um die Nachweise der herangezogenen Literatur ergänzte Fassung eines Vortrags, gehalten im November 2000 in Stade und Otterndorf. Die Vortragsform wurde weitgehend beibehalten. - Angesichts der sehr überschaubaren Zahl hier einschlägiger Titel erschien der Verzicht auf Einzelnachweise vertretbar. - Eine stark gekürzte Fassung des Vortrags erscheint in Heft 3/2001 von 'Heimat und Kultur zwischen Elbe und Weser. Zeitschrift des Landschaftsverbandes der ehemaligen Herzogtümer Bremen und Verden.'

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an den Ereignissen seiner Zeit, um sie anschließend als Chronist zu beschreiben. Geboren wurde er wohl gegen Ende des 12. Jahrhunderts. Bernd Ulrich Hucker zufolge lag Alberts Geburtsjahr vor 1187, was Hucker schlüssig damit begründet, daß Albert 1206 ein Kanonikat in Ramelsloh innehatte, also das nach dem kanonischen Recht dazu notwendige Alter von 20 Jahren zuvor erreicht haben dürfte, was eine Geburt nach 1187 ausschließt. Es ist anzunehmen, daß er in Bremen die Domschule besucht hat. Möglicherweise war er mit dem Bremer Domscholaster Heinrich verwandt, also mit demjenigen Domherrn, dem diese Domschule unterstand. Sehr wahrscheinlich begann Albert seine geistliche Laufbahn im Kanonikerstift Ramelsloh bei Lüneburg, einer Bremer Enklave im Bistum Verden. Wie eben schon kurz erwähnt, ist er hier, mit dem Weihegrad eines Diakons, seit dem Jahr 1206 belegt. Der Ramelsloher Domherr Albert, genannt Albert von Rameslo, wurde 1217 zum Propst dieses Stifts und zum Bremer Domherrn. Beide Ämter behielt er bis 1232. Es folgte dann der erste Ordenswechsel seines Lebens, dem noch ein weiterer folgen sollte. Im Jahr 1232 trat der bisherige Augustiner-Chorherr Albert zum Benediktinerorden über und wurde noch im selben Jahr zum Abt geweiht. Heinz-Joachim Schulze vermutet wohl zu Recht, daß allen Beteiligten - und insbesondere dem unten noch häufiger genannten Bremer Erzbischof Gerhard II. - bereits bei Alberts Eintritt in den Benediktinerorden klar war, daß er fast unverzüglich zum Abt werden sollte. Die Benediktiner-Abtei, der Albert seit 1232 als Abt vorstand, war das Stader Kloster St. Marien, das seinerzeit vor den Mauern der Stadt Stade lag, etwa dort, wo sich heute der Stader Bahnhof befindet. Daß sich keinerlei Reste dieses Klosters erhalten haben, liegt weniger am Bau des Bahnhofs im letzten Jahrhundert, sondern in erster Linie daran, daß es im Jahr 1500 in die Stadt Stade hinein verlegt wurde, woraufhin das frühere Kloster restlos abgebrochen wurde. Innerhalb der Stadt Stade wurde das St. Marien-Kloster südlich des Platzes Am Sande wieder errichtet, etwa an der Stelle, wo sich heute das Staatsarchiv und das Katasteramt befinden. Es wurde bei Kriegshandlungen im Jahr 1712 durch dänischen Beschuß in Brand gesetzt und ebenfalls restlos zerstört. Kehren wir aber zunächst ins Jahr 1232 zurück. Albert trat sein Amt als Abt zu einer Zeit an, in der der ungemein resolute Bremer Erzbischof Gerhard II. versuchte, das Land Stedingen seiner Herrschaft zu unterwerfen. Er bediente sich dabei eines ebenso unfeinen wie wirkungsvollen Mittels: Es gelang ihm 1231, Papst Gregor IX. davon zu überzeugen, daß die Stedinger Ketzer seien, schließlich wagten sie es ja, dem Erzbischof, also einem hochrangigen Geistlichen, Widerstand entgegenzusetzen und ihm den Gehorsam zu verweigern. Der Papst rief daraufhin die Ritter ganz Europas zu einem Kreuzzug gegen die Stedinger auf und stellte ihnen denselben Sündenablaß in Aussicht, den ihnen ein Kreuzzug ins Heilige Land oder ins heidnische Baltikum bot. Die Aussicht auf reiche Beute - quasi vor der Haustür - lockte viele Ritter nach Stedingen, denen es schließlich gelang, das etwa 2000 Mann starke Bauernheer der Stedinger am 27. Mai 1234 in der berühmten Schlacht von Altenesch bei Lemwerder restlos zu besiegen.

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Albert findet in seiner Chronik kein Wort der Kritik gegenüber dem Verhalten des Erzbischofs und kein Wort von Verständnis, oder auch nur des geringsten Ansatzes davon, für das Verhalten der Bauern. Er hält den ungleichen Kampf des schwerbewaffneten Ritterheeres gegen die Stedinger Bauern für einen völlig legitimen Kreuzzug. Spätestens hier stellt sich die Frage, was Albert zu dieser einseitigen Parteinahme bewogen haben könnte. Die Antwort kann sehr knapp ausfallen: Es war wohl die Parteinahme für seine eigenen Verwandten. Alberts Schilderung des Stedingerkrieges führt also direkt auf die Frage nach seiner Herkunft. Noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein meinte man zumeist, Albert sei niederer, mithin wohl bäuerlicher Herkunft gewesen, da er in seine Chronik die eine oder andere abfällige Bemerkung über Grafen und Edelherren einstreute, etwa über die Edelherren von Bederkesa, die er als berühmte Räuber (praedones famosi) bezeichnete. Ein Bauernsohn als Chorherr, als Propst, als Domherr und schließlich als Benediktinerabt wäre allerdings für das 13. Jahrhundert geradezu sensationell gewesen. Es war wiederum Hucker, dem denn auch 1970, in seiner Dissertation, nach eingehenden, insbesondere genealogischen Recherchen, der überzeugende Nachweis gelang, daß Albert aus der Ministerialität stammte. Sehr wahrscheinlich, so Hucker, war Albert ein Angehöriger der Familie von Stelle, die aus Osterstade, mithin aus dem einstigen Stedingen, stammte. Wir sehen Albert also im Jahr 1232 als einen standesbewußten Niederadeligen, der eine geistliche Laufbahn eingeschlagen hatte und als Abt eines Benediktinerklosters eine respektable, seinem Stand durchaus angemessene Position erreicht hatte, wenn auch auf recht ungewöhnlichem Wege, nämlich nach vorangehendem Ordenswechsel. In den folgenden Jahren sollte Alberts Leben eine weitere sehr ungewöhnliche Wendung nehmen, die ihn dann endgültig von den meisten seiner Zeitgenossen abhob. Von entscheidender Bedeutung war dabei das Verhalten des Bremer Erzbischofs Gerhard II. sowie des ebenfalls schon erwähnten Papstes Gregor IX. Seit dem Aussterben der Stader Grafen in männlicher Linie im Jahr 1144 kämpften bekanntlich die Welfen, in der Person Heinrichs des Löwen und seiner Nachkommen, auf der einen, und die Bremer Erzbischöfe auf der anderen Seite etwa ein Jahrhundert lang um den Besitz der Grafschaft Stade, deren Besitzungen sich im Gebiet zwischen Oste und Elbe konzentrierten, mit Stade und Harsefeld als Zentren. Gerade unter Erzbischof Gerhard II. kam es hierbei zu erneuten heftigen Auseinandersetzungen in diesem Konflikt - und dabei spielte Abt Albert eine nicht ganz unbedeutende Rolle. Angesichts der Tatsache, daß Erzbischof Gerhard II. in jener Zeit befürchten mußte, daß es den Welfen doch noch gelingen könnte, sich in den endgültigen Besitz der Stader Grafschaftsrechte zu setzen, mußte er versuchen, soviel wie möglich von den Gütern und Rechten der Stader Grafen vor dem welfischen Zugriff zu sichern und dem eigenen Zugriff zu erhalten. Der Weg hierzu führte über die Klöster, wie Heinz-Joachim Schulze erst jüngst zeigen konnte. Insbesondere der gerade aufblühende Zisterzienserorden schien Erzbischof Gerhard II. dabei ein wirkungsvolles Instrument zur Durchsetzung seiner

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Ziele zu bieten - womit Gerhard unter den geistlichen und weltlichen Fürsten seiner Zeit keineswegs eine Ausnahme darstellte. Warum aber, so mag man fragen, gründet oder fördert ein geistlicher oder weltlicher Fürst ein Zisterzienserkloster, um seine Besitzungen zu schützen, die dann doch einem Kloster gehören? Die Antwort auf diese Frage bietet die Ordensstruktur der Zisterzienser. Die älteren Benediktinerklöster unterstanden in der Regel einem weltlichen Schutzvogt, der auch die Güterverwaltung kontrollieren konnte. Da dieser Vogt zumeist von der Stifterfamilie gestellt wurde, konnten die Stifterfamilien also den von ihnen an ein Benediktinerkloster gestifteten Besitz auch nach dem Übergang in klösterliches Eigentum noch sehr effektiv kontrollieren. Zisterzienserklöster aber waren untereinander fest verbunden und lehnten weltliche Vogteien strikt ab. Der Güterbesitz eines Zisterzienserklosters also war dem Zugriff weltlicher Gewalten nahezu vollständig entzogen. Der geistlichen Oberaufsicht des zuständigen Bischofs bzw. Erzbischofs aber blieben diese Klöster weiterhin unterstellt; und auf diese Weise konnte er sehr wohl Einfluß auch auf die Güter der Klöster nehmen, mußte doch eine Verschleuderung der Güter auch Einfluß auf die Substanz der Klöster haben, also die Rechte des jeweiligen Bischofs bzw. Erzbischofs berühren. Diese Rechtskonstruktion wollte Erzbischof Gerhard sich zunutze machen. Er förderte deshalb überall dort, wo Besitzrechte umstritten waren, die Gründung von Zisterzienserklöstern, indem er selbst gründete, indem er Gründungen durch seine Ministerialen anregte und förderte und indem er Umwandlungen bestehender Klöster in Zisterzienserklöster unterstützte. So entstanden um oder kurz nach 1232 Zisterzienserklöster in Midlum, später nach Altenwalde, und schließlich nach Neuenwalde verlegt und in ein Benediktinerkloster umgewandelt, sowie in Lilienthal bei Bremen, im oldenburgischen Hude und schließlich 1234 im holsteinischen Uetersen. Was aber war die Rolle des Albert von Stade in der eben geschilderten Politik Gerhards II.? Ihm war von Erzbischof Gerhard II. zugedacht, für die Umwandlung des Benediktinerklosters St. Marien bei Stade in ein Zisterzienserkloster zu sorgen. Die Beweggründe Gerhards II. hierfür sind völlig klar, wie 1986 Heinz-Joachim Schulze ermitteln konnte, auf den ich mich auch an dieser Stelle beziehe: St. Marien war 1142 von derjenigen Adelsfamilie gegründet worden, die im Auftrag der Stader Grafen die Vogtei in der Stadt Stade innehatte und die sich später, nach 1282, von Brobergen nannte. Diese Familie war als Stifterfamilie im Besitz der Vogteirechte des St. Marienklosters; die Hochvogtei aber lag, so Schulze, bei den Stader Grafen, deren Ministerialen die von Brobergen waren. Sollte nun Stade an die Welfen fallen, was ja um 1235 durchaus im Bereich des Möglichen lag, so hätten die von Brobergen den Welfen unterstanden, die damit über die Vogteirechte Zugriff auf den Besitz des St. Marienklosters hätten erlangen können. Der große und bedeutende Besitz jenes Klosters wäre damit unter den zwar nur indirekten, aber doch sehr wirkungsvollen Einfluß der Welfen geraten; eine Entwicklung die Erzbischof Gerhard unbedingt verhindern wollte. Wäre das St. Marien-Kloster dagegen ein Zisterzienserkloster geworden, so unterstünde es der geistlichen

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Oberherrschaft des Bremer Erzbischofs, den Welfen wäre dagegen, aufgrund des Fehlens einer weltlichen Vogtei, jeglicher Zugriff auf die Klostergüter versperrt geblieben. In enger Zusammenarbeit mit Erzbischof Gerhard II. versuchte deshalb Abt Albert um 1235/36 St. Marien in ein Zisterzienserkloster umzuwandeln. Albert ging es dabei allerdings, soweit erkennbar, in erheblich höherem Maße als dem Bremer Erzbischof auch um theologische Motive. Er war, wenn man denn seinen eigenen Bekundungen trauen darf, ganz offenbar wirklich von der Notwendigkeit dieser Klosterreform überzeugt. Der Konvent mußte nach Alberts Überzeugung dringend zu strengerer Befolgung der Regeln des hl. Benedikt gebracht werden, eben zu solch strengen Regeln, wie die Zisterzienser sie für ihre Klöster vorsahen. Dem Konvent gefiel diese Entwicklung verständlicherweise ganz und gar nicht. Ein Abt, der ja vor 1232 nicht einmal ihrem Orden angehört hatte, wollte ihnen zumuten, daß sie künftig die sehr strengen Zisterzienserregeln befolgen sollten? Das dürfte insbesondere für die langjährigen Konventsangehörigen eine regelrechte Zumutung gewesen sein! Albert mußte also, wollte er sein Ziel erreichen, den Widerstand des Konvents brechen. Hierfür wählte er einen Weg, dem der Konvent, wäre er erfolgreich gewesen, nichts hätte entgegensetzen können: Er wandte sich an den Papst in Rom und reiste deshalb 1236 persönlich dorthin, um sein Anliegen vorzubringen. Dieser Romreise verdanken wir also den eingangs zitierten fiktiven Dialog mit seiner einzigartigen Wegbeschreibung. Wir finden darin alle Stationen einer Romreise des 13. Jahrhunderts. Zu Beginn wird sogar angegeben, man sollte sich zunächst nach Dänemark begeben, um dort gute Pferde für die lange Reise zu erstehen - die Hannoveraner-Pferde hatten also seinerzeit ganz offenbar noch nicht annähernd ihre heutige Güte. Albert wanderte, wenn man seinem Bericht Glauben schenken darf - und nichts spricht dagegen -, auf dem Hinweg über Bremen und das Münsterland nach Duisburg, wo der Rhein zu überqueren war. Er führt aus, daß man bei Hochwasser den Rhein bei Köln überqueren solle, wo ja seit den Zeiten der Römer eine Brücke vorhanden war. Leider sagt er nicht, welche Variante er wählte. Vom Rheinübergang aus führte der Weg über Maastricht ins heutige Frankreich, wobei Albert genau mitteilt, an welchem Ort im heutigen Belgien sich seinerzeit die französische Sprachgrenze befand. Er schreibt wörtlich, man solle dem Weg „von Maastricht nach Tongern folgen und von da nach Velm. Eine Meile weit ist der Weg bis Landen; dieses Dorf hat französische und deutsche Bewohner. Zwei Meilen bis Linsmeau. Dort betrittst du französisches Sprachgebiet.“ Von hier ging der Weg dann über Reims, Troyes und Chalons-sur-Saône nach Lyon. Von Lyon aus überquerte Albert die heutigen französichen Alpen, bevor er sich über Turin, Piacenza, Bologna und Orvieto nach Rom begab. Für den Rückweg nennt er zwei mögliche Routen. Die eine führt über Mailand und die Schweizer Alpen ins Rheintal, dann (per Schiff) den Rhein entlang bis Duisburg, um danach über Münster und Bremen Stade wieder zu erreichen. Die andere Route führt über den Brenner und dann über Augsburg, Rothenburg ob der Tauber und Würzburg nach Gotha. Von dort geht es dann östlich am Oberharz vorbei über Nordhausen, Braunschweig

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und Celle ebenfalls wieder nach Stade. Angesichts der sehr präzisen Angaben zur zweitgenannten Rückweg-Route, die in deutlichem Kontrast stehen zu den sehr allgemein gehaltenen Angaben zur erstgenannten stehen, ist kaum daran zu zweifeln, daß Albert über den Brenner zurückgereist sein dürfte. Die andere Route kannte er offenbar nur vom Hörensagen. Addiert man die Tagesrouten, deren Meilenzahl in deutschen bzw. französischen Meilen stets genau angegeben wird, so ergibt sich, daß man je etwa ein Vierteljahr für die Hin- und Rückreise rechnen mußte. Insgesamt war Albert also mindestens ein halbes Jahr unterwegs, wobei unklar bleibt, wie lange er sich in Rom aufhielt. Voller Verbitterung schildert Albert dann in seiner Chronik, daß der Papst Gregor IX. ihm nicht die erhoffte Rückendeckung verschaffte. Albert erhielt also nicht die erhoffte päpstliche Urkunde, in der die Umwandlung St. Mariens in ein Zisterzienserkloster aus päpstlicher Autorität heraus angeordnet worden wäre. Er schimpft deshalb in seiner Chronik geradezu über den Charakter dieses Papstes - und ebenso schimpft er, wie verwundert festzustellen ist, über Erzbischof Gerhard II. Was war zwischenzeitlich geschehen? Wie konnte es zu diesem Mißerfolg kommen und warum versagte so plötzlich der Erzbischof dem Abt Albert die Unterstützung? Die Erklärung liegt darin, daß die politische Lage im Elbe-Weser-Gebiet sich im Jahr 1236 vollständig verändert hatte. Dem welfischen Herzog Otto war an einem Bündnis mit dem Bremer Erzbischof gegen die Askanier gelegen, weshalb er gegenüber Erzbischof Gerhard II. zu Zugeständnissen bereit war. Er verzichtete deshalb 1236 endgültig auf sämtliche Ansprüche auf den größten Teil der Grafschaft Stade und erhielt dafür die Gohe Hittfeld und Hollenstedt zugesprochen. Damit aber war der Erzbischof jetzt selbst Inhaber der wichtigsten weltlichen Herrschaftsrechte in diesem Gebiet geworden und alles, was oben über die Möglichkeiten der Nutzung von Vogteirechten durch die Welfen ausgeführt wurde, traf jetzt auf ihn selbst zu. Als Inhaber der Hochvogteirechte hatte Erzbischof Gerhard II. also nicht das geringste Interesse, sich Vogteirechte über das St. Marienkloster nehmen zu lassen, wie dies bei einer Umwandlung in ein Zisterzienserkloster geschehen würde. Die geistliche Oberaufsicht blieb ihm ja sowieso. Er entzog allen derartigen Bestrebungen Abt Alberts also seine aktive Unterstützung. Ohne diese intensive erzbischöfliche Rückendeckung aber waren Alberts Bemühungen zum Scheitern verurteilt. Ganze vier Jahre lang, bis 1240, versuchte er dennoch unermüdlich weiter, die Umwandlung St. Mariens in ein Zisterzienserkloster zu erreichen. Noch 1237 fanden darüber hochrangig besetzte Verhandlungen im Stader Bischofshof statt. Aber auch sie blieben, wie zu erwarten war, ohne Erfolg. Der Erzbischof ermahnte den anwesenden Konvent zwar pflichtschuldigst, sich Alberts Reformbemühungen nicht zu widersetzen, drohte aber - verständlicherweise - keinerlei Konsequenzen an, falls der Konvent dies nicht tun würde. Der Konvent dürfte dieses Verhalten des Erzbischofs durchaus richtig aufgefaßt haben und war selbstverständlich auch weiterhin nicht bereit, sich Alberts Reformvorstellungen zu unterwerfen. Albert zeigt sich also in diesen Jahren, anders als der Erzbischof, nicht als reiner Taktiker, sonder quasi als

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‚Überzeugungstäter’, der seine Ansichten gegen alle Widerstände durchsetzen wollte - und damit scheiterte. Im Sommer 1240 hatte auch Albert selbst dies endlich erkannt. Resigniert und verbittert legte er sein Amt als Abt des Klosters St. Marien nieder - und wurde nicht etwa Zisterzienser in einem der zahlreichen bestehenden Klöster, sondern trat am 20. August 1240 in den soeben, vielleicht von Albert selbst, neugegründeten Stader Konvent der Franziskaner ein! Die Gründe für den erneuten Ordenswechsel bleiben völlig im Dunkeln. Vielleicht hatte er die Franziskaner 1236 bei seiner Italienreise kennen und schätzen gelernt. Vielleicht waren es die Regeln der Franziskaner, die ihn anzogen, die ja selbst gegenüber den Zisterzienserregeln noch wesentlich rigider ausfielen. Doch muß dies Spekulation bleiben. Letztlich werden sich Alberts Beweggründe für diesen Schritt nicht mehr ermitteln lassen. Es beginnt nun, im Sommer 1240, ein völlig neuer, letzter Lebensabschnitt im Leben dieses umtriebigen Mannes: das eines kontemplativen Gelehrten und Schriftstellers. Im Jahr 1249 vollendete er eine 5320 Verse umfassende Neudichtung des Trojaepos: den Troilus. Weitere metrische Dichtungen von ihm, eine mit Namen ‚Raimundus’ und eine weitere mit Namen ‚Quadriga’, sind dem Namen nach aufgrund älterer Bibliothekskataloge bekannt, heute aber verschollen. Ebenfalls verschollen ist eine ‚Auriga’ genannte Bibelkonkordanz. Im Jahr 1256 schließt er sein heute wichtigstes Werk ab: die große Weltchronik, für die er auf die wichtigsten seinerzeit bekannten älteren Chroniken, aber auch auf einige Originalurkunden zurückgreifen konnte, wie er selbst angibt. Da er eindeutige, teils drastische Wertungen nicht scheut, bildet diese Chronik zugleich eine bedeutende autobiographische Quelle für Alberts Ansichten, wie ja bereits mehrfach deutlich wurde. Gerda Maeck hat jüngst einen auf den Ergebnissen ihrer Magisterarbeit basierenden Aufsatz über Alberts Chronik vorgelegt, in dem sie sich diese Tatsache zunutze macht. Ihre Arbeit hat durch diesen neuen methodischen Zugriff wichtige Aufschlüsse über Alberts Charakter und Ansichten erbracht. Maeck konnte nicht nur Alberts oben erwähnte Erbitterung und Resignation im Jahr 1240 deutlich nachweisen. Sie zeigt auch sehr überzeugend, daß Albert im Grunde seines Herzens bis an sein Lebensende ein adelsstolzer Benediktinermönch in der Kutte des Franziskaners geblieben ist. Seine Chronik weist, wie sie zeigen kann, keinerlei Elemente einer seinerzeit ‚typischen’ franziskanischen Chronik auf; sie lässt vielmehr „franziskanisches Gedankengut nahezu völlig vermissen“. Albert läßt, wie Maeck weiterschreibt, „ein ständisches, machtpolitisches Denken erkennen, das nicht nur den franziskanischen Grundprinzipien der ‚vita minorum’, sondern auch den zentralen Gesichtspunkten der zeitgenössischen Mendikantengeschichtsschreibung in höchstem Maße widerspricht.“ Aber gerade diese Liebe zum regionalen und genealogischen Detail ist es, die seine Chronik noch heute so wichtig und ergiebig erscheinen läßt, was für die sonstigen franziskanischen Chroniken durchaus nicht immer in gleichem Maße gilt.

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Unbekannt ist, wie schon kurz erwähnt wurde, wann Albert gestorben ist. Nach dem Ende des von ihm selbst verfaßten Teils seiner Chronik, im Jahr 1256, verliert sich seine Spur. Sicher ist aufgrund eines Nekrologeintrags lediglich der Todestag: Abt Albert starb nachweislich an einem 9. Februar. Begraben wurde er vermutlich auf dem Friedhof der ältesten Franziskanerniederlassung in Stade oder in deren Kirche. Doch leider ist völlig unklar, wo sich diese befand. Sie könnte auf dem Gelände des heutigen St. Johannisklosters gelegen haben; sicher ist das keinesfalls. Wo sich Alberts Grab befindet, wird also wohl für immer unbekannt bleiben.

Literatur: D ANNENBERG , Hans-Eckhard / S CHULZE , Heinz-Joachim (Hgg.), Geschichte des Landes zwischen Elbe und Weser, Bd. II: Mittelalter. (Schriftenreihe des Landschaftsverbandes der ehemaligen Herzogtümer Bremen und Verden 8) Stade 1995, spez. S. 122 - 165. H UCKER , Bernd Ulrich, Das Problem von Herrschaft und Freiheit in den Landesgemeinden und Adelsherrschaften im Niederweserraum. (Diss. PH Münster 1977) Münster 1978, spez. S. 336 - 342. K RÜGER , Herbert, Das Itinerar des Abtes Albert aus der Zeit um 1250. In: Stader Jahrbuch N.F. 46, 1956, S. 71 - 124; ebd. 47, 1957, S. 87 - 136. M AECK , Gerda, Vom Benediktinerabt zum Minderbruder - Studien zur Geschichtsschreibung Alberts von Stade. In: Wissenschaft und Weisheit 63/1, 2000, S. 86 - 135. M INDERMANN , Arend, Zur Geschichte des Stader Franziskanerklosters St. Johannis. In: Wissenschaft und Weisheit 63/1, 2000, S. 61 - 86. S CHUBERT , Ernst, Geschichte Niedersachsens vom 9. bis zum ausgehenden 15. Jahrhundert. In: Ders. (Hg.), Geschichte Niedersachsens, Bd. 2.1: Politik, Verfassung, Wirtschaft vom 9. bis zum ausgehenden 15. Jahrhundert. (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen XXXVI.II.1) Hannover 1997, S. 3 - 906, spez. S. 488 - 511 u. 682 - 688. S CHULZE , Heinz-Joachim, Zisterzienserinnen in Midlum? Auch ein Beitrag zur Geschichte des Abtes Albert von Stade. In: Kultur, Geschichte, Strukturen. Beiträge zum Bilde der Landschaft zwischen Weser und Elbe. Festschrift für Thassilo von der Decken. Stade o.J. [1986], S. 153 - 172.

Die Eversteinsche Fehde Frank Huismann

I. Einleitung Seit Otto Brunner in seinem Werk „Land und Herrschaft“ die mittelalterliche Fehde als Rechtsinstrument beschrieb, 1 folgten viele Untersuchungen zu Fehden und Fehderecht. Diesen lagen allerdings fast immer städtische Quellen zugrunde. 2 Daneben stieg in den letzten Jahren das Interesse an sogenannten Raubrittern, 3 so daß auch der niedere Adel stärker in die Untersuchungen über Fehderecht miteinbezogen wurde. Die rechtshistorische Ausgangsfrage darf inzwischen wohl als beantwortet gelten: „Während des gesamten späten Mittelalters handelte es sich bei dem Fehdewesen um eine grundsätzlich rechtmäßige Erscheinung“. 4 Das bedeutet aber lediglich, daß Fehden als Rechtsmittel anerkannt waren. Die Zeitgenossen betrachteten keineswegs alle Fehden als rechtmäßig und die als rechtmäßig anerkannten Fehden dienten nicht immer der Durchsetzung des Rechtes: „Vielmehr war die Fehde zugleich ein Mittel der Fehdeführenden, sich in einer rechtlich geduldeten Form zu bereichern“. 5 Die Schattenseite der Bereicherungsmöglichkeiten war natürlich das Verlustrisiko, denn eine spätmittelalterliche Fehde konnte auch in den Ruin führen. Es fällt auf, daß der finanzielle Hintergrund der Fehdeführenden und bei größeren Auseinandersetzungen auch die Logistik der Unternehmungen weit weniger gut 1 Otto B RUNNER : Land und Herrschaft: Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter. Brünn/München/Wien 1939. 5. Auflage Wien 1965, Nachdruck Darmstadt 1990, S. 1-110. 2 Vgl. Elsbet O RTH : Die Fehden der Reichsstadt Frankfurt am Main im Spätmittelalter (Frankfurter Historische Abhandlungen; Bd. 6). Wiesbaden 1973; Dieter N EITZERT : Die Stadt Göttingen führt eine Fehde 1485/86 (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung der Universität Göttingen; Bd. 30); Hildesheim 1992. Christoph T ERHARN : Die Herforder Fehden im späten Mittelalter: Ein Beitrag zum Fehderecht (Quellen und Forschungen zur Strafrechtsgeschichte; Bd. 6); Berlin 1994. Thomas V OGEL : Fehderecht und Fehdepraxis im Spätmittelalter am Beispiel der Reichsstadt Nürnberg (1404-1438) (Freiburger Beiträge zur mittelalterlichen Geschichte, Studien und Texte; Bd. 11). Frankfurt/M. 1998. 3 Dazu Regina G ÖRNER : Raubritter: Untersuchungen zur Lage des spätmittelalterlichen Niederadels, besonders im südlichen Westfalen (Geschichtliche Arbeiten zur westfälischen Landesforschung; Bd. 18). Münster 1987; Kurt A NDERMANN : Raubritter Raubfürsten - Raubbürger? Zur Kritik eines untauglichen Begriffes, in: ders. (Hrsg.): Raubritter oder Rechtschaffene vom Adel? (Oberrheinische Studien; Bd. 14). Sigmaringen 1997, S. 9-29, mit weiterer Literatur. 4 Christoph T ERHARN : Herforder Fehden (wie Anmerkung 2), S. 150. 5 Ebenda.

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erforscht ist. 6 Fehden zwischen Dynasten- oder Fürstengeschlechtern werden bis heute oft nur als Gewinn oder Verlust von Burgen, Städten und angeblichen Territorien beschrieben. 7 Die Fehde um das Erbe der Grafen von Everstein 8 ist ein Beispiel für die rechtlichen und finanziellen Verwicklungen einer Fürstenfehde. Nicht nur das Rechtsempfinden der Zeit ist hier von Interesse, sondern auch die hohe finanzielle Belastung der beiden Parteien während der ungewöhnlich langen Kämpfe. Diese Tatsache verdient Aufmerksamkeit, denn: „Die Finanzverwaltung weist über den fiskalischen Bereich hinaus auf die Verfassung (...)“. 9 Die Eversteinsche Fehde wurde bisher nur einmal ausführlicher behandelt. Paul Bartels konnte 1882 den bis dahin unbekannten Anlaß der Auseinandersetzungen überzeugend nachweisen und hat auch den weiteren Verlauf der Kämpfe beschrieben. 10 Allerdings entgingen ihm dabei wesentliche Teile der lippischen Überlieferung und diese Tendenz setzte sich fort. Noch 1954 übersah Hans Berner bei der Erstellung von Regesten zur Geschichte der eversteinschen Besitzung Ohsen die lippische Urkundenüberlieferung völlig. 11 Auch in Lippe selbst wurde der folgenreichen Fehde wenig Beachtung geschenkt, so daß unter anderem ein aufschlußreiches Schadensverzeichnis der Edelherren zur Lippe, das Erich Sandow 1954 edierte, bisher überhaupt noch nicht ausgewertet worden ist. 12 Die Fehde verdiente eine umfassendere Untersuchung. Das Eingreifen weiterer Fürsten, des Königs und des Papstes eröffnet viele Fragen, die an dieser Stelle lediglich angerissen werden können. Auch die oft beschriebene

6 Eine hervorragende Untersuchung liegt für die Soester Fehde vor, Heinz-Dieter H EIMANN : Die Soester Fehde, in: ders. (Hrsg.): Soest: Geschichte der Stadt. Bd. 2: Die Welt der Bürger. Politik, Gesellschaft und Kultur im spätmittelalterlichen Soest (Soester Beiträge; Bd. 53). Soest 1996, S. 173-260. 7 Die kurze Erwähnung der Eversteiner Fehde bei Erich K ITTEL : Heimatchronik des Kreises Lippe (Heimatchroniken der Kreise und Städte des Bundesgebietes; Bd. 44). 2. verbesserte Auflage, Köln 1978, S. 76f., steht bezeichnenderweise unter der Kapitelüberschrift: „Verlust und Gewinn. Endgültige Gestalt“, S. 72-78. 8 Aufgrund der Hauptakteure, der welfischen Herzöge auf der einen und der Edelherren zur Lippe auf der anderen Seite, ist die Fehde im Niedersächsischen auch als „Lippische Fehde“ bekannt, vgl. Ernst S CHUBERT : Geschichte Niedersachsens vom 9. bis zum ausgehenden 15. Jahrhundert, in: ders. (Hrsg.): Geschichte Niedersachsens, Bd. 2, Teil 1: Politik, Verfassung, Wirtschaft vom 9. bis zum ausgehenden 15. Jahrhundert (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen; Bd. 36). Hannover 1997, hier S. 789-791. 9 Ernst S CHUBERT : Einführung in die Grundprobleme der Deutschen Geschichte im Spätmittelalter. Darmstadt 1992, S. 197. 10 Paul B ARTELS : Der eversteinsche Erbfolgekrieg zwischen Braunschweig-Lüneburg und Lippe 1404-1409. Göttingen 1882. 11 Hans B ERNER : Das Amt Ohsen (Schriftenreihe der Genealogischen Gesellschaft Hameln zur Geschichte der Stadt Hameln und des Kreises Hameln-Pyrmont; H. 6). Göttingen 1954. 12 Erich S ANDOW : Das Schadensverzeichnis aus der Eversteinschen Fehde (c. 1409), in: Mitteilungen aus der lippischen Geschichte und Landeskunde 23/1954, S. 52-107.

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„Hegemonialstellung“ 13 der Welfen im Weserraum ist meiner Ansicht nach erst ein Ergebnis der Eversteinschen Fehde.

II. Die Hintergründe der Fehde Gegen Ende des 14. Jahrhunderts deutete sich das Aussterben der Grafen von Everstein an und alle bedeutenden Nachbarn versuchten, ihr Erbe zu erringen. Die Eversteiner waren wohl unter Lothar III. aus dem Vogtland in den Weserraum gekommen. 14 Sie nahmen unter den mit ihnen verwandten Staufern einen glanzvollen Aufstieg, der allerdings nach deren Aussterben ebenso spektakulär beendet wurde. 1257 ließ Herzog Albrecht I. Graf Konrad an seinem eigenen Schwertgurt erhängen, eine welfische Demonstration gegen das staufische Haus Everstein. 15 Die Gegnerschaft der Grafen zum welfischen Haus gehörte seit dem Hochmittelalter zur Familientradition. Im Jahre 1260 nahmen die welfischen Herzöge Hameln ein und 1284 die namengebenden Burgen Großer und Kleiner Everstein. 16 Auch der ursprünglich ausgedehnte Besitz der Grafen im Leine- und Diemelraum war im 14. Jahrhundert schon verloren. Allerdings konnte sich der letzte Graf Hermann VIII. 1399 noch Herr von Polle, Aerzen, Ottenstein, Ohsen, Holzminden und Hämelschenburg nennen. 17 Damit besaßen die Eversteiner einen langgezogenen Streifen von Gütern und Burgen links und rechts der Weser, ein durchaus lohnendes Ziel für alle Nachbarn. Am 7. Januar 1399 schloß Hermann von Everstein einen Vertrag mit dem Bischof von Paderborn. Im Falle seines erbenlosen Todes sollte dem Bistum die gesamte Grafschaft zufallen. Im Gegenzug wurden dem finanziell angeschlagenen Graf einige paderbornische Orte eingeräumt und 4.000 rheinische Gulden geliehen. 18 Doch wurde Hermann kurz darauf ein Sohn Otto geboren, der auch das zweite Lebensjahr erreichte. Vertragsgemäß wurde deshalb die Vereinbarung von 1399 wieder aufgehoben. Unglücklicherweise starb Otto schon 1402 oder 1403, so daß der Graf wieder keinen Erben besaß. Außerdem drückten ihn nun die 4.000 Gulden, die er offenbar nicht zurückzahlen konnte. 19 Er schloß daher am 6. Juni 1403 eine Erbverbrüderung mit Simon

Ernst S CHUBERT : Geschichte Niedersachsens (wie Anmerkung 8), S. 789. Die bisher einzige größere Arbeit zu den Grafen von Everstein ist Burchard Christian von S PILCKER : Geschichte der Grafen von Everstein und ihrer Besitzungen. Arolsen 1833. Spilckers Arbeit ist vor allem durch das beigefügte Urkundenbuch der Grafen von Everstein noch immer von Bedeutung. Vgl. hier S. 204ff. Zur Verwandschaft im Vogtland und der Rolle Lothars III. auch Ernst S CHUBERT : Geschichte Niedersachsens (wie Anmerkung 8), S. 372. Zum ganzen auch kurz Georg S CHNATH : Die Herrschaften Everstein, Homburg und Spiegelberg. Göttingen 1922. 15 Dazu Ernst S CHUBERT : Geschichte Niedersachsens (wie Anmerkung 8), S. 559. 16 Burchard Christian von S PILCKER : Everstein (wie Anmerkung 14), S. 8 und 81ff. 17 Ebenda, S. 284. 18 Hans B ERNER : Ohsen (wie Anmerkung 11), Regest Nr. 30. 19 Vgl. Burchard Christian von S PILCKER : Everstein (wie Anmerkung 14), S. 285. 13 14

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III. zur Lippe und dessen Sohn Bernhard VI. 20 Beide Seiten ließen ihre Mannen einander huldigen und versprachen außerdem gegenseitig für ihre Schuldverschreibungen aufzukommen. Graf Hermann erhielt außerdem 1.500 rheinische Gulden im August und September des Jahres. 21 Die Edelherren zur Lippe, ursprünglich aus Lippstadt stammend, hatten im Laufe der Zeit ihre Herrschaftsrechte im heutigen Kreis Lippe ausdehnen können. Im 14. Jahrhundert gelang es ihnen durch eine geschickte Finanzpolitik, verschiedene Erwerbungen im Weserraum zu machen. Im Gegensatz zu vielen ihrer Nachbarn waren sie fast immer in der Lage, Geld zu beschaffen, wenn es darauf ankam. Schon 1323 hatten sie die Burg Varenholz an der Weser vom gleichnamigen Geschlecht gekauft, bis 1358 gelang ihnen der Erwerb von drei Vierteln der Grafschaft Schwalenberg. 1405, während der Eversteinschen Fehde, kauften sie den Grafen von Schaumburg die von diesen ererbte Grafschaft Sternberg ab. Dabei handelte es sich vertraglich zwar um eine Pfandschaft, die aber aufgrund ihrer Größe nie wieder ausgelöst wurde. 22 In den Jahren um 1400 erweiterten die Lipper ihre Herrschaftsrechte auffällig oft durch Kauf, obwohl sie gerade eine verlustreiche Fehde mit Tecklenburg hinter sich hatten. 1399 kauften Simon und Bernhard zur Lippe den Herren de Wend Gogericht und Burgericht Heiden ab 23 und ein Jahr später erwarben sie das gesamte Eigengut der Ministerialenfamilie von Westphal. 24 Der finanzschwache Graf von Everstein hatte also gute Partner für seine Erbverbrüderung gefunden. Die lippischen Edelherren waren offensichtlich in der Lage, beträchtliche Geldmengen aufzubringen und ihm damit ein angenehmes Dasein für den Rest seines Lebens zu gewähren. Daß sich umgekehrt die lippischen Machtmittel mit dem Anfall der Grafschaft Everstein erweiterten, steht wohl außer Frage. Die scheinbar „kleine“ Herrschaft war daher auch ein durchaus ernst zu nehmender Rivale für die welfischen Herzöge Bernhard und Heinrich (Bernd und Heinz) von BraunschweigLüneburg, die ihrerseits das eversteinsche Erbe antreten wollten. 25 Ein Konflikt zwischen beiden Seiten war offensichtlich vorprogrammiert, allerdings ergab die bisherige Situation noch keine rechtliche Handhabe für eine Fehde gegen die lippischen Edelherren. Einen Vorwand lieferte schließlich die Verbindung der Edelherren zur Lippe zur Familie von Reden. Henning von Reden war von Herzog Heinrich als Landfriedensbrecher angeklagt worden und vom Landrichter, Graf Otto von Hallermund, in die Acht gelegt worden. Er konnte sich zwar davon 1398 vor neun versammelten Landrichtern in Hofgeismar wieder lösen, wurde aber 20 Lippische Regesten. Neue Folge, bearb. von Hans-Peter W EHLT (Lippische Geschichtsquellen; Bd. 17). Lemgo 1989ff. Nr. 1403.06.06C [ab hier LippReg. N. F.]. 21 Otto P REUß /Anton F ALKMANN (Hrsg.): Lippische Regesten. Bd. 3. Lemgo und Detmold 1866, Nr. 1601 [ab hier LippReg]. 22 Dazu kurz Erich K ITTEL : Heimatchronik (wie Anmerkung 7), S. 72ff. 23 LippReg. N. F. Nr. 1399.08.14A. 24 LippReg. N. F. Nr. 1400.04.07. 25 Zu beiden und ihrem gemeinsamen Regiment im Fürstentum Lüneburg vgl. Ernst S CHUBERT : Geschichte Niedersachsens (wie Anmerkung 8), S. 785ff.

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trotzdem mit dem Rest seiner Familie vom Herzog vertrieben. 26 Es ist nicht genau festzustellen, ob diese Vertreibung unter Einziehung ihrer Güter rechtmäßig war. Bernhard zur Lippe jedenfalls stellte sich auf die Seite der von Reden, was er in einem Brief an die Stadt Bremen rechtfertigte. 27 Natürlich suchten die Brüder von Reden nach Verbündeten in ihrem Streit mit dem Herzog, die sie in den lippischen Edelherren auch fanden. Am 19. April 1403, also kurz vor der Erbverbrüderung mit Everstein, nahmen die Lipper sie als Burgmannen in Varenholz auf, gegen Zahlung von 800 Gulden. 28 Zum Streit mit den welfischen Herzögen führt der Vertrag aus: Bei einem Streit (schele) mit einem Herzog von Lüneburg dürfen sie sich nicht von Varenholz aus gegen diesen wenden; nur wenn die Edelherren ihn nicht binnen eines Jahres seit Ausstellung dieser Urkunde beilegen können, sollen sich die von Reden von der Burg aus wehren; die Edelherren wollen sie verteidigen, daß der Herzog oder die Seinen ihnen keinen Schaden an der Burg zufügen oder an dem, was sie darin haben. Der Inhalt zeigt, daß die lippischen Edelherren den Streit mit den welfischen Herzögen zwar voraussetzten, aber noch hofften, ihn friedlich beilegen zu können. Vermutlich war die Erbverbrüderung zu diesem Zeitpunkt schon abgesprochen und man sah die Fehde mit Heinrich und Bernhard kommen. Ungefähr in diese Zeit (1403 oder 1404) gehört auch ein undatierter Brief Bernhards zur Lippe an den Bischof von Hildesheim, in dem er sich darüber beklagt, die Herzöge wollten ihn mit Krieg ouertheen ... sunder unse schulde. 29 Damit dürfte auch die Frage beantwortet sein, warum die Edelherren zur Lippe ausgerechnet die Familie von Reden auf Varenholz aufnahmen. Man rüstete offensichtlich schon für eine vorauszusehende Fehde und hielt die kampferprobten Brüder wohl für eine willkommene Verstärkung. Gleichzeitig sicherte man sich die indirekte Unterstützung des verwandten Erzbischofs von Köln. In den folgenden Kämpfen erscheinen Gerhard von Ense, Dietrich Kettler, Johann Droste und Friedrich von Brenken als lippische Hauptleute, allesamt kölnische Vasallen. 30 Finanziell wurde man ebenfalls aktiv, denn 1403 oder 1404 liehen sich die Edelherren 4.000 Gulden vom Grafen von Waldeck und einigen seiner Ministerialen, der seinerseits mit den Herzögen zerstritten war. 31 Alles in allem scheinen sich Simon III. und Bernhard VI. planmäßig auf die Auseinandersetzung vorbereitet zu haben. Rein rechtlich allerdings lieferten sie den Herzögen durch die Aufnahme der Familie von Reden tatsächlich einen Fehdegrund. Nach Auffassung der Herzöge wurden sie damit selbst zu Landfriedensbrechern, 32 eine Ansicht, die König Ruprecht 26 Etwas genauer dazu Paul B ARTELS : Erbfolgekrieg (wie Anmerkung 10), S. 18ff.; vgl. auch Burchard Christian von S PILCKER : Everstein (wie Anmerkung 14), S. 289. 27 Bremisches Urkundenbuch, hrsg. von Dietrich R. E HMCK /Wilhelm v. B IPPEN . Bremen 1886, Nr. 327. 28 LippReg N. F. Nr. 1403.04.19. 29 Hans S UDENDORF (Hrsg.): Urkundenbuch zur Geschichte der Herzöge von Braunschweig und Lüneburg und ihrer Lande. Hannover 1859-1883, Bd. 9, Nr. 262. 30 Dazu Paul B ARTELS : Erbfolgekrieg (wie Anmerkung 10), S. 26f. Fußn. 5; vgl. auch das Schreiben des Kölner Erzbischofs, LippReg. Nr. 2518. 31 LippReg. N. F. Nr. 1404.00.00B. 32 Hans S UDENDORF : Urkundenbuch (wie Anmerkung 29), Bd. 9, Nr. 266.

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von der Pfalz bestätigte. 33 Daher sandten die welfischen Herzöge den Edelherren auch keine Fehdeansage, während umgekehrt die Lipper sich als Angegriffene fühlten und deshalb offenbar ebenfalls auf eine offizielle Absage verzichteten. 34 Daneben dürften die lippischen Edelherren versucht haben, ihre militärischen Vorbereitungen möglichst zu verschleiern. Beide Seiten versuchten bald, die fehlende Fehdeansage auch gerichtlich zu nutzen. Zu Beginn der Fehde allerdings schienen die Kampfhandlungen eine schnelle Entscheidung zu bringen.

III. Die Gefangennahme Herzog Heinrichs Der Ausbruch der Kämpfe wurde wiederum durch die Brüder von Reden ausgelöst, was sich später rechtlich gegen die Edelherren zur Lippe verwenden ließ. In ihrer Privatfehde mit Herzog Heinrich machten sie einen Raubzug durch die welfischen Gebiete. Der Herzog bot eine Truppe auf und verfolgte die Brüder bis nach Ohsen. Die Burg, die nur zur Hälfte dem Grafen von Everstein gehörte, war aber offenbar nicht als Kampfplatz auserwählt. Jedenfalls zogen sich die von Reden weiter zurück und Heinrich folgte ihnen über die Weser. 35 Den Übergang wählte das welfische Aufgebot in der Nähe der Dörfer Ohr und Groß-Berkel, wo es eine Furt gab. Vermutlich waren hier auch die von Reden über die Weser gezogen. Zwischen Groß-Berkel und der Weser am Ohrberg trafen sie dann am 19. November 1404 auf ein Aufgebot Bernhards zur Lippe und der vier kölnischen Vasallen. Im anschließenden Kampf wurde Herzog Heinrich mit einem Teil seines Gefolges gefangengenommen, ein wahrscheinlich kleinerer Teil konnte fliehen. Die „Schlacht“ wird zwar in mehreren Chroniken erwähnt, über den Hergang erfährt man jedoch wenig. 36 Gesichert ist der relative Ablauf durch die Beschreibung Herzog Bernhards von Braunschweig-Lüneburg, die er in einer Klageschrift an den König schickte. 37 König Ruprecht gab diese Schilderung in einem Schreiben an Simon und Bernhard zur Lippe selbst wieder 38: Vnd dor 33 Schreiben Ruprechts vom 26. Februar 1405 an Simon und Bernhard zur Lippe, ebenda, Bd. 9, Nr. 274. 34 Die in den alten Lippischen Regesten verzeichnete Fehdeansage der Herzöge stammt nicht von ihnen, sondern von einem ihrer Helfer (LippReg. Nr. 1618 vom November 1404), vgl. ausführlich Reinhard N EUMANN : Herzog Heinrich oder Heinrich Herzog? Fehderechtliche Bemerkungen zum Beginn der Auseinandersetzungen um die Grafschaft Everstein (1403-1404), in: Westfälische Zeitschrift 142/1992, S. 277-281. Korrekt jetzt in LippReg. N. F. Nr. 1404.00.00A. 35 Zum ganzen Ablauf vgl. Paul B ARTELS : Erbfolgekrieg (wie Anmerkung 10), S. 23f. 36 Siehe dazu die ausführliche Besprechung der einzelnen Passagen von B ARTELS , ebenda, S. 24ff. Hinweise auf weitere, allerdings nicht selbständige, chronikalische Erwähnungen gibt Erich S ANDOW : Schadensverzeichnis (wie Anmerkung 12), S. 59 Fußnote 8. 37 Zwei Konzepte zu dieser Klageschrift bringt Hans S UDENDORF : Urkundenbuch (wie Anmerkung 29), Bd. 9, Nr. 266 und 268. 38 Die Schilderung deckt sich mit den Angaben in den genannten Entwürfen, allerdings fehlen einige offenbar unhaltbare Vorwürfe, die Herzog Bernhard im endgültigen Schreiben an den König wahrscheinlich nicht mehr erhoben hat.

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nach als die ergenanten rechtlosen lute [die Brüder von Reden] myt anderen Iren helferen vnd myt vnrechter gewalt vz dinen slossen vnd widder dar zu uff der ergenanten herzogen heynrich vnd de synen aber gesuchet In schaden getan vnd genommen haben, vnd In der selbe heynrich vnd die sinen myt deme gerucht vnd Inder hanthaftigen tate gefolget habe, Sy uff eyn rechte vffzuhalden vnd die nome de In myt vnrechter gewalt genomen was widder zu haben, als er dann von rechtes vnd des ergenanten lantfrides wegin wol getun mocht vnd zuthund schuldich were, do habest du vnd andere dine helfere vnd diener In vnd die sinen widder rechte nydergetzogen vnd gefangen, vnd In ire habe aff gewunnen vnd genomen vnd damit dich selber rechtlose vnd den ergenanten rechtlosen vnd hantdedigen luten gelich gemacht als vns daz alle vorbracht ist. 39 Der Herzog nahm sicher an, er verfolge nur die Brüder von Reden und lief dann dem lippischen Aufgebot direkt in die Arme. Man wird die Möglichkeit in Betracht ziehen müssen, daß Heinrich mit seinen Männern hier in eine gut gestellte Falle lief. Die Stärke seines Aufgebotes spricht jedenfalls nicht dafür, daß er einen größeren Angriff geplant hatte. Neben dem Herzog und dem Grafen Otto von Hallermund wurden nachweislich 31 Ritter und Knappen sowie 19 Knechte gefangen, die allesamt am 8. September 1405 Urfehde schworen. 40 Zwar wird später auch von Toten berichtet, doch scheint ihre Zahl gering gewesen zu sein. Das Aufgebot des Herzogs wird also 100 Mann kaum überschritten haben. Sein Bruder Herzog Bernhard schreibt in einem Brief an den Erzbischof von Köln, dessen Vasallen, die die Fehde auf eigene Rechnung führten, hätten mit 50 Lanzenträgern an dem Treffen teilgenommen: Alse gi lichte wol vernomen hebben vmme vnsen broder hertogen hinrich dat de mit vnsen mannen vnd deyneren neder getogen vnd gevangen is, dar to gehulpen hebben iuwe amptlude Manne vnd deynere, alse gherd van ense, diderich de ketteler, de droste, eyn van brencke vnd andere iuwe Manne vnd deynere der wy noch by namen nicht en weten. Also dat de iuwe to zamende veftich mit gleuien eder dar by mede hadden. 41 Den größeren Anteil am Kampf allerdings weist Herzog Bernhard in seinem Entwurf des Schreibens an den König Bernhard zur Lippe zu: Vnd myd namen de ergenante Bernd here to der lippe vnd sine Man vnd gesinde vengen mynen broder suluen mid der hand. 42 Vermutlich ist dies nicht nur ein Topos, das Aufgebot der Lipper war wohl weit zahlreicher als das der kölnischen Vasallen. Somit dürften Herzog Heinrich 200 bis 300 Mann gegenübergestanden haben. Die gute Vorbereitung der Lipper auf die Auseinandersetzung zahlte sich aus. Aus dem Schreiben Herzog Bernhards an den Kölner Erzbischof kann man auch entnehmen, daß weder Simon III. zur Lippe, der zu diesem Zeitpunkt bereits etwa siebzig Jahre alt war, noch Graf Hermann von Everstein an dem Treffen teilnahmen. 43 Herzog Heinrich, Graf Otto von Hallermund und ihre Mannschaft wurden über Barntrup zur Burg Falkenberg bei Detmold-Berlebeck gebracht. Die 39 Hans S UDENDORF : Urkundenbuch (wie Anmerkung 29), Bd. 9, Nr. 274. Nach dem Original im Staatsarchiv Detmold LippReg. N. F. Nr. 1405.02.26. 40 Hans S UDENDORF : Urkundenbuch (wie Anmerkung 29), Bd. 10, Nrr. 60 und 61. 41 Ebenda, Bd. 9, Nr. 265. 42 Ebenda, Bd. 9, Nr. 268. 43 Dazu auch Paul B ARTELS : Erbfolgekrieg (wie Anmerkung 10), S. 27.

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Falkenburg, eine schwer zugängliche Höhenburg aus dem 12. Jahrhundert, war einige Monate lang das Gefängnis des Herzogs und seiner Leute. 44 Die Haftbedingungen auf der Falkenburg haben die Phantasie besonders späterer Chronisten stark angeregt, und auch Herzog Bernhard schreibt, daß nu myn broder vnd Manne ghar swerliken in eren stocken sitten vnd beheftet sin. 45 Dies wird man jedoch nicht überbewerten dürfen, auch wenn natürlich niemand gern in einer Höhenburg mitten auf dem Eggegebirge einsaß. Die Haft war sicher hart, aber kaum unmenschlich. Das spätere Verhalten Herzog Heinrichs spricht nicht dafür, daß er hier unehrenhaft behandelt worden ist, auch wenn Geschichten von Kellerlöchern, Burgverliesen und gefesselten Rittern sich nach und nach häuften. 46 Die Bedeutung der Gefangennahme Herzog Heinrichs ist allerdings kaum zu übersehen, denn ein militärisches Vorgehen gegen die Lipper wurde damit nahezu unmöglich. Es gehörte nicht unbedingt zu den Gepflogenheiten der Zeit, die Geiseln durch weitere Kämpfe zu gefährden. Überdies hatte Herzog Bernhard 1388 selbst in Haft gesessen und von der „Solidarität seiner Brüder (...) profitiert“. 47 Herzog Bernhard schlug daher den Weg der Klage ein. Er richtete sich mit seinen Vorwürfen an den König, ein Schritt mit weiterreichenden Folgen als erwartet. Anfänglich allerdings sah es nach einer aufsehenerregenden Katastrophe für die Welfen aus.

IV. Recht und Gewalt Der erste Zusammenstoß der beiden Parteien war für die Welfen ein Desaster. Wie schon erwähnt schrieb Herzog Bernhard von Braunschweig-Lüneburg an König Ruprecht von der Pfalz. Er beschrieb die Vorgänge aus seiner Sicht und verklagte Simon und Bernhard zur Lippe, den Grafen von Everstein und die vier kölnischen Ritter. Zu diesem Zweck schickte er seinen Kaplan Heinrich zum König. 48 Ruprecht teilte den beiden Edelherren zur Lippe und in einem gesonderten Schreiben auch Gerhard von Ense am 26. Februar 1405 mit, daß der Herzog über sie Klage geführt habe. 49 Daneben schrieb Herzog Bernhard offenbar auch an andere Fürsten und an verschie-

44 Die chronikalisch übereinstimmende Meldung von der Haft auf der Falkenburg ergibt sich auch aus Hans S UDENDORF : Urkundenbuch (wie Anmerkung 29), Bd. 10, Nr. 52. 45 Ebenda, Bd. 9, Nr. 268. 46 Zum ganzen Paul B ARTELS : Erbfolgekrieg (wie Anmerkung 10), S. 33, besonders Fußnote 2, der die verschiedenen Chronikstellen bringt. Allerdings hält er die Behauptung von der „grausamen Art“ der Gefangenschaft für zuverlässig: „Wir haben keinen Grund, die Richtigkeit ihrer Angaben in Zweifel zu ziehen“. 47 Ernst S CHUBERT : Geschichte Niedersachsens (wie Anmerkung 8), S. 787: „Er wird dies in der Folgezeit nicht vergessen, wird 1405, als nunmehr Heinz in harter Haft der Herren von Lippe gehalten wird, alles für dessen Befreiung tun“. 48 Vgl. allgemein Paul B ARTELS : Erbfolgekrieg (wie Anmerkung 10), S. 35f. 49 Hans S UDENDORF : Urkundenbuch (wie Anmerkung 29), Bd. 9, Nr. 274.

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dene Städte, 50 sowie an den Erzbischof von Köln, mit der Bitte, sich um die Freilassung seines Bruders zu bemühen. 51 In einem der überlieferten Konzepte des Schreibens an den König unterbreitete Herzog Bernhard auch gleich einen Vorschlag zur Lösung des Problems: Ruprecht solle den König von Schweden als Richter einsetzen. 52 Der schwedische König Albrecht von Mecklenburg war tatsächlich Bernhards Schwager, ein durchsichtiger Versuch, den heraufziehenden Rechtsstreit zu gewinnen. Normalerweise hätte nach der Gefangennahme Herzog Heinrichs die Sühne der Fehde angestanden, nicht unbedingt ein richterliches Verfahren. Eine solche Sühne war zwar durchaus ein Rechtsverfahren und folgte gewissen Regeln, es war aber trotzdem von großer Bedeutung, wer die Sühne vermittelte. Üblicherweise entsandten beide Parteien eine abgesprochene Anzahl von Vertrauten zu solchen Sühneverhandlungen. Hier aber versuchte Herzog Bernhard durch die Benennung eines ihm gewogenen Richters, die gegnerische Partei von vornherein auszuschließen. Der Versuch scheiterte. König Ruprecht lud beide Parteien für den 13. Mai vor sein Hofgericht. Dem welfischen Herzog schrieb er: wanne solten wir in den sachen einen anderen Richter dort in den lannden geseczet haben, dar Inne mochten mancherley Inuelle komen vnd getragen worden sin, darvmb soliche sachen gehindert weren, als das dem obgenanten dinem Cappellane wol gesaget ist ... 53 Es kann nicht verwundern, daß sich der König die Rechtssprechung in dieser Angelegenheit selbst vorbehielt. Am 13. Mai fand dann in Worms eine Verhandlung vor dem Hofgericht statt, bei der beide Parteien sich vertreten ließen. Das Ergebnis teilte der König Herzog Bernhard und den Edelherren zur Lippe sowie ihren Verbündeten schriftlich mit. Es wurde verabredet, die Angelegenheit auf den nächsten Hoftag am 24. Juni zu verschieben. Bis dahin sollte Herzog Heinrich auf Eid und Bürgschaft vorläufig entlassen werden. Dieser Passus bereitete keine Probleme, bereits vom 6. Mai an war Heinrich unter der Bedingung, in sein Gefängnis zurückzukehren, auf freien Fuß gesetzt worden. Er nahm zu dieser Zeit an Verhandlungen mit den lüneburgischen Städten teil und kehrte pflichtgemäß nach Beendigung der Unterhandlungen am 15. Mai zur Falkenburg zurück. 54 Außerdem forderte der König, wenn dies geschehen sei, sollten sich beide Parteien noch vor dem 24. Juni beim Erzbischof von Köln in Medebach einfinden, um die Sache gütlich zu regeln. 55 An Herzog Bernhard schrieb er: Vnd hervmbe lieber Oheim so bitten wir din liebe auch mit ganczem ernste 50 Ein solches Schreiben an die Stadt Bremen überliefern die LippReg. Nr. 1621 vom 13. Januar 1405. 51 Hans S UDENDORF : Urkundenbuch (wie Anmerkung 29), Bd. 9, Nr. 265. 52 Ebenda, Bd. 9, Nr. 268: Besorge ik dat Juwe gnade van Juwer eghenen und ok andere saken wegene so vele to schickende hebben dat yd my vnd mynen brodere to lang werde vnd beghere dat gi my to desser sake van stunt den dorchluchtigesten hochebornen fursten hern Albrechte konynge to Sweden etc. mynen heren vnd sweger to eynem rechten richtere geuen. 53 Ebenda, Bd. 9, Nr. 275. 54 In der entsprechenden Urkunde heißt es: Hertoge Hinrick de do beuoren vthgheborghet was vte syner vengnisse. Er war also auf alle Fälle tatsächlich anwesend. Hans S UDENDORF : Urkundenbuch (wie Anmerkung 29), Bd. 10, Nr. 9. 55 Ebenda, Bd. 10, Nr. 23 und 24; LippReg. N. F. Nr. 1405.05.14.

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daz du den tag also uffnemen vnd auch inden sachen gefolgig sin wollest ob ir gutlichen vmbe die sache vbertragen vnd vereynt mochtent werden. Diese Mitteilung war zweifellos ein Schlag ins Gesicht für Bernhard von Braunschweig-Lüneburg, denn der jetzt benannte Schlichter, der Erzbischof von Köln, war ein enger Verwandter Bernhards zur Lippe. Ende 1403 hatte der Lipper nämlich Elisabeth von Mörs geheiratet, deren Mutter die Schwester des Erzbischofs war. Bernhard zur Lippe aber war der Hauptgegner der Welfen. Er war es, der Herzog Heinrich auf der lippischen Falkenburg gefangen hielt, und von ihm drohte militärisch die größte Gefahr. 56 Die königliche Entscheidung brachte eine erste Wende in die Angelegenheit. Hatten bis dahin die welfischen Herzöge offenbar noch geglaubt, sie könnten ihre Gegner durch das königliche Gericht unter Druck setzen, so scheinen sie jetzt jede Hoffnung darauf aufgegeben zu haben. Jedenfalls begannen direkte Verhandlungen zwischen dem inhaftierten Herzog Heinrich und seinen Gegnern. Spätestens am 18. Juni wurde er in die Stadt Lemgo gebracht, erhielt damit wohl auch erleichterte Haftbedingungen, und dort schloß er am 22. Juni einen folgenreichen Vertrag ab. Er verflichtete sich als Lösegeld für sich und seine Mitgefangenen 100.000 rheinische Gulden zu zahlen, eine ungeheure Summe. 57 Davon sollte er noch im gleichen Jahr zweimal 2.500 Gulden zahlen, im nächsten Jahr 15.000 und dann jährlich je 20.000 Gulden. Über die ganze Schuld mußte er zusammen mit seinem Bruder fünf Schuldscheine ausstellen, für die jeweils twe Landes Hern vnde ses vnde twintich gude man bürgen mußten. Außerdem sollten alle Gefangenen Urfehde schwören, aller Groll versöhnt sein und der Herzog die von Reden in ihren Besitzungen belassen. Schließlich erlaubte er den Edelherren zur Lippe und dem Grafen von Everstein die braunschweigische Hälfte der Burg Ohsen, die an die Edelherren von Homburg verpfändet war, einzulösen. Die Gefangenen wurden jetzt freigelassen, allerdings nur vorübergehend, denn sie mußten sich eidlich verpflichten, bis zum 8. September ihre Haft auf der Falkenburg wieder anzutreten. 58 Trotz der Lösegeldzusage hatte der Herzog seine Freilassung also noch immer nicht erreicht. Natürlich muß man sich fragen, was den Herzog veranlaßte, einen derartigen Vertrag zu unterschreiben. Aber es scheint so, als habe er seine Lage als aussichtslos betrachtet. Dazu kam natürlich, daß er mitverantwortlich war für alle anderen Gefangenen. Und auch wenn die Haftbedingungen sicher nicht unehrenhaft waren, so dürften 52 Gefangene auf einer einsamen Höhenburg kein sehr angenehmes Dasein gefristet haben. Interessanter noch ist im Nachhinein die Frage, was die Edelherren zur Lippe und Graf Hermann von 56 Paul B ARTELS : Erbfolgekrieg (wie Anmerkung 10), S. 39, glaubt, daß beiden Parteien die königliche Entscheidung „nicht erwünscht“ gewesen wäre, aber es ist nicht zu erkennen, welche Nachteile die lippische Partei gehabt haben sollte. 57 Hans S UDENDORF : Urkundenbuch (wie Anmerkung 29), Bd. 10, Nr. 34; LippReg. Nr. 1633. Übrigens stieg die Summe bis zum August noch auf 102.000 Gulden, Hans S UDENDORF : Urkundenbuch, Bd. 10, Nr. 54; wofür die zusätzlichen 2.000 Gulden waren, bleibt allerdings unklar. 58 Das ergibt sich aus ebenda, Bd. 10, Nr. 52.

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Everstein bewogen hat, solche Forderungen aufzustellen. Es konnte bei einer Summe von 100.000 Gulden nur darum gehen, die welfischen Herzöge gründlich zu ruinieren. Als 15 Jahre zuvor Herzog Bernhard gefangen war, konnten die Welfen selbst ein Lösegeld von 10.000 Gulden nur mühsam mit Hilfe einer Salinensteuer aufbringen. 59 Ob die lippischen Edelherren hofften, weitere Erwerbungen machen zu können, und dabei die Konkurrenz der Herzöge ein für allemal ausschalten wollten, oder ob sie einfach der Größenwahn gepackt hatte, wird wohl im Dunkeln bleiben. Jedenfalls überstieg das Lösegeld das Zeitübliche bei weitem, es war im Sinne der Zeit „unmoralisch“, 60 was auch dazu führte, daß fast alle Chronisten der Zeit gerade über diese Lösegeldforderung berichten. 61 Daß es sich um eine unmoralische Forderung handelte, war auch den Gegnern des Herzogs klar. Als zwischen dem 25. Juli und dem 21. August des Jahres die fünf Schuldbriefe der Herzöge eintrafen, wurden sie gezwungen, jeweils zu schwören, keine Rechtshilfe in Anspruch zu nehmen. 62 Ok en schulle we vnd enwillet nenerley behelp(inge) vor vns nemen ienegerleye gerichtes noch geystlikes eder wertlikes hemelikes eder openbares. Am 1. Juli 1405 hatte Herzog Heinrich außerdem versprochen, den Edelherren zur Lippe und dem Grafen von Everstein bei der Anlage von Befestigungen behilflich zu sein und diese im Fall einer Fehde gegen Dritte mit 200 Bewaffneten zu verteidigen. 63 Diese Bestimmung deutet vielleicht darauf hin, daß man tatsächlich an weitere Erwerbungen dachte. Auf jeden Fall stellte sie eine ziemliche Frechheit dar, denn jetzt sollte der Gedemütigte auch noch seine Peiniger verteidigen. Am 8. September schließlich beschwor Herzog Heinrich diese Hilfeleistung noch einmal, außerdem schworen er und sein Bruder eine Urfehde, die auch das Erzstift Köln mit einschloß. Alle anderen Gefangenen schworen ebenfalls Urfehde und wurden dafür von ihrem Eid, nach Falkenburg zurückzukehren, entbunden. 64 Gewissermaßen als Krönung der Angelegenheit, mußte Heinrich versprechen, er werde einen Brief vom König erwirken, in dem dieser versichere, keine weiteren Schritte gegen die lippisch-eversteinsche Partei zu unternehmen. 65 Ein Textentwurf wurde gleich mitgeliefert. 66 Die Forderungen der lippischen Partei standen in krassem Gegensatz zum allgemeinen Rechtsempfinden, dennoch legte sich Herzog Heinrich mit seinen Eiden auf die Erfüllung der Forderungen fest. Zweifellos war das Vorgehen der lippischen Edelherren - und ihrer Verbündeten, sofern man ihnen überhaupt einen nahmhaften Anteil daran zusprechen will - weder besonders Dazu Ernst S CHUBERT : Geschichte Niedersachsens (wie Anmerkung 8), S. 790. Vgl. ebenda, S. 789. 61 Dazu die Auswertung von Paul B ARTELS : Erbfolgekrieg (wie Anmerkung 10), S. 41f., besonders Fußnote 7. 62 Hier der erste Schuldbrief bei Hans S UDENDORF : Urkundenbuch (wie Anmerkung 29), Bd. 10, Nr. 45. Die anderen Briefe Nrr. 48, 49, 50, 51. 63 Ebenda, Bd. 10, Nr. 36. 64 Die entsprechenden Urkunden ebenda, Bd. 10, Nrr. 52, 60, 61, 62, 63, 65. 65 Ebenda, Bd. 10, Nr. 66; LippReg. N. F. Nr. 1405.09.08. 66 Ebenda, Bd. 10, Nr. 68. 59 60

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klug noch ehrenhaft. Daß sie sich jetzt als Sieger fühlten, steht außer Frage. Noch im Jahre 1405 entlohnten die Edelherren zur Lippe ihre kölnischen Verbündeten durch einen entsprechenden Anteil am Lösegeld (ein Fünftel). 67 Gerhard von Ense erhielt außerdem ein lippisches Mannlehen. 68 Und am 29. September teilten sie mit Graf Hermann von Everstein ihre Besitzungen zum Nutznieß auf, 69 wobei auch Bestimmungen für eventuelle weitere Fehden getroffen wurden. Man schien mit Gewalt den Ruin der beiden Welfenherzöge erzwungen zu haben, obwohl das nach dem zeitgenössischen Rechtsverständnis unmöglich sein sollte.

V. Herzog Heinrich auf der Suche nach Geld und Beistand Geleistete Eide einzuhalten war für einen Adeligen eine Sache der persönlichen Ehre. Tatsächlich versuchte der Herzog, seine Verpflichtungen zu erfüllen. Schon am 6. September 1405 zeigten Heinrich und Bernhard von Braunschweig-Lüneburg dem Edelherren Heinrich von Homburg an, daß sie den Edelherren zur Lippe und dem Grafen von Everstein erlaubt hätten, die an ihn verpfändete Hälfte der Burg Ohsen zu lösen. 70 Ein Schreiben gleichen Inhalts ging am selben Tag auch an die Grafen von Spiegelberg, die als Erben des Homburgers vorgesehen waren. 71 Das eigentliche Problem jedoch waren die 100.000 Gulden Lösegeld. Schon am 6. Mai in Lüneburg, als Heinrich auf Ehrenwort seine Haft kurzfristig verlassen durfte, ging es auch um finanzielle Hilfe für den Herzog. Am 29. August schließlich wurde die Situation den Prälaten des Fürstentums Lüneburg auf einer Tagfahrt vorgelegt. Die Herzöge baten erneut, wie schon 15 Jahre zuvor, um eine Salinensteuer. Doch die Prälaten erklärten, sie seien zu einer Bewilligung nicht bevollmächtigt, ock were de Summe so grot dat dar nicht en stonde to todenckende. 72 Die Prälaten hatten ohne Frage die Wahrheit gesagt, selbst mit Hilfe einer Salinensteuer wäre die Summe nicht aufzubringen gewesen. Auf den weiteren Tagfahrten der Jahre 1405 und 1406 war denn auch keine Rede mehr davon. Immerhin wurde den Herzögen im Fürstentum Braunschweig, das sie ebenfalls ererbt hatten, eine Bede bewilligt. 73 Damit konnte Herzog Heinrich am 28. September die erste Rate von 2.500 Gulden bezahlen, auch die zweiten 2.500 Gulden wurden am 10. November 1405 pünktlich gezahlt. 74 Zwar waren die Herzöge bisher ihren

67 Diese erklärten daraufhin im September, keine weiteren Ansprüche zu haben, vgl. LippReg. Nr. 1641. 68 LippReg. Nr. 1626. 69 LippReg. N. F. Nr. 1405.09.29. 70 Hans S UDENDORF : Urkundenbuch (wie Anmerkung 29), Bd. 10, Nr. 56. 71 Ebenda, Bd. 10, Nr. 57. 72 Ebenda, Bd. 10, Nr. 54. 73 Dieser nur von P FEFFINGER in seiner Historie des Braunschweig-Lüneburgischen Hauses I. Hamburg 1731 überlieferte Sachverhalt, erscheint glaubwürdig, weil die Herzöge in der Folge tatsächlich einige Zahlungen vornehmen konnten. Vgl. LippReg. Nr. 1643. 74 Hans S UDENDORF : Urkundenbuch (wie Anmerkung 29), Bd. 10, Nrr. 75 und 81.

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Verpflichtungen nachgekommen, allerdings standen insgesamt noch 97.000 Gulden Schulden aus, eine Summe, die sie unmöglich aufbringen konnten. Wohl im Oktober oder November schrieben Heinrich und Bernhard auch an König Ruprecht, um den geforderten Gnadenbrief für die Lipper und ihre Verbündeten zu erwirken. Sie schickten ihren Kaplan Johann Holthusen mit dem Schreiben zum König. Herzog Heinrich erklärte, daß er, falls er den Gnadenbrief des Königs nicht beibringen könne, na mynen eden vnd lofften am 25. Dezember wieder in seine Haft zurückkehren müsse. Daneben beschrieb er aber auch, daß er unter großem Zwang gehandelt hätte: Drungen my hertogen hinrich de ergenanten heren bouen de gedinge de ze vorzegeld hadden vp mannichleyger onerloffte vnd nemeliken dar vp dat ik on vnd den houedluden de my mede gevangen hadden van Juwen gnaden twisschen hir vnd wynnachten negest komende enen breff krygen scholde na lude ener notelen de ze darvp begripen leten vnd muste dat louen vnd sweren to den hiligen in mynem breue. 75 Auch wenn Herzog Heinrich am Ende des Schreibens eindringlich darum bat, den Gnadenbrief wirklich auszustellen, mußte doch dem König klar sein, in welcher Lage sich der welfische Herzog befand. Die mündlichen Schilderungen des Johann Holthusen taten sicher ein übriges. Damit aber befand sich der König plötzlich in einer Zwickmühle. Er benötigte aus verschiedenen, vor allem reichspolitischen Gründen die Unterstützung der Welfen. Hätte er jetzt kommentarlos einen Gnadenbrief für die Lipper ausgestellt, so hätten ihm dies die Herzöge und ihre große Verwandschaft sicher nicht gedankt. 76 Ruprecht schickte deshalb Johann von Holthusen mit einem kurzen Brief zurück, in dem er versprach, für die Herzöge zu tun, was er könne. 77 Etwa gleichzeitig traf ein Schreiben des königlichen Hofschreibers Johann Kirchheim ein, indem erklärt wurde, der König könne zwar nicht von geleisteten Eiden lösen, aber mit der Acht helfen, das vnser herr der kung willig vnd bereyt dorczu ist und sin wil . 78 Schließlich verkündete Ruprecht am 15. Dezember 1405 die Reichsacht über die Edelherren zur Lippe, den Grafen von Everstein und die vier kölnischen Ritter. Er wiederholte die Vorwürfe des Landfriedensbruches aufgrund der Unterstützung der von Reden. Außerdem hätten die Geächteten trotz seiner Anweisung die Gefangenen nicht freigelassen und sich auch trotz dreimaliger Ladung nicht vor dem Hofgericht verantwortet. Sie hätten den Herzog Heinrich harter vnd harter gehalden vnd mit groszer swerer vnd vnmenschlicher libs note vnd pynen ... zu einer vnczimlicher schaczunge vnd vrfehde gedrungen. Auch solle er einen Gnadenbrief von ihm, dem König, erwirken. 79 Sieht man von den unmenschlichen Leibesnöten ab, so ist jedenfalls der Vorwurf, auf dreimalige Ladung nicht erschienen zu sein, falsch. Wie oben erwähnt, gab es nur zwei Ladungen. Außerdem hatten die Lipper die erste durchaus mit Vertretern Ebenda, Bd. 10, Nr. 72. Zu Ruprechts Gründen, die Unterstützung der Welfen zu suchen, siehe Ernst S CHUBERT : Geschichte Niedersachsens (wie Anmerkung 8), S. 790. 77 Hans S UDENDORF : Urkundenbuch (wie Anmerkung 29), Bd. 10, Nr. 88 vom 8. Dezember 1405. 78 Ebenda, Bd. 10, Nr. 87. 79 Ebenda, Bd. 10, Nr. 88. 75 76

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beschickt. Ohne die Behauptung der dreimaligen Ladung hätte der König aber auch die Landfriedensbrüche nicht ohne weiteres ahnden können. Somit darf die Rechtmäßigkeit dieser Achterklärung angezweifelt werden. Der König schickte eine separate Ausfertigung der Urkunde an Lemgo, die größte Stadt der Herrschaft Lippe. Auch darin wird die dreimalige Ladung behauptet. 80 Ruprechts Vorgehen war rein politisch motiviert. 81 Er konnte sich jedoch in Bezug auf die Lösegeldforderung auf das allgemeine Rechtsempfinden berufen. Die Verkündung der Acht veränderte die Lage erneut. Nach dem 15. Dezember 1405 waren die Herzöge von Braunschweig-Lüneburg offenbar gewillt, von ihren Eiden loszukommen. Gleichzeitig dachten sie über eine Wiederaufnahme der Kämpfe nach. Entsprechend stellte sich Heinrich am 25. Dezember nicht wie beschworen der neuerlichen Haft, obwohl er den versprochenen Gnadenbrief nicht beigebracht hatte. Im Januar schrieben die Herzöge an den König, er solle sie von der Lösegeldzahlung befreien. Die Antwort Ruprechts kam am 29. Januar durch Johann Kirchheim. Der König hatte für die Bürgen, die Herzog Heinrich beigebracht hatte, Schreiben ausgefertigt, in denen die Zahlung untersagt wurde. Um zu vertuschen, daß Herzog Heinrich mit seiner Forderung nun tatsächlich eidbrüchig geworden war, sollten die Briefe heimlich und nur im Namen des Reiches zugestellt werden. Sollten die Herzöge eigene Boten einsetzen, so sollte man Boten auswählen, die hochdeutsch könnten vnd sol den des Richs wapen mit dem adlar an ein buchse malen lassen. 82 Außerdem machte man sich am königlichen Hof Sorge, es könne auffallen, daß der König die Namen der weit über 100 Bürgen doch nur durch Herzog Heinrich kennen könne. Man empfahl daher, die kleineren Ritter nur zu informieren, sie aber die Briefe nicht lesen zu lassen. Viel besser als in diesem Schreiben kann man gar nicht ausdrücken, daß der herzogliche Eidbruch als unredlich empfunden wurde. Es ging aber auch um die Ehre der vielen Bürgen, darunter bedeutende Fürsten. Die geforderten „Landesherren“ unter den Bürgen waren im ersten Schuldbrief Landgraf Hermann von Hessen und Herzog Otto von Braunschweig (-Göttingen), im zweiten Schuldbrief Bischof Rudolf von Halberstadt und die Grafen Ulrich von Reinstein und Julius von Wunstorf, im dritten Herzog Erich von Braunschweig (-Grubenhagen) und Graf Otto von Hoya, im vierten Herzog Johann von Mecklenburg und Graf Moritz von Oldenburg, im fünften schließlich Erzbischof Otto von Bremen, Bruder der beiden Herzöge, und Herzog Erich von Sachsen-Lauenburg. Mit diesen Namen ist nebenbei das Geflecht welfischer Verwandschaften und Freundschaften ausgebreitet. 83 Natürlich konnte man die Ehrvorstellungen dieser Adligen nicht einfach ignorieren. Bevor die nächste Rate, weitere 15.000 Gulden, fällig wurde, trafen sich Heinrich und LippReg. N. F. Nr. 1405.12.15. Das sieht auch Paul B ARTELS : Erbfolgekrieg (wie Anmerkung 10), S. 57 so, obwohl er die Hintergründe für Ruprechts Handeln nicht richtig durchschaut. 82 Hans S UDENDORF : Urkundenbuch (wie Anmerkung 29), Bd. 10, Nr. 97. 83 Es würde sich lohnen, die über 100 namentlich genannten Ritter und Knappen einmal auf ihre Abhängigkeit zu den welfischen Herzögen hin zu untersuchen. 80 81

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Bernhard deshalb mit dem Landgrafen von Hessen und Otto von Braunschweig, den Bürgen des ersten Schuldbriefes über zusammen 20.000 Gulden. Es wurde beschlossen die Summe beim Rat von Göttingen zu hinterlegen, da der König die Zahlung verboten hatte. Die Herzöge mußten also die Summe dennoch aufbringen und dem städtischen Rat übergeben. Nur wenn die Lipper in die Oberacht gelegt würden, sollte das Geld Heinrich und Bernhard zurückgegeben werden. Im Falle einer einvernehmlichen Lösung sollte es jedoch an die Lipper/Eversteiner ausgezahlt werden. 84 Diese Regelung läßt deutlich erkennen, daß sich der Landgraf von Hessen und Otto von Göttingen nicht vorwerfen lassen wollten, ihrerseits eidbrüchig geworden zu sein. Sie zeigt auch, daß die Lage für Herzog Heinrich so lange kritisch blieb, wie er nicht von seinen Eiden gelöst war. Dennoch dachten Heinrich und Bernhard bereits an die Vorbereitung eines neuen Kriegszuges. Am 16. April 1406 schlossen der Abt von Corvey und Otto von Braunschweig ein Bündnis gegen die Lipper nach Raide vnszir heymelichen frunde. 85 Herzog Erich von Braunschweig versprach sogar am 22. April, gegen Zahlung von 12.000 Gulden Bernhard zur Lippe gefangenzunehmen und ihm die beschworenen Briefe des Herzogs Heinrich wieder abzunehmen: We willet dar na arbeyden van stund dat we den edelen Bernde van der lippe willet gripen. [...] Ok schole we hertoge Erik den van der lippe nicht los laten edir geuen vt vnsir hechte we en hebben ome erst affgeschattet alle orueyde vnd de summen geldes myd den breuen dar ouer geuen de de sulue van der lyppe vnsem vedderen hertogen hinrike affgedrungen vnd geschattet hefft. 86 Die Abmachungen zeigen, daß der eigentliche Gegner Bernhard zur Lippe war, an Graf Hermann von Everstein wurde nicht gedacht. Eine Urkundennotiz beweist, daß Bernhard tatsächlich die Briefe des Herzogs persönlich verwahrte. 87 In dieser Situation waren auch die Edelherren zur Lippe gezwungen zu handeln. Bernhard zur Lippe besorgte sich ein Empfehlungsschreiben des Erzbischofs von Köln und reiste im Februar persönlich zum König. 88 Ruprecht, der nicht zugeben konnte und wollte, daß er aus durchsichtigen Motiven für die Welfen Partei ergriffen hatte, setzte daraufhin eine Tagfahrt zur gütlichen Einigung für den 23. Mai an. Weitere Vorstellungen des Erzbischofs von Köln, die Acht aufzuheben, wies er jedoch zurück. 89 Wie zu erwarten gewesen war, erschien keine der beiden Parteien zu der angesetzten gütlichen Verhandlung im Mai. Im Februar 1407, nachdem mehr als Jahr und Tag vergangen waren, wurden die Lipper schließlich in die Oberacht des 84 Hans S UDENDORF : Urkundenbuch (wie Anmerkung 29), Bd. 10, Nr. 110 vom 8. Mai 1406. 85 Ebenda, Bd. 10, Nr. 105. 86 Ebenda, Bd. 10, Nr. 108. Der Vertrag ist wohl in dieser Form nicht umgesetzt worden, vermutlich weil Heinrich und Bernhard die 12.000 Gulden, die für diesen „Vetterndienst“ gefordert wurden, nicht aufbringen konnten. 87 LippReg. Nr. 1647. 88 Das teilt Ruprecht selbst mit, vgl. LippReg. N. F. Nr. 1406.02.25. 89 LippReg. N. F. Nr. 1406.07.15.

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Reiches getan. 90 Die Oberacht interpretierten die Herzöge im Sinne der Zeit als Erlaubnis, die Edelherren zur Lippe zu bekriegen. Bald standen auch ihre Eide dem nicht mehr im Weg. Ende Sommer 1406 hatte sich Herzog Heinrich - und das ist keineswegs zeittypisch - an den Papst gewandt, mit der Bitte ihn von seinen Eiden zu lösen. Papst Innozenz VII. hatte daraufhin eine Untersuchung erlaubt, die jedoch aufgrund seines Todes nicht zur Ausführung kam. Am 19. Dezember 1406 ermächtigte dann sein Nachfolger Gregor VII. den Dekan des Alexanderstiftes in Einbeck, Werner, mit der Untersuchung der Angelegenheit. 91 Vom theologischen Standpunkt aus betrachtet war die Erpressung von Eiden, gerade wenn sie „unziemlich“ waren, verboten. Dementsprechend stellte der Dekan Werner fest, daß die Beklagten (die Lipper) nur Ausflüchte und Verzögerungen vorgebracht hätten, die welfischen Herzöge ihr Recht jedoch bewiesen hätten. Er löste daher Herzog Heinrich und seinen Bruder am 27. Juni 1407 von allen geleisteten Schwüren. 92 Zwei Ausführungen der Urkunde wurden zur allgemeinen Bekanntmachung auf die Reise geschickt. Die Entscheidung wurde, wie die angehängten Siegel zeigen, zwischen Köln und Leipzig von mindestens 69 Geistlichen abgekündigt. Allerdings fehlt der gesamte westfälische Herrschaftsbereich des Erzbischofs von Köln. Im kölnischen Vorort Soest erfand man sogar ein Synodalstatut als Begründung, warum man die Entscheidung nicht abkündigen könne. 93 Im Juli 1407 wurde auch noch der Bann über die Edelherren zur Lippe ausgesprochen. 94 So wichtig den Herzögen auch die Lösung von ihren Eiden war, ebenso bedeutend war die Oberacht des Königs. Mit ihrer Aussprache waren auch andere Fürsten und Herren nur zu gern bereit, gegen die Lipper zu Felde zu ziehen. Die Kämpfe begannen im Frühjahr 1407. Der Versuch der Lipper, die welfischen Herzöge zu ruinieren, rächte sich jetzt.

VI. Der Widerausbruch der Kämpfe und das Ende der Fehde Nachdem die Herzöge sich auf neuerliche Kämfe vorbereitet hatten, kam im Frühjahr und Sommer 1407 ein Bündnis mit verschiedenen anderen Fürsten und Herren zustande. Es schlossen sich zuerst aus der welfischen Verwandschaft Otto von Braunschweig und Otto von Bremen an, außerdem der Landgraf von Hessen und Otto von Hoya, 95 später noch der Graf von Ebenda, Nr. 1407.02.21. Hans S UDENDORF : Urkundenbuch (wie Anmerkung 29), Bd. 10, Nr. 159. Paul B ARTELS : Erbfolgekrieg (wie Anmerkung 10), S. 65, spekuliert über Gregors Motive für diesen Schritt. Allerdings scheint mir, daß er den Einfluß der Welfen in der sogenannten großen Politik der Zeit nicht nur hier überschätzt. 92 Zur Urkunde vgl. Walter D EETERS : Die Publikation eines geistlichen Urteils in Norddeutschland im Jahre 1407, in: Archiv für Diplomatik 8/1962, S. 270-289. 93 Ebenda, S. 277. 94 Dazu Paul B ARTELS : Erbfolgekrieg (wie Anmerkung 10), S. 65. 95 Bartels nennt auch noch den Herzog von Mecklenburg, ebenda S. 68f., doch ist von direkter Unterstützung seinerseits in der Folge nichts zu spüren. Vielleicht beteiligte er sich finanziell. 90 91

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Tecklenburg, der Edelherr von Diepholz und einige kleinere Herren. 96 Am 28. Juni 1407 kam dann ein formelles Bündnis zwischen den Herzögen und Wilhelm von Berg, Bischof zu Paderborn, Bischof Wilbrand von Minden, Nikolaus von Tecklenburg und Graf Adolf von Schaumburg zustande. 97 Die Edelherren zur Lippe scheinen diesmal dagegen auf die Kämpfe nicht vorbereitet gewesen zu sein. Die eigentlichen Kampfhandlungen begannen mit dem Zug des welfischen Aufgebotes zur Burg Polle an der Weser, wohl noch ohne die Truppen des Paderborner Bischofs. 98 Es begann eine Belagerung, die vermutlich am Ostermorgen, dem 27. April, mit der Einnahme der Burg endete. Nach einer Chronik waren die Verteidiger zu diesem Zeitpunkt nicht auf einen Sturm vorbereitet, was kaum verwundern dürfte. 99 Eine weitere chronikalische Überlieferung besagt, das welfische Aufgebot habe aus 13.000 Mann bestanden, eine völlig überhöhte Zahl, die aber andeuten soll, das es sich tatsächlich um eine große Mannschaft gehandelt hat. 100 Alle weiteren militärischen Aktionen können nur aus verstreuten Hinweisen rekonstruiert werden, ohne daß der genaue zeitliche Ablauf festzulegen wäre. Jedenfalls zogen die Truppen in die Herrschaft Lippe und verwüsteten die lippischen Anteile an der ehemaligen Grafschaft Schwalenberg, die von Polle aus gut zu erreichen ist. Im Juli, spätestens jetzt stieß auch das Aufgebot des Paderborner Bischofs dazu, versuchte man die Stadt Horn einzunehmen. 101 Der Versuch mußte nach drei Wochen aufgegeben werden, die Stadt mußte jedoch 453 Mark aufnehmen, um ihre Schäden zu bezahlen. Verteidigt hatte man sich unter anderem mit Armbrustschützen, 102 ob darunter auch Söldner waren, ist unklar. Sehr wahrscheinlich trennten sich die welfischen und paderbornischen Aufgebote jetzt wieder und zogen brennend durchs Land. Das später angelegte lippische Schadensverzeichnis zeigt, daß dabei nur selten Bauern getötet wurden, dafür aber kein Hof vor Raub sicher war.

96 Der Graf von Tecklenburg lag bereits seit längerem in Streit mit den lippischen Edelherren, seine Beteiligung ergibt sich aus Erich S ANDOW : Schadensverzeichnis (wie Anmerkung 12), Nr. 251. 97 Die ungedruckte Urkunde teilt Erich S ANDOW , ebenda, S. 60 mit. 98 Zu Polle vgl. kurz Christian L EIBER : Wallanlagen und Burgen, in: Gerhard S TREICH (Hrsg.): Historisch-landeskundliche Exkursionskarte von Niedersachsen - Blatt Holzminden (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landeskunde der Universität Göttingen; 2, Teil 15). Bielefeld 1997, S. 81-90, hier S. 86f. 99 Nach einer anderen Überlieferung, die in der Literatur oft wiederholt wurde, hätten die Herzöge die Burg am 8. Februar erobert, was aber nicht gut zur Gesamtchronologie paßt und auch der Witterung wegen eher unwahrscheinlich ist (die Belagerung hätte dann schon im Januar beginnen müssen). Zum ganzen auch Paul B ARTELS : Erbfolgekrieg (wie Anmerkung 10), S. 69. Christian Burchard von S PILCKER : Everstein (wie Anmerkung 14), S. 58, entschied sich für den 8. Februar. 100 Die 13.000 Mann bei Paul B ARTELS : Erbfolgekrieg (wie Anmerkung 10), S. 69. 101 Dazu gibt es eine Notiz im inzwischen nicht mehr vorhandenen Horner Stadtbuch, LippReg. Nr. 1670, die insgesamt glaubwürdig ist. 102 Das ergibt sich aus Erich S ANDOW : Schadensverzeichnis (wie Anmerkung 12), Nr. 16: es gingen einige armborsten verloren.

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Die welfischen Verbündeten scheinen sich wieder in den Schwalenberger und Blomberger Raum begeben zu haben. Dabei wurden noch im Jahre 1407 das Kloster Falkenhagen und der Ort Rischenau völlig niedergebrannt. Die Lande des Grafen von Everstein, die man ja in Besitz zu nehmen gedachte, wurden dagegen weitestgehend verschont. Die bischöflichen Truppen zogen durch die südwestlichen Teile der Herrschaft Lippe. Im Norden kamen außerdem Aufgebote der im Lippischen beheimateten Familie de Wend dazu, die bis in den Detmolder Raum vorstießen. 103 Im nördlichen Lippe agierten auch einige Adelige der Grafschaft Ravensberg, 104 der Bruder des Paderborner Bischofs war seit 1396 auch Graf von Ravensberg. Zuletzt steuerte auch der Graf von Tecklenburg eigene Truppen bei, die aber möglicherweise beim paderbornischen Aufgebot verblieben. 105 Es zogen also verschiedene Truppenteile durchs Lippische und verwüsteten weite Landstriche. Die Edelherren zur Lippe hatten sich in die Burg Blomberg zurückgezogen und machten von dort aus offenbar kleinere Ausfälle. Die einzige echte Eroberung der Verbündeten war wohl die Burg Lage. Da man keine festen Plätze gewinnen konnte und die Truppen unter Proviantmangel litten, 106 zogen sich die welfischen Herzöge im Herbst 1407 wieder über die Weser zurück. Der Bischof von Paderborn unternahm noch einen Angriff mit 500 Lanzenträgern auf die Stadt Lemgo. 107 Zu Kämpfen um Lemgo scheint es jedoch nicht gekommen zu sein, da die Stadt Verhandlungen mit dem Bischof suchte. Sie versprach endlich am 4. Dezember 1407 die Burg in Lage zu zerstören, falls Bernhard VI. zur Lippe „die Lage wiederkriegen“ würde und sie ihnen überantworten würde. 108 Die etwas unklare Formulierung legt immerhin nahe, daß zu diesem Zeitpunkt der Bischof die Burg erobert hatte. Wahrscheinlich hatte er aber bereits das Gefühl, sie nicht lange halten zu können. 109 Mit dem Winter endeten auch die Kämpfe im Lippischen. Die verbündeten welfisch-paderbornischen Truppen hatten große Schäden angerichtet, aber noch nichts Dauerhaftes erreicht. Beide Seiten litten lang103 Bei den de Wend handelt es sich wohl um ehemalige Edelherren, die im Laufe des 14. und 15. Jahrhunderts von den Lippern immer deutlicher in die Ministerialität gezwungen wurden. Man findet sie daher mehrfach auf Seiten lippischer Gegner. Hier hatten sie sich mit dem Paderborner Bischof verbunden, wie aus Erich S ANDOW : Schadensverzeichnis (wie Anmerkung 12), Nr. 185 und 204ff. hervorgeht. Eine Fehdeankündigung der Brüder de Wend liegt aus dem November 1408 vor, LippReg. Nr. 1688, doch dürften sie schon recht früh in die Kämpfe eingegriffen haben. Das jedenfalls legt das Schadensverzeichnis nahe. 104 Vgl. ebenda, Nr. 186. 105 Ebenda, Nr. 251, erwähnt die Tecklenburger, sagt aber nicht, wo sie operierten. Allerdings heißt es, der Bischof habe sich mit ihnen verbunden. 106 Dazu Paul B ARTELS : Erbfolgekrieg (wie Anmerkung 10), S. 72. 107 LippReg. Nr. 1673. Wann genau der Angriff stattfand, ist nicht mehr zu ermitteln. Der angegebene Tag, der 24. Juni, ist eher unwahrscheinlich. 108 LippReg. Nr. 1674. 109 Die häufige Annahme, die Burg sei daraufhin wirklich zerstört worden, läßt sich nicht belegen.

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sam unter den finanziellen Kosten der Fehde. Die Edelherren zur Lippe versuchten deshalb noch einmal, beim König in ihrer Sache vorstellig zu werden. Auf Bitten des Erzbischofs von Köln stellte Ruprecht ihnen am 14. November freies Geleit bis zur nächsten Fastnacht aus. Weil sie diesen Termin offenbar nicht wahrnehmen konnten oder wollten, erneuerte er das Geleit am 19. Februar 1408 noch einmal bis Ostern. 110 Gleichzeitig aber bereiteten sie sich auf Kampfhandlungen im Jahr 1408 vor. Dabei zeigte sich wohl, daß ihre Lage nicht ganz so hoffnungslos war, denn sie gewannen einige Verbündete: den Grafen von Rietberg und Moritz d. Jg. von Spiegelberg. 111 Außerdem gelang es ihnen Söldner anzuwerben. 112 Jedenfalls verzichteten sie auf den Gang zum König, von dem sie sich vermutlich auch nicht sehr viel versprochen hatten. Eine andere Situation ergab sich für Graf Hermann von Everstein. Er war nicht mehr gewillt, die Fehde fortzusetzen und wandte sich in Verhandlungen an die Welfenherzöge. Dabei kam ihm die Geburt einer Tochter zu Hilfe. Um 1404 wurde Elisabeth von Everstein geboren. Am 20. Januar 1408 trat er alle seine Rechte an die beiden Herzöge Bernhard und Heinrich ab. Zur Absicherung wurde bestimmt, daß Elisabeth den Herzogssohn Otto heiraten solle, was endgültig um 1425 geschah. 113 Hermann erhielt eine Jahresrente und wurde Pensionär. Da er durch die Erbverbrüderung unter anderem die Burg Blomberg zum Nutznieß erhalten hatte, ergaben sich jetzt für die Welfen sogar Ansprüche auf lippische Besitzungen, sicher eine verlockende Aussicht. Weil auch der Bischof von Paderborn noch nichts Endgültiges gewonnen hatte, waren außer Hermann von Everstein alle Beteiligten an einer Fortsetzung der Kämpfe interessiert. So kam es am 3. April 1408 zu einem neuerlichen Bündnis der Herzöge mit Bischof Wilhelm von Paderborn. 114 Die Kampfhandlungen wurden im alten Stil wieder aufgenommen. Nur der Bischof versuchte im Sommer des Jahres die lippische Burg Lipperode (bei Lippstadt) einzunehmen. 115 Doch Bernhard zur Lippe erschien mit einer Truppe und konnte die Belagerung aufheben. Vielleicht dadurch ermutigt, unternahm er verschiedene Ausfälle, bei denen seine Leute auch Gefangene machten. Einen größeren Zug machte er im August 1408 - ob vor oder nach der Belagerung ist nicht klar - ins Hessische. Eine Haushaltsrechnung des Edelherren, geführt vom Amtmann in Blomberg, LippReg. N. F. Nrr. 1407.11.14. und 1408.02.19. Das ergibt sich aus späteren Urfehden, LippReg. Nr. 1680. 112 Vgl. LippReg. Nr. 1676, wo der Ritter Freseke von Neheim an der Ruhr verspricht, mit weiteren 4 Lanzenträgern für 150 Gulden ein Jahr zu dienen. Sicher gab es noch ähnliche Kontrakte. Vgl. zum Beispiel unten Anmerkung 124 Heinrich Dinkelburg. 113 Zu Elisabeth vgl. Burchard Christian von S PILCKER : Everstein (wie Anmerkung 14), S. 299. Der Vertrag bei Hans B ERNER : Ohsen (wie Anmerkung 11), Nr. 51 und LippReg. N. F. Nr. 1408.01.20. 114 LippReg. Nr. 1678. 115 Die chronikalische Überlieferung dazu, vgl. LippReg. Nr. 1691, wird durch Erich S ANDOW : Schadensverzeichnis (wie Anmerkung 12), Nr. 181 bestätigt: Item so nam Albert van Lippspringhe dor ... myt anderen synen ghesellen vor Lipperode sesteyn koyg vor vertich mark. 110 111

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überliefert jedenfalls Verzehr auf der Burg Desenberg (bei Warburg) do wy in dat Land to hessen fochten. 116 Dort müssen schwerere Kämpfe stattgefunden haben, denn das Schadensverzeichnis spricht von Geldforderungen an vanghenen, wunden unde an dotslaghe. Geschehen sei dies vor Padberg, der Kugelsburg bei Volkmarsen, dem Desenberg und bei Schöneberg in der Nähe von Hofgeismar. 117 Glaubt man an eine Eroberung des Ortes Lage durch den Bischof, so muß Bernhard ihn im Laufe des Jahres 1408 zurückgewonnen haben, denn am 11. August 1408 verfügt er über den dortigen Zoll. 118 Dort fanden allerdings auch 1409 noch Kämpfe statt, denn die Blomberger Haushaltsrechnung überliefert, daß man in diesem Jahr dort 12 Pfennige vertrunken habe, do se uns den Schap wedernemen und schoten uns de Perde. 119 Auch das Schadensverzeichnis weiß von, allerdings undatierten, Kämpfen, bei denen unter anderem Verlust an bussen, an potten, an brandyseren und an mele usw. zu beklagen waren. Hier heißt es: do dat huss tor Laghe ghewunnen wart. 120 Es ist anzunehmen, daß der Schreiber aus der Sicht der Edelherren zur Lippe spricht, so daß sie diejenigen waren, die das Haus gewannen. Man wird daher von einer Wiedereinnahme ausgehen dürfen. Diesen Erfolgen Bernhards zur Lippe stand der Verlust der Burg Wedigenstein gegenüber. Die Burg (im Kreis Minden-Lübbecke) gehörte dem Bischof von Minden und war einige Jahre zuvor gegen den Willen des Kapitels den Edelherren zur Lippe verpfändet worden. Bischof Wilbrand nutzte jetzt die Gelegenheit, die Burg am 29. November 1408 einzunehmen. Die Aktion sorgte für Aufsehen, da die bischöflichen Truppen eine schwere Kanone, genannt die „Große Mette“, mit sich führten. 121 Die Kanone war offensichtlich wirkungslos, denn die Burg mußte belagert werden, nichtsdestotrotz wurde die Waffe von den Chronisten der Zeit staunend vermerkt. Während Bernhard zur Lippe militärisch seinen Gegnern einigen Schaden zufügen konnte, war seine finanzielle Situation gegen Ende des Jahres 1408 schlecht. Schon 1407 und dann 1408 und 09 mußten er und sein Vater immer öfter zum Mittel der Verpfändung greifen. 122 Ende 1408 konnten sie selbst kleinere Beträge nicht mehr anders begleichen. 123 Außerdem konnten sie ihre Mannen nicht mehr entsprechend besolden. Heinrich Dinkelburg und drei seiner Diener/Kollegen sagen den Edelherren die Fehde an, weil Bernhard Pferde, die Heinrich Dinkelburg in seinem Dienst verloren hat, nicht ersetzt. 124 Den lippischen Gegnern ging es aber wohl kaum besser. Sie hatten 1408 LippReg. Nr. 1660. Erich S ANDOW : Schadensverzeichnis (wie Anmerkung 12), Nr. 184. 118 LippReg. N. F. Nr. 1408.08.11. 119 LippReg. Nr. 1660, was mit de Schap genau gemeint ist, ist unklar. 120 Erich S ANDOW : Schadensverzeichnis (wie Anmerkung 12), Nr. 296. 121 LippReg. Nr. 1690. 122 Vgl. LippReg. Nrr. 1663a, 1675, 1683, 1698, 1700 und LippReg. N. F. Nrr. 1408.12.27., 1409.03.22., 1409.03.22A. 123 Zum Beispiel LippReg. N. F. Nr. 1408.12.27A über 80 Gulden oder später LippReg. Nr. 1700 über 24 Gulden. 124 LippReg. N. F. Nr. 1408.00.00A. 116 117

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Rückschläge hinnehmen müssen und wollten die Fehde vermutlich nicht mehr lange finanzieren. So war es letztlich Geldmangel, der die Parteien an den Verhandlungstisch brachte. Die Truppen des Paderborner Bischofs fielen zwar Anfang 1409 noch einmal ins Lippische ein, wie die Kämpfe um Lage zeigen, doch gleichzeitig kam es zu einem Ausgleich mit den welfischen Herzögen. Am 7. April 1409 wurde in Polle ein Vertrag zwischen Bernhard und Heinrich von BraunschweigLüneburg auf der einen Seite und Simon III. und Bernhard VI. zur Lippe auf der anderen Seite geschlossen. 125 Die Lipper gaben alle Briefe Herzog Heinrichs, die er in der Gefangenschaft beeidet hatte, heraus und verzichteten auf die Erbverbrüderung mit dem Grafen von Everstein. Dafür durften sie alle Besitzungen behalten, die ihnen vor der Erbverbrüderung gehört hatten, einschließlich Blomberg also. Die Herzöge wollten ihnen helfen, sich aus der Acht und Oberacht zu lösen. Alle Gefangenen und alle Schulden sollten quitt und los sein. Mit einbezogen in den Vertrag waren die welfischen Verbündeten: der Mindener Bischof Wilbrand, der Landgraf von Hessen, die beiden Herzöge Otto von Braunschweig, der Graf von Tecklenburg, der Graf von Hoya, der Herr von Diepholz und die von Münchhausen, von Zerssen und von der Lippe. Schon am 14. April wurden daraufhin die in lippische Gefangenschaft geratenen Mannen nach Ablegung einer Urfehde entlassen. 126 Am 12. Juni entließ König Ruprecht die Edelherren aus Acht und Oberacht. 127 Die Herzöge verzichteten am 27. Juni noch einmal auf alle Rechte, die sie aus dem Vertrag mit dem Grafen von Everstein an lippischen Besitzungen haben könnten 128 und schlossen ein Bündnis mit ihren bisherigen Widersachern. 129 Ausgenommen wurden nur Gerhard von Ense, Dietrich Kettler, Johann Droste und Friedrich von Brenken, denn sie besaßen noch einen Schuldschein des Herzogs Heinrich. Sie versuchten anschließend den Herzog bei der Veme zu verklagen, was letztendlich von König Ruprecht als Oberlehnsherr der Freigerichte verboten wurde. 130 Das gleiche hatten auch die Edelherren zur Lippe versucht, mit dem obigen Ergebnis. 131

LippReg. N. F. Nr. 1409.04.07. LippReg. Nr. 1702. 127 LippReg. N. F. Nr. 1409.06.12. Ruprecht sicherte außerdem allen Beklagten zu, daß sie wegen der Gefangenschaft Herzog Heinrichs nicht weiter verfolgt würden, vgl. LippReg. N. F. Nr. 1409.06.00. 128 LippReg. N. F. Nr. 1409.06.27A 129 LippReg. N. F. Nr. 1409.06.27. 130 Vgl. LippReg. Nr. 1715 und 1725. 131 Siehe den Hinweis von Ernst S CHUBERT : Geschichte Niedersachsens (wie Anmerkung 8), S. 789. Im Jahr 1407 oder 1408 wollten die Edelherren beim Freigrafen von Biest bei Lemgo Klage erheben, aber ihre Boten wurden von paderbornschen Mannen gefangengenommen, vgl. Erich S ANDOW : Schadensverzeichnis (wie Anmerkung 12), Nr. 44. 125 126

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Nun mußte nur noch der Bischof von Paderborn zufrieden gestellt werden. Da ihm keinerlei Eroberungen geblieben waren, konnte er auch keine sehr weitreichenden Forderungen stellen. Die Blomberger Haushaltsrechnung überliefert zwei Tagfahrten auf denen die Beendigung der Fehde abgesprochen worden sein dürfte. 132 Die Edelherren zur Lippe nahmen die Falkenburg und die Stadt Horn 133 vom Bischof zu Lehen. 134 Darüber hinaus verpfändeten sie ihm Besitzungen in Enger und Salzuflen im Gegenwert von 3.000 Gulden, die vermutlich gerade seine Aufwendungen deckten. 135 Alles in allem waren die Lipper mit einem blauen Auge davon gekommen. Allerdings setzte sich ihre Finanzschwäche noch einige Jahre fort. Im Juni 1409 mußten sie zuerst einmal ihre adeligen Kämpfer entlohnen, was nur durch weitere Verpfändungen möglich war. Auch die Kasse der beiden Herzöge von Braunschweig war zweifelsohne sehr angespannt, doch gelang ihnen noch ein weiterer - indirekter - Erfolg. Am 9. Oktober 1409 verkaufte Heinrich von Homburg seine Herrschaft an Bernhard und Heinrich, in Berücksichtigung des großen Schadens, welcher die Herrschaft Homburg nach seinem Tod treffen könnte. 136 Heinrich von Homburg wollte erkennbar vermeiden, daß seine Herrschaft ebenfalls zum Schauplatz einer solchen Fehde würde. Die Grafen von Spiegelberg akzeptierten diese Wendung, 137 wenn auch nur zähneknirschend, wie sich bald heraus stellen sollte. 138 Erst mit dem Anfall sowohl der eversteinschen als auch der homburgischen Lande erreichten die Welfen eine hegemoniale Stellung im Weserraum. Der Abschluß der Fehde, vor allem die Verlobung der Grafentochter Elisabeth mit einem welfischen Prinzen, zeigt typisch adeliges Verhalten. Im Gegensatz dazu war der vorherige Verlauf der Auseinandersetzungen sicher aufsehenerregend für die Zeit. 139 Die Fehde zeigt mehrfach ausgesprochen unadeliges und keineswegs immer rechtmäßiges Verhalten verschiedener beteiligter Parteien. Sowohl die lippische als auch die welfische Seite versuchten dabei, das Fehderecht zu instrumentalisieren. Auch das Verhalten König Ruprechts ist wenig rühmlich. Damit ist einerseits klar, daß es ein gültiges Rechtsverständnis gab, andererseits wird auch deutlich, ab wann mittelalterliches Recht versagen mußte: „Das Recht war überfordert“. 140 Es wurde von den Edelherren zur Lippe mit ihrer Lösegeldforderung von 100.000 Gulden LippReg. Nr. 1660. Die Eroberung der beiden Orte durch den Bischof, von der Paul B ARTELS : Erbfolgekrieg (wie Anmerkung 10), S. 75 ausgeht, halte ich für sehr unwahrscheinlich. Es ist ihm m. E. sowieso nicht gelungen, die Kampfhandlungen korrekt nachzuvollziehen. 134 LippReg. Nr. 1712. Der Bischof hatte schon vorher behauptet, die beiden Plätze und auch Lage wären paderbornische Lehen, was juristisch sehr wahrscheinlich und gewohnheitsrechtlich ganz sicher falsch war. Vgl. zum Ganzen auch Erich S ANDOW : Schadensverzeichnis (wie Anmerkung 12), S. 61. 135 LippReg. N. F. 1409.07.08 und 1409.07.08B. 136 Hans B ERNER : Ohsen (wie Anmerkung 11), Nr. 55. 137 Ebenda, Nr. 56. 138 1421-23 kämpften sie mit dem Bischof von Hildesheim gegen die Welfen und 1434 kam es zur sogenannten Spiegelberger Fehde, vgl. ebenda, S. 19. 139 So auch Ernst S CHUBERT : Geschichte Niedersachsens (wie Anmerkung 8), S. 789. 140 Ebenda, S. 790. 132 133

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geradezu ad absurdum geführt. Die eversteinsche Fehde bildet damit ein aussagekräftiges Beispiel dafür, was für eine merkwürdige Symbiose Gewalt und Recht in dieser Zeit eingehen konnten.

Kriminalität und Zahlungsmoral im Alltag des 16. Jahrhunderts. Eine Untersuchung auf der Grundlage des Duderstädter Strafbuches von 1530-1546 Heike Bilgenroth

1. Einleitung Was zählt schon ein Feldfrevel gegenüber einem Mord, was eine Geldstrafe gegenüber einer Hinrichtung? Wenig spektakulär sind die mit Geldbußen bestraften Vergehen, die von 1530 bis 1546 in das Duderstädter Strafbuch eingetragen wurden. Diese alltäglichen Delikte spiegeln jedoch die Normalität in ungleich größerem Maße wider als die Verbrechen, die unter die Hals- und Blutgerichtsbarkeit fielen und eher die Ausnahme waren. Dennoch üben grausame Strafpraktiken und schwere Verbrechen auf Juristen und Historiker eine größere Anziehungskraft aus: Sie stehen seit jeher im Mittelpunkt des Forschungsinteresses. Mit ihren Untersuchungen, die sich vor allem auf die verschiedenen Landfrieden und Rechtsbücher konzentrierten, unterstützte die Rechtsgeschichte bislang die Herausbildung eines grausamen Mittelalterbildes. 1 Sie beschäftigte sich schwerpunktmäßig mit der Entstehung und Wandlung von Normen sowie dem Instrumentarium zu ihrer Durchsetzung. Dadurch meinte sie irrigerweise einen großen Teil der Rechtswirklichkeit erfaßt zu haben, obwohl soziale und ökonomische Bedingungen weitestgehend unberücksichtigt blieben. 2 Das grausame Mittelalterbild, das insbe1 Vgl. Gunter G UDIAN , Geldstrafrecht und peinliches Strafrecht im späten Mittelalter. In: Hans-Jürgen B ECKER [u.a.] (Hrsg.), Rechtsgeschichte als Kulturgeschichte. Festschrift für Adalbert E RLER zum 70. Geburtstag, Aalen 1976, S. 273-288, hier S. 273. 2 Vgl. Andreas B LAUERT , Gerd S CHWERHOFF , Vorbemerkung. In: Dies. (Hrsg.), Mit den Waffen der Justiz. Zur Kriminalitätsgeschichte des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Frankfurt am Main 1993, S. 7-15, hier S. 7. Ein Beispiel für die traditionelle Untersuchungsmethode der Rechtsgeschichte ist die Studie von Karsten K ÜHNE , Das Kriminalverfahren und der Strafvollzug in der Stadt Konstanz im 18. Jahrhundert (Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen, Bd. 24), Sigmaringen 1979. Kühne legt seiner Untersuchung ausschließlich normative Quellen zugrunde. Unter den Juristen war Bernhard Diestelkamp einer der ersten, die den Durchsetzungsgrad von Gesetzen untersucht haben. Arbeiten in dieser Richtung sind bisher jedoch eher die Ausnahme. Vgl. Bernhard D IESTELKAMP , Das Verhältnis von Gesetz und Gewohnheitsrecht im 16. Jahrhundert − aufgezeigt am Beispiel der oberhessischen Erbgewohnheiten von 1572. In: Rechtshistorische Studien. Hans T HIEME zum 70. Geburtstag, Köln/Wien 1977, S. 1-33. Beispielhaft

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sondere aufgrund zahlreicher Museumsausstellungen entstand, in denen Folterinstrumente und Abbildungen diverser Hinrichtungspraktiken präsentiert wurden, 3 muß jedoch korrigiert werden. Im 14. und 15. Jahrhundert wurden beispielsweise nicht alle Diebe gehängt. Die meisten kamen mit einer Geldstrafe davon. 4 Erst der allgemeine Verrechtlichungsprozeß im 16. Jahrhundert drängte das Geldstrafrecht in den Hintergrund und brachte langsam den Durchbruch der Körperstrafen mit sich. 5 Dieser Prozeß wurde durch die 1532 erfolgte Einführung der Peinlichen Gerichtsordnung von Kaiser Karl V. unterstützt. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass diese Gerichtsordnung in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Duderstadt noch keine Anwendung gefunden hatte, da sich neue Gesetze zumeist erst zeitverzögert durchsetzten. In der frühneuzeitlichen Forschung sind Untersuchungen zur niederen Gerichtsbarkeit 6 sowie zu Zahlungsmoral und Zahlungsmodalitäten rar. Hier setzt diese Betrachtung an und versucht etwas Licht in das Dunkel zu bringen. Daher folgt einer eingehenden Quellenanalyse des Duderstädter Strafbuches von 1530 bis 1546 eine detaillierte Untersuchung der Zahlungsmodalitäten und Zahlungsmoral in Bezug auf die Strafgelder. Bei der Betrachtung und Interpretation des Strafbuches muß einschränkend berücksichtigt werden, dass es nur die Fälle der niederen Gerichtsbarkeit enthält, die vor dem Ratsgericht unter dem Vorsitz des Schultheißen behandelt wurden. Die Vergehen, die der hohen Gerichtsbarkeit zuzuordnen sind, fielen unter die Zuständigkeit des landesherrlichen Schultheißengerichts. Das Strafbuch gibt nicht das gesamte Ausmaß der in den Zuständigkeitsbereich des Duderstädter Ratsgerichts fallenden Kriminalität wieder, da weder alle Vergehen angezeigt wurden, noch, wie im Vergleich mit den Duderstädter

ist aus juristischer Perspektive die Studie von Marbach über die Strafrechtspflege in den drei hessischen Landstädten Eschwege, Allendorf und Witzenhausen, in der auf der Grundlage der Bußregister der niederen Gerichtsbarkeit des landgräflichen Schultheißen von 1450 bis 1500 die Rechtswirklichkeit dargestellt wird. Vgl. Johannes M ARBACH , Strafrechtspflege in den hessischen Städten an der Werra am Ausgang des Mittelalters, München 1980. Vgl. zu Eschwege auch Karl E. D EMANDT , Recht und Gesellschaft. Rechts-, sozial- und sittengeschichtliche Studien zur strafrechtlichen Praxis in einer hessischen Stadt des 15. Jahrhunderts. In: Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde, Jg. 83/1972, S. 9-56. 3 Vgl. Hartmut B OOCKMANN , Das grausame Mittelalter. Über ein Stereotyp, ein didaktisches Problem und ein unbekanntes Hilfsmittel städtischer Justiz, den Wundpegel. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht Jg. 38/1987, S. 1-9, hier S. 1/2. 4 Vgl. G UDIAN , Geldstrafrecht (wie Anm. 1), 1976, S. 274/ 275. 5 Vgl. Gerd S CHWERHOFF , Köln im Kreuzverhör. Kriminalität, Herrschaft und Gesellschaft in einer frühneuzeitlichen Stadt, Bonn/Berlin 1991, S. 132. 6 Bezüglich der Untersuchung der Delikte vgl. Heike B ILGENROTH , Kriminalität im Alltag des 16. Jahrhunderts. Eine Untersuchung auf der Grundlage des Duderstädter Strafbuches von 1530-1546. In: Eichsfeld. Jahrbuch 1998, 6. Jg., S. 75-97, und umfassend meine Magisterarbeit, die demnächst im Verlag Duehrkohp & Radicke publiziert wird.

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Rechnungsbüchern deutlich wird, der Kämmereischreiber alle Delikte im Strafbuch registriert hatte. Ein Verurteilter mußte, wenn er durch sein Vergehen anderen Personen Schaden zugefügt hatte, zweierlei Zahlungen entrichten: einen Schadensersatz an das Opfer und eine Geldbuße an die Stadt. Da das Strafbuch jedoch unter anderem aus fiskalischem Interesse seitens des Rates geführt wurde, gewährt es keinen Aufschluß über Entschädigungszahlungen an Opfer. Trotz der genannten Grenzen und Einschränkungen, führt die eingehende Untersuchung des Duderstädter Strafbuches die Diskrepanz zwischen Rechtsnorm (Statuten) und Rechtswirklichkeit (Rechtsprechung) vor Augen und vermittelt einen Einblick in den Alltag und die Normalität des städtischen Lebens in Duderstadt. Diese Untersuchung beschränkt sich jedoch auf Zahlungsmodalitäten und Zahlungsmoral.

2. Das Strafbuch als Quelle: Charakteristik und Einordnung in den Entstehungskontext Im Verlauf des Mittelalters hatte der Duderstädter Stadtrat seine Gerichtskompetenzen immer weiter ausgedehnt, so dass er zum Ende des 15. Jahrhunderts die Justizpflege in der Stadt in der Hauptsache allein innegehabt hat. Darunter fiel die freiwillige Gerichtsbarkeit, Beurkundungen und auch die Halsgerichtsbarkeit. 7 Diese weitreichenden Kompetenzen des Duderstädter Ratsgerichts wurden im Zuge des allgemeinen Verwaltungsausbaus im 16. Jahrhundert durch die Verordnungen des Mainzer Kurfürsten Albrecht von Brandenburg stark beschnitten. Als Aufgabenbereich verblieben dem Ratsgericht nach dem Erlaß der Albertinischen Ordnung von 1526 lediglich die niedere Gerichtsbarkeit − allerdings unter dem Vorsitz des Schultheißen − mit den Verstößen gegen die Statuten und die freiwillige Gerichtsbarkeit. Diese Neuorganisation des Gerichtswesens hatte in Duderstadt Kompetenzstreitigkeiten zwischen dem Rat und dem Schultheißen hervorgerufen. Der Kurfürst sah sich dadurch veranlaßt, den Duderstädtern 1533 einen weiteren Entscheid zuzustellen, der in erster Linie die vorangegangenen restriktiven Verordnungen über die Kompetenzeinbußen des Rates wiederholte und ihnen damit Nachdruck verlieh, aber auch einige zusätzliche Bestimmungen enthielt. Anhand des Strafbuches wird deutlich, dass sich die Ratsherren, zumindest in bezug auf die Kompetenzen des Gerichtes, an die neuen Vorgaben des Kurfürsten gehalten hatten. Dennoch ließ der Rat, aus Opposition zu der neuen Stellung des Schultheißen als Vorsitzendem des Ratsgerichtes, vom Kämmereischreiber zusätzlich zu dem Strafregister des Schultheißen, das allem Anschein nach wesentlich sorgfältiger bearbeitet wurde, ein eigenes Strafbuch führen.

7 Vgl. Julius J AEGER , Verfassung und Verwaltung der Stadt Duderstadt. In: Unser Eichsfeld. Zeitschrift für Eichsfeldische Heimatkunde, Teil 2, 1907, S. 170.

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Noch im 15. Jahrhundert wurden die Vergehen der Duderstädter Bürger und der Bewohner der zu Duderstadt gehörigen Dörfer in das jeweils aktuelle Stadtbuch eingetragen. 8 Um 1530 9 ging der Rat der Stadt Duderstadt dazu über, vom Kämmereischreiber ein Strafbuch führen zu lassen. Ein Strafbucheintrag gibt den entscheidenden Hinweis darauf: Tenentes hochgewedde dem rade uth des schulze registeren geschreven de anno [15]35 et [15]36. 10 Aus diesem kurzen Eintrag geht hervor, dass dem rade, also für den Rat, die Vergehen aus dem Register des Schultheißen abgeschrieben wurden. Es kann daher kein Zweifel daran bestehen, dass der Rat dieses Strafbuch führen ließ. In diesem Eintrag wurde außerdem auf das Register des Schultheißen verwiesen. Der Schultheiß als Gerichtsvorsitzender ließ demnach ein zweites Strafregister über die Vorgänge vor dem Ratsgericht führen. 11 Für ihn war es erforderlich − auch im Interesse des Landesherren −, sich einen Überblick über die Forderungen aus den Strafgeldern zu verschaffen, da dem Landesherren die Hälfte dieser Forderungen als Einnahmen zustanden. Das Strafbuch ist eine Ergänzung zu den jährlichen Rechnungsbüchern, 12 in denen nur die tatsächlich von der Stadt eingenommenen Strafgelder verzeichnet wurden. In den Rechnungsbüchern waren die Bußgeldzahlungen nur ein Posten unter vielen. 13 Es bleibt jedoch festzuhalten, dass die Kontrolle über die Strafgeldzahlungen, die eine finanzielle Einnahmequelle der Stadtkämmerei darstellten, und die Bußgeldforderungen ein Grund für die Führung des Strafbuches war. Dies belegt auch die Tatsache, dass die Quelle wenig detailliert über die Vergehen, aber verhältnismäßig ausführlich über den Themenkomplex Zahlungsmodalitäten, Teilzahlungen und erlassene Strafgelder unterrichtet. Daher bietet sich eine genauere Betrachtung dieses Themenkomplexes an. Dem Strafbuch kam lediglich die Bedeutung eines ergänzenden Notizbuches zu, in dem die Vergehen in Kurzform notiert wurden: der Täter, die Strafhöhe, ein Stichwort, das die Tat beschreibt, meistens ein Hinweis auf die Geschädigten, und hin und wieder wurden diejenigen genannt, die die Tat angezeigt hatten. Diesen knappen Eintragungen wurden nur dann Ergänzun8 Vgl. Julius J AEGER (Hg.), Urkundenbuch der Stadt Duderstadt bis zum Jahre 1500, Hildesheim 1885, [künftig: UB Dud.] Nr. 404 und Nr. 519. 9 Die Vergehen der vergangenen Jahre, für die die Geldbußen noch nicht entrichtet wurden, sind vermutlich nachgetragen worden. 10 Vgl. StadtA Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 62 recto. 11 Zur Geschichte der Verwaltung und der Gerichtsbarkeit in Duderstadt, vgl. Christoph L ERCH , Die Gerichtsbarkeit in der Goldenen Mark. In: Die Goldene Mark. Zeitschrift für die Heimatarbeit im Kreise Duderstadt, 1. Sonderheft, 1993. 12 Es ist zu vermuten, dass das Strafbuch eine Filiation des Rechnungsbuches ist. 13 Vgl. J AEGER , Verfassung und Verwaltung (wie Anm. 7), Teil 5, 1908, S. 166/167. Jaeger äußert sich in diesem Aufsatz dahingehend, dass nach den Steuern die Einnahmen aus der Vergabe der Brauberechtigung und die Einnahmen aus dem Weinkeller des Rates die höchsten waren. Die Einnahmen aus den Bußgeldern bezeichnet er − wie an späterer Stelle nachgewiesen wird − fälschlicherweise als „willkommene Einnahmequelle“.

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gen beigefügt, wenn diese sich auf die Strafgeldhöhe ausgewirkt haben. Die kärglichen Strafbuchvermerke dienten vermutlich als Gedächtnisstütze für mit der Materie vertraute Personen, die genau wußten, was sich hinter den wenigen Worten verbarg. Es reichte wahrscheinlich aus, wenn der Stadtschreiber wußte, von wem und wofür noch Geld einzufordern war. Da die Strafgelder häufig erst lange Zeit nach dem Begehen des Deliktes entrichtet wurden, war ein Notizbuch als Gedächtnisstütze dringend erforderlich. Das Strafbuch ist demnach eine obrigkeitliche Quelle, die vorrangig aus fiskalischem Interesse angelegt wurde. Es ist zudem davon auszugehen, dass der Rat mit der Strafbuchführung die Intention verfolgte, sich eine Grundlage für die Kontrolle der Buchführung des Schultheißen zu schaffen. Denn der Schultheiß wurde erst 1526 vom Kurfürsten zur Kontrolle des Rates eingesetzt. In diesem Zusammenhang kann die Führung des Strafbuches als ein Versuch des Rates gewertet werden, seine ehemalige Position gegenüber dem Schultheißen zu behaupten. Aus dieser Sicht betrachtet, erfüllte das Strafbuch nur in den ersten Jahren seinen Zweck. Ab 1540 weist es zunehmend größere Lücken auf, so dass eine Überprüfung der Registrierungstätigkeit des Schultheißen höchstens noch in groben Zügen möglich war. Im Vergleich zu den jährlichen Rechnungsbüchern, die gut strukturiert und sauber geführt wurden, deutet der teilweise schwer nachvollziehbare Aufbau des Strafbuches und seine Unübersichtlichkeit darauf hin, dass ihm eine wesentlich geringere Bedeutung beigemessen wurde. Auch anhand der Eintragungen der Jahresabrechnungen kann ein schleichend zunehmender Vernachlässigungsprozeß des Strafbuches festgestellt werden. Der Abbruch bei der Eintragung der Abrechnungen im Jahre 1540 läßt sich vermutlich − wenn überhaupt − nur in geringem Maße darauf zurückführen, dass Albrecht von Brandenburg, der Mainzer Kurfürst, im Zuge seiner Verwaltungs- und Justizreformen den Umzug des Oberamtmannes vom Rusteberg nach Heiligenstadt in diesem Jahr durchführen ließ. 14 Es ließe sich vermuten, dass erst einige Zeit vergehen mußte, bis die neuen Behörden nach diesen tiefgreifenden Veränderungen ihre Arbeit vollständig aufnehmen konnten. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass der Rat, nachdem er die Stellung des Schultheißen als Vorsitzenden des Ratsgerichts und der Duderstädter Verwaltung nach und nach akzeptiert hatte, dem Strafbuch keine große Bedeutung mehr beimaß, da der Schultheiß ein ähnliches Register führen ließ. Dementsprechend sind die Abrechnungen ab 1540 vermutlich nur noch in das Register des Schultheißen eingetragen worden. Der Rat brachte dem Schultheißen nach der Einsetzung in die Position des Ratsgerichtsvorsitzenden und des Oberhauptes der Verwaltung im Jahr 1526 großes Mißtrauen entgegen. Bis 1528, solange Sebastian Müller im Amt war, scheint der Rat noch keine Veranlassung dazu gesehen zu haben, eine Kon14 Vgl. Hans B ECKER VON S OTHEN , Die mainzische Regierung des Eichsfeldes von den Anfängen bis 1802. Ein Beitrag zur Rechts- und Verwaltungsgeschichte des Eichsfeldes. In: Eichsfeld. Jahrbuch, Jg. 2, 1994, S. 5-78, hier S. 47/48.

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trolle über dessen Buchführung auszuüben. Sebastian Müller war kein gebürtiger Duderstädter, aber er hatte schon vor Amtseintritt eine Duderstädterin geheiratet. 15 Von den ersten Einträgen im Strafbuch sind die meisten den Jahren 1528 bis 1532 zuzuordnen. Es ist daher davon auszugehen, dass die Strafbuchführung frühestens mit dem Amtsantritt des Schultheißen Michael Knochenhauer 1528, zwei Jahre nach dem Erlaß der Albertinischen Ordnung, einsetzte. Knochenhauer war ein Fremder. Er war kein gebürtiger Duderstädter und hatte vor der Amtseinsetzung nachweislich nicht in Duderstadt gewohnt. Vermutlich war dies einer der Gründe, die den Duderstädter Rat dazu veranlaßten, seine Buchführung zu kontrollieren. Ein Beispiel dafür, dass die Kontrolle über die Amtsführung dieses Schultheißen berechtigt war, ist dem Strafbuch 16 zu entnehmen. Michel Knochenhauer hatte 1532 22 Mark an Strafgeldzahlungen entgegengenommen. Da die Zahlungseingänge im Strafbuch verzeichnet wurden, waren sie dem Rat bekannt. Eine Strafbucheintragung aus dem Jahr 1536 besagt, dass dieser Geldbetrag dem Rat noch nicht übergeben worden ist. 17 Ohne die Führung eines Strafbuches wären diese Zahlungseingänge vermutlich − zuungunsten des Rates − in Vergessenheit geraten. Darüber hinaus hatte die neue Position des Schultheißen in der Stadt genügend Konfliktstoff für Auseinandersetzungen zwischen ihm und dem Rat geboten. Der Entscheid des Kurfürsten von 1533 belegt, dass dem Schultheißen Michael Knochenhauer große Ablehnung seitens der Duderstädter entgegengebracht wurde. Ob seine Amtsführung den Kurfürsten veranlaßte, ihn seines Amtes zu entheben, ist nicht zu klären. Ab 1533 jedoch war Wulfgang Stehlin Schultheiß in Duderstadt. Auch Stehlin war kein gebürtiger Duderstädter. Zu Beginn seiner Amtszeit und dem Ende der Amtszeit Michael Knochenhauers, wurde der Führung des Strafbuches die größte Aufmerksamkeit gewidmet. Schon gegen Ende der Amtszeit von Wulfgang Stehlin, aber verstärkt als Johannes von Schnehen, ein Duderstädter, von 1538 bis 1544 das Amt des Stadtschultheißen bekleidete, wurde die Strafbuchführung vernachlässigt. Diese Entwicklung zeigt, dass der Duderstädter Rat nach anfänglichem Mißtrauen und verstärkten Protesten sowie dem Versuch, seine Position gegenüber dem Stadtschultheißen zu behaupten, mit der Zeit langsam die vom Kurfürsten verordneten Kompetenzeinbußen und damit einhergehend die neue Stellung des Stadtschultheißen akzeptiert hatte. Vermutlich wurde, nachdem dieser Prozeß abgeschlossen war, die Führung des Strafbuches eingestellt. 18 Diese Entwicklung spiegelt sich in dem 15 Vgl. Christoph L ERCH , Die Duderstädter Stadtschultheißen. In: Goldene Mark. Zeitschrift für die Heimatarbeit im Kreise Duderstadt Jg. 20/1969, S. 33-43, hier S. 39. 16 Vgl. StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 44 verso. 17 Vgl. StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 64 verso. 18 Ein Strafbuch, das an das von 1530 bis 1546 anschließt, ist im Stadtarchiv Duderstadt nicht auffindbar. Dies allein beweist jedoch noch nicht, dass kein weiteres Strafbuch geführt wurde. Die Rechnungsbücher von 1547 und 1548 sind nicht erhalten. In dem Rechnungsbuch, in dem die Einnahmen von 1549 eingetragen wurden, befindet sich die Auflistung der Einnahmen aus Feldfreveln auf der Seite neben denen aus den Vergehen. Dies deutet darauf hin, dass die Führung eines Strafbuches für den Rat, in dem die Feld-

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schleichenden Vernachlässigungsprozeß des Strafbuches, der letztendlich zum Abbruch der Strafbuchführung führte, wider. Der Aufwand, ein Strafbuch zu führen, wäre im Verhältnis zum Ertrag zu groß und der Nutzen des Strafbuches anzweifelbar, zumal der Schultheiß ein Strafregister über die gleichen Vorgänge vor dem Gericht führen ließ. Ferner kann davon ausgegangen werden, dass der Rat das Strafbuch in der Hauptsache aus Opposition zum Schultheißen führen ließ. Der schleichende Vernachlässigungsprozeß wäre in diesem Fall ein Spiegel für den Prozeß der Anerkennung der neuen Stellung des Schultheißen durch den Rat. Ausschlaggebend wird außerdem gewesen sein, dass nun auch Duderstädter diesen Posten bekleideten und die Stadtbewohner nicht mehr durch einen Fremden kontrolliert wurden.

3. Strafgelder, Zahlungsmoral und Zahlungsmodalitäten In Duderstadt gab es ein geregeltes Strafmaß. Die Strafgeldbeträge, die das Ratsgericht für die einzelnen Vergehen festlegte, waren weitgehend gleich. Für einen Hausfriedensbruch zum Beispiel sollten alle Täter durchgängig ein Strafgeld von fünf Mark bezahlen. Bei der Festlegung des Strafmaßes spielte es daher keine Rolle, ob ein Täter arm oder reich war. 19 Lediglich bei Gesuchen um Straferlaß oder Strafminderung wurde die soziale und finanzielle Situation des Täters insofern berücksichtigt, als dass das Ratsgericht eher Gnade vor Recht ergehen ließ und die Armen auf einen Erlaß des Strafgeldes hoffen konnten. Die meisten Paragraphen der Duderstädter Statuten enthalten Angaben über die Höhe der Strafgelder, die für bestimmte Vergehen verhängt werden sollten. Für die überwiegende Zahl der Vergehen waren Geldstrafen festgeschrieben. Nur in einigen Paragraphen wurden von vornherein anstelle eines Strafgeldes Naturalleistungen, wie die Leistung von Steinfuhren, die Ablieferung von Steinen, Hafer oder Korn, gefordert. 20 Diejenigen Paragraphen, in denen kein Strafmaß genannt wurde, legten Verfahrensweisen fest, beispielsweise für Erbschaftsangelegenheiten. 21 Die Höhe der Strafgelder, die den Tätern vom Gericht auferlegt wurde, wich häufig von den veralteten Vorgaben der Statuten ab. Da die folgende Darstellung der Zahlungsmodalitäten einen Einblick in die Praxis bieten soll, werden die normativen Bestimmungen ausgeblendet.

frevel breiten Raum eingenommen hatten, nach 1546 nicht beibehalten wurde. Hinzu kommt, dass die Rechnungsbücher für den Zeitraum 1530 bis 1546 keine Seite aufweisen, auf der die Einnahmen für die begangenen Feldfrevel registriert wurden. 19 Der Kurfürst hatte in der Verordnung bereits 1515 angeordnet, dass Arm und Reich vor dem Gericht gleich zu behandeln seien. Vgl. Johann W OLF , Geschichte und Beschreibung der Stadt Duderstadt, Bd. 2, 1803, S. 152-153 und S. 114-116. 20 Vgl. UB Dud. (wie Anm. 8), 1885, Nr. 521, § 24, 25, 72, 94, 116, 136, 142, 152, 155, 178, 182, 208, 227, 238, 240 und 256. 21 Vgl. UB Dud. (wie Anm. 8), 1885, Nr. 521, § 8-10.

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Das Strafbuch wurde unter anderem aus fiskalischem Interesse geführt und gibt daher verhältnismäßig ausführlich Aufschluß über Zahlungsmodalitäten und Zahlungsmoral. Da Entschädigungszahlungen für Opfer, auch wenn sie in den Statuten festgeschrieben waren, 22 nicht zu den Einnahmen der Stadtkasse zählten, finden sie im Strafbuch kaum Erwähnung. Es läßt sich nur ein Hinweis darauf finden, dass Entschädigungszahlungen geleistet werden sollten. Ein Strafbucheintrag bestimmte, dass Ciriacus Bredenbeck drei hochgewedde zu bezahlen hatte. Ein hochgewedde stand dem Rat, eins dem Gericht und das dritte dem Kläger zu. 23 Daraus ist ersichtlich, dass auch die Höhe der Entschädigungszahlungen vom Ratsgericht festgelegt wurde.

3.1. Zahlungsmodalitäten Der Zahlungsverkehr in der frühen Neuzeit wurde üblicherweise sowohl in Naturalien als auch mit Geld abgewickelt. 24 Ein Beispiel dafür ist die Besoldung der Stadtbediensteten von Duderstadt, die neben Geldzahlungen auch Naturalleistungen als Lohn für ihre Dienste erhielten. 25 Das Duderstädter Ratsgericht hingegen verhängte für den überwiegenden Teil der Vergehen Geldstrafen. Unter den im Strafbuch eingetragenen Währungen dominierten die Duderstädter Mark und der Göttingische Schilling. Ein Problem bei der Untersuchung der Zahlungsmodalitäten ist die Vielzahl der Währungen, in denen die Strafgelder in Duderstadt festgelegt und mit denen sie bezahlt wurden. Da das Verhältnis der einzelnen Währungen zueinander nicht eindeutig geklärt werden kann, muß dieser Aspekt bei dieser Untersuchung unberücksichtigt bleiben. Nur ein relativ geringer Anteil der Strafen wurde von vornherein in Naturalien (Hafer, Leinwand, usw.) festgelegt. Sehr selten wurde bestimmt, dass Strafen abgearbeitet werden sollten. Die Vergehen, für die das Ratsgericht zum Ausgleich der Strafe Naturalien ansetzte, waren sehr vielfältig. Besonders häufig war es Feldschaden, dessen Verursachung durch Hafer oder Saathafer ersetzt werden sollte. 26 Daneben wurden auch Holzfrevel, 27 wildes Tanzen, 28 die Nichtleistung von Hand- und Spanndiensten 29 und anderes mehr mit der Abgabe von Hafer bestraft. Hafer scheint neben Geld eines der wichtigsten Zahlungsmittel im Duderstadt des Vgl. zum Beispiel UB Dud. (wie Anm. 8), 1885, Nr. 521, § 43a. Vgl. StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 70 recto. 24 Fricke hat nachgewiesen, dass im Duderstadt des 17. Jahrhunderts die Steuerzahlungen zu einem Achtel aus anderen Leistungen als Geldzahlungen bestanden. Vgl. HansReinhard F RICKE , Steuerpflicht und Steuerzahlung in Duderstadt im 17. Jahrhundert. In: Eichsfeld. Jahrbuch Jg. 3/1995, S. 68-95, hier S. 92. 25 Vgl. Jaeger, Verfassung und Verwaltung (wie Anm. 7), Teil 6, 1909, S. 98. 26 Vgl. zum Beispiel StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 23 verso, 39a verso, 40a verso und 140 verso. 27 Vgl. StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 22 recto. 28 Vgl. StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 4 verso und 4 recto. 29 Vgl. StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 25 verso. 22 23

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16. Jahrhunderts gewesen zu sein. Daneben wurden die Strafen auch in anderen Naturalleistungen festgelegt. So sollte zum Beispiel Tile Nachweyden als Buße für den von ihm begangenen Hausfriedensbruch 200 Ziegel liefern. 30 Es ist anzunehmen, dass der Rat die Ziegel für den groß angelegten Rathausumbau, der zu Beginn der 1530er Jahre vorgenommen wurde, benötigt hatte. 31 Nur sehr wenige der Vergehen, die im Strafbuch verzeichnet sind, wurden von Frauen begangen. Von diesen sollten immerhin drei Frauen ihre Strafe durch die Abgabe von Leinwand begleichen. Die Tochter von Anna Fischer hatte für die Schlägerei mit einer Magd einen halben Schock Leinwand abzuliefern. 32 Ähnlich erging es Anna Schrader und Peter Peters Frau, die aufgrund von zwischen ihnen entstandenen Streitigkeiten jeweils einen Schock Leinwand zur Tilgung ihrer Strafe abtreten sollten. 33 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass das Gericht in anderen Fällen für die gleichen Vergehen eine Geldstrafe verhängt hatte. Daher besteht Grund zu der Annahme, dass die Art der Ableistung der Strafe Verhandlungsgegenstand gewesen ist. Ferner bestand die Möglichkeit, eine vom Gericht angesetzte Geldstrafe durch Hafer 34 oder andere Naturalien abzuleisten. Diese Behauptung wird durch die Tatsache belegt, dass zum Beispiel Clawes Hartoge aus Seulingen einen Teil seines Strafgeldes durch die Lieferung von Saathafer 35 beglich. Auch Hoeße von Bernshausen überbrachte dem Rat für einen Teil seiner Schuld Fische anstelle von Geld. 36 Ebensogut konnte die Strafe auch dadurch abgegolten werden, dass Wagennaben 37 für den Rat hergestellt oder Fuhrdienste geleistet 38 wurden. Hans Hypkenbecker arbeitete sein Strafgeld ab. 39 Zum Ausgleich der Unkosten, die Bestian aus Gerblingerode aufgrund seiner Verpflegung im Gefängnis verursacht hatte, verrichtete er Arbeiten für den Stadtrat. 40 Bei der Festlegung der Strafen war in seltenen Fällen die Option offengelassen worden, in welcher Form die Strafe abgeleistet werden sollte. So ließ der Rat Engelhart die Möglichkeit offen, für Spielen entweder eine Mark zu Vgl. StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 21 recto. Vgl. Rechnungen und Verträge des Rates mit den Handwerkern für den Rathausbau bei Fricke, Hans-Reinhard, Dokumentation. In: Hans-Herbert M ÖLLER (Hrsg.), Das Rathaus in Duderstadt. Zur Baugeschichte und Restaurierung (Forschungen der Denkmalpflege in Niedersachsen, Bd. 6), Hameln 1989, S. 293-302, hier S. 294-298. 32 Vgl. StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 33a verso. 33 Vgl. StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 7 verso. 34 Vgl. zum Beispiel StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 11a verso, 35 verso, 40a recto, 50 verso, 56 verso, 109 recto, 130 recto. 35 Vgl. StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 11a verso. 36 Vgl. StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 40 verso. 37 Vgl. StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 36a verso. 38 Vgl. StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 32a verso. 39 Vgl. StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 7 verso. 40 Vgl. StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 38a recto. In Duderstadt war es üblich, dass die Gefangenen für ihr Kostgeld selbst aufkommen mußten. Vgl. zum Beispiel StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 23 recto, 63 recto, 2a verso und die Rechnungsbücher für den Zeitraum von 1530 bis 1546 unter dem Rubrum vor fangenkoest. 30 31

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bezahlen oder 2 Schock Stroh zu schneiden. 41 Für das gleiche Vergehen, das Spielen, konnte die Strafe aber auch aufgesplittet werden, wie es bei Melcheren Garmaren der Fall war. Er sollte eine Mark bezahlen, einen Molder Hafer und einen Schock irgendeines anderen Gutes liefern. 42 Die Delinquenten, die ihre Schuld selbst bezahlten, gaben das Geld nicht immer persönlich bei den zuständigen Stellen (im Rathaus, 43 bei Gericht 44 oder dem Schultheißen 45) ab. Zu dieser kleinen Gruppe von Übeltätern gehörten wohl einige wenige Dorfbewohner, die den weiten Weg in die Stadt scheuten und das Geld jemand anderem zur Übergabe mitgegeben hatten. Für einige Fälle ist nachweisbar, dass es sich bei den Überbringern der Bußgelder um Mitglieder des Ratskollegiums, deren Bedienstete (einen Wartmann, den Knickmeister oder den Arzt) oder auch um einen Viermann 46 handelte, die vermutlich die Strafgelder sowohl bei den in den Dörfern ansässigen Delinquenten, als auch bei denen, die in der Stadt wohnten, angemahnt und in deren Namen abgeliefert hatten. Eine weitere Gruppe von Straftätern, die das Geld nicht persönlich abgeben konnten, waren diejenigen, die sich im Gefängnis befanden, wie in den Fällen von Hans Beithe und Hans Henze vermutet werden kann. 47 Ein Hinweis darauf, dass Frauen in Duderstadt Geldangelegenheiten mit amtlichen Stellen regeln konnten, ist die Tatsache, dass in zwei Fällen die Ehefrau das Geld überreichte. 48 Diese Behauptung wird aufgrund von zwei weiteren Strafbucheintragungen erhärtet, aus denen hervorgeht, dass auch Witwen die Strafgelder für andere Männer bei den zuständigen Stellen ablieferten. In diesen beiden Fällen läßt sich vermuten, dass Hans Beithe und Hans Henze zur Zeit der Strafgeldzahlung im Gefängnis saßen. Anhand der sehr kurz gehaltenen Vermerke im Strafbuch, die über die Zahlungseingänge für Hans Beithe Auskunft geben, bei denen die Witwe Griß und Heine Beckman als Überbringer der Geldbeträge aufgetreten waren, läßt sich entnehmen, dass in diesem Zusammenhang kein Unterschied zwischen Mann und Frau gemacht wurde. 49 Grundsätzlich kommt der Delinquent für sein Strafgeld selbst auf. Anhand von wenigen Beispielen wird deutlich, dass auch die Möglichkeit bestand, Vgl. StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 36a recto. Vgl. StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 29a recto. 43 Vgl. StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 51 verso. 44 Vgl. StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 62 verso, 9a recto, 12a recto, 14a recto, 33a recto und 33a verso. 45 Der Schultheiß Wulfgang Stehlin wurde auch licenciat genannt. Vgl. StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 51 recto. 46 Die Viermänner aus dem Kreis der Gilden waren mit den Kämmerern gemeinsam für die Verwaltung der Stadtfinanzen zuständig und verantwortlich. 47 Vgl. StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 68 recto, 50 recto. 48 Vgl. StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 22a recto, 37a recto. 49 Vgl. StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 50 recto. 41 42

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dass andere, meist Familienmitglieder oder Verwandte, die Zahlung des Strafgeldes übernahmen. 50 Manchmal mußten die Bürgen 51 oder die Erben 52 für die Strafgeldzahlung einstehen. Unter der Annahme, dass die Geldgeber vor Gericht die Zahlungen direkt zugewiesen bekamen, ist es wahrscheinlich, dass die Missetäter selbst zahlungsunfähig waren. Diese Vermutung könnte unter anderem in den Fällen zutreffen, in denen jemand das Strafgeld anstelle seines Schwagers zu leisten hatte. 53 Bei der Mehrzahl der Übeltäter handelte es sich um die Ehefrau 54 oder den Sohn 55 desjenigen, der die Zahlung leisten sollte, also Personen, die im gleichen Haus wohnten. Zu diesem Personenkreis zählte unter Umständen auch der Bruder 56 des Geldgebers. Hierbei könnte eine Rolle gespielt haben, dass der Hausherr für das Verhalten der Familienmitglieder verantwortlich war und daher auch zu Strafzahlungen herangezogen wurde. 57 Die Strafbucheintragungen wurden hauptsächlich so gestaltet, dass der Delinquent und das Strafgeld genannt wurden. Zu den Bewohnern eines Hauses in der frühen Neuzeit zählten die Familie, unverheiratete Geschwister des Hausherrn und das Gesinde, 58 deshalb wurden die Eintragungen des Täternamens im wesentlichen nach folgendem Schema gestaltet: Wenn der Täter der Hausherr selbst war, wurde dessen Name in das Strafbuch eingetragen. Hatte aber ein anderes Mitglied der Hausgemeinschaft die Tat begangen, setzte sich der Name des Täters aus dem Namen des Hausherrn bzw. Familienoberhauptes und einem Zusatz zusammen. Der Zusatz gab an, ob es sich um den Sohn des Hausherrn (Tile Owden ßon 59), seine Frau (Peter Peters frawe 60), seinen Bruder, eine Bedienstete (Jacob Henckelen mageth 61) oder einen Bediensteten (Claweß Grotzen knecht 62) handelte. Ein Grund für die Gestaltung der Namen in den Strafbucheintragungen nach diesem Schema ist darin zu sehen, dass der Kämmereischreiber genau wissen mußte, wer welchen Betrag zu entrichten hatte. Damit es auch bei Namensgleichheit nicht zu Verwechslungen kommen konnte, wurde, falls notwendig, zusätzlich der Beruf des

50 Auch die Steuerzahlungen im Duderstadt des 17. Jahrhunderts erfolgten nicht nur vereinzelt durch andere Personen als dem Steuerpflichtigen selbst. Meist handelte es sich um Familienmitglieder, die sich untereinander bei den Steuerzahlungen unterstützten. Vgl. F RICKE , Steuerpflicht (wie Anm. 24), 1995, S. 91/92. 51 Vgl. StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 8a recto. 52 Vgl. StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 27a recto. 53 Vgl. StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 3a verso. 54 Vgl. zum Beispiel StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 35 recto und 40 verso. 55 Vgl. StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 38 verso und 6a verso. 56 Vgl. StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 13 recto und 15a recto. 57 Vgl. Richard van D ÜLMEN , Kultur und Alltag in der frühen Neuzeit. Bd. 1: Das Haus und seine Menschen 16.-18. Jh., München 1990, Seite 14. 58 Vgl. ebd., 1990, S. 23. 59 StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 60 recto. 60 StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 7 verso. 61 StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 85 verso. 62 StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 1 verso.

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Missetäters dem Namen hintangestellt: Philippus Moringk, custos 63 oder Philippus Morick, knochenhaweren. 64 Trat die Gleichnamigkeit jedoch innerhalb der engeren Familie auf, so wurde dem Namen ein junioren bzw. ßenioren hinzugefügt. Die Durchsetzung der Familiennamen bzw. der Zweinamigkeit, mit der auch weitgehend die der Spitznamengebung einherging, hatte sich schon im 13./ 14. Jahrhundert vollzogen. 65 Im Laufe der Zeit verdrängten die Familiennamen die Spitznamen, 66 so daß im Duderstädter Strafbuch, das in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts geführt wurde, lediglich einige Relikte an die mittelalterliche Spitznamengebung erinnern. Eine Variante war die Nennung des Vornamens im Zusammenhang mit einem körperlichen Merkmal, 67 wie zum Beispiel der hinckende Lips oder die blinde Kethe. 68 Gerade auch bei diesen Beispielen wird eindeutig gewesen sein, wer gemeint war. Neben der Zahlung des Strafgeldes in voller Höhe war es üblich, die Strafe durch Teilzahlungen abzutragen. Dabei bestand die Möglichkeit, Teilzahlungen in Naturalien und in Geld miteinander zu kombinieren. 69 Betrug ein Strafgeld 16 Duderstädter Mark oder mehr, dann legte das Gericht von sich aus zwei Zahlungstermine fest, an denen jeweils die Hälfte des Strafgeldes zu zahlen war. 70 In einem Fall wurde bei einer geringeren Geldbuße nach einem ähnlichen Prinzip verfahren: Dem Delinquenten wurde die Wahl gelassen, einen Teil bis zu einem bestimmten oder die ganze Summe zu einem späteren Termin zu bezahlen. 71 Häufig wurden Zahlungsfristen von 8 oder 14 Tagen 72 in das Strafbuch eingetragen, selten bestimmte Termine angegeben wie habet tidt usque Osteren 73 oder up dey Binachten to leystende. 74 Aufgrund der Kürze der Eintragungen ist zu vermuten, dass die Zahlungsfristen zwar bei allen Strafgeldern festgesetzt, sie in den meisten Fällen jedoch nicht in das Strafbuch eingetragen wurden. Die Praxis bei Teilzahlungen war die folgende: Ging eine Teilzahlung ein − ob innerhalb der festgelegten Frist oder nicht, ist oftmals nicht nachvollziehbar −, wurde eine neue Zahlungsfrist für den Restbetrag,

StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 69 verso. StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 70 recto. Die Namensschreibung differiert häufig. 65 Vgl. Norbert S CHINDLER , Widerspenstige Leute. Studien zur Volkskultur in der frühen Neuzeit, Frankfurt 1992, S. 80, und Ernst S CHWARZ , Deutsche Namenforschung. Bd. 1: Ruf- und Familiennamen, Göttingen 1949, S. 160. Diese Veröffentlichung enthält eine zusammenfassende Darstellung über die Entstehung und Entwicklung der Ruf- und Familiennamen. 66 Vgl. S CHINDLER , Widerspenstige Leute (wie Anm. 65), S. 84. 67 Vgl. ebd., S. 88. 68 Vgl. StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 7a recto. 69 Vgl. zum Beispiel StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 50 verso. 70 Vgl. StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 38 verso und 39 recto. 71 Vgl. StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 5 recto. 72 Vgl. StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 36 recto, 38 recto, 36a recto und 36a verso. 73 StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 22a recto. 74 StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 67 verso. 63 64

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welche meistens 14 Tage betrug, festgelegt. 75 In dem Fall von Michel Juneman wurde angedroht, die Strafe und ane gnade und behelp von fünf auf zehn Duderstädter Mark zu verdoppeln, falls er die fünf Mark nicht innerhalb von 14 Tagen abgeleistet hätte. 76 Dies ist das einzige Beispiel für Härte in der Verfahrensweise mit Zahlungen, das in dem Strafbuch zu finden ist. In der frühen Neuzeit war es gängige Praxis, dass die Obrigkeit aus Rücksicht auf die finanziellen Verhältnisse der Delinquenten zu einem Verzicht auf die angesetzten Strafgelder oder zu einer Strafgeldminderung bereit war. 77 Auch in Duderstadt wurden den Missetätern unter bestimmten Bedingungen die Strafgelder ganz oder teilweise erlassen. Dabei stand die finanzielle Situation des einzelnen Übeltäters im Vordergrund, so zum Beispiel bei Hans Knippingk, der mit seinen Schweinen Feldschaden verursacht hatte. Der Eintrag seines Vergehens im Strafbuch wurde mit den Worten Ist vor nith, ist vorarmeth 78 kommentiert. Hier wird deutlich, dass ihm das Strafgeld aus Rücksichtnahme auf seine Armut erlassen worden war. Auch das Vergehen, der Feldschaden, deutet darauf hin, dass er die Schweine nicht ausreichend füttern konnte und sie deshalb auf fremde Wiesen und Felder getrieben hatte. Bei Levin Busch war die Sachlage ähnlich. Er bekam ebenfalls aufgrund von verursachtem Feldschaden ein Strafgeld zugewiesen, das nach seinem Tod mit der Begründung erlassen wurde, dass er in armode gestorven 79 sei. Auch Henrich under dem damme wurde nach seinem Tod das Bußgeld für den verursachten Feldschaden erlassen. 80 Es ist anzunehmen, dass häufig von der Einmahnung der Strafgelder abgesehen wurde, wenn die Delinquenten verarmt bzw. nicht zahlungsfähig oder verarmt gestorben waren. 81 In einem anderen Fall nämlich − wie bereits oben erwähnt − mußten die Erben für das Strafgeld des Verstorbenen aufkommen. 82 Ebenso wie die Armut konnte ein schwerer Schicksalsschlag der Grund für die Erlassung des Strafgeldes sein. Von den zwölf Männern aus Seulingen, die Holzfrevel begangen hatten, waren fünf in einem Feuer umgekommen oder durch Feuer ihres Besitzes beraubt worden. Infolgedessen wurde auf das Strafgeld, das diese fünf Männer hätten entrichten müssen, verzichtet. 83 Vielleicht sind es dieselben oder ähnliche Gründe, aufgrund derer das Strafgeld auch den Delinquenten erlassen wurde, die sich an das Ratsgericht wandten, um die Erlassung des Strafgeldes oder eines Teilbetrages davon zu erreichen. Der Fall von Henrich Nigeroth ist nur ein Beleg dafür, dass eine

Vgl. StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 27a verso. StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 39a recto. 77 Vgl. Michael F RANK , Dörfliche Gesellschaft und Kriminalität. Das Fallbeispiel Lippe 1650-1800, Paderborn [u.a.] 1995, S. 189-191. 78 StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 94 recto. 79 StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 93 recto. 80 Vgl. StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 93 recto. 81 Vgl. auch StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 9a verso. 82 Vgl. StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 27a recto. 83 Vgl. StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 64 verso. 75 76

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solche Bitte durchaus erfolgreich sein konnte. 84 Vermutlich baten auch die Delinquenten, die einen Teil ihres Strafgeldes direkt beim Gericht ablieferten, um die Erlassung der Restschuld. Die Quelle gibt darüber jedoch keine genauere Auskunft. Es ist dennoch festzustellen, dass Strafgelderlassungen, meist von Teilbeträgen, relativ häufig gewährt wurden. Man könnte annehmen, dass eine Strafgelderlassung sowohl zu Lasten des Schultheißen bzw. des Landesherrn als auch des Rates gegangen war, da generell beiden jeweils die Hälfte der Einnahmen aus den Strafgeldern zustand. In einigen Strafbucheintragungen ist dies auch ausdrücklich festgehalten. Bemerkenswert ist jedoch, dass es zwar Hinweise darauf gibt, dass ausschließlich der Anteil des Rates von der Erlassung des Strafgeldes betroffen war, aber keine darauf, dass allein der Schultheiß davon betroffen war. Daher ist anzunehmen, dass der Rat im Umgang mit den Delinquenten nachsichtiger war als der Schultheiß. Darüber hinaus kann vermutet werden, dass sich darin die Antipathie zwischen Rat und Schultheißen ausdrückte, nämlich dann, wenn der Rat bei dem einen oder anderen Vergehen nicht mit dem Urteil des Schultheißen, der der Vorsitzende des Gerichts war, übereinstimmte. Vielleicht war es eine Möglichkeit, Mißfallen auszudrücken, indem der Rat auf seine Hälfte des Strafgeldes verzichtete. Ein vager Hinweis darauf, dass es sich tatsächlich so zugetragen haben könnte, ist die Bemerkung des rades deil ist loeß gegeven nach gestalt deren sache. 85 Dies wäre zugleich auch die Erklärung dafür, dass kein Straferlaß allein zu Lasten des Schultheißen geht, da ihm als Gerichtsvorsitzendem das letzte Wort bezüglich des Urteils zustand. Auch der Vogt vom Rusteberg, der Vertreter der übergeordneten Instanz, besaß das Recht, Strafgelder zu erlassen. Er machte jedoch nur in sehr seltenen Fällen davon Gebrauch. 86 Gesondert zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang noch diejenigen Strafgelder, die vom Rat abgeschrieben werden mußten, weil die Delinquenten nicht mehr greifbar waren. Pancratius Kopman zum Beispiel war weggezogen und Hans Theypell weggelaufen, ohne vorher das Strafgeld zu entrichten. Auch Philippus Morick hatte die Stadt verlassen, nachdem er erklärt hatte, dass er sein Strafgeld nicht bezahlen wollte. Ob er ausgewiesen wurde − dies ist eher anzunehmen − oder freiwillig die Stadt verließ, geht aus der Quelle nicht hervor. 87 Die Abhängigkeit des einzelnen Delinquenten von einer ordnungsgemäßen Buchführung zeigt sich in dem Fall von Hans Fygen. Dieser behauptete, von den zehn Mark, die er dafür bezahlen mußte, dass er seiner Mutter blutende Verletzungen zugefügt hatte, fünf Mark bereits gezahlt zu haben. Zunächst 84 Vgl. StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, den eingelegten Zettel zwischen fol. 73 verso und 74 recto. 85 StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 36a recto. 86 Vgl. zum Bespiel StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 9 recto, 66 recto und 8a recto. 87 Vgl. StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 9a recto.

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war die Zahlung nicht ausfindig zu machen. Erst später − wie die Benutzung einer anderen Tinte für den Eintrag dokumentiert − hatten sich die fünf Mark wieder angefunden. 88 Soviel Glück war nicht jedem beschieden. Auch Jacob Rekershußen erklärte, dass er sieben von zehn Mark bereits bezahlt hatte, als er die verbleibenden drei Mark abliefern wollte. Dieses Geld konnte jedoch nicht mehr aufgefunden werden. 89 Ob diese Zahlung tatsächlich geleistet wurde, ist fraglich. Eine Eintragung im Strafbuch darüber ist nicht vorhanden. Im Strafbuch wurden die Gerichtstermine häufig nicht vollständig notiert. Mal fehlt das Datum, mal die Jahreszahl. Anhand der wenigen vollständig ausgeschriebenen Gerichtstermine können keine eindeutigen Aussagen über die Häufigkeit der Gerichtssitzungen gemacht werden. Es ist jedoch anzunehmen, dass das Ratsgericht alle zwei Wochen tagte, da es sich bei diesem Zeitraum um den kleinsten handelt, der zwischen den nachvollziehbaren Gerichtsterminen feststellbar ist. 90 Diese Vermutung wird durch die Behauptung von Jaeger unterstützt, die sich allerdings auf die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts bezieht, das Ratsgericht habe alle zwei Wochen getagt. Jaeger nennt für dieselbe Zeit als Gerichtstage den Mittwoch, den Freitag und den Samstag. 91 Auch in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts liegen die Gerichtstermine in der überwiegenden Zahl der Fälle auf einem Freitag, 92 nicht ganz so häufig auf einem Mittwoch 93 und sehr selten an anderen Wochentagen. Darauf aufbauend kann gemutmaßt werden, dass sich über die Jahrhunderte hinweg in bezug auf die Gerichtstage und den Turnus der Gerichtssitzungen nicht viel geändert hat. Die Frage, ob bestimmte Termine für die Annahme der Zahlungen von den zuständigen Stellen festgelegt wurden, muß offen bleiben, da die Quelle auch in diesem Fall keine eindeutigen Angaben enthält. Es entsteht jedoch der Eindruck, dass die Zahlungen nahezu jederzeit − auch sonntags 94 − entgegengenommen wurden. In Ausnahmefällen ist nachvollziehbar, dass der Gerichtstermin auch der Zahlungstermin für Strafgelder sein konnte. 95 Eine Vgl. StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 11a verso. Vgl. StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 14a recto. 90 Vgl. StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 9 recto, 22 recto, 37 recto, 37 verso. Die Gerichtstermine für das Jahr 1530 lagen am 18. März, 29. April, 18. Mai, 9. Juli, 1. September. Ab dem 18. März in zwei Wochenschritten gezählt, passen alle diese Termine, auch wenn die Abstände zwischen den einzelnen Datumsangaben meist mehr als zwei Wochen betragen, in diesen Rhythmus. 91 Vgl. Julius J AEGER , Bilder aus der Goldenen Mark Duderstadt, Bd. 1-2, Duderstadt 1921-22, hier Bd. 2, 1922, S. 10. 92 Vgl. zum Beispiel StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 9 recto, 22 recto, 37 recto und 39 verso. 93 Vgl. zum Beispiel StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 9 recto und 37 verso. 94 Vgl. zum Beispiel StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 5a verso, 50 recto, 95 Vgl. StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 4 verso (15. September 1531) und 39 verso. 88 89

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dahingehende Vermutung wird durch die Tatsache erhärtet, dass das Gericht hin und wieder − allerdings ohne Angabe eines Datums − Zahlungsort war. 96 Neben der Zahlung vor Gericht konnte das Geld auch auf dem Rathaus, 97 beim Licentiaten 98 oder dem Schultheißen abgeliefert werden. Die Einnahmen aus den Strafgeldern stehen zur einen Hälfte dem Rat und zur anderen Hälfte dem Kurfürsten zu, der in Duderstadt durch den Schultheißen repräsentiert wurde. 99 Ausnahmen von dieser Regelung waren die Einnahmen aufgrund von Feldfreveln und auch von Vergehen an den Bediensteten sowie an dem Eigentum des Rates, die diesem in voller Höhe zustanden. Darunter fallen zum Beispiel das Schlagen des Flurschützen 100 oder das Stoßen von Personen in den Branntweinbottich. 101 Da der Rat auch das Gefängnis unterhielt und vorläufig die Unkosten für die Versorgung der Gefangenen trug, erhielt er als Ersatz Kostgeldzahlungen von den Delinquenten oder ließ die entstandenen Unkosten von ihnen abarbeiten. 102

3.2. Abrechnung der Einnahmen aus den Strafgeldern mit dem Vogt vom Rusteberg Einmal im Jahr wurde eine umfangreiche Abrechnung über die Einnahmen aus den Strafgeldern unter Aufsicht des Vogtes vom Rusteberg, Kunze Gutjahr, vorgenommen. Bei dieser Abrechnung waren neben dem Vogt vom Rusteberg der Schultheiß, die Ratsherren und die Viermänner, also die Vertreter aus dem Kreise der Gilden, welche mit den Kämmerern gemeinsam für die Stadtfinanzen zuständig waren, anwesend. 103 Dem Vogt vom Rusteberg stand − wie oben erwähnt − die Hälfte der Strafgelder zu. Die Einnahmen aus den Feldfreveln hingegen fielen alleine an den Rat. Der Vogt orientierte sich mit seinen Forderungen nicht an den Einnahmen aus den Strafgeldern. Er beanspruchte die Hälfte der Strafgelder, die als Forderungen in das Strafbuch eingetragen worden waren. Über die noch ausstehenden Strafgelder heißt es bei der Abrechnung im Jahr 1534, die hefft

96 Vgl. zum Beispiel StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 9a recto, 12a recto, 33a verso und 62 verso. 97 Vgl. StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 51 verso. 98 Vgl. StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 51 verso. 99 Vgl. W OLF , Duderstadt (wie Anm. 19), Bd. 1, 1803, S. 316. Diese Behauptung läßt sich für den Anfang des 16. Jahrhunderts auch anhand des Strafbuches bestätigen. Besonders eindeutige Beispiele finden sich: StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 1a recto, 12a verso und 13a recto. 100 Vgl. StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 60 recto. Diese Vermutung stützt sich auf die Bemerkung: Tile Owden tenetur 20 marck dem rade. Auch die Gerichtsgebühren von zwei Hochgewedden waren dem rade zu zahlen. 101 Vgl. StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 22a recto. Diesem Strafbucheintrag wurde die Bemerkung hinzugefügt: [g]ehort dem rade alleine. 102 Vgl. StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 2a verso. 103 Vgl. StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 59 verso.

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die radt in tho manende alleine und der schulze ßin part enweck. 104 Für das Jahr 1533 wurden Strafgelder in Höhe von 90 Mark in das Strafbuch eingetragen. Die Hälfte, also 45 Mark, standen dem Vogt zu. Sie wurden ihm jedoch nicht als Gesamtsumme ausgezahlt. Der Vogt hatte bereits im Vorfeld eine Teilzahlung von zehn Mark erhalten, die ebenso von den 45 Mark abgezogen wurden, wie weitere zehn Mark, 19 Göttingische Schillinge und 2 Goßler, für die die Mainzer Räte bei ihrem Besuch in Duderstadt Bier und Wein konsumiert hatten. 105 Die restlichen 24 Mark und 4 Goßler blieb der Rat dem Vogt zunächst schuldig. Die Abrechnungen der anderen Jahre gestalteten sich ähnlich. Auch von den 44 Mark, die dem Vogt als Anteil an den Forderungen aus Strafgeldern für das Jahr 1534 zustanden, wurden fünf Mark und vier Göttingische Schillinge für den Wein abgezogen, den die Fürstin von Braunschweig bei ihrem Besuch in Duderstadt im Haus von Magister Stromeiger getrunken hatte. 106 Die Duderstädter bezahlten die Forderungen des Vogtes aber nicht als Gesamtsumme, sondern meist in Teilbeträgen, wie bereits angedeutet wurde.

3.3.

Zahlungsmoral

Die Zahlungsmoral hinsichtlich der Strafgelder war in Duderstadt in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts nicht besonders gut. Anhand der wenigen Eintragungen, bei denen das Datum der Gerichtsverhandlung und die Daten der Zahlungseingänge verzeichnet wurden, wird deutlich, dass der zeitliche Abstand in diesen Fällen von einem halben bis zu zwei Jahren reichte. Heinrich mit dem Bart, der Krämer, wurde für das Vergehen, sich als Priester verkleidet zu haben, am 18. Mai 1530 von dem Ratsgericht dazu verurteilt, sechs Duderstädter Mark zu bezahlen. Die erste Teilzahlung von zwei Mark, ging am 13. August 1531 ein, die zweite von einer Mark am 19. Mai 1532. Damit hatte dieser nach fast zwei Jahren gerade einmal die Hälfte des Strafgeldes entrichtet. 107 Auch die Zahlungsfristen, die − wie angenommen − vom Gericht in jedem Fall festgesetzt worden waren, fanden wenig bis überhaupt keine Beachtung. Steffan Hoheren wurde am 1. September 1531 dazu verurteilt, innerhalb von 14 Tagen zehn Duderstädter Mark zu bezahlen. Nach sieben Monaten ging von ihm eine Teilzahlung von fünf Mark ein. 108 Diese Beispiele zeigen, dass die Stadtkasse nicht mit einem regelmäßigen Einkommen aus den Strafgeldern rechnen konnte. Noch weniger konnten die Kämmerer darauf vertrauen, dass diese in voller Höhe abgetragen wurden. Im Gegenzug wird es wahrscheinlich aber auch keine Verjährung von Strafgeldern gegeben haben.

104 105 106 107 108

StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 53 recto. Vgl. StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 53 recto. Vgl. StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 59 recto. Vgl. StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 37 verso. Vgl. StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 38 recto.

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Vermutlich aufgrund der schlechten Zahlungsmoral kamen Eintragungen zustande, die sich nicht nur auf die Zahlungsfähigkeit der Betroffenen − wie bereits oben ausgeführt −, sondern auch auf ihre Zahlungswilligkeit beziehen. Nach dem Urteil des Ratsgerichts hatte Bartolomeus Morick Senior eine falsche Zeugnisaussage über Casper Stolteheyße gemacht. Dem Eintrag im Strafbuch ist zu entnehmen, dass Morick nicht bereit war, das Strafgeld von zweieinhalb Mark zu entrichten. Es ist daher anzunehmen, dass er mit dem Urteil des Ratsgerichtes nicht einverstanden war. 109 Auch der Strafbucheintrag über das Vergehen seines Sohns Philippus wurde mit dem Kommentar woll nichts geven ergänzt. Dem wurde außerdem noch hinzugefügt, dass Philippus die Stadt verlassen hatte. 110 Weiterhin wurde − wenn auch nur in Einzelfällen − im Strafbuch festgehalten, dass jemand bereit war, sein Strafgeld zu entrichten. Dem Strafbucheintrag von Hans Tilebole wurde in einer anderen Tinte nachträglich die Bemerkung hefft wille hinzugefügt. 111 Wahrscheinlich hatte er, nachdem er bereits zwei Mark von seinem Strafgeld abgetragen hatte, bei einer Zahlungserinnerung kundgetan, dass er den ausstehenden Forderungen nachkommen wollte. Die ausführliche Abrechnung der Strafgelder aus dem Jahr 1532 läßt erkennen, dass die Duderstädter und die Bewohner der umliegenden Dörfer nicht mit einer besonders guten Zahlungsmoral ausgestattet waren. Verzeichnet waren Forderungen in Höhe von 334 Mark. Es ist anzunehmen, dass bereits einige Mahnungen erfolgt waren, bevor ungefähr 220 Mark der ausstehenden Strafgelder eingetrieben werden konnten. Die Außenstände betrugen demnach 114 Mark. Daran kann abgelesen werden, dass ungefähr ein Drittel der Strafgelder nicht bezahlt worden war. 112 Die anderen Abrechnungen mit dem Vogt vom Rusteberg wurden nicht so detailliert im Strafbuch festgehalten. Daher und aufgrund der zwischen den Abrechnungslisten auftauchenden Einträge über Einnahmen entsteht der Eindruck, dass im Jahre 1532 besondere Mühe darauf verwandt wurde, die ausstehenden Strafgelder einzumahnen. Für die Folgejahre wurden die Zahlungseingänge nicht in dem Maße in das Strafbuch eingetragen. Die Rechnungsbücher jedoch geben Auskunft über die Einnahmen aus den Strafgeldern. 1533 betrugen sie circa 47 Mark, 1534 circa 9 Mark und 1535 circa 85,5 Mark. 113 Die Abweichungen bei den Einnahmen aus den Strafgeldern sind beträchtlich. Da manche Zahlungseingänge jedoch erst wesentlich verzögert erfolgten, ist zu berücksichtigen, dass sich unter den Zahlungseingängen auch immer Strafgelder befanden, die anderen Jahren zugeordnet werden müssen. Im Schnitt nahm die Stadtkasse pro Jahr nur circa 47 Mark ein. Dies 109 Vgl. StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, den eingelegten Zettel zwischen fol. 73 verso und 74 recto. 110 Vgl. StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 9a recto. 111 StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 9a verso. 112 Vgl. StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 38 recto bis 52 recto. 113 Vgl. StadtA. Dud., AB 92, fol. 52 recto, AB 93, fol. 49 verso und AB 94, fol. 49 recto und 49 verso.

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war ungefähr die Hälfte von dem, was an Forderungen in das Strafbuch eingetragen wurde und gleichzeitig der Anteil, den der Vogt vom Rusteberg beanspruchte. Die schlechte Zahlungsmoral der Duderstädter in Bezug auf die Strafgelder war ebensowenig ein Einzelfall wie die vom Ratsgericht beschlossenen Strafminderungen oder Straferlässe. 114 Auch Schwerhoff hat für Köln festgestellt, dass die Bestrafung durch Geldbußen flexibel erfolgte und der Magistrat sich häufig mit der Summe zufriedengab, die ein Täter aufbringen konnte. 115 Dieselbe Praxis konnte Gudian anhand von Gerichtsprotokollen für das 14. und 15. Jahrhundert im mittelrheinischen Raum feststellen. Er vertritt darüber hinaus die Ansicht, dass die Gerichtsherren die Täter nicht nur aus Selbstlosigkeit geschont hatten, sondern hinter der Milde ein wirtschaftliches Interesse stand. Es galt, die Täter wirtschaftlich nicht zu ruinieren, um sie als Abgabepflichtige zu erhalten. 116 Auch der Duderstädter Rat verfolgte mit Strafminderungen oder Straferlässen eine sozial orientierte Politik. Als Beleg dafür sind zum Beispiel die bereits erwähnten Straferlässe aufgrund von Armut anzuführen. Das Anmahnen der Strafgelder durch die Ratsbediensteten oder Ratsmitglieder zeigt, dass versucht wurde, zumindest einen Teil der Strafgelder einzunehmen. Andererseits mußte die Obrigkeit auch deshalb darauf achten, dass möglichst viele Strafgelder eingenommen wurden, um ihre Autorität aufrechtzuerhalten. Sie mußte ihren Forderungen Nachdruck verleihen, weil sich sonst niemand mehr an die Verbote des Rates und die Paragraphen der Statuten gehalten hätte, die öffentliche Ordnung also gelitten hätte, wenn die Täter von vornherein davon ausgehen konnten, dass die vom Ratsgericht verhängten Strafgelder lediglich symbolischen Charakter haben. Die Einnahmen aus den Strafgeldern waren für die Stadtkasse kein kalkulierbarer Posten, da sie von Jahr zu Jahr variierten. 1532 wurden besonders viele Vergehen begangen, so dass Strafgeldforderungen von 334 Mark in das Strafbuch eingetragen worden waren. 1533 hingegen betrugen die Strafgeldforderungen nur noch 90 Mark. In der Folgezeit pendelten sie sich bei circa 100 Mark pro Jahr ein. 117 Bei diesen Einnahmen handelte es sich im Vergleich zu den Steuereinnahmen, die über die Hälfte der Jahreseinnahmen des städtischen Etats ausmachten, um eine unbedeutende Summe. 118 Sie wurde für die Stadt noch dadurch verringert, dass der Vogt vom Rusteberg die Hälfte der 114 Fricke weist in seinem Aufsatz über die Steuerpflicht und Steuerzahlungen in Duderstadt im 17. Jahrhundert ebenfalls auf die schlechte Zahlungsmoral der Duderstädter hin. Daraus wird ersichtlich, dass die finanzielle Situation der Stadt Duderstadt nicht nur aufgrund der niedrigen Einnahmen aus den Strafgeldern, sondern auch aufgrund des unvollständigen Steueraufkommens beeinträchtigt wurde. Vgl. F RICKE , Steuerpflicht (wie Anm. 24), 1995, S. 68-95. 115 Vgl. S CHWERHOFF , Köln im Kreuzverhör (wie Anm. 5), 1991, S. 138. 116 Vgl. G UDIAN , Geldstrafrecht (wie Anm. 1), 1976, S. 280. 117 Vgl. StadtA. Dud., AB 4251 und AB 4251a, fol. 46 verso, 53 recto, eingelegter Zettel zwischen 73 verso und 74 recto. 118 Vgl. J AEGER , Verfassung und Verwaltung (wie Anm. 7), Teil 4, 1908, S. 120.

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festgelegten Forderungen pro Jahr beanspruchte und an Zahlungseingängen im Höchstfall zwei Drittel der Summe, in der Regel eher die Hälfte oder weniger verbucht werden konnten. Im besten Fall erzielte die Stadt Duderstadt immerhin einen geringen Reinertrag wie zum Beispiel 1532. Generell schien es jedoch so zu sein, dass mit den Einnahmen gerade einmal die Forderungen des Vogtes vom Rusteberg beglichen werden konnten oder aufgrund der schlechten Zahlungsmoral der Duderstädter die Stadtkasse dadurch einen Verlust erlitt, weil sie dem Vogt vom Rusteberg mehr auszahlen mußte, als sie eingenommen hatte. Wahrscheinlich trugen diese Gründe dazu bei, dass der Rat die Führung des Strafbuches einstellen ließ und die Einnahmen aus den Strafgeldern und Feldfreveln nur noch in die Rechnungsbücher eingetragen wurden. 119 Denn der Aufwand, der nötig war, ein Strafbuch führen zu lassen, stand in keinem Verhältnis zum Nutzen. Außerdem war das Strafbuch des Rates entbehrlich, da der Schultheiß ebenfalls ein Strafregister führen ließ. Das Strafregister des Schultheißen war vermutlich in einem besseren Zustand, denn der Rat hatte bei Lückenhaftigkeit seines Strafbuches Abschriften daraus vornehmen lassen.

4. Ausblick Das Strafbuch ist das Zeugnis einer „Periode des Wandels“ und als eine verwaltungsgeschichtliche Besonderheit anzusehen. Erst in Verbindung mit anderen rechtlichen Quellen (zum Beispiel den Statuten) und seriellen Quellen (zum Beispiel den Rechnungsbüchern) erschließt sich in vielerlei Hinsicht der Inhalt des Strafbuches, das einen Einblick in einen spezifischen Ausschnitt der Wirklichkeit des Duderstädter Alltagslebens im 16. Jahrhundert vermittelt. Insgesamt betrachtet fügen die Ergebnisse der Auswertungen von rechtlichen Quellen den Untersuchungen anderer sozialgeschichtlicher Quellen einen weiteren Aspekt aus der Wirklichkeit des Alltagslebens hinzu. Die Strukturgeschichte, die sich auf die Auswertung von Rechnungsbüchern stützt, und die die Erforschung der Sozialstruktur eines Gemeinwesens zum Ziel hat, kann durch die historische Kriminalitätsforschung um eine Dimension erweitert werden, indem sie die Analyse von Strukturen mit der von abweichendem Verhalten kombiniert. 120 Da abweichendes Verhalten in der frühen Neuzeit nicht zur gesellschaftlichen Marginalisierung führte, ist Kriminalitätsgeschichte keine Randgruppengeschichte. 121 Vielmehr lassen beispielsweise die in vielen Strafregistern geschilderten Vorgänge bei Gericht begrenzt Schlüsse auf Normen, Zahlungsmoral, Verhaltensmuster, Vgl. StadtA. Dud., AB 106, fol. 56 verso und 57 recto. Vgl. Gerd S CHWERHOFF , Devianz in der Alteuropäischen Gesellschaft. Umrisse einer historischen Kriminalitätsforschung. In: Zeitschrift für historische Forschung, Jg. 19/1982, S. 405. 121 Vgl. ebd., S. 404. 119 120

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Kommunikations- und Konfliktstruktur im Alltag zu. 122 Auch die Auswertung der Gerichtsakten unter einer geschlechtergeschichtlichen Fragestellung hat große Aussicht auf Erfolg, da Frauen in diesen Akten häufiger Erwähnung fanden als in anderen Quellen, so dass ihre Auswertung Kenntnisse über die Stellung der Frau sowie alltägliches Verhalten von und gegenüber Frauen vermittelt. 123 Unter anderem kann aus den genannten Gründen die historische Kriminalitätsforschung als ein unverzichtbarer Bestandteil der Sozialgeschichte angesehen werden.

122 Vgl. Susanna B URGHARTZ , Leib, Ehre und Gut. Delinquenz in Zürich Ende des 14. Jahrhunderts, Zürich 1990, S. 12. 123 Vgl. S CHWERHOFF , Devianz (wie Anm. 120), 1992, S. 409.

Zu Gryphius’ „Catharina von Georgien“* Peter Burschel

Als der Frieden näher kam, begann die Zeit der protestantischen Trauerspiele 1 – und das heißt auch: die Zeit der protestantischen „Märtyrerdramen“, 2 deren „Modell“ im folgenden „historisch-anthropologisch“ entziffert werden soll 3: „Catharina von Georgien. Oder Bewehrete Bestaendigkeit“ von Andreas Gryphius, 4 entstanden zwischen 1647 und 1650, erstmals gedruckt 1657. 5 Warum ein Drama? Warum die Welt als Welttheater, 6 als * Der folgende Text geht auf Überlegungen zurück, die ich im Rahmen meiner Habilitationsschrift „Sterben und Unsterblichkeit. Zur Kultur des Martyriums in der frühen Neuzeit“ angestellt habe. 1 Überblicke: Lothar B ORNSCHEUER , Trauerspiele, in: Zwischen Gegenreformation und Frühaufklärung: Späthumanismus, Barock, hg. von Harald S TEINHAGEN (Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte, hg. von Horst Albert G LASER 3), Reinbek bei Hamburg 1985, S. 268-283 – sowie: Marian S ZYROCKI , Die deutsche Literatur des Barock. Eine Einführung, Stuttgart 2 1987, S. 317ff. 2 Zusammenfassend zum Gattungstypus „Märtyrerdrama“: Hans-Jürgen S CHINGS , Gryphius, Lohenstein und das Trauerspiel des 17. Jahrhunderts, in: Handbuch des deutschen Dramas, hg. von Walter H INCK , Düsseldorf 1980, S. 48-60, hier etwa S. 48; kritisch dazu: Lothar B ORNSCHEUER , Zur Gattungsproblematik, Affektgestaltung und politischen Theologie in Gryphs historisch-politischen Trauerspielen, in: Die Affekte und ihre Repräsentation in der deutschen Literatur der Frühen Neuzeit, hg. von Jean-Daniel K REBS (Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A: Kongreßberichte 42), Bern u.a. 1996, S. 207-222, hier S. 208ff. – Zur Abgrenzung von verwandten Gattungen: Klaus R EICHELT , Historisch-Politische Schauspiele, in: Zwischen Gegenreformation und Frühaufklärung (wie Anm. 1), S. 284-294. 3 Zu den theoretischen bzw. methodischen Hintergründen eines solchen Vorgehens vgl. hier nur: Peter B URSCHEL , Das Eigene und das Fremde. Zur anthropologischen Entzifferung diplomatischer Texte, in: Kurie und Politik. Stand und Perspektiven der Nuntiaturberichtsforschung, hg. von Alexander K OLLER (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 87), Tübingen 1998, S. 260-271 – sowie: Peter B URSCHEL , Männliche Tode – weibliche Tode. Zur Anthropologie des Martyriums in der frühen Neuzeit, in: Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte 50 (1999), S. 75-97. – Zu Begriff und Konzept der „historischen Anthropologie“ immer noch wegweisend: Jochen M ARTIN , Der Wandel des Beständigen. Überlegungen zu einer historischen Anthropologie, in: Freiburger Universitätsblätter 33 (1994), S. 35-46. 4 Zum Modellcharakter der „Catharina von Georgien“ an dieser Stelle nur: HansHenrik K RUMMACHER , Das deutsche barocke Trauerspiel (Andreas Gryphius), in: Theaterwesen und dramatische Literatur. Beiträge zur Geschichte des Theaters, hg. von Günter H OLTUS (Mainzer Forschungen zu Drama und Theater 1), Tübingen 1987, S. 253273, hier S. 266. 5 Dazu ausführlich Hugh Powell in seiner Einleitung zu jener Ausgabe, aus der im folgenden auch mit Seitenzahl und Abhandlung (römisch) und Verszahl (arabisch) zitiert wird: Andreas G RYPHIUS , Trauerspiele, Bd. 3, hg. von Hugh P OWELL (Andreas

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blutiges zumal: hier, wo es gilt, einem Historiker zu danken, einem Landeshistoriker noch dazu - und ihn dabei möglichst nicht zu langweilen? Weil dieser Historiker ein „homo ludens“ ist? Ein „Grenzgänger“? Ein „sozioökonomischer Schöngeist“ 7? Gewiß auch deshalb. Da aber unbestritten zu sein scheint, daß Literatur einen Bestandteil - ja, einen konstitutiven Bestandteil - jener Überlieferungen von Sinn darstellt, die als kollektives kulturelles Gedächtnis fungieren, 8 liegt zumindest dann eine andere Antwort näher, wenn man jenen Lehrer Ernst Schubert konsultiert, für den Geschichte immer auch Lebensbeobachtung gewesen ist (und zu sein scheint), Zuversicht nicht zuletzt, und wohl auch Trost: Wer die Welt als Welttheater in den Blick nimmt, nimmt eine Welt in den Blick, die Wahrnehmungsangebote unterbreitet und Orientierungsmuster zu vermitteln sucht; 9 eine Welt der Metaphern, Sinnbilder und Geschichten, die als Modelle der Erfassung und Auslegung von Wirklichkeit unentbehrlich sind; 10 eine „gedeutete Welt“, 11 die ihr G RYPHIUS , Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke, hg. von Marian S ZYROCKI und Hugh P OWELL 6), Tübingen 1966, S. XIff. (Text: S. 132-221). – Abdruck der Ausgabe von 1663 – der Ausgabe letzter Hand - mit den Lesarten von 1657, hg. von Willi F LEMMING , in: Neudrucke deutscher Literaturwerke des XVI. und XVII. Jahrhunderts 261-262, Tübingen 4 1968; vor allem aber, sorgfältig kommentiert, wenn auch ohne die Lesarten von 1657, in: Andreas G RYPHIUS , Dramen, hg. von Eberhard M ANNACK (Bibliothek der Frühen Neuzeit. 2. Abt.: Literatur im Zeitalter des Barock, hg. von Conrad W IEDEMANN 3), Frankfurt am Main 1991, S. 117-226 (Kommentar: S. 921-962; zur Entstehung: S. 921ff.). – Abdruck unter Einbeziehung der Ausgabe von 1698: Andreas G RYPHIUS , Trauerspiele, hg. von Hermann P ALM (Andreas G RYPHIUS , Werke in drei Bänden mit Ergänzungsband 2), Darmstadt 1961, S. 143-255. – Zur Frage, wann das Drama verfaßt wurde, vgl. auch: Albrecht S CHÖNE , Säkularisation als sprachbildende Kraft. Studien zur Dichtung deutscher Pfarrersöhne (Palaestra 226), Göttingen 2 1968, S. 57f. 6 Zur Welt als Welttheater: Richard A LEWYN , Das große Welttheater. Die Epoche der höfischen Feste, München 2 1989, S. 60ff. (Erstausgabe: Hamburg 1959). 7 Was das ist bzw. sein kann – ein „Grenzgänger“, zeigt etwa: Peter B URSCHEL , Grenzgang als Entzauberung. Die Inszenierungen des Ikonoklasten Klaus Hottinger († 1524), in: Grenzgänger zwischen Kulturen, hg. von Monika F LUDERNIK und Hans-Joachim G EHRKE (Identitäten und Alteritäten 1), Würzburg 1999, S. 213-226. – Zum „sozio-ökonomischen Schöngeist“: Wolfgang R EINHARD , Ein sozio-ökonomischer Schöngeist. Braudels „Mittelmeer“ in deutscher Übersetzung, in: Zeitschrift für Historische Forschung 19 (1992), S. 233-240. 8 Grundlegend: Jan A SSMANN , Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992; sowie: Aleida A SSMANN , Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999. 9 Welche literarischen Mikrostrategien dazu im einzelnen eingesetzt werden können, zeigt paradigmatisch: Hans-Jürgen S CHINGS , Die patristische und stoische Tradition bei Andreas Gryphius. Untersuchungen zu den Dissertationes funebres und Trauerspielen (Kölner Germanistische Studien 2), Köln 1966. 10 Grundlegend für das 17. Jahrhundert: Albrecht S CHÖNE , Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock, München 1964 ( 2 1968; 3 1993). – Allgemein etwa: Peter B URKE , Geschichte als soziales Gedächtnis, in: Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, hg. von Aleida A SSMANN und Dietrich H ARTH , Frankfurt am Main 1993, S. 289-304, hier S. 294ff. - und Hans B LUMENBERG , Ausblick auf eine Theorie der Unbegrifflichkeit, in: Theorie der Metapher (Wege der Forschung 389), hg. von Anselm

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Publikum dazu anleitet, die „menschliche Angst vor der Zusammenhangs– und Sinnlosigkeit des Daseins“ zu überwinden. 12 Konkret: Wenn der Verfasser im folgenden versucht, ein Märtyrerdrama historisch-anthropologisch zu entziffern, dann deshalb, weil er davon ausgeht, daß die Erfahrungen, die dieses Drama aufbewahrt – um es noch einmal zu betonen: ein Modell-Drama -, als kollektive Leid-, Angst- und Chaos-Erfahrungen verstanden werden müssen, 13 die zwar auch außerhalb der Welt als Welttheater – oder genauer: als Welttragödie - ihre Spuren hinterlassen haben, 14 in diese emblematische Schau-Welt exemplarischer figuraler Verdichtung aber so eingestaltet sind, daß sie nicht nur unmittelbar sinnfällig, sondern auch unmittelbar einsichtig und erklärbar werden konnten. 15 In anderen Worten: Der Verfasser versteht das heroische Welttheater als Instanz der Weltdeutung, als Antwort auf die H AVERKAMP , Darmstadt 2 1996, S. 438-454. – Instruktiv in diesem Zusammenhang auch: John T HEIBAULT , The Rhetoric of Death and Destruction in the Thirty Years War, in: Journal of Social History 27 (1993), S. 271-290. 11 Hans-Jürgen S CHINGS , Consolatio Tragoediae. Zur Theorie des barocken Trauerspiels, in: Deutsche Dramentheorien. Beiträge zu einer historischen Poetik des Dramas in Deutschland, hg. von Reinhold G RIMM , Bd. 1, Frankfurt am Main 1971, S. 1-44, hier S. 39. 12 Albrecht S CHÖNE , Kürbishütte und Königsberg. Modellversuch einer sozialgeschichtlichen Entzifferung poetischer Texte. Am Beispiel Simon Dach, München 1975, S. 18. 13 In diesem Sinne schon: Conrad W IEDEMANN , Andreas Gryphius, in: Deutsche Dichter des 17. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk, hg. von Harald S TEINHAGEN und Benno von W IESE , Berlin 1984, S. 435-472, hier vor allem S. 457ff. 14 Wie zum Beispiel in der Lyrik des 17. Jahrhunderts. Vgl. hier nur: Wolfram M AUSER , Dichtung, Religion und Gesellschaft im 17. Jahrhundert. Die „Sonnete“ des Andreas Gryphius, München 1976; Moritz B ASSLER , Zur Sprache der Gewalt in der Lyrik des deutschen Barock, in: Ein Schauplatz herber Angst. Wahrnehmung und Darstellung von Gewalt im 17. Jahrhundert, hg. von Markus M EUMANN und Dirk N IEFANGER , Göttingen 1997, S. 125-144; und Georg B RAUNGART , Poetische Selbstbehauptung. Zur ästhetischen Krisenbewältigung in der deutschen Lyrik des 17. Jahrhunderts, in: Krisen des 17. Jahrhunderts. Interdisziplinäre Perspektiven, hg. von Manfred J AKUBOWSKI -T IESSEN , Göttingen 1999, S. 43-57. – Oder auch im Kirchenlied: Ingeborg R ÖBBELEN , Theologie und Frömmigkeit im deutschen evangelisch=lutherischen Gesangbuch des 17. und frühen 18. Jahrhunderts (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 6), Göttingen 1957, S. 381ff.; Hans-Georg K EMPER , Das lutherische Kirchenlied in der Krisen-Zeit des frühen 17. Jahrhunderts, in: Das protestantische Kirchenlied im 16. und 17. Jahrhundert. Text-, musik- und theologiegeschichtliche Probleme, hg. von Alfred D ÜRR und Walther K ILLY (Wolfenbütteler Forschungen 31), Wiesbaden 1986, S. 87-108, hier S. 96f. und Patrice V EIT , Musik und Frömmigkeit im Zeichen des Dreißigjährigen Krieges, in: Zwischen Alltag und Katastrophe. Der Dreißigjährige Krieg aus der Nähe, hg. von Benigna von K RUSENSTJERN und Hans M EDICK (Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts für Geschichte 148), Göttingen 1999, S. 507-528; vgl. in diesem Zusammenhang darüber hinaus: Friedhelm K RUMMACHER , Wandlungen oder Krisen? Über musikhistorische Prozesse im 17. Jahrhundert, in: Krisen des 17. Jahrhunderts (wie oben), S. 59-72. 15 Wegweisend zu den Strukturen figuraler Gestaltung im barocken Trauerspiel am Beispiel von Gryphius’ „Carolus Stuardus“: Albrecht S CHÖNE , Ermordete Majestät. Oder Carolus Stuardus König von Groß Britannien, in: Die Dramen des Andreas Gryphius. Eine Sammlung von Einzelinterpretationen, hg. von Gerhard K AISER , Stuttgart 1968, S. 117-169, hier insbesondere S. 163ff.

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Herausforderungen von Leid 16 – und damit nicht zuletzt auch auf die vieldiskutierte Frage, wie Menschen dieses Leid erfahren, ertragen, verstanden und vielleicht sogar bewältigt haben. 17 Nachdem Gryphius – zwischen 1634 und 1644 - bereits die Märtyrertragödie „Felicitas“ des Jesuiten Nicolaus Causinus übersetzt 18 und spätestens 1647 in Straßburg auch sein erstes Trauerspiel abgeschlossen hatte: „Leo Armenius, Oder Fuersten=Mord“, 19 dramatisierte er – möglicherweise noch vor seiner Rückkehr nach Schlesien im selben Jahr – ein zeitgeschichtliches Ereignis, auf das er in den „Histoires tragiques de nostre temps“ 20 des französischen Historikers Claude Malingre gestoßen war 21: die Hinrichtung der Königin Catharina von Georgien im Jahre 1624 22 - wobei auch hier gilt, So bereits S CHINGS , Consolatio Tragoediae (wie Anm. 11), S. 39. Um nur zwei Positionen in dieser Kontroverse zu nennen: Arthur E. I MHOF , Die verlorenen Welten. Alltagsbewältigung durch unsere Vorfahren – und weshalb wir uns heute so schwer damit tun, München 1984, S. 91ff., sowie: Bernd R OECK , Der Dreißigjährige Krieg und die Menschen im Reich. Überlegungen zu den Formen psychischer Krisenbewältigung in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, in: Krieg und Frieden. Militär und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit, hg. von Bernhard R. K ROENER und Ralf P RÖVE , Paderborn u.a. 1996, S. 265-279, hier zusammenfassend S. 278f. 18 „Bestaendige Mutter / || Oder || Die Heilige Felicitas, || Auß dem Lateinischen || Nicolai Causini“. Abdruck: G RYPHIUS , Trauerspiele, Bd. 3 (wie Anm. 5), S. 1-70. – Die „Felicitas“ des französischen Jesuitendichters erschien 1620 in Paris mit weiteren Dramen aus seiner Feder unter dem Titel „Tragoediae Sacrae“. - Zu Causinus (Caussin, Causin) (1583-1651) immer noch empfehlenswert: Camille de R OCHEMONTEIX , Nicolas Caussin, confesseur de Louis XIII et du Cardinal de Richelieu, Paris 1911. – Vgl. darüber hinaus: Willi H ARRING , Andreas Gryphius und das Drama der Jesuiten (Hermaea 5), Halle 1907, insbesondere S. 28ff.; Max W EHRLI , Andreas Gryphius und die Dichtung der Jesuiten, in: Stimmen der Zeit 175 (1964), S. 25-39; James A. P ARENTE , Andreas Gryphius and Jesuit Theatre, in: Daphnis. Zeitschrift für Mittlere Deutsche Literatur 13 (1984), S. 525-551. 19 Abdruck: Andreas G RYPHIUS , Trauerspiele, Bd. 2, hg. von Hugh P OWELL (Andreas G RYPHIUS , Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke, hg. von Marian S ZYROCKI und Hugh P OWELL 5), Tübingen 1965, S. 1-96 – und: Andreas G RYPHIUS , Dramen (wie Anm. 5), S. 9-116. 20 Paris 1635. 21 Sieur de Saint-Lazare (1580-1653). 22 Als 16. Historie der Sammlung: „Histoire de Catherine Reyne de Georgie et des Princes Georgiques mis à mort par commandement de Cha-Abas Roy de Perse“ (S. 469533). – Dazu ausführlich: Eugène S USINI , Claude Malingre, Sieur de Saint-Lazare, et son Histoire de Catherine de Géorgie, in: Études Germaniques 23 (1968), S. 37-53; vgl. darüber hinaus: Ludwig P ARISER , Quellenstudien zu Andreas Gryphius’ Trauerspiel „Katharina von Georgien“, in: Zeitschrift für Vergleichende Litteraturgeschichte NF 5 (1892), S. 207-213; Zdzislaw Z YGULSKI , Andreas Gryphius’ „Catharina von Georgien“ nach ihrer französischen Quelle untersucht, Lwów 1932 und Keith L EOPOLD , Andreas Gryphius and the Sieur de Saint-Lazare. A Study of the Tragedy Catharina von Georgien in Relation to its French Source, in: Keith L EOPOLD , Selected Writings, hg. von Manfred J URGENSEN , New York u.a. 1985, S. 175-202. – Einen detaillierten und zuverlässigen Überblick über Leben und Werk des Dichters ermöglicht: Blake Lee S PAHR , Andreas Gryphius: A Modern Perspective (Studies in German Literature, Linguistics, and Culture), Columbia 1993, S. 1ff.; wegweisend bleibt weiterhin: W IEDEMANN , Andreas Gryphius (wie Anm. 13). 16 17

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was Albrecht Schöne bereits 1968 über Gryphius’ „Carolus Stuardus“ schrieb: „Ein Stück Geschichte wird dichterisch gestaltet, das heißt: in die richtige, dem wahren Wesen der Ereignisse entsprechende und sie offenbar machende Form gebracht. Die historiographische und die dichterische ... Stoffbehandlung bleiben so voneinander ungeschieden.“ 23 Die Handlung, die am Tag des Martyriums spielt, ist rasch wiedergegeben: Seit Jahren schon hält der persische Chach Abas die georgische Königin Catharina an seinem Hof gefangen. Er liebt die christliche Herrin des unterworfenen Nachbarlandes leidenschaftlich, wird allerdings von ihr zurückgewiesen. Als der Zar um die Freilassung Catharinas bittet, sagt Abas zu - gilt es doch, einen Friedensvertrag zu bekräftigen, der eben erst zwischen Rußland und Persien abgeschlossen wurde; schon bald jedoch bereut er sein Versprechen und bricht es schließlich. Der Despot stellt die Gefangene vor die Wahl, seine Frau zu werden – oder in den Tod zu gehen: „Diß schlegt dir Abas vor: sein Ehbett oder Tod“. 24 Catharina aber bleibt standhaft und wählt das Martyrium - aus Treue zu ihrem ermordeten Ehemann, aus Treue zu ihrem Volk; vor allem aber aus Treue zu ihrem Glauben: „Wir ehren Persens Haupt; doch hoeher vnsern Gott“. 25 Sie wird gefoltert und am Ende bei lebendigem Leib verbrannt. Abas kommen inzwischen Bedenken; schließlich widerruft er sein Todesurteil. Als er erfährt, daß es zu spät, daß Catharina tot ist, beginnt er zu klagen und sinkt in Verzweiflung; die verklärte Catharina erscheint und prophezeit ihm die Strafe Gottes: „Tyrann! der Himmel ists! der dein Verterben sucht / Gott laest vnschuldig Blut nicht ruffen sonder Frucht. Dein Lorberkrantz verwelckt! dein sigen hat ein Ende. Dein hoher Ruhm verschwindt! der Tod streckt schon die Haende Nach dem verdamten Kopff. Doch eh’r du wirst vergehn; Must du dein Persen sehn in Kriges Flammen stehn / Dein hauß durch schwartze Gifft der Zweytracht angestecket / Biß du durch Kinder=Mord vnd Naechstes Blut beflecket Feind / Freunden vnd dir selbst vntraeglich / wirst das Leben Nach grauser Seuchen Angst dem Richter vbergeben.“ 26 Soweit die Handlung, deren apokalyptisches Ende 27 zugleich auf den Beginn des Trauerspiels zurückweist – der auch der Beginn dieser Annäherung sein soll -, auf den Prolog der „Ewigkeit“, die über Leichen und andere S CHÖNE , Ermordete Majestät (wie Anm. 15), S. 161. G RYPHIUS , Catharina von Georgien (wie Anm. 5), S. 189, III, 408. 25 Ebd., S. 198, IV, 212. 26 Ebd., S. 221, V, 431-440. 27 „So gipfelt die Märtyrertragödie vollkommen folgerichtig in den apokalyptischen Motiven von Verklärung und Rache der Märtyrerin, denen im Gegenbild das eschatologische Gericht über den Chach entspricht“. Hans-Jürgen S CHINGS , Catharina von Georgien. Oder Bewehrete Beständigkeit, in: Die Dramen des Andreas Gryphius (wie Anm. 15), S. 35-72, hier S. 72. 23 24

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emblematische Requisiten 28 steigen muß – so jedenfalls will es die Bühnenanweisung 29 -, um mahnend vor ihr Publikum treten zu können: „O DIE Ihr auff der kummerreichen Welt Verschrenckt mit Weh’ vnd Ach vnd duerren Todtenbeinen Mich sucht wo alles bricht vnd felt / Wo sich Eu’r ichts 30 / in nichts verkehrt / vnd eure Lust in herbes Weinen! ... Was dieser baut bricht jener Morgen ein / Wo jtzt Palaeste stehn Wird kuenfftig nichts als Gras vnd Wiese seyn Auff der ein Schaefers Kind wird nach der Herde gehn / Euch selbst / den grosse Schloesser noch zu enge Wird / wenn jhr bald von hier entweichen werdet muessen Ein enges Hauß ein schmaler Sarg beschlissen. Ein Sarg der recht entdeckt wie kurtz der Menschen Laenge. ... Schaut Arme! Schaut was ist diß Threnenthal Ein FolterHauß / da man mit Strang vnd Pfahl Vnd Tode schertzt.“ 31 Nachdem die „Ewigkeit“ das „vanitas“-Thema virtuos durchgespielt hat: von der „vanitas“-Meditation bis zum „memento mori“, 32 und diese Demonstration in den topischen Gestus der Weltverachtung münden ließ 33: des „contemptus mundi“, stellt sie ihr Publikum schließlich vor die Wahl ewiges Heil oder ewiges Verderben: „Hir ueber euch ist diß waß ewig lacht! Hir vnter euch was ewig brennt vnd kracht. Diß ist mein Reich / wehlt / was jhr wuendtschet zu besitzen. Wer allhier faehlt dem wird nichts auff der Erden nuetzen. Schaut deß Himmels Wollust an! Hir ist nichts denn Trost vnd Wonne Schaut den Kercker deß Verterbens / hir ist nichts denn Ach vnd Klage! Schaut das Erbschloß hoechster Lust; hir ist nichts denn Freud vnd Sonne Schaut den Pful der schwartzen Geister; hir ist nichts denn Nacht vnd Plage 28 Zur „Leiche als Emblem“ immer noch grundlegend: Walter B ENJAMIN , Ursprung des deutschen Trauerspiels, hg. von Rolf T IEDEMANN , Frankfurt am Main 7 1996, S. 192ff.; vgl. auch S CHÖNE , Emblematik und Drama (wie Anm. 10), S. 217f. – sowie: FriedrichWilhelm W ENTZLAFF -E GGEBERT , Der triumphierende und der besiegte Tod in der Wortund Bildkunst des Barock, Berlin und New York 1975, S. 70ff. 29 G RYPHIUS , Catharina von Georgien (wie Anm. 5), S. 139, I: „Der Schauplatz lieget voll Leichen / Bilder / || Cronen / Zepter / Schwerdter etc.“ 30 „ichts“: etwas. 31 G RYPHIUS , Catharina von Georgien (wie Anm. 5), S. 139, I, 1-4; S. 140, I, 27-34; S. 141, I, 65-67. 32 Dazu ausführlich: S CHINGS , Catharina von Georgien (wie Anm. 27), S. 36ff. 33 G RYPHIUS , Catharina von Georgien (wie Anm. 5), S. 141, I, 68-70.

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Was steht euch an? Diß ist was Ewig euch ergetzen vnd verletzen kann.“ 34 Nach der bilderreichen Demonstration der „vanitas mundi“ und dem nachdrücklichen Appell, zwischen Diesseits und Jenseits zu wählen, bringt die „Ewigkeit“, die sich bereits anschickt, den Schauplatz der Sterblichkeit wieder in Richtung Himmel zu verlassen, ihre Rede erstmals auf Catharina, deren Martyrium unmißverständlich zur Nachahmung empfohlen wird: „Schauplatz der Sterbligkeit / Ade! ich werd auff meinen Thron entruecket Die werthe Fuerstin folget mir die schon ein hoeher Reich erblicket / Die in den Banden frey / nicht irrdisch auff der Erd / Die stritt vnd lid fuer Kirch vnd Thron vnd Herd. Ihr / wo nach gleicher Ehr der hohe Sinn euch steht; Verlacht mit jhr / was hir vergeht. Last so wie Sie das werthe Blut zu Pfand: Vnd lebt vnd sterbt getrost fuer Gott vnd Ehr vnd Land.“ 35 Soweit der Prolog, den Hans-Jürgen Schings als „sinnbildliche Manifestation der Gryphschen Theorie des Trauerspiels“ bezeichnet hat; 36 führe er doch – die kosmische Topographie von Himmel und Hölle beschwörend - in aller Deutlichkeit vor Augen, daß die „Catharina von Georgien“ – wie schon der „Leo Armenius“ und später dann der „Carolus Stuardus“ 37 und der „Papinian“ 38 – heilsgeschichtlich zu deuten sei, 39 was wiederum auf eine heilspädagogische und damit: konsolatorische Absicht schließen lasse 40: „Der Entwurf des Märtyrerdramas erwächst aus einem paränetischen Argumentations- und Demonstrationssystem, das Vanitas-Darstellung und Memento mori, Contemptus mundi und Verweisung auf die Eschata seinem pathetischen Willen verfügbar macht. Der Prolog der ‚Ewigkeit‘ muß unter solchen Gesichtspunkten als das höchst aufschlußreiche Bindeglied zwischen dem Trauerspiel und einem weitverzweigten literarischen Komplex verstanden Ebd., 71-80. Ebd., 81-88. 36 S CHINGS , Catharina von Georgien (wie Anm. 27), S. 36. 37 „Ermordete Majestaet. Oder Carolus Stuardus Koenig von Groß Brittannien“. Abdruck der ersten Fassung von 1657: Andreas G RYPHIUS , Trauerspiele, Bd. 1, hg. von Hugh P OWELL (Andreas G RYPHIUS , Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke, hg. von Marian S ZYROCKI und Hugh P OWELL 4), Tübingen 1964, S. 1-52; Abdruck der zweiten Fassung von 1663: ebd., S. 53-159; sowie in: Andreas G RYPHIUS , Carolus Stuardus, hg. von Hugh P OWELL , Leicester 2 1963, S. 3-104; Andreas G RYPHIUS , Dramen (wie Anm. 5), S. 443-575 (Kommentar: S. 1072-1137). 38 „Großmuettiger Rechts=Gelehrter / Oder Sterbender Æmilius Paulus Papinianus“. Abdruck der Erstausgabe von 1659: Andreas G RYPHIUS , Trauerspiele, Bd. 1 (wie Anm. 37), S. 161-269, und Andreas G RYPHIUS , Dramen (wie Anm. 5), S. 307-441 (Kommentar: S. 999-1071). 39 S CHINGS , Catharina von Georgien (wie Anm. 27), S. 36, 64ff. und passim. 40 Grundlegend zur konsolatorischen Funktion des barocken Trauerspiels – weit über die „Catharina von Georgien“ hinaus: S CHINGS , Consolatio Tragoediae (wie Anm. 11). 34 35

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werden, den man unter der ... Bezeichnung ‚Erbauungsliteratur‘ kennt. Genauer besehen handelt es sich um die Literatur des Contemptus mundi, der Konsolatorien und der Ars moriendi, die seit patristischer Zeit mit einem Motivschatz operiert, der allenthalben in das Gryphsche Werk und auch in die Trauerspiele eingedrungen ist.“ 41 In anderen Worten: Der Prolog der „Ewigkeit“ offenbart die Deutungskategorien und Sinnlinien, die es ermöglichen, das „Trauerspiel der irdischen Fakten“ als exemplarisches „Spiel“ um das „höchste Heil“ zu verstehen 42 - und das heißt nicht zuletzt auch: als „Spiel“, das mentale und soziale Orientierung vermitteln kann und soll. 43 Ganz so, wie der Doppeltitel „Catharina von Georgien. Oder Bewehrete Bestaendigkeit“ die emblematische Struktur des Trauerspiels formuliert, 44 indem er das historisch-politische Geschehen und seine Deutung „sub specie aeternitatis“ zusammenschließt, 45 bringt der Prolog den inneren Konflikt des Dramas auf den Punkt: den Konflikt zwischen „Zeit“ und „Ewigkeit“. 46 Was aber heißt das konkret? Was wird da wie in die dramatische Gegenwart des Trauerspiels überführt? Schon ein kurzer Blick in die fünf Akte läßt erkennen, daß Gryphius die „eigentliche“ Handlung immer wieder unterbricht, ja, an drei Stellen geradezu aussetzt, um – auf der Quellengrundlage der erwähnten 16. „Histoire“ des Sieur de Saint-Lazare 47 - ausführlich erzählen zu lassen, was passierte, bis Catharina in Gefangenschaft geriet, historisch vor allem, dynastisch und politisch; und was schließlich in den acht Jahren geschah, die seitdem vergingen: so im ersten Gebetsmonolog der Königin, der fast 70 Verse umfaßt; 48 im Bericht des georgischen Gesandten Demetrius über die Ereignisse während ihrer Gefangenschaft, der auch die Geschichte des Reichsrats Meurab enthält 49 – über 300 Verse; 50 und nicht zuletzt in jener Familien- und Lebensschilderung, die Catharina ebenso bereitwillig wie

S CHINGS , Catharina von Georgien (wie Anm. 27), S. 38f. Ebd., S. 44. 43 Ebd., S. 40. 44 S CHÖNE , Emblematik und Drama (wie Anm. 10), S. 196f. 45 S CHINGS , Catharina von Georgien (wie Anm. 27), S. 44. 46 Wegweisend zu diesem Konflikt: Wilhelm V OßKAMP , Untersuchungen zur Zeit- und Geschichtsauffassung im 17. Jahrhundert bei Gryphius und Lohenstein (Literatur und Wirklichkeit 1), Bonn 1967, S. 120ff. 47 Gerhard Spellerberg ist zuzustimmen, wenn er konstatiert, daß Gryphius dieser Quelle, „soweit er ihr folgt, sehr genau folgt“. Gerhard S PELLERBERG , Narratio im Drama oder: Der politische Gehalt eines „Märtyrerstückes“. Zur Catharina von Georgien des Andreas Gryphius, in: Wahrheit und Wort. Festschrift für Rolf Tarot zum 65. Geburtstag, hg. von Gabriela S CHERER und Beatrice W EHRLI , Bern u.a. 1996, S. 437-461, hier S. 447 (Anm. 31). 48 G RYPHIUS , Catharina von Georgien (wie Anm. 5), S. 146-148, I, 227-296. 49 Ebd., S. 153-169, I, 479-716. – Zusammenfassend etwa: S PELLERBERG , Narratio im Drama (wie Anm. 47), S. 450ff.; pointiert zur politischen Rolle des Meurab: Elida Maria S ZAROTA , Gryphius als politischer Dichter, in: Dies., Geschichte, Politik und Gesellschaft im Drama des 17. Jahrhunderts, Bern und München 1976, S. 127-141, hier S. 130. 50 G RYPHIUS , Catharina von Georgien (wie Anm. 5), S. 151-160, I, 409-721. 41 42

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minutiös ausbreitet, als der russische Gesandte sie darum bittet, und die fast den gesamten dritten Akt füllt – wieder über 300 Verse. 51 So „monströs ausführlich“ und „sonderbar plaziert“, so reich an Überschneidungen diese Passagen erzählter Geschichte auch sein mögen 52 Gryphius hat sie bewußt und gezielt in sein Drama eingestaltet; 53 demonstrieren sie doch, in pathetischer Häufung Greuel an Greuel reihend, jenes Chaos der geschichtlichen Welt, das schon die „Ewigkeit“ in ihren „vanitas“Meditationen enthüllt hatte. So berichtet etwa der Gesandte Demetrius über „frembde Trauerspill“, indem er summiert: „Man schaute nichts als Mord / als Jammer Weh vnd Thraenen / Als Leichen / Kercker / Beil’ / als hochbestuertze Sehnen ...“. 54 Wie die Greuel gibt Demetrius auch die Laster und Verbrechen des Chach Abas reihend wieder: „Die Vntrew damit er die treuen Dinste zahlte / List / Grimm / Verraetherey / Trug / Meineyd / Trotz vnd Gifft / Die Moerde so von jhm begangen als gestifft Das vngerechte Recht / die duppel=falsche Zungen Die Sinnen / die durchauß nach eigen Nutz gerungen. Den Greuel damit er sein Weib vnd Kind betruebt; Als er ins Vatern Aug’ vnmenschlich hat veruebt Was man nicht nennen darff ...“. 55 Greuelkataloge enthalten auch die Reyen. Die gefangenen Jungfrauen klagen: „Wir von Eltern vnd Bekandten Wir von Rath vnd Trost entbloest Lissen Blut= vnd Bund=Verwandten Auff der Haeuser Brand gestoest. Ach! Man riß vns durch Gebeine Glider / Coerper / Graus vnd Stanck. Vnd zu stueckte Marmelsteine / Fessel / Spisse / Trotz vnd Zwang / Zwischen angepfaehlten Leichen Jn der rauhen Parthen Land ...“. 56 Und die „erwuergeten Fuersten“ stehen ihnen darin in nichts nach: 51 52 53 54 55 56

Ebd., S. 179-188, III, 56-380. S CHINGS , Catharina von Georgien (wie Anm. 27), S. 45. S PELLERBERG , Narratio im Drama (wie Anm. 47), S. 448f. G RYPHIUS , Catharina von Georgien (wie Anm. 5), S. 155, I, 557f. Ebd., S. 159, I, 678-685. Ebd., S. 164, I, 849-858.

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„Doch sterben war vns leicht / er kont vns erst den Tod vergaellen / Durch aller Folter Art. Sein Grimm entbrand als Glut der Hellen. Pfahl / Moersel / Spiß / Bley / Beil vnd Stangen / Rohr / Saege / Flamm / zuschlitzte Wangen / Entdeckte Lung’ / entbloeste Hertzen / Das lange zappeln in den schmertzen / Wenn man vns Darm vnd Zung entrueckte! Das war was Abas Aug’ erquickte.“ 57 Nur konsequent, wenn auch Catharina ihren Lebensbericht in Form eines Greuelkatalogs eröffnet: „Diß Auge stelt euch vor / ob schon die Lippe schweig’t Daß nichts als lauter Weh / als Ach vnd grimme Schmertzen Als Mord / Verlaeumbdung / Haß / Verraether=tolles schertzen / Vnd eine Flut von Blut / vnd hoechster Tyranney / Vnd Hencker / Brand vnd Pfahl euch vorzustellen sey!“ 58 Obwohl die Folterung Catharinas nicht auf offener Bühne dargestellt wird – ein Tatbestand, der keineswegs selbstverständlich ist, wenn man bedenkt, was andere barocke Trauerspiele an Marterpraktiken und Hinrichtungsritualen in Szene setzen 59 -, schildert die Augenzeugin Serena das Quälen der Königin Ebd., S. 177, II, 393-400. Ebd., S. 179, III, 56-60. 59 Peter J. Brenner geht – in Auseinandersetzung mit Hans-Jürgen Schings - sogar soweit, in dieser „Abdämpfung“ einen Beleg für die These zu sehen, daß es Gryphius in seiner „Catharina“ keineswegs in erster Linie darum gegangen sei, „Affekte auszulösen und damit eine konsolatorische Wirkung zu erzielen“, was wiederum gegen eine vornehmlich heilsgeschichtliche Deutung des Dramas spreche: Peter J. B RENNER , Der Tod des Märtyrers. „Macht“ und „Moral“ in den Trauerspielen von Andreas Gryphius, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 62 (1988), S. 246-265, hier S. 249f. – Daß Gryphius auch anders konnte, zeigt die bereits erwähnte – recht selbständige – Übersetzung des Trauerspiels „Felicitas“ des Jesuiten Nicolaus Caussinus, die in der Darstellung von Martern aller Art, von anatomischen Details und rasenden Affekten noch über ihre Vorlage hinausgeht – und dabei das „Greuelreservoir“ des Barock voll ausschöpft. Ein Beispiel: G RYPHIUS , Trauerspiele, Bd. 3 (wie Anm. 5), S. 62ff., V, 440-481. – Ausführlich zu diesem „Reservoir“: Ludwig F ISCHER , Gebundene Rede. Dichtung und Rhetorik in der literarischen Theorie des Barock in Deutschland (Studien zur deutschen Literatur 10), Tübingen 1968, S. 99; und als kommentierte Sammlung von Belegstellen: Jürg K AUFMANN , Die Greuelszene im deutschen Barockdrama, Zürich 1968, etwa S. 90ff. – Grundlegend: Reinhart M EYER -K ALKUS , Wollust und Grausamkeit. Affektenlehre und Affektdarstellung in Lohensteins Dramatik am Beispiel von ‚Agrippina‘ (Palaestra 279), Göttingen 1986, insbesondere S. 213ff.; vgl. dazu auch Arnd B EISE , Verbrecherische und heilige Gewalt im deutschsprachigen Trauerspiel des 17. Jahrhunderts, in: Ein Schauplatz herber Angst (wie Anm. 14), S. 105-124; B ASSLER , Zur Sprache der Gewalt in der Lyrik des deutschen Barock (ebd.); Susanne B AUER R OESCH , „Zerknirschen / zerschmeissen / zermalmen / zerreissen“. Gewalt auf der Opernbühne des 17. Jahrhunderts (ebd.), S. 145-169 – sowie allgemeiner: Gudrun K ÖRNER , Schönheit und Nutzen. Zur ästhetischen Rezeption der Folter, in: Das Quälen 57 58

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doch so genau, daß ihr Bericht alle vorangegangenen „vanitas“-Demonstrationen in den Schatten stellt 60: „Die Stuecker hingen nu von beyden Schenckeln ab; Als man jhr auff die Brust zwey grimme Zuege gab. Das Blut spruetzt vmb vnd vmb vnd leschte Brand vnd Eisen / Die Lunge ward entdeckt. Der Geist fing an zu reisen Durch die / von scharffem Grimm new auffgemachte Thor.“ 61 Doch auch damit nicht genug. Nach der Folterung führen die Henker das zerrissene, aber immer noch lebende, ja, sogar sprechende Opfer über die Bühne, um es den Flammen auszuliefern: „Willkommen suesser Tod! ... Wir haben ueberwunden / Wir haben durch den Tod das Leben selbst gefunden. Ach JEsu kom!“ 62 Vor allem aber: Nachdem der Priester, der Catharina zum Scheiterhaufen begleitet hatte, zurückgekehrt ist, stellt er, das „theatrum mundi“ endgültig zur „arena martyrum“ verengend, 63 das verbrannte Haupt der Königin zur Schau, 64 das damit zum letzten und höchsten Requisit der „vergaenglichkeit menschlicher sachen“, 65 der „Folter Menschliches Lebens“ 66 wird, zum beklemmenden Emblem einer Welt, die als „Folter=Kammer“ 67 gar nicht anders kann, als Märtyrerinnen und Märtyrer zu produzieren - und auf diese Weise immer wieder auch den Blick auf die „Ewigkeit“ freigibt; 68 zum eschatologischen „Schaubild“ eines exemplarischen fürstlichen Gipfelsturzes nicht zuletzt, 69 der als weiteres beweiskräftiges „vanitas“-Prinzip auch im „Leo Armenius“, 70 im „Papinian“ 71 und vor allem im „Carolus Stuardus“ das des Körpers. Eine historische Anthropologie der Folter, hg. von Peter B URSCHEL [u.a.], Köln [u.a.] 2000, S. 281-299. 60 So auch S CHINGS , Catharina von Georgien (wie Anm. 27), S. 47, der die Funktion dieser „Demonstrationen“ auf den Punkt gebracht hat: „Nicht Illusion, sondern Demonstration ist der Grundgestus des Trauerspiels“ (S. 46). 61 G RYPHIUS , Catharina von Georgien (wie Anm. 5), S. 210, V, 91-95. 62 Ebd., S. 211, V, 119-123. 63 S CHINGS , Catharina von Georgien (wie Anm. 27), S. 42. 64 G RYPHIUS , Catharina von Georgien (wie Anm. 5), S. 214, V, 210-220. 65 Ders., Trauerspiele, Bd. 2 (wie Anm. 19), S. 3 (Vorrede zum „Leo Armenius“ - an den „Großguenstigen Leser“). 66 So der Titel einer „Leich=Abdanckung“ von 1648, die das Catharina-Exempel eröffnet. Andreas G RYPHIUS , Dissertationes funebres, Oder Leich=Abdanckungen ..., Leipzig 1667, S. 344f.; vgl. auch S CHINGS , Die patristische und stoische Tradition bei Andreas Gryphius (wie Anm. 9), S. 124ff. 67 G RYPHIUS , Dissertationes funebres (wie Anm. 66), S. 260 (Leichabdankung: „Uberdruß Menschlichen Lebens“). 68 In diesem Sinne auch: Will H ASTY , The Order of Chaos: On Vanitas in the Work of Andreas Gryphius, in: Daphnis. Zeitschrift für Mittlere Deutsche Literatur 18 (1989), S. 145-157. 69 Paradigmatisch zum Fürstensturz im barocken Trauerspiel als „all-irdische[m] Katastrophenereignis in seiner schärfsten Profilierung“: S CHÖNE , Ermordete Majestät (wie Anm. 15), S. 128ff. 70 Gerhard K AISER , Leo Armenius, Oder Fürsten=Mord, in: Die Dramen des Andreas Gryphius (wie Anm. 15), S. 3-34, hier etwa S. 12f.

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Gesetz des Daseins vor Augen führt: „Der Fürst ist höchster Repräsentant des Kreatur auch im Hinblick auf ihre Vergänglichkeit. Da es im Leben kein Verweilen gibt, muß selbst er stürzen, und sein Sturz ist beispielhaft, weil er vom Gipfel des Daseins aus erfolgt, weil er tiefer führt und darum schrecklicher, erschütternder ist als der jedes anderen.“ 72 So bereitwillig, standhaft und frei Catharina am Ende des Trauerspiels das Martyrium auf sich nimmt, um dem Ruf der „Ewigkeit“ zu folgen - das Chaos der historisch-politischen Welt, das die Passagen erzählter Geschichte demonstrieren, zeigt sie keineswegs als Verächterin dieser Welt. Im Gegenteil: die Catharina, die da agiert, agiert als Machtpolitikerin von hohen Graden; wie Chach Abas, der Tyrann 73 und Christenverfolger, 74 der „Bluthund“ 75 und radikale Exponent der „vanitas mundi“, 76 weiß auch die „werthe Fuerstin“ 77 Catharina, was „prudentia politica“, was „ratio status“ heißt; 78 List und Hinterlist sind ihr ebensowenig fremd wie militärische Präventivschläge, wie Verrat und sogar Meuchelmord. 79 Und in den Jahren Ihrer Gefangenschaft? Obwohl man sie viel und lange beten sieht - um Erlösung im Jenseits geht es da nicht: „... Ach wie lang zih ich in disem Joch. Wie fern von meinem Hoff! vnd weggeraubter Crone! Vnd vmbgekehrten Reich! vnd dem verjagten Sohne!“ 80 71 Herbert H ECKMANN , Elemente des barocken Trauerspiels. Am Beispiel des „Papinian“ von Andreas Gryphius (Literatur als Kunst), Darmstadt 1959, S. 94ff.; KarlHeinz H ABERSETZER , Politische Typologie und dramatisches Exemplum. Studien zum historisch-ästhetischen Horizont das barocken Trauerspiels am Beispiel von Andreas Gryphius’ Carolus Stuardus und Papinianus (Germanistische Abhandlungen 55), Stuttgart 1985, S. 82ff. und passim. 72 S CHÖNE , Ermordete Majestät (wie Anm. 15), S. 130f. 73 G RYPHIUS , Catharina von Georgien (wie Anm. 5), S. 147, I, 279. 74 Ebd., S. 154, I, 517-528. 75 Ebd., S. 177, II, 403. 76 S CHINGS , Catharina von Georgien (wie Anm. 27), S. 55. 77 Eine Bezeichnung, die selbst die „Ewigkeit“ im Prolog verwendet: G RYPHIUS , Catharina von Georgien (wie Anm. 5), S. 141, I, 82. 78 Dazu ausführlich: S PELLERBERG , Narratio im Drama (wie Anm. 47), S. 449ff. 79 Beispiele: G RYPHIUS , Catharina von Georgien (wie Anm. 5), S. 157-159, I, 604-673; S. 182f., III, 168-212. – Zusammenfassend: S PELLERBERG , Narratio im Drama (wie Anm. 47), S. 449ff. - Zur Quellennähe dieser Passagen vgl. insbesondere Gerald G ILLESPIE , Andreas Gryphius’ Catharina von Georgien als Geschichtsdrama, in: Geschichtsdrama, hg. von Elfriede N EUBUHR (Wege der Forschung 485), Darmstadt 1980, S. 85-107, hier S. 94ff., den Peter J. Brenner allerdings präzisiert: „Um Catharina am Ende dennoch als Märtyrerin darstellen zu können, muß Gryphius zu einer literarischen Camouflage greifen: Er folgt in der Darstellung der Vorgeschichte der Quelle zwar genau; aber er verwirrt sie – auch durch eine chronologische Umstellung – so, daß die Handlungen Catharinas und ihrer Anhänger nur sehr schwer rekonstruierbar sind – ein Umstand, vor dem auch die germanistische Forschung oft kapituliert hat.“ B RENNER , Der Tod des Märtyrers (wie Anm. 59), S. 257. 80 G RYPHIUS , Catharina von Georgien (wie Anm. 5), S. 147, I, 284-286.

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Als sie träumt, wie sich ihre „besteinte Cron“ – die Krone des georgischen Teilkönigreichs Gurgistan – in einen Dornenkranz verwandelt, 81 ahnt sie zwar, was dieser Traum bedeutet; von der Konsequenz eines radikalen „contemptus mundi“ aber ist sie noch immer weit entfernt; noch immer kreisen ihre Gedanken um die politischen Auseinandersetzungen der vergangenen Jahre, um die mörderischen Machtkämpfe innerhalb der eigenen Dynastie, um das Schicksal ihres Sohnes Tamaras nicht zuletzt. 82 Als sie wenig später erfährt, daß ihr Sohn lebt und noch dazu den Thron bestiegen hat, reagiert sie denn auch keineswegs als designierte Märytrerin, die eben noch bangend nach Zeichen der Nähe Gottes gefragt hat, 83 sondern als triumphierende Fürstin, die „vor Lust“ kaum sprechen kann: „Sie zittert! sie bestirbt!“, 84 und damit allzu offensichtlich zeigt, was die neostoisch grundierte Anthropologie der Zeit als Quelle aller Unbeständigkeit lokalisierte: Affekt, Leidenschaft, „perturbatio“ 85: „Der Sturm der Angst vergeht! die Last von meinem Hertzen Verfaellt auff diese Stund! Ach / Ketten / Noth vnd Stein Sind mir ein Kinderspiel / mein Sohn! wenn dich allein

81 Zur „Rosa-vita-Metaphorik“ dieses Traums: Alois M. H AAS , Nachwort, in: Andreas G RYPHIUS , Catharina von Georgien, hg. von Alois M. H AAS , Stuttgart 1977, S. 135-157, hier S. 147. 82 G RYPHIUS , Catharina von Georgien (wie Anm. 5), S. 148f., I, 324-350. 83 Ebd., S. 146, I, 227-230. – Vgl. auch ebd., S. 144, I, 185-193. 84 Ebd., S. 150, I, 363. 85 Dazu konkret: S CHINGS , Catharina von Georgien (wie Anm. 27), S. 56ff., der vor allem auf die entsprechenden Passagen in Justus Lipsius’ „Constantia“-Schrift verweist, die seit kurzem in einer neuen Ausgabe vorliegt: De Constatia – Von der Standhaftigkeit (Lateinisch-Deutsch), übersetzt, kommentiert und mit einem Nachwort von Florian N EUMANN (excerpta classica 16), Mainz 1998 - hier etwa das fünfte Kapitel des ersten Buches: S. 31-41; Stefan K IEDRON , Andreas Gryphius und die Niederlande. Niederländische Einflüsse auf sein Leben und Schaffen, Wrocław 1993, S. 106ff.; Jean-Louis R AFFY , Leidenschaft und Gnade in Gryphius’ Trauerspielen, in: Die Affekte und ihre Repräsentation in der deutschen Literatur der Frühen Neuzeit (wie Anm. 2), S. 189-206; und: Lothar B ORNSCHEUER , Zur Gattungsproblematik, Affektgestaltung und politischen Theologie in Gryphs historisch-politischen Trauerspielen (ebd.), S. 210ff. – Allgemeiner zum Beispiel: Erwin R OTERMUND , Der Affekt als literarischer Gegenstand. Zur Theorie und Darstellung der Passiones im 17. Jahrhundert, in: Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen, hg. von Hans Robert J AUß (Poetik und Hermeneutik 3), München 1968, S. 239-270; Hans-Jürgen S CHINGS , Seneca-Rezeption und Theorie der Tragödie, in: Historizität in Sprach- und Literaturwissenschaft. Vorträge und Berichte der Stuttgarter Germanistentagung 1972, hg. von Walter M ÜLLER -S EIDEL , München 1974, S. 521-537; Wolfram M AUSER , Dichtung, Religion und Gesellschaft im 17. Jahrhundert (wie Anm. 14), S. 221ff.; M EYER -K ALKUS , Wollust und Grausamkeit (wie Anm. 59), S. 34ff.; Rubens Passioni. Die Kultur der Leidenschaften im Barock, hg. von Ulrich H EINEN und Andreas T HIELEMANN (Rekonstruktion der Künste 3), Göttingen 2000. – Zum Eindringen der stoischen – peiorativen – Bedeutung der Leidenschaft als „perturbatio“ in die christliche Tradition: Albrecht D IHLE , Ethik, in: Reallexikon für Antike und Christentum. Sachwörterbuch zur Auseinandersetzung des Christentums mit der Antiken Welt, hg. von Theodor K LAUSER , Bd. 6, Stuttgart 1966, Sp. 646-796, hier Sp. 771f.

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Der Blitz nicht hat beruehrt! mein Sohn nu du entgangen! Mein Sohn! nu du regirst nun bin ich nicht Gefangen!“ 86 Nachdem schließlich alle Zweifel an der Wahrheit der Nachricht ausgeschlossen sind, wendet sich Catharina an Gott: „... O hoechster Fuerst du schlaegst vnd heilst die Wunde / Du senckest vns in Pein / doch beutest du die Hand Wenn aller Menschen Rath vnd hoffen sich gewand. Wolan! ich will das Joch der Plagen Daß du auff meinen Hals gelegt Mit vnverzagtem Mutt’ ertragen Nach dem mein Weinen dich bewegt. Nun du / in dem ich hir verstricket Mein Reich vnd Kind hast angeblicket. Nu klag ich nicht was ich verlohren / Weil du diß Pfand erhalten hast. Mir ist als wenn ich Neu gebohren Ich fuehle keiner Kummer Last. Ich will diß Sorgen volle Leben Fuer Reich vnd Sohn dir willig geben.“ 87 Obwohl auch dieser Gebetsanruf noch keine weltverachtende Catharina in Szene setzt, 88 neigen doch alle Interpreten dazu, die Reaktion der Königin auf die politische Erfolgsnachricht, die sie als göttlichen Gnadenerweis versteht 89: den radikalen Umschlag ihres Affektzustandes von tiefster „Angst“ zu höchster „Lust“, der in einer regelrechten „conversio“ kulminiert: „Mir ist als wenn ich Neu gebohren“, als den Beginn ihrer Wandlung von der engagierten – oder besser vielleicht: moderat skrupellosen – Machtpolitikerin in die opferbereite, diesseitsüberwindende christliche Märtyrerin zu deuten. 90 Gewiß: Die Exponenten der „radikal-religiösen Lesart“ des Dramas lassen keinen Zweifel daran, „daß Catharinas Leben in der Gefangenschaft von allem Anfang an auf das Martyrium hin, das in Christi Leiden seine Sinnvorgabe hat, unmißverständlich bezogen ist“; 91 die Zäsur aber, die diese „conversio“ markiert, stellen auch sie nicht in Frage. 92 G RYPHIUS , Catharina von Georgien (wie Anm. 5), S. 150, I, 366-370. Ebd., S. 151, I, 394-408. 88 Vgl. S PELLERBERG , Narratio im Drama (wie Anm. 47), S. 455. 89 Pointiert: S CHINGS , Catharina von Georgien (wie Anm. 27), S. 65. 90 So dezidiert auch Interpreten, die Gryphius’ Trauerspiele nicht vornehmlich – oder ausschließlich – als „Dramen der Transszendenz“ verstehen – wie etwa Lothar B ORNSCHEUER : Zur Gattungsproblematik, Affektgestaltung und politischen Theologie in Gryphs historisch-politischen Trauerspielen (wie Anm. 2), S. 211. 91 H AHN , Nachwort (wie Anm. 81), S. 147. – Vgl. auch K RUMMACHER , Das deutsche barocke Trauerspiel (wie Anm. 4), S. 265. 92 S CHINGS , Catharina von Georgien (wie Anm. 27), S. 61: „Von nun an ist Catharina über alle irdische Furcht und Hoffnung hinaus ...“. 86 87

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Als Chach Abas seine Gefangene wenig später vor die Wahl stellt, ihn zu heiraten und damit ihren Glauben aufzugeben – oder zu sterben, reagiert Catharina immer noch als Fürstin, die weiß, was sie ihren Untertanen schuldig ist: „Wer wuerd in Gurgistan / da jhn die Angst erwischt / Durch vnser Beyspil nicht zum Abfall angefrischt? Was? wuerd ein schwaches Kind / ein zartes Fraeulein dencken / Sol mich die grimme Pein biß zu dem Mord=Pfahl krencken? Wenn Catharine selbst den Thron fuers Creutz erkohr Vnd eh’r deß Glaubens Krantz’ als jhren Leib verlohr?“ 93 Gleichzeitig aber läßt sie keinen Zweifel daran, daß ihre Metamorphose bereits weit fortgeschritten ist, wenn sie ihnen empfiehlt: „... da euch ja die Angst solt’ vberfallen; Sucht eurer Koenigin standhafftig nachzuwallen / Nemmt Kercker fuer Palaest / fuer Freyheit; Ketten an / Fuer Reichthumb / kiest Verlust vnd was ergetzen kan Verwaechselt mit der Qual. Wagt Freund vnd Fleisch vnd Jahre! Erschreckt fuer keiner Flamm! springt auff die Todtenbare! Kuest Schwerdter die man euch durch Brust vnd Gurgel treibt! Wenn euch der eine Schatz deß heilgen Glaubens bleibt!“ 94 Nachdem schließlich alle Befreiungsversuche fehlgeschlagen sind: „Der Purpur ist entzwey / der Zepter gantz zustuecket“, 95 nimmt Catharina die blutige Prüfung als Gottes Willen an, als providentielle Bewährungsprobe – und Bewährungschance - in einer heillosen Welt, deren Ordnung anderen Gesetzen folgt als den Gesetzen Gottes: „Wir haben satt gelebt / vnd koennen nichts begehren Das vns die grosse Welt noch maechtig zu gewehren. Wir haben Kirch vnd Cron beschuetzt mit Rath vnd Schwerdt Armenien beherscht. Der Persen Land verhert / Deß Schwehers trueben Fall / deß Libsten Blut gerochen / Der blinden libe Joch des Todes Pfeil zubrochen. Vnd steigen in der Bluett deß Alters auff die Bar Doch mehr als im Triumph zu vnserm Schlacht=Altar. Wo wir diß vnser Fleisch zum Opffer vbergeben Dem der sich selbst fuer vns liß in ein Holtz erheben.

G RYPHIUS , Catharina von Georgien (wie Anm. 5), S. 197, IV, 167-172. Ebd., S. 197f., IV, 173-180. 95 Ebd., S. 203, IV, 361; dazu auch: S PELLERBERG , Narratio im Drama (wie Anm. 47), S. 452f. 93 94

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Die Erden stinckt vns an / wir gehn in Himmel ein. Betruebt euch Libste nicht! die Pein ist sonder Pein!“ 96 Erst jetzt ist die Metamorphose abgeschlossen; erst jetzt erkennt Catharina, daß die Ordnung, die sie als Fürstin geschaffen hat, eine wahnhafte Ordnung ist; erst jetzt versteht sie, daß „prudentia politica“ und „ratio status“ jenes Chaos der geschichtlichen Welt, das sie überwinden sollen, erst erzeugen und perpetuieren; 97 erst jetzt ist sie in der Lage, die Sorge um Krone und Thron, um Herrschaft und Familie als falsche Sorge zu entlarven, als Sorge, die den Regungen des menschlichen Herzens und den Ratschlägen der menschlichen Vernunft entspringt; 98 erst jetzt vermag sie, ihre Einsicht in die „vanitas mundi“ als Gnadenerweis und Heilszeichen zu deuten 99 und „gottverlobt“ in den Tod zu gehen 100 – so, wie vor ihr schon „skandalös unverdient“ 101 und geradezu „blitzartig“ 102 der byzantinische Kaiser Leo Armenius, als er – im Augenblick seiner Ermordung – das Kreuz küßt, an dem Christus starb 103: „Ich hab es selbst gesehn / wie Er das Creutze kueßte: || Auff das sein Coerper sanck / vnd mit dem kuß verschied“, 104 so daß sich sein Blut mit dem des Erlösers mischt; 105 und wie später dann Karl 106 und Papinian, 107 die G RYPHIUS , Catharina von Georgien (wie Anm. 5), S. 204f., IV, 417-428. In diesem Sinne auch S PELLERBERG , Narratio im Drama (wie Anm. 47), S. 459. 98 Zusammenfassend zur lutherischen bzw. protestantischen „vanitas“-Vorstellung, die ihre - mehr oder weniger - verbindliche Exegese in Luthers Vorlesung über den „Prediger Salomo“ von 1526 bzw. in seinen „Annotationes in Ecclesiasten“ von 1532 gefunden hat: ebd., S. 457f. – Druck von Vorlesung und „Annotationes“: WA, Bd. 20, 1904, S. 7-203. Vgl. darüber hinaus Luthers Vorreden in seiner Bibelübersetzung „auff die spruche Salomo“: WA, Bd. 10, 2. Abt. (Die Deutsche Bibel), 1957, S. 2-4 (Das Alte Testament 1524); „auff die Bucher Salomonis“: ebd., S. 6-11 (Bibel 1534/1545); und „auff den prediger Salomo“: ebd., S. 104-106 (Das Alte Testament 1524). 99 R AFFY , Leidenschaft und Gnade in Gryphius’ Trauerspielen (wie Anm. 85), S. 199ff. 100 Ausführlich zum „Imitatio“-Charakter von Catharinas Martyrium: S CHINGS , Die patristische und stoische Tradition bei Andreas Gryphius (wie Anm. 9), S. 264ff. 101 R AFFY , Leidenschaft und Gnade in Gryphius’ Trauerspielen (wie Anm. 85), S. 195. 102 Ebd., S. 197. 103 Vgl. dazu K AISER , Leo Armenius, Oder Fürsten=Mord (wie Anm. 70), S. 23f.: „Mit den plötzlich geöffneten Augen des Glaubens erkennt Leo in dem ihm verkündeten Gericht Gottes, das er bisher zu fliehen versucht hatte, seine Erlösung ...“ – sowie: Peter R USTERHOLZ , Nachwort, in: Andreas G RYPHIUS , Leo Armenius, hg. von Peter R USTERHOLZ , Stuttgart 2 1996, S. 127-146, hier S. 139ff.; S PELLERBERG , Narratio im Drama (wie Anm. 47), S. 459f.; weiterführend in diesem Zusammenhang auch: M. S. S OUTH , Leo Armenius oder die Häresie des Andreas Gryphius. Überlegungen zur figuralen Parallelstruktur, in: Zeitschrift für Deutsche Philologie 94 (1975), S. 162-183, hier etwa S. 182, und Jürgen Z IMMERER , Innerweltlicher Triumph oder transzendentale Erlösung? Über den Einfluß der Theologie Martin Luthers auf Andreas Gryphius’ Drama Leo Armenius, in: Aus der Vielfalt des Vergänglichen. Festschrift für Wilhelm Blum, hg. von Thomas G OPPEL , Regensburg 1993, S. 53-68. 104 G RYPHIUS , Leo Armenius (wie Anm. 19), S. 82, V, 164f. 105 Ebd., 166-170: 96 97

„Wie man die Leich vmbriß / wie man durch jedes glied Die stumpfen Dolchen zwang / wie JESUS letzte gaben / Sein thewres fleisch vnd blutt / die matte Seelen laben /

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allerdings bereits als Gerechte in das „theatrum mundi“ eingeführt werden: Karl als geläuterter Schmerzensmann; 108 Papinian als gesetzestreuer - und kompetenter! – Staatsdiener; 109 beide als christomimetische Figuralzeugen der Heilswahrheit, 110 die von Anfang an „das Ewige im Vergänglichen selber aufleuchten“ sehen. 111 Angesichts einer Protagonistin, die das Heilsprinzip der „Bewährung“ als Gesetz ihres Schicksals begreift: „Wir ehren Persens Haupt; doch hoeher vnsern Gott. ... Der durch das Creutz bewehrt die Seelen die er libet“, 112 liegt es nahe, ein Ende zu finden, was nur heißen kann: die Ausgangsthesen der vorliegenden Überlegungen in Erinnerung zu rufen, um die „Botschaft“ oder besser vielleicht: die „Botschaften“ des Trauerspiels noch einmal präzise und „kontextbezogen“ zu bestimmen – vereint doch dieses Prinzip die beiden elementaren Motive von Gryphius’ „Consolatio“: die permanente Folter-Situation des Menschen in der Welt und die heilbringende Gegenwart Gottes. 113 Obwohl die Zahl der Catharina-Interpreten groß ist - und die Zahl der Catharina-Kontroversen kaum kleiner zu sein scheint, 114 wobei die Frage, ob Die ein verschmachtend Hertz in letzter angst erfrischt: Mit Keyserlichem Blutt / (O grewell) sind vermischt.“ 106 S PELLERBERG , Narratio im Drama (wie Anm. 47), S. 460; R AFFY , Leidenschaft und Gnade in Gryphius’ Trauerspielen (wie Anm. 85), S. 199f. 107 R AFFY , Leidenschaft und Gnade in Gryphius’ Trauerspielen (wie Anm. 85), S. 200ff. 108 G RYPHIUS , Ermordete Majestaet (wie Anm. 37), S. 81, I, 274-284 (Fassung von 1663):

„Er helffe wie Er wil! reicht uns den Sterbe=Kittel. O letztes Ehren=Kleid / das Carl mit aus der Welt Von so vil Schaetzen nimmt / mit dem die Pracht verfaelt Die uns vor disem zirt. der Purpur muß verderben. Doch wird der Adern Brunn die reine Leinwand faerben. ... So weiß wir angethan vom Laeger uns erheben / So sauber wird der Geist vor Gottes Richt=Stul schweben / Und zeugen wider die / die mit geschmincktem Schein Auff ihres Koenigs Hals selbst Part und Richter seyn.“ Prägnant: W IEDEMANN , Andreas Gryphius (wie Anm. 13), S. 463ff. Zu Karl: S CHÖNE , Ermordete Majestät (wie Anm. 15), S. 154ff., 166 und passim, der zu Recht betont, daß vor allem die zweite Fassung des Stuart-Dramas von 1663 die „Carolus-Christus-Gleichung“ erweitert und verstärkt habe. – Zu Papinian: R AFFY , Leidenschaft und Gnade in Gryphius’ Trauerspielen (wie Anm. 85), S. 201. 111 S CHÖNE , Ermordete Majestät (wie Anm. 15), S. 160. 112 G RYPHIUS , Catharina von Georgien (wie Anm. 5), S. 198, IV, 212 und 214. 113 Zum transzendenten, providentiellen Prinzip der „Bewährung“ als Trostargument: S CHINGS , Catharina von Georgien (wie Anm. 27), S. 65f., der zu Recht hervorhebt, daß dieses Prinzip „nichts mit einem innerweltlichen Heroismus zu tun“ habe, „der sich vor sich selbst bewährt“. 114 Wichtige Entwicklungslinien und die „einschlägigen“ Positionen markiert zum Beispiel S PELLERBERG , Narratio im Drama (wie Anm. 47), S. 437ff. 109 110

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die Exegeten da nicht immer wieder auch aneinander vorbei „exegiert“ haben, hier offen bleiben kann, 115 lassen doch viele Annäherungen erkennen, daß die Tragödie der georgischen Königin inzwischen in erster Linie als spezifisch lutherische oder doch zumindest: protestantische „Eitelkeitserklärung an die Adresse der kurrenten Souveränitätstheorien und deren Apotheose der Staatsklugheit“ 116 gelesen und verstanden wird 117 – eine Beobachtung, die im übrigen auch auf den „Carolus Stuardus“ 118 und – unter veränderten Vorzeichen – auf den „Papinian“ zutrifft. 119 Genauer: Die große Mehrzahl der 115 Hingewiesen sei an dieser Stelle nur auf die Auseinandersetzungen, die immer wieder um die Frage kreisen, ob die Dramen Gryphius’ Dramen der „Transzendenz“ oder der „Immanenz“ sind. 116 So Conrad Wiedemann schon 1984: Andreas Gryphius (wie Anm. 13), S. 460. 117 Beispiele: B RENNER , Der Tod des Märtyrers (wie Anm. 59), S. 259ff.; R AFFY , Leidenschaft und Gnade in Gryphius’ Trauerspielen (wie Anm. 85), S. 197f.; B ORNSCHEUER , Zur Gattungsproblematik, Affektgestaltung und politischen Theologie in Gryphs historisch-politischen Trauerspielen (wie Anm. 2), S. 212ff.; S PELLERBERG , Narratio im Drama (wie Anm. 47), S. 449f., 457ff. 118 In diesem Sinne bereits Elida Maria S ZAROTA , Gryphius’ Carolus Stuardus, in: Dies., Künstler, Grübler und Rebellen. Studien zum europäischen Märtyrerdrama des 17. Jahrhunderts, Bern und München 1967, S. 234-266. – Zusammenfassend zur neueren Forschung: R AFFY , Leidenschaft und Gnade in Gryphius’ Trauerspielen (wie Anm. 85), S. 199f. 119 Gerhard S PELLERBERG , Recht und Politik. Andreas Gryphius’ „Papinian“, in: Der Deutschunterricht 37 (1985), S. 57-68; Jean-Louis R AFFY , Le „Papinianus“ d’Andreas Gryphius (1616-1664). Drame de martyr et sécularisation du théâtre en Allemagne au XVII siècle (Collection Contacts. Série I: Theatrica 11), Bern u.a. 1992; Wilfried B ARNER , Der Jurist als Märtyrer. Andreas Gryphius’ „Papinianus“, in: Literatur und Recht. Literarische Rechtsfälle von der Antike bis in die Gegenwart, hg. von Ulrich M ÖLK , Göttingen 1996, S. 229-242; Okko B EHRENDS , Papinians Verweigerung oder die Moral eines Juristen, in: ebd., S. 243-291; Peter M ICHELSEN , Vom Recht auf Widerstand in Andreas Gryphius’ Aemilius Paulus Papinianus, in: Simpliciana. Schriften der GrimmelshausenGesellschaft 17 (1995), S. 45-70. – Vgl. in diesem Zusammenhang auch die wegweisende Weiterentwicklung dieser „Papinian“-Lesart von Conrad Wiedemann: „Gryphs Abbildung des absolutistischen Paradoxes, daß die zum ‚sterblichen Gott‘ stilisierte Institution des Staates durch keineswegs göttliche Individuen repräsentiert und perpetuiert werden muß, wird durch diese Kontrastierung zu einer unerwartet kritischen Denkfigur, einer Denkfigur die im Kern auf die Frage nach dem Verhältnis von Repräsentation und Verantwortung im absoluten Staat hinausläuft. Der Gedanke ist ebenso einleuchtend wie konkret: Wenn der absolute Fürst, in der Regel politischer, juristischer und theologischer Laie, eben dadurch verstärkt gefährdet erscheinen muß, die religiöse oder naturrechtliche Legitimation seiner provozierenden Machtfülle zu verkennen, dann muß der Instanz, die diesen theoretisch einkalkulierten Mangel durchschaut, eine erhöhte Verantwortung zukommen. Diese Instanz ist natürlich die neue Kaste der politisch gebildeten Juristen, gelegentlich auch Theologen.“ W IEDEMANN , Andreas Gryphius (wie Anm. 13), S. 465f. – Instruktiv darüber hinaus: Ders., Barocksprache, Systemdenken, Staatsmentalität. Perspektiven der Forschung nach Barners „Barockrhetorik“, in: Internationaler Arbeitskreis für deutsche Barockliteratur. Erstes Jahrestreffen in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel 27. bis 31. August 1973: Vorträge und Berichte (Dokumente des Internationalen Arbeitskreises für deutsche Barockliteratur 1), Hamburg 2 1976, S. 21-51; Ders., Heroisch – Schäferlich – Geistlich. Zu einem möglichen Systemzusammenhang barocker Rollenhaltung, in: Schäferdichtung, hg. von Wilhelm V OßKAMP (Dokumente des Internationalen Arbeitskreises für deutsche Barockliteratur 4), Hamburg 1977, S. 96-122; sowie: Ders.,

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Catharina-Interpreten geht davon aus, daß die „vanitas“-Demonstration des Dramas, die in der Weltabsage Catharinas ihren Höhepunkt erreicht: „Die Erden stinckt vns an“, als „eschatologische Warnung“ gedeutet werden muß, den irdischen „Spielplatz“ nicht zu überschätzen 120 - und damit zugleich als „Heilmittel“ gegen die neostoisch grundierte „Wahn“-Vorstellung, die „ratio“, vor allem aber: die „ratio politica“, die „ratio status“ könne das Leid der Welt lindern und damit die christliche Weltunsicherheit verringern. 121 In anderen Worten: Die Catharina-Tragödie entlarvt die Versprechungen der politischen Vernunft als Ausfluß menschlicher Überheblichkeit, was sie - wie den „Carolus Stuardus“ und den „Papinian“ – zu einer „politisch-theologischen Tragödie“ werden läßt, zu einer Tragödie, die beides ist: eine Tragödie der „Transzendenz“ und eine Tragödie der „Immanenz“. 122 Was aber bedeutet diese Entlarvung für das schwierige Verhältnis von göttlicher und menschlicher Dramaturgie? Schon ein kurzer Blick in die zeitgenössische Kirchenlieddichtung 123 und „consolatio“-Literatur 124 offenbart, daß diese Frage, die in der Catharina-Forschung bislang nicht oder doch zumindest nicht explizit gestellt wurde, nur eine Antwort zuläßt – sprechen doch beide Gattungen offen aus, was die Tragödie verschlüsselt: Indem die göttliche Dramaturgie das Leiden als bewußte Tat der Leidensüberwindung in der „constantia“ konkretisiert, überführt sie das menschliche Handeln, das als Leid sinnvoll gemacht wurde, in das göttliche Heilshandeln, das wiederum im Leid – und nur im Leid - exemplifiziert wird. 125 Oder – explizit protestantisch gesprochen: Indem die Catharina-Tragödie den Menschen davor warnt, seinen „Vernunftkult“ zu übertreiben, warnt sie ihn zugleich davor, seine Erlösungsvoraussetzung aufs Spiel zu setzen. Denn soviel steht fest: Wer auf die Bestrittene Individualität. Beobachtungen zur Funktion der Barockallegorie, in: Formen und Funktionen der Allegorie. Symposion Wolfenbüttel 1978, hg. von Walter H AUG (Germanistische Symposien. Berichtsbände 3), Stuttgart 1979, S. 574-591, hier vor allem S. 588f. 120 Grundlegend zur Eschatologie bei Gryphius – auch über seine Dramen hinaus: V OßKAMP , Zeit- und Geschichtsauffassung im 17. Jahrhundert (wie Anm. 46), S. 99ff. 121 Pointiert: W IEDEMANN , Andreas Gryphius (wie Anm. 13), S. 460ff. 122 B ORNSCHEUER , Zur Gattungsproblematik, Affektgestaltung und politischen Theologie in Gryphs historisch-politischen Trauerspielen (wie Anm. 2), S. 219f. 123 Zusammenfassend: K EMPER , Das lutherische Kirchenlied in der Krisen-Zeit des frühen 17. Jahrhunderts (wie Anm. 14), S. 96f. 124 M AUSER , Dichtung, Religion und Gesellschaft im 17. Jahrhundert (wie Anm. 14), insbesondere S. 152ff., der auch auf das einschlägige katholische Schrifttum verweist. – Einen Überblick über die Formen, Inhalte und Rezeptionskonjunkturen erbaulicher Literatur in der frühen Neuzeit in Europa ermöglicht: Hartmut L EHMANN , Das Zeitalter des Absolutismus. Gottesgnadentum und Kriegsnot (Christentum und Gesellschaft 9), Stuttgart u.a. 1980, S. 114ff.; vgl. auch Ders.., Die Kometenflugschriften des 17. Jahrhunderts als historische Quelle, in: Literatur und Volk im 17. Jahrhundert. Probleme populärer Kultur in Deutschland, hg. von Wolfgang B RÜCKNER [u.a.], Teil 2 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 13), Wiesbaden 1985, S. 683-700. 125 Zur Demonstration der „constantia“ in der Literatur des 17. Jahrhunderts – neben den Arbeiten von Hans-Jürgen Schings - immer noch wegweisend: Werner W ELZIG , Constantia und barocke Beständigkeit, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 35 (1961), S. 416-432.

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„theologia crucis“ verpflichtet ist, muß jede Einschränkung seiner Bewährungs- und Leidensfähigkeit als bedrohlich empfinden. 126 Kein Zweifel: Wenn die protestantische Märtyrertragödie eine Antwort auf die „Krisen“-Erfahrungen der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts gegeben hat oder doch zumindest geben wollte, 127 dann war es diese Antwort. Welche spirituellen Folgen sie hatte, welche frömmigkeitsgeschichtlichen, welche innerweltlichen, inwieweit sie dazu beitrug, die Selbstwahrnehmung des Menschen zu verändern 128 oder jene komplexe protestantische Kultur – um nicht zu sagen: Kunst - des Leidens zu intensivieren, die seit dem frühen 17. Jahrhundert immer konturiertere Formen annahm 129 – all das ist schwer zu ermessen. 130 Ja, man muß sogar fragen, ob diese Antwort ihr Publikum überhaupt erreichte – oder ob nicht zum Beispiel jene Zeitgenossen, überwiegend Lutheraner wohl, die das Catharina-Drama 1655 am Hof des calvinistischen Piastenherzogs Christian in Ohlau verfolgen konnten, 131 oder jene, die ein 126 Ausführlich zu den theologischen – und politischen Implikationen der lutherischen „Leiden-Heil-Argumentation“: M AUSER , Dichtung, Religion und Gesellschaft im 17. Jahrhundert (wie Anm. 14), S. 163ff.; instruktiv auch: K EMPER , Das lutherische Kirchenlied in der Krisen-Zeit des frühen 17. Jahrhunderts (wie Anm. 14), S. 97, der – mit Blick auf Johann Arndt und Philipp Nicolai - vor allem auf das Problem des Heilserwerbs im Leid hinweist – etwa als Demonstration der „wahren Demuth“, der „christlichen Ritterschaft“ und der „heiligen Gedult“ als Früchte des wahren Glaubens. 127 Grundlegend zu den „Krisen“ des 17. Jahrhunderts und ihrer Wahrnehmung: Im Zeichen der Krise. Religion und Religiosität im Europa des 17. Jahrhunderts, hg. von Hartmut L EHMANN und Anne-Charlott T REPP (Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts für Geschichte 152), Göttingen 1999; zusammenfassend: Hartmut L EHMANN , Die Krisen des 17. Jahrhunderts als Problem der Forschung, in: Krisen des 17. Jahrhunderts (wie Anm. 14), S. 13-24. – Speziell zum Problemzusammenhang von „Krisenerfahrung“ und „Trostsuche“ in der Erbauungsliteratur etwa: Udo S TRÄTER , Meditation und Kirchenreform in der lutherischen Kirche des 17. Jahrhunderts (Beiträge zur historischen Theologie 91), Tübingen 1995; und am Beispiel der Lieddichtung: Thomas K AUFMANN , Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede. Kirchengeschichtliche Studien zur lutherischen Konfessionskultur (Beiträge zur historischen Theologie 104), Tübingen 1998, S. 100ff. 128 Eine Wahrnehmung, die sich im lutherischen Kirchenlied bis zum Selbsthaß steigern konnte. K EMPER , Das lutherische Kirchenlied in der Krisen-Zeit des 17. Jahrhunderts (wie Anm. 14), S. 96. 129 Pointiert: M AUSER , Dichtung, Religion und Gesellschaft im 17. Jahrhundert (wie Anm. 14), S. 151ff.; K EMPER , Das lutherische Kirchenlied in der Krisen-Zeit des 17. Jahrhunderts (wie Anm. 14), S. 96ff. – sowie: Thomas B ORGSTEDT , Konfessionelle Strukturen in Lohensteins Arminiusroman, in: Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock, hg. von Dieter B REUER , Teil 2 (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 25), Wiesbaden 1995, S. 683-691, hier insbesondere S. 685ff. 130 Zu den methodischen Problemen solcher Bestimmungsversuche vgl. hier nur R OECK , Der Dreißigjährige Krieg und die Menschen im Reich (wie Anm. 17); und - aus literaturwissenschaftlicher Sicht: B RAUNGART , Poetische Selbstbehauptung (wie Anm. 14). 131 Ausführlich zu dieser Aufführung: Harald Z IELSKE , Andreas Gryphius’ „Catharina von Georgien“ auf der Bühne. Zur Aufführungspraxis des schlesischen Kunstdramas, in: Maske und Kothurn 17 (1971), S. 1-17, und ders., Andreas Gryphius’ Trauerspiel „Catharina von Georgien“ als politische „Festa Teatrale“ des Barock-Absolutismus, in:

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paar Jahre später die Aufführung des Breslauer Schultheaters besuchten, 132 eher die „kleinen Botschaften“, die „Nebenbotschaften“ der Tragödie empfingen oder empfangen wollten, die konkreten konfessionellen und politischen Signale vor allem, die der Syndikus der schlesischen Landstände in seinen Alexandrinern gut sichtbar verborgen hatte. 133 War da nicht von der Niederschlagung des böhmischen – und damit doch auch schlesischen - Aufstandes die Rede 134: „... In wenig Zeit verfill || Deß Adels schoenste Blum / durch frembde Trauerspill“ 135? Oder von der Rekatholisierungspolitik der Habsburger, die in Schlesien seit Erlaß des Restitutionsedikts 1629 immer spürbarer wurde und nach dem Krieg keineswegs nachließ 136? Und sogar von

Funde und Befunde zur schlesischen Theatergeschichte, hg. von Bärbel R UDIN , Bd. 1: Theaterarbeit im gesellschaftlichen Wandel dreier Jahrhunderte (Veröffentlichungen der Forschungsstelle Ostmitteleuropa. Reihe A 39), Dortmund 1983, S. 1-32. 132 Eine Aufführung, die Gryphius in seiner Vorrede zum „Papinian“ bezeugt, die also vor 1659 stattgefunden haben muß. Andreas G RYPHIUS , Trauerspiele, Bd. 1 (wie Anm. 37), S. 164; Bd. 3 (wie Anm. 5), S. XIII. – Vgl. darüber hinaus: Gerhard S PELLERBERG , Das schlesische Barockdrama und das Breslauer Schultheater, in: Die Welt des Daniel Caspar von Lohenstein, hg. von Peter K LEINSCHMIDT [u.a.], Köln 1978, S. 58-69; sowie: Ders., Szenare zu den Breslauer Aufführungen Gryphischer Trauerspiele, in: Daphnis. Zeitschrift für Mittlere Deutsche Literatur 7 (1978), S. 235-265. 133 In diesem Sinne schon Herbert S CHÖFFLER , Deutsches Geistesleben zwischen Reformation und Aufklärung. Von Martin Opitz zu Christian Wolff, Frankfurt am Main 2 1956, S. 14ff.; vor allem aber: Elida Maria S ZAROTA , Gryphius’ Catharina von Georgien, in: Dies., Künstler, Grübler und Rebellen (wie Anm. 118), S. 190-215 und dies., Gryphius als politischer Dichter (wie Anm. 49), die davon ausgeht, daß Gryphius die Catharina-Tragödie nach dem Krieg bis zu ihrem Erscheinen 1657 angesichts der forcierten habsburgischen Rekatholisierungspolitik noch mehrfach „aktualisiert“ hat. 134 Christine van E ICKELS , Schlesien im böhmischen Ständestaat. Voraussetzungen und Verlauf der böhmischen Revolution von 1618 in Schlesien, Köln u.a. 1994; vgl. in diesem Zusammenhang auch: Ewa P IETRZAK , Andreas Gryphius und die schlesischen Piasten, in: Weltgeschick und Lebenszeit. Andreas Gryphius – ein schlesischer Barockdichter aus deutscher und polnischer Sicht, hg. von der Stiftung Gerhart-Hauptmann-Haus, Düsseldorf 1993, S. 229-242. 135 G RYPHIUS , Catharina von Georgien (wie Anm. 5), S. 155, I, 555f. 136 Dorothee von V ELSEN , Die Gegenreformation in den Fürstentümern LiegnitzBrieg-Wohlau. Ihre Vorgeschichte und ihre staatsrechtlichen Grundlagen, Leipzig 1932; Georg J AECKEL , Die staatsrechtlichen Grundlagen des Kampfes der evangelischen Schlesier um ihre Religionsfreiheit, Teil 7: Der Generalangriff der Gegenreformation, in: Jahrbuch für schlesische Kirchengeschichte 47 (1968), S. 7-40; Jan H ARASINOWICZ , Evangelische Heilige? Die Heiligen in Lehre, Frömmigkeit und Kunst in der evangelischen Kirche Schlesiens, in: Heilige und Heiligenverehrung in Schlesien, hg. von Joachim K ÖHLER (Schlesische Forschungen 7), Sigmaringen 1997, S. 171-216, hier S. 198f. - Zusammenfassend aus mikrogeschichtlicher Perspektive: Jörg D EVENTER , Die chronikalischen Aufzeichnungen des Bäckermeisters Balthasar Isler aus Schweidnitz. Eine Quelle zu Konfessionalisierung und Gegenreformation in schlesischen Städten, in: Silesiographia. Stand und Perspektiven der historischen Schlesienforschung. Festschrift für Norbert Conrads zum 60. Geburtstag (Wissenschaftliche Schriften des Vereins für Geschichte Schlesiens 4), Würzburg 1998, S. 501-512, hier S. 503ff. - Zum Vergleich: Arno H ERZIG , Reformatorische Bewegungen und Konfessionalisierung. Die habsburgische Rekatholisierungspolitik in der Grafschaft Glatz (Hamburger Veröffentlichungen zur Geschichte Mittel- und Osteuropas 1), Hamburg 1996 – sowie: Ders., Der Zwang

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Zwangskonversionen: „... heiß alles binden || Was noch von Christen ist in Gurgistan zu finden“ – oder: „... Wer nicht das Creutz abschwert || Der werde von der Glut in Leich’ vnd Staub verkehrt“ 137? Ja, war da nicht überhaupt von Schlesien die Rede, wenn von Georgien gesprochen wurde 138? Welche Bedeutung man diesen konkreten konfessionellen und politischen Signalen auch immer zumißt, 139 soviel wird man sagen dürfen: Die CatharinaTragödie hatte als „consolatio“ ihren „Sitz im Leben“ – wie das protestantische Märtyrerdrama des Barock überhaupt; 140 und wenn es schon bald nach Gryphius zur literarischen Leiche wurde, 141 dann zweifellos auch deshalb, weil es in der postkonfessionellen Welt jene konsolatorische Relevanz verlieren mußte, die es hervorgebracht hatte.

zum wahren Glauben. Rekatholisierung vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Göttingen 2000, insbesondere S. 68ff. 137 G RYPHIUS , Catharina von Georgien (wie Anm. 5), S. 154, I, 517f., 527f. 138 So vor allem Elida Maria Szarota, aber zum Beispiel auch: Pierre B ÉHAR , La tragédie silesienne, miroir du drame politico-confessionel de l’Empire, in: XVIIe Siècle 47 (1995), S. 585-601. 139 Skeptisch etwa: S PELLERBERG , Narratio im Drama (wie Anm. 47), S. 450 und passim. 140 S CHINGS , Consolatio Tragoediae (wie Anm. 11), S. 36. 141 Vgl. hier nur Walther R EHM , Römisch-französischer Barockheroismus und seine Umgestaltung in Deutschland, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 22 (1934), S. 81-106 und S. 213-239; Ders., Schiller und das Barockdrama, in: Ders., Götterstille und Göttertrauer. Aufsätze zur deutsch-antiken Begegnung, München 1951, S. 62-100; insbesondere aber: Raimund N EUß , Tugend und Toleranz. Die Krise der Gattung Märtyrerdrama im 18. Jahrhundert (Literatur und Wirklichkeit 25), Bonn 1989.

„Liberté, Égalité, Fraternité“ Zur Vorgeschichte der französischen Revolutionsdevise Wiard Hinrichs

Die Geschichte des Jubels der Untertanen ist noch zu schreiben, konstatierte Ernst Schubert auf dem Frankfurter Historikertag 1998. Zu diesem Zweck folgte er dem letzten Schritt auf dem Weg von der spätmittelalterlichen Meinungsäußerung des Gemeinen Mannes über die neuzeitliche Untertanenpflicht hin auf die lautstarke Zustimmung sich als mündig empfindender Bürger im Vormärz und zurück ins Korsett obrigkeitlich verordneter und inszenierter Rituale im Kaiserreich. Die Sympathisanten der bisherigen Landesherrschaft unterlagen in der von Preußen 1866 annektierten Provinz Hannover den gleichen Verfolgungen wie die Organisationen der Arbeiterbewegung. Für die öffentlich sichtbaren Formen der Auseinandersetzung lernten die Legitimisten schnell von den Proletariern. 1 Wie die Frage nach dem Inhalt einer politischen Parole gestellt wurde und wohin die Suche nach ihren Anfängen führt, soll im Folgenden gezeigt werden. Fünf Jahre vor dem Untergang des welfischen Königreichs berichtete die „Hannoversche Tagespost“ aus Celle von einem Eklat beim Turnfest am 6. Oktober 1861: Der hiesige Arbeiter-Bildungsverein besitzt eine mehre Jahre alte hübsche Vereinsfahne, welche derselbe zum gestrigen Turnfeste vor dem Hause, in welchem derselbe sein Versammlungslocal hat, auszuhängen beabsichtigt hatte. Ein in Militairdiensten stehender Sohn der Hauswirthin, welcher über die Seitens der Einwohnerschaft an dem Feste bezeigte Theilnahme sehr empört war, brach gewaltsam und mit den Worten: „wenn der König hier käme oder Königs Geburtstag sei, so wolle Keiner die Häuser schmücken, und jetzt schmücke Jeder“, in das Zimmer, wo die Fahne aufbewahrt wurde, und vernichtete dieselbe gänzlich. Die öffiziöse „Neue Hannoversche Zeitung“ war bemüht, diesen Versuch, das Militair und dessen einzelne Mitglieder beim Publicum in ein nachtheiliges Licht zu setzen, richtigzustellen. Danach besaß die Mutter des Täters ein Haus in Celle, in welchem sie dem dortigen Arbeiter-Bildungsvereine ein nach hinten belegenes Zimmer vermiethet hat. Dieser Verein hat bei dem unlängst in Celle Statt gehabten Turnfeste eine ihm gehörende Fahne mit den Buchstaben F. G. V. (soll heißen Freiheit, Gleichheit, Verbrüderung) bezeichnet, ohne Erlaubnis der Hausbesitzerin, deren ältester Sohn der fragliche Infanterist ist, ausgehängt, obwohl der Letztere dies schon vorher verboten und erklärt hat, daß er als Militair nicht zugeben könne, daß eine solche Fahne aus seinem mütterlichen Hause gehängt werde. Als der 1 Ernst S CHUBERT : Verdeckte Opposition in der Provinz Hannover. Der Kampf der „Welfen“ um die regionale Identität während des Kaiserreichs, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 134, 1998, S. 211-272, hier: 242, 246.

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Verein darauf für die bei der Auseinandersetzung zerrissene Fahne einen hohen Kostenersatz verlangte, wurde dem ablehnenden Soldaten von seinen Vorgesetzten wegen seines bei dem fraglichen Vorfalle beobachteten, völlig angemessenen Benehmens die größte Zufriedenheit zu erkennen gegeben. 2 Die revolutionäre Parole bewahrte noch im 20. Jahrhundert ihre polarisierende Kraft. Der Klappentext zur Broschüre eines Mitarbeiters der Reichsschrifttumskammer gibt die Stellungen zu Beginn des Zweiten Weltkriegs wieder: An den Ufern der Seine begeht man am 14. Juli 1939 den 150. Jahrestag der Französischen Revolution mit der gleichen universellen Anmaßung, wie man 1789 die Geburtsstunde angeblicher Menschenrechte feierte, und wieder werden jene freimaurerischen Schlagwörter von der Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit wie Feuerwerkskörper am Himmel der Politik brillieren. Frankreich feiert sich als den Ahnherrn der Demokratie, aber es vergißt, daß es seit dem 14. Juli 1789 trotz Demokratie und Massensuggestion politisch nicht mehr zur Ruhe kam, es vergißt, daß der 14. Juli 1789 in Wahrheit der Tag war, da die Anarchie in die Welt hinausging. 3 Ähnlich argumentierte der Reichserziehungsminister beim Jubiläum der Universität Göttingen 1937, nach einem Rückblick auf den Untergang der athenischen Demokratie: Im Jahr 1789 erhebt sich am Ende einer Übergangsperiode aus mittelalterlichen Gemeinschaftsformen die französische Revolution. Wieder lautet die Parole: Freiheit. Meine jungen Kameraden, in wessen Hände ist die Fackel der Freiheit von 1789 gelangt? – Auf ihrem Wege durch Europa kam sie schließlich in die Hände von Lenin und Stalin. 4 Doch auch im Gebiet des sich als real existierend verstehenden Sozialismus verlor die alte Devise ihre traditionelle Geltung: Die Schlagworte der Französischen Revolution „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ haben in dieser Form und in ihrer alten Sinngebung keine aktuelle Bedeutung mehr. Was an wirksamen Inhalten dieser Worte übriggeblieben ist, ist längst als ein Moment in die moderne Arbeiterbewegung eingegangen. Die Agitation bedient sich solcher Worte häufig, um Anknüpfungen an Bekanntes bei des Hörern herbeizuführen, noch häufiger aber, um den appraisiven Sinn dieser Worte in das Gegenteil zu verwandeln. Die heutige Bourgeoisie benutzt sie z. B., um die Unhaltbarkeit des klassischen Liberalismus zu beweisen und Propaganda für die monopolkapitalistische Form der Wirtschaft zu machen. Die Theoretiker der Arbeiterklasse werden in der Agitation und politischen Rede einerseits den utopischen Charakter dieser Worte zeigen, andererseits aber darauf hinweisen, daß in ihnen ein rationeller Kern enthalten ist, dessen Verwirklichung erst der Arbeiterklasse möglich war. 5 2 Die Berichte in Hannoversche Tagespost Nr. 274, 8.10.1861; Neue Hannoversche Zeitung Nr. 483, 16.10.1861, S. 1630. 3 Wilhelm I HDE : Discours zwischen Friedrich dem Großen und Robespierre. Eine Vision bei Belle Alliance (In Deutschlands Namen). Leipzig 1939. In größerer Breite formuliert der Autor seine Position in: Wegscheide 1789. Darstellung und Deutung eines Kreuzweges der europäischen Geschichte. Leipzig/ Berlin: Lühe-Verlag, 1940. 4 Bernhard R UST : Freiheit und Ordnung. Rede bei der Kundgebung der Studenten auf dem Ehrenhof der Universität am 28. Juni 1937, in: Wissenschaft und Glaube. Reden und Ansprachen zur 200-Jahrfeier der Georg-August-Universität zu Göttingen im Juni 1937. Oldenburg/Berlin 1937, S. 20-27, hier: 21. 5 Georg K LAUS : Sprache der Politik. Berlin: VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, 1972, S. 134.

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Die Revolution von 1789 hatte im Arsenal ihrer Symbole und Begriffe allein Liberté und Egalité in eine feste Verbindung gebracht, so schon im Art. 1 der Menschenrechtserklärung von 1789: Les hommes naissent et demeurent libres et égaux en droits. Von Fraternité war erst die Rede, als am Ende des 1. Titels der Konstitution von 1791 auch der Jubel Verfassungsrang erhielt: Il sèra etabli des fêtes nationales pour conserver le souvenir de la révolution française, entretenir la fraternité entre les citoyens et les attacher à la Constitution, à la patrie et aux lois. 6 Unerreichtes Vorbild dafür war die fête de la Fédération auf dem Marsfeld am 14. Juli 1790, wo das Volk in Waffen seine Einheit darstellte. 7 Dennoch scheint die Brüderlichkeit unter den Idealen der modernen Demokratie nachrangig geblieben zu sein: Die öffentliche Diskussion der Gegenwart ist bestimmt von den Gedanken der Freiheit und der Gleichheit; das dritte Ideal der Demokratie, die Brüderlichkeit, wird gelegentlich bewusst verschwiegen, jedenfalls in unserem rechtlichen Alltagsleben nicht voll entfaltet. 8 In politischen Katechismen Frankreichs aus der Revolutionszeit gelangte sie nur 1793 auf einen zweiten Platz, an Nennungen nur noch von der Gleichheit übertroffen. 9 Im nachrevolutionären Frankreich wurden Liberté, Égalité, Fraternité in ihrem heute geläufigen Dreiklang zur Parole der republikanische Gegner des sich auf Freiheit und Öffentliche Ordnung berufenden Bürgerkönigtums. Erst mit der Februarrevolution 1848 konnten sie ihrer Devise staatliche Verbreitung auf Münzen und öffentlichen Gebäuden sicherten. Unter der Herrschaft Louis Napoleons wie die rote Fahne der radikalen Sozialisten wiederum verdrängt und auf die oppositionellen Demokraten beschränkt, fand sie trotz der erneuten Belastung durch das Scheitern der Pariser Kommune nach 1871 ihren dauernden Platz im Wertekanon der Dritten Republik. 10 6 Constitution française vom 3.9.1791, Tit. 1, [12], zit. nach Wilhelm A LTMANN (Hg.): Ausgewählte Urkunden zur ausserdeutschen Verfassungsgeschichte seit 1776. 2. verm. Aufl. Berlin 1913, S. 61. 7 In Erinnerung an die 1936 in die Volksfront gesetzten Hoffnungen beklagte Marc Bloch 1940 die beiden Lager der Franzosen, die nie die Geschichte Frankreichs begreifen werden: diejenigen, welche sich von der Erinnerung an die Königsweihe von Reims nicht anrühren lassen, und diejenigen, welche den Bericht über das Bundesfest ohne innere Anteilnahme lesen. Welches auch immer ihre heutigen politischen Präferenzen sein mögen: Allein die Tatsache, daß sie für diese schönsten Ausbrüche kollektiver Begeisterung unempfänglich sind, spricht das Urteil über sie. In: Die seltsame Niederlage: Frankreich 1940. Der Historiker als Zeuge. Frankfurt a. M. 1992, S. 222. Bildliche Darstellungen des Ereignisses bei Michel V OVELLE : La Revolution Française. Images et recit 1789-1799. T. 2: Octobre 1789-septembre 1791. Paris 1986, S. 102-129. 8 So der Bundesverfassungsrichter a.D. Paul K IRCHHOF : Selbstbestimmung und Hilfsbedürftigkeit des Menschen. In: Kirche und Recht Jg. 2000, S. 129-137, hier 129. 9 Rolf R EICHARDT : Revolutionäre Mentalitäten und Netze politischer Grundbegriffe in Frankreich 1789-1795. In: Reinhart K OSELLECK / Rolf R EICHARDT (Hg.): Die Französische Revolution als Bruch des gesellschaftlichen Bewußtseins (Ancien Régime, Aufklärung und Revolution, Bd. 15). München 1988, S. 185-215. Dort S. 202 eine Frequenztabelle der meistgebrauchten und gemeinsamen Grundbegriffe in politischen Katechismen 1775-1795. 10 Für die Verbreitungs- und Konjunkturgeschichte der Devise in Frankreich vgl. den Beitrag von Mona O ZOUF , in Pierre N ORA (ed.): Les lieux de memoire III 3, Paris 1992, S. 584-629 (= Quarto-Ausgabe Paris 1997, S. 4353-4388. Dt. Übers. von Hans Thill in Mona O ZOUF : Das Pantheon. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Zwei französische

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Bevor in Frankreich die Einführung des Euro Anfang 2002 die Devise aus dem Umlauf bei der barzahlenden Bevölkerung zu beseitigen droht, sei die Verwendung ihrer Elemente auf Münzen und Medaillen von 1789 bis 1799 kurz verfolgt. 11 Vom 12. Jahrhundert bis 1789 hatten die hohen Nominale französischer Münzen das Motto Christus regnat, vincit, imperat getragen. 12 Die im Dekret vom 5. Februar 1793 festgelegten Münzen der Republik trugen die Inschriften Republique Francaise und Liberté, Égalité. 13 Die am 21. September 1797 eingeführte Münze zu 5 Francs zeigt die Personifikationen von Freiheit und Gleichheit, einander die Hand reichend, umarmt von Herkules mit der Umschrift Union et Force und der allfälligen Zweifel abwehrenden Randinschrift Garantie Nationale. 14 Schneller in der Würdigung aktueller Ereignisse und weniger an Traditionen gebunden waren Medaillen, so auf das Föderationsfest zum ersten Jahrestag des Sturms auf die Bastille und zum 14. September 1791 auf die Annahme der Verfassung durch den König. 15 Eine weitere Prägung zeigte einen Gefangenen aus der Bastille mit der Inschrift: La Liberte a rompu mes fers l´egalite ma eleve. 16 Als die Verfassung der Republik vom 24. Juni 1793 am 10. August 1793 beschworen wurde, verkündete eine Medaille: Nous jurons de defendres la constitution jusqu´a la mort. 17 Der Beginn des Jahrs 3 der Republik am 22. September 1794 vereinte auf einer Kalenderdarstellung des Graveurs Jean-Théodore Maurisset senkrecht am linken und rechten Rand von Avers und Revers der Medaille: L IBERTÉ / EGEALITE / FRATERNITE / OU LA MORT . 18 Diese Verbindung der drei Worte der Devise blieb eine Ausnahme, nach 1794 war sie zudem durch den Terreur diskreditiert.

Gedächtnisorte. Berlin: Wagenbach, 1996, S. 39-93. Aufschlußreich für die gegenrevolutionäre Position bes. die dort bei Anm. 52 u. 53 zitierten Äußerungen des Lexikographen Emile Littré von 1851 und 1878. Michel B ORGETTO : La devise „Liberté, Égalité, Fraternité“ (Que sais-je?). Paris: P.U.F, 1997, hat seinen Schwerpunkt ebenfalls in der republikanischen Weihe und Verwendung der Devise der Verfassung seit den 1840er Jahren. 11 Histoire numismatique de la révolution française, ou description raisonnée des médailles, monnaies, et autres monumens numismatiques relatifs aux affaires de la France, depuis l´ouverture des états-géneraux jusqu´a l´établissement du gouvernement consulaire. Paris: Merlin, 1826. 12 Ebd. S. 84, Nr. 211. Das Motto der unter Philipp I. gegen die Sarazenen kämpfenden Armee findet sich ähnlich als Inschrift am Fuß des ägyptischen Obelisken auf dem Petersplatz in Rom: Christus vincit, Christus regnat, Christus imperat, Christus ab omni malo plebem suam defendat. 13 Ebd. S. 256, Nr. 370; S. 406; S. 517, Nr. 748 ff. (21.9.1796); S. 650, Nr. 915 (22.9.1799). 14 Ebd. S. 561, Nr. 799. 15 Ebd. S. 137, Nr. 189: Union Fraternel unter Schild mit der Inschrift La Loi et le Roi, Umschriften: District des cordeliers. / Sous la presidence de George Jacques Danton. 1790. Ebd. S. 156, Nr. 217 mit den Figuren Liberté und Egalité. 16 Ebd. S. 237, Nr. 351. 17 Ebd. S. 355, Nr. 527. 18 Ebd. S. 437, Nr. 638; eine weitere Medaille desselben Künstlers auf das Jahr 5 S. 532, Nr. 753.

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Die Herkunft der seit der Dritten Republik allgemein akzeptierten Devise wurde mit der zunehmenden Selbstverständlichkeit der Staatsform und ihrer Symbole zum Thema für Historiker. 19 Wie bei der Menschenrechtsdeklaration besteht das Risiko, daß heute das Verständnis dafür, was man mit der Erklärung von 1789 gewollt hat, allmählich verlorengeht und dann das Geschehen von 1789 ideologisiert wird. 20 Auf der Suche nach den Ursprüngen der Devise, der Zusammenfügung ihrer Elemente und ihrer Adaption für den politischen Tagesgebrauch der Revolution sind besonders Rousseau, die Philosophie der Aufklärung und die Texte der Freimaurerei als gängige Kandidaten untersucht worden, jedoch ohne befriedigendes Resultat. Alle Genealogien, die unter großer Aufwendung von Gelehrsamkeit unternommen wurden, hatten also lediglich als Ergebnis, daß die revolutionäre Taufe dieser Formel mit ein wenig mehr Glaubwürdigkeit ausgestattet wurde, resümierte Mona Ozouf noch 1992. 21 Gerade die im Kampf um Erziehung und Unterricht erfolgreichen Antiklerikalen in der laizistischen Republik bedurften für die 1906 erreichte radikale Trennung von Kirche und Staat einer Vergewisserung ihrer Grundlagen. Transzendentale Begründungen schieden aus, wie schon Condorcet im April 1792 formuliert hatte, als der Ausschuß für Volksbildung der Assemblée législative seinen Bericht über die allgemeine Organisation des öffentlichen Unterrichtswesens vorlegte: Weder die französische Konstitution noch die Erklärung der Menschenrechte sollen irgendeiner Klasse von Bürgern dargestellt werden, als seien es vom Himmel gefallene Gesetzestafeln, die man anbeten und gläubig annehmen kann. 22 Nicht länger sollte das Menschengeschlecht aufgeteilt bleiben in ihre Vernunft gebrauchende Herren und auf den Glauben verwiesene Sklaven. 23 Der Gang der Zivilisation (mit allen Hindernissen) wurde damit in zielgerichteter Auswahl Gegenstand der Pädagogik. Deshalb mußte ein in Paris 19 1904 entstand die klassische Untersuchung von Alphonse A ULARD zum Thema in dessen Études et leçons sur la Révolution française. Sixième Série. Paris: Alcan, 1910, S. 1-32. Auf sie stützt sich noch Gerd van den H EUVEL : Der Freiheitsbegriff der Französischen Revolution. Studien zur Revolutionsideologie (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 31). Göttingen 1988, S. 220-226. 20 So Roman S CHNUR im Vorwort des Sammelbands Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte (Wege der Forschung, Bd. 11). Darmstadt 1964, S. IX. 21 O ZOUF (wie Anm. 6), S. 44/586/4356. 22 „Ni la Constitution française, ni même la Déclaration des Droits de l´homme ne seront présentées à aucune classe de citoyens comme des tables descendues du ciel, qu´il faut adorer et croire.“ Rapport et projet de décret sur l´organisation générale de l´instruction publique, in: Jean Antoine Nicolas de Caritat de C ONDORCET : Œuvres, T. 7, Paris 1847, S. 449-556, (S. 455). übers. von Matthias Wolf bei Marc B LOCH (wie Anm. 8), S. 208. Zum politischen Zusammenhang vgl. Elisabeth B ADINTER /Robert B ADINTER : Condorcet (1743-1794). Un intellecuel en politique. Paris 1988, S. 395-400. 23 Bereits die nächsten Jahre brachten in religionskritischer Tradition formulierte Warnungen vor dem Kultus um Tugenden, deren öffentliche Verehrung nur ihre alltägliche Mißachtung kompensieren sollte und die Werte durch ihre Symbole zu ersetzen drohte (Nous n´avons eu de la Liberté que les Arbres, les Statues, et le Bonnet rouge); vgl. den Diskussionsbeitrag von Gerd van den H EUVEL zu Rolf R EICHARDT (wie Anm. 10), S. 236.

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lehrender Professor 1940 den Zustand des Geschichtsunterricht der Gymnasien beklagen: Gerade weil er sich nur noch um die Gegenwart oder die unmittelbare Vergangenheit kümmern will, wird er unfähig, diese zu erklären, ganz wie ein Ozeanograph, der sich weigert, seinen Blick auf die Gestirne zu richten, vorgeblich weil sie zu weit vom Meer entfernt sind, und der mithin nicht mehr in der Lage ist, die Ursachen der Gezeiten zu entdecken. [...] Indem unsere Geschichtserziehung bewußt auf ein ziemlich ausgedehntes Blick- und Vergleichsfeld verzichtet, vermag sie nicht mehr, denen, die sie bilden will, das Gespür für den Unterschied oder die Veränderung zu vermitteln. 24 Fünfzig Jahre zuvor empfahl ein Romanheld, unglücklicher Schüler in einer deutschen Kleinstadt, statt des vergleichenden Blicks in die Weite die Konzentration auf das Nächstliegende als pädagogisches Prinzip. Gibt es etwas Besseres als eine Kugel im Gebälk oder in der Hauswand, um ... den Verstand für irgend etwas aufzuknöpfen, fragte Heinrich Schaumann, die Hauptfigur von Wilhelm Raabes 1890 erschienenem Roman „Stopfkuchen“, mit Blick auf eine Kanonenkugel aus dem Siebenjährigen Krieg im Giebel seines Elternhauses. 25 Die Ausbildung der kindlichen Phantasie zum historischen Sinn ließ ihn jedoch Risiken und Nebenwirkungen empfinden: Und den historischen Sinn im Menschen erklären heutzutage ja viele Gelehrte für das Vorzüglichste, was es überhaupt im Menschen gibt. Ich bin nicht dieser Ansicht. Ja, wenn man sich immer nur an was Angenehmes erinnerte! Bereits ein Kupferstich aus dem Jahre 1668 enthält die Devise L IBERTE , E GALITE , C ONFRATERNITE . 26 Die Unterschrift bezeichnet den Abgebildeten als „H EINRICUS S IBAEUS von Jemgumer Closter. ICtus, Liberae Imperialis Suevo-Hallensis Reipublicae Consiliarius Illiusque ad Imperii Comitia Ratisbonensia Legatus”. 27 Bisher hat Heinrich Sibaeus von Jemgumer Closter B LOCH (wie Anm. 8), S. 210. Sämtliche Werke (Braunschweiger Ausgabe). Bd. 18. Bearb. Karl Hoppe. 2., durchges. Aufl. Göttingen 1969, S. 70. 26 Reproduziert bei Johannes-Vienne S MIDT / Erica S MIDT -O BERDIECK : Das Steinhaus zu Bunderhee. Seine Wechselbeziehungen zu Ukeborg, Drakemund und Fürstenjagdhaus (Ostfriesische Familienkunde, H. 3). Aurich: Ostfriesische Landschaft 1970, S. 51, Abb. 28. Auf diese Veröffentlichung wurde ich durch die Exkursion der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen am 3.6.2000 von Emden dorthin aufmerksam. 27 Der Stich kommt aus dem Sammelwerk von Mathias van S OMMER : Hasce omnium electorum, principum, ac statuum Sacri Romani Imperii ad comitia praesentia legatis ac deputatis ad vivum expressas aereque caelatas icones … Ratisbonae, 1667. Das Wolfenbütteler Exemplar zählt 62 Stiche, das der Landesbibliothek Hannover 68 Stiche. Die vereinzelten Stiche der Reichstagsgesandten haben auch Eingang in die großen Porträtsammlungen gefunden. Sie sind erkennbar am Entstehungsjahr 1667/68, dem achteckigen Rahmen mit schraffiertem Hintergrund und dem Stecher-Monogramm in der Ecke unten rechts. In der Ecke unten links erscheint das Wappen des Abgebildeten, im Rahmen unter dem Porträt auf liniertem Feld seine Devise, darunter auf dem Rahmen die Altersangabe, schließlich unterhalb des Rahmens Name und Ämter. Ein Vergleich einzelner Exemplare sollte mögliche Abweichungen in Programm und Ausführung erkennen lassen. Zur Gattung vgl. Gerd D ETHLEFS : Friedensboten und Friedensfürsten. Porträtsammelwerke zum Westfälischen Frieden. In: Peter B ERGHAUS (Hg.): Graphische Porträts in Büchern des 15. bis 19. Jahrhunderts (Wolfenbütteler Forschungen, Bd. 63). Wiesbaden 1995, S. 87-128. 24 25

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(1632-1693), der aus Ostfriesland gebürtige Rat einer oberdeutschen Reichsstadt, allenfalls genealogisches Interesse gefunden. 28 Zusammen mit dem Stättmeister Georg Friedrich Seufferheld und seinem Kollegen als Konsulent der Stadt, Dr. Johann Philipp Schragmüller, war er am 16.1.1663 in Regensburg zum Reichstag als Vertreter der Reichsstadt Schwäbisch Hall zugelassen worden. 29 Als 1667/68 die Stichsammlung van Sommerens entstand, wußte noch niemand, welches Maß institutioneller Verfestigung der später so genannte Immerwährende Reichstag erreichen sollte. 30 Die Nutzung des ständigen Gesandtenkongresses als Kommunikationsort zwischen Kaiser und mindermächtigen Reichsständen mußte von beiden Seiten erst eingeübt werden. 31 In dieser Anfangsphase hatte eine große Zahl von Reichsständen noch eigene Vertreter entsandt, später war oft die Vertretung mehrerer benachbarter Fürstentümer oder verwandter Herrscherhäuser bei einzelnen Gesandten kumuliert, ebenso wie auf der Städtebank Regensburger Ratsherren eine Vielzahl von Reichsstädten vertraten. 32 Schwäbisch Hall hatte seinen Sitz auf der Oberländischen Bank, die an Zahl die später durch den Verlust des Elsaß 28 Bereits sein Sohn, der seit 1698 im Dienst der Stadt stehende Stättmeister (Bürgermeister) Dr. jur. Johann Lorenz von Jemgumer Closter (gest. 1761), zog 1756 Erkundigungen nach Verwandten in Ostfriesland ein; vgl. F[riedrich] Ritter: Die Familie „von Jemgumer Closter“ In: Upstalsboom-Blätter 6, 1916, 75-78. Die Familie erlosch 1801 mit einem Urenkel, dem Stättmeister Friedrich Gottlob von Jemgumer Closter. 29 Verzeichnüß Derjenigen Churfürsten, Fürsten und Ständen deß Heiligen Römischen Reichs, auch der an- und abwesenden Räthen, Botschafften und Gesandten, Wie sich dieselbe auf dem Von [...] LEOPOLDO, Erwählten Römischen Kaysern, [...] Nach Dero und deß H. Römischen Reichs Stadt Regenspurg auf den 8. Junii außgeschriebenen, und biß Anno 1695. continuirtem Reichstag, nebst allerhöchst-gedachter Kayserlicher Majestät, so demselben eine Zeitlang in eigener Person allergnädigst beygewohnet, nach und nach eingefunden und legitimiret haben, auch was sonsten für Enderungen mit denselben vorgegangen. S. 62/Q2v. Der durchschossene Druck der SUB Göttingen (2 Jus Germ II, 1680), hs. paginiert mit Nachträgen bis etwa 1702. Eine jüngere Auflistung bietet Christian Gottfried Oertel: Vollständiges und zuverläßiges Verzeichnis der Kaiser, Churfürsten, Fürsten und Stände des Heil. Röm. Reichs wie auch derselben und auswärtiger Mächte Gesandtschaften, welche bey dem fürwährenden Reichs-Tage von seinem Anfange 1662 an bis zum Jahr 1760 sich eingefunden haben. Regensburg 1760. 30 Anton S CHINDLING : Die Anfänge des Immerwährenden Reichstags zu Regensburg. Ständevertretung und Staatskunst nach dem Westfälischen Frieden (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Bd. 143). Mainz 1991. Die Abb. vor S. 1 zeigt Bischof Marquard von Eichstätt, kaiserlicher Prinzipal-Kommissar seit 1689, gestochen vom selben Künstler, aber aufwendiger gestaltet. 31 Den Niederschlag dieser Staatspraxis bietet Hermann C ONRAD (Hg.): Recht und Verfassung des Reiches in der Zeit Maria Theresias. Die Vorträge zum Unterricht des Erzherzogs Joseph im Natur- und Völkerrecht sowie im Deutschen Staats- und Lehnrecht (Wissenschaftliche Abhandlungen der Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, Bd. 28). Köln/Opladen 1964. 32 Ludwig B ITTNER / Lothar G ROß (Hg.): Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder seit dem Westfälischen Frieden (1648). Bd. 1 (1648-1715). Oldenburg/ Berlin: Stalling, 1936, S. XVII, verzeichnet Vertreter der deutschen Reichsstände am Kaiserhof und am Reichstag nur, wenn die betreffenden Reichsstände außerdem diplomatische Vertretungen bei auswärtigen Mächten und anderen Reichsständen unterhielten. Über die dortigen Register ist damit nur ein kleiner Teil der Kumulationen faßbar.

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noch weiter geschwächte Rheinische Bank weit überwog. Dort stimmte es an neunter Stelle von 37 Städten, nach Rothenburg ob der Tauber und vor Rottweil. An Einwohnern wurde es von den Köln, Aachen, Straßburg und Lübeck, von Regensburg, Augsburg, Nürnberg und Ulm, den großen Städten beider Banken, weit übertroffen. Schwäbisch Halls ausgedehntes Landgebiet von 330 Quadratkilometern und der Salzhandel sicherten jedoch die wirtschaftliche Grundlage des Gemeinwesens, nachdem im Dreißigjährigen Krieg von 1628 bis 1650 kaiserliche, bayrische, französische und schwedische Truppen in der Stadt gelegen hatten. 33 Der Innere Rat von 24 Mitgliedern mit den beiden Stättmeistern an der Spitze regierte die lutherische Reichsstadt, ohne jedoch rechtlich streng gegen die Bürgerschaft abgegrenzt zu sein. 34 Hier trat Heinrich Sibaeus von Jemgumer Closter 1661 sein Amt als Ratskonsulent an und sicherte den Nachfahren aus seiner dort im gleichen Jahr geschlossenen Ehe damit einen Platz in der städtischen Oberschicht. 35 Sein Porträt entspricht den Konventionen seines Standes, die Bernd Roeck bei der Präsentation dieses deutschen Erinnerungsorts beschreibt: Der Reichstag hat Generationen von Diplomaten und Potentaten kommen und gehen sehen und mit ihnen den Wandel der Moden. Während der Anfänge des „immerwährenden“ Konvents drängten sich die Herren in „Rheingrafentracht“, mit Bandschluppen und ehrfurchtgebietenden Allongeperücken, um Bänke und Konfekttische. 36 Zumindest im kollektiven Gedächtnis heutiger Historiker hängt an den staubbedeckten Mauern dort nicht nur der Muff alter Haarteile und brüchiger Seidenstoffe, sondern anderes und mehr, nämlich eine Erinnerung an die Zukunft: an die hohe Kunst diplomatischen Konfliktmanagements, an die Kraft des Rechts gegenüber dem Recht der Macht, an ein System kollektiver Sicherheit. Für Roeck scheint es kein Zufall sein, daß diese unspektakuläre Leistung gerade in der bundesrepublikanischen Gegenwart deutlicher gesehen wurde. Daß die Bonner Republik ein eher unspektakuläres Staatswesen war, zählte ja nicht zu ihren unsympathischen Zügen. So hatte die Geschichte des Immerwährenden Reichstags [...] keine dramatischen Höhepunkte, sie ist grau, glanzlos, und Helden kommen in ihr nicht vor. Als Objekte der Erinnerung blieben Aktenberge und Gesetzespublikationen, daneben ein paar Medaillen und Kupferstiche, schließlich die Porträts der Gesandten und Prinzipalkommissare. Ihnen gilt der kulturhistorische Blick: Gewöhnlich als Gedächtnisbilder konzipiert, als kleine Denkmäler auf Papier, zeigen sie der Nachwelt Gravität, Strenge, Ernsthaftigkeit; Sicherheit in Blick und Gebärde. Sie sind nicht nur „politici“ aus Fleisch und Blut, sondern verkörpern zugleich etwas von der 33 Terence M C I NTOSH : Urban Decline in Early Modern Germany. Schwäbisch Hall an d Its Region, 1650-1750. Chapel Hill 1997, S. 43, 47. 34 Gerd W UNDER : Die Gesellschaft der Barockzeit in der Reichsstadt Hall. In: Barock in Baden-Württemberg. Ausstellung des Landes Baden-Württemberg, Schloß Bruchsal 1981, Bd. 2, S. 471-481; Wiederabdruck in ders.: Bauer – Bürger – Edelmann. Ausgewählte Aufsätze zur Sozialgeschichte. Festgabe zu seinem 75. Geburtstag (Forschungen aus Württembergisch-Franken, Bd. 25). Sigmaringen 1984, S. 277-290. 35 Dazu ebd. im Register s.v. Für den Sohn Johann Lorenz ist ein 1761 aufgestelltes Nachlaßinventar überliefert in Stadtarchiv Schw. Hall 14/2922. 36 Bernd R OECK : Der Reichstag. In: Etienne F RANÇOIS / Hagen S CHULZE (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte. München 2001, S. 138-155, hier 140.

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unnahbaren Ewigkeit der Staaten, für die sie stehen. Den Bildern zum Trotz ist ihre Welt dann doch untergegangen, und die meisten der Staaten, welche sie vertraten, gibt es nicht mehr. Was sich in den ernsten Herren verdichtete, ist für immer verschwunden. Das bedingt die Wirkung von Fremdheit und Ferne mehr als die Perücken, von denen die Gesichter gerahmt werden. 37 Auch der sprachliche Ausdruck dieser Welt erschien bereits im 19. Jahrhundert fremdartig: Alle Wendungen in der Politik werden, wenn sie in die Regensburger Reichstagssprache übersetzt werden, - man möchte sagen, in usum delphini - vorsichtig abgetönt und heruntergestimmt. 38 Mit ihrem Klassiker Johann Jacob Moser hat noch die jüngere Forschung die Singularität der Reichsverfassung betont: Teutschland wird auf teutsch regiert, und zwar so, daß sich kein Schulwort oder wenige Wort oder die Regierungsart anderer Staaten dazu schicken, unsere Regierungsart begreiflich zu machen. 39 Andere Aussichten für das Studium des Teutschen Staatsrechts auf künftige Zeiten entwickelte 1781 der Göttinger Reichspublizist Johann Stephan Pütter im Sinne einer vergleichenden Verfassungsgeschichte: Auch auswärtiger Länder Staatsrechts, insonderheit von Polen, Schweden und Engelland, kann mit dem unsrigen vielfältig mit solchem Nutzen in Vergleichung gestellt werden, daß schon deswegen die erst neuerlich in mehrere Aufnahme gekommene Statistik nicht ohne Einluß auf unser Studium geblieben ist, und künftig noch grössere Vortheile für dasselbe hoffen läßt; wäre es auch nur von der Seite, als wenigstens die zu jedem Staatsrechte nöthigen Begriffe und Grundsätze des allgemeinen Staatsrechts dadurch ungleich mehr aufgekläret werden, als wenn man diese Wissenschaft bloß aus abstracten philosophischen Begriffen zu entwickeln denkt. 40 Die Besonderheiten der Deutschen in der Frühen Neuzeit sind so noch heute ein Thema der Historiker. Heinz Schilling hat die Offenheit ihres Reichs für Europa und nach Europa hin gerade mit seinen besonderen mittelalterlichen Traditionen, verstärkt durch Multiterritorialität und Multi-

37 Ebd. S. 141f. Zu kulturellen Begleitaktivitäten des Politikbetriebs vgl. auch Gerd D ETHLEFS : Kunst und Literatur während der Verhandlungen um den westfälischen Frieden. In: Heinz D UCHHARDT (Hg.): Städte und Friedenskongresse (Städteforschung Reihe A, Bd. 49). Köln u. a. 1999, S. 33-67. – Die Tradition des Porträtalbums lebte bis zu den Stammbüchern und Photoalben der Parlamentarier des 19. Jahrhunderts fort, das Medium des Kupferstichs zur gegenseitig ausgetauschten Erinnerung habe ich zuletzt bei adligen Studenten in Bonn um 1840 gefunden. Das jüngste Beispiel für die Verwendung eines persönlichen Wahlspruchs durch Parlamentarier verdanke ich Uwe Ohainski, Göttingen. Anders als seine Kollegen gab bei Hermann H ILLGER : Hillgers Handbuch der verfassunggebenden deutschen Nationalversammlung 1919. Berlin/ Leipzig (1919), S. 242 der Braunschweiger Kommunist und Volksbeauftragte August Merges grundsätzlich kein Bild, nannte dafür aber seine Devise: Verwirklichung der internationalen Volksbefreiung. 38 Friedrich M EINECKE : Der Regensburger Reichstag und der Devolutionskrieg. In: Historische Zeitschrift 60 (1888), S. 193-222, hier 196f. 39 Karl Otmar v. A RETIN : Das Alte Reich 1648-1806. Bd. 1: Föderalistische oder hierarchische Ordnung (1648-1684). Stuttgart 1993, S. 18. Kurzgefaßt wesentliche Ergebnisse bei Karl Otmar Frhr. von A RETIN : Das Reich kommt zur Ruhe. Der Immerwährende Reichstag in Regensburg. In: Uwe S CHULTZ (Hg.): Die Hauptstädte der Deutschen. Von der Kaiserpfalz in Aachen zum Regierungssitz Berlin/ München 1993, S. 123-135. 40 Johann Stephan P ÜTTER : Litteratur des Teutschen Staatsrechts. Th. 2. Göttingen: Vandenhoeck, 1781, S. 217-223, hier S. 221.

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konfessionalität, erklärt. 41 Ideen konnten vorgedacht werden, ohne sogleich mit der Kraft des Neuen eine Macht zu werden und in der Öffentlichkeit Berücksichtigung zu finden. 42 Wie kamen diese Gedanken in die große staatsrechtliche Deduktionenschreibstube zu den Trägern kleinlich scheinender Streitigkeiten auf dem Regensburger Reichstag? Und wo konnten sie aufgegriffen und zu den großen Prinzipien der Französischen Revolution werden? Nach den Regeln der Gattung ist für die Devise des Gesandten von Schwäbisch Hall die geprägte Form einer literarische Vorlage anzunehmen. 43 Da ihr deutscher Träger sie in französischer Sprache verwendet, dürfte sein Ausgangstext kaum vor das 16. Jahrhundert zu datieren sein. In Frage kommen damit solche Werke, auf die man sich schon 1668 in Deutschland und noch 1789 in Frankreich beziehen konnte. Die Suchaufgabe ist damit genau umgekehrt wie bei dem gängigerweise Martin Luther zugeschriebenen Wort Und wenn morgen die Welt unterginge,so wollen wir doch heute noch unser Apfelbäumchen pflanzen, wo die vergebliche Suche sich auf ein genau bekanntes und umfassend ediertes Werk richtete. 44 Der angenommene gemeinsame Entstehungszusammenhang ist bei der späteren Revolutionsdevise unbekannt, so daß die literarischen und politisch-historischen Traditionskenntnisse der an ihrer Verbreitung Beteiligten zu rekonstruieren sind. Die lexikographischen Hilfsmittel sind zwar auf einzelne Worte orientiert, aussagekräftig sind aber allein vor 1789 liegende gemeinsame Verwendungen der drei Begriffe einschließlich ihrer sprachlichen Varianten und semantischen Aequivalente und Antonyme. Selbst das große Handbuch politisch-sozialer Grundbegriffe in Frankreich 16801820 setzt erst ein, als die Philosophie der Aufklärung sich zu entfalten beginnt. Die jeweilige Wortgeschichte zeigt nur, in welchen Umfeldern überhaupt nach der Devise zu suchen ist. 45 Artur Greive hat 1969 drei philologische Kriterien des Erfolgs der Revolutionsparole formuliert. Semantisch hatten die beiden ersten Elemente bereits vor der Revolution ihre Karriere als 41 Den Diskussionsstand erschließend Heinz S CHILLING : Wider den Mythos vom Sonderweg – die Bedingungen des deutschen Weges in die Neuzeit. In: Paul-Joachim H EINIG u.a. (Hg.): Reich, Regionen und Europa in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Peter Moraw (Historische Forschungen, Bd. 67). Berlin 2000, S. 699-714, hier 713, und ders.: Reichs-Staat und frühneuzeitliche Nation der Deutschen oder teilmodernisiertes Reichssystem. Überlegungen zu Charakter und Aktualität des Alten Reiches. In: Historische Zeitschrift 272, 2001, S. 377-395. 42 Beispiele bietet der baltische Journalist Paul S CHIEMANN : Nationale Befriedung Europas. In: Neues Wiener Tagblatt. Demokratisches Organ, Jg. 71, 2.2.1937, Nr. 33, S. 1. 43 Vgl. die Titelnachweise zu Devisen – Impresen – Motti der Bibliographie zur Emblemforschung Nr. 634-687 in: Arthur H ENKEL / Albrecht S CHÖNE (Hg.): Emblemata. Handbuch zur Sinnbildkunst des 16. und 17. Jahrhunderts. Erg. Neuausg. Stuttgart 1976, S. XCI-XCIV. 44 Eingehend dazu Martin S CHLOEMANN : Luthers Apfelbäumchen? Ein Kapitel deutscher Mentalitätsgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg (Sammlung Vandenhoeck). Göttingen 1994. 45 Diesen Weg geht Gérald A NTOINE : Liberté, Égalité, Fraternité ou les fluctuations d´une devise. 2. éd. revisée Paris: Unesco, 1989.

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politische Schlagworte gemacht, inhaltlich kann ihr Geltungskreis als Klimax aufgefaßt werden, formal steigt die Zahl der Silben und Phoneme mit jedem Element, wie bei Reimsprüchen häufig. 46 Das letzte Argument trifft völlig zu, setzt man als drittes Glied aus der Fassung von 1668 das fünfsilbige Confraternité ein. Eine französische Tradition der Begriffsbildung bietet Jean-Jacques Rousseau in seinem im April 1772 formulierten Entwurf zur Reform der vom Zarenreich in ihrer Unabhänigkeit bedrohten polnischen Adelsrepublik. Sein Ziel ist die Stärkung des Nationalgeistes des staatstragenden Standes gegen die europäischen Angleichungstendenzen: Il n´y a plus aujourd´hui de François, d´Allemands, d´Espagnols, d´Anglois même, quoiqu´on en dise; il n´y a que des Européens. Tous ont les mêmes gouts, les mêmes passions, les mêmes moeurs, parceque aucun n´a reçu de forme nationale par une institution particulière. Tous dans les mêmes circonstances feront les mêmes choses; tous se diront desintéressés et seront fripons; tous parleront du bien public et ne penseront qu´a eux-mêmes. 47 Rousseaus Nationalerziehungsplan beschränkte sich auf die Adligen als einzige hommes libres; il n´y a qu´eux qui aient une existence commune et qui soient vraiment liés par la Loi. Alle der Verfassung nach Gleichberechtigten sollten gemeinsam und auf gleiche Weise erzogen werden, wobei Ärmere möglichst zu unterstützen seien. Für die weiterhin im Elternhaus privat unterrichteten Jünglinge forderte Rousseau zumindest, leur jeux doivent toujours être publics et communs à tous; car il ne s´agit pas seulement ici de les occuper, de leur former une constitution robuste, de les rendre agiles et découplés; mais de les accoutumer de bonne heure à la régle, à l´égalité, à la fraternité, aux concurrences, à vivre sous les yeux de leurs concitoyens et à desirer l´approbation publique. 48 Hier erscheint der Dreiklang der Erziehungsziele Ordnung, Gleichheit, Brüderlichkeit. Die Freiheit hatte in diesem Konzept ihren Platz aufzugeben, denn sie galt Rousseau als unvereinbar mit der Rettung vor dem aus der Anarchie erwachsenden Frieden des Despotismus. Sicher vor den Anstrengungen der Unterdrücker sei die Republik nur in den Herzen der Polen, getragen von der Überzeugung Ubi patria, ibi bene. 49 Die Konföderation von Bar des patriotischen Adels im Jahr 1768 sollte nach antikem Vorbild ihren Platz im Gedächtnis der Nation finden durch ein Denkmal mit den Namen aller Teilnehmer, selbst der später Abgefallenen, deren große Tat alle ihre Fehler zu überwiegen vermochte. Schließlich wünschte Rousseau zur Verherrlichung des Geschehens, qu´on instituât une solemnité périodique pour la

46 Artur G REIVE : Die Entstehung der französischen Revolutionsparole. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 43, 1969, S. 726-751, hier 750. 47 Jean-Jacques R OUSSEAU : Considérations sur le gouvernement de Pologne et sur sa réformation projettée. Erstdruck Genf 1782, zit. nach Oeuvres complètes T. 3. Paris: Gallimard, 1964, S. 951-1041, hier 960. 48 Ebd., S. 966-968. Rousseau bezieht sich hier auf das Vorbild der Patrizier in Bern, seine Ideen fanden in Deutschland erst Nachahmung und Propagandisten, als das alte Reich 1806 seine letzte Krise hinter sich hatte. 49 Ebd., S. 954f., 959, 963.

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celebrer tous les dix ans avec une pompe non brillante et frivole, mais simple, fiére, et republicaine. 50 Angesichts der politischen Geschichte Polens konnte Rousseau kaum verstehen, comment un Etat si bizarrement constitué a pu subsister si longtems, ein Staat, der jedes Jahrhundert fünf oder sechs Mal in Auflösung falle und bei jeder Anstrengung wieder gelähmt werde. Das Reich hingegen, im Siebenjährigen Krieg tief zerfallen, galt ihm 1760 dennoch auf der Basis des Westfälischen Friedens als Mittelpunkt des europäischen Gleichgewichts: Ainsi le Droit public, que les Allemands étudient avec tant de soin, est encore plus important qu´ils pensent, et n´est pas seulement le Droit public Germanique, mais à certain égards, celui de toute l´Europe. 51 Dieser Wahrnehmung hatte bereits die durch die aktive Außenpolitik Frankreichs im 17. Jahrhundert angeregte Auseinandersetzung mit dem Verfassungssystem des östlichen Nachbarn vorgearbeitet. 52 Der junge Jurist Heinrich Sibaeus von Jemgumer Closter dürfte seine wesentlichen intellektuellen Prägungen beim Studium in Leipzig, Jena, Helmstedt und Heidelberg und der anschließenden praktischen Tätigkeit am Reichskammergericht in Speyer erfahren haben. 53 Erste nachweisbare Station ist das Gymnasium Illustre in Bremen, in dessen Matrikel er sich 1649 als Henr[icus] Cloister Fris. Orient[alis] eintrug. 54 Die Hochschule der reformierten Reichsstadt zog damals noch Studenten aus dem gesamten protestantischen Nordwestdeutschland an, bevor sich ihr Einzugsbereich ab Ende des 17. Jahrhunderts auf Bremen und einzelne calvinistische Territorien reduzierte. Das reguläre Universitätsstudium nahm er im Sommersemester 1651 in 50 Ebd., S. 961. Die am 29. Februar 1768 im podolischen Bar geschlossene Konföderation richtete sich gegen den russischen Einfluß am Hofe König Stanislaus. Die Zarin Katharina trat vor der Öffentlichkeit als Beschützerin der Dissidenten gegen den katholischen Fanatismus auf, dem sie mit Waffengewalt Toleranz predigte. Die Konföderierten führten Standarten mit dem Bild der Gottesmutter und Kreuzfahrerzeichen, bereit zu siegen oder zu sterben pour la défense de la religion et de la liberté; vgl. das Vorwort von V. D. Musset-Pathay, in: Jean-Jacques R OUSSEAU : Oeuvres complètes. T. 5, Paris 1823, S. 243-385, hier 248. Zeitgenössische Leser konnten mehr über ältere Konföderationen erfahren bei J. C. F. H EISE , in: Hannoverisches Magazin 7, 1769, S. 1521-1552, Nr. 96 u. 97 vom 2. u. 6.12. 51 Ebd., S. 953f. Das Lob der Reichsverfassung im Extrait du projet de paix perpétuelle de Monsieur l´abbe de Saint Pierre, ebd. S. 563-589, hier 572. Dt. Übers. bei Kurt von R AUMER : Ewiger Friede. Friedensrufe und Friedenspläne seit der Renaissance (Orbis academicus). Freiburg/ München 1953, S. 343-368, hier 352. 52 Dazu Klaus M ALETTKE : Das Heilige Römische Reich deutscher Nation und seine Verfassung in der Sicht französischer Juristen und Historiker des 17. Jahrhunderts. In: Blätter für deutsche Landesgeschichte 124, 1988, S. 455-476, erweitert in ders.: Frankreich, Deutschland und Europa im 17. und 18. Jahrhundert. Beiträge zum Einfluß französischer politischer Theorie, Verfassung und Außenpolitik in der Frühen Neuzeit (Marburger Studien zur Neueren Geschichte, Bd. 4). Marburg 1994, S. 169-190. Für die Folgezeit Martin W REDE : Das Reich und seine Geschichte in den Werken französischer Staatsrechtslehrer und Historiker des 18. Jahrhunderts. In: Francia 27/2, 2000, S. 177211. 53 Diese Stationen nennt Ritter (wie Anm. 28), S. 76. 54 Thomas Otto A CHELIS / Adolf B ÖRTZLER (Bearb.): Die Matrikel des Gymnasiums Illustre zu Bremen 1610-1810 (Bremisches Jahrbuch 2. Reihe, Bd. 3). Bremen 1968, S. 97.

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Leipzig auf als H[e]nr[icus] a Clooster Fris[ius] Orient[alis], wobei er als Norddeutscher zur sächsischen Nation zählte. 55 Sein Semester, ein Jahr nach dem Abzug der schwedischen Truppen, brachte es auf die große Zahl von 270 Studienanfängern. 56 Schon das nächste Wintersemester führte ihn mit 135 weiteren Studenten nach Jena an die ernestinische Konkurrenzuniversität. Nach Leipzig kehrte er erst im Wintersemester 1654 zurück. 57 Für die als Studienorte erwähnten Universitäten Helmstedt und Heidelberg ist keine Immatrikulation nachweisbar. Beide Hochschulorte erfreuten sich in den 1650er Jahren bei den Bremer Absolventen einiger Beliebtheit. Helmstedt lag geographisch nah und war durch den Calixtianismus weniger eng lutherisch gebunden als andere protestantische Universitäten. Heidelberg in der reformierten Kurpfalz war durch die Truppenzüge des Krieges über 20 Jahre geschlossen gewesen und hatte erst am 1. November 1652 wieder seine Auditorien geöffnet. 58 Vor allem Studenten aus dem westlichen, zumeist reformierten Teil Ostfrieslands fanden sich hier ein. 59 Verwandtschaftlich am nächsten stand Heinrich Sibaeus von Jemgumer Closter sein Vetter Ajold Tammena (1630-1708), der 1668 Hofgerichtsassessor, schließlich 1693 Vizehofrichter in Aurich wurde. 60 Offen bleibt dabei die Frage, welche geistigen Anregungen wo vermittelt und wirksam wurden, da auch die Biographien der Zeit- und Weggenossen zu 55 Georg E RLER (Hg.): Die jüngere Matrikel der Universität Leipzg 1559-1809. Als Personen- und Ortsregister bearb. und durch Nachträge aus den Promotionslisten ergänzt. Bd. 2: Die Immatrikulationen vom Wintersemester 1634 bis zum Sommersemester 1709, Leipzig 1909, S. 63. 56 Näheres zu den damaligen Verhältnissen bei Detlef D ÖRING : Samuel Pufendorf als Student in Leipzig. Eine Ausstellung (Schriften aus der Universitätsbibliothek Leipzig, Bd. 2). Leipzig 1994. Der Name Jemgumer Closters findet sich nicht in den ausgewerteten Materialien bei Detlef D ÖRING : Samuel Pufendorf und die Leipziger Gelehrtengesellschaften in der Mitte des 17. Jahrhunderts (Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Phil.-hist. Klasse, Bd. 129, H. 2). Berlin 1989. 57 Die Matrikel der Universität Jena. Bd. 1: 1548 bis 1652. Bearb. Georg M ENTZ in Verb. mit Reinhold J AUERNIG (Veröffentlichungen der Thüringischen Historischen Kommission, 1). Jena: Fischer, 1944, S. 54. – E RLER (wie Anm. 55), S. 426. Die Edition der Matrikeln von Jena und Leipzig als Suchbücher in alphabetischer Ordnung läßt leider nicht zu, zeitgenössische Gruppen von Studenten zu erkennen. 58 Die Matrikel der Universität Heidelberg von 1386 bis 1662. Bearb. u. Hg. Gustav T OEPKE . Th. 2: 1554-1662. Heidelberg 1886, S. 314-338 zu den Jahren 1652-1660. Die anschließende Überlieferung bis zum Pfälzischen Erbfolgekrieg ist weitgehend vernichtet. 59 Die Matrikel verzeichnet an Adligen am 23.11.1652 Tido Wilhelm von Frese, vorher in Bremen 21.10.1647, am 15.4.1653 Carl Hieronymus Frhr. von Inn- und Knyphausen (1632-1664) aus Lütetsburg, am 23.9.1653 Ulrich von Werdum (1632-1681), zuletzt Kanzlei- und Vizekammerpräsident in Aurich. Später in Ostfriesland tätige bürgerliche Beamte dieser Studienjahre waren Anton Pauli aus Meldorf, imm. 22.4.1653, in Bremen 1649, in Wittenberg 1652, in Leiden 1654, ab 1658 Rat und Amtsverwalter in Norden; Ulrich Wiarda, imm. 28.8.1654, in Bremen 5.4.1649, ab 1670 Amtmann in Leer; Johann Heinrich Stamler, imm. 10.5.1655, in Bremen 1649, Regierungsrat in Aurich 1663, zuletzt Kanzler 1686. 60 Gebürtig aus Holtgaste, imm. Bremen 1648 Nr. 82, imm. Helmstedt 23.7.1650, schließlich cand. jur. Heidelberg 21.9.1657.

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wenig bekannt sind. Selbst bei Samuel Pufendorf (1632-1694), dem bekanntesten von ihnen, der 1661 seine Professur für Völkerrecht in Heidelberg antrat, sind die Korrespondenz und der Bestand seiner Bibliothek erst in jüngster Zeit erschlossen worden. Immerhin machten französische Titel fast 9 % des Bestandes aus, während es bei dem eine Generation älteren Hermann Conring (1606-1681) nur vier von 3291 Titeln waren. 61 Welche Literatur einem ostfriesischen Adligen für historisch-politische Argumentationen zur Verfügung stand, zeigt Ulrich von Werdums De causis motus anno 1660 Ostfrisiae discursus politicus. 62 Doch auch hier sind nur zwei von 912 zitierten Stellen aus französischen Texten. 63 Die Kenntnis französischer Werke belegt das Nachlaßverzeichnis eines 1650 in Wien verstorbenen ostfriesischen Diplomaten. 64 Der regionale Erfahrungshintergrund des aus dem linksemsischen Rheiderland gebürtigen Reichstagsgesandten gestattet keine direkten Schlüsse. Sein später namengebender Geburtsort Jemgumerkloster war eine von der Landesherrschaft nach der Reformation säkularisierte und in Erbpacht ausgegebene Johanniterkommende. 65 Eingepfarrt war der Ort nach Holtgaste, das durch landesherrliches Patronat einen lutherischen Pfarrer hatte, dessen Bewohner sich aber meist zum in der Umgegend vorwiegenden reformierten Bekenntnis hielten. Wie dort die jüngere Geschichte erlebt und erinnert wurde, hat ein Kaufmann und Landtagsdeputierter aus Jemgum Ende des 17. Jahrhunderts festgehalten. 66 Die Grenzlage im südwestlichen Ostfriesland zum niederländischen Groningen und zum katholischen Niederstift Münster machte die landwirtschaftlich reiche Gegend im Dreißigjährigen Krieg zu einem bevorzugten Truppenquartier. Die 1622 eingerückten Truppen des Grafen Mansfeld ruinierten ihre Wirte und sich binnen kurzem, während die 61 Fiammetta P ALLADINI : Die Bibliothek Samuel Pufendorfs. In: Samuel Pufendorf und die europäische Frühaufklärung. Werk und Einfluß eines deutschen Bürgers der Gelehrtenrepublik nach 300 Jahren (1694-1994). Hg. D IES ./Gerald H ARTUNG . Berlin 1996, S. 29-39. Zu den Titeln DIES .: La Biblioteca die Samuel Pufendorf. Cataloge dell´asta di Berlin del settembre 1697 (Wolfenbütteler Schriften zur Geschichte des Buchwesens, Bd. 32). Wiesbaden 1999. 62 Zum Autor vgl. Walter D EETERS in Martin T IELKE (Hg.): Biographisches Lexikon für Ostfriesland. Bd. 1. Aurich 1993, S. 362-364 mit Nachweis der hs. Überlieferung. 63 Die Interpretation der Zeitgeschichte im Rahmen der von Ubbo Emmius erschlossenen Landesgeschichte gründet sich in ihren Deutungsmustern auf Tacitus und Livius und deren politikwissenschaftliche Auslegung seitens späthumanistischer Kommentatoren. 64 Die juristische Gebrauchsbibliothek des Sekretärs Hermann (von) Rüssel, verzeichnet am 1. und 3. Juli 1650, zählt 332 Nummern, darunter 12 französische Werke, die der Notar aber wohl aus Sprachunkenntnis als welsche Autores ebenso wie italienische Titel nicht näher aufführt; vgl. StA Aurich Rep. 4 B I c 39, Bl. 53-62. Den Hinweis auf diese Quelle verdanke ich Gaby Kuper, Göttingen. 65 Enno S CHÖNINGH : Der Johanniterorden in Ostfriesland (Abhandlungen und Vorträge zur Geschichte Ostfrieslands, Bd. 54). Aurich 1973. S. 42-44. 66 Menno P ETERS : Chronik von Ostfriesland mit besonderer Beziehung auf Jemgum. Leer 1930 = ND 1972. Die urprünglich niederländisch/niederdeutsch abgefaßte, durch Abschriften verbreitete Handschrift verdient eine Edition, die besser als die thematisch präsentierten Auszüge erkennen läßt, wie der Autor seine Erfahrungen ordnete.

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Soldaten Hessen-Kassels sich von 1637 bis 1650 einrichteten. Urbild militärischer Gewalt gegen die Bevölkerung blieb der Herzog Alba, der in der Schlacht bei Jemgum am 21.6.1568 Graf Ludwig von Nassau besiegt hatte. Aus seiner Lektüre erinnerte sich der Chronist, daß die Spanier 18000 Stück Vieh aus Reiderland weggenommen hätten und daß Alba 18000 Menschen durch die Hände der Scharfrichter in der Zeit von 6 Jahren habe töten lassen. Die Bedrohung war unmittelbar nachzuempfinden: Er hat über 1000 Frauen – junge Mädchen, Witwen und getraute Frauen – durch die Hände von Scharfrichtern erwürgen, verbrennen, enthaupten und auf andere Weise umbringen lassen, wie er ja auch ein geringes Werk davon gemacht hätte, die Jemgumer Frauen so grausam verbrennen und ersticken zu lassen. 67 Der Sieg des Gewalthabers sollte nicht allein in Jemgum in Erinnerung bleiben. Bei seinem Weggang aus den Niederlanden 1571 hinterließ Herzog Alba in Antwerpen sein lebensgroßes Denkmal, gegossen aus den bei Jemgum erbeuteten Geschützen. Bei der Zerstörung der Festung durch die Bürger wurde es met hamers en bylen, en al wat maar eenigzins dienst kon doen, in duizenden van stukken, jaa tot gruis, verbrooken, onder een onophoudelijk gelaster en gevloek van des Hertogs gedagtenisse. 68 Wir wissen nicht, welche emotionale Bedeutung die drei Worte seiner Devise für Heinrich Sibaeus von Jemgumer Closter im 17. Jahrhundert gehabt haben. Ihr Zusammenklang fand noch kein Echo. Selbst für die Zeit nach dem Sturm auf die Bastille bleibt ihre Ausstrahlung, ihre psychische, soziale und räumliche Wirkung noch zu erforschen. 69 Die europäischen Religionskriege des 16. Jahrhunderts radikalisierten die Fragen nach Zweck und Grenzen des Staates. Ausarbeitung neuer und Überprüfung alter politischer Theorien waren die Folge. 70 Hier scheint mir der wahrscheinlichste Punkt für das Zusammentreffen französischer Formulierungskraft und deutscher Aufmerksamkeit. Die Spaltung der Christenheit als gemeinsames Verfassungsproblem beider Länder erhöhte die gegenseitige Wahrnehmung. 71 In Deutschland begann die Verdrängung des Lateinischen als Universalsprache aus den gelehrten Debatten erst im letzten Drittel des 67 Ebd., S. 21-23. Nur durch Fürbitte des Sohnes bei Alba seien die Frauen des Fleckens dem Tode entronnen. Zum Befehlshaber Philipps II. von Spanien in den Niederlanden vgl. William Saunders M ALTBY : Alba. A biography of Fernando Alvarez de Toledo, Third Duke of Alba, 1507-1582. Berkeley 1983. 68 Jakobus Isebrandus H ARKENROHT : Oostfriesche Oorsprongkelykheden, van alle Steden, vlekken, Dorpen, Rivieren, enz. in ende buiten Oostfriesland en Harrellingerland. Groningen: Spandaw, 2 1731. S. 325-327. 69 Dazu die Bemerkungen von Hans-Jürgen Lüsebrink und Gerd van den Heuvel zum Beitrag von Reichardt (wie Anm. 10), S. 232-236. 70 Roman S CHNUR : Die französischen Juristen im konfessionellen Bürgerkrieg des 16. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des modernen Staates. Berlin 1962. Zuerst in Hans B ARION / Ernst F ORSTHOFF / Werner W EBER (Hg.): Festschrift für Carl Schmitt zum 70. Geburtstag. Dargebracht von Schülern und Freunden. Berlin 1959, S. 179-219. 71 Die letzten Versuche theologischer Vermittlung hatten nach 1670 die welfischen Höfe zu Trägern und Adressaten, vgl. Hans O TTE / Richard S CHENK (Hg.): Die Reunionsgespräche im Niedersachsen des 17. Jahrhunderts. Rojas y Spinola – Molan – Leibniz (Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsens, 37). Göttingen 1999.

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17. Jahrhunderts, in Frankreich hatte die Volkssprache bereits im Jahrhundert davor ihr Vokabular dafür erweitert. Der Ausbau der Verwaltungsapparate, verbunden mit den Unsicherheiten der politischen Ordnungen, gab den Lebensläufen einer großen Zahl juristisch und theologisch Gebildeter im Reformationsjahrhundert eine bewegte Gestalt. Spätantike Beiträge zur Gestaltung von Staat und Kirche konnten unter veränderten Bedingungen eine neue Bedeutung als Argument gewinnen, solange der altkirchliche Konsens der Christenheit in ihren ersten fünf Jahrhunderten anerkannt blieb. 72 Alle Wege zur Einhegung des Dissenses gewannen neue Aufmerksamkeit, darunter die Ermahnung zur Brüderlichkeit in der Kirche und gegenüber den von ihr getrennten Christen. 73 Diese Argumente hatte bereits Bischof Optatus von Mileve im späten 4. Jahrhundert zusammengetragen. 74 Sein moderner Herausgeber François Bauduin, ein Jurist aus Arras, von 1548 bis 1561 Professor in Bourges, Straßburg und Heidelberg, hatte seitdem an einer Vermittlung mit den Calvinisten gewirkt. 75 Den Katholiken konnte das von Augustinus im Jahr 411 geführte Religionsgespräch von Karthago zum Vorbild dienen, als es galt, die seit den Tagen Konstantins verfolgten schismatischen Donatisten Numidiens in die eine Kirche zurückzuführen. Auf dem Regensburger Reichstag 1540 und beim Religionsgespräch von Poissy 1561 fand dieses Argument Verbreitung. 76

72 Dazu Andreas M ERKT : Die Alte Kirche als remedium schismati. Zum Typos der sogenannten altkatholischen Irenik. In: Heinz D UCHHARDT / Gerhard M AY (Hg.): Union – Konversion – Toleranz. Dimensionen der Annäherung zwischen den christlichen Konfessionen im 17. und 18. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Beiheft 50). Mainz 2000, S. 1-21. 73 Joseph R ATZINGER : Art. Fraternité. In: Dictionnaire de spiritualité 5, 1964, Sp. 1141-1168, hier 1163f. Die theologischen Grundlagen sind erarbeitet bei Joseph R ATZINGER : Volk und Haus Gottes in Augustins Lehre von der Kirche (Münchener Theologische Studien II. Abt., 7). München 1954, darin S. 102-123 zu Optatus von Mileve mit einem Anhang zum Verhältnis von Kirche und Staat. Das intellektuelle Entstehungsumfeld inzwischen vom Autor historisiert bei Joseph Kardinal R ATZINGER : Vom Wiederauffinden der Mitte. Grundorientierungen. Texte aus vier Jahrzehnten. Hg. vom Schülerkreis. Freiburg u. a. 1997, S. 25-34. In populärer Form Joseph R ATZINGER : Die christliche Brüderlichkeit. München 1960. 74 Optati Afri, Milevitani episcopi, libri sex De schismate Donatistarum, Aduersus Parmenianum, Multo quam ante hac emendatiores. Cum praefatione Fr. Balduini. Paris: Claudius Fremy, 1563. 75 Michael E RBE : François Bauduin (1520-1573). Biographie eines Humanisten (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte, Bd. 46). Gütersloh 1978, mitVerzeichnis der Schriften S. 210-239 und Register des Briefwechsels S. 240-254; sowie Mario T URCHETTI : Concordia o Tolleranza? François Bauduin (1520-1573) e i “Moyenneurs” (Filosofia e scienza nel Cinquecento e nel Seicento; I,24). Milano/ Genève 1984. 76 Franciscus B ALDUINUS : Historia Carthaginensis collationis sive disputationis de ecclesia olim habitae inter Catholicos, et Donatistas ex ejus commentariis rerum ecclesiasticarum denue edita a Goswino Josepho de Buinick. Düsseldorf/ Cleve: J. C. B. Hoffmann, 1763. Vorwort S. 16: Memini, cum Ratisbonae in Germania Carolus V. Imp. comitia, in quibus de religione quaesitum atque disputatum est, haberet, laudatum fuisse vetus Exemplum illius Carthaginens (ut vocata est) Collationis: & aliquot post annis, cum in Galliam reversus etiam incidissem in Conventum illum Posiacum, in quo non dissimilis Collatio rursus instituta esse

“Liberté, Égalité, Fraternité”

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Scheiterte der Versuch einer nationalen Einigung, blieb noch der Versuch zur lokalen Einmütigkeit. Der Erhaltung bürgerlichen Friedens in einer Stadt dienten interkonfessionelle Freundschaftverträge mit dem Versprechen, que tous ensemble sans différence de religion vivions en paix, amitié et fraternité perpétuelle comme vrays cytoiens tous dune ville se maintiennent, gardent et deffendent les uns les aultres, so am 1. Oktober 1567 zu Montélimar in der Dauphiné. 77 „Literaturkenntnis schützt vor Neuentdeckungen“ hat Hermann Heimpel 1954 ein Element des Ethos historischen Arbeitens formuliert. 78 Grenzen des Möglichen bei Studien zur epochenübergreifenden Verwendungsgeschichte von Begriffen faßte schon vor 100 Jahren Lord Acton ins Auge, als er eine Anfragerin nach einer Einzelheit auf Seite 50.000 seiner entstehenden Geschichte der Freiheit verwies. 79 Vielleicht führt die Suche nach dem Beginn der gemeinsamen Geschichte von drei Grundbegriffen des historisch-politischen Denkens ja eher zum Ziel, wenn man die Aufmerksamkeit wie vorgeschlagen auf das französische 16. Jahrhundert konzentriert.

dicebatur, non dissimulavi extare in Africanae Ecclesiae historia veteri exemplum memorabile, in quod haec aetas intueri deberet. 77 Acht Texte aus den Jahren 1562-1568 bei Olivier C HRISTIN : La paix de religion. L´autonomisation de la raison politique au XVI e siècle. Paris 1997, S. 310-318, hier 312. 78 Rez. zu Friedrich August Frhr. von der H EYDTE : Die Geburtsstunde des souveränen Staates. Regensburg 1952. In: Göttingische gelehrte Anzeigen 208, 1954, S. 197-221, hier 210. Inzwischen ist die Maxime so weit verbreitet, daß ihre Formulierung wiederum unbestimmt wird, so bei Hans-Ulrich W EHLER : Historisches Denken am Ende des 20. Jahrhunderts, 1945-2000 (Essener Kulturwissenschaftliche Vorträge, Bd. 11). Göttingen 2001, S. 65. 79 Letters of Lord Acton to Mary, Daughter of the Right Hon. W. E. Gladstone, ed. Herbert P AUL , London 1904, S. 101, zit. bei Christoph W EBER : Kirchengeschichte, Zensur und Selbstzensur. Ungeschriebene, ungedruckte und verschollene Werke vorwiegend liberal-katholischer Kirchenhistoriker aus der Epoche 1860-1914 (Kölner Veröffentlichungen zur Religionsgeschichte, Bd. 4). Köln/ Wien 1984, S. 18.

Ein Schiffsjunge aus Exeter am Grabe des Propheten oder: „A faithful account of the Religion and Manners of the Mahometans“ 1 Gerhard Diehl

Als der fünfzehnjährige Joseph Pitts aus Exeter am Osterdienstag 1678, getrieben von der Begierde fremde Länder kennenzulernen, ganz gegen den Willen meiner Mutter, während mein Vater meiner Laune nachzugeben schien, 2 in dem kleinen Hafen von Lympstone auf dem Neufundlandfahrer Speedwell anheuerte, ahnte er noch nicht, in welchem Maß diese Entscheidung sein weiteres Leben verändern würde. 3 Nach einer alles in allem ereignislosen Fahrt nahm die Speedwell mit ihrer Kabeljauladung nämlich Kurs auf den spanischen Hafen Bilbao, ein Seegebiet von dem wir wußten, daß es eine Gegend war, wo die Algerier nach armen, aus dem Westen kommenden Schiffen zu jagen pflegten. 4 So fuhr der gesamten Mannschaft der Schreck in die Glieder, als eines Morgens die Stimme des Maats aus dem Mastkorb „Segel leeseits!“ meldete. Gegen Mittag brach der Kapitän der Speedwell dann die aussichtslos gewordene Flucht ab und der Pirat kam rasch längsseits. In meiner jugendlichen Unerfahrenheit erschienen mir die Feinde als monsterhafte, ausgehungerte Kreaturen, so daß ich aufschrie: ‚Oh Käpt’n! Ich habe Angst, daß sie uns töten und essen werden’ ‚Nein, nein, Kind’ sagte mein Kapitän, ‚sie werden uns nach Algier bringen und verkaufen.’ 5 Und so geschah es dann auch. 1 Dem Aufsatz zugrundegelegt wird die vierte, überarbeitete Auflage, Joseph P ITTS : A faithful account of the religion and manners of the Mahometans, London 1738. (Ich danke Stephan Farrar, Direktor der Bluesail Fish Company in Looe (Cornwall), der mich 1997 erstmals auf diesen Text aufmerksam gemacht hat.) 2 much contrary to my Mother’s Mind, though my Father seem’d to yield to my humour (ebd. S. 1). 3 Zum Fischfang vor der nordamerikanischen Küste in der frühen Neuzeit vgl. allgemein Mark K URLANSKY : Kabeljau. Der Fisch, der die Welt veränderte, München 2000, S. 57ff. und für den konkreten Kontext Todd G RAY : Devon’s coastal and overseas fisheries and New England Migration 1597 - 1642, Exeter 1988 (Diss. micr.; British Library Document Supply Centre 1988, benutzt wurde das Exemplar der Göttinger UB: MA 91515:1). 4 which we knew was the Place, where the Algerines us’d to haunt for poor Ships that come from the Westward (P ITTS [Anm. 1], S. 2). 5 I being but young, the Enemy seem’d to me as monstrous ravenous Creatures; which made me cry out, O, Master! I am afraid they will kill us and eat us. No, no, Child, said my Master, they will carry us to Algier, and sell us. (Ebd. S. 3).

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Spätere Generationen hätten weder dieses mit knappen Worten beschriebene Drama erfahren, noch wüßten wir, was für ein weiteres Schicksal den Schiffsjungen aus Devon dann in Nordafrika erwartete, wäre nicht Joseph Pitts nach 15 Jahren schließlich die Flucht aus Algier gelungen und hätte der 1694 nach Exeter Zurückgekehrte nicht ein weiteres Jahrzehnt später ein umfangreiches Buch über seine Erlebnisse auf den Markt gebracht: „A faithful account of the religion and manners of the Mahometans. In which is a particular Relation of their Pilgrimage to Mecca, the Place of Mahomet’s Birth; and a Description of Medina, and of his Tomb there: As likewise of Algier, and the Country adjacent; and of Alexandria, Grand Cairo, &c. With an Account of the Author’s being taken Captive; the Turks Cruelty to him; and of his Escape. In which are many Things never publish’d by any Historian before.“ 6 Bereits die Zeitgenossen waren von den Darstellungen des inzwischen etwa vierzigjährigen Joseph Pitts so fasziniert, daß 1717 - sehr zum Leidwesen des Verfassers 7 - in Exeter ein Raubdruck auf den Markt kam. Pitts selbst ließ 1731 eine dritte, wesentlich erweiterte und mit zwei Stichen versehene Auflage folgen, 8 der sich 1738 kurz vor seinem Tod 9 eine weitere anschloß. 10 Fragt man sich nach den Gründen für den offensichtlichen Erfolg der Darstellung bei den Zeitgenossen, so dürften hier verschiedene Elemente zusammenkommen. Sicherlich waren die Engländer des frühen 18. Jahrhunderts - ähnlich wie auch spätere Leser - interessiert an Nachrichten aus fernen Weltgegenden, eine Neugier, die ohne Zweifel in diesem Fall noch verstärkt wurde durch die Faszination des vollkommen anderen Kulturraums und die gepaart war mit Entsetzen über das Schicksal des Betroffenen. Pitts Text erfüllte die verschiedensten Leseerwartungen, indem er solide und ausführliche ethnographische Informationen über den nordafrikanischen Raum und die islamische Glaubenswelt mit Einblicken in sein eigenes Schicksal zu So der vollständige Titel bereits der ersten Auflage Exeter 1704. I scarce even saw a Book printed on worse Paper, and so incorrect: But this must not lie at my Door. (P ITTS [Anm. 1], S. XIVf.). 8 Diesmal erfolgte der Druck in London, bei den beiden Abbildungen handelt es sich eine Darstellung der various gestures of the Mahometans in their prayers to God (im Anschluß an S. 56) und um eine Ansicht des most sacred and antient (sic!) TEMPLE of the MAHOMETANS at MECCA (im Anschluß an S. 124). 9 Das genaue Todesdatum von Joseph Pitts ist nicht bekannt. Während Thomas Seccombe im Dictionary of National Biography (Bd. 45/1896, S. 387f.) noch das Jahr 1735 annimmt, ermittelte Cecily Radford, daß das Testament eines Joseph Pitts, den sie für den Betreffenden hält, in Exeter im Dezember 1739 vollstreckt wurde. Demnach hinterließ der in bescheidenen Verhältnissen Lebende eine Frau und mehrere Kinder. Weitere Informationen über die Lebensverhältnisse der Familie liegen kaum vor; vgl. die bislang ausführlichste biographische Darstellung bei Cecily R ADFORD : Joseph Pitts of Exeter (? 1663 ? - 1739), in: Reports and Transactions of the Devonshire Association for the advancement of Science, Literature and Art 52/1920, S. 223-238. (Für die Beschaffung dieser in deutschen Bibliotheken nicht nachgewiesenen Veröffentlichung danke ich Michael Etzold, Oxford.) 10 Einen oberflächlichen Vergleich der verschiedenen Drucke bietet R ADFORD (Anm. 9), S. 234ff. 6 7

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verknüpfen wußte. Daß der ehemalige Sklave als erster Engländer aus eigener Anschauung über die heilige Stadt Mekka berichten konnte, sicherte ihm ohne Zweifel zusätzliche Aufmerksamkeit nicht nur unter den gebildeten Lesern. 11 Neben diesen eher allgemeinen Erwägungen muß jedoch auch der besondere südenglische Erfahrungshorizont des ausgehenden 17. Jahrhunderts berücksichtigt werden: 12 Nicht nur wurden Schiffe aus beinahe allen englischen Häfen immer wieder von nordafrikanischen Piraten aufgebracht 13 und waren englische Seeleute auf den Sklavenmärkten zwischen Salé im Westen und Konstantinopel im Osten zum Verkauf angeboten worden. Auch die englische Küste selbst war wieder und wieder den Angriffen der Korsaren schutzlos ausgeliefert. So entführten islamische Piraten 1625 über 60 Bewohner des Dorfes Mevagissey, Männer, Frauen und Kinder, während des Sonntagsgottesdienstes aus der Kirche. 14 Nimmt man allein die genauer untersuchte Zeit zwischen 1616 und 1642, so kommt man auf etwa 350 - 400 gekaperte Schiffe und insgesamt 6500 - 7000 gefangene Engländer, die zumeist als Sklaven verkauft wurden. Die größte Zahl der Opfer stammte aus der Heimat von Joseph Pitts, aus Süddevon. Erhaltene Briefe berichten von der grausamen Behandlung in der Sklaverei und von der Sorge um das eigene Seelenheil. 15 Der häufigen Bitte um Freikauf begegnen Einzelne, Familien, aber auch ganze Gemeinden, mit der Sammlung von z.T. erheblichen Geldbeträgen. 16 Der Bischof von Exeter entwirft eigens eine Liturgie für Gottesdienste zur Wiederaufnahme von Renegaten in die Kirche von England. 17 Vor diesem Hintergrund wird deutlich, daß der nach Exeter Heimgekehrte mit seinem Text Themen berührte und Informationen vermittelte, die Ausschnitte einer kollektiven Erfahrung der Zeitgenossen dieser Region präsentieren. Will man die zentralen Motive verstehen, die Joseph Pitts zur Niederschrift seiner Erinnerungen veranlaßten, genügt ein Blick auf den Fortgang der 11 I question whether there be a Man now in England, who has ever been at Mecca (P ITTS [Anm. 1], S. VIII). I will say, ‘tis as true as any, for I wrote from my own Knowledge, which I never yet heard any Englishman did; nor indeed could he, unless he had been in the like unhappy Circumstances with my self. (Ebd. S. XV). Radford ([Anm. 9], S. 228) weist darauf hin, daß Pitts’ Schilderung von Mekka auch deshalb so großen Wert besitzt, weil der nächste Europäer erst 1810 aus der heiligen Stadt berichtet und der Tempel, den der Engländer ausführlich beschreibt, in der Zwischenzeit zerstört und in anderer Gestalt neu errichtet wurde. 12 Für das Folgende vgl. Todd G RAY : Turkish Piracy and Early Stuart Devon, in: Reports and Transactions of the Devonshire Association for the advancement of Science, Literature and Art 121/1989, S. 159-171. (Für die Beschaffung dieser in deutschen Bibliotheken nicht nachgewiesenen Veröffentlichung danke ich Michael Etzold, Oxford.) Auch wenn die hier dargestellten Ereignisse sich nur auf die erste Hälfte des Jahrhunderts beschränken, lassen sie sich sicher zu guten Teilen auch noch auf die spätere Zeit übertragen. 13 Dabei entwickelten die Piraten eine besondere Vorliebe für Fischerboote, da diese relativ klein und zumeist nicht bewaffnet waren, aber über eine im Vergleich zur Schiffsgröße recht umfangreiche Besatzung verfügten, eine Tatsache, die auch Pitts zum Verhängnis geworden ist. (Vgl. G RAY [Anm. 12], S. 164f. und P ITTS [Anm 1], S. 4f.). 14 G RAY (Anm. 12), S. 163. 15 Ebd. S. 161f. 16 Ebd. S. 166. 17 Ebd. S. 162.

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Ereignisse nach seiner Gefangennahme: Die geraubten Sklaven werden in einer Auktion verkauft, und der Auktionator versucht, sie möglichst vorteilhaft zu präsentieren und wenn die Bieter am Stand sind, macht er Gebrauch von seinen rhetorischen Fähigkeiten: ‚Schau, was für ein kräftiger Mann das ist! Was für Beine er hat! Der schafft jede Art von Arbeit! Und schau nur, was für ein gutaussehender Junge das ist! Ohne Zweifel sind seine Eltern sehr reich und in der Lage, ihn durch ein großes Lösegeld freizukaufen.’ Und mit allerlei solchen Aussprüchen bemüht er sich, den Preis in die Höhe zu treiben. 18 Der junge Joseph hat jedoch wenig Glück mit seinem Käufer. Bereits in den ersten achtundvierzig Stunden nach meinem Verkauf kam ich in den Genuß ihrer Grausamkeit. 19 Immer wieder wird der Junge geschlagen. Diese Situation spitzt sich nach dem baldigen Weiterverkauf noch zu. 20 Denn Pitts neuer Herr versucht seinen Sklaven - notfalls auch mit Gewalt - zum Islam zu bekehren. In einer dramatisch ausgestalteten Szene erklärt sich der Jugendliche, fern der Heimat und aller Hoffnung auf Freikauf beraubt, 21 bereit, zum Islam überzutreten: Ich habe bereits früher über die Grausamkeiten berichtet, die die Türken an mir begangen haben, aber nun werde ich eine detaillierte Schilderung von ihnen geben. Es waren so viele und so überwältigende, daß ich, der ich noch so jung war, sie nicht länger ertragen konnte und schließlich zum Islam übertrat, um ihnen zu entgehen. 22 Nachdem ich nun zum zweiten Mal eine große Anzahl von Schlägen erhalten hatte, flehte ich ihn erneut an, seine Hand ruhen zu lassen, und ich gab ihm neue Hoffnung, 18 The taken Slaves are sold by way of Auction, and the Cryer endeavours to make the most he can of them; and when the Bidders are at a stand, he makes use of his Rhetorick, Behold what a strong Man this is! What Limbs he has! he is fit for any Work! And see what a pretty Boy this is! No doubt his parents are very rich, and able to reedem him with a great Ransom. And with such like fair Speeches does he strive to raise the price. (P ITTS [Anm. 1], S. 9; vgl. auch die ausführliche Beschreibung des Sklavenmarktes von Kairo ebd. S. 105f.). Mit der Lage der christlichen Sklaven in dieser Region beschäftigt sich die Arbeit von Ellen G. F RIEDMAN : Spanish Captives in North Africa in the Early Modern Age, Madison 1983. 19 Within eight and fourty Hours after I was sold, I tasted of their Barbarity. (P ITTS [Anm. 1], S. 47). 20 Ebd. S. 184ff. 21 Bei einer Reise von Algier nach Tunis, wo Joseph dem Bruder seines Herrn geschenkt werden sollte, lernt er den dortigen englischen Konsul kennen, der bereit ist, den Jungen freizukaufen. Die vom Besitzer verlangte Summe ist jedoch so hoch, daß der Konsul selbst mit Hilfe zweier englischer Kaufleute nicht in der Lage oder willens ist, den entsprechenden Betrag aufzubringen. At which the Consul told me that I must have Patience, for a Hundred Pounds was a considerable sum to be contributed by three only, and Providence might work some other way. But if there had been English ships there, he would have gone aboard them himself, and made a collection for me. Upon hearing this, I burst into Tears, notwithstanding, returning them a thousand Thanks for their generous Good-will. The Consul laid his Hand on my Head, and bid me serve GOD and be cheerful … (ebd. S. 190). So kehrt Pitts enttäuscht mit seinem Herrn - der Bruder hatte das Geschenk abgelehnt - wieder nach Algier zurück. Einen interessanten Einblick in den Alltag eines englischen Konsuls in der Phase von Pitts Aufenthalt in Algier bietet das zeitgenössische Tagebuch des Konsuls von Tripoli, vgl. C.R. P ENNELL (ed.): Piracy and Diplomacy in Seventeenth-Century North Africa. The Journal of Thomas Baker, English Consul in Tripoli 1677-1685, London/Toronto 1989. 22 I spake something before of the Cruelties exercised upon me by the Turks; but now shall give a more particular Account of them; which were so many, and so great, that I being then but young, could no longer endure them, and therefore turn’d Turk to avoid them. (P ITTS [Anm. 1], S. 181).

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daß ich zum Islam übertreten würde; und nachdem ich wieder etwas zu mir gekommen war, teilte ich ihm wie bereits beim ersten Mal mit, daß ich nicht tun könne, was er wünsche. Und auf diese Weise hielt ich ihn drei oder vier Mal hin, aber als ich schließlich erkannte, daß seine Grausamkeit mir gegenüber unersättlich blieb, so lange ich nicht übertrat, tat ich es aus Todesangst. 23 Gott sei mir Sünder gnädig! 24 Auf dieser Folie lassen sich die Bewegründe für die ausführliche Darstellung des in der Fremde erlittenen Schicksals erahnen. Nachdem Pitts in eine nicht nur durch die kulturellen Differenzen fremd gewordene, 25 sondern ihm auch wegen seines Übertritts zum Islam offensichtlich mit Mißtrauen begegnende Umwelt heimgekehrt war, 26 sah er sich unter Rechtfertigungsdruck: Ich erkläre hiermit, daß mein Hauptmotiv für die Veröffentlichung des Buches ist, Gott zu rühmen, durch dessen gnädige Vorsehung ich aus der Sklaverei befreit und in mein eigenes Heimatland zurückgebracht wurde, wo kein Mittel zur Erlösung fehlt und wo die gesegnete Lehre von Jesus aufgerichtet ist und die heilige Dreifaltigkeit verehrt wird. 27 Pitts wird nicht müde, hervorzuheben, daß seine Konversion keinesfalls aus innerer Überzeugung erfolgte, sondern lediglich durch äußere Gewaltanwendung erzwungen wurde. Entsprechend nachlässig sei er auch in der Ausübung des neuen Glaubens gewesen. ... [mein Herr] bemerkte, daß ich weit davon entfernt war, eifrig im mohammedanischen Glauben zu sein. (Und ich muß betonen, daß ich oftmals zur Moschee gegangen bin, ohne auch nur irgendeine rituelle Waschung vorzunehmen, was kein wahrer Mohammedaner tun würde ...) 28 Der mißtrauischen Umwelt präsentiert der wieder zum rechten Glauben zurückgekehrte Renegat, um Rechtfertigung bemüht, seinen eigenen Vater und verschiedene Geistliche als Kronzeugen. Er zitiert aus einem Briefwechsel, der während der ersten Jahre seines Lebens in Algier zwischen ihm und seinen Eltern zustande kam ein erstaunliches Dokument der Kommunikation über die verschiedensten kulturellen und politischen Grenzen hinweg. Auf das Geständnis des Übertritts hin antwortet der schockierte Vater: Aber ich kann dennoch nicht 23 After I had received a great many Blows a second time, I beseech’d him again to hold his Hand, and gave him fresh hopes of my turning Mahometan; and after I had taken a little more Breath, I told him as before, I could not do what he desired. And thus I held him in suspence three, or four times; but at last, seeing his Cruelty towards me insatiable, unless I turn’d, through Terreur I did it. (Ebd. S. 196). 24 GOD BE MERCIFUL TO ME A SINER! (Ebd. S. 181, Blockbuchstaben zur Betonung bereits im Original). 25 Pitts notiert im Kontext der Korrespondenz zwischen ihm und seinen Eltern die sprechende Beobachtung: The Reader will excuse my not dating the Letter, when I tell him, that truly I had then forgot the Month and the Year, because the Turks reckon after a different manner from us ... (Ebd. S. 206). 26 I have been often reflected upon for my Apostasy; which I desire to bear with Patience. I deserve abundantly more than this; however, I have this to comfort me, that they are, for the most part, ignorant or vile Persons, whose Censures are not much to be minded: Nay, I don’t remember, that I have been once reproached for it by any of Learning or Piety. (Ebd. S. XVII). 27 I declare my principal End in its Publication, is giving Glory to GOD, by whose gracious Providence I am releas’d from Slavery, and brought again in my own native Country, where there are no Means of Salvation wanting, and where the Blessed Doctrine of Jesus is established, and the Holy Trinity ador’d. (Ebd. S. XI). 28 ... he observ’d me to be far from being zealous in the Mahometan way. (And I must declare, that oftentimes I would go to Mosque without ever taking any Abdes at all; which none of the thoroughpac’d Mahometans would do ...) (Ebd. S. 208).

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anders, als Dich meinen teuren und geliebten Sohn zu nennen, obwohl du deinen Erlöser verraten hast ... Aber alles in allem tröstete mich mein Vater in diesem Brief, indem er mir berichtete, daß er mit verschiedenen Geistlichen geredet habe, die alle übereinstimmend der Meinung waren, daß ich keine Todsünde begangen hätte. 29 Sogar die göttliche Gnade selbst wird als Beweis für die fortdauernde christliche Grundüberzeugung - ich war in Wahrheit im Herzen ein Christ 30 - ins Feld geführt. Denn auf der Rückfahrt von Mekka überfällt den Pilger in Alexandria die Pest, aber durch göttliche Gnade entkam ich dem Tod. ... Solch ein Gnadensignal hoffe ich niemals zu vergessen, eine Gnade unter, wenn man alles bedenkt, solchen Umständen, daß meine Seele sie dankbar in Erinnerung behalten wird, so lang wie ich leben werde. Denn ich war gerade von Mekka zurückgekehrt, als mir diese Gnade erwiesen wurde; ich erkenne die göttliche Vorsehung deutlich darin und hoffe, daß ich immer den besten Gebrauch von ihr machen werde. 31 Auch die in der Heimat aufgekommenen Zweifel an der Ernsthaftigkeit seiner Rückkehrabsichten, die nach dem langen Verbleib in Nordafrika kaum überraschen konnten, versucht der Heimkehrer zu entkräften. Aber ich muß zugeben, daß ich mit meinem letzten Herrn sehr angenehm zusammenlebte. Aber dies war nicht [die vollkommene] Zufriedenheit, ich sehnte mich nach wie vor aus diesem Land fort zu kommen und mein Hauptgrund war, daß ich Gott so verehren wollte, wie es sich gehört. 32 Noch deutlicher wird Pitts bereits in der Einleitung gegenüber diesen Anschuldigungen: Ich war auf einem viel besseren Weg zu Ehre und Aufstieg, als ich es jemals in England erwarten konnte. 33 29 Yet I cannot chuse but call thee dear and loving Son, although thou hast denied thy Redeemer ... But withal, my Father in his Letter comforted me, with telling me, That he had been with several Ministers, who unanimously concurred in their Opinion, that I had not sinned the unpardonable Sin. (Ebd. S. 203f.). Insgesamt schickt Pitts über verschiedene Mittelsmänner drei Briefe nach England, zwei in den ersten Jahren seiner Gefangenschaft aus Algier, den dritten auf der Rückkehr von seiner Pilgerfahrt nach Mekka aus Alexandria - letzterer enthält sogar a Turkish Pipe to my Father, and a green Silk Purse to my Mother (ebd. S. 161). Aus diesen Briefen zitiert Pitts ebenso wie aus den beiden Antwortschreiben seines Vaters (ebd. 200 - 208). 30 I was realy a Christian in my Heart. (Ebd. S. 202). 31 ... but, thro’ the Divine Goodness, escap’d Death. ... Such a Signal Mercy I hope I shall never forget; a Mercy so Circumstantiated, considering every thing, that my Soul shall thankfully call it to mind, as long as I have any Being. For I was just return’d from Mecca when this Mercy was dispens’d to me; I do observe the Divine Providence plainly in it, and hope ever to make the best use of it. (Ebd. S. 162f.). 32 But I must needs acknowledge, that with my last Patroon I lived very comfortably. But this was not Satisfaction; I long’d still to be gone out of this Country, and my chief Reason was, That I might worship God as I ought. (Ebd. S. 48). 33 I was in a much fairer Way for Honour and Preferment in Algier, than I could expect ever to have been in England. (Ebd. S. XVII). Offensichtlich hatte Pitts dritter Besitzer, ein älterer Junggeselle, große Zuneigung zu dem jungen Engländer gefaßt. Er ließ ihn nach der Rückkehr aus Mekka frei, förderte ihn, wo er nur konnte und plante sogar, ihn als Erben einzusetzen. He seldom called me any thing but Son, and bought a Dutch Boy to do the Work of the House, who attended upon me, and obeyed my Orders, as much as his. ... I often saw several Bags of his money, a great part of which, he said, he would leave me. He would say to me, Though I was never married my self, yet you shall be in a little time, and then your Children shall be mine. ... Many more Kindnesses, of this my last Patroon, I could relate; for which I cannot but say, I had a great Love for him, even as a Father. But still this was not England, and I wanted to be home. (Ebd. S. 224f.) Interessanterweise reflektiert Pitts nicht im geringsten, daß er selbst hier bereits die Grenze zum „Sklavenhalter“ überschritten hat.

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Hat man sich bei der Lektüre des „Faithful Account“ an diese Leitlinie der Rechtfertigung und klaren Distanzierung hinsichtlich des zurückliegenden Religionswechsels gewöhnt, so ist man doch immer wieder verblüfft über die Art und Weise, mit der Pitts den Islam selbst und die islamische Welt beschreibt und teilweise sogar würdigt. Denn anders als in vielen Reiseberichten oder autobiographischen Aufzeichnungen dieser Zeit tritt über weite Strecken der Darstellung die Person des Autors vollkommen hinter dem Gegenstand der Beschreibung in den Hintergrund. Im Mittelpunkt des Textes steht nicht so sehr das eigene Schicksal, sondern dem Titel des Buches folgend wird ausführlich über Religion und Sitten der Mohammedaner 34 berichtet. So mündet bereits die Darstellung des eigenen Verkaufs auf dem Sklavenmarkt in Algier in eine ausführliche Beschreibung von Algier, seiner Lage, seiner Gebäude und Befestigungen und der besonders bemerkenswerten Orte innerhalb der algerischen Territorien. 35 Nachdem sich das zweite Kapitel mit den algerischen Piraten beschäftigt, 36 bieten die folgenden vier Abschnitte auf über sechzig Seiten eine umfassende ethnographische Studie über das Leben in Nordafrika am Ende des 17. Jahrhunderts: 37 Der Leser erfährt von Tischgewohnheiten und verschiedenen Gerichten, Heirats- und Begräbnisbräuchen, von der Kindererziehung ebenso wie vom Umgang mit Geisteskranken, von Badehäusern, von Spitznamen und der Eifersucht der Männer. Auch das Zusammenleben der türkischen Besatzer mit der ursprünglichen Berberbevölkerung wird zum Thema. Im Zentrum der Schilderungen steht jedoch der religiöse Aspekt. Ausführlich geht Pitts auf die Verehrung für den Koran ein, beschreibt den religiösen Tagesablauf mit seiner Folge von Waschungen und Gebeten, erwähnt detailliert das herausragende Freitagsgebet und den Fastenmonat Ramadan. 38 Den breitesten Raum des gesamten Buches beansprucht mit Religion and Manners of the Mahometans ( ebd. Titelblatt). A Description of Algier, as to its Situation, Buildings and Fortifications; and of the most remarkable Places within the Algerine Territories. (Ebd. Inhaltsverzeichnis S. XIX). Die entsprechenden Beschreibungen lesen sich in etwa wie die zeitgenössischen Reiseberichte: About ten Miles off Algier, to the Westward also, is a pretty little Town called Bleda, accomodated with fine Gardens, full of all manner of Fruits, and plenty of Water insomuch, that there are upon the River Grist Mills, which is such a Rarity as I seldom, or never saw in any other Part of that Country. (Ebd. S. 11). 36 Zu den Hintergründen der islamischen Piraterie in der frühen Neuzeit vgl. Andreas R IEGER : Die Seeaktivitäten der muslimischen Beutefahrer als Bestandteil der staatlichen Flotte während der osmanischen Expansion im Mittelmeer im 15. und 16. Jahrhundert, Berlin 1994 (Islamkundliche Untersuchungen Bd. 174). 37 An modernen Darstellungen dieser Periode - die sich allerdings auch zu weiten Teilen auf christliche, und damit zwangsläufig einseitige Berichte von Zeitgenossen berufen müssen - sind zu nennen: Jamil M. A BUN -N ASR : A history of the Maghrib in the Islamic period, Cambridge 1987, S. 144-206, und John B. W OLF : The Barbary Coast. Algiers under the Turks 1500 to 1830, New York/London 1979. Reizvoll auch die ältere Arbeit von Wilhelm H OENEBACH : Cervantes und der Orient. Algier zur Türkenzeit, Walldorf 1953 (Beiträge zur Sprach- und Kulturgeschichte des Orients Bd. 3). Auf der Folie der autobiographisch geprägten Passagen aus dem Werk des großen spanischen Autors, der selbst im Gefolge der Seeschlacht von Lepanto mehrere Jahre Sklave in Nordafrika war, erarbeitet der Autor ein Bild von Algier gegen Ende des 16. Jhdts. 38 And I believe I may be bold to say, That hardly any Man hath ever given so full, and punctual a Description of the Manner of their Worship, as the Sequel contains. (P ITTS [Anm. 1], S. 51). 34 35

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weiteren gut achtzig Seiten eine Beschreibung der islamischen Pilgerfahrt nach Mekka, die Art und Weise ihrer Frömmigkeitsausübung dort. Von einigen der bedeutendsten Orte zwischen Mekka und Algier, z.B. Alexandria, Kairo etc. 39 Daran schließt sich an die Rückkehr der Pilger von Mekka. Ihr Besuch in Medina am Grab von Mohammed. Der überwältigende Empfang der Pilger bei ihrer Heimkehr und der große Jubel bei dieser Gelegenheit. 40 Der überwiegende Teil der ethnographischen Schilderungen, die das ausführliche Inhaltsverzeichnis Revue passieren läßt, basiert auf der eigenen Anschauung des Autors. Davon legt bereits die Einleitung beredt Zeugnis ab, die bei aller Bescheidenheit doch auch ein Dokument ungebrochenen Selbstbewußtseins ist. Dabei spielt sicher eine zentrale Rolle, daß Pitts - wie bereits erwähnt - der erste Engländer war, der nicht nur aus Nordafrika, sondern auch aus Mekka berichten konnte: Ich mag mich der Kritik einzelner Leute aussetzen, ... denn ich habe nicht die Fähigkeiten, die von einer Person verlangt werden, die solch eine Darstellung schreibt. Ich habe nur - und ich bitte um die Erlaubnis, das mit aller Deutlichkeit sagen zu dürfen - die wichtigste Qualifikation eines Historikers auf meiner Seite, nämlich die Wahrheit. 41 Ihrer ist sich der ehemalige Sklave völlig sicher, ist er doch selbst der beste Gewährsmann seines Berichts. Aus dieser Position heraus findet sich auch immer wieder die Kritik des nach klassischen Standards Ungebildeten an den Werken anderer Autoren: Ich habe auf einige Fehler von Autoren hingewiesen, die Personen von großer Gelehrsamkeit und herausragender Stellung sind und deren Namen ich aus eigener Sicht nicht würdig wäre, auszusprechen, wäre es nicht um der Wahrheit willen, welche jedermann das Teuerste auf der Welt sein sollte. 42 Trotzdem zeigt die Darstellung in diesen Bereichen kaum 39 an Account of the Mahometan Pilgrimage to Mecca: The Manners of their Devotion there. Of some of the most considerable Places between Mecca and Algier; as Alexandria, Grand Cairo ( ebd., S. 84). Ausgehend von Pitts Schilderung Ägyptens kommt Oleg Volkoff zu einem außerordentlich positiven Urteil über die Beobachtungs- und Darstellungsgabe des Verfassers. „La description de son séjour en Egypte frappe surtout par le nombre de détails concrets que l’auteur y glisse et par la tournure d’esprit éminent pratique dont il fait preuve. ... Ce souci du détail, précis, exact, donne beaucoup de valeur aux pages consacrées par Pitts à l’Egypte, et sa relation représente un document précieux pour les historiens.“ (Oleg V OLKOFF : Voyages en Egypte pendant les années 1678 - 1701, Kairo 1981 [Collection des Voyageurs occidentaux en Egypte Vol . 23], S. XI). 40 Of the Pilgrims Return from Mecca. Their Visit made at Medina to Mahomet’s Tomb there. The mighty Welcome the Hagges receive at their Return home; and the great Rejoycing made on that Occasion. (P ITTS [Anm. 1], S. 148). 41 I may undergo the Censures of some, ... for I am sensible that I have not the Abilities which are required in a Person that writes such a History: Only, I beg leave to say plainly, I have the most valuable Qualification of an Historian on my side, i.e. Truth. (Ebd. S. VI). 42 I have hinted at some Mistakes in Authors, who are Persons of great Learning and Worth, and whose Names I acknowledge my self unworthy so much as to mention, were it not for the sake of Truth, which ought to be the dearest Thing in the World to every man ... (ebd. S. VIII). Und tatsächlich finden sich gestreut über das gesamte Werk entsprechende Hinweise, in denen Pitts mit teilweise unverhohlenem Sarkasmus andere Autoren kritisiert. Gleichzeitig sind diese Anmerkungen ein wertvoller Fingerzeig auf die nachträglich erworbene Belesenheit des Verfassers und mögliche Quellen für seine Darstellung außerhalb des eigenen Augenscheins. Vgl. z.B. ebd. S. 86f. und S. 101 über Collier’s Dictionary; ebd. S. 101 und S. 135 über Jean de Thevenots Reiseberichte aus dem Orient: The worthy Mons. Thevenot saith, That the Waters of Mecca are bitter; but I never found them so, but as sweet and as good as any others, for

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Spuren persönlichen Erlebens, sondern gibt sich den Anstrich objektiver Beobachtung. Aus dem Bemühen um absolute Glaubwürdigkeit der eigenen Worte heraus entsteht geradezu ‚wissenschaftliche’ Korrektheit. 43 So erklärt sich der ungeheure Detailreichtum in der Darstellung der Feldlager und Züge zur Tributerhebung von den Kabylen, die im Zentrum des vierten Kapitels stehen, aus der erst später am Text ablesbaren Augenzeugenschaft des Verfassers, sei es, weil er seinen zweiten Herrn während einer solchen Kampagne begleitete, sei es, weil er nach seiner Freilassung in die Armee eintrat. Nur in wenigen Fällen wird unmittelbar eigenes Erleben erkennbar, wie z.B. wenn Pitts über die Eifersucht türkischer Männer und die Untreue ihrer Frauen berichtet: Ich bin fest davon überzeugt, daß die Frau meines zweiten Herren ihm sehr untreu war. Ich habe Gründe zu glauben, daß sie eine Beziehung zu einem Nachbarn in der Stadt unterhielt. Sie führte auch mich auf vielfältige Weise in Versuchung, zwar nicht durch Worte, aber doch mit Gesten. Aber ich stellte mich dumm im Hinblick auf ihre Absicht und entkam so - dank Gott - den Fallstricken. 44 In anderen Passagen hingegen läßt sich die persönliche Erfahrung nur erahnen, so etwa, wenn Pitts im Kontext der Kindererziehung durchblicken läßt: Sklaven in solchen Häusern sind immer bemüht, die Zuneigung der Kinder zu gewinnen. Wenn ihnen das gelingt, verbessert sich ihr Schicksal dadurch gewaltig. Denn oft werden Fehler stillschweigend geduldet und um des Kindes willen wird auf viele Schläge verzichtet, da es zu sehr betrübt werden könnte, wenn es sehen würde, wie der geliebte Sklave bestraft wird. 45 Auch bei den Bemerkungen über Homosexualität und Päderastie muß man vermutlich von einschlägigen Erlebnissen des jugendlichen Sklaven ausgehen: Es ist dort so allgemein üblich für Männer, sich in Jungen zu verlieben, so wie hier in England, in eine Frau verliebt zu sein. ... Aber dies ist eine so unmenschliche und unnatürliche Angelegenheit, daß ich gestehen muß, mich zu schämen, ought as I could perceive. (Vgl. auch S. 126.) Immer wieder finden wir auch den bekannten Gegensatz zwischen hearsay einerseits und knowledge (z.B. ebd. S. 87) oder Autopsie (z.B. ebd. S. 95) andererseits. 43 I am sensible, it [das Berichten einer Unwahrheit] would be but a bad Testimony of my Repentance for my Apostasy, and I dread the Thoughts of so doing; so that the Reader may be assured of my Sincerity in the following Relation. (Ebd. S. VIIIf.). 44 My second Patroon’s wife was, I am persuaded, very unfaithful to him: I have reason to think she was intimate with a Neighbour in the Town. Many a Temptation did she lay in my Way, tho’ not by Word of Mouth, yet by Signals; but I made my self ignorant of her Meaning, and so (I bless God) escaped the Snare. (Ebd. S. 68). In einem koketten Spiel mit seinem eigenen Namen fährt er anschließend fort I have heard of some who have suffer’d much like Joseph, for refusing to comply with the lascivious Desires of their Mistresses, who, like Potiphar’s wife, have forg’d a quite contrary Story to their Husbands ... (Ebd. S. 69). Wie stark Pitts bei allem möglicherweise realen Hintergrund dieser Episode doch auch dem abendländischen Bild vom sexuell ausschweifenden „türkischen“ Orient aufsitzt und dazu beiträgt, es zu perpetuieren, zeigt ein Blick in die Arbeit von Cornelia K LEINLOGEL : Exotik - Erotik. Zur Geschichte des Türkenbildes in der deutschen Literatur der frühen Neuzeit (1453 - 1800), Frankfurt/M. 1989 (Bochumer Schriften zur deutschen Literatur Bd. 8). 45 Slaves in such Places do always strive to get into the Childrens Affections; which if they can, they fare much the better for their Sakes. For oftentimes Faults are conniv’d at, and many Blows forborn upon the Child’s account, lest it should grieve too much to see the dear Slave punish’d. (P ITTS [Anm. 1], S. 68).

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diesen Gegenstand weiter auszuführen, was ich gleichwohl könnte: Aber was ich zu diesem Thema sagen könnte, wäre zwangsläufig verabscheuungswürdig für jeden schamhaften, christlichen Leser. Deshalb, so denke ich, bin ich gezwungen, davon Abstand zu nehmen. 46 Neben den ausführlichen Beschreibungen des Alltagslebens mit all seinen verschiedenen Facetten geht Pitts auch an einigen Stellen auf Ereignisse der „großen“ Politik ein. So hat das französische Bombardement von Algier im Jahr 1688 deutliche Spuren im Text hinterlassen. 47 Signifikant für Pitts Haltung ist, daß seine Anteilnahme sowohl dem französischen Konsul von Algier gilt, der als Vergeltung getötet wird - das war ein schrecklicher Anblick 48 - als auch den zahlreichen Opfern aus der Bevölkerung: Ich hielt es für einen außerordentlich betrüblichen Anblick, am Morgen so viele Sklaven und Türken getötet und verwundet zu sehen. 49 Die Belagerung der spanischen Bastion Oran durch algerische Truppen findet ebenso Erwähnung 50 wie ein Konflikt zwischen Algier und Marokko. 51 In beiden Fällen befand sich der freigelassene Pitts als Soldat im algerischen Lager. Auch die beinahe permanenten innenpolitischen Rivalitäten um die Herrschaft über die algerischen Territorien werden berichtet, nicht zuletzt weil Pitts selbst durch einen gescheiterten Putsch seines zweiten Herrn indirekt verwickelt war. (Sein Herr fiel im Kampf, so daß es zu Pitts’ Verkauf an seinen freundlichen dritten Herrn kam.) 52 Andererseits fehlt im Text der nicht unwesentliche Hinweis darauf, daß London und Algier sich von 1677 bis 1682 im Kriegszustand miteinander befanden, ein Beleg dafür, daß für Pitts weder die politische Geschichte im Vordergrund stand, noch daß er sich bei der Abfassung seiner Schilderung systematisch vorbereitet hatte. Sein „Account“ ist und bleibt im wesentlichen persönlich geprägt. Bei den zahlreichen Passagen des Textes, die sich mit den Riten und Gebräuchen des Islam beschäftigen, fällt immer wieder die moderate Grundhaltung von Pitts ins Auge. Nur an wenigen Stellen begegnen wir vermutlich dem zeitgenössischen Leser geschuldeten Ausfällen, wie sie als Grundton für zahlreiche andere Texte der Auseinandersetzung mit dem Islam typisch sind. So kommentiert Pitts seinen Besuch in Medina mit den Worten: In der Mitte des Platzes befindet sich das Grab von Mohammed, in den der Leichnam dieses verfluchten Hochstaplers gelegt wurde ... Und das einzige Privileg, das die Pilger haben, ist es ... den toten Schwindler um etwas zu bitten, was sie mit einem wunderlich großen 46 ‘Tis common for Men there to fall in Love with Boys, as ‘tis here in England to be in Love with Women. ... But this being so inhumane, and unnatural a thing, I profess I am asham’d to enlarge further upon it, as I could: But what I could say on this Subject, must needs be disgustful to every modest, and christian Reader; and therefore, I think, I am obliged to forbear ... (Ebd. S. 26). 47 Ebd. S. 211-216. 48 This was very dreadful to behold. (Ebd. S. 214). 49 I thought it a very melancholy Sight, in the Morning, to see so many Slaves and Turks kill’d and wounded. (Ebd. S. 213). 50 Ebd. S. 169-172. 51 Ebd. S. 175- 180. 52 Ebd. S. 172 - 175, 209f. und 216a - 217 (Der Druck zählt fehlerhaft „214, 215, 216, 215, 216, 217“).

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Aufwand von Verehrung, Zuneigung und Eifer tun. 53 Neben einer solchen Attacke nehmen sich die übrigen Darstellungen des Engländers, der doch immerhin mit seinem Text den christlichen Gott loben und seinen eigenen Übertritt zum Islam bemänteln möchte, außerordentlich zurückhaltend aus. Sie entsprechen in etwa dem aufgeklärten Duktus, den man auch gegenüber einer Gruppe von christlichen Dissentern an den Tag legen würde. 54 Und ich gebe zu, daß ich nicht umhin kam, diese armen Kreaturen zu bewundern, als ich sie so außerordentlich devot und hingebungsvoll mit ihrem Aberglauben beschäftigt sah, mit welcher Ehrfucht und welchem achtungsvollen Zittern sie erfüllt waren. Bei diesem Ausmaß konnte ich kaum verhindern, in Tränen auszubrechen angesichts ihres blinden und abergläubischen Eifers. 55 Bei aller erkennbaren Erhebung des Christen über die armen unwissenden Kreaturen 56 bleibt doch unverkennbar auch eine gewisse Achtung vor dem religiösen Eifer, dessen Zeuge Pitts immer wieder wird und den er nicht zögert auch immer wieder seinem Leser gegenüber zu erwähnen. Dieser Glaubenseifer des Islams wird sogar immer wieder selbst gegen die zeitgenössische Glaubenserfahrung in der christlichen Welt ausgespielt und als beispielgebend ins Bild gerückt: Es ist in der Tat eine Schande für Christen, den Eifer dieser armen, verblendeten Mohammedaner ansehen zu müssen, den man aus dem folgenden Bericht als vielfach außerordentlich strikt erkennen kann. Wenn sie so eifrig in ihrer falschen Verehrung sind, muß das zwangsläufig ein Tadel für Christen sein, die so lax im wahren [Glauben] sind. Und ich bete zu Gott, daß sie diese Warnung erkennen und durch sie lernen, die Güte des Allmächtigen zu preisen, daß er ihnen die Fortsetzung seines Evangeliums offenbart hat, während solch ein großer Teil der Welt sich einem so abscheulichen und verkommenen Schwindler hingibt. 57 Auch wenn - für den durchschnittlichen Engländer sicher erfreulich zu hören - der Islam ob seines Aberglaubens in die Nähe des Katholizismus gerückt wird, 58 bleibt doch die fortwährende Bewunderung für Eifer, Glaubenstiefe und die Bildung einer anderen großen Buchreligion. 59 Diese Offenheit gegenüber dem Fremden, die Pitts offensichtlich sogar dazu

53 In the middle of this Place is the Tomb of Mahomet, where the Corpse of that bloody Imposter is laid ... All the Privilege, the Hagges have, is ... to petition the dead Jugler, which they do with a wonderful deal of Reverence, Affection, and Zeal. (Ebd. S. 156). 54 In diesem Kontext mag es von Bedeutung sein, daß Pitts selbst in Exeter mit seiner Familie der nonkonformistischen Minderheit angehörte (vgl. R ADFORD [Anm. 9], S. 225). 55 And I profess, I could not chuse but admire to see those poor Creatures so extraordinary devout, and affectionate, when they were about these Superstitions, and with what Awe, and Trembling, they were possessed; insomuch, that I could scarce forbear shedding of Tears, to see their Zeal, tho’ blind and idolatrous. (P ITTS [Anm. 1], S. 118). 56 Poor Ignorant Creatures! (Ebd. S. 115). 57 It is a Shame, indeed, to Christians, to take a view of the Zeal of those poor blind Mahometans; which in the following Account will be found to be in many Things very strict. If they are so zealous in their false Worship, it must needs be a Reprimand to Christans, who are so remiss in the True. And I pray GOD they may take the Hint, and learn thereby to bless the Goodness of GOD, that he hath continued his Gospel to them, while such a vast part of the Globe is devoted to a vile and debauch’d Impostor. (Ebd. S. XIf.). 58 Vgl. ebd. S. 72 und S. 133f. 59 Ebd. z.B. S. 45f. und S. 147.

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gebracht hat, Arabisch zu lernen, 60 ist umso erstaunlicher, da sie eher von einem über die Jahre zunehmenden Interesse des Christen für einen Glauben spricht, den er doch, nach der generellen Intention seines Buches zu urteilen, eher in Bausch und Bogen verdammen müßte. Gerade diese Offenheit der Haltung ist es jedoch, die den Bericht aus einer eher religiös überhitzten Zeit zu einem auch heute noch lesenswerten Dokument macht. Die Flucht aus Nordafrika und die anschließende Rückkehr nach Exeter allein wären bereits eine eigene Geschichte wert. 61 Eine bedingungslose Freilassung hatte Pitts nicht erhalten können, weil eine Rückkehr in die christliche Heimat als gleichbedeutend mit einem Abfall vom Islam angesehen wurde, was die Todesstrafe nach sich gezogen hätte. So mußte Pitts seine Pläne in aller Heimlichkeit verfolgen. Nach sorgsamer Überlegung hatte er sich daher in der algerischen Flotte verpflichtet, um bei der Überstellung von Schiffen nach Konstantinopel in Smyrna fliehen zu können. Beim dortigen Konsul, für den er ein Empfehlungsschreiben des englischen Konsuls aus Algier besaß, konnte er verborgen bleiben, bis ein französisches Schiff den englischen Reisenden 62 aufnimmt. Von Livorno aus wandert Pitts mit weiteren entflohenen Sklaven durch Italien nach Norden. 63 Eine Fußverletzung zwingt ihn zur Rast, allein setzt er die Reise fort und wird in Süddeutschland von vagierenden Soldaten überfallen und beinahe erschlagen. 64 Nun ohne Ausweispapiere wird die Reise noch schwieriger, bis Pitts nach einer durchzechten Nacht von einem Korporal der Frankfurter Stadtwache an einen französischen Kaufmann in der Stadt vermittelt wird. 65 Dieser versorgt den Heimkehrer mit Geld, Papieren und Empfehlungen, die ihm die Weiterreise rheinabwärts bis zur holländischen Küste erleichtern. Doch immer noch steht das Schicksal gegen Pitts. Kaum in England gelandet, wird er zum Dienst in der königlichen Flotte gepreßt und verbringt einige bange Nächte erst im Gefängnis von Colchester und dann bereits an Bord eines auslaufbereiten Linienschiffes. 66 Nur Dank eines Empfehlungsschreibens an einen bedeutenden Londoner Orienthändler, der sich umgehend für Pitts bei der Admiralität 60 Neben allgemeinen Erwägungen über arabische Schrift und Aussprache (vgl. z.B. S. VII) finden sich zentrale Termini und Formeln des islamischen Glaubens gestreut durch den gesamten Text in englischer Umschrift (besonders konzentriert in Kapitel VI, S. 49 84). 61 Ebd. Kapitel X, S. 226 - 259. 62 ... apparel’d as an Englishman, with my beard shaven, a Campaign-Periwig, and a Cane in my Hand (ebd. S. 245). 63 Ebd. S. 249f. 64 ... and brought me to a by-place, which made me very afraid they would take away my Life; and I have been since told by one of that Country, that I had a very narrow Escape, because the Germans seldom rob without commiting murder. there they rob’d me of my Money, as much as they could find, then beat me and bid me be gone ... (Ebd. S. 250). 65 Ebd. S. 251ff. 66 But when I came into England, my own Native Country, I met with but coarse Treatment; for the very first Night I lay a-shore I was imprest into the King’s Service ... And though I made known my Condition, acquainting them how many Years I had been in Slavery; and used many Arguments for my Liberty, with Tears, yet nothing would prevail, but away I must go ... (Ebd. S. 256).

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verwendet, wird der beinahe um die Heimkehr Betrogene nun endlich ob seines schweren Schicksals wieder entlassen und wandert weiter nach Exeter. Als ich in die Stadt kam, hielt ich es nicht für klug, unmittelbar zu meinem Vater zu gehen, aus Sorge, das könne ihn überwältigen. Deshalb ging ich in ein Wirtshaus in der Nachbarschaft und fragte nach Spielkameraden aus der Zeit bevor ich zur See fuhr. 67 Es findet sich ein alter Bekannter, den Joseph nun ausschickt, seinen Vater zu benachrichtigen. Und innerhalb kurzer Zeit brachte er meinen Vater zu mir. Die Wirtsstube war rasch mit der ganzen Nachbarschaft gefüllt, die gekommen war, um mich zu sehen. Sich vorzustellen, was für eine Freude bei einem solchen Treffen herrscht, überlasse ich dem Leser, denn das ist nicht leicht in Worte gefaßt. Die ersten Worte, die mein Vater unter Tränen zu mir sprach, waren ‚Bist du mein Sohn Joseph?’ ‚Ja Vater, ich bin es’ antwortete ich. Er führte mich daraufhin sofort zu seinem Haus, wobei viele Leute uns folgten, aber er verschloß die Tür vor ihnen ... 68 Mit dieser biblischen Reminiszenz an die Josephsgeschichte, einem Gebet des Vaters für die Errettung seines Sohns und einem glaubensbekenntnishaften Dank des Heimkehrers für die eigene Erlösung endet der beachtliche Bericht über Sitten und Bräuche der Mohammedaner, den Joseph Pitts so eindrucksvoll mit der eigenen Lebensgeschichte zu verknüpfen wußte - das Zeugnis eines wachen und trotz seines harten Schicksals erstaunlich unvoreingenommenen Beobachters einer nicht nur für das Gros seiner eigenen Zeitgenossen fremden Welt.

67 When I came to the city, I thought it would not be prudent to make my self known to my Father at once, lest it should quite overcome him; and therefore went to a publick House not far from where he lived, and inquired for some who were Playmates before I went to Sea. (Ebd. S. 258). 68 And in a little Time [he] brought my Father to me. The House was soon filled with the Neighbourhood, who came to see me. What Joy there was at such a Meeting, I leave the Reader to conceive of, for ‘tis not easily express’d. The first Words my Father said to me, were Art thou my Son Joseph? with Tears. Yes, Father, I am, said I. He immediately led me home to his House, many People following us; but he shut the Door against them ... (Ebd.).

Erzbischof Lothar Franz von Schönborn: Ein Jäger aus Kurmainz Cecilie Hollberg

Lothar Franz von Schönborn, ein barocker Fürst aus dem 18. Jahrhundert, hinterließ eine umfassende private Korrespondenz, die er mit seinem Lieblingsneffen, dem Reichsvizekanzler Friedrich Karl führte. Friedrich Karl wurde von seinem einflußreichen Onkel nicht nur stark protegiert, sondern zudem detailliert über die unterschiedlichsten Angelegenheiten informiert, dazu zählten Bauvorhaben, politische Aktivitäten, Anschaffungen, Reisen ebenso wie die folgenden persönlichen Mitteilungen: Monsieur et cher neveu 1 (...) Ich bin gott lob bis dato gesundt gewesen, gehe auch nicht hinnaus, als wann der Tag schön ist, wobei ich mich dann vor der Källdt undt dem Windt trefflich zu preventionieren suche, wie ich dann dem Herrn Reichsvize Canzler 2 nur curiositatis gratia meinen Jagtauffzueg hiermit beschreiben will. Als erstlich lieget ein Bernhauth in der Chaise, auff welcher ich darnach im Waldt sitze und stehe. Zweytens habe ich eine sechsfache Serviet umb meine bein gewickelt, worüber ein Paar gestrikter Strumbf, über diese gantz bällzene 3 Strümpf und über diese fest ein Paar bellzene Stiffel, über die Knie ein Paar bellzene Stützel bis auff die hallbe dicke Bein 4 herauff. Ahn dem Leib über das Hembt ein guethe Ötterdaunenküssen 5 auff der Brust, darüber ein gefüttertes sauber Lainencammissol, über dieses ein Cammissol mit Luxheuthen et par dessus le marche. Darüber man surtout, wann es nöthig ist, auff dem Kopf ein papiernes Häubel, darüber eine dicke Peruque undt diese ein guthe bellzene Ottershaub bis über die Ohren, à la facon des Oberjägermeisters (...). 1 Staatsarchiv Würzburg, Schönborn-Archiv, Korrespondenzarchiv Friedrich Karl 22, Blatt 77. Schreiben des Kurfürsten Lothar Franz von Schönborn an seinen Neffen Friedrich Karl, Bamberg, den 14. Februar 1720. 2 Gemeint ist hiermit Friedrich Karl. 3 Bellzene/bällzene = aus Pelz. 4 Dicke Bein = Oberschenkel. 5 Dies ist ein Kissen aus Daunen der Eiderente. Die Daunen waren überaus leichte und sehr zarte Theils weiße, Theils graue Pflaum-Federn, welche aus Island über Dänemarck importiert wurden. Sowohl deren Import als auch die schwierige Beschaffung unter Lebens-Gefahr machten sie zu einem sehr wertvollen Gut, welches von grossen und vornehmen Herren zu denen Reise- und Feld-Betten sehr gesuchet (...) werden. Vgl. Stichwort: Eiderdunen, Otterdunen. In: Z EDLER , Johann Heinrich: Großes vollständiges Universal-Lexikon, (Leipzig 1732-54), Neudruck Graz 1961, Bd. VIII, Sp. 501. Dieser Ausdruck hat nichts mit Otternfell zu tun, welches die bellzene Ottershaub in den folgenden Zeilen des Briefes meint.

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Liest man die Beschreibung dieser Jagdkleidung, würde man nicht annehmen, es hier mit dem Inhaber der höchsten Kurwürde im Reich zu tun zu haben, der sogar “– laut Protokoll – der Erste im Reiche nach dem Kaiser“ war. 6 Dem Briefautoren erschien dieser Aufzug ebenso komisch, wie dem heutigen und damaligen Leser, denn er selbst bezeichnete diese jagdliche Kleidung als Winter- und Jagtmasquerade, er empfand diesen aufwendigen Aufzug allso, daß wann ettwann ein Abgesandens aus Caplandt oder Siberien ahn den kayserlichen Hoff kommen sollte. Dank seines Amtes wußte er aus eigener Anschauung, wie diejenigen aussahen, die sich als Gesandte am Hofe präsentierten. Zusätzlich erfahren wir aus dem Vergleich zwischen seiner eigenen jagdlichen Kleidung und der Aufmachung der fremden Gesandten, daß er sie putzig fand und sich über sie amüsierte. Zwar war das ein wenig diplomatischer, aber durchaus menschlicher Vergleich, den er im Brief an den Neffen wagte. Das zeigt, wie privat die Briefe waren, selbst wenn darin gelegentlich über Staatsgeschäfte räsoniert wurde. Die Beschreibung der skurrilen Aufmachung schilderte Lothar Franz nicht ohne Selbstironie, schließlich gab er sie dem Adressaten curiositatis gratia wieder, wobei es ihm beispielsweise wichtig war, zu betonen, daß sein leinenes Hemd sauber war. Wir dürfen also davon ausgehen, hierin nicht den Regelfall vorgeführt zu bekommen, sondern etwas Bemerkenswertes. Die Garderobe und Ausrüstung, die ihn immerhin trefflich vor Wind und Kälte schützte, zeichnete sich zwar nicht durch Eleganz aus, war aber aus sehr edlen Materialien zusammengestellt. In der kurzen Beschreibung werden allein vier verschiedene Pelzarten aufgeführt: Bärenhaut, Luchshäute, Otternfell sowie Pelzstrümpfe, -stulpen (Stützel) und stiefel. Dennoch klingt die ‚Ver-Kleidung‘ nicht besonders praktisch und es muß lange gedauert haben, bis alles angezogen war und der Aufbruch zur Jagd tatsächlich stattfinden konnte. Bei den zahlreichen Schichten aus Pelzen, Papier, Perrücke und Tüchern bis hin zu dem edlen Kissen aus Eiderdaunen vor der Brust, wird der ohnedies recht füllige Jägersmann vollends seine Beweglichkeit eingebüßt haben. Als Waffe kann er im Grunde nur einen Stutzen benutzt haben, mit längeren Gewehren hätte er keinesfalls hantieren können. Stutzen dienten hauptsächlich zur Pirsch. In stark bewachsenem Gelände sowie im Gebirge war die im Vergleich zu anderen Gewehren geringe Länge handlicher und vorteilhafter. Immerhin wickelte der Weidgenosse die Tücher nur bis zum halben Oberschenkel und erhielt sich dadurch einen Rest von Bewegungsfreiheit, wodurch es ihm möglich war, sich auf die Bärenhaut zu setzen. Adressat des Briefes war der neveu Friedrich Karl von Schönborn, Vizekanzler des Reiches, und der Autor kein geringerer als der Erzbischof und Kurfürst zu Mainz: Lothar Franz von Schönborn, sein Onkel. Neffe und Onkel gingen demselben Vergnügen nach, denn der cher neveu Friedrich Karl war ebenfalls jagdpassioniert und ließ sich als Jäger mit Jagdhund, Jagdwaffe

6 Quellen zur Geschichte des Barocks in Franken unter dem Einfluß des Hauses Schönborn (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Fränkische Geschichte, VIII. Reihe, Bd. I). Teil 1: Die Zeit des Erzbischofs Lothar Franz und des Bischofs Johann Philipp Franz von Schönborn, 1693-1729, Halbbd. 2, Würzburg 1955, S. XVIII.

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und Beute porträtieren. 7 Die gemeinsame Begeisterung erklärt, warum ihm sein Onkel wiederholt und gern über die Jagd berichtete. Lothar Franz erwähnt in dem zitierten Brief nicht nur seine amüsante Maskerade bei der winterlichen Jagd, sondern auch die sogenannte Chaise. Die Chaise, ein Jagd- oder Pirschwagen, war ein von Pferden gezogener leichter Wagen zum Pirschenfahren. 8 Der Wagen war auf beiden Seiten offen, so daß bei langsamer Fahrt ein ungehindertes Auf- und Abspringen möglich war. Behend und ungehindert wird der mumienartig eingepackte und fette Kurfürst allerdings nicht gesprungen sein. Die Chaisen mußten außerdem einen möglichst hohen Sitz haben, um eine weite Umsicht zu gestatten. Das Pirschenfahren ist eine Form der Einzeljagd vor allem auf Reh-, aber auch auf Rotwild. Während das Wild, durch den vorbeifahrenden Wagen abgelenkt, diesem nachäugte, also nachblickte, stieg der Jäger beim Fahren auf der dem Wild abgewandten Seite ab und ging neben dem Wagen her, bis er Deckung fand. Erst wenn der Wagen außer Sichtweite war und das Wild sich wieder beruhigt hatte, durfte geschossen werden. Es könnte sich in dem beschriebenen Fall auch um einen fahrbaren, abzustellenden Hochsitz gehandelt haben, denn Lothar Franz teilte mit, sich auf die Bärenhaut in der Chaise im Walde setzen und stellen zu wollen. Wir dürfen wohl auch annehmen, daß er auf dem Wagen blieb, denn etwas Anderes scheint bei der geschilderten Kleidung kaum möglich. Im selben Brief berichtete der Kurfürst über eine Hasenjagd von unseren wilden undt dollen Jegern. Er beklagte sich darüber, daß der beständige regen bei seinem Ausflug (eschappade) nach Böhmen mehr nich dann 3 mahl zugelassen hatt, (...) in welchen gleichwohl übervierthallb 9 hundert (= mehr als 350) haasen geschossen worden seint. Des Erzbischofs Einschätzung der nächsten Tage wirkt zuversichtlich, nach dem nun das wetter in maas sich wiederumb erholet undt der himmel gnädiger zu werden beginnt. In drei regnerischen Tagen 350 Hasen erlegt zu haben, ist eine hohe Anzahl, zu deren besserer Einschätzung allerdings auch die Anzahl der Schützen bekannt sein müßte. Lothar Franz galt als Kunstliebhaber und -mäzen, seine zahlreichen Bauvorhaben prägen noch heute das Bild seiner einstigen Residenzstadt. Bis ins hohe Alter plante und baute er, und nahm an den Bauten regen Anteil, sogar als Siebzigjähriger begann er (1725/26) noch den Bau der Jägersburg und hielt seinen Neffen über die Fundamentlegung, den Terrassenbau, das Steinehauen für den Brunnen, die Wasserversorgung oder die Gartenanlage auf dem laufenden. 10 Er verfolgte den Bau mit akribischem Interesse, schien sich um alles selbst kümmern und dies außerdem dem Neffen mitteilen zu wollen. 7 Die Grafen von Schönborn. Kirchenfürsten, Sammler, Mäzene (Ausstellungskatalog des Germanischen Nationalmuseums), Nürnberg 1989, S. 187, Abb. 5. 8 Stichwort: Pirsch(en)fahren und Pirschwagen. In: H ASEDER , Ilse; S TINGLWAGNER , Gerhard: Knaurs großes Jagdlexikon, Augsburg 2000. 9 Stichwort: “Drittehalb, Dritthalb”. In: G RIMM , Jacob und Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Leipzig 1853-1954, [Neudruck 1984], Bd. II, Sp. 1423. 10 Quellen zur Geschichte des Barocks (wie Anm. 6), Teil 1, Halbbd. 2, Anno 1725/26 die Briefe Nr. 1312, 1456-1458, 1483 und 1485, 1491, 1494 und 1496.

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Außer der Jägersburg und dem Jagdzeughaus in Würzburg belegen einige Kunstobjekte in den Galerien des Kurfürsten seine Jagdpassion. Unter diesen jagdlichen Innenausstattungen befand sich beispielsweise das Gemälde einer Dame mit Falken. Zwar trägt sie ordnungsgemäß einen Falknerhandschuh, 11 doch muß sie deshalb nicht den jagdlichen Vergnügungen nachgegangen sein. Auf jeden Fall aber belegt das Motiv die hohe Wertschätzung der Jagd, insbesondere der Falknerei, die in den höheren Gesellschaftskreisen seit Jahrhunderten als Statussymbol galt. Im Besitz der Schönbornfamilie waren neben edlen Hundehalsungen (breitere Halsbänder) aus Leder mit vergoldeten Messingbeschlägen 12 auch wertvolle Präzisionsgewehre aus Damaststahl. Der Büchsenmacher Johann Wagner hatte sie hergestellt. Er stammte aus Kronach, das um 1700 Sitz bedeutender und qualitätvoller Büchsenmacher gewesen ist. Dort wurde hauptsächlich für die Bistümer Bamberg und Würzburg sowie für den ortsansässigen Adel gearbeitet. 13 Doch war Wagner nicht der erste oder einzige Büchsenmeister der Schönborns. Im Jahre 1703 geht aus einem Brief von Lothar Franz der Name des hiesigen berühmten buxmeister Kayser 14 hervor, der beauftragt wurde, eine ganz glatte Flinte für 100 fl. mitzubringen. Im Zusammenhang mit Jagdlichem berichtete Lothar Franz in seinen Briefen mehrfach über seine Gesundheit. Wir erfahren von dem am Neujahrstag 1714 in Lohr am Main weilenden Erzbischof, daß er ein unangenehmes Geschwür am Hals hatte, (...) nach dem ich aber ein gahr böses geschwer auswendig 15 auff dem halls undt zwahr just auff der gurgel bekommen undt sehr gros wurde, allso das es mus auff gestochen werden. 16 Das böse Geschwür hatte ihn einige Zeit von seinen Vergnügungen, vor allem der Jagd abgehalten und ans Bett gefesselt. Doch schien er es bald leid gewesen zu sein und es drängte ihn, auff Aschaffenburg eylen (...), umb sich wiederum der Jagd widmen zu können. Inzwischen ist doch der eine tag zu stetten mit treiben wohl zu gebracht worden in dem wier 39 haasen undt zewei füchs geschossen haben, undt waer die Zahl sonder zweiffel wohl auff 50 kommen, wann der Oberjägermeister zu stetten, c'est a dire, (...) in persona darbei gewesen wäre in dem die bauern ihren commendirenden soubalterns nicht recht gefollgt undt blöde schlecht getrieben haben, zu dem waren auch nicht Jeger genug (...), allso das es ein wenig confus abgangen, wann nur aber das Incidens nicht kommen wäre, so glaube das der heuthige tag besser abgeloffen wäre; meine Intention war sonst morgen anhero zu kommen und sodann in zwey täg en chassant auff Aschaffenburg zu gehen, so aber ist mir mein concept verrückt worden. Lothar Franz notierte pragmatisch die genaue Zahl des erlegten Niederwildes, nämlich 39 Hasen und zwei Füchse, aber er äußerte zugleich als erfahrener Jäger Kritik an der Jagd, die nach seinem Empfinden wegen der Abwesenheit des Die Grafen von Schönborn (wie Anm. 7), S. 432, Abb. 339. Die Grafen von Schönborn (wie Anm. 7), S. 289, Abb. 165. 13 Die Grafen von Schönborn (wie Anm. 7), S. 287. 14 Zitiert nach Quellen zur Geschichte des Barocks (wie Anm. 6), Teil 1, Halbbd. 1, Würzburg 1931, S. 80. 15 Auswendig = von außen, äußerlich am Hals. 16 Korrespondenzarchiv, Blatt Nr. 4, Lohr/Main, den 1. Januar 1714. 11 12

Ein Jäger aus Kurmainz

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Oberjägermeisters confus abgelaufen war. Wäre die Jagd zudem anders organisiert worden, hätte mehr geschossen werden können, das hatte zweierlei Gründe: Einerseits waren zu wenig Jäger anwesend, andererseits haben die Bauern blöde schlecht getrieben, weil sie den Anweisungen ihrer commendierenden nicht recht gefolgt waren. Das hatte zur Folge, daß die Hasen und Füchse in ihrer Deckung geblieben sind, und die jagenden Schützen ihrer gar nicht ansichtig, geschweige denn habhaft wurden. Bei der verregneten Jagd in Böhmen hatten die Jäger – zwar in drei Tagen, aber trotz des Regens – mit über 350 etwa die zehnfache Anzahl an Hasen zur Strecke gebracht. Doch nicht alle Jagden waren so erfolglos. Schon am 30. Januar 1714 bedauerte der Kurfürst dem Herrn Reichsvice Cantzler gegenüber, die letzte ordinarie (...) lection, nicht heuth beantworten zu können, da sie ihm zu weithläuffig sei. Statt der anstehenden Tagespolitik, unterhielt er seinen Brieffreund lieber mit Themen, die sich mit weniger geistigem Aufwand und mehr Freude abhandeln ließen. Als Grund für die Zeitnot nannte Lothar Franz, in dem ich mich so gleich in die chaise setze, umb auff eine Saujagd zu dem herren landgraffen von Darmstatt zu fahren, dem Staatsmann galt hier die Devise: Erst das Vergnügen, dann die Arbeit. Der Erzbischof bemerkte jedoch als Jäger: es ist zwahr schon ziemlich auser der Zeith. 17 es solle aber zu Soulagirung (Erleichterung) der armen bauerrn geschehen, die diesen gantzen Sommers undt herbst durch bis in den spathen Winther, gleichdem Meinigen auch schon gejagt worden seint, wie es nuhn ablauffen wird berichte mit nechstem (...) . 18 Abermals erwähnte Lothar Franz die Chaise im Zusammenhang mit der Jagd. Dieses Mal handelte es sich jedoch um einen Reisewagen, mit dem Lothar Franz zum Landgrafen von Darmstadt fahren wollte. Seine Jagdmöglichkeit im fremden Revier betrachtete er gleichzeitig als eine Entlastung der eigenen Bauern, die er dadurch nicht zum Treiben des Wildes in Anspruch nehmen mußte. Sie waren in der Jagdsaison stark beansprucht worden und der Kurfürst gönnte ihnen ein wenig Ruhe. Die Jagd beim Landgrafen schilderte der Kurfürst insgesamt als positiv, denn seine kleine excursion auff Darmstatt ist gott lob gantz wohl abgelauffen, die Jagd war schön, wie wohlen mir etlich undt 40 Schweine geschossen - undt gefellt 19 - worden; undt mues ich gestehen das ich etliche schöne undt adroite schuss gethan habe (...) . 20 Lothar Franz äußerte sich zufrieden über den Jagdtag und er berichtete stolz von seinen Schüssen, die er als recht ordentlich beschreibt (adroite). Wieviele Sauen er selbst zur Strecke gebracht hat, teilte er nicht mit. Im Anschluß an die Jagd gab es des abends sogar noch eine frantzosche commedie. Auch diese war zu loben, weil der landtgraff die acteurs so guoth hatt, als man sie zu Paris finden kann. Also hatte es sich rundum um eine vergnügliche Angelegenheit gehandelt, wegen der man schon mal gerne die politischen Pflichten zurückstellte. 17 Auser der Zeith wird sich auf die Jagdzeit der Sauen beziehen. Im Januar besteht die Gefahr, daß man eine Bache (weibliches Schwein) schießt, die bereits Frischlinge hat, die von ihr abhängig sind und ohne sie den Winter nicht überleben würden. 18 Korrespondenzarchiv, Blatt 14, Mainz, den 30. Januar 1714. 19 Gefellet = erlegt. 20 Korrespondenzarchiv, Blatt 15, Mainz, den 3. Februar, 1714.

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Den Briefen des Kurfürsten läßt sich entnehmen, daß er begeistert auf Einzeljagd ging, dies lag sicherlich nicht an fehlenden Jagdeinladungen, denn auch von Gesellschaftsjagden schrieb er seinem Neffen, dem er mehrfach mitteilte, daß bei den Gesellschaftsjagden etliche Schützen waren, deren genaue Anzahl Lothar Franz jedoch in den zitierten Briefen verschweigt. Auch erfahren wir nicht, wer sich unter den Jägern befand. Das zeigt, daß es dem Erzbischof nicht um die Namen oder den Rang der Anwesenden ging, sondern allein um die Jagd. Der vollkommene Verzicht auf ein ‚name dropping’ bestärkt seine echte jagdliche Passion und sein jagdliches Interesse. In einem anderen Brief lernen wir ihn als besorgten und verantwortungsbewußten Revierinhaber kennen, der Schwierigkeiten mit einigen Schädlingen hatte: Wölfe und Wilderer. Der Kurfürst beklagte den Wolfszustand. Die Wölfe, diese pursch seint in dem sommer übel zu erhaschen, wenn man nicht etwan durch das treiben ihn umb diese Zeith kann abbruch thun. Im Spessarth bin ich derer zimlich los, in dem der Oberstjegermeister vor zwey Jahren in - engem - Winther 18 bekommen hatt, allso das man über einen dermahlen nicht mercket. 21 Mit seiner Sorge um die Hege, ging das Interesse des Kurfürsten über das rein Jagdliche hinaus. Dazu zählt seine Bemerkung, daß die Wölfe am besten im Winter zu bejagen seien, was dem kundigen Oberjägermeister im Spessart gelungen war. Der Kurfürst freute sich über die Dezimierung der Wölfe, und sprach damit dem tüchtigen Oberjägermeister zugleich ein Lob aus. Allerdings veranlaßten ihn die Wölfe nicht zu so großer Sorge wie die zahlreichen Wilderer: Hingegen nehmen die wildbreds dieb solcher gestallten überhandt, das sie mit 6 bis 8 auch mehres ahn verschiedenen Orthen zu sammen gehen, die Jager verjagen undt so zusagen Krieg mit ihnen führen. Das ist allerdings eine besonders unangenehme Situation. Die Wilderer rotteten sich zu Gruppen zusammen, zogen vermutlich bewaffnet und Fallen stellend durch das Gelände und waren für die allein jagenden Weidmänner eine arge Bedrohung. Schließlich wollte kein Wilderer erkannt oder gefaßt werden und wäre sicher bereit gewesen, den, der ihn entdeckt hatte, zu beseitigen. Es ist anzunehmen, daß die Wilderer oder wildbreds dieb auch nicht vor dem Erzbischof Halt gemacht hätten. Wie hätten sie wohl in einem bis zur Unkenntlichkeit eingewickelten, pelzbemützten Jägersmann den Erzkanzler erkennen sollen, der 1712 Kaiser Karl VI. gekrönt hatte?

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Korrespondenzarchiv, Blatt 86, Bamberg, den 1. Juli 1714.

„Zum totalen Ruin der Holzung?“ Holzdiebstähle aus Hannovers Stadtwald Eilenriede Ein Blick in städtische Akten des 18. Jahrhunderts Bettina Borgemeister

Viel Gesindel, so klagte Hannovers Bürgermeister Grupen im Jahre 1729 in einer Eingabe an die Landesregierung, habe sich in den Gärten vor den Toren der Altstadt niedergelassen, um sich dort mit bürgerlicher Nahrung, Herbergiren, Wirtschaft, Brandtwein=Brennen, auch nunmehro so gar mit einem Weinschank, zum Theil mit Treibung eines Handwercks, mit der Schuster, Leineweber, Tachdecker, Maurer und Zimmerprofession, zum Theil mit einem Garten Bau und Verkaufung der Gartenfrüchte, großentheils aber mit Huren, Stehlen und Betteln herdurch zu helffen. 1 Seit vierzig oder fünfzig Jahren zöge von allen Ohrten her gar unnützes und bettelarmes Volck vor die Tore Hannovers, angelockt nicht nur von den Segnungen des dortigen Armenwesens. Dem leichtfertigen Huren und Diebes=Gesindel böten sich in der Stadt die vielfältigsten Möglichkeiten, ihre gottlosen Händel auszuüben. 2 Der Schaden, der der Altstadt und ihren Besitzungen durch das Herren lediglose Gesindel zugefügt werde, so klagte Grupen weiter, sei immens und gerade auch mit Blick auf den Stadtwald Eilenriede gar nicht hoch genug zu veranschlagen. Wenn nicht umgehend energische Gegenmaßnahmen ergriffen würden, stünde in naher Zukunft zweifellos der totale Ruin der Holzung zu befürchten. Die Bewohner der Gärten würden nicht nur alljährlich tausende von Trächten Holz aus der Eilenriede schleppen und damit die Waldung gleichsam plündern, sondern auch noch die Mast aus der Holzung stehlen, rücksichtslos ihr Vieh zur Weide eintreiben und dadurch Verjüngung und Fortbestand des Stadtwaldes gefährden. Daß ihre Holzdiebereien und Weidefrevel weitgehend ungestraft blieben, dessen könnten sie sich in den meisten Fällen sicher sein. Die landesherrlichen Amtmänner in Langenhagen und Koldingen, denen die Verfolgung der Forstfrevel obliege, nähmen nämlich nur ausnahmsweise Notiz vom gottlosen Tun der Gartenleute. 3 Obgleich in ihrer denunziatorischen Schärfe, ihrer moralischen Überheblichkeit und in der Radikalität ihrer Forderungen singulär, 4 bildete Grupens StadtA Hannover A 3176. Ebd. 3 Ebd. 4 Diese gipfelten in der Forderung, das „Herren lediglose Gesindel wegzuschaffen“, und denjenigen Gartenbewohnern, die ein „bürgerliches“ Gewerbe betrieben, strenge 1 2

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Eingabe aus dem Jahre 1729 dennoch nur den Auftakt zu einer ganzen Serie städtischer Klageschriften über die Unverfrorenheit, mit der sich die Bewohner der Gärten Holz aus dem Stadtwald Eilenriede aneigneten. In zahllosen Gesuchen an die Landesregierung und die verantwortlichen Amtmänner in Langenhagen und Koldingen warb der hannoversche Rat das ganze 18. Jahrhundert hindurch eins ums andere Mal um Unterstützung in seinem Kampf gegen die Holzdiebstähle der Gartenleute. 5 Je älter das Jahrhundert, desto alarmierter klangen die Berichte: Von Schlägereien mit den städtischen Holzwärtern war nun die Rede, ja sogar von gezielten Überfällen auf einzelne Förster wurde berichtet, verübt aus Rache, daß diese als Denunzianten vor den Ämtern aufgetreten waren, und als handfeste Warnung gemeint, in Zukunft mit Anzeigen vorsichtiger zu sein. 6 Ein leicht resignativer Unterton läßt sich aus den Eingaben des späten 18. Jahrhunderts freilich auch heraushören. Offenbar stand der Stadtförster Schleucher mit seiner Überzeugung, daß das Holtzstehlen denen Leuthen zur anderen Natur geworden sei, nicht alleine da. 7 Bei der Landesregierung stieß die Stadt mit ihren Beschwerden keineswegs auf taube Ohren. Im Gegenteil: Das rasche und unkontrollierte Wachstum der Ansiedlungen vor den Toren Hannovers begriffen auch die landesherrlichen Räte als ernst zu nehmendes Ordnungsproblem. Schon im Jahre 1729 kündigten sie in Reaktion auf Grupens Eingabe an, mit Hilfe einer gewißen Verordnung den Zuzug in die Gärten in geordnete Bahnen lenken zu wollen. Gänzlich unbeteiligt sei die Stadt am Aufkommen des Problems freilich nicht: Da sich die Bürger, die ihre Gärten vor den Toren der Altstadt vermieteten oder verpachteten, in den seltensten Fällen vor Vertragsabschluß über die Vermögensverhältnisse ihrer Vertragspartner informierten, würden die Gärten fast ausschließlich von Invaliden oder solchen Leuten bewohnet werden, welche keine ordinaire Handthierung treiben, auch mehrentheils nicht treiben können, und also ... ihre Nahrung sonsten zu suchen necessiret werden. 8 Daß die Gartenleute notorische und unverbesserliche Holzdiebe seien und den städtischen Waldbesitz empfindlich schädigten, darin waren sich die landesherrlichen Räte mit den hannoverschen Ratsherren ebenfalls von Anfang an einig. Auch in der Einschätzung, daß den bittersten und gegründesten Klagen des Rates über die zunehmende Zahl der Holzdiebstähle nur durch eine harte und kompromißlose Verfolgung und Bestrafung der Forstfrevel abzuhelfen sei, stimmte man überein. Bereits im Jahre 1737 erging deshalb von landesherrlicher Seite ein Edikt, das unter Verweis auf göttliche und weltliche Gebote den Holzdiebstahl im Stadtwald Eilenriede kategorisch unter schwere Strafen stellte und den Amtmännern in Koldingen und Langenhagen künftig als Grundlage für die Strafzumessung dienen sollte. 9 Beschränkungen aufzuerlegen, um den „Verfall“ des städtischen Handwerks zu stoppen. Ebd. 5 Vgl. StadtA Hannover A 3094, A 3111, A 3126, A 3173, A 3176. 6 StadtA Hannover A 3094, A 3173. 7 StadtA Hannover A 3173. 8 StadtA Hannover A 3176. 9 Edikt vom 20. April 1737. StadtA Hannover Verordnungen 1700-1807.

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Wer in der Eilenriede Holz stahl, dem drohte seit 1737 neben der Restitution des Holzes eine Geldstrafe in Höhe des doppelten Wertes des gestohlenen Holzes. War der Delinquent zu arm, um diese Strafe zu bezahlen, so sollte er zu einer viertägigen Gefängnisstrafe bei Wasser und Brot verurteilt werden. Wurde ein bereits einmal wegen Holzdiebstahls Verurteilter erneut auffällig, so hatte er unabhängig von der Schwere des Vergehens das Halseisen zu gewärtigen, nach befinden drey und mehr Tage nacheinander zwey Stunden lang. Bei der dritten Verurteilung drohte Männern ein Monat Karrenschieben, Frauen die einmonatige Einweisung in ein Zuchthaus - Strafen, die beliebig auf mehrere Monate oder Jahre ausgedehnt werden konnten, falls eine nachhaltige Verhaltensänderung nicht ersichtlich wurde. 10 Die unnachgiebige Härte, mit der die Landesregierung die Holzdiebstähle in der Eilenriede geahndet sehen wollte, verdankte sich indes nicht allein den schrillen Alarmrufen aus dem Rathaus der Stadt. Das Edikt des Jahres 1737 muß auch vor dem Hintergrund einer landesherrlichen Forstpolitik gesehen werden, die unter dem Eindruck des anhaltenden Bevölkerungswachstums aus Sorge vor einem drohenden Holzmangel auf eine „rationelle“ Bewirtschaftung der Wälder des Landes und eine zunehmende „Ökonomisierung des Holzverbrauchs“ (Sombart) abzielte. Im Klartext hieß dies: Einschränkung der kollektiven Nutzungen, Kontingentierung der Brenn- und Nutzholzentnahme, zeitliche Terminierung der Nutzungen, Differenzierung des Kreises der Nutzungsberechtigten und schließlich sogar Ausgrenzung ganzer Bevölkerungsgruppen von der Waldnutzung. 11 Wer sich gemäß dem alten Prinzip der Notdurft, daß sich jeder im Wald zumindest mit dem zum Leben unabdingbar Notwendigen versehen dürfe, einfach nahm, was ihm die „rationelle“ Forstwirtschaft nun vorenthalten wollte, der wurde als Holzdieb kriminalisiert und verfolgt. 12 Zur wachsenden Zahl derjenigen, die keine Rechte am benachbarten Wald besaßen, zählten auch die Gartenleute vor den Toren der Altstadt. Weder an den Wäldern der Ämter Koldingen und Langenhagen, unter deren Hoheit sie ansässig waren, noch an der städtischen Eilenriede konnten sie Nutzungsrechte geltend machen und waren deshalb gezwungen, ihr Holz zu kaufen. 13 Beim Holzkauf auf dem Markt in Hannover oder in den nahegelegenen Amtswaldungen herrschte freilich ein harter Wettbewerb. Um das begrenzte und stets schwankende Angebot konkurrierten die Gartenleute nicht nur mit den wohlhabenden und reichen Bürgern der Stadt, die zugunsten der Ebd. Reiner P RASS , Verbotenes Weiden und Holzdiebstahl. Ländliche Forstfrevel am südlichen Harzrand im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: Archiv für Sozialgeschichte 36 (1996), S. 51-68. 12 Zum Prinzip der Notdurft vgl. Renate B LICKLE , Nahrung und Eigentum als Kategorien in der ständischen Gesellschaft, in: Winfried S CHULZE (Hg.), Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 12), München 1988, S. 73-93. 13 Amtsbeschreibung des Carl Gust. Friedr. Wyneken aus dem 18. Jahrhundert, bearb. v. Walther B ODE (Schriften zur Geschichte der Stadt Langenhagen, Heft 4), Langenhagen [ca. 1981]. 10 11

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Stadtarmut von der Nutzung der Eilenriede weitgehend ausgeschlossen waren, sondern auch mit den Korporationen des städtischen Handwerks, die für den gewerblichen Holzbedarf ihrer Mitglieder Sorge trugen, wie auch mit Angehörigen oder Bediensteten der Landesregierung. Vielen der Handwerksgesellen, Tagelöhner, Invaliden, Spinnerinnen oder Almosenempfänger, die sich in den Gärten vor Hannover ansiedelten, 14 scheint es selbst in „wohlfeilen“ Jahren am nötigen Geld gemangelt zu haben, um sich unter diesem Konkurrenzdruck regelmäßig und kontinuierlich über den Handel mit Holz zu versorgen. Und mit jedem Anstieg der Holz- oder Getreidepreise stieg die Zahl derjenigen, die sich den Holzkauf schlichtweg nicht mehr leisten konnten, sprunghaft an. Dies wurde nicht nur immer wieder von städtischen Holzwärtern an den Rat berichtet, auch die Forstbruchregister der Ämter Langenhagen und Koldingen lassen den engen Zusammenhang von Teuerung und steigender Delinquenz erkennen. 15 Den Strafverzeichnissen der Ämter läßt sich indes noch weiteres ablesen: Entwendet wurde aus der nahegelegenen Eilenriede zumeist nur das Nötigste - ein oder vielleicht zwei Trächte mit Holzabfällen und Bruchholz oder hin und wieder ein Stück geringwertiges Nutzholz. Ein Raubzug mit Axt, Barte oder Säge wurde nur wenigen vorgeworfen. 16 Fast hat es den Anschein, als hätten die landesherrlichen Amtmänner in Langenhagen und Koldingen mehr Verständnis für die Nöte der Gartenleute aufgebracht als der städtische Rat und die Landesregierung. Immer wieder wurde der hannoversche Rat mit Beschwerden bei der Landesregierung vorstellig, die Amtmänner verführen zu milde mit den Holzdieben aus den Gärten, erließen ihnen im Armutsfall einen Teil des Strafgeldes, ließen sie ohne Strafe laufen, wenn ihnen das Holz von der Stadt bereits abgepfändet worden war, verurteilten selbst Wiederholungstäter nur zu einer Geldstrafe und würden dadurch den Holzdiebstahl aus der Eilenriede noch fördern. 17 Die Landesregierung solle die Ämter anweisen, strikt nach dem Edikt von 1737 zu verfahren, so wurde gefordert - ein Ansinnen, dem die landesherrlichen Räte wiederholt nachkamen, sogar unter Androhung von Zwangsgeldern. 18 Die Beschwerden des Rates über die zurückhaltende Bestrafungspraxis der Ämter waren keineswegs aus der Luft gegriffen. Dies belegen die Forstbruchregister. 19 Doch nicht Mitleid und Verständnis werden die Strafpraxis der Ämter Langenhagen und Koldingen geprägt haben. Die Umsetzung des Edikts von 1737 scheiterte wohl eher an seiner Weltfremdheit: Bei einem Massendelikt wie dem Holzdiebstahl jeden Holzdieb, der das Strafgeld nicht aufbringen konnte, ins Gefängnis werfen, die vielen Wiederholungstäter gar 14 Vgl. die Zählung der Gartenleute durch die Ämter Langenhagen und Koldingen aus dem Jahre 1730, in: StadtA Hannover A 3176. 15 StadtA Hannover A 3171, A 3172. 16 Ebd. 17 StadtA Hannover A 3094, A 3111, A 3126, A 3173, A 3176. 18 Am 12. Juni 1773 befahl die Landesregierung den Ämtern unter Androhung eines Zwangsgeldes von 10 Rtlr., streng nach dem Edikt von 1737 zu verfahren. StadtA Hannover A 3144. 19 StadtA Hannover A 3171, A 3172.

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zu Zwangsarbeiten heranziehen oder ins Zuchthaus einweisen zu müssen dies überstieg die Kapazitäten der Ämter bei weitem. 20 Wenn viele der städtischen Anzeigen sogar gänzlich ohne Folgen blieben - ein Umstand, auf den die Stadt unablässig hinwies -, ist auch dies nicht mit der Herzensgüte der Amtmänner zu erklären, sondern mit dem Beweisverfahren. Wurden Holzdiebe auf frischer Tat von den städtischen Holzwärtern gestellt oder von Zeugen beim Diebstahl beobachtet, stand einer Verurteilung nichts im Wege, galt doch die Aussage des Försters oder Zeugen als Beweis. Viele der Gartenleute wurden jedoch auf Verdacht oder aufgrund von Visitationen ihrer Häuser beim Amt angezeigt. In diesen Fällen war die Beweislage freilich schwierig. Wie wollte man beispielsweise begründet darlegen, daß die Tracht oder das Stück Holz, das man bei einer Visitation gefunden hatte, gerade aus der Eilenriede stammte? Verurteilt werden durfte nach dem Edikt von 1737 indes nur, wer des Holzdiebstahls auch tatsächlich überführt werden konnte. 21 Der Eindruck, daß bei der Verfolgung der Holzdiebstähle aus der Eilenriede auf seiten der Amtmänner auch eine gewisse berechnende Laxheit im Spiel war, läßt sich freilich nicht gänzlich von der Hand weisen. Da der Holzdiebstahl letztlich nicht aus der Welt zu bringen war, konnte es ihnen eigentlich nur recht sein, wenn die Gartenleute Holz aus dem Stadtwald entwendeten und nicht aus den Waldungen ihres Amtsbezirks, für deren Bestand sie verantwortlich zeichneten. In Anbetracht der geringen Wirkungen, die das Edikt von 1737 in der Praxis zeitigte, suchte der hannoversche Rat nach anderen Mitteln und Wegen, der Holzdiebstähle Herr zu werden. Prämien sollten das städtische Forstpersonal zu verstärkter Aufsicht animieren. 22 Zu einer grundlegenden Reform der Besoldung, die die Holzwärter vom Zwang zur Nebentätigkeit befreit und es ihnen ermöglicht hätte, sich auf ihre Aufsichtspflichten im Wald zu konzentrieren, konnte man sich freilich nicht durchringen. Darüber hinaus wurde der Rat wiederholt bei der Landesregierung mit der Bitte vorstellig, ihm die Gerichtsbarkeit über alle Waldfrevel, die in der Eilenriede verübt wurden, zu übertragen. Hier stieß man jedoch lange Zeit auf taube Ohren. 23 Durchschlagende Erfolge bei der Bekämpfung der Holzdiebstähle der Gartenleute erzielte der Rat offenbar nur zu Beginn der 1780er Jahre, als er im Winter regelmäßig städtische Brauknechte und Bürger der Stadt zur Unterstützung der Holzwärter im Wald heranzog. Im Jahre 1781 frohlockte 20 Es mangelte schon an Arbeitsgelegenheiten. Zudem war die Strafarbeit wohl eher eine Strafe für die Beamten, mußten sie doch große Gruppen unter Kontrolle halten. Vgl. für Westfalen Josef M OOSER , „Furcht bewahrt das Holz“. Holzdiebstahl und sozialer Konflikt in der ländlichen Gesellschaft 1800-1850 an westfälischen Beispielen, in: Heinz R EIF (Hg.), Räuber, Volk und Obrigkeit. Studien zur Geschichte der Kriminalität in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert, Frankfurt 1984, S. 43-99, hier S. 70ff. 21 Edikt vom 20. April 1737. StadtA Hannover Verordnungen 1700-1807. 22 1755 erhielten die Holzwärter erstmals eine solche Prämie. StadtA Hannover A 3091. 23 Erst in den 1790er Jahren wurde die Jurisdiktion dem Gerichtsschulzenamt in Hannover übertragen. H[einrich] A HRENS , Geschichte der Garten-Gemeinde in der Königlichen Residenzstadt Hannover, Hannover 1883, S. 34.

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der städtische Forstinspektor jedenfalls, daß es so gut wie keine Holzdiebstähle mehr gäbe, seit die Brauknechte den Stadtwald bewachten. Die Gartenleute zögen nun nach Misburg, um dort im landesherrlichen Wald Holz zu stehlen. 24 Vermutlich aus Kostengründen wurden die freiwilligen Holzhüter daraufhin umgehend aus dem Wald abgezogen, und so klagte der Rat schon 1783 bei der Landesregierung wieder über zunehmende Holzfrevel der Gartenleute. 25 Eigentümlich mutet es freilich an, daß die Stadt bis in die 1760er Jahre hinein Bewohner der Gärten als Holzhauer beschäftigte und damit gleichsam den Bock zum Gärtner machte. 26 Bemerkenswertes läßt sich auch bei genauerer Lektüre der Forstbruchregister der Ämter und derjenigen Listen entdecken, die die Stadt über Forstfrevel in der Eilenriede führte. 27 Eine irritierend verzerrte Wahrnehmung des Holzdiebstahlproblems durch den Rat tritt bei dieser Lektüre zutage, die nach einer Erklärung verlangt. Nicht, daß die Gartenleute entgegen den Beschwerden der Stadt kaum Holz aus der Eilenriede gestohlen hätten. In allen Registern und Verzeichnissen finden sich viele Bewohner der Gärten aufgelistet. Daß die Gartenleute indes signifikant mehr Holz gestohlen hätten als die Kleinbauern und Häuslinge der umliegenden Dörfer oder als Einwohner der Stadt, kann jedoch nicht mit Fug und Recht behauptet werden. Wie kommt es, daß keine andere Gruppe von Holzdieben vom Rat derartig verfolgt und verleumdet wurde wie die Gartenleute? Daß der hannoversche Rat gerade den Holzdiebstahl der Gartenleute als besonders schwerwiegendes Problem hinstellte, lag vermutlich nicht zuletzt an der Konkurrenz, die dem städtischen Handwerk durch die Branntweinbrenner, Krüger, Tischler, Schneider und anderen Gewerbetreibenden entstand, die sich außerhalb der Kontrolle der hannoverschen Korporationen mit dem Vorteil geringer Abgaben vor den Toren der Stadt ansiedelten. 28 Bedrohlich wirkten die Bewohner der Gärten aber auch als eine Bevölkerungsgruppe, deren tatsächliche Delinquenz man vor dem Hintergrund ihres ungesteuerten und unkontrollierten Wachstums in die Zukunft extrapolierte. So entstand ein Szenario imaginierter Delinquenz, gegen die man kaum eine Handhabe zu besitzen schien. 29 Zum totalen Ruin der Holzung, den Grupen schon 1729 ankündigen zu müssen glaubte, kam es jedoch im 18. - und auch im 19. - Jahrhundert nicht. Weder die Bewohner der Gärten, noch die Bauern umliegender Dörfer oder StadtA Hannover A 3144. Ebd. 26 Erst am 12. Oktober des Jahres 1763 beschloß der Rat, wegen der vielen Holzdiebstähle der Gartenleute diese nicht mehr als Holzfäller zu beschäftigen. StadtA Hannover A 3126. 27 StadtA Hannover A 3171, A 3172. 28 Vgl. die Zählung der Gartenleute durch die Ämter Langenhagen und Koldingen aus dem Jahre 1730, in: StadtA Hannover A 3176. 29 Ende der 1680er Jahre wohnten rund 687 Menschen in den Gärten vor den Toren der Altstadt, um 1770 waren es um die 1500, gegen Ende des Jahrhunderts bereits 2500 Tendenz steigend. Vgl. A HRENS , Geschichte (wie Anm. 23), 6ff. 24 25

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die Einwohner der Stadt haben jemals soviel Holz gestohlen, daß der Fortbestand der Waldung tatsächlich ernsthaft gefährdet gewesen wäre. Weit größer war vielmehr zu allen Zeiten die Belastung, die der Eilenriede aus der „legalen“ Nutzung durch die Stadt entstand.

Austausch von Waren, Dienstleistungen und Informationen Ostfriesische Studentenbriefe aus Halle 1741-1746 Marie-Christina Jhering

Am 12. September 1741 brach der 19-jährige Peter Homfeld 1 aus seiner Heimatstadt Emden auf, um in Halle das Studium der Jurisprudenz zu beginnen. Tags darauf schrieb er von seiner ersten Reisestation in Bremen eine kurze Nachricht an seine Eltern 2 nach Ostfriesland. Damit beginnt eine lange Reihe von Briefen aus dem Studium, die ihr glückliches Ende im Januar 1746 mit der Aufstellung der Promotionskosten fand. Vor der Abreise hatte Peter Homfeld seinem Vater versprochen, wenigstens einmal im Monat zu schreiben und Bericht von seinem Ergehen zu erstatten. Wichtigstes Thema war neben der Einrichtung der Studien die Bitte um Geld. Wurde das Geld knapper, so wurden die Briefe häufiger: Ob ich gleich noch keine Antwort von dem Hr. Vatter, und dadurch stillschweigende Ordre und Permission wieder zu schreiben, bekommen habe; so bitte mir nicht ungütig zu nehmen, daß ich mich gezwungen sehe, diese Zeilen abgehen zu lassen. 3 Aber auch die Einrichtung in der neuen Umgebung, auftretende Krankheiten, Neuigkeiten, Klatsch und gute Wünsche für die ganze Familie nahmen breiten Raum ein. Zwischen 1 Peter Homfeld (1722-1757) ging nach seinem Studium in Halle nach Berlin, wo er am Kammergericht tätig war. 1754 heiratete er Anna Elisabeth Avemann, Tochter des Hofund Kammergerichtsrats Ernst Heinrich Avemann. Der 1755 geborene Sohn wurde nur anderthalb Jahre alt. Peter Homfeld selbst starb am 11.6.1757 an Tuberkulose, noch bevor er seine neue Stelle als Regierungsdirektor in Magdeburg antreten konnte. 2 Sebastian Anton Homfeld (1688-1761) und Christina Juliane Russel, Tochter des ostfriesischen Kanzlers Enno Wilhelm Russel. Sebastian Anton Homfeld hatte sein juristisches Doktorexamen in Groningen abgelegt. Zur Zeit der Abreise seines Sohnes war er als Konsulent der alten ostfriesischen Stände und königlich preußischer Kreis-Direktorialrat tätig. Er war, gebürtiger Ostfriese, preußischer Vertrauensmann und Interessenvertreter in Ostfriesland (zu S. A. Homfeld siehe auch: Carl H INRICHS : Die ostfriesischen Landstände und der preußische Staat 1744-1748, in: Jahrbuch der Gesellschaft für bildende Kunst und vaterländische Altertümer zu Emden, Bd 22, 1927, S. 1-268; Bernd K APPELHOFF : Absolutistisches Regiment oder Ständeherrschaft? Landesherr und Landstände in Ostfriesland im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts, Hildesheim 1982 (Veröffentl. d. Hist. Komm. f. Niedersachsen u. Bremen, Untersuchungen z. Ständegeschichte Niedersachsens, 4)). Alle im Folgenden zitierten Briefe befinden sich im StA Aurich, Dep. 8, Familie Conring. 3 10. Dezember 1741.

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Ostfriesland und Halle gab es jedoch nicht nur einen Austausch von Nachrichten, sondern auch Waren und Güter im weitesten Sinne wechselten von hier nach dort. Wie nach dem Ende staatlicher Verkehrsmonopole musste auch vor ihrer erfolgreichen Durchsetzung geklärt werden, welche Postwege die günstigsten waren. Am einfachsten und preiswertesten war es, wenn man die zu transportierenden Sachen einem Reisenden mitgeben konnte und damit das Porto sparte. Allerdings konnte auch diese Art des Transportes ihre Tücken haben: den Käsen aber habe noch nicht bekommen, weil Mr. Loesing, das Kästgen, worin solcher, bey einigen seiner Sachen gewesen, nicht mit anhero gebracht, sondern, wie er vermeinet in Braunschweig hat stehen laßen, und ob er gleich deswegen geschrieben, so hat Er doch noch zur Zeit nichts davon erfahren; ob mich nun gleich solcher Verlust schmertzen würde, kan ich mich doch damit trösten, daß Er mir in solchem Fall versprochen, diesen Schaden, mit einem andern gutem Käsen, vollkommen zu repariren. 4 Für die Briefpost musste erst einmal in Erfahrung gebracht werden, welchen Weg sie am besten nehmen sollte: Ich hätte zwar diesen Brieff, nach meines Hr. Vatters Ordre bis Braunschweig franquiret, allein der Hr. Kriegs-Raht Zothen hat mir solches abgerathen, indem Er sagte, daß ich allzeit eben viel Post-Geld geben müste, ob ich von hier auf Bremen oder auf Braunschweig franquirte, und thäte ich es auf Braunschweig, so käme es meinem Hr. Vatter höher, er sagte auch, daß wenn man Geld über Braunschweig kriegte, so käme einem das Porto just mahl so theuer, als über Bremen. Deswegen, so erwarte ich erst näher Ordre darauf. Das P. thut von hier auf Bremen 2 Ggr., und was der Brief darüber wiegt, muß man à part bezahlen. Dem BrieffTräger, der einem die Brieffe bringt, gibt man vor jeden Brief 3 Pf. Wenn man auch über Braunschweig schreibet, so kommt der Brieff allzeit wenigstens 1 wo nicht 2 Tage später über. Denn da ich meines Hr. Vatters Schreiben vom 26. pass, über Bremen schon a. 30ten ejusdem hätte haben können, so habe ich es erst am 2ten hujus erhalten, weilen es auf Braunschweig franquiret. 5 Und hin und wieder musste nachgefragt werden, ob die Briefe ihren Adressaten auch wirklich erreicht hatten: Der Hr. Vatter werden nicht ungütig nehmen, daß ich das Couvert, von Dero letztem hochgeneigtem Brieffe beyschließe, weil Denenselben die Veränderung, die darmit vorgegangen vielleicht wird unbewust, und ungelegen seyn. Ich habe vernommen, daß seit einiger Zeit, solches allen mit Geld beschwerten, und aus Bremen franquirten Brieffen wiederfahren sey. Aus was Ursachen, weiß ich nicht. 6 Den Transport der Waren zwischen Ostfriesland und Halle besorgte ein aus Jena kommender Bote. Ihm sollten die Eltern Homfeld Tabak, Kaffee und Zucker mitgeben: Weil ich hier vernommen, daß der Jenische Botte vor einiger Zeit hinunter gereiset, um nach Gewohnheit vor den Ost-Friesen, etwas herauf zu holen, und sich durchgehends in Aurich oder Norden aufhält. 7 Der Bote ließ die mitgegebenen Sachen in einem vier Meilen von Halle entfernt liegenden Dorf stehen, von wo aus sie mit der Landkutsche in die Stadt gebracht wurden. 4 5 6 7

6. Oktober 1742. Brief 4 1741. 25. September 1742. 20. September 1741.

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Der Empfänger musste nicht nur Akzise zahlen, sondern je nachdem, wie weit der Adressat die Waren freigemacht hatte, auch noch Porto entrichten: Die Sachen, die ich mit dem Jenaischen Botten bekommen, waren nur bis Eisleben, mit des Hr. Oncle Russel Hand, franquiret, und deswegen, wie auch wegen der Accise, ist mir das Porto noch so hoch gekommen. 8 Nur sehr selten ließ sich die Akzise einsparen, entweder auf nicht ganz legalem Wege: Das Kästgen mit den Sachen ist bis dato noch nicht arriviret, ich werde aber wohl bey der Accise anjtzo nicht so davon kommen, wie es mir mit den mitgebrachten Sachen gelungen, denn damahls ließ ich auf Einrathen meiner Hr. Lands-Leuthen, nur etwa vor 3 St. Brand-Wein holen, womit ich dem Visiteur, welcher den Trunck liebete, wie Er zu mir auf des Hr. Martyns Stube kam, um die im Post-Hause versiegelte Coffre zu visitiren, begegnete, und da Er nun bené potus war, Ihn leichtlich persuadirte, ich hätte gar keine Accise Sache bey mir, welcher Fund sehr profitable war, indem sonsten 1 [Pfund] Thée 10 Ggr, eine Käse 2 Ggr., ein [Pfund] Caffé-Bohnen 3 Ggr. Accis thut, u. s. w. Allein, nun werden die ankommenden Sachen, gleich auf dem Accis Hause gebracht, und visitiret, wovor man denn allzeit gleich zahlen muß. 9 Oder ein besonderer Glücksfall verhinderte die Entrichtung dieser Steuer: Die Sachen, so Vetter Warsing mitgebracht, habe frey und francò eingekrigt, denn wir waren 10 Lands-Leuthe, die von hier nach Kändern, als der letzten Station, Vetter Warsing entgegen reiseten, Ihn einzuholen, und also haben wir alle accis- und Zollbahre Sachen glücklich miteingebracht. Diese Reise hat mir sehr wenig gekostet, denn Vetter Warsing war so obligeant, daß Er eine solche Einholung, Ihm vor einer besonderen Ehre schätzte, und deswegen alle Reise- und Verzehrunges Kosten, bezahlete. 10 Neben der Möglichkeit des Transports durch den Jenaschen Boten suchte Vater Homfeld noch nach anderen Wegen der Warenübermittlung: Weil d. Hr. Vatter so gütig gewesen, und von mir zu wissen verlanget, ob man nicht par Addresse eines hiesigen Kauf-Mans, von Hamburg etwas herüber bekommen könne, so habe dieser gütigen Offerte, mich alsobald bedienen wollen, und sende hierbei die eigenhändige Addresse, des hiesigen Kauf-Mans, solten d. Hr. Vatter dem Hamburgischem Kauf-Man es balde zustellen wollen, so würde ich solches noch vor Ostern bekommen können, weil der hiesige Kauf-Man nächstens Waaren daher erwartet, womit daßelbe sehr commode überkommen könne. 11 Der Versand mit der Landkutsche war im Gegensatz zur öffentlichen Post zwar langsamer, aber auch preiswerter: Ich habe hiedurch nur gehorsamst melden wollen, daß die verlangte Bücher, heute, von hier, mit der LandKutsche, auf Hamburg fort-gehen, so, daß ich hoffe, daß sie nunmero in kurzer Zeit bei d. Hr. Vatter einlaufen werden. 12 Vater Homfeld erschienen die Kosten dennoch recht hoch: Es ist mir in so weit angenem gewesen, daß die übersante Bücher richtig eingelaufen, jedoch bedaure ich ser, das des Hr. Vaters Meinung nach, das Porto von dem Buch-Fürer gar zu hoch angesetzet worden, ich habe deswegen so gleich nach Empfang dieser Nachricht, mit Ihm davon geredet, Er hat mir aber versichert, daß Er keinen Heller Profit davon genommen, sondern, daß das Porto, nach dem Post Reglement sich würklich so viel betragen. 13 5. Dezember 1741. 18. Oktober 1741. 10 3. April 1742. 11 21. Februar 1744. 12 1. November 1744. 13 20. Januar 1745. 8 9

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Nach vier Jahren Erfahrung mit den Reisewegen und Versandmöglichkeiten zwischen Ostfriesland und Halle plante Peter Homfeld seine Rückreise: So bald d. Hr. Vater meinem obigem ergebenstem Ersuchen zu gütigster Folge, die Dissertation mir werden haben zukommen lassen, bin ich gesinnet, meine Bücher auf der Land-Kutsche voraus zu schicken, in Betracht ich dadurch ein merkliches an dem FrachtLohn ersparen kan, als wenn ich selbige auf der Post bei mir fürte, dazumal meine ReiseCoffre ohnedem durch die Kleidung, und die in patriam mitzubringende Exemplaria der Diss., gnugsam beschweret werden dürfte. 14 Die Reisekosten waren nur schwer abzuschätzen. Peter Homfeld wusste nicht, wie viel er für Fracht- und Verzehrkosten zu zahlen haben würde. Auf jeden Fall war im Gegensatz zur Hinreise die höhere Wintertaxe zu entrichten. Außerdem waren die Koffer inzwischen – nicht nur wegen der Dissertationsexemplare – viel voller und schwerer geworden. Die ersten Briefe, die Peter Homfeld aus Halle schrieb, unterrichteten seine Eltern über sein Bemühen, sich in der neuen Universitätsstadt einzurichten. Die Stube konnte er mit Möbeln und Aufwartung mieten. Kleidung hatte er aus Ostfriesland mitgebracht, musste aber schnell feststellen, dass die Mode in Halle eine andere war. Zum größten Teil ließen sich die Kleidungsstücke durch Änderungen doch noch à la mode gestalten. Allein die Perücke, die man in Emden blond trug, musste durch eine erdschwarze mit Zopf ersetzt werden und der silberne Degen durch einen größeren goldenen. Zu den Stiefeln, die für den Studenten in Halle ein absolutes Muß waren, wünschte er sich Leinwand für Stiefelmanschetten: Daß meinem Hr. Vatter die mode unter den Studenten, um Stiefeln zu tragen, sehr paradox vorkommt, wundert mich gar nicht, allein ich kann versichern, daß man selbige eben so wohl in schönem als schlimmem Wetter träget, und wie ich von meinen Hr. Lands-Leuten vernommen, selbst in den schönen Sommer-Tagen nicht ohne denen gehet, wie ich denn selbst schon gesehen, daß die vornehmste Bursche fast alle Tage in Stiefeln gehen. Indeßen, weil der Herr Vatter mir auf ein solches gütigst concediren, wovor ich gehorsamsten Dank sage, so werde ich mir, so bald als der Schuster, den man mir recommendiret, wieder von Leipzig kommt, ein Paar machen laßen, und ich habe mir nur vorerst von einem von den alten Lachens, die meine Fr. Mama über den Leinwand und Kleider in meiner Coffre geleget, 3 Paar Manchetten laßen machen bis ich den Leinwand mit den andern gütigst versprochenen Sachen, werde bekommen. [...] und werden mein Hr. Vatter auch wohl die Mühe nehmen, und melden es mir in einem Brieffe auf der Post, wenn die Sachen abgegangen, und welche, und wie viel es sind, damit ich mich bey Anherkunft des Haus-Manns in etwas darnach richten könne, und weil mein Hr. Vatter so gütig seynd, und erlauben mir zu schreiben, was es denn vor Leinwand zu den Stiefel-Manchetten seyn müste, so hätte gerne etwas, das ziemlich fein und dabei stark wäre, weil es sonst von dem schaben der Stiefeln leicht zu reißen pflegt. 15 Ein Muß für den Ostfriesen waren Teetassen. Eigentlich hatte Peter Homfeld sich welche in Halle kaufen wollen, fand sie dort aber zu teuer. So bat er seine Mutter, ihm doch ein halbes Dutzend zu schicken. Diese Bestellung erledigte sich dann aber wohl, denn im nächsten Brief 14 15

28. Dezember 1745. Brief 4 1741.

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meldete er den Kauf von sechs verhältnismäßig teuer erschienen.

groben

Teetassen,

177 die

ihm

auch

Die Kosten eines Studiums in Halle erschienen wiederum dem Vater Homfeld recht hoch, so dass er seinem Sohn nach zwei Semestern vorschlug, doch nach Jena zu wechseln. Der wehrte sich gegen ein solches Ansinnen unter anderem mit dem Einwurf, dass die Zusendung einiger Waren zum Lebensunterhalt – wie bisher auch geschehen – einen Aufenthalt in Halle fast genauso preiswert machten wie in Jena: Ob Dieselben davor halten, daß man zu Jena vor weniger, als 200 Rt studiren, und honett leben kan, wo nicht, so will ich hiemit versprechen, daß wenn der Hr. Vatter, außer, wenn etwa was hauptsächliches vorfallen solte, mir auch hier Quartaliter 50 Rt fourniren wollen, ich damit werde auszukommen suchen, wo anders der Hr. Vatter auch dann und wann einige Accidentia, als Thée u. d. gl. dazu fügen wollen. Solte aber dieses noch die zu Jena erforderte Mittel übertreffen, so dependire gäntzlich von einer gütigsten Verordnung. 16 Hatte Peter Homfeld doch auch schon feststellen können, dass einige Grundnahrungsmittel in Halle sogar billiger als in Ostfriesland waren: jedoch so habe ich doch gemerket, daß das Brodt, und sogar Butter nach proportion hier wohlfeiler ist, als bey uns, ein [Pfund] Butter kostet hier, nach unserm Gelde 8½ St[über]. 17 Ostfriesland mit seinem großen Export von Getreide und Molkereiprodukten lag auf dem Seeweg günstig zu großen Verbrauchszentren, deshalb blieben die Preise seiner Erzeugnisse nur wenig unter den Marktpreisen. Umgekehrt hoben in Preußen merkantilistische Maßnahmen den Butterpreis: Der König hat die Einfuhr der holländischen Butter hier verboten, oder wenigstens eine solche Accise darauf geleget, daß ihm niemand gelüsten laßen wird, sich derselben zu bedienen, und wird hier nun aus Schlesien eingebracht. 18 Allein von ostfriesischem Käse hört man immer wieder, dass er auf den Weg nach Halle geschickt wurde. Allerdings scheint Peter Homfeld kein großer Freund dieses typisch ostfriesischen Produkts gewesen zu sein: Eine Käse aber, wolte mir anjetzo wol depreciren, indem ich davon sehr wenig esse, und also noch gnug damit versehen bin. 19 Und an anderer Stelle schreibt er: Ich habe dem Hr. Vetter Warsing die Helffte von meiner Käse geschenket, weil Er ein großer Liebhaber davon ist, und sich damit nicht versorget hat. 20 Vor allem waren es Kolonialwaren, um deren Zusendung Peter Homfeld bat. Diese Güter seien in Halle nicht nur teuer, sondern auch schlecht: ob der Hr. Papa und die Fr. Mama wolten die Güte und die Liebe vor mir haben, und schiken mir mit demselbigen, etwas geschnittener Tabak, von dem 6 St[über] das [Pfund], etwas ungebrannter Caffé Bohnen, Zucker Candi zu meiner Menage, wie auch etwas HutZucker, weil, man hier bey Zusprache Caffé und Hut-Zucker gebrauchet, und hier alle die Waaren sehr theuer sind. 21 Eine Bitte, die sich des öfteren wiederholte: Sodann wolte auch wohl, nebst meiner gehorsamsten Empfehlung, die Fr. Mutter, untertänigst ersuchen, wenn es Denenselben nicht zu beschwerlich wäre, Meinem Bruder 16 17 18 19 20 21

6. Juni 1742. Brief 4 1741. 13. März 1742. 21. Februar 1744. 13. November 1741. 20. September 1741.

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auch zugleich eine beliebige Quantität Studenten-Vivres, als Thèe, Caffè, Zucker, Tobac u. d. g., ja wo sie es vor gut befinden, auch einiges Trinck-Geschirr, als Thèe Tassen, Caffè- und Milch-Kanne, gütigst mitzugeben, angesehen ich weiß, daß Dieselben nicht allein damit zum Uberflus versehen seyn, sondern auch zum öffentlichem Gebrauch kostbarere anwenden. 22 An die Mutter hatte Peter Homfeld noch eine besondere Bitte, sie sollte ihm Leinwand für Halsbinden schicken, zumal sich Leinwand in Halle – nicht nur wegen der Stiefelmanschetten – recht schnell verbrauchte: Mit meinem Leinwand gehe ich so viel möglich sparsam um, vornehmlich auch darum, weilen hier mehr davon gewaschen, als getragen wird, sintemahlen man hier keine Biegel-Eisen, wie bey uns, gebrauchet, sondern alles auf den Rollen geglättet wird, wodurch der Leinwand ungemein reißet. 23 Mutter Homfeld fragte noch nach dem Maß für die Halsbinden und gab sie dann dem Jenaischen Boten mit. Fraglich war, ob sie die Akzisebestimmungen bedacht hatte: ich will hoffen, daß sie werden glücklich arriviren, und ich nicht viel Accise zu geben nöthig habe. Zu dem Ende, hätte gerne gesehen, daß die Fr. Mutter von der Güte gewesen wären, und hätten die neue HalsTücher, und das Neßel-Tuch vorhero waschen laßen, weil man vor neuem Leinwand viele Accise geben muß. 24 Doch nicht nur Waren zum eigenen Gebrauch erbat Peter Homfeld bei seinen Eltern. Fast ebenso wichtig waren Geschenke für Professoren, Hauswirte und sonstige Förderer: wenn der Hr. Vatter wollen von der Güte seyn, und einem oder anderem meiner hiesigen Hr. Patronen ein Præsent zu machen, ob man gleich Ost-Friesischen Käse hier allzeit kriegen kan, das [Pfund] à 2 Gr., und der Hr. Vatter etwa auch einige andere hier rare Sachen überschicken wolten. 25 Das Verteilen von Geschenken sollte vorher allerdings gut überlegt werden, wie Vetter Warsing erfahren musste: Ich hoffe aber, daß es mir nicht so damit ergehen werde, als wie dem Hr. Vetter Warsing welcher, weil Er eine Quantité schönen Thée mitgebracht, dem Hr. Prof. Juncker davon ein Præsent gemacht. Weil man aber seine Frau allenthalben Galanterie wegen beschuldigen will, welches selbst wohl zu wißen der Hr. Prof. gnug damit zu kennen gegeben: Daß Er alsobald gantz consternirt, zu dem Hr. Vetter gekommen, und Ihn mit vielen consternirten Redens-Arten gefraget, aus welcher Absicht, Er seiner Frauen das Præsent gemacht u. s. w. Der Hr. Vetter aber, um allem soupçon zu vermeiden, wird sich ohne Zweifel künfftigen Ostern, so Gott will, um einen andern Logis umsehen. 26 Natürlich war auch zu überlegen, was man in Halle am besten verschenken konnte: Weil der Hr. Vatter verlangen zu wißen, welche Præsente hier noch wohl am angenehmsten seyn mögten, so halte davor, daß die Käsen sich noch wohl am besten dazu schicken, weil ich sonsten nichts wüste, daß hier rar gehalten wird, wo der Hr. Vatter nicht etwa noch andere Sachen wüsten. 27 Nicht verborgen blieb, was andere schenkten: A. 28ten pass. sind die Sachen, mit dem Jenaischen Boten unversehrt 22 23 24 25 26 27

30. August 1744. Brief 4 1741. 28. Mai 1743. 5. Dezember 1741. 5. Dezember 1741. 28. Januar 1742.

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angekommen, wovor ich denn nochmahls gantz gehorsamsten Dank abstatte. Bey dieser Gelegenheit hat der Hoff-Medicq. Horst, einen schönen holländischen Kuchen, an den Hr. Madai gesandt. 28 Kurz darauf empfahl Peter Homfeld seinem Vater: Wenn der Hr. Vatter etwa zu den Præsenten wolten einige holländische Kuchen (wenns auch nur gute Ost-Friesische wären) fügen, solche würden nicht weniger angenehm seyn. Guter Thée, wäre noch wohl am besten, allein, weil man vor jedem [Pfund] 10 Gr. Accise geben muß, so wollen der Hr. Vatter es lieber dabey bewenden laßen. 29 Ein besonderer Förderer Peter Homfelds war David Samuel von Madai. 30 Er hatte ihm bei seiner Ankunft in Halle ein Zimmer vermittelt, stand ihm immer wieder mit ärztlichem Rat zur Seite und hatte ihn auch einmal zu einer Tour nach Leipzig mitgenommen. Darum war Peter Homfeld sehr daran gelegen, dass er sich ihm erkenntlich zeigen konnte: Solten der Hr. Vatter die Sachen über Hamburg noch nicht weggeschickt haben, so wolte ich wohl bitten, um dem Hr. Hoff-Raht Madai, meinem besonderm Patron, ein Præsent machen zu können, von einem Fäßgen Sardellen, weilen selbige hier so rar sind, daß man vor jeder 4 Pf. geben muß. Solches dürfte meines Erachtens sehr angenehm seyn. 31 Einfacher war es natürlich, wenn Wünsche geäußert wurden: Ehe ich schließe, muß ich noch eins dem Hr. Vatter melden: Es hat mich nemlich, der Hr. Hoff-Rath Madai, welcher ein großer Liebhaber alter Münzen ist, und bereits ein vortreffliches Münz-Cabinet zusammen hat, neulich ersuchet, ob es nicht möglich wäre, Ihm einige Ost-Friesische Medaillen, von dem Aequivalent, zu verschaffen, und mögte Er insonderheit die auf des Hochseel. Fürstens Leichen-Begängnis geprägte gern haben. Ich bitte also den Hr. Vatter gehorsamst, bey vorkommenden Gelegenheiten ohnbeschwert daran zu gedenken, Sie werden dadurch den Hr. Hof-Rath Ihnen sehr verbindlich machen, und mir die Vielfältige Gewogenheit des Hr. Madai, weiter conserviren. 32 Auch andere Personen spielten im Leben eines Studenten eine wichtige Rolle und mussten bedacht werden: Vor der gütigsten Verheissung wegen Ubersendung eines douceurs an unserer 33 Fr. Wirtin, statten wir zuförderst gehorsamsten Dank ab. 34 Manchmal mussten es gar keine Geschenke sein: Gestern, ließ mich der Geheimte Raht Boehmer zu sich ruffen, und überreichte mir nebengehenden Brieff, mit beygefügter Erinnerung, Er würde, so wie Er an dem Hr. Vatter geschrieben, in der That nicht ermangeln, seiner Promesse in allem nachzukommen. Ich bitte also gehorsamst, der Hr. Vatter wollen von der Güte seyn, und schreiben etwa ein Wörtgen wieder, damit dadurch das Band der Freundschaft, zu meinem großem Nutzen, zu unterhalten. 35 Zwischen Ostfriesland und Halle wechselten Informationen und Klatsch hin und her. Zum einen gab es Austausch durch Reisende: Der Hoff-GerichtsBote, Mr. Ketwich, ist seit 8 Tagen mit Actis hier, und wird noch wohl 4 Wochen auf 13. November 1741. 28. Januar 1742. 30 Der fürstlich Anhalt-Köthensche Hofrat und Leibarzt (1709-1780) besaß eine sehr reichhaltige und wertvolle Münzsammlung (ADB, Bd 20, Berlin 1884, S. 28/29). 31 27. Februar 1742. 32 13. Oktober 1743. 33 Peter Homfeld wohnte mit seinem Bruder Friedrich Wilhelm zusammen, der seit dem Wintersemester 1744/45 auch in Halle studierte. 34 20. Januar 1745. 35 30. Dezember 1741. 28 29

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Expeditione warten müßen, er wil aber indeß eine Reise nach Jena thun, um die OstFriesen zu besuchen. 36 Zum anderen gingen Briefe der verschiedenen ostfriesischen Studenten in die Heimat und berichteten über das Leben in Halle: Ich weiß fast nicht, ob ich sagen sol, daß die Hr. Gebrüder Warsing ihre vorige unanständige Lebens-Art anjetzo in einem noch höherem Grad fortsetzen, wenigstens sehe ich gar keine Proben der Besserung, sie hören nur ein einziges Collegium, nemlich Pandectarum, welches sie noch darzu, wie ich verneme, ser sparsam besuchen. Daß sie im übrigen sich mit ihren coheredibus noch nicht vergleichen können, wundert mich gar nicht, angesehen ich sie unter diejenige rechne, die ihr Glück nur per Titulos lucrativos zu machen suchen. Sie halten sich numero auch einen Laquais, den sie so propre gekleidet haben, daß Er alle andere übertrift, und von ihren übrigen debauchen ist nach proportion zu schliessen. Jedoch wil ich alles dieses nur pro placita informatione des Hr. Vaters, gemeldet haben, indem es nicht ratsam seyn würde, dergleichen allen und jeden zu eröfnen, zumal, da erst neulich, der in Jena studirende Mr. Haikens, sich in einem Briefe an Mr. Loesing beklaget, daß ein Halensis, etwas übles von den Jenensibus nach Hause geschrieben, Er sei deswegen genötigt worden, sich vor seiner Person, per testimonia Professorum, bei seinem Vater zu justificiren, salvo tamen Jure contra diffamantem, den Er fleissig exploriren wollte. 37 Anscheinend ging es nicht allen wie Vetter Detmers, von dem Peter Homfeld schreibt: Ich wundere mich fast nicht, daß seine Correspondence mit seiner Fr. Mutter, so selten ist, indem ich, aus seinem eigenem Geständnis habe, daß Er nimmer weiß, was zu schreiben sei. 38 Doch auch umgekehrt sorgten die Nachrichten, die aus Ostfriesland einliefen, in Halle für Verwirrung: Die Nachricht die d. Hr. Vatter mir, von der Fürstin Schwangerschaft zu erteilen beliebet, wiederspricht gänzlich denjenigen, die in neuern Tagen einige meiner Lands-Leute erhalten haben, wie nemlich nicht allein, nach dem Geständnis, aller Auricher Medicorum, und Heb-Ammen, die Fürstin sich in der größten Hofnung befinden, sondern auch nächstens öffentliche Gebeter vor Ihr gethan werden solten. 39 Neben dem Klatsch und den Berichten über Gehörtes wurden Informationen auch gezielt nachgefragt. So interessierte sich Onkel Russel dafür, was mit einem Manuskript aus dem Nachlaß des vor kurzem verstorbenen Juristen Heineccius geschehen sollte. Der Kriegs- und Regierungsrat Jhering, ein Projektemacher in Aurich, der sich mit Trockenlegungen und Eindeichungen beschäftigt hatte, interessierte sich sehr für den in den Salzsiedereien Halles gebrauchten Torf. Dazu hatte er einen Fragenkatalog an Peter Homfeld geschickt, doch nicht alles konnte beantwortet werden: Allein sowol die Hallorum als der Salz-Koten Eigentümer, die Herren Pfänner, sind in dieser Sache so mysterieus, daß ich auf keinerlei Art und Weise, einige gewisse Nachricht davon einziehen können. Erstere sagen so gar, daß sie bei Vermeidung der Vestungs Bau Strafe, Niemanden solches entdecken dürften. Ich bedaure dannenhero, daß ich in Beantwortung solcher Anfrage, Ew. Hochwolg. nicht so, wie ich wol wünschte, dienen kan. 40

36 37 38 39 40

21. 20. 20. 21. 10.

Juli 1743. Januar 1745. Januar 1745. Februar 1744. Dezember 1745.

Ostfriesische Studentenbriefe aus Halle 1741-1746

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Nicht nur um Informationen wurde bei Peter Homfeld während seiner Studienzeit in Halle nachgesucht, sondern auch um die Vermittlung eines Hofmeisters, der sich dort unter den Studenten leichter finden lassen würde als in Ostfriesland. Der Kommandant der preußischen Garnison in Emden, Herr von Kalckreuth, brauchte jemanden, der seine Söhne unterrichtete. Die Suche war jedoch schwierig: Ich kan noch zur Zeit nichts gewißes melden, von dem verlangtem Hoff-Meister, denn ob ich gleich den Hr. Dr. Baumgarten, als bey welchem sich dergleichen Leute, insinuiren, und welcher ein Mann ist, auf deßen Recommendation man sicher bauen kan, darüber consuliret habe, so habe doch noch zur Zeit keine Nachricht von Ihm erhalten, maßen Er mir versprochen, bey der ersten Gelegenheit, daran zu gedenken, Er zweifelte aber sehr, daß, wenn gleich einer oder anderer von den hiesigen Studiosis, oder Candidatis sich engagiren wolte, solcher gern vor dem Ausgang der Collegiorum, das ist, vor Michaelis, wegreisen würde. 41 Und auch zwei Wochen später war nur zu vermelden: Selbst der Hr. Dr. Baumgarten haben mir noch keine nähere Nachricht davon geben können, und zudem, so wolte ich mich nicht gerne mit einem jeden einlaßen, ohne zu wißen von welchem Caractére Er sey, denn, sonsten würde sich wohl vielleicht einer oder der andere angeben, wenn ich es etwa öffentlich am schwartzem Brette publicirte. 42 Schließlich fand sich doch ein Bewerber, der aber zunächst seinen Vater um Erlaubnis fragen musste und von dem in der Folge nichts mehr zu hören ist. Zwei Monate später vermeldete Peter Homfeld: Doch, um näher auf den andern End-Zweck dieses meines Schreibens zu kommen, so muß ich zu meinem größtem Vergnügen melden, daß ich endlich wiederum mit einem gewißem Studiosi Theologiæ, von Gebuhrt ein Pfältzer, in Unterhandlung gewesen bin, wegen der recommendirten Condition; welcher auch darzu solche Lust bezeiget, daß Er kein Bedenken getragen, in dem beygeschloßenem Brieffe seine Qualiteten dem Hr. Patrono selbst zu offeriren, und hoffe ich also, daß der Hr. von Kalckreuht kein Bedenken tragen werden, sich darauf zu resolviren. 43 Der neue Hofmeister wurde von Peter Homfeld eingestellt und trat kurz nach Michaelis zusammen mit einigen rückkehrenden Ostfriesen die Reise nach Emden an: Was sodann die von Ihm mitzubringende Bücher betrift, so hat Er zwar beygehenden Aufsatz, cum adjecto pretio, davon gemacht; weil ich aber theils nicht weiß, ob es dem Hr. von Kalckreuht gefällig, so viel auf einmahl daran zu wenden, theils ich auch anjetzo das Geld nicht habe, solche zu kauffen, so habe am besten gehalten, obgemeldetes Zettul einzusenden, damit, wenn der Hr. Major das Geld darauf wenden wollen, Dieselben es nur übermachen können, da ich denn selbige wohl besorgen werde. Jedoch zweifle auch nicht, daß nicht solche zu Bremen, in dem Sauermannischem Laden zu bekommen wären. 44 Leider war Herr von Kalckreuth mit seinem neuen Hofmeister nicht recht zufrieden, und schon bald verließ dieser seine neue Stellung. Sowohl Stellenvermittlung als auch Freundschaftsdienst war Peter Homfelds Bemühen für einen Kandidaten der reformierten Theologie: Zulezt kan ich nicht umhin, bei dem Hr. Vater anzufragen, ob denenselben nicht etwa in, oder ausser der Familie eine Condition bekand, zur Beförderung eines sehr geschickten Cand. 41 42 43 44

24. Juni 1742. 7. Juli 1742. 5. September 1742. 25. September 1742.

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Theologiæ Reform. aus dem Bremischen, der ein Bruder Sohn von dem hiesigen Hr. HofPrediger Pauli, und mein besonders guter Freund ist. Sein Vater ist Prediger in dem Flecken Blumenthal, und siehet gerne, daß derselbe bevor Er wieder in seiner Heimat kömt, sich erst etwas auswärts versuchet, es ist ihm auch durch Vermittlung seines Hr. Oncle eine Condition angetragen bei dem Hr. Geh. Rath von Diekhof in Berlin, Er träget aber ein großes Verlangen, um wo möglich, in Ost-Fries-Land, wenigstens auf eine Zeitlang, employirt zu werden, deswegen Er die Acceptation der erstgemeldeten bishero in suspenso zu lassen, bis Er durch mich erfaren, ob etwa in Ost-Fries-Land mit Grund etwas zu hoffen wäre, welches ich denn auch hiermit gebürend mögte explorirt haben. 45 Formeller fiel die Empfehlung für einen anderen Studenten aus: Es wird vielleicht ein gewisser Hr. Pastor von der Mark, aus Weerdum, bei dem Hr. Vatter, wegen eines Stipendii, vor seinem hier studierendem Hr. Sohn sollicitiret haben, welcher, da Er mich ersuchet, auch seiner bei dem Hr. Vatter eingedenk zu seyn, und ich ihm solches versprochen, so nehme mir hiemit die Freiheit, meinem Versprechen bei dem Hr. Vatter, ein Gnüge zu thun. 46 Jedes Semester schickte Peter Homfeld ein Vorlesungsverzeichnis nach Hause, um von seinem Vater eine Bestätigung seines geplanten Semesterprogramms zu erhalten. Vater Homfeld interessierte sich aber auch für andere in Halle zu erwerbende Bücher. So führte der nach Emden reisende Hofmeister einige für ihn im Gepäck: Dem Hoff-Meister, des Hr. von Kalckreuth, welcher morgen, von hier reisen wird, habe, auf meines Hr. Vatters gütigstem Befehl, ein Exemplare von dem Franz. Cellario, von den Fundamentis Styli des Seel. Heineccii, wie auch von dem Catalogo Scriptorum Ill. Boehmeri mitgegeben, ich hoffe, daß es glücklich überkommen. 47 Hin und wieder war es für seinen Sohn schwierig, genau das Gewünschte zu bekommen. Ein bestellter Catalogus Disputationum war erst bei der dritten Übersendung der richtige: indeßen aber reuet es mich, daß der Catalogus wiederum nicht der rechte ist; ich will deswegen anjetzo, um desto mehr mich bemühen, nach dem beygesantem Titul-Blate, den rechten, wo möglich, zu empfangen, und bey Gelegenheit zu überschicken, jedoch muß ich nur par avance melden, daß ich kaum glaube, daß selbiger mehr wird zu haben seyn, weil mir der Name des Typographi, gar nicht einmal bekand ist. 48 Von einem Atlas verlangte der Vater ein gedrucktes Werbeblatt, das jedoch schon vergriffen war. Auch das Titelblatt von Böhmers Corpus Juris Canonici, dass später unter der Jahresangabe 1747 erschien, konnte nur noch handschriftlich übersandt werden: Ich erinnere mich, daß d. Hr. Vatter schon einmal um ein Titul-Blat des Corporis J. Can. Böhmeriani geschrieben, ich mich auch damals darum bekümmert, aber nicht erhalten können; solte indessen d. Hr. Vatter mit einer Abschrift davon gedienet seyn, so werde mir solches ad copiam vorzeigen lassen. 49 Dem Anschein nach hat Peter Homfeld öfter Bücher nach Ostfriesland geschickt, ohne dass jedes Mal deutlich wird, um was genau es sich handelte: Von denen bezeichneten Piècen, sind die, welche ich mit dem 45 46 47 48 49

10. November 1745. 30. August 1744. 6. Oktober 1742. 8. September 1743. 21. Februar 1744.

Ostfriesische Studentenbriefe aus Halle 1741-1746

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beigeseztem Preis bemerket, in hiesigen Buch-Läden zu haben, von denen 3 übrigen aber habe ich den Wert nicht erfaren können, doch aber von einem Buch-Händler die Versprechung erhalten, daß wenn sie verlanget würden, Er solche wol zu verschaffen gedächte. 50 Nicht nur für den Vater selbst, auch für dessen Anwalt hat Peter Homfeld – vermutlich juristische Bücher, die in Halle besser zu bekommen waren – vermittelt: Sonsten habe mit dem hiesigen Buch-Händler Hr. Bauer, wegen der nach Hamburg zu übersendenden Bücher geredet, welcher auch geneigt ist, auf die vorgeschlagene Conditiones, dieselbe an dem Hamburgischem Buch-Händler Bohn, zu übermachen, wovon alsden des Hr. Vatters Mandatarius, dieselbe erhalten könte. Es bittet sich also nur d. Hr. Bauer, den Namen desselben aus, um solchen d. Hr. Bohn, zu melden. 51 Peter Homfeld übersandte nicht nur gedruckte Bücher, sondern auch eigene Arbeiten, die er während seines Studiums verfasste. Neben Gelegenheitscarmina zum Tode eines Onkels und zur Dissertation eines Freundes ließ er eine juristische Schrift, an der er gegen Ende seines fünften Semesters schrieb, seinem Vater zukommen. Nur ein Semester später begann er, an einer Dissertation zu arbeiten. 52 Dieses Buch, dessen Entstehen Eltern zumeist mit Anteilnahme begleiten, schickte Peter Homfeld seinem Vater abschnittsweise nach Ostfriesland: Ich übersende endlich anbei die ersten Absätze meiner Dissertation. Was darin abgehandelt ist, gehet zwar die Haupt-Sache nicht unmittelbar an, ich habe aber doch geglaubet, daß es nicht undienlich wäre, die Materie von den Verwesern der Republic, in so weit sie ihren Grund in dem Jure Publico Universali hat, etwas ausfürlicher abzuhandeln, zumalen andere Verfasser des allgemeinen öffentlichen Rechts, diese Sache entweder gar nicht, oder doch nur obenhin berüren, ich hoffe, daß der Hr. Vater solches ebenfals vor gut befinden werden. Ubrigens werde ich mit der Ubersendung, so viel ich davon jedesmal fertig habe, alle Post-Tage continuiren, damit der Hr. Vater sie inzwischen nach und nach durchsehen, und wenn sie volständig da ist, ohne weitern Verzug nach Berlin einsenden können. Ich halte keine Copei von selbiger in solcher Ordnung, weil ich nicht zweifle, man werde sie mir also wieder zukommen lassen. 53 Halle bot nicht nur eine große Auswahl an Büchern, bekannt war auch der Arzneimittelversand des Waisenhauses. Sebastian Anton Homfeld war gebeten worden, durch seinen Sohn Medikamente bei Professor Juncker 54 besorgen zu lassen. Allein über die Verkaufsmodalitäten war man in Ostfriesland nicht richtig unterrichtet: Ich bin so bald nach empfangenem Brieffe zu dem Hr. Prof. 5. Januar 1746. 21. Februar 1744. 52 Dissertatio Inauguralis Iuridica De Libertate Orientalis Frisiae Circa Vicarium Imperii Romano-Germanici Regimen. Halle 1746. 53 1. September 1745. 54 Johann Juncker (1679-1759) war zunächst Lehrer am königl. Pädagogium in Halle. 1717 promovierte er in Medizin und erhielt eine Stelle als Arzt am Waisenhaus in Halle. 1730 wurde er zum Prof. ord. der Medizin an der dortigen Fakultät. Juncker führte den klinischen Unterricht in Halle ein, wobei ihm seine Stellung als Arzt am Waisenhaus zugute kam (ADB, Bd 14, Berlin 1881, S. 692). 50 51

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Juncker gegangen, und habe Ihnen von dem befohlenem Nachricht gegeben; das darauf erfolgte Responsum, den dritten Tag darauf erhalten, welches auch bey Abgang dieses Schreibens, mit dem Kästgen mit Artzneyen auf der fahrenden Post geben, und an dem Hr. Vatter addressiren werde. Vor den Medicamentis habe 19 Ggr. zahlen müßen, das Honorarium aber überlaßen der Hr. P., des Hr. Syndici Generosité, und der Göttlichen Vorsehung. Weil ich nun erfahren, daß vor solchen Responsis gemeiniglich, genereuse Bezahlung zu geschehen pflegete, so wollen d. Hr. Vatter, auch etwan solches erinnern, wie auch, daß es dem Hr. P. bald möge zugestellet werden, weil ich gemerket, daß es Ihnen paradox vorkam, daß ich nicht Ordre hatte, solches gleich zu geben, weswegen ich auch den Empfang des Responsi habe attestiren müßen. Das Billet d’honneur welches ich bey dieser Gelegenheit an d. Hr. Syndico mit beygeschloßen, wollen d. Hr. Vatter nach Befinden demselben auch zustellen. 55 Sicher nicht zu den traditionellen hallischen Exportprodukten gehörten die Waren, die Peter Homfelds nach Ostfriesland reisender Vetter Detmers mitnehmen sollte: Ich habe ihm ein Päckgen Nudeln und Hane-Butten mitgegeben. 56 Neben all’ dem Tee, den Käsen, den Wechseln, den Sardellen, den Münzen, den Hofmeistern, den Arzneien, den Nudeln und den Büchern kamen die zu übermittelnden Glückwünsche in den Briefen Peter Homfelds nicht zu kurz: ich will nochmahlen wünschen, daß wir alle miteinander, noch lange Jahre des Hr. Vatters gesegneten Geburts-Tag, der vor dismahl, durch des Herren Güte glücklich eingetroffen, celebriren mögen. 57

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24. April 1742. 18. April 1745. 25. September 1742.

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Vielleicht ist Ihnen bekannt, dass in Göttingen ein molekulares Zentrum für Biowissenschaften entsteht, dem sich die europäischen Feldhamster in den Weg gestellt haben. Ich muss den Hamstern schon dankbar sein, denn sie haben dafür gesorgt, dass dieses Biozentrum, das wir in Göttingen mit einem Aufwand von 50 Millionen DM errichten, bundesweit bekannt geworden ist. In diesem Zentrum werden verschiedene Kompetenzen in der Medizin, in der Biologie, in der Chemie zusammengeführt. Aber die Leute haben sich weniger für Innovationen interessiert als vielmehr für die Hamster. Denen wird übrigens überhaupt kein Leid geschehen, denn dort wo gebaut wird, leben gar keine Hamster. Aber so funktioniert eben unsere Mediengesellschaft. Thomas Oppermann, Grundsatzrede zur Wissenschaft 1

Die Göttinger Feldhamster, die hier erwähnt werden, fanden ihren Weg nicht nur in die Grundsatzrede zur Wissenschaft des Niedersächsischen Ministers für Wissenschaft und Kultur, sondern sie konnten im Sommer 1998 auch mehrfach mühelos die Seiten des Spiegels, der Frankfurter Rundschau und des Hamburger Abendblattes erobern. Ein junger Nachwuchsjournalist, der Göttinger Universitätsarchivar Dr. Ulrich Hunger, verdiente sich mit einer Darstellung der Göttinger Realsatire in der ZEIT seine ersten Meriten. 2 Er

1 Wiedergabe der Rede ohne Seitenzählung unter: http://www.niedersachsen.de.MWK 2a.htm, ohne Angabe, wann und wo sie gehalten wurde; Datei vom 24. November 2000. Nach Auskunft der Pressestelle des MWK vom 10. Mai 2001 sei sie wohl Ende 1998 gehalten worden; weitere Informationen lagen auch im Ministerium nicht mehr vor. 2 H UNGER , Ulrich, Hamsterdrama zu Göttingen. Wie das Schicksal einer Feldhamsterkolonie eine Stadt in Atem hält. Eine Chronik, in: Die Zeit, Nr. 41, 7. Oktober 1999, S. 39. Teilweise textgleich in der vom Autor halbjährlich verfaßten Universitätschronik, in: Georgia Augusta, hier Nr. 69, S. 64; Nr. 70, S. 8f.; Nr. 71, S. 8f.; Nr. 72, S. 10f. Zusammenabdruck der Beiträge, in leicht verkürzter Form, Göttinger Tageblatt vom 21. Februar 2000, S. 18, dort mit einer Luftaufnahme des betreffenden Areals der Norduniversität. Zur Göttinger Hamsterfrage auch die Stellungnahme der Grünen Hochschulgruppe Göttingen vom September 1998, http://www.stud.uni-goettingen.de/~ghg/publi/ sep98/Biozentrum.html und die Darstellung von Hans-Jürgen Thorns, Vorsitzendem der BUND Kreisgruppe Göttingen, Die Göttinger FeldhamsterStory, in: BUND magazin 4/98, auch: http://www.bund-niedersachsen.de/magazin/9804 /hamster.htm.

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erhielt Anfang 2000 für seine gelungene und amüsante Aufarbeitung des Göttinger Feldhamsterstreites sogar den ersten Preis der Alexanderstiftung. 3 Was war geschehen? Im Sommersemester 1998 hatten Naturschützer darauf aufmerksam gemacht, daß der Bau des neuen Zentrums für molekulare Biowissenschaften im Nordbereich der Göttinger Universität den Bestand einer auf dem Baugelände lebenden Kolonie von 30-100 4 der vom Aussterben bedrohten Feldhamster gefährden würde. Nach einem Baustop, einem darauffolgenden Plan, die Nager umzusiedeln, und der Überlegung, sie zum Gegenstand eines mehrjährigen Forschungsprojekts zu machen, legte der Kreisverband Göttingen des Bundes für Umwelt- und Naturschutz Deutschland (BUND) bei der Bezirksregierung in Braunschweig Widerspruch gegen das Bauvorhaben ein. Die Staatsanwaltschaft nahm ihre Ermittlungen auf und die beteiligten Naturschutzorganisationen gerieten sich über der Hamsterfrage in die Haare und warfen sich dabei gegenseitig vor, „ihren egoistischen Fundamentalismus auf dem Rücken der Hamster auszutragen.“ 5 Im Oktober 1998 schien dem Bau dann nichts mehr im Wege zu stehen, hatte man doch mittlerweile festgestellt, daß die Hamster nicht auf dem Baugelände, sondern auf den Grünflächen dazwischen siedelten. Der Universitätspräsident bewies Humor, indem er im Grundstein des Instituts für molekulare Strukturbiologie am 4. Dezember 1998 einen Spielzeughamster versenkte. Mit dem Auffinden dreier toter Hamster im Baugebiet im Juni 1999 wurde die Hamsterfrage nochmals virulent. Nach einem neuen Plan sollten die Hamster mittels eines artgerecht gestalteten Wanderkorridors quer durch das Baugebiet dazu verleitet werden, ihr angestammtes Areal zu verlassen und in ein weiter nördlich gelegenes unbebautes Terrain zu übersiedeln. Die Stadt schloß mit der Universität einen „städtebaulichen ‚Hamstervertrag’ ab, in dem sie sich verpflichtet[e], für die durch die Baumaßnahmen verbrauchten Flächen hamstergerechten Ersatz zu schaffen und die Rückzugsräume der Tiere feldhamsteroptimiert zu bewirtschaften.” 6 Einzig die mangelnde Kooperation der betroffenen Tiere ließ den schönen Plan in Teilen scheitern. Da nur Jungtiere das Angebot der saftigen neuen Weiden annahmen und die Alten daran gingen, sich sogar in den Bereichen wieder heimisch einzurichten, aus denen man sie unter Einsatz von Spezialzäunen und Spanplattenwänden 3 Göttinger Tageblatt zur Verleihung des Alexanderpreises vom 12. Februar 2000, S. 15: „Dr. Ulrich Hunger, Leiter des Göttinger Universitätsarchivs verfasste eine Chronik. Mit Galgenhumor reihte er die ‚Kapriolen des Rechts- und Verwaltungssystems’ um eine gefährdete Hamsterkolonie im Uni-Nordbereich aneinander ... Aus dem Hungerstück wurde ein Schmuckstück’, beschrieb Jurymitglied Georg Luze, warum der erste Preis an den Archivleiter ging.“ Die Zeit, Nr. 13 vom 23. März 2000 mit der Bewertung: “Nun tobt der Hamsterkampf. Gut dass die Georgia Augusta einen weisen Präsidenten wie Horst Kern besitzt, der davor warnt, ‘unsere Hamster als lebende Schutzschilde zu missbrauchen’. Besser noch, dass sie einen Archivar wie Ulrich Hunger hat, der den Überlebenskampf der bedrohten Kreatur für alle Zeit dokumentiert.” 4 Hamburger Abendblatt vom 20. August 1998, auch: http://www.abendblatt.de/bin/h a/set_frame/set_frame.cgi?seiten_url=/contents/ha/news/norddeutschland/html/20089 8/0920HAMS6.HTM 5 H UNGER , Hamsterdrama zu Göttingen (wie Anm. 2). 6 Ebd.

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eigentlich fernhalten wollte, griff man nun zu Zwangsmaßnahmen. Mit dem Segen der Braunschweiger Bezirksregierung wurden die Hamster gefangen und in ihr neues Areal zwangsumgesiedelt. Diese Aktion weckte wiederum die Aufmerksamkeit der Naturschützer, die jetzt forderten, daß an der Stelle, wo der Hamsterkorridor eine Straße kreuze, diese zu untertunneln sei, um die Hamster nicht unnötig den Risiken des Straßenverkehrs auszusetzen. Eine Fortsetzung des Streites drohte Anfang 2000, als der Hamsterkorridor eine für weitere 30 Millionen Mark geplante Sanierung und Erweiterung des Deutschen Primatenzentrums ins Wanken brachte. 7 Das Verhältnis von Mensch zu Feldhamster war nicht immer von solch vehementem und in vielem auf den ersten Blick sicherlich skurilen Bemühen um den nun vom Aussterben bedrohten Kleinsäuger geprägt. Der Feldhamster wird zwar heutzutage auf der Roten Liste der gefährdeten Tiere unter die stark gefährdeten Tierarten gezählt und gehört nach der Bundesartenschutzverordnung §13 zu den besonders geschützten Tieren. 8 Aber noch bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts galt er als Feldschädling. In den fünfziger und sechziger Jahren wurden im Rhein-Main-Gebiet von Berufsfängern Tausende von Feldhamstern gefangen und getötet. 9 Im Raum Leipzig wurden 1960 und 1965 65.000 Hamsterfelle abgeliefert 10 und im staatlich organisierten Hamsterfang in der Magdeburger Börde wurden pro Fänger häufig mehrere tausend Tiere pro Jahr getötet, so daß allein im Landkreis Aschersleben jährlich zwischen 60.000 und einer halben Million Felle aufgekauft werden konnten. 11 Das größte geschlossene Verbreitungsgebiet der mittlerweile extrem ausgedünnten Populationen der Feldhamster erstreckt sich heute in Mitteldeutschland von Hildesheim durch Sachsen-Anhalt bis nach Thüringen und Sachsen. 12 Weitere Inselvorkommen finden sich auf der Oberrheinebene und in den südlichen Niederlanden. 13 Göttinger Tageblatt vom 22. Januar 2000, S. 13. http://www.feldhamster.de/intro.html. Die Internetseite http://www.feldhamster.de /index.html bietet umfassende Informationen zu Verbreitung, Biologie, Bedrohung und Schutz des Feldhamsters. Unter den Links findet sich auch eine umfangreiche Bibliographie und verschiedene Verbindungen zu anderen Hamsterseiten und Hamsterschutzprojekten. Zur heutigen Lage des Feldhamsters auch S ELUGA , Kerstin, Feldhamster: Hungrig in den Winterschlaf, in: Naturschutz heute, 2/96 vom 15. März 1996, auch http://www.nabu.de/nh/archiv/hamster296.htm. 9 http://www.feldhamster.de/gefahr.html. 10 Kleine Diebe mit dicken Backen: Feldhamster vom Aussterben bedroht, http://www.zalf.de/fachinfo/fachdoku/pressemitteilung/sachsen/sachsen-2000/sa20100 01.htm. 11 S ELUGA , Feldhamster: Hungrig in den Winterschlaf, (wie Anm. 8). 12 http:/www.feldhamster.de/verbreit.html. Zur Verbreitung der Feldhamsters in Niedersachsen: P OTT -D ÖRFER , Bärbel; H ECKENROTH , Hartmut, Zur Situation des Feldhamsters (Cricetus cricetus) in Niedersachsen, in: P OTT -D ÖRFER , Bärbel; H ECKENROTH , Hartmut und R ABE , Karin, Zur Situation von Feldhamster, Baummarder und Iltis in Niedersachsen, Naturschutz und Landschaftspflege in Niedersachsen 32, Hannover 1994, S. 6ff. 13 P OTT -D ÖRFER ; H ECKENROTH ; (wie Anm. 12), hier S. 5-23. 7 8

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Im Folgenden soll dargestellt werden, wie sich die augenscheinlich auch unter emotionalem Aspekt besondere Beziehung des Menschen zum Feldhamster im 18. und 19. Jahrhundert entwickelte. Hierzu wird in einem ersten Schritt das Bild des Hamsters in der Literatur und den Lexika jener Zeit schlaglichtartig beleuchtet werden. Sodann folgen Ausführungen zum Hamsterfang in Gotha am Ende des 18. Jahrhunderts. Den Abschluß bildet die Betrachtung einer Hamsterplage im Bereich der Landdrostei Hildesheim in den Jahren 1822-1828. Anhand des Vorgehens der Königlichen Verwaltung läßt sich zeigen, wie aus der Konfrontation mit einer damals neu auftretenden Hamsterplage ein Verfahren entwickelt wurde, dem Kleinnager in Massen erfolgreich den Garaus zu machen. Das heutige Bild des Feldhamsters dürfte stark durch seine ca. eine Million Vettern aus der Gattung der Syrischen Goldhamster geprägt sein, die deutsche Kinderzimmer bevölkern. 14 Aber schon Gisela von Arnim hatte in einem Märchen mit der Überschrift Vom Hamster, das sie ihrem Neffen Achim von Arnim in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhunderts geschickt hatte, den Feldhamster in einem anderen Licht gesehen und ihn als einen gemeinen Dieb beschrieben. In seiner Backentasche fand der Elfenprinz, nachdem er ihn im mutigen Kampfe zur Strecke gebracht hatte, nicht nur seine Liebste, die dieser im vorbei gehn verschlukt hatte, sondern auch zahlreiche Schmuckstücke, die der Hamster all aus dem Wiepersdorfer Schloß gestohlen, da waren sie sehr reiche Leut. 15 Diebstähle und Räuberbanden im Umfeld der von Arnimschen Familiengeschichte erklären aber nur sehr unzureichend, warum Gisela gerade hier das Bild des räuberischen Hamsters benutzt, 16 das sie ihrem Märchen auch in Form zweier Bildskizzen hinzufügte. Während in der ersten Skizze der tapfere Prinz dem im Umriss durchaus korrekt gezeichneten Tier mit gezogenem Degen tapfer gegenübertritt, sehen wir in der zweiten Elfenprinz und Elfenprinzessin sich in den Armen haltend auf dem toten Tier sitzen, aus dessen geöffnetem, mit Zähnen versehenen Maul Ringe und Ketten quellen. 17 Jeremias Gotthelf benutzte das Bild von der räuberischen und hortenden Natur des Hamsters, als er die Neigung der Menschen zum Verstecken von geheimen Schätzen thematisierte: Die meisten Menschen haben etwas elster- oder hamsterartiges und sammeln gerne Schätze, ... die sie verberge. 18 Gotthold Ephrahim Lessing konnte sich dem Bild des gierigen und maßlosen Hamsters in seiner Fabel Der Hamster und die Ameise auch nicht entziehen: Ihr armseligen Ameisen, sagte ein Hamster. Verlohnt es sich der Mühe, daß ihr den ganzen Sommer arbeitet um ein so Weniges einzusammeln? wenn ihr meinen Vorrat sehen solltet! - - Höre, antwortete 14 S TRICKER , Silke, Ein Beitrag zur tiergerechten Haltung des Hamsters anhand der Literatur. Zugl. Diss. Hannover, Hannover 1999, S. 171. 15 V ON A RNIM , Gisela, Märchenbriefe an Achim. Hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Shawn C. J ARVIS . Frankfurt am Main 1991, S. [81]-[88], Transkription, S. 149f., hier S. 150. 16 Ebd., Erläuterung, S. 167. 17 Ebd., S. [88]. 18 G OTTHELF , Jeremias, Erlebnisse eines Schuldenbauers, Sämtliche Werke Bd. 14, Zürich 1924, S. 140f.

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eine Ameise, wenn er größer ist, als du ihn brauchst, so ist es schon recht, daß die Menschen dir nachgraben, deine Scheuren ausleeren, und dich deinen räuberischen Geiz mit dem Leben büßen lassen! 19 Noch 1938 charakterisierte das im Blut und Boden Verlag in der Reichsbauernstadt Goslar erschienene Brehms Tierleben für das Bauernhaus den Hamster als boshaftes und bissiges Geschöpf und gedachte des Nagers als eines sprichwörtlich gewordenen habsüchtigen Geschöpfes, das sich auf Kosten des Menschen zu ernähren und diesen ganz gehörig zu brandschatzen weiß. 20 Tatsächlich sprichwörtlich wurde das „Hamstern“ bekanntlich in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg als Synonym für die Anhäufung von Lebensmitteln zum eigenen Bedarf, um die schweren Zeiten zu überleben. 21 Aber auch die hiermit verbundene deutlich positivere Konnotation schloß immer noch ein juristisch zumindest zweifelhaftes Vorgehen bei dem Erwerb der überlebensnotwendigen Nahrungsmittel mit ein. Gier, Habsucht, Geiz und ein aufbrausendes Temperament sind Eigenschaften, die dem heute vom Aussterben Bedrohten landläufig in früherer Zeit zugeschrieben wurden. 22 Die wichtigste deutsche Enzyklopädie des 18. Jahrhunderts, das Grosse vollständige Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste von Zedler teilt über den Hamster mit, 23 daß er in Deutschland vor allem in Thüringen, Schlesien und um Straßburg herum gefunden werden könne. Auch in Frankreich habe es schon wahre Hamsterplagen gegeben. Als besonderes Kennzeichen der Feldhamster gilt neben ihrer extrem hohen Fruchtbarkeit, daß sie sich hauptsächlich von Feldfrüchten ernähren und für ihren Winterschlaf in ihrem unterirdischen Bau einen großen Vorrat anlegen: Die Acker=Leute und andere haben es öffters zu ihrem Schaden erfahren, wie gefräßig und zugleich diebisch dieses Thier ist. Besonderes Erstaunen erregt, wie sorgfältig die Tiere das Getreide in ihrem Bau lagern und wie dicht sie ihre Beute packen können. In ihren Löchern findet man allerhand Getrayde, Roggen, Haber, Gerste, Weitzen, auch allerhand Hülsen=Früchte, als Erbsen, Linsen, Bohnen. Hamsterbaue wurden nicht nur ausgegraben, um des Schädlings habhaft zu werden. Arme Leute hielten sich auch an den dabei erbeuteten Vorräten der Hamster schadlos: Diese Früchte werden ohne Bedencken von den armen Leuten, ohne Vermerkung einigen Schadens gegessen, auch dem Hühner= und Schweine=Vieh ohne die geringste Furcht einer bösen Befahrung gegeben. Mit einiger Verwunderung wird weiter referiert: Das Fleisch selbst von denen Hamstern ist verschiedene Mahl von 19 L ESSING , Gotthold Ephrahim, Philotas, Fabeln und Fabelabhandlungen, Literaturbriefe. Werke in 12 Bänden, Bd. 4, zugl. Bibliothek deutscher Klassiker Bd. 148. Hrsg. von Gunter E. G RIMM , Frankfurt am Main 1997, S. 303. 20 Alfred Edmund Brehms Tierleben für das Bauernhaus. Bearb. von Hans B ODENSTEDT und Ernst S CHNEIDER , Goslar 1938, S. 217-219. 21 Texte zum „Hamstern“ in der Nachkriegszeit im Rahmen des Projektes: Erlebte Geschichte, über 50 Jahre Rheinland-Pfalz, unter: http://www.koblenz.de/sehenswertes/ erlebt/48_s.htm. 22 Auch Stichwort: Hamster, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm G RIMM , Bd. 10, H-Juzen, bearb. von Moritz H EYNE . Fotomechan. Nachdruck der Erstausgabe Leipzig 1877, Bd. 4, Abt. 2, München 1984, Sp. 322-323. 23 Im folgenden: Großes vollständiges Universal Lexicon aller Wissenschaften und Künste. Hrsg. von Johann Heinrich Z EDLER . Bd. 12, H-He, Halle Leipzig 1735, Sp. 404407.

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denen Armen verzehret worden, ohne daß ihnen ein Eckel, oder sonst einige Alteration aufgestiegen wäre. Die gelehrte Diskussion, ob der Genuß von Hamsterfleisch schädlich sei, wird mit wachem Interesse bis zu der Frage, ob bereits die Römer Hamster verspeist hätten, zurückverfolgt. Überhaupt scheint das Verhalten des Hamsters im Umgang mit seiner Beute auch für den Zedler ein besonderes Kennzeichen seines Charakters zu sein. So berichtet er weiter, daß das Männchen das Weibchen von dem Genuß seines Wintervorrates ganz bewußt ausschließt. Das Weibchen räche sich am Männchen, indem es eine nahe gelegene Höhle beziehen würde, von der aus es dann heimlich die Vorräte des Männchens angraben und auffressen würde. - Ob hier eine geschlechtsspezifische Rollenprojektion des 18. Jahrhunderts zu einer Gender-Untersuchung auffordert, mag dahingestellt bleiben, tatsächlich läßt sich ein solches Verhalten nicht belegen. - Von eben diesem Geize kommet auch die Grausamkeit, daß sie ihre erworbene Schätze mit Gefahr und Darsetzung ihres Lebens zu beschützen suchen, wenn man ihnen solche rauben will so daß sie wohl eher ihre Schatz=Gräber, die ihnen ihre Löcher ausgraben wollen, in die Flucht gejaget haben. Wenn man sie sonsten auch nur zur Luft reitzet, böse machet, oder verletzt, so sind sie vermögend von der Erde bis in das Gesicht, ja einem Reuter wohl gar auf das Pferd zu springen, und sich fürchterlich zu verteidigen. Zudem wird diskutiert, daß Hamster untereinander mit Lauten und Zeichen kommunizieren würden, so könnten in Not geratene Tiere andere zu Hilfe rufen. Nachts habe man beobachtet, daß diese Thiere auf einem Stücke gesessen und gefressen, worauf sich ein unvernehmliches Murmeln unter ihnen erhoben, welches verursachet, daß sie plötzlich von diesem Orte aufgebrochen und sich auf einen andern Acker gemachet. Diese Beschreibung des Hamsters als gefräßiger, scheinbar sogar in organisierten Gruppen auftretender Feldschädling erklärt zunächst recht einleuchtend das negative Bild des diebischen Hamsters in Gisela von Arnims Märchen. Darüber hinaus erfolgt jedoch immer wieder die Projektion negativer menschlicher Charakterzüge. Keine der hier beschriebenen natürlichen Verhaltensweisen der Hamster müßte zwingend zu den hier vorgenommenen charakterlichen Zuschreibungen führen. Im Gegenteil wäre sogar eine positive Ausdeutung beispielsweise als „fleißiger Sammler“ denkbar. Einzig die Interpretation des Zedler und seiner Zeitgenossen macht aus dem Bemühen des Tieres, im Winter durch seine Vorratshaltung zu überleben, ein gefräßiges und zugleich diebisches Tier, dessen angeblicher Geiz zur Grausamkeit bei der Verteidigung seiner Schätze führt. Dieser Projektion liegt zugrunde, daß der Hamster, wenn er in großen Stückzahlen auftrat, tatsächlich ein Feldschädling war, der in direkte Nahrungskonkurrenz zum Bauern trat, dessen Felder er heimsuchte. Und in den Augen der armen Leute, die um ihr tägliches Überleben kämpfen mußten, waren seine Vorratskammern tatsächlich kleine Schatzkammern. So wird berichtet, daß der Inhalt von zehn bis zwanzig Hamsterhöhlen aussreichen konnte, eine ganze Familie für den Winter mit Brot und Hülsenfrüchten zu versehen. 24 Für das 18. und 19. Jahrhundert wird angegeben, daß eine Höhle Spitzenwerte bis zu 30 kg Korn enthalten konnte heutige Grabungen ergaben zwischen 0,15-7,1 kg, Höchstwerte von 34 kg 24

Deutsches Wörterbuch Bd. 4, (wie Anm. 22), Sp. 323, Stichwort: Hamsterfänger.

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Erbsen oder 17,5 kg Feldfrüchten bzw. Weizen müssen jedoch als Ausnahmen gelten. 25 Aber erst die Projektion der negativen menschlichen Eigenschaften wie Geiz, Gier, Habsucht etc. - selbst wenn ein Bauer, dessen Felder von Hamstern heimgesucht wurden, faktisch mit Ernteeinbußen rechnen mußte rechtfertigte auch moralisch, daß der größere Räuber – der Mensch - über den kleineren Räuber herfiel und ihm zu Hunderttausenden den Garaus machte. Konnte sich der Mensch als Opfer des „räuberischen und maßlosen“ Hamsters sehen, so war es nicht weiter verwerflich, in die Rolle des „gerechten“ Täters zu schlüpfen und den ja überaus raffgierigen und damit schuldigen Feldhamster zu töten und seinen Bau zu plündern. Daß im 18. und 19. Jahrhundert hinter dieser Rechtfertigungsstrategie nicht nur das Bemühen der Bauern und Grundbesitzer um die Sicherung ihrer Ernteerträge stand, sondern auch die Not der Ärmsten der Landbevölkerung, die durch den Hamsterfang zumindest teilweise ihr Überleben sichern konnten, mag diesen Mechanismus erklären, allein er kostete Millionen von Feldhamstern im Laufe der Jahre ihr ohnehin kurzes Leben. Bemerkenswert bleibt, daß eine moralische Stigmatisierung des Hamsters durch den Menschen erfolgte, die letztlich die Plünderung seines Baues rechtfertigte. Anderen Feldschädlingen, wie den Mäusen oder den Sperlingen, deren Jagd ja auch von der Obrigkeit angeordnet wurde, blieb dies erspart. Nicht zufällig ist daher auch Gisela von Arnims Bild des räuberischen Hamsters, der sogar vor dem Raub einer Elfenprinzessin nicht zurückschreckte. Durch seine Tötung befreit der Elfenprinz nicht nur seine Liebste, er bringt sich auch in den Beitz des von dem Hamster geraubten Schatzes aus goldenen Ringen und Ketten. Hinweise auf Hamsterplagen, die das Bild vom Hamster als Feldschädling nachhaltig prägten, bietet die Arbeit Friedrich Gabriel Sulzers, die den Feldhamster dem gelehrten Publikum des 18. Jahrhunderts nahebringen sollte. Den beiden eingangs erwähnten Wahl-Göttingern, die sich der dortigen Hamsterfrage angenommen hatten, scheint nicht bewußt gewesen zu sein, daß sie in einer über 200-jährigen Tradition der Göttinger Feldhamsterforschung standen. Immerhin war es Gabriel Friedrich Sulzer, der 1774 bei dem Göttinger Verleger Johann Christian Dietrichs seinen Versuch einer Naturgeschichte des Hamsters vorlegte. 26 Das etwas über 200 Seiten starke, mit mehreren Kupfern illustrierte und heute recht gesuchte kleine Bändchen war die erste monographische Darstellung über den Feldhamster, 27 die noch 1949 als für den 25 P OTT -D ÖRFER ; H ECKENROTH , Zur Situation des Feldhamsters (Cricetus cricetus) in Niedersachsen (wie Anm. 12) S. 6, auch http://www.nabu.de/nh/archiv/hamster296.htm. 25 P OTT -D ÖRFER ; H ECKENROTH , (wie Anm. 12), S. 5. 26 S ULZER , Gabriel Friedrich, Versuch einer Naturgeschichte des Hamsters. Göttingen, Gotha 1774. 27 Versuch einer Naturgeschichte des Hamsters. Nach dem 1774 in Göttingen und Gotha erschienen Original, zum 175. Jubiläum der Drucklegung und zum 200. Geburtstag seines Verfasssers, F. G. Sulzer. Neu hrsg. von Hans P ETZSCH . Hannover 1949. Mit einem reichhaltigen Kommentar zu Biographie und Werk Sulzers. Im folgenden als P ETZSCH /S ULZER zitiert.

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Spezialforscher unerläßliches und keineswegs überwundenes Standardwerk in kommentierter Form neu aufgelegt wurde. 28 Sulzer (10. Okt. 1749 - 14. Dez. 1830), Sohn des wohlbekannten herzoglichen Leibarztes und Hofrates Johann Caspar Sulzer in Gotha, hatte in Göttingen und Straßburg Medizin studiert und 1768 in Göttingen promoviert. 29 Kurz nach dem Abschluß der Promotion kehrte er nach Gotha zurück und widmete sich dort, bevor er ab 1771 mit herzoglicher Unterstützung eine dreijährige Studienreise durch Holland, Frankreich und England unternahm, 30 seiner Untersuchung des Feldhamsters. Diese wird nicht ohne Interesse von höherer Stelle entstanden sein, wurde doch gerade das Thüringische und Gothaische Gebiet seit den 1720er Jahren bis in die Zeit Sulzers immer wieder von Hamsterplagen heimgesucht. 31 Auch Sulzers späterer Werdegang - 1776 wurde er Leiter der 1774 auf seinen Vorschlag hin eingerichteten Veterinärschule in Gotha 32 - deuten daraufhin, daß er mit seiner Studie nicht nur eine Förderung der Medizin durch einen Ausblick in die Naturgeschichte im Auge hatte, 33 sondern darin auch - ohne das er es im Text angibt - eine berufliche Weiterqualifikation gesehen haben dürfte. Sulzer erklärt selbst, daß er durch den Göttinger Medizinprofessor Johann Andreas Murray, den Ökonomieprofessor Johann Beckmann und seinen Gothaer Förderer, den Oberkonsistorialrat Emanuel Christoph Klüpfel zu der Untersuchung angeregt worden sei. 34 Sehr systematisch teilte er seine Betrachtung nach einem umfassenden Literaturbericht zunächst in eine detaillierte Beschreibung der äußeren Erscheinung des Hamsters und in eine umfassende anatomische Darstellung, die in vielem weit über den damaligen Kenntnissstand hinausging - für deren Erstellung aber auch gut 20 Hamster dem anatomisch geschulten Skalpell 28 Ebd., hier S. 9. Beide Ausgaben finden sich auch noch in der Literaturliste Feldhamsterschutz. 29 Zur Biographie und Familie, ebd., S. 135ff. 30 Ebd., S. 148. 31 Ebd., S. 142f., auch S ULZER , Versuch einer Naturgeschichte des Hamsters (wie Anm. 26), S. 177 und S. 205, der dort die Fangzahlen für die Jahre 1768/69 und 1771/72 angibt. 32 P ETZSCH /S ULZER (wie Anm. 27), S. 150. Kurz nach der Rückkehr von seiner Studienreise war er zudem in Gotha mit einer Denkschrift Über die Förderung der Vieharzeneikunst in den Gotha-Altenburgischen Landen vorstellig geworden. Text bei P ETZSCH /S ULZER (wie Anm. 27), S. 169ff. 1776 hatte er weiterhin noch eine kleine Untersuchung über die Rinderpest im Hannoverschen vorgelegt. P ETZSCH /S ULZER , Ebd., S. 148, gibt als Titel, den er selbst noch nicht eingesehen habe, an: Beschreibung der Hannoverschen Epidemie, nebst Warnung gegen die Lentinischen Pulver. Eine anonym herausgegebene Schrift läßt sich unter dem Titel: Beytrag zur Geschichte der Rindviehseuche im Hannöverischen, Nebst zween Briefen über die Lentinischen Pulver. Altenburg 1776, ermitteln. Nach dem S. 3f. vorgestellten Billet an die Verleger stammen die beiden Briefe von einem anderen Autoren. Der dort ebenfalls erwähnte Erstabdruck der Beschreibung der Viehseuche in einem wenig bekannten Intelligenzblatt konnte nicht ermittelt werden. Nach der Sachlichkeit der Beobachtung in der Beschreibung sowie nach Tonfall der Sprache und dem Aufbau des Textes scheint diese Schrift tatsächlich von Sulzer zu stammen. 33 S ULZER , Versuch einer Naturgeschichte des Hamsters (wie Anm. 26), S. 3. 34 Ebd., S. 3f. dazu P ETZSCH /S ULZER (wie Anm. 27), S. 142ff.

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Sulzers zum Opfer fielen. 35 Erst dann folgen im dritten Teil die uns hier interessierenden Ausführungen über die Aufenthaltsorte und den Bau des Hamsters 36 und im vierten Abschnitt eine genaue, in vielem liebevolle und bis heute gültige Schilderung der Lebensart des Hamsters 37 sowie im sechsten Teil Die Wirtschaftskunst betreffende Anmerkungen über den Hamster. 38 Während Sulzer seine Kenntnisse über die Anatomie der Hamster und ihre Erscheinungsformen selbst erarbeiten konnte, war er bei der Beschreibung ihrer Lebensumstände auf den Feldern nicht nur auf eigene Beobachtung, sondern auch auf Expertenwissen der Hamsterfänger angewiesen. 39 Zu Sulzers Zeiten wurden von ihnen jährlich zwischen 25.000 und 30.000 Hamster getötet und auf dem Rathaus von Gotha vorgelegt, um die Belohnung von einem Pfennig für ein Jungtier und zwei Pfennig für einen alten Hamster zu verdienen. Diese Hamsterfänger oder Hamstergräber, wie Sulzer sie nennt, bestritten mit dem Ausnehmen der Hamsterbaue und dem Fangen und Töten der Tiere einen Teil ihres Lebensunterhaltes. Als Spezialisten vermittelten sie ihm genaue Informationen über den Hamster im Feld und mit welchen Tricks es ihnen schließlich gelang, den Hamstern „das Fell über die Ohren zu ziehen“. Nicht von ungefähr kam Sulzer zu dem Schluß, daß, neben den natürlichen Feinden wie Hunden, Füchsen, Raubvögeln und dem Iltis, vor allem der Mensch der größte Feind des Hamsters sei, der ihm jedes Jahr zu Tausenden den Garaus mache. 40 Eine ansehnliche Verminderung der Hamster im Gothaischen Gebiet zwischen 1721 und 1769 erklärte sich für Sulzer aus dem Erfolg verschiedener fürstlicher Verordnungen und Verordnungen des Rates, in denen die für die Hamsterfänger so verlockenden Prämien für die Tötung von Hamstern ausgesetzt worden waren. 41 Hamstergräber: 42 dieses sind Tagelöhner, Soldaten oder andere dergleichen Leute, welche aber, wie man sich leicht vorstellen kann, nicht blos aus Liebe zum Vaterland, sondern ihres eigenen Vortheils wegen, diesen Thieren nachstellen. Vom März bis zum Johannistag (24. Juni) gruben sie die Hamster nur wegen ihrer Felle aus, da die Winterpelze der sogenannten Maihamster das feinere und begehrtere Fell haben. Die Felle wurden auf dem Rathaus vorgelegt, um die Belohnung zu erhalten, damit aber dergleichen Felle nicht möchten zweymal 35 S ULZER , Versuch einer Naturgeschichte des Hamsters (wie Anm. 26), S. 87, Anm. h, erwähnt, einen Befund im Magen des Hamsters mehr als zwanzigmal gesehen zu haben. Auch die von ihm durchgeführte Autopsie eines lebenden, in den Winterschlaf gefallenen Hamsters, S. 169ff., weist schon auf die steile Karriere des Goldhamsters als pflegeleichtes und besonders preiswertes Versuchstier im 20. Jahrhundert voraus. Zum Goldhamster als medizinischem Versuchstier in heutigen Laboren vgl. S TRICKER , Ein Beitrag zur tiergerechten Haltung des Hamsters (wie Anm. 14), S. 96-103. 36 S ULZER , Versuch einer Naturgeschichte des Hamsters (wie Anm. 26), S. 105-123. 37 Ebd., S. 124-161. 38 Ebd., S. 176-198. 39 Z.B. ebd., S. 111ff. oder S. 142. 40 Ebd., S. 154. 41 Ebd., S. 185ff. So waren 1721 noch 54.429 Hamster in Gotha und 25.707 auf den benachbarten Dörfern getötet und abgeliefert worden, während es 1769 in Gotha nur noch 27.574 waren. 42 Im Folgenden ebd., S. 186-189.

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gebracht werden, so bedient man sich der Vorsicht, daß die Schwänze davon zurückbehalten und weggeworfen werden, den übrigen Balg aber dürfen sie wieder mitnehmen, und weiterverkaufen. Dem ohngeachtet haben sich unter diesen Leuten einige gefunden, welche unverschämt genug waren, die abgeschnittenen Schwänze aufzusuchen, solche durch einen Faden wieder an die Bälge zu heften, und sich diese auf solche Art nochmals bezahlen zu lassen. Der Betrug wurde jedoch entdeckt und bestraft. Dieser Betrugsversuch ist ein weiterer Hinweis darauf, daß die Hamsterfänger sicherlich zu den Ärmsten der ländlichen Unterschichten zu rechnen sind, da sie einen nicht geringen Aufwand für einen Betrug betrieben, der ihnen bestenfalls einige Pfennige oder Groschen einbringen konnte. Die Hamstergräber durften bis zum Johannistag sogar in der bereits aufgegangenen Saat graben, mußten dann jedoch die Löcher wieder zufüllen. Bis zum Beginn der Ernte war es ihnen dann nicht mehr gestattet, in den Feldern nach Hamstern zu graben, die in dieser Schonzeit ungestört ihrer Vermehrung und ihrer Vorratsbildung nachgehen konnten. Aber die Ruhepause währte meist nicht lange. So bald man aber anfängt die ersten Früchte zu schneiden, so sind diese Leute gleich bey der Hand, und holen die Hamster nebst ihren Jungen und dem eingesammelten Getraide. Solange nur die Winterfelder geschnitten wurden, war der Ertrag an Getreide in den Hamsterhöhlen aber eher gering, so daß man sich vor allem auf die Jagd der jetzt äußerst zahlreichen Jungtiere verlegte. So berichtet Sulzer weiter: Ich habe selbst gesehen, daß ein einziger Mann in einem Tage 120, sowohl Alte als Junge gefangen hat, ich muß aber sagen, daß er in diesem Geschäfte überaus geschickt war, und es denen mehrsten, die sich zum Theil davon nähren, nicht so gelingt, denn es ist nicht nur das Graben selbst sehr mühsam, sondern es wird auch eine Übung dazu erfordert, theils nicht mehr zu graben, als es nöthig ist, und durch die wenigste Arbeit, was man sucht zu erlangen, theils gleich Anfangs zu beurtheilen, ob es sich der Mühe lohne, den Bau, den man vor sich hat auszugraben oder nicht, darin es dieser so weit gebracht hatte, daß er oft die Anzahl der Jungen, ehe er anfieng zu graben, ohne sich merklich zu irren, bestimmen konnte. Den Hamstergräbern stand neben der Fangprämie auch die Verwertung des Getreidevorrates in der Hamsterhöhle zu: Der ausgegrabene Waizen und Korn wird von den Hamstergräbern geschwingt, gewaschen, und nachdem es trocken geworden ist, gemahlen, und daraus Brod und Backwerk gemacht, welches eben so gut schmeckt, und ihnen eben so wohl bekommt als anderes. Ein Vorrat an Wintergetreide umfaßte selten mehr als ein oder zwei Mäsgen, (welches vier bis acht Pfund [ca. 1,9 3,8 kg] ausmacht). 43 Sehr viel ertragreicher war es, ein Nest nach der Aberntung des Sommergetreides auszuheben, fand man doch nicht selten zwo bis drey Metzen [ca. 15-22,5 kg] Frucht, besonders bei denen, die um Michaelis gegraben werden, denn die Hamster lesen die übriggebliebenen und ausgefallenen Körner sehr fleißig auf und fangen nicht leicht eher an, ihren Vorrath anzugreifen, als bis das schlechte Wetter sie nöthigt, ihren Bau zu verstoffen, und nicht mehr herauszugehn. 44 Selbst bis zum ersten Schneefall wurde noch weiter nach Hamstern und ihrem Getreidevorrat gegraben, der dann vor allem aus Gerste, Hafer, Leinknotten, Erbsen, Bohnen, und was dergleichen mehr ist, welche sehr wohl, um Schweine und 43 44

Ebd., S. 189. Ebd., zu den Mengen auch S. 117.

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Federvieh damit zu mästen, gebraucht werden. Man kauft solches Getraide fast für die Hälfte des Preises, womit es auf dem Markt bezahlt wird. 45 Hamstergräber benötigten eine spezielle Ausrüstung, bestehend aus einem Sack für die Beute, einem Spaten oder Grabscheit zum Graben und einem besondern hierzu gemachten Werkzeuges, welches zugleich die Dienste eines Suchers und Krätzers leistet.. 46 Hamstergräber, die sich dieses Spezialwerkzeuges bedienten, waren Spezialisten mit einer erheblichen Erfahrung im Umgang mit ihrer Beute. Dieses Stäbchen stößt man in den Gang, den man angefangen hat zu graben, und forscht damit, wohin er sich lenkt, ob er sich theile, und wenn er verstopft ist zieht man mit dem Häckchen etwas von der Erde heraus, besieht sich dieselbe, ob sie mit Spreu untermischt ist, und folgt diesem Leitfaden, bis man das Nest oder die Kammern erreicht hat; wenn man den Hamster zu sehen bekommt, so zieht man ihn mit dem Häckchen aus dem Loche, und tödtet ihn. 47 Erfahrene Hamstergräber erkannten Hamsterlöcher auf dem Feld schon aus der Ferne an den dabei befindlichen Erdhaufen und konnten sagen, ob der Bau bewohnt war und welche Beute sie zu erwarten hatten. 48 Ein kleiner Erdhaufen, enge und wenig voneinander entfernte Löcher verrathen ein junges Thierchen, dessen Aufgrabung weder viel Frucht, noch einen brauchbaren Pelz liefern würde, auch bekämen sie auf dem Rathause nur einen Pfennig dafür, ein solches bleibt also unberührt; es mag leben bis es groß wird, und etwas einträgt. Hat aber ein Bau 4, 5, und mehr Falllöcher, davon eins recht wohl belaufen ist, die andern, obwohl sie nicht so glatt, doch nicht verfallen sind, da weiß man, daß darin eine Alte mit Jungen, die noch nicht herausgelaufen sind, zu finden ist; je mehr Falllöcher da sind, desto mehr Junge sind zu vermuthen. Hier wird gegraben, denn es sind doch soviel Pfennige als Junge zu hoffen, und noch außerdem zween für die Mutter zu bekommen, da ist es also eher der Mühe werth. Zumeist mußte man jedoch auf die Mutter verzichten, da sie sich durch Eingraben dem Fang entzog. Es scheint sogar strategisch günstiger gewesen zu sein, die zusätzliche Mühe - ihr nachzusetzen - nicht auf sich zu nehmen, denn so hatte man den Vortheil, das sie dasselbe oder das folgende Jahr eine neue Brut liefert. Auch das Auffinden besonders ertragreicher alter männlicher Tiere erforderte strategisches Vorgehen: Findet man aber einen sehr großen Erdhaufen, der mit vieler Spreu und Hülsen vermischt ist, und in einer Entfernung von sechs oder mehrern Füssen davon ein weites wohlbegangenes Fallloch; über einen solchen Bau freuet sich der Hamstergräber und öffnet ihn voll Begierde und Hoffnung, er ist versichert, daß darin ein alter Ramler mit vielen eingetragenen Körnern ihm werde zur Beute werden. Die Freude ist verständlich, gibt Sulzer doch den Wert eines Malters Korn bestehend aus 16 Metzen bei itzigem geringen Fruchtpreis mit 2 Talern an. 49 Der Inhalt der Höhle hatte damit einen deutlich höheren Wert als die Fangprämie Ebd., S. 189. Ebd., S. 190. Es ist nämlich ein eisernes ohngefähr anderthalb Schuh langes Stäbchen, welches sich oben in eine krumgebogene Spitze endigt, sein unteres Ende ist ebenfalls umgebogen, aber es ist breit, fast wie ein Gänsefus oder wie eine Scharre, deren sich die Schlotfeger bediene, welche vorne zween Zoll breit und dünne ist, von da an nach dem Stäbchen zu wird es dicker und schmäler; und ist eben so lang als es breit ist. 47 Ebd., S. 190f. 48 Im Folgenden ebd., S. 191-193. 49 Ebd., S. 178. 45 46

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für das Tier. Der Hamstergräber gräbt das Loch geschwinde auf und nachdem er die Vorrathskammern gefunden, leert er eine nach der andern aus, und füllt damit seinen Sack; wenn es um die Mitte des Herbstes ist, und der Besitzer eines solchen Baues nicht von selbst findet, so ist man darüber nicht in Kummer, sondern läßt ihn ohne weiter nachzusuchen, leben, denn nach vier Wochen kann man ihn zum zweytenmal graben, und wiederum eben so reichlich dabey erndten. 50 Das Verhältnis Mensch-Hamster erscheint in Sulzers Bericht so fast unter umgekehrten Vorzeichen. Nicht die Hamster sind die Räuber - die Hamsterfänger sind es, die dem Hamster nicht nur sein Leben, sondern auch seine Vorräte nehmen. Ziel der über Jahrzehnte professionalisierten Hamstergräber war weniger - wie herrschaftlich verordnet - die Bekämpfung einer Ungezieferplage als vielmehr die Sicherung des eigenen Lebensunterhaltes. Und dies bedeutete auch, daß man genug Hamster am Leben lassen mußte, so daß man in dem folgenden Jahr noch einer einträglichen Hamsterjagd nachgehen konnte. Sulzer bemerkt dazu: Solche und dergleichen kleine Vortheile mehr kann man bey diesen Leuten nicht verhindern, indem man darüber nicht genugsame Auffsicht haben kann, und wenn man es alzugenau nehmen wollte, würden sie sich mit einer Arbeit, die ihnen nicht so einträglich wäre, gar nicht mehr beschäftigen; die Folge davon würde seyn, daß die Hamster in kurzer Zeit dergestalt überhand nehmen würden, daß man sich ihrer nicht mehr erwehren könte. 51 Um einzuschätzen, welchen Schaden die Feldhamster in Gotha anrichten, stellte Sulzer für das Jahr Michaelis 1768 bis Michaelis 1769 eine Musterrechnung auf. 52 Basierend auf 6.629 gefangenen alten Tieren, denen er jeweils nur eine Metze Getreide (ca. 7,5 kg) als Beute zur Last legt, errechnet er einen Schaden von 1.667 Rthlr 6 gl. Als Ertrag aus dem Verkauf ihrer Felle könne man bestenfalls 221 Rthlr erlösen. ... folglich ist das geringste Verhältniß, das man zwischen dem Nutzen und Schaden dieser Thiere gelten lassen kann, wie eins zu vieren, mithin sind vier Gründe davor, sie auszurotten, gegen einen, ihrer zu schonen. 53 Daß die Rechnung hinkt, da ja gerade das Getreide aus den Bauen der getöteten Tiere wieder in den Wirtschaftskreislauf zurückkehrte, daß Prämien und Fellverkauf einer Reihe von sozial Schlechtergestellten zum Überleben halfen, ferner die Hamster auch abgefallenes Getreide aufklaubten, was sonst verloren gewesen wäre, sei dahingestellt und müßte auch Sulzer klar gewesen sein. Auf der Einnahmeseite verbucht er jedoch lediglich die Verwendung von Hamsterfellen zum Füttern von Mänteln. Diese sei aber nicht so einträglich, wie er es sich wünschen würde. Zwar könnte man einen Mantel für fünf Taler mit Hamsterfellen füttern, allein diese Art von heimischem Pelzwerk, obwohl der auswärtigen Konkurrenz qualitativ mindestens ebenbürtig, sei nicht sehr geachtet. Lieber gäbe man das Zehnfache für importierten Pelz aus. 54 Der einzige tatsächliche Vorteil, den er zugunsten des Hamsters sieht, besteht darin, daß dieser die Feldmäuse frißt, die teilweise einen noch größeren Schaden 50 51 52 53 54

Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,

S. S. S. S. S.

192. 192f. 177ff. 178. 181ff.

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anrichteten. 55 Der Nutzen, den man von dem Hamster zieht, ist also zu geringe, und der Schaden, den er dem Landwirth zufügt, zu wichtig, um nicht auf seine Ausrottung bedacht zu seyn. Und ob man es gleich schon seit langer Zeit willens gewesen ist, so hat es doch noch nicht dahin gebracht werden können, sich dessen zu befreyen. 56 Doch auch Sulzer stellt sich - sicher ganz im Interesse der Hamstergräber - dem Thema der Ausrottung nur halbherzig: Das bloße Ausgraben der Hamster ist hierzu gewiß nicht hinlänglich, da es mit den beschriebenen Unvollkommenheiten verbunden ist. Ich gestehe es, diese Thiere haben mir viel Vergnügen bey ihrer Untersuchung gemacht, und ich habe eine zu große Menge derselben deswegen aufgeopfert, als daß ich auf die Mittel sie zu vertilgen, weiter nachsinnen Lust gehabt haben sollte. 57 Der Einsatz von Gift (er nennt Krähenaugen und bittere Mandeln) sei zwar möglich, würde aber auch andere Tiere in Mitleidenschaft ziehen und entschieden zu aufwendig sein, wolle man alle Tiere der Gegend töten. Vergiftete Brotkugeln, in Hamsterlöcher geworfen, seien eine einigermaßen zielgerichtete Alternative. Das Austränken, d.h. das Fluten der Baue, sei auf den Gartenbereich zu beschränken, da man eine zu große Menge Wasser benötige. Auch Fallen in Form von eingegrabenen Töpfen, die durch einen herunterfallenden Deckel verschlossen würden, bzw. gewöhnliche große Rattenfallen seien zum Einsatz geeignet. 58 In der Bekämpfung der Hamster zeigten sich in den 1820er Jahren die Königlich Hannoversche Provinzialregierung und ihr nachfolgend die Landdrostei Hildesheim sehr viel entschlossener. Sulzer hatte in einem Nachtrag noch bemerkt, daß sich die Hamster auch in dem mehr nördlichen Deutschland ausgebreitet haben, wie es mir wenigstens von der Gegend um Bremen bekannt ist, auch dürfen sich einige in Ostfriesland finden. 59 1822 hatten sie im hildesheimischen Amt Steuerwald dermaßen überhand genommen, daß sich der dortige Amtmann im September an die Provinzialregierung wandte: 60 Die Hamster, wovon alte glaubwürdige Leute bezeugten, daß sie vor 50 Jahren den Boden diesseits der Elbe noch nicht berührt hätten, haben sich seit den letzten 10 Jahren so gemehret, daß sie eine der größten Landplagen zu werden drohen. Im Gegensatz zu den anderen Schädlingen sei das Gezücht der Hamster überaus witterungsbeständig. Selbst in den Feldmarken, wo man auf ihre Vernichtung hingearbeitet habe, sei kaum ein Erfolg zu bemerken gewesen. Auf einzelnen Morgen habe man sogar sechs bis zehn Tiere gefangen. Erwägt man, daß ein Hamster für seinen Winter=Haushalt wenigstens 1/3 Himten [ca. 10,4 l]einschart (man findet manche Löcher die über 1/2 Himten [ca. 15,6 l] halten) und sich vorzüglich Weitzen und Bohnen dazu wählt, so ergiebt sich daraus die Gefahr einer Plünderung für jeden einzelnen ackerbauenden Unterthan, die uns eine allgemeine polizeiliche Maßregel zu ihrer Abwehrung zu erfordern scheint. Dem Amt Steuerwald war bereits die Ebd., S. 180. Ebd., S. 185. 57 Ebd., S. 195. 58 Ebd., S. 195-198. 59 Ebd., S. 204. 60 HStA Hannover Hann. 80 Hildesheim L Nr. 238, alle im Folgenden zitierten Schreiben aus dieser Akte; hier der Bericht des Amtes Steuerwald vom 14. September 1822. 55 56

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Problematik der Hamstergräber bekannt: Ihnen sei es nicht um Vertilgung der Hamster, sondern um den Genuß der von denselben zusammengescharrten Früchten zuthun gewesen, je mehr sie sich geübt haben diese Höhlen leicht zu entdecken und ihr Einkommen aus dieser Hamsterhöhlenzersthörung zu vermehren, desto mehr haben sie einsehen gelernt, daß die Hamster ihnen nützten und haben statt auf ihre Vertilgung bedacht zu seyn, deren Leben kläglich verschont. Aus diesem Befund heraus war man konsequenter als in Gotha: Die jedermann frei zugängliche Hamsterjagd wurde untersagt, dagegen sind bestimmte Leute bestellt, die für jeden Hamster, welchen sie dem Ortsvorsteher bringen und wovon sie nachweisen, daß er auf der Feldmark gefangen ist, außer dem Schatze der Hamsterhöhle enthält, nach Maßgabe ob es ein junger oder alter ist, 4 oder 8 d Belohnung erhalten. Keiner darf sich aber unterstehen, ein Hamsterloch auszugraben, aus welchem kein Hamster gebracht ist, alles dieses bei Verluste der Erlaubniß zur Hamsterjagd. Da die Maßnahmen Erfolg zeigten, bat man nun seitens des Amtes Steuerwald darum, diese auch auf die benachbarten Ämter auszudehnen. Die Provinzialregierung wandte sich daraufhin an die umliegenden hildesheimischen Ämter Calenberg, Coldingen, Ruthe, Hildesheim, Marienburg, Poppenburg, Wohldenberg, Wennigsen und Gronau und verfügte bezugnehmend auf das Schreiben aus Steuerwald, 61 daß man jetzt mit vereinten Kräften und von allen Seiten gleichzeitig gegen die Landplage vorgehen wolle. Den Ämtern wurde das Schreiben aus Steuerwald – auch hinsichtlich der etwas anders gelagerten Prioritäten der Hamstergräber – referiert. Sie wurden angewiesen in den Gemeinden, wo es Not täte, nach dem Steuerwalder Beispiel vorzugehen und Hamsterjäger anzustellen. Sollten die Fangprämien nicht aus der Gemeindekasse bestritten werden können, so könnten sämtliche Landwirthe in der Gemeinde, welche dabey interessiert sind, nach Verhältnis ihrer Besitzungen den nöthigen fond dazu zusammenschießen. Alternativ dazu seien die Bauern zur Ablieferung einer bestimmten Zahl von Hamstern zu verpflichten. Die Besitzer oder Pächter von Gütern, Domänen oder Klostergütern seinen durch das Amt von den zur Vertilgung der Hamster getroffenen Maßregeln zu unterrichten. Die Antworten der Ämter fielen unterschiedlich aus. Im Amt Hildesheim war man bereits auf eigene Faust tätig geworden. 62 Bei Hamsterjagden, bei denen ebenfalls vier bzw. acht Pfennige Prämie aus den Gemeindekassen gezahlt worden waren, hatte man bis zum 22. Dezember des Jahres 7.995 Hamster zur Strecke gebracht. Man unterbreitete den Vorschlag, vor allem im Frühjahr mit einer intensivierten Jagd fortzufahren, da die dann bereits getöteten Hamster im späteren Frühjahr und im Sommer keine Jungen mehr werfen könnten. Zu diesem Zweck, so der Vorschlag des Amtes Hildesheim, solle man jedes Gemeindemitglied dazu verpflichten, auf je drei Morgen einen toten Hamster abzuliefern. Geschehe dies nicht, so sei jeweils ein Mariengroschen Strafe zu zahlen, wofür dann Leute bestellt und diesen das Gezahlte als 61 Hann. 80 Hildesheim L Nr. 238, Konzept des Reskripts der Königlichen Provinzialregierung vom 27. September 1822. 62 Hann. 80 Hildesheim L Nr. 238, Berichte und Schreiben des Amtes Hildesheim vom 18. Oktober, 26. Oktober und 22. Dezember 1822.

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Remuneration für die abzuliefernden Stücke gegeben werde, hierdurch würden dann manche sich auf den Fang verlegen, und sich besondere Geschicklichkeit hierin erwerben, wodurch die Zahl dieser wahren Landplage gewiß bald so vermindert werde, daß bey jährlicher Fortsetzung des Fanges am Ende eine gänzliche Ausrottung zu hoffen sey. 63 Anders als in Gotha wurde das Ziel hier klar formuliert und auch die Maßnahmen zielten darauf, möglichst viele Hamster zur Strecke zu bringen und ihre Vermehrung wirksam zu unterbinden. Das Amt Steuerwald erläuterte Ende Januar 1823 die Ergebnisse der Jagd des Vorjahres. 64 In 28 Gemeinden hatte man insgesamt 9.597 Hamster getötet. Bereits am 19. Oktober waren alle Ortsvorsteher der Amtsgemeinden zur Beratung der Hamsterfrage zusammengekommen. Alle Ackerbesitzer waren von der Notwendigkeit der Jagd überzeugt und auch die Gutsbesitzer wollten sich jetzt der Hamsterjagd ernstlich annehmen. Die Ortsvorsteher drängten aber auf eine differenzierte Lösung. 65 Eine Normalzahl solle zwar festgesetzt werden. Jeder, der weniger liefere, sei auch zu einer Zahlung zu verpflichten, jedem, der mehr liefere, solle aus diesen Strafgebühren pro Stück eine Belohnung in doppelter Höhe der Strafe ausgezahlt werden. Zudem sei jeder für die Hamsterverfolgung auf seinem eigenen Grund und Boden zuständig. Die Ortsvorsteher hätten nur die Aufsicht und Nachweisung über die gefangenen Hamster auf ihren Diensteid zu führen. Da die Hamster auch abhängig von der Qualität des Bodens nur in sehr unterschiedlicher Zahl vorkämen, könne man nicht zentral die Zahl der pro Morgen abzuliefernden Hamster festlegen. Vielmehr sollten die Ortsvorsteher und die Feldgeschworenen bei einer Feldbegehung die abzuliefernde Zahl nach Augenschein für die jeweilige Gemeinde festsetzen. Andernfalls würde man denjenigen, der keine Hamster auf seinem Land habe, nur unnötig bestrafen. Mehrere Gemeinden hätten sich zudem für verschiedene hier beschriebene Vorgehensweisen entschieden. Das Amt Calenberg meldete der Provinzialregierung, 66 daß man bei der Bekämpfung der Hamster in den Bereichen des Amtes, in denen sie in großer Zahl aufgetaucht waren, gute Erfolge erzielt habe. Gerade in Rössing habe die Gemeinde erfolgreich eigene Hamstergräber angestellt. Das Amt Ruthe teilte mit, 67 daß die Ortschaften sehr großen Schaden durch die Hamster gelitten hätten, und sind die nach Maaßgabe des hohen Rescripts vom 27. Sept. veranstalteten Maßregeln von einem ganz außerordentlichen Erfolge gewesen. In den Dorfgemeinden ist jedem Einwohner nach Verhältniß seiner Besitzungen eine bestimmte Stückzahl zu liefern aufgegeben, und sind die über das bestimmte Quantum gelieferten Hamster resp. mit 4 und 8 d aus der Gemeinde=Cassen bezahlt. In den Sarstedter Feldmarken sind überhaupt 5 besondere Hamsterfänger angestellt gewesen, welche für jedes Stück 4 d aus der Cämmerey=Casse vergütet worden. Der Erfolg innerhalb kurzer Zeit konnte sich sehen lassen: Es sind im ganzen über 2000 Hamster im 63 Hann. 80 Hildesheim L Nr. 238, Bericht des Amtes Hildesheim vom 22. Dezember 1822. 64 Hann. 80 Hildesheim L Nr. 238, Bericht des Amtes Steuerwald vom 28. Januar 1823. 65 Hann. 80 Hildesheim L Nr. 238, Bericht des Amtes Steuerwald von einem Treffen mit den Ortsvorstehern vom 19. Oktober 1822. 66 Hann. 80 Hildesheim L Nr. 238, Bericht des Amtes Calenberg vom 29. Januar 1823. 67 Hann. 80 Hildesheim L Nr. 238, Bericht des Amtes Ruthe vom 18. Januar 1823.

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Amte, ohne die welche in den Ländereyen der hiesigen Amtsökonomie getötet, auf diese Weise vertilgt. In dem Amt Marienburg hatte es kaum Probleme mit Hamstern gegeben, nur wenige Tiere waren überhaupt vorgefunden und gleich gefangen und getötet worden. 68 Anders hatte es wieder im Amt Gronau ausgesehen. In der regelmäßig jeden Monat mit den Ortsvorstehern stattfindenden Sitzung 69 sei am 2. November auch die Hamsterfrage diskutiert worden. Aber nur vereinzelt waren in manchen Ortschaften überhaupt Hamster gesichtet, geschweige denn gefangen worden. Auch der Versuch für einen jungen Hamster 6 Pfennig und einen alten einen Guten Groschen auszusetzen, führte zu keinem greifbaren Ergebnis. Kein einziger Hamster wurde eingeliefert. Gleichwohl dachte man an die mögliche Höhe der Ausgaben im nächsten Jahr: Sollte der dafür verausgabende Geldbetrag beträchtlich seyn, so würde man diese Vergütung, nach Befinden der Umstände herabsetzen und die dafür aus den Gemeindecassen zu zahlende Summe von allen Grundeigenthümern nach Morgenzahl des Ackerlandes, oder allenfalls selbst nach dem Fuße der Grundsteuer, aufbringen lassen können. Trotz mangelnder Erfolge berichtete man weiter, daß das Ausgießen der Höhlen mit Wasser das erfolgreichste Verfahren sei, wodurch der Hamster solche zu verlassen genöthigt wird um immer erst in einem betäubten Zustande hervorzukommen pflegt, daher derselbe alsdann leicht zu tödten ist, und bei einiger Achtsamkeit des Nachstellens nicht entkommen kann. Die Effektivität fand aber ihre natürlichen Grenzen, da es wegen der Menge dazu verwendeten Wassers und der Schwierigkeit des Herbeyschaffens desselben, in den von Flüßen und fließenden Bächen entfernten Feldmarken kaum anwendbar sei. Es bleibe nur das Nachgraben und das Aufstellen von Fallen. Im Amt Coldingen 70 waren nur drei von elf Feldmarken von Hamstern heimgesucht worden. Besonders der Pächter der hiesigen Domaine der Oberamtmann Wahnschaffe [hatte] sich die Vertilgung der Hamster ganz besonders angelegen seyn lassen. In den betroffenen Feldmarken zahlten die Ortsvorsteher für jeden Hamster eine Fangprämie. Da man Ende September nicht mehr zwischen jungen und alten Hamstern unterscheiden konnte, wurde jedes Tier mit einen Mariengroschen abgegolten. Das Geld wurde in den Gemeinden nach dem Grundsteuerfuß aufgebracht. Im Amt Wohldenberg war man schon seit dem August 1820 in den betroffenen Gemeinden zur Vertilgung der Hamster geschritten und konnte für 1821 176 Stück als getötet melden. Die Belohnungen waren aus den Gemeindekassen gezahlt und von den Gemeindemitgliedern nach dem Verhältnis der Morgenzahl wieder eingezogen worden. Zum weiteren Vorgehen empfahl man das Fangen der alten Hamster im Frühjahr mit einer Topffalle, da dies Schäden auf den Äckern minimiere und die Brut zugleich vernichtet wird. 71 Im Amt Poppenburg ließen sich fast keine Hamster

68 Hann. 80 Hildesheim L Nr. 238, Bericht des Amtes Marienburg vom 11. Januar 1823. 69 Hann. 80 Hildesheim L Nr. 238, Bericht des Amtes Gronau vom 1. März 1823. 70 Hann. 80 Hildesheim L Nr. 238, Bericht des Amtes Coldingen vom 31. Januar 1823. 71 Hann. 80 Hildesheim L Nr. 238, Bericht des Amtes Wohldenberg vom 30. Januar 1823.

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nachweisen 72 und im Amt Wennigsen waren es eher die Feldmäuse, die 1821 zu einer wahren Plage geworden waren. Ihre Vertilgung wurde daher gleich mit eingeschlossen. Nur in fünf Ortschaften wurden wie angeordnet hauptamtliche Hamsterfänger bestellt. In den anderen Ortschaften wurden die Bewohner instruiert, beim Auftauchen von Hamstern sofort tätig zu werden. In der Vogtey Ronnenberg sind an mehreren Orten bereits die Hamster in größerer Zahl angetroffen, namentlich in Ronnenberg, Empelde und Wettbergen, in geringer Anzahl auch in den Ortschaften Bornum und Ricklingen, dagegen sind in Badenstedt noch gar keine Hamster gesehen. In erstgenanntem Orte hat sich kein Hamsterfänger finden lassen und allein deshalb sind gemeinschaftliche Jagden an dazu bestimmten Tagen angestellt und auf diese Art auch die Hamster in bedeutender Anzahl getödtet. Als wirksamste Vorgehensweise erwies sich erneut, daß die Löcher voll Wasser gegossen, dadurch die Hamster heraußgejagd und so dann getödtet sind. In Empelde und Wettbergen hatte man nach Instruktion der Provinzialregierung eigene Hamsterfänger angestellt. In Bornum und Ricklingen haben sich bislang nur in den Gärten, nicht aber in den Feldmarken, diese schädlichen Tiere gezeigt, und sind daselbst sogleich eingefangen. 73 Die Inangriffnahme der Hamstervertilgung seitens der hannoverschen Provinzialregierung zeigt zunächst, daß ein effektives Vorgehen nur im Zusammenspiel der verschiedenen Ämter möglich war. Hierbei ist zu beobachten, daß die Provinzialregierung zwar zentral einen Vorschlag anordnen konnte, den Ämtern vor Ort aber freigestellt werden mußte, ihn den dortigen Gegebenheiten anzupassen. Als weiterer Einflußfaktor erscheinen auf der Amtsebene die Untertanen in Form der Ortsvorsteher, die wiederum die Interessen der Feldgeschworenen und der Gemeindemitglieder in das Vorgehen miteinbrachten. Hier standen vor allem die Fragen der gerechten Gleichbehandlung der Bauern und der Finanzierung der Fangprämien im Vordergrund. Die Motivation zur Verfolgung der Hamster scheint eher unterschiedlich ausgeprägt gewesen zu sein. Sah man sie mancherorts tatsächlich als Bedrohung, der man auch ohne Prämie beikommen wollte, war es anderenorts erst eine akzeptable Prämienhöhe, die die Hamsterjäger überhaupt zum Spaten greifen ließ. Die Autorität der königlichen Verwaltung reichte offensichtlich noch nicht aus, ein Vorgehen, das eigentlich im Interesse aller Bauern sein mußte, auch tatsächlich durchzusetzen. Vielmehr entstand erst im Gespräch der Amtsvertreter mit den Ortsvorstehern ein Konsens zwischen Obrigkeit und Landbevölkerung, der dann in die Praxis umgesetzt wurde. Da die Bekämpfung der Hamster, bei der unterschiedliche Techniken präferiert wurden, auf dieser Basis bereits in einem vergleichsweise frühen Stadium ihres massenhaften Auftretens erfolgte, hatten sich offenbar nur im Amt Steuerwald bereits Gewohnheiten der Hamstergräber, wie wir sie aus Gotha kennen, in Ansätzen etabliert. In den Schriftwechseln ist kaum von dem Ausnehmen der Hamsterhöhlen und gar nicht von der Verwertung der Felle die Rede. Da man bereit war, deutlich höhere Prämien als in Gotha zu zahlen, mag die Geldprämie ein 72 Hann. 80 Hildesheim L Nr. 238, Bericht des Amtes Poppenburg vom 19. Januar 1823. 73 Hann. 80 Hildesheim L Nr. 238, Bericht des Amtes Wennigsen vom 18. Januar 1823.

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höherer Anreiz für die Jagd als die Verwertung der Beute gewesen sein. Möglicherweise sahen die Amtmänner auch nur über solche Formen der weiteren Verwertung hinweg, solange man ihnen akzeptable Erfolgszahlen lieferte, die sie der vorgesetzten Behörde melden konnten. Am 29. März 1823 wurden die Ämter noch einmal von der Königlichen Provinzialregierung angeschrieben, 74 bevor die Angelegenheit im Sommer an die neu eingerichtete Landdrostei Hildesheim überging. Man zeigte sich erfreut, daß die getroffenen Anordnungen zügig zur Ausführung gelangt seien und sich die darin gesetzten Erwartungen erfüllt hatten. Trotzdem dürfe man nun nicht in den Anstrengungen nachlassen, da ein vollständiger Erfolg nur zu erreichen sei, wenn ferner mit vereinten Kräften dem Übel entgegen gearbeitet würde. Als erfolgversprechende Maßnahmen wurden die vom Amt Hildesheim vorgeschlagene Pflichtablieferung von Hamstern durch die Gemeinden befürwortet, ebenso wie die höheren Prämien im Frühjahr und eine besondere Achtsamkeit auch in den Ämtern, in denen sich bisher noch keine Hamster gezeigt hätten. Das Amt Hildesheim litt nach wie vor unter den Hamstern. 75 13.627 Stück hatte man 1822/23 gefangen und man beabsichtigte, mit dem Einsetzen der Ernte den Fang erneut zu forcieren. Nochmals bat man um die Mithilfe der benachbarten Ämter, da aufgrund des Wanderns der Hamster sonst das eigene Bemühen fruchtlos sein würde. In Steuerwald schritt nach der Tötung von 7.491 Feldhamstern die Verbürokratisierung der Maßnahmen fort. 76 Man wollte im Frühjahr bei einer Feldbegehung den Stand an Hamsterlöchern schriftlich festhalten und den einzelnen Dorfbewohner anweisen, die Hamster auf seinem Lande binnen einer bestimmten Frist bei einer bestimmten Strafe zu vertilgen, worauf dann nach dem Verlauf der Frist von den Feldgeschworenen eine Revision angestellt und von jedem auf dessen Lande sich noch Hamster fänden, für jedes die bestimmte Strafe erlegt werden müßte. Zu beachten sei nur, daß die Verzeichnisse der Feldgeschworenen auch von allen Ackerbesitzern anerkannt würden. Bei der Revision sollten Strafen in Höhe von 4 ggl erhoben werden, teils zur Besorgung der ferneren Vertilgung der Löcher und ihre Bewohner, theils zur billigen Ermunterung in ihren Geschäften überwiesen würden. Erkennt man in dem Vorschlag eher den verordnungsgläubigen Juristen, so zeigt der Vertreter der Landdrostei hier mehr praktische Lebenserfahrung. Er lehnte diesen Vorschlag mit der Begründung ab, weil theils eine solche Maaßregel leicht zu Streitigkeiten führen könnte; theils auch weil der Hamster nicht stets an dem selben Orte bleibt. 77

74 Hann. 80 Hildesheim L Nr. 238, Konzept eines Reskripts der Königlichen Provinzialregierung vom 29. März 1823. 75 Hann. 80 Hildesheim L Nr. 238, Bericht des Amtes Hildesheim vom 27. Juni 1823 mit beiliegender Liste der in den verschiedenen Gemeinden getöteten Tiere. 76 Hann. 80 Hildesheim L Nr. 238, Bericht des Amtes Steuerwald vom 11. Juli 1823 mit einem Verzeichnis von der Vertilgung der Hamster. 77 Hann. 80 Hildesheim L Nr. 238, Konzept eines Schreibens der Landdrostei Hildesheim an das Amt Steuerwald vom 11. August 1823.

Grabendes Volk – Über den Umgang mit Feldhamstern

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Das Amt Gronau wandte sich nochmals dem Problem der Kosten zu. 78 Hatte das Amt zusammen mit der Stadt Gronau für die ausgesetzte Prämie von einem Guten Groschen für einen alten und 6 Pfennig für einen jungen Hamster keinen Erfolg erzielen können, so brachte eine Erhöhung der Prämien auf 4 Gute Groschen für einen im Frühjahr gefangenen Hamster und 2 Gute Groschen für einen im Herbst gefangenen Hamster einen so guten Erfolg, daß die Belohnungen für die Einlieferung eines Hamsters bereits in diesem Frühjahre und sehr bald nach Einlieferung der ersten Hamster von 4 ggl auf 2 ggl dann auf 1 ggl und zuletzt auf 8 d herabgesetzt werden konnte, ohne eine Störung des guten Fortgangs dieser Sache fürchten zu dürfen. Offenbar hatte erst eine bestimmte Prämienhöhe die Bereitschaft zum Fang ausgelöst und eine fortschreitende Erfahrung, möglicherweise auch die Vermehrung der Hamster im Sommer, lies das Hamsterjagen auch im Herbst noch zu deutlich niedrigeren Prämien lukrativ erscheinen. Aber genau bei der Frage der Finanzierung der Prämien sah man das Problem. Nach Auskunft des Magistrats hatte man selbst bei der Prämie von 8 Pfennig im Vormonat für 719 Stück insgesamt 41 Reichstaler 22 Gute Groschen auszahlen müssen. Der Magistrat bat daher um Amtshilfe. Eine außerordentliche Beihilfe der Grundbesitzer wurde erbeten. Man dachte an eine halbmonatliche Grundsteuer, deren Ertrag sich auf ca. 79 Rhtlr belaufen sollte. Das Amt befürwortete den Antrag, sei die Vertilgung der Hamster doch zum Besten aller Grundeigentümer, und unterbreitete ihn der Landdrostei. Diese stimmte zu, bewilligte aber zu diesem Zweck nur den halben Betrag einer monatlichen Grundsteuer. 79 Im Amt Wohldenberg fiel die Hamsterjagd im Jahr 1824 deutlich preiswerter aus. 80 1.204 Hamster hatten nur Kosten in Höhe von 19 Rthlr 21 ggl verursacht, wobei vier von sieben Gemeinden die Tiere unentgeltlich abgeliefert hatten und in zwei Gemeinden keine Tiere gefangen worden waren. Im Amt Hildesheim 81 sah man sich unvermindert der Plage gegenüber. Im Frühjahr 1824 waren bereits 3.164 Stück gefangen und abgeliefert worden. Man hatte die Gemeinden angewiesen, unvermindert in ihren Anstrengungen fortzufahren, und hoffen durch solche Maasreggel dieses schädliche Ungeziefer wo nicht gänzlich auszurotten, doch so zu vermindern, daß kein großer Schade zu befürchten stehet. Für die folgenden Jahre fehlen die Unterlagen. Mit Schreiben vom 20. September 1828 teilte das Amt Steuerwald dann in lakonischen Worten mit, auch im vergangenen Jahr habe man sich bemüht, die dem Ackerbau so schädlich werdenden Hamster möglichst auffangen und vertilgen lassen, und aus den von den Amtsvoigten erstatteten Berichten ersehen, daß die Hamster im Bezirke des hiesigen Amts gegen frühern Jahren sich bedeutend vermindert und sich weniger Spuren davon gezeigt haben, und zeigen hierbei ehrerbietigst noch an, daß im Jahre 1827 überhaupt Hann. 80 Hildesheim L Nr. 238, Bericht des Amtes Gronau vom 12. Juli 1823. Hann. 80 Hildesheim L Nr. 238, Konzept eines Schreibens der Landdrostei Hildesheim an das Amt Gronau vom 11. August 1823. 80 Hann. 80 Hildesheim L Nr. 238, Bericht des Amtes Wohldenberg vom 15. Januar 1824 mit einer beiliegenden Liste der in den neun Gemeinden getöteten Tiere. 81 Hann. 80 Hildesheim L Nr. 238, Bericht des Amtes Hildesheim vom 20. Dezember 1824 mit einer beiliegenden Liste der getöteten Tiere. 78 79

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246 Stück Hamster getödtet worden sind. 82 Der Kampf gegen die Hamster war somit erfolgreich zu einem vorläufigen Ende gebracht worden. Die Verpflichtung aller Bauern zur Vertilgung der Feldhamster sowie ein schwerpunktmäßiges Vorgehen im Frühjahr scheinen effektive Ansätze zur fast vollständigen Vertilgung der Hamster gewesen zu sein. Anders als in Gotha, wo offensichtlich die Professionalisierung der Hamsterjagd durch die Hamstergräber zu dem Erhalt einer Hamsterpopulation geführt hatte, von der man auch im jeweils folgenden Jahr sein Auskommen bestreiten konnte, hatte man in den hildesheimischen Ämtern die amtlich angeordnete fast vollständigen Ausrottung der Hamster durchsetzen können. Die soziale Umverteilungsfunktion, die die getöteten Hamster in Gotha erfüllt hatten, indem durch die Fangprämien, die Felle und besonders durch die Kornvorräte in den Hamsterhöhlen auch Teile der armen Landbevölkerung ihr Überleben sichern konnten, hatte in den hildesheimischen Ämtern – wenn überhaupt – nur kurz Bestand gehabt. Obwohl die Hildesheimer Ämter zunächst erfolgreich gewesen waren, trotzte der Feldhamster noch bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts allen Versuchen, ihn auszurotten. Selbst der seit Anfang des 20. Jahrhunderts stärker propagierte Einsatz von Gift - die Kaiserliche Biologische Anstalt für Land- und Forstwirtschaft empfahl 1905 den Einsatz von Schwefelkohlenstoff, 83 ihre Nachfolgerin 1920 zudem Räucherpatronen sowie das Sprengverfahren mit Romperit, 84 und in den fünfziger Jahren griff man im MainTaunus-Kreis zur Herz’schen Wühlmaus-Patrone und der Auslegung von Phostoxin-Tabletten - führte nur zu einer drastischen Reduzierung der Populationen. Erst die Intensivierung in der Landwirtschaft seit den fünfziger Jahren entzog dem Feldhamster letztlich seine Lebensgrundlage und ließ ihn zu einer vom Aussterben bedrohten Art werden. Die mit der Modernisierung und Technisierung der Landwirtschaft einhergehende Veränderung der Kulturlandschaft nahm dem Feldhamster pflanzliche und tierische Nahrung, Nist- und Brutmöglichkeiten sowie Deckung und Schutz vor Witterungseinflüssen. Der Anbau konzentrierte sich zunehmend auf wenige Feldfrüchte, die Art der Bewirtschaftung änderte sich. Hatte ein Feldhamster früher genug Zeit, von den abgeernteten Feldern noch ausreichend Körner für den Winter einzusammeln, wurde der Umbruch der abgeernteten Felder jetzt vorgezogen. Die Ernte dauerte damals mehrere Wochen und die Felder wurden erst im Spätherbst umgebrochen; jetzt ist es nur noch eine Frage von Tagen, bis ein Feld nach der Ernte wieder gepflügt wird. Die drastische Reduzierung des Anbaus von Feldfutterschlägen vernichtete zudem weite Flächen, die für eine mehrjährige Besiedelung durch Hamster optimal waren. Der Tod auf bundesdeutschen Straßen und der Einsatz moderner 82 Hann. 80 Hildesheim L Nr. 238, Bericht des Amtes Steuerwald-Marienburg vom 20. Januar 1828. 83 J ACOBI , Arnold, Die Bekämpfung der Hamsterplage. Kaiserliche Biologische Anstalt für Land- und Forstwirtschaft, Flugblatt Nr. 10, zweite Auflage September 1905. 84 Der Hamster. Neubearbeitet von Martin S CHWARTZ . Biologische Reichsanstalt für Land- und Forstwirtschaft. Flugblatt Nr. 10, Dezember 1920.

Grabendes Volk – Über den Umgang mit Feldhamstern

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Erntemaschinen tun ein übriges. Besonders letztere töten eine große Anzahl von Tieren auf den Feldern. Immer wieder berichten Landwirte darüber, daß Feldhamster versuchen, einen Mähdrescher direkt anzugreifen. Ein Kampf, den sie - anders als den gegen den Hamstergräber des 18. und 19. Jahrhunderts, vor dem sie unter Umständen noch fliehen konnten - nun nicht mehr gewinnen können. 85 Nur zu gut kann man es daher verstehen, wenn sich die solcher Art Bedrohten nach jahrhundertelanger Verfolgung in die Sicherheit und Beschaulichkeit der grünen Wiesen eines Göttinger Universitätsinstituts zurückgezogen haben. Ob sie dort aber tatsächlich ihren Frieden finden werden, ist mehr als fraglich. Sollte die seit fünf Jahren anstehende und teilweise auch durch das schützenswerte Feldhamstervorkommen verzögerte, dringend notwendige Erweiterung des Deutschen Primatenzentrums endlich doch in Angriff genommen werden, so stünden den Feldhamstern mehrere Jahre Baulärm ins Haus. Die in zwei Bauabschnitten geplante Erweiterung käme frühestens 2006 zum Abschluß. Ob die Feldhamster bis dahin entnervt auf dem jetzt für über 360.000 DM geplanten Hamsterkorridor das Weite der Göttinger Feldmark suchen 86 oder ob sie sich tapfer in den Schlagzeilen der Lokalpresse halten werden, wird man auch in den nächsten Jahren sicher den örtlichen Presseorganen entnehmen können. Immerhin geht ihre Beliebtheit jetzt schon soweit, daß Ilse Stein unter der Überschrift „Neues aus Absurdistan“ im Göttinger Tageblatt vorschlug: „Das kleine bissige Tier aber sollte langsam ins Stadtwappen. Immerhin dürfte es bundesweit inzwischen bekannter sein als das Gänseliesel.“ 87

http://www.feldhamster.de/gefahr.html. Göttinger Tageblatt vom 17. Mai 2001, S. 21 mit einer Luftaufnahme des Areals und einer Bauplanungsskizze, in der der Hamsterkorridor eingezeichnet ist. 87 Göttinger Tageblatt vom 17. Mai 2001, S. 21. 85 86

Die Dienstbeschreibung des Amtes Herzberg von 1776 Agrarreform als Verwaltungsziel in Kurhannover Gunter Ehrhard

Die Dienste und Abgaben, seit dem Mittelalter als Fronden bezeichnet, später als Hand- und Spanndienste, wurden erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den Ämtern des Kurfürstentums und späteren Königreichs Hannover endgültig abgeschafft. 1 Bis dahin hatten sie nur durch Zahlung von Dienstgeld ersetzt werden können, blieben aber formal als Verpflichtung bestehen und wurden bei Bedarf auch noch in Anspruch genommen. Letzten Endes setzte sich der Ersatz von Diensten durch Zahlungen durch. 2 Die Verhältnisse in den einzelnen Teilen des Kurfürstentums waren sehr verschieden, und oft gab es nur eine mündliche Absprache der Einzelheiten in den verschiedenen Ortschaften oder eine verstreute Überlieferung in Einzelakten. Die Dienstbeschreibung des Amts Herzberg von 1776, die der dortige Amtsschreiber Schroeter erstellte, war der Versuch, die Verhältnisse zu erfassen, festzuschreiben und letztlich zu vereinheitlichen, wo immer möglich. Das war die Voraussetzung für die spätere endgültige Ablösung durch einmalige Zahlungen. Ein Teil der althergebrachten Dienste, etwa der Gesindezwangsdienst war in Hannover bereits um 1765 abgeschafft. 3 Das wesentliche 1 Dies war auch eine Folge der französischen Revolution, nicht nur Resultat eigener Bemühungen um die Agrarreform. Siehe Heide W UNDER , Die bäuerliche Gemeinde in Deutschland, Göttingen 1986, S. 115: „Auf die schlagartige Herstellung der persönlichen Freiheit als allgemeine staatsbürgerliche Qualität für Bauern folgte der sehr viel mühsamere Prozeß der Regulierung der wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Bauern und Grundherren. Die Regulierungen oder Grundablösungen bestanden aus mehreren Maßnahmen, nämlich der Ablösung der Frondienste und der herrschaftlichen Berechtigungen an dem von Bauern genutzten Land durch Geldzahlungen oder Landabtretung sowie in der Trennung (Separation) von Herren- und Bauernland, wo dieses im Gemenge lag oder wo (wie z.B. in Preußen) die Ablösung durch Landabtretungen erfolgte.“ 2 Walter A CHILLES , Deutsche Agrargeschichte im Zeitalter der Reformen und der Industrialisierung, Stuttgart 1993, S. 117: „Im Laufe der Zeit kam es aber auch anderswo zu einer Umwandlung der Naturaldienste in Dienstgeldzahlungen. Als größeres Gebiet ist Kurhannover hervorzuheben, wo dieser Prozeß auf den Domänen bis 1800 abgeschlossen wurde.“ 3 Walter A CHILLES , Die Lage der hannoverschen Landbevölkerung im späten 18. Jahrhundert, Hildesheim 1982, S. 115 Fn. 129. W UNDER , Gemeinde (wie Anm. 1), S.115f. schreibt „Der Vorreiter in der rechtlichen Bauernbefreiung war Preußen, das den Bauern jedoch in keiner Weise half, die Ablösungsbeträge für die Regulierungen aufzubringen, so daß sie Land abtreten mußten, um sich die wirtschaftliche Freiheit zu erkaufen.“ Dagegen betont A CHILLES , S. 115f., die Vorreiterrolle Hannovers a.a.O. 1982, S. 115f.: „Der

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Problem war die Frage, wie man die für die Bewirtschaftung der Güter und Domänen notwendigen Lohnarbeiter bezahlen sollte, wenn die (abgesehen von den üblichen Pröven zur Verpflegung der Dienstleistenden) unentgeltlich arbeitenden Dienstpflichtigen entfielen. 4 Wie auch bei anderen politischen und wirtschaftlichen Streitthemen im 18. Jahrhundert üblich, schrieb man Preisfragen aus, um die beste Antwort zum Thema Ablösung zu erhalten. Eine davon, von der Hessen-Casselschen Gesellschaft des Ackerbaues und der Künste 1773 gestellt, lautete: Auf was für eine Art, und durch welches billige und sichere Surrogatum an Dienstgeld oder Früchten sind die dem gemeinen Landmann so lästigen und nachtheiligen Hand- und Spanndienste dergestalt abzuschaffen, daß die Herrschaft nichts dabey verliert, der gemeine Mann aber dabey gewinnt? Im selben Jahr wurde auch von der Göttinger Akademie eine entsprechende Preisfrage gestellt: Ist es ratsam, in einem Lande die Frondienste abzuschaffen? und welche sind die vorteilhaftesten Mittel sowohl die Abschaffung einzurichten als den Unbequemlichkeiten, welche die Sache haben kann, und den Folgen davon zu begegnen? 5 Das Bestreben, die Dienste und Abgaben im Kurfürstentum Hannover zu erfassen und zu ordnen, zeigt sich deutlich in einem Edikt von 5.12.1775 für das Amt Hitzacker: Da allerhöchst Ihro Königl. Majestät Unser allergnädigster Herr sich huldreichst entschlossen haben, Dero hiesige Landes-Unterthanen von dem schuldigen Herren-Dienste, in so fern es thunlich ist, gegen ein erhöhetes Dienst-Geld zu befreyen, und dann zu behuef solcher neuen Einrichtung erforderlicher Untersuchungen, ohnumgänglich ist, daß jeden Orts Beamte, ohne den geringsten Zeit-Verlust, die DienstGerechtsame sowohl der allergnädigsten Herrschaft, als der Unterthanen, sorgfältigst aufsuchen, solche gehörig ins Licht stellen, auch gültig machen, weniger nicht die DienstRegister mit der nöthigen Zuverläßigkeit führen; So wird hiemit angelegentlich befohlen, wegen der dortigen Dienst-Berechtigung, durch erwehnte- mit allem Fleiß und fordersamstens auszuführende Vorbereitung es dahin einzurichten, daß demjenigen, welchem zur Untersuch- und Behandlung besonderer Auftrag geschiehet, eine zuverläßige Beschreibung des Dienst-Wesens, nebst allen dazu aus der Registratur benöthigten Nachrichten, in vollkommener Ordnung vorgeleget werden könne. Welchergestalt, in häufig als fortschrittlich gerühmte preußische Staat begann erst 1799 bei den Domänenbauern die Dienste abzulösen. Dabei vereinigte er bei diesen Bauern alle drei Herrschaftsrechte, also die Grund-, Gerichts- und Leibherrschaft, in seiner Hand, so daß er sie ohne Zustimmung der Stände nach seinem Belieben gestalten konnte. Bei den übrigen Landleuten, die nichtstaatlichen Herren unterstanden, wurden die Dienste erst nach 1816 abgeschafft. Außerhalb Preußens machte man sich jedoch nicht nur Gedanken über den Nutzen der Dienste, in Hannover schritt man auch zur Tat. ... Schon 1753 und 1756 verlangte Gerlach Adolf Freiherr v. Münchhausen als Präsident der Domänenkammer eingehende Berichte über das Dienstwesen, doch wurde das zweite Ausschreiben erst 1763 - also nach Beendigung des Siebenjährigen Krieges - beantwortet.“ 4 A CHILLES , Landbevölkerung (wie Anm. 3), 1982, S. 115. 5 A CHILLES , Landbevölkerung (wie Anm. 3), 1982, S. 116, betont: „Der Staat, nunmehr entschlossen, die Naturaldienste in Dienstgeld umzuwandeln, trieb die Verfahren in allen Ämtern zügig voran und schloß diesen Prozeß in den neunziger Jahren praktisch ab. Hannover gebührt also auf diesem Felde der Vorrang vor Preußen, eine Abfolge, die bisher in der agrarhistorischen Forschung übersehen wurde.“

Die Dienstbeschreibung des Amtes Herzberg von 1776

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Befolgung obigen Befehls, die benöthigte Nachrichten breits gesammlet sind, davon ist ohnfehlbar in dem Monath April künftigen Jahres an königl. Churfürstl. Cammer pflichtmäßiger Bericht zu erstatten; und Wir etc. Hannover , den 5ten Decembr. 1775. Königl. Grosbritannische zur Churfürstl. Braunschw. Lüneb. Cammer verordnete Cammer-Präsident, Geheimte-Räthe, Geheimte-Cammer- auch Cammer-Rähte. A.F. v. Lenthe. 6 Die Dienstbeschreibung Schroeters ist eine Reaktion auf solche Edikte der hannoverschen Regierung, denn er bezeichnet sein Unterfangen als die von königlicher Cammer mir gnädig aufgetragene äusserst weitläuftige und gefährliche Dienstuntersuchung an die er sich erst nach gründlichem Aktenstudium gewaget 7 hätte. Es gibt infolge der Bemühungen um eine Agrarreform in Hannover etliche ähnliche Dienstbeschreibungen, die im 18. Jahrhundert für den Bereich des Kurfürstentums Hannover angefertigt wurden. 8 Ihnen gemeinsam ist, was A CHILLES formuliert: „Die Fragestellung verrät aber bereits unmißverständlich das Ziel, dem die Auskünfte dienen sollten, nämlich der Abstellung der Dienste.“ 9 Das bestätigt auch Schroeters Kommentar vom 11. März 1776 am Ende seiner Einleitung, wo er diesen eigentlichen Grund für die mühsame Erfassung aller Einzelheiten angibt, nämlich: Möchte doch diese mit vieler Beschwerde verbunden gewesene Arbeit, ohne welche die etwanige künftige Abschaffung des hiesigen Naturaldienstes schlechterdings unthunlich gewesen wäre, ferner gute Zwecke befordern und dem hiesigen Amte zum wahren Besten gereichen. 10 Die enorm detailgetreue Untersuchung für das Amt Herzberg, die fast 1400 Seiten umfaßt, ist kaum in wenigen Worten zusammenzufassen. Gleich zur Einleitung betont Schroeter dies: Ist irgendwo das Dienstwesen, eines Amts äusserst weitläufig und verwirrt, aber auch zugleich beträchtlich zu nennen, so findet solches gewiß bey dem hiesigen Amte mit Recht seine Anwendung. Diese Weitläuftigkeit und Verwirrung hat nicht nur eine langwierige mühsame Dienstuntersuchung veranlasset, sondern ist auch der Grund, warum gegenwärtige Dienstbeschreibung, so sehr auch ein logisches System dabey zum Grunde geleget - und alle gleichförmige Specialia nach logischen Grundsätzen auf allgemeine Principia gebracht worden, dennoch so umständlich und weitläuftig gerathen ist. Sie hat in der ältern und neuern Einrichtung des hiesigen Dienstwesens selbst ihren guten Grund. 11 Die Uneinheitlichkeit des Dienstwesens war im gesamten Reich und wie in den einzelnen Territorien das Problem der Reformer wie auch späterer Bearbeiter. Ulrich R ISTO betont deshalb: „Die Größe des niedersächsischen 6 Zitiert nach Faksimile in Otto P UFFAHRT , Dienstbeschreibung des Amtes Hitzacker von 1782, Lüneburg 1980, S. 10. 7 NHStA Hannover, Domanialia A. Generalia et Varia II. Lagerbücher, Beschreibungen, Vermessungen E 19 Dienstbeschreibung des Amts Herzberg 1776., S. 27. 8 So z.B. die Amtsbeschreibung des Carl Gustav Friedrich W YNEKEN aus dem 18. Jahrhundert, bearb. von Walther B ODE (Schriften zur Geschichte der Stadt Langenhagen, Heft 4), [c.a.] 1981. 9 A CHILLES , Landbevölkerung (wie Anm. 3), 1982, S. 116. 10 NHStA Hannover, Hann 74 Herzberg E 19, S. 34. 11 NHStA Hannover, Hann 74 Herzberg E 19, S. 3.

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Raumes und die Vielgestaltigkeit der bäuerlichen Verhältnisse in den einzelnen Landschaften zwangen zu einer Beschränkung auf ein begrenztes Gebiet“, 12 und ähnlich formuliert Ernst Otto L UTTERLOH in der Einleitung seiner Dissertation über Ämter des Herzogtums Braunschweig-Wolfenbüttel: „Eine Gesamtvorstellung über die Höhe und Art der bäuerlichen Belastungen vor der Bauernbefreiung läßt sich bis heute für Deutschland nicht entwickeln. Es ist nicht einmal möglich, ein verhältnißmäßig eng umgrenztes Gebiet wie Nordwestdeutschland voll zu erfassen.“ 13 Die Vereinheitlichung des noch immer ein wenig mittelalterlich ungleichmäßig und bunt zusammengesetzten Dienstwesens war also auch eines der Ziele engagierter und modernisierungswilliger Amtmänner des späten 18. Jahrhunderts, solange es nicht zur Gänze abzuschaffen war. Vor allem ging es darum, bisherige Mißbräuche mit der wahren Observanz nicht zu verwechseln, sondern beides gehörig voneinander absondern zu können. 14 In Herzberg war es der Amtsschreiber Schroeter, der ein solches umfangreiches Manuskript erstellte, das mit möglichst großer Exaktheit die Dienste jedes einzelnen Hofes festschreiben sollte. Nach den Angaben Schroeters fehlte bis dahin überhaupt eine zusammenfassende Dienstbeschreibung für Herzberg, denn als weitere Begründung für sein Unterfangen führt er aus: In der That ist es zubewundern, daß bey allen diesen Veränderungen, welche die hiesigen 5. herrschaftlichen Vorwerke, und mit diesen das hiesige Dienstwesen von Zeit zu Zeit unterworfen gewesen, so wenig in den ältern als neuern Zeiten eine förmliche Dienstbeschreibung bey dem hiesigen Amte verfertiget worden, da doch schon seit länger als 100 Jahren unaufhörliche Streitigkeiten und Beschwerden zwischen den Pächtern und Dienstpflichtigen zu öftern Untersuchungen und Commißionen Anlaß gegeben haben. Alles was sich in der hiesigen neuerlich eingerichteten Amtsregistratur, die sonst in andern Fächern ziemlich vollständig ist, von allgemeinen die Befugniß der Vorwerke und Schuldigkeit der Dienstpflichtigen bestimmenden Nachrichten findet, sind blos einige wenige auf etlichen Seiten zusammen gedrängte den Dienstregistern prämittierte ganz unvollständige und nicht genugsam bestimmte principia, die aber weiter nichts als die bloße Vermutung vor sich haben, indem sich von deren Agnition in der hiesigen Amtsregistratur überall keine Spuren finden. 15 Seine Ziele kennzeichnet er so: Es seien in ältern Beschreibungen nicht alle und jede Abweichungen bemerket worden 16 und nicht durchgehends gleiche Grundsätze 17 enthalten, deshalb geht es ihm darum, die Materialien des Systems so viel als möglich abzukürzen und mithin analogische specialia so wol in Ansehung der sämtlichen hiesigen Vorwerke überhaupt als eines jeden Vorwerks insonderheit, nach einer logischen Abstraktion auf allgemeine Grundsätze gebracht worden 18. Dabei war es, um den Zweck 12 Ulrich R ISTO , Abgaben und Dienste bäuerlicher Betriebe in drei niedersächsischen Vogteien im 18. Jahrhundert. Diss. Göttingen 1964, S. 1. 13 Ernst-Otto L UTTERLOH , Dienste und Abgaben des Herzogtums BraunschweigWolfenbüttel. Diss. Göttingen 1969, S. 1. 14 Hann 74 Herzberg E 19, S. 26. 15 Hann 74 Herzberg E 19, S. 7-10. 16 Ebd., S. 12. 17 Ebd., S. 17. 18 Ebd.

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der Vollständigkeit nicht zu verfehlen, unumgänglich nöthig gewesen, den Entwurf zugleich auf jede Dorfschaft mit zu richten; zumal da die Dienstfreiheiten eines jechlichen Dorfes bey jeder Art des Dienstes zugleich mit beschrieben sind. 19 So rechtfertigt er denn auch den Umfang des Manuskripts: und aus diesem Gesichtspunkte wird die anscheinende äusserliche Stärke gegenwärtiger Dienstbeschreibung die gewis der neuern Mannichfaltigkeit der Dienste völlig angemessen ist, billig Entschuldigung verdienen. 20 Mit welcher Genauigkeit man die Einzelheiten zu erfassen versuchte, zeigen Stellen aus dem auf das Dorf Pöhlde bezogenen Teil: 4. Titul von der Bestellarbeit der Pöhldischen Dienstpflichtigen insonderheit. A. Von dem Pflügen und Eggen der Pöhldischen Pflichtbreiten. § 272. Alles was im 1ten Theile von der Bestellarbeit der Pflichtbreiten überhaupt angeführet worden, das findet auch insonderheit auf die Pöhldischen Pflichtbreiten seine Anwendung, mit der einzigen Ausnahme, daß den Ackerleuten für 4. Morgen der Pflichtbreiten 1mal zu eggen der Observanz nach nur 6. Knobben Brodt gereichet werden. ... 1. Die Breite auf dem Hege hält, in so fern sie von den Pöhldischen Ackerleuten bestellet wird, 13 ganze und 2 halbe Büten, wovon die ersteren von den Halbmeier-Spanne, die letztern hingegen von den Vollmeier-Spannen gepflüget und geegget werden. Für eine jede Büte, welche nicht viel über 3 Morgen halt, werden 2. Spanntage vergütet. Das übrige Land dieser Breite ist Kötherland, beträgt ohngefehr 36 Morgen und wird von den Köthern nach der Reihe gepflüget. Ein Meierspann pflüget wöchentlich eine halbe Büte; pflüget es mithin in einer und eben derselben Woche eine ganze Büte, so hat es auf 14 Tage den Wochendienst gethan. 21 Die Pröven, Vergütung der Dienste in Nahrungsmitteln, waren dem Text nach zu urteilen, weiterhin wichtiger als Geldzahlungen. Nicht nur die Arbeitsleistungen, auch die Verpflegung dafür war bis in alle Einzelheiten festschreibbar. So heißt es über Pöhlde: § 262. Die Pröven des Vorwerks Pöhlde bestehen in Brodt, Käse, Gemüse, Wurst, Speck, Bier und Halbbier. a. so viel das Brodt betrifft, ist das Gewicht desselben mittelst königl. Cammer Resolution vom 7. Nov. 1700 solchergestalt bestimmt worden, daß solches für 1. Handtag nur für 1 Spanntag 42 2/3 lt. und für 1 Handtag nur halb so viel an Gewicht halten soll. Die Käse sind von zweierley Art, nämlich große und kleine. a. die großen Käse werden bey den Pflichtdiensten den Aufsehern gereichet, und muß daran das Schock gleich als bey dem Vorwerke Hertzberg wenigstens 18 mgl. werth seyn. Wobey zugleich bemerket wird, daß bey dem Vorwerke Pöhlde auch Schaafkäse gebräuchlich sind, und daß den Aufsehern, wenn demselben 4. große Käse gebühren, der bisherigen Observanz nach immer 3 Schaafkäse und 1 Kuhkäse gereichet werden. ... Die kleine Käse erhalten die Dienstpflichtigen selbst, und muß davon das Stück, wie in gedachter Resolution vom 7. Novbr. 1700 ausdrücklich bestimmet ist, wenigstens einen guten Pfennig werth seyn. Sie sind eben so als bey dem Vorwerk Hertzberg von zweifacher Art, nämlich eigentliche Kuhkäse oder so genannte Kräutlinge und sind die Dienstpflichtigen nur alsdann, wenn sie zum Schneiden des Winterfeldes und Binden des Sommerfeldes mit doppelten Bothen erscheinen, zur Hälfte Kräutlinge anzunehmen schuldig. 22 Es folgen weitere 19 20 21 22

Ebd., S. 31f. Ebd. Ebd., S. 959f. Ebd., S. 924-927.

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Einzelheiten über Gemüse und Bier. Bei dieser Detaillbesessenheit Schroeter zitiert in Fußnoten ergänzend weitere Akten - ist es nicht verwunderlich, daß die gesamte Dienstbeschreibung in sauberer und großzügiger Abschrift beinahe 1400 Seiten umfaßt. Was die Dienstbeschreibung und gleichzeitige Akten jedoch deutlich zeigen, ist der auch sonst an Akten der Zeit ablesbare Tatbestand, daß die uns heute hauptsächlich noch in einzelnen erhaltenen und manchmal gut restaurierten Hofgebäuden aus dem 17. oder 18. Jahrhundert sichtbare Dorfwelt keine Idylle war. Auch in den wohlhabendsten Höfen war das Leben nicht annähernd so bequem, wie es uns selbstverständlich erscheint, und auch die „Natur“ war mehr Arbeitsort und trotz aller Kultivierung auch Gefahrenquelle - etwa durch Unwetter oder Überschwemmungen - als eine reizvolle Landschaft. Eine Skizze und allgemeine Einschätzung der Zustände im Amt Herzberg kurz vor der endgültigen Ablösung der Dienste gibt der Aufsatz Ueber die Meierverfassung im Amte Herzberg 23 aus dem Neuen Vaterländischen Archiv von 1822: Es ist aus mehreren Umständen sehr wahrscheinlich, daß die Meierverfassung in ältern Zeiten im Amte Herzberg eben so vorgeherrscht hat, wie dies noch jetzt in andern Provinzen, z.B. im Calenbergschen, der Fall ist. Aus Ursachen, die sich mit Gewißheit nicht mehr ausmitteln lassen, hat sich dieses aber nach und nach verloren, so daß jetzt nur noch wenige Meierhöfe übrig sind. Vielleicht mag bei der großen Ausdehnung des Amtes die Erhaltung des Meiernexus nicht so beobachtet seyn, wie in andern Gegenden, und man hat nur die von den Meiern zu liefernden Gefälle und ihre Dienste zu conserviren gesucht. Daher kommt es, daß bei weitem der größte Theil des Grundvermögens im Amte Herzberg im freien Eigenthume der Bauern ist, und daß man eigentliche Höfe gar nicht kennt. 24 Die Praxis der Ablösung der Dienste durch Geld ist nach Aussage des Verfassers offenbar üblich, weil die Dienste nicht mehr alle in Anspruch genommen wurden: Auf den Häusern ruht die Dienstlast. Diese besteht darin, daß der Eigenthümer eines vollen Hauses, d.h. eines Hauses, welches alle Lasten trägt, zweimal mit der Hand dienen muß. Hält er Pferde, so dient er einmal wöchentlich mit zwei Pferden. Wird der Dienst nicht gefordert, so muß er statt dessen ein Dienstgeld entrichten, welches für alle hundert und vier Handdienste oder für sämmtliche zwei und funfzig Spanndienste fünd Thaler Cassen-Münze beträgt. ... ein Theil dieser Dienste ist in neuern Zeiten auf immer abgestellt worden. 25 Trotz allem bewertete der ungenannte Autor des Artikels die Lage der Landbevölkerung im Amt Herzberg als erträglich im Vergleich zu anderen Ämtern: Aller dieser Lasten und der bedeutenden Steuren ungeachtet, werden eine große Menge Käufe über Grundstücke abgeschlossen. Der Ackerbau hat im Ganzen gute Fortschritte gemacht und wenn es keine reichen Landleute im Amte Herzberg giebt, so findet 23 Neues Vaterländisches Archiv, herausgegeben von Ernst S PANGENBERG , Erster Band, Lüneburg 1822, S. 262-276. 24 Ebd., S. 263f. 25 Ebd., S. 264f.

Die Dienstbeschreibung des Amtes Herzberg von 1776

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doch auch nicht jene unverhältnismäßige Vertheilung der Glücksgüter Statt, welche so nachtheilig auf das Wohl der geringeren Classen wirkt. Der Arbeitsame findet seinen Erwerb, und wenn ihm ein eigenes Grundstück auch nicht vielmehr abwirft, als den Tagelohn, so ist ihm doch dieser wenigstens gesichert. Es läßt sich nicht leugnen, daß vorzüglich das Flecken Herzberg viele Arme hat, aber dies ist hauptsächlich die Folge des undankbaren Bodens und Klimas, welches die Nähe des Harzes mit sich bringt, verschiedener besonderer Unglücksfälle, des harten Druckes der Steuren, die während der feindlichen Usurpation unverhältnismäßig schwer auf dem Fürstenthume lasteten, und der Gewehrfabrik, welche, wie alle Fabriken, zum schnellen Verzehren des Erworbenen reizt, und, wenn es an Arbeit mangelt, in Dürftigkeit stürzt. 26 Wie einem fremden Fußreisenden, der 1809 als Student in Begleitung dreier Freunde auf dem Weg von Göttingen in den Harz im Gasthof in Lindau Station machte, die hannoverschen Bauern erschienen, die dort einer Musikantentruppe lauschten, zeigt der Reisebericht des Holländers Theodor VAN S WINDEREN (später Professor in Groningen). Er fügte dieses Bild einer rückständigen und im Vergleich zu seiner Heimat Groningen primitiv wirkenden Landbevölkerung als Kontrast zu den Eindrücken aus Göttingen, das um die Jahrhundertwende als fortschrittlichste Universität Deutschlands angesehen wurde, und den Erlebnissen im Bergbaugebiet des Oberharzes, der ebenfalls als Vorbild für den Metallbergbau in Europa galt. Hier seine Schilderung dieser Begegnung: Wir hatten einen Weg von ungefähr einer Stunde hinter uns zu bringen, bevor wir die andere Seite des Berges, und damit das Städtchen Lindau erreichten. In der Herberge, wo wir eintraten, trafen wir reisende Musikanten an, der Schankraum war angefüllt mit Bauern und Bäuerinnen, die mit offenem Mund lauschten, und auf deren Miene das lebhafteste Vergnügen abzulesen war. - Überall doch, bei kultivierten so wohl als bei unzivilisierten Völkern nimmt man ein gewisses Wohlbehagen an der Tonkunst wahr; und dies meinen wir vor allem in Deutschland unter dem Bauernstand wahrgenommen zu haben. Ich wünschte wohl, Freund! daß Du diese andächtige und zugleich entzückte Versammlung gesehen hättest! Dieser Anblick würde Euch sicher ein größeres Vergnügen verschafft haben als das Lesen der blassen Schilderung, die ich dir davon zu geben trachte! ... An einem Tisch in einer Ecke der Stube sah man einen Trupp mit Bauern und einer Bäuerin, gerade von der Arbeit gekommen, wie mir schien, mit einem Stück groben Brotes und einem Schluck groben Fusels ihr Mittagsmahl halten. Einer von ihnen hatte das große selbstgebackene Brot bei sich liegen, wovon er von Zeit zu Zeit einen guten Kanten abschnitt, und an die übrigen verteilte, auch hatte dieser ein Fläschchen mit sogenanntem Fusel, das er an den Mund hob, einen frischen Zug daraus trank, und den Korken wieder daraufdrückte und sie seinem Nachbarn weiterreichte; und so labte sich jeder, einschließlich der Dame. - Das Wiederhineindrücken des Korkens, bevor man das Fläschchen an seinen Nebenmann reichte, schien eine Art Etikette zu sein, die jeder mit der größten Sorgfalt beachtete, geschah es aber doch, daß einer von ihnen vergaß es zu verrichten, nahm der nächste das Fläschchen nicht an, bevor das Versäumte nachgeholt war. Ihr solltet es gesehen haben, bester Freund! wie der eine mit den Ellenbogen auf den Tisch gelehnt saß, in der einen Hand ein großes Messer, in der anderen ein Stück Brot, 26

Ebd., S. 266.

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Gunter Ehrhard

wie ein anderer damit beschäftigt war, sich mit dem nötigen Spiritus zu versorgen; wie ein dritter, der so sein Stückchen heruntergeschluckt hatte, mit offenem Mund wie ein Geistesabwesender sitzen blieb; wie endlich aller Augen auf die Musikanten, die lustig weiterspielten, geheftet waren.- ... Stellt Euch nun bei all' dem die sonderbarste Kleidung vor, und Ihr verwundert Euch nicht, daß wir alle dasaßen und starrten, als seien wir genausolche Hannoverschen Bauern. 27 Vielleicht kann man sich so den Verzehr der Pröven in Gestalt von Knobben Brotes nach getaner Pflichtdienstleistung vorstellen. Immerhin konnten die Bauern sich Fusel in einer verkorkten Flasche leisten. Wahrscheinlich war der Auftritt der Musikanten aber eher ein besonderes Ereignis im Ort, zu dem alle in das Gasthaus gekommen waren.

27 Theodor VAN S WINDEREN , Brieven, geschreven op eene wandeling door een gedeelte van Duitschland en Holland, in den Zomer van 1809, 2 Bände, Groningen 1809/10. S. 283-85. Originalzitat: Wij hadden eenen weg van ongeveer een uur af te leggen, eer wij de overzijde van den berg, en met dezelve het stadje Lindau bereikten. In de herberg, waar wij binnen traden, troffen wij reizende muzijkanten aan; het vertrek was vervuld met boeren en boerinnen, die met open mond stonden te luisteren, en op wier gelaat het levendigst vergenoegen te lezen was. - Overal toch, bij beschaafde zoo wel als onbeschaafde volken bespeurt man een zeker welgevallen voor de toonkunst; en dit meenen wij vooral in Duitschland onder den boerenstand waargenomen te hebben. Ik wenschte wel, Vriend! dat gij deze aandachtige en tevens opgetogene vergadering gezien had!. dit gezigt zou u zeker een grooter genoegen verschaft habben, dan het lezen van de flauwe schets, die ik u daarvan zal trachten te geven. ... Aan eene tafel in eenen hoek van het vertrek, zag men eenen troep met boeren met eene boerin, naar het mij toescheen van den arbeid kommende, met een stuk grof brood en een slok duitsche foezel hun middagmaal houden. Een van hen had het groote eigengebakken brood bij zich liggen, waarvan hij van tijd tot tijd eene goede homp afsneed, en an de overigen uitdeelde; ok had deze een fleschje met zoogenamde foezel, dat hij voor den mond zettede, er eene frische teug uitnaam, de kurk er weder opdeed en aan zijnen buurman reikte; en zoo zegende ieder zich, de dame niet uitgezonderd. - Het weder opdoen van de kurk, voor men het fleschje aan zijnen buurman reikte, scheen eene soort van etiquette te zijn, die ieder met de grootste zoorgvuldigheid in acht nam; gebeurde het immers, dat iemand hunner vergat zulks in 't werk te stellen, zou de volgende het fleschje niet aannemen, voor dat dit verzuim hersteld was. Gij moest gezien hebben, beste Vriend! hoe de eene met de ellebogen op de tafel zat te leunen, in de eene hand een groot mes, in de andere een stuk brood; hoe een ander bezig was zich van den noodigen spiritus te voorzien; hoe een derde, die zoo zijn stukje had doorgeslikt, met open mond als een verwezene zitten bleef; hoe eindelijk aller oogen op de muzijkanten, die lustig doorspeelden, gevestigd waren. - ... Verbeeld u nu bij dit alles de zonderlingste kleeding, en gij zult u niet verwonderen, dat wij alle zaten te kijken, even als of wij ook Hannoversche boeren waren.

Das Göttinger Studienjahr des Erbgrafen Carl zu Schaumburg-Lippe (1779–1780) Silke Wagener-Fimpel

Wie vortheilhaft einer Universität die Anwesenheit erhabener Standes-Personen sey, bemerkte der gelehrte Jurist Johann Stephan Pütter 1788 in seiner Göttinger Gelehrten- und Universitätsgeschichte, wo er die Namen der seit Anbeginn dort nachweisbaren Prinzen und Grafen auflistete. 1 Tatsächlich war Göttingen von Anfang an durch eine großzügige Ausstattung und ein entsprechendes Lehrangebot besonders auf den Adel zugeschnitten. Die Förderung der Kavaliersfächer Reiten, Fechten und Tanzen und des Fremdsprachenunterrichts, vor allem aber die Heranziehung besonders fähiger Gelehrter führte dazu, dass Göttingen bald zu „der“ Adelsuniversität wurde. Einer ihrer vornehmen gelehrten Mitbürger 2 war der 20-jährige Erbgraf Carl zu Schaumburg-Lippe, der 1779/80 ein Dreivierteljahr in der Leinestadt verbrachte. Nachdem sein Vater Philipp Ernst im Jahre 1777 die Nachfolge seines Vetters, des Grafen Wilhelm zu Schaumburg-Lippe, angetreten hatte, galt Carl als künftiger Landesherr der kleinen Grafschaft und sollte auf diese Aufgabe durch eine standesgemäße Ausbildung vorbereitet werden. Ein anschauliches Bild dieses Studienaufenthalts liefern etliche Schriftwechsel, Rechnungsunterlagen und Vorlesungsmitschriften im Fürstlich Schaumburg-Lippischen Hausarchiv. 3 Inwieweit sich das Studium eines hochrangigen Adeligen von dem seiner durchschnittlichen Kommilitonen unterschied, ist Gegenstand der folgenden Darstellung.

Studienvorbereitungen Graf Philipp Ernst hatte sich bis zu seinem Herrschaftsantritt vorwiegend in Münster aufgehalten, wo er unter dem Kurfürsten eine militärische Laufbahn eingeschlagen hatte. So wuchs auch Carl in Münster auf und erhielt dort die Grundlagen für seine Ausbildung. Hieran sollte sich in Göttingen eine Art 1 Johann Stephan P ÜTTER , Versuch einer academischen Gelehrten-Geschichte von der Georg-Augustus-Universität zu Göttingen, 2. Theil von 1765 bis 1788, Göttingen 1788, S. 19. 2 Ebd., S. 17. 3 Es befindet ich als Depositum im Staatsarchiv Bückeburg. Alle im folgenden zitierten Archivalien stammen daraus.

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Hauptstudium anschließen, wobei es bei der geplanten Dauer von nur zwei Semestern lediglich darum gehen konnte, einige ausgewählte Veranstaltungen bei den namhaftesten Professoren zu besuchen. Für die Wahl des Studienortes Göttingen sprach neben ihrem guten Ruf und der vergleichsweise nahen Entfernung zu Bückeburg – zwei Tagesreisen – wohl nicht zuletzt der Umstand, dass Graf Philipp Ernst selbst zu den ersten Studenten der Georgia Augusta gezählt hatte. 4 Wie es für einen jungen Mann seines Standes üblich war, reiste Carl nicht allein, sondern mit einem kleinen Gefolge in die Universitätsstadt. Hierzu gehörte vor allem ein Hofmeister, der seinem Schützling als Aufsichtsperson, Ratgeber und Gesellschafter zur Seite stehen sowie die organisatorischen und finanziellen Angelegenheiten des Aufenthalts regeln sollte. Diese Aufgabe übernahm der 29-jährige Major Carl Friedrich Colson. 5 Weitere Begleiter waren Justizrat Caspari und Sekretär Brinkmann, die sich durch ihr einige Jahre zurückliegendes Studium bereits in Göttingen auskannten. 6 Wie Colson sollten sie den jungen Grafen in die Lehrveranstaltungen begleiten, den Stoff zu Hause mit ihm wiederholen, sich aber auch selbst zum Nutzen ihrer beruflichen Tätigkeit in Philipp Ernsts Diensten fortbilden, indem es auch allezeit recht nützlich ist, wenn man etwas dazu lernet und wozu man niemals zu alt ist. 7 Unerlässlich war ferner eine standesgemäße Bedienung, weshalb die Livréelakaien Lencke, Hesse und der Mohr Alexander aus dem Bückeburger Schloss mitreisten. 8 Nicht direkt zum Gefolge, aber doch zu Carls näherem Umfeld gehörte schließlich Carl Friedrich von Dincklage, ein junger Münsteraner Fähnrich, der bereits in Rinteln studiert und die Erlaubnis erhalten hatte, sich den schaumburg-lippischen Bekannten in Göttingen anschließen zu dürfen. 9 Philipp Ernst hatte sich unter der Bedingung damit einverstanden erklärt, dass von Dincklage seinen Anteil an den Speise- und Logiskosten selbst tragen und sein Vater mit einem derart teuren Lebensstandard einverstanden

4 Immatrikuliert am 1.6.1737, Imm.-Nr. 714. Diese und die folgenden Angaben zu Immatrikulationsdaten aus: Die Matrikel der Universität Göttingen. Bd. 1: 1734-1837, im Auftrage der Universität hrsg. von Götz von S ELLE (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hannover, Oldenburg, Braunschweig, Schaumburg-Lippe und Bremen. IX: Matrikeln niedersächsischer Hochschulen Abt. 3), Hildesheim/Leipzig 1937. 5 Näheres zu ihm und seiner Familie in [Johann von C OLSON ], Chronik der Familie von Colson, Teil A und B, Schwerte (masch.) 1991, bes. S. 30 (im Staatsarchiv Bückeburg vorhanden). 6 Johann Gottlieb Caspari, imm. 4.5.1772, Matr.-Nr. 9071, Anton Daniel Brinkmann, imm. 14.10.1771, Matr.-Nr. 8913. Im zweiten Semester wurde Brinkmann gegen den Sekretär König ausgewechselt, damit ein weiteres Mitglied der Regierung in den Genuss des Studiums kam. 7 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 9, Graf Philipp Ernst an Colson, 15.10.1779. 8 Zu Alexander siehe Silke W AGENER -F IMPEL , Mohren in Schaumburg-Lippe im 18. Jahrhundert, demnächst in Hubert H ÖING (Hrsg.), Schaumburg und die Welt. Schaumburgs auswärtige Beziehungen in der Geschichte (Schaumburger Studien 61). 9 Imm. 9.10.1779, Imm.-Nr. 11686.

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sein müsse. 10 Der Vorteil der vornehmen Gesellschaft war den Preis offenbar wert. Bereits einige Monate vor Vorlesungsbeginn setzten die Vorbereitungen ein. Der Göttinger Justizrat Pütter war auf eine entsprechende Anfrage hin gern bei der Wohnungssuche behilflich. 11 so dass Colson im September nach Göttingen reiste, sich schließlich für eine Wohnung im Hause der verwitweten Justizrätin Ayrer entschied und sie für 200 Rtlr bis Michaelis 1780 mietete. 12 Zwar war die Zimmervermietung durch Professoren in Göttingen weniger verbreitet, 13 für Professorenwitwen aber bedeutete sie eine willkommene und notwendige Aufbesserung der Witwenpension, zumal, wenn die entsprechenden repräsentativen Räumlichkeiten ohnehin vorhanden waren. So wurde auch die Ayrersche Wohnung allen Ansprüchen des vornehmen Gastes gerecht. Sie befand sich im ersten Stock eines an der nördlichen Weender Straße gelegenen Hauses, also in bester Wohnlage, war komplett möbliert und umfasste ein großes Wohnzimmer, auch als Saal bezeichnet und für die Annahme von Visiten geeignet, nebst Schlafkammer, drei weitere Stuben mit zwei Schlafkammern sowie eine Bedientenstube. 14 Hinsichtlich der Beköstigung orientierte sich Colson an den Regelungen, welche die übrigen zur Zeit in Göttingen anwesenden Grafen getroffen hatten. 15 Es wurde beschlossen, dass das Essen beim Traiteur (Speisewirt) Ruhländer bestellt und ins Haus geliefert werden sollte; nach Colsons Ansicht war ein ordinaires Vier-Gänge-Essen zu Mittag und ein Zwei-Gänge-Essen zu Abend ausreichend. Das beste Essen im Angebot umfasste je zwei Gänge mehr. Die Bediensteten erhielten Kostgeld und sollten sich an einem der in Göttingen angebotenen Bedientenspeisetische versorgen. 16

Einschreibung Schon die Einschreibung, mit der Carl und seine Begleiter unter die akademischen Bürger Göttingens aufgenommen wurden, unterschied sich von der eines durchschnittlichen Studenten. Für die Prinzen und Grafen gab es ein 10 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 4, Graf Philipp Ernst an Colson, 13.10.1779; ebd., f. 14, Colson an Graf Philipp Ernst, 22.10.1779. 11 F 1 A XVII 4 Nr. 3, f. 87, Promemoria des Grafen Philipp Ernst, mit Aufträgen für Colson, 8.9.1779; ebd., f. 88, 90, 92 u. 94, Schreiben Pütters an Regierungsrat Habicht in Göttingen, August/Sept. 1779. 12 F 1 A XVII 4 Nr. 3, f. 96, Mietvertrag mit Louise Caroline Ayrer, 14.9.1779. 13 Stefan B RÜDERMANN , Göttinger Studenten und akademische Gerichtsbarkeit im 18. Jahrhundert (Göttinger Universitätsschriften. Serie A: Schriften 15), Göttingen 1990, S. 158. 14 F 1 A XVII 4 Nr. 3, f. 95, Bericht Colsons an den Grafen Philipp Ernst, 17.9.1779; ebd., f. 96, Mietvertrag, 14.9.1779. Es handelte sich um Haus Nr. 37. 15 Die beiden Grafen von Stadion hatten ihre eigene Oeconomie, d. h. wohl einen Koch. Die Grafen von Bentinck und der Graf von Öttingen-Wallerstein speisten beim Traiteur (F 1 A XVII 4 Nr. 3, f. 95, Bericht Colsons, 17.09.1779). 16 Ebd. Der Bediente des Grafen von Öttingen-Wallerstein erhielt die Speisereste seines Herrn, der den offenbar etwas reichhaltigeren besten Tisch gewählt hatte.

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eigenes Matrikelbuch, das ihnen zur Immatrikulation durch den Universitätssekretär ins Haus gebracht wurde. 17 Dafür entrichteten sie freilich auch einen vielfachen Satz: Während Colson sich für 4 Rtlr einschreiben konnte, musste sein junger Herr 21 Rtlr zahlen. 18 Einen weiteren Punkt galt es noch zu klären: Das gräfliche Matrikelbuch enthielt nämlich im Gegensatz zu seinem bürgerlichen Pendant leere Pergamentseiten, um es mit Wappenmalereien versehen zu können. Hier machte Graf Philipp Ernst einen preiswerteren Vorschlag: Das Wapen in das MatriculBuch dort einmahlen zu lassen wird ebenfals sehr theuer seyn; wenn es nothwendig ist, so wolte ich es machen lassen und dort hinsenden, wenn man die Größe von dem Pergament hätte nach Fuß oder Zollen angegeben auf welches solches seyn muß. 19 Die Sache scheint jedoch endgültig unterblieben zu sein, als Colson feststellte: Daß das Wapen in das MatriculBuch eingemahlet werde, ist eigentlich nicht ohnumgänglich erforderlich, weilen ich gefunden daß es von den wenigsten Grafens geschehen ist. 20 Das Beispiel zeigt jedoch einmal mehr die Bedeutung eines standesgemäßen Auftretens, selbst wenn eine Ausgabe eigentlich als überflüssig angesehen wurde.

Der Unterricht Die Auswahl der zu belegenden Fächer nahm Philipp Ernst persönlich anhand des Vorlesungsverzeichnisses vor, und nach diesen Vorgaben hatte Colson einen Stundenplan zusammenzustellen. Da etliche von Carls Lehrveranstaltungen nicht öffentlich waren, sondern als Privatum in den Professorenhäusern oder gar als Privatissimum für ihn allein erteilt wurden, gab es bei diesem Stundenplan auch im Hinblick auf die Zeiteinteilung mehr Gestaltungsspielraum als bei den durchschnittlichen Studenten. 21 Im Zentrum standen die von Philipp Ernst für einen künftigen Landesherrn als besonders wichtig angesehenen juristischen und staatswissenschaftlichen Fächer. Hierbei ging es keineswegs darum, den jungen Mann zu einem perfekten Juristen heranzubilden, denn anders als seine weniger vornehmen Kommilitonen würde er durch seine Kenntnisse oder gar einen akademischen Grad später nicht seinen Lebensunterhalt erwerben müssen; seine zukünftige Lebensaufgabe stand ja längst fest. Juristische und Verwaltungsaufgaben würden andere für ihn erledigen. Jedoch: Wenn nun einer, dem solches angeht, davon keine Kenntniß hat, sondern nur allein Sachen lernet, welche nicht Haupt- sondern Neben-Sachen sind, so kann einer so wenig die Arbeit derer Fremden, als seiner eigenen Arbeiter beurtheilen, 17 So auch bei Carl, vgl. F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 6, Colson an Graf Philipp Ernst, 9.10.1779. 18 F 1 A XVII 4 Nr. 4a, Rechnungsregister Oktober 1779. Für die Begleiter galt als ehemalige Studenten noch die alte Matrikel, vgl. ebd., f. 14, Colson an Graf Philipp Ernst, 22.10.1779. 19 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 15, Graf Philipp Ernst an Colson, 31.10.1779. 20 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 18, Colson an Graf Philipp Ernst, 12.11.1779. 21 Dafür waren die Veranstaltungen auch teurer. Im ersten Semester zahlte Carl für sich und seine Begleiter an Kollegkosten insgesamt 332 Rtlr (F 1 A XVII 4 Nr. 4a, Rechnungsregister, März 1780).

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und alles geht alsdann in einem solche Lande zugrunde und verkehrt. 22 Als Regent musste er somit wenigstens über ein Grund- und Überblickswissen in jenen Fächern verfügen, die für sein Handwerk einschlägig waren. 23

Lehrveranstaltungen und Professoren R ECHTSWISSENSCHAFTEN . Im ersten Semester begann Carls Unterricht täglich um 9 Uhr mit einer einstündigen Vorlesung bei dem Geheimen Justizrat Böhmer über die Pandekten, welche zwischen 14 und 15 Uhr fortgesetzt wurde. 24 Carl lobte, Böhmer rede eine deutliche Sprache, und greift sich ungemein an, um deutlich zu reden. 25 Wie fast alle Professoren erarbeitete auch Böhmer keine speziell für den Vortrag gedachte Vorlesung, sondern trug aus seinen gedruckten oder noch für eine Veröffentlichung bestimmten Werken vor. Carl berichtete: Böhmer lieset zwar über seines Vaters Compendium indessen mehr nach einem von ihm selbst verfertigten Compendigestarum, welches er aus einem Mangel an Zeit noch nicht hat können drucken lassen. Seinen Vater wiederlegt er oft ganz, und macht neue Subdivisions und Erklärungen, weswegen es schwer ist ihn in dem Werke allenthalben zu finden wo er lieset. 26 Im Sommersemester sollte ebenfalls bei Böhmer von 14 bis 15 Uhr das Feudalrecht gehört werden. Hier rechnete Graf Philipp Ernst wohl mit keiner allzu großen Zuhörerschar: Ich hoffe das Jus feudale bey H Böhmer werde zu Stande kommen, und derselbe solches lesen; weil ich aber gehört daß die dortigen H Professores, wenn sie nicht viel Auditores bekommen können, alsdann die Collegia nicht lesen; so müßte doch bey Zeiten darnach gefraget werden, damit man dessen sicher sey, und allenfalls alsdann etwas mehr gebe, oder daß ich zu seiner Zeit von Hannover aus machte, daß es doch gelesen würde. 27 Mit anderen Worten: Der Graf wollte den Justizrat nicht etwa statt der ausgefallenen Vorlesung um ein weit teureres Privatissimum für seinen Sohn bitten, sondern über seine Beziehungen zur Regierung in Hannover veranlassen, dass die öffentliche Vorlesung auch dann stattfand, wenn lediglich Carl und seine Begleiter zu den Zuhörern gehören würden. Es kam dann aber doch zustande, ebenso wie die tägliche Vorlesung über deutsches Staatsrecht bei von Selchow zwischen 11 und 12 Uhr. R EICHSHISTORIE . Täglich von 15 bis 16 Uhr besuchte Carl die Vorlesung über Reichsgeschichte bei dem Juristen von Selchow. Wie Böhmer trug er sein eigenes Lehrbuch vor: Der H. H. R. v. Selchow lieset sehr geschwinde, indessen da er über sein eigenes Compendium lieset, so fällt es mir sehr leicht wenigstens, auf ein besonderes Papier das was zu denen Kapiteln wichtiges hinzugesezt wird, aufzunotiren. Eine zeitlang hat er sich viel mit Citirung der Autoren welche von der allgemeinen, und besondern ReichsGeschichte geschrieben aufgehalten, Sie alle durchgenom[m]en, und ihr 22 23 24 25 26 27

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57, Graf Philipp Ernst an Colson, 5.3.1780. 4, Carl an Graf Philipp Ernst, 22.2.1780. 7, Stundenplanentwurf, Wintersemester 1779/80. 12, Carl an Graf Philipp Ernst, 18.10.1779. 16, Carl an seinen Vater, 1.11.1779. 68, Graf Philipp Ernst an Colson, 7.4.1780.

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Gutes und böses erwehnt. 28 Als Carl sich in den Weihnachtsferien an die Wiederholung des Stoffs setzen wollte, stellte er fest, dass es durchaus sinnvoll war, den Blick über die vom Dozenten verwandten Unterrichtsmaterialien hinaus schweifen zu lassen und auch andere Bücher zur Hand zu nehmen. So berichtete er seinem Vater: Des H. von Selchows Collegium nehme ich in Schmidts neuer ReichsHistorie durch. Dieses Werk enthält mehr Materie, und merkwürdiges als das vom H. v. S. verfaßte, welches klein, undeutlich ist, und zu seinen lezten Stoße der Kunst Richtung des H. Verfassers selbst ausgesezt ist. 29 Trotz dieser Kritik muss Philipp Ernst Selchows bisherige Arbeiten geschätzt haben, denn dieser stand durch eine besondere Aufgabe, die Erarbeitung eines juristischen Gutachtens – hiervon wird weiter unten noch die Rede sein –, in besonderer Verbindung zum schaumburg-lippischen Grafenhaus, welche er während Carls Göttinger Aufenthalt noch zu vertiefen gedachte. Es ist ein ganz artiger, und ungemein höflicher Mann, stellte der junge Graf fest und lobte Selchow seines ungemeinen Fleißes wegen, die er dieser Sache halben zu bezeigen scheinet. 30 Als Carl erkrankte und das salzige Traiteursessen nur schlecht vertrug, ließ ihm Frau von Selchow täglich Suppe und Gemüse ins Haus bringen. 31 Ein vorsichtiger Versuch Selchows, die neugewonnenen Beziehungen privat zu nutzen, scheiterte allerdings: Philipp Ernst bedauerte, er könne dessen Vetter, der als Fähnrich in Berlin seinen Abschied nehmen musste, leider nicht beim Militär in Münster unterbringen. 32 Es ist leicht verständlich, dass sich Professoren mit ähnlichen Lehrschwerpunkten angesichts eines so prominenten und zahlungskräftigen Schülers, wie Carl es war, mitunter als Konkurrenten empfinden konnten. So scheint der ehrgeizige von Selchow besonders unter seinem berühmteren Kollegen Pütter gelitten zu haben. Bezüglich der Bearbeitung des „Jeverschen Gutachtens“ wollte er beispielsweise wissen, ob wir mit dem Geheimen justitz Rath Pütter diese Sache betreffend auch gesprochen hätten, und ersuchte wir möchten solches nicht thun, Sie wären zwar keine Feinde zusammen jedoch so wolten ihre beyde Gemüthsarten nicht harmoniren, und er hätte seine gründlichen Absichten dabey. 33 Dass Pütter schon vorher gefragt worden war, jedoch abgelehnt hatte, war ihm wohlweislich verschwiegen worden. Im zweiten Semester hielt Pütter eine Vorlesung über die Reichshistorie. Da Carl sie bereits bei von Selchow gehört hatte, hielt er die Veranstaltung bei seinem Stundenplanvorschlag für das neue Semester nicht für nötig. Sein Vater belehrte ihn jedoch: Es würde eine Schande seyn, für einen jungen Menschen von Stande, wenn derselbe in Göttingen gewesen wäre, und hätte bey dem H Pütter nicht F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 16, Carl an seinen Vater, 1.11.1779. F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 32, Carl an seinen Vater, 31.12.1779. 30 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 10, Carl an seinen Vater, 11.10.1779. 31 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 79, Carl an seinen Vater, 19.5.1780: Seit einigen Tagen schikt mir die gn. Frau von Selchow, allem Verbitten ohngeachtet täglich mittags und abends Suppe und Gemüse, und in der That, mag ich mir des Verbittens nicht so sehr angelegen seyn lassen, denn man findet seine Rechnung unendlich besser dabey, als bey den salzigten Gerichten des Traiteurs. 32 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 26, Carl an seinen Vater, 6.12.1779, u. f. 27, Graf Philipp Ernst an Carl, 18.12.1779. 33 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 14, Colson an Graf Philipp Ernst, 22.10.1779. 28 29

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alle mögliche Collegia gehöret, weil dessen Wissenschaften für einen jungen Menschen, als mein Sohn ist, ganz unentbehrlich sind. 34 Tatsächlich berichtete Colson ganz begeistert von dieser Lehrveranstaltung, von der man viel profitiere: Pütters außerordentlich große[s] Auditorium war völlig mit Zuhörern besetzt, darunter sich, außer Herr Graf Carl, auch die Grafen Bentinck, der Graf Reuß, und der unter den Nahmen eines Grafen hier studierende junge Fürst von Stollberg Gendern befand. 35 Ein Gelehrter vom Range Pütters konnte es sich auch erlauben, den Wunsch Carls nach einem Privatissimum über das Jus publicum wegen Arbeitsüberlastung zurückzuweisen, so dass wieder einmal von Selchow den Lückenbüßer spielen musste. 36 U NIVERSALHISTORIE . Dieses Fach wurde in beiden Semestern von 16 bis 17 Uhr als Vorlesung von Professor August Ludwig Schlözer gelehrt, der zu den von Graf Carl am meisten geschätzten akademischen Lehrern zählte: H. Prof. Schlözer ist ein Mann mit seinen soliden einnehmenden Vortrag dessen Stunden mir immer zu Viertel Stunden werden, vermuthlich deswegen auch wohl, weil ich fast alles aufschreibe was derselbe vorträgt, da diese Wissenschaft mir so nüzlich scheint. Die Amerikaner haben bey Gelegenheit der Freyheit ihren Theil auch bekommen, doch zwar nicht sowohl das Volk allein, als hauptsächlich die Rebellen so das arme Volk aufgewiegelt. Er statuirt nehmlich gar keine Freyheit in der Aristokratie, und beweist daß so wenig Völker die unter Aristo- als Dem- noch Mon- noch Despotie leben frey sind, ja daß es die unglücklichsten Völker sind die ihre Freyheit hätten. 37 Für einen künftigen Landesherrn mochte dies eine beruhigende Erkenntnis sein. Außerdem genoss Carl noch das Privileg zusätzlicher Privatstunden: Ich habe mit dem H. P. Schlötzer einen vortheilhaften Contract geschlossen, er komt des Abends zuweilen zu uns in der Wohn[ung], und wir zu ihm, sein Unterhalt ist ungemein lehrreich, und nüzlich, Ew. Gnaden werden viel Cnaster Tabac deswegen in der Rechnung finden, den[n] Rauchen muß man mit ihm, das ist seine 2 te Seele. 38 Auch Philipp Ernst schätzte Schlözer und war Leser von dessen Briefwechsel meist historischen und politischen Inhalts. Gern nahm er daher die Gelegenheit wahr, Schlözer durch seinen Sohn Archivmaterial zu einem interessanten Fall liefern zu können, und zeigte sich später enttäuscht, als der Beitrag später doch ohne die offenbar zu spät eingeschickten Unterlagen veröffentlicht wurde. 39 S TIL - UND R HETORIKUNTERRICHT . Als Lehrer in diesem Fach, das Philipp Ernst für jemanden, der viel zu korrespondieren und in der Öffentlichkeit zu F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 57, Graf Philipp Ernst an Colson, 5.3.1780. F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 71, Colson an Graf Philipp Ernst, 17.4.1780. 36 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 61, Colson an Graf Philipp Ernst, 14.3.1780. 37 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 16, Carl an seinen Vater, 1.11.1779. 38 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 50, Carl an seinen Vater, 22.2.1780. 39 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 46, Graf Philipp Ernst an Carl, 19.2.1780: Peutetre que Mr Schlötzer n´a pas encore eu la Lettre du fameux et malheureux Comte de Görtz de laquelle je Vous envoye copie cy joint, laquelle a eté tirée nouvellement des archives des Etats de la Suede, et laquelle est memorable, peut etre que Mr Schlötzer en peut faire usage dans son Briefwechsel. Vgl. auch ebd., f. 64, Graf Philipp Ernst an Carl, 20.3.1780. 34 35

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reden haben würde, für höchst notwendig hielt, war kein Geringerer als der Altphilologe Christian Gottlob Heyne vorgesehen. Zwar zweifelte der Justizrat Böhmer, daß derselbe sich mit dem deutschen Styl abgeben würde, indem dieses seines Wissens von niemand als etwann einigen jungen Professoren oder Magisteris tradirt würde, 40 doch beharrte der Graf auf seinem Wunsch, schließlich sei Heyne als Professor der Beredsamkeit hierfür zuständig. 41 Er glaube auch, dass Heyne sich dessen nicht entsagen [werde], weilen solches nicht allein den teutschen Styl, sondern auch den lateinischen zugleich mit betrift, und einen Magister deshalb anzunehmen gar nichts helfen kan, weilen selbige gemeiniglich selber nichts verstehen und es erst selber lernen müssen. 42 Tatsächlich war Heyne auch zu einem zweistündigen Privatissimum an drei Tagen in der Woche von 11 bis 12 Uhr bereit, ließ sich den für ihn wenig attraktiven Anfängerunterricht allerdings auch mit der stattlichen Summe von 20 Louisdors bezahlen. 43 Colson machte die Erfahrung, dass es bei den namhaften Professoren wenig preislichen Verhandlungsspielraum gab: Mit diese Herrn läst sich nicht wohl viel accordiren, weil es scheinet, es wäre Ihnen nicht viel darum. Die Grafen von Stadion hätten im vergangenen Jahr sogar 30 Louisd´ors für ein Privatissimum zahlen müssen. 44 Dafür gab es aber auch maßgeschneiderten Unterricht: Zuerst verlangte er zu wissen, worinn eigentlich dieser Unterricht bestehen sollte, ob in bloßer Rechtschreibung der deutschen Sprache, oder im Unterricht zu Poesie, verschiedene Ausarbeitungen welche ich zu Hause machen müßte, und wozu er nur in seinem Hause eigentlichen vorläufigen Unterricht ertheilen, und die Anwendung der Fälle und Lagen in welchen sich jemand befände, um Aufsätze zu machen, zeigen könnte. 45 Auf Philipp Ernsts Wunsch sollten sowohl das Lateinische als das Teutsche vorgenom[m]en werden, auch allenfals Poesie, die RedeKunst und Declamation pp Ausarbeitungen, welche zu Hauße gemacht werden müssen, verstehet sich ebenfals. 46 So begann Heyne mit ziemlich allgemeine[n] Wahrheiten vom Styl, theils wie man sich schriftlich, theils mündlich ausdrücken müsse. 47 Später ließ er Carl kapitelweise Das Leben Turennes lesen und zusammenfassen. 48 H ISTORISCHE H ILFSWISSENSCHAFTEN . Als Privatissimum lehrte Professor Gatterer, der Begründer dieses Faches, im Wintersemester an drei 40 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 5, Carl an seinen Vater, 9.10.1779. Vgl. auch ebd., f. 6, Colson an Graf Philipp Ernst, 9.10.1779: Was das Collegium Stili anbetrift so äußerte der Geheime justitz Rath Böhmer bey einem Ihm gemachten Besuch einige Befremdung und Zweifel ob Hofrath Heyne auf diese materie sich einlaßen würde, und hielte dafür, daß man hiezu wohl einen Magister ins Haus kommen laßen müße. 41 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 8, Graf Philipp Ernst an Colson, 15.10.1779. 42 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 9, Graf Philipp Ernst an Colson, 15.10.1779. 43 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 14, Colson an Graf Philipp Ernst, 22.10.1779. 44 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 14, Colson an Graf Philipp Ernst, 22.10.1779. Der Graf antwortete: Ich glaube ganz gern, daß die dortigen Professores sich sehr theuer bezahlen lassen, denn es ist überhaupt alles sehr theuer dorten (ebd., f. 15, Graf Philipp Ernst an Colson, 31.10.1779). 45 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 12, Carl an seinen Vater, 18.10.1779. 46 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 13, Graf Philipp Ernst an Carl, 31.10.1779. 47 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 16, Carl an seinen Vater, 1.11.1779. 48 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 24, Carl an seinen Vater, 3.12.1779.

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Vormittagen Chronologie, Heraldik und Numismatik. Carl berichtete: H. HofRath Gatterer hat auch den Anfang mit der Chronologie gemacht, und als Hypothese gleich voraus gesezt, daß man ohne dieselbe in vielen Sachen nicht zur Erkenntniß des Wahren gelangen könne. Machte zugleich einige Professoren lächerlich, welche in dieser Materie aus Unwissenheit einige Fehler begangen. 49 Als Carl erkrankte und das Kollegium nicht zu Ende hören konnte, erfuhr der vornehme Schüler eine Vorzugsbehandlung: Der Hofrath Gatterer liest mir in diesen PfingstFerien sein voriges Collegium aus, und hat die besondere Attention, zu mir zu kommen, weil ich nicht ausgehen darf, wenigstens nicht über eine halbe Stunde, und dieses im Sonnenschein, und man zu ihm über die Leine muß, da es sehr windig ist. Gestern Nachmittag war er lange hier, und bewies mit einer großen Menge Abdrucke alter Kayserl. Siegel, daß der Adler schon zu Otten II Regierung das ReichsWappen vorgestellet habe. Zu diesem Beweise hat er bis auf 10 der schönsten Folianten zerschneiden müssen, um die Kupferstiche zu haben. Ich habe mich das Register dieser Samlung von ihm zur Abschrift ausgebeten. 50 P HYSIK . Um den Physikunterricht sei es derzeit in Göttingen schlecht bestellt, hatte Carl gleich anfangs gemeldet, Kästner lehre sie nicht mehr und andere kämen nicht auf ihre Kosten. Das wunderte den Grafen, der für dieses Fach ein besonderes Interesse hegte. 51 Erstaunlicherweise hat Carl einen weiteren Professor, der in der Experimentalphysik mittlerweile mehr Aufsehen erregte als sein früherer Lehrer Kästner, nicht persönlich kennen gelernt. Lakonisch schrieb Carl: Lezt sprach ich mit dem H. Buchführer Dieterichs, der mir eröffnete, daß der H. Professor Lichtenberg schon eine Zeitlang aus einer Pistole mit fauler Luft schöße. 52 Dagegen traf er Kästner gleich nach seiner Ankunft, auch wenn dieser als akademischer Lehrer zunächst nicht vorgesehen und darüber etwas gekränkt war: Wir haben mit Visiten zu geben bishero fortgefahren, und unter anderem auch den Herrn HofRath Kæstner, welcher nach Lavater zu urtheilen, eher die Phisio[g]nomie eines Ravalliac und Malagrida als des ihm eignen großen Mannes hat. Seine Züge sind beständig lächelnd, bey jedem Tritt auf der Treppe eine tiefe Verbeugung, und beym Sprechen sieht er niemanden an. Er erkundigte sich, ob ich bey ihm hören würde, und da ich ihm denn für dieses halbes Jahr nichts versprach, so wandte er meine Worte so um daß man freylich hier viele nüzliche andere Sachen lernen könne, man könne ja sogar zu viel lernen. 53 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 16, Carl an seinen Vater, 1.11.1779. F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 79, Carl an seinen Vater, 19.5.1780. Vgl. auch ebd., f. 36, Colson an Graf Philipp Ernst, 25.1.1780. 51 Carl sollte sich erkundigen, ob man schon Versuche kenne, wie sie der Engländer Priestley und Professor Volta in Como mit inflammabler Luft durchführten (F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 25, Graf Philipp Ernst an Carl, 15.12.1779: s´il ont deja a Göttingue les Experiences avec l´air fixe et inflammable, lesquels nous avons icy, selon Pristley anglois, et le Professeur Volta a Como en Italié. dont les traités seront sans doute a Göttingue: ainsi que les Instruments entre autre le Pistolet pour tirer avec l´air Inflam[m]able, et les autres Instruments, zu denen Versuchen mit der Sumpflicht). 52 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 32, Carl an seinen Vater, 31.12.1779. 53 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 12, Carl an seinen Vater, 18.10.1779. 49 50

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Sein Vater antwortete: Die Beschreibung des H. Hofrath Kæstner was deßen Aussehen anbetrift ist für selbigen nicht vorteilhaftig, obgleich derselbige in seiner Wissenschaft ganz gelehrt ist [...] Die experimentale Phisic, welche derselbe lieset, soll in Ansehung der experimenten nicht sonderlich seyn, weilen selbige ihm nicht reussiren [= gelingen], es mögte denn seyn, daß er die Mathematique mit durchnehme. In Mathesi applicata weiß ich nicht ob er deutlicher sey, ich zweifle aber sehr daran: es mus einer schon viel wissen, sonst kann derselbe bey ihm nicht profitiren, auch muß einer einen offenen Kopf haben und sehr genau Achtung geben. 54 Von Carls Wunsch nach Astronomieunterricht hielt der Graf nichts, da man in der kurzen Zeit ohnehin nur oberflächliche Kenntnisse erwerben könne und das Fach zwar unterhaltsam, aber nicht notwendig sei. 55 Schließlich ließ er sich dennoch überreden, seinem Sohn im Sommersemester ein Kolleg in angewandter Mathematik bei Kästner zu erlauben, allerdings nur zu einem günstigen Preis und ohne weitere Stunden zum Wiederholen daheim zu beanspruchen. I TALIENISCH . Auf die Erlernung dieser für Carl neuen Fremdsprache legte Philipp Ernst großen Wert, doch musste der Unterricht gegenüber dem für dringender gehaltenen Stilkolleg und der Chronologie zunächst bis zum Sommer zurückstehen. Ab April 1780 kam der italienische Sprachmeister Calvi täglich ins Quartier und hielt dort Privatunterricht ab, an dem außer Carl auch Colson, Caspari und Brinckmann teilnahmen. Philipp Ernst empfahl, vorher einen günstigen Preis auszuhandeln, in welchen auch die Begleiter eingeschlossen sein sollten. Der italienische Sprachmeister werde vor eine Stunde vor Carl 2 Ducaten und vor jeden der mit hinein gehet einen Ducaten verlangen, wenn Sie aber auch vorher accordiren, so gehet solches ganz anderst, und werden vielleicht, Sie alle, den[n] ich vermuthe Caspari und Brinckmann werden es auch lernen wollen, und Sie selber vielleicht, alsdann eine Stunde alle Tage in der Woche vor 3 Ducaten des Monats haben können. Wenn er nicht wolle, solle man es darauf ankommen lassen, es gebe auch so genug zu lernen. 56 F ECHTEN . Damit Carl nicht nur geistig arbeitete, sondern auch die nötige körperliche Bewegung bekam, befürwortete Philipp Ernst die Teilnahme am Fechtunterricht, obwohl Carl in den Exerzitien bereits in Münster unterrichtet worden war. 57 Es muß aber die gröste Vorsicht dabey gebraucht werden und erst Erkundigung eingezogen wie es auf dem Fechtboden hergehe, weilen es daselbst gemeiniglich tumultuarisch pflegt zuzugehen, und allerhand Händel passiren. Deshalb dürfe

F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 13, Graf Philipp Ernst an Carl, 31.10.1779. F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 25, Graf Philipp Ernst an Carl, 15.12.1779: Il ne peut jamais etre question pour vous d´apprendre a fond l´astronomie, puisque cela demande une application particuliere, seulement une connoissance superficielle peut amuser et vous etre utile et agreable [...]. Sie sei divertissant, mais d´aucune necessité, ny meme utilité pour vous. 56 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 4, Graf Philipp Ernst an Colson, 13.10.1779. Letztlich wurden es 4 Louisd´ors für alle, ebd., f. 71, Colson an Graf Philipp Ernst, 17.4.1780. 57 F 1 A XVII 4 Nr. 3, f. 96, § XIV, Instruktion, 27.9.1779. Dazu gehörten Reiten, Tanzen und Fechten. 54 55

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Carl dort nur in Begleitung erscheinen. 58 Colson konnte den Grafen jedoch beruhigen: Ich habe noch nie einen Fechtboden gesehen, wo es ordentlicher zugehet wie dahier [...], es wird auch nicht gerne vom Fechtmeister gesehen, daß die Herrn unter sich daselbst fechten, sonder es muß jedesmahl mit den Fechtmeister Selbst oder mit dem Vorfechter geschehen. 59 Carl fand freilich zu kritisieren, dass die in Göttingen gelehrte Körperhaltung, verglichen mit der in Münster gelehrten, falsch sei: Der Cörper liegt hier zurück und die Hand gesenkt. Es soll Kreuslers Methode seyn. Indeßen ists der Motion wegen dort sehr gut, da lauter Anfänger da sind, so bleibts schlechtweg bey der Motion, und komt zu keinen gefährlichen Assos [= Assaults, Angriffe] für die Augen. Der FechtMeister Scholze ist ein 80Jähriger Mann, sein Vorfechter Feuerhahn muß das beste dabey thun. 60

Unterrichtsablauf und Kollegienbesuch Viele der für Carl gewählten Fächer wurden als Privatissimum gelehrt, also in Form von Einzelunterricht, der entweder in der Wohnung des Professors oder in der des Studenten stattfand. Die Hauptfächer besuchte der junge Graf jedoch als Vorlesung. Im 18. Jahrhundert gab es einige Vorlesungssäle in der Universität, die meisten befanden sich dagegen in den Professorenwohnungen und waren entsprechend eng. Wiederholt klagte Carl über die gar zu stark mit Auditores angefülten engen Collegiis und dadurch inficirte Luft, [...] den dumpfigen Auffenthalt und über Drücken auf der Brust, wenn er aus den Pandekten und vom Professor Schlözer komme, weilen im erstern fast 200 und bey den andern einige 70 Studenten in einen nach Proportion dieser Anzahl engen eingeheitzten Zimmer jedesmal versamlet sind. 61 Im Sommer waren Hitze und Dunst in den Collegiis besonders schlimm, weshalb manche Studenten in dieser Zeit weniger Veranstaltungen als im Winter belegten. 62 Wahrscheinlich lag es auch an der schlechten Luft, dass der Justizrat Böhmer einmal während der Vorlesung sogar von einer Ohnmacht befallen wurde. 63 Als Adliger hatte Carl eine höhere Gebühr für den Vorlesungsbesuch zu entrichten, genoss dabei aber auch besondere Privilegien. Damit sich die vornehmen Herren nicht in die engen Bänke zu zwängen brauchten, gab es einen eigenen Grafentisch. So berichtete Hofmeister Colson: Die Herrn Grafen von Stadion mit ihrem bey Sich habenden Canonicus hören zugleich bey dem H. Geheimen justiz Rath Böhmer die Pandecten und sitzen so wie Herr Graf Carl, Justiz Rath Caspari und Secretair Brinckmann an den Grafen Tisch, bey Hofrath von Selchow und Professor Schlözer wird das nemliche beobachtet, und weilen ich diese Collegia mit besuche, so werde ich auch meinen Platz an solchen Tisch einnehmen, die ReichsHistorie bey Hofrath von Selchow wird aber von keinen andern Grafen mehr gehöret. Auf von Selchows höfliche Bitte hin habe man daher gestattet, dass 58 59 60 61 62 63

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9, Graf Philipp Ernst an Colson, 15.10.1779. 14, Colson an Graf Philipp Ernst, 22.10.1779. 16, Carl an seinen Vater, 1.11.1779. 35, Colson an Graf Philipp Ernst, 22.1.1780. 50, Carl an seinen Vater, 22.2.1780. 32, Carl an seinen Vater, 31.12.1779.

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ausnahmsweise auch ein Baron Adelmann mit an dem Tisch sitzen dürfe. 64 Die Platzierung „niederrangiger“ oder gar bürgerlicher Personen am Grafentisch scheint Graf Philipp Ernst als problematisch empfunden zu haben. Colson mochte noch angehen, aber ein Justizrat und gar Sekretär? Er verwunderte sich, daß man leidet, daß der Caspari und Brinckmann sich mit an den Tisch setzen dürfen der dort gewöhnlich für die Grafen und ihre HofMeisters besonders gesetzet wird, daß nemlich die Professors solches leiden, und die Studenten darüber nicht Lerm machen; für Ihnen [= Colson] ist es ein anders, solches wird Ihnen keiner wehren aber wegen derer andern beyden muß gemachet werden, daß es keine Umstände gibt, welches leicht seyn kan, wie ich aus der Erfahrung habe, und auch dorten geschehen, es mögte denn anjetzo dort ruhiger seyn als vor diesem. 65 Colson beruhigte ihn jedoch, dass es niemanden störe, überhaubt beweteyfern sich dahier die Studenten, eine artige und sittsame Aufführung anzunehmen, und es ist zu verwundern daß man von Eintausend und dreißig dieses halbe Jahr hier studirenden jungen Leüten nicht mehr Unruhe und Tumult gewahr wird. 66 Anfangs fiel Carl das viele Sitzen und der Verzicht auf das geliebte Ausreiten schwer: Man ist fürwahr herzlich steif, wenn man 3 Stunde hier in den Collegiis gesessen hat [...]. Man giebt so genau und achtsam Achtung daß man sich nicht bewegt, da der Vortrag der H.[erren] so ausnehmend einnehmend ist [...], daß ein ertzfaulenzer auf andere Wege gerathen müßte. 67 Zu dem vorbildlichen Verhalten mochte der Umstand beigetragen haben, dass sich die Gruppe am Grafentisch vorn stets im Blickfeld der übrigen Zuhörer befand. Später räumte Carl gegenüber seinem Vater freilich ein, dass seine Gedanken bei dem stundenlangen Sprechen mitunter abschweiften. Er fühle sich an das gleichförmige Geräusch einer Mühle erinnert; nirgends schlafe man besser. 68 Die bereits erwähnte Gewohnheit der Professoren, in den Vorlesungen ihre Lehrbücher vorzutragen, führte zu einem sehr raschen und inhaltlich konzentrierten Vortragsstil. Carl schaffte daher die entsprechenden Werke in ungebundener Form an und ließ sie beim Buchbinder anschließend mit Leerseiten durchschießen und binden. 69 In einigen Vorlesungen, beispielsweise bei Böhmer, trug Carl seine Mitschriften direkt in das Buch ein: Caspari und Brinckman [schreiben] ihn in allen Abweichungen nach. Und ich habe mich das Buch mit weißem Papier durchschießen lassen, und schreibe alle Juristische Termini, und Definitionen auf, auch Exempel des dabey stehenden Inhalts im Druck gegenüber. 70 Auch bei Schlözer funktionierte das arbeitsteilige Mitschreibeverfahren gut: Caspari und Brinckmann schrieben die Gliederung mit, und ich halte mich immer an die Beyspiele, und Erläuterungen, so entwischt uns nichts, und da ich nachdem zu Hause aus meinen übrigen Scriptis den Text in Ordnung mit allen Beyspielen zusammen ins reine schreibe, so imprimire ich es mir ungemein dadurch. 71 64 65 66 67 68 69 70 71

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4, f. 14, Colson an Graf Philipp Ernst, 22.10.1779. 4, f. 15, Graf Philipp Ernst an Colson, 31.10.1779. 4, f. 18, Colson an Graf Philipp Ernst, 12.11.1779. 4, f. 16, Carl an seinen Vater, 1.11.1779. 4, f. 24, Carl an seinen Vater, 3.12.1779. 4a, Rechnungsregister, passim. 4, f. 16, Carl an seinen Vater, 1.11.1779. 4, f. 16, Carl an seinen Vater, 1.11.1779.

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Bald wurde das gesammelte Material aber zu viel und die Zeit des jungen Grafen zu knapp, so dass er auf den durchaus üblichen Ausweg verfiel, die Vorlesungen durch zwei seiner Lakaien abschreiben zu lassen, die auf diese Weise ihr als zu knapp empfundenes Kostgeld aufbesserten. 72 Ein gutgemeinter Hinweis Colsons zur Erhöhung des Kostgeldsatzes hatte jedoch den entgegengesetzten Erfolg. Philipp Ernst zeigte sich höchst verärgert über die Impertinentz der Lakaien, die immerhin 30 Rtlr Jahreslohn und alle 14 Tage 1 Dukaten erhielten. 73 Wie ich in Göttingen gewesen bin, hat der eine Laquaie, welchen ich mit hatte, alle Aufwartung allein thun müßen, und die Woche 1 Rthlr Kostgeld und 12 oder 15 Thlr. Lohn des Jahrs bekommen, dabey hat derselbe, wann er sonst nichts zu thun verschiedene Collegia mir abschreiben müssen, ohne daß derselbe dafür besonders bezahlt worden. Colson habe künftig darauf zu sehen, daß mein Sohn von seinen Taschen-Geldern nichts dafür bezahle, weilen die Laquaiens schuldig sind, so wie sie bezahlet werden, beständig im Dienst zu seyn, und entweder das eine oder das andere zu verrichten, ohne dafür besonders bezahlt zu werden. Sollten die Diener dies nicht akzeptieren, würden die Faullentzers in der Livrée sofort entlassen. Er sei jedenfalls nicht bereit, daß die Domestiquen einen ruiniren sollen. Zeit, Versäumtes in den Ferien nachzuholen, blieb kaum. Zwar begannen die Professoren in der Regel ihre Veranstaltungen später als im Vorlesungsverzeichnis angegeben und schlossen zuweilen auch eher. Dies galt jedoch nicht für alle. Böhmer beispielsweise, der sich mit seinen Pandekten Ende 1779 im Rückstand befand, verzichtete auf die Weihnachtsferien und las ohne Pause durch, ab Februar sogar mit einer weiteren wöchentlichen Stunde, um den Stoff zu bewältigen. 74

Die Studenten Selbst unter der vornehmen Göttinger Studentenschaft nahm Carl als Angehöriger des Grafenstandes noch eine besondere Rolle ein, und entsprechend wichtig war – bei allem Lerneifer und Fleiß in den Kollegien – die Pflege gesellschaftlicher Kontakte. Ausdrücklich begrüßte Philipp Ernst, dass die Lehrveranstaltungen etwas später als erwartet begannen, da Carl die freie Zeit

72 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 21, Colson an Graf Philipp Ernst, 3.12.1779. Pro Bogen erhielten sie einen Groschen. Nur der Mohr Alexander, der nicht schreiben konnte, musste auf die Zusatzeinnahme verzichten. Zu Göttinger Studentendienern und ihrer Bezahlung in: Silke W AGENER , Pedelle, Mägde und Lakaien. Das Dienstpersonal an der Georg-August-Universität Göttingen 1737 bis 1866 (Göttinger Universitätsschriften. Serie A: Schriften 17), Göttingen 1996, S. 151-155, zum Abschreiben von Vorlesungen ebd., S. 150. 73 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 23, Graf Philipp Ernst an Colson, 15.12.1779. Auch die folgenden Zitate hieraus. 74 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 32, Carl an seinen Vater, 31.12.1779: Die Weynachts Ferien sind bereits eingetreten, doch hat der H. G. J. R. Böhmer keine gemacht, da ihm ohnehin dieses halbe Jahr sehr kurz ist, und er nur bis jetzt erst den vierten Theil kaum abgemachet hat, wie derselbe durchzukommen denkt, ist nur bis jetzt noch unbegreiflich, zwar wird er tripliren, allein dieses sagt man werde er erst im Februar vornehmen.

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nutzen könne, um Bekanntschaften zu schließen. 75 Welche Studierenden aus dem Grafenstand in Göttingen weilten, hatte Colson längst in Erfahrung gebracht, und so begannen – in der Reihenfolge des Ranges – bald die ersten Visiten, die nach einem festen Muster mit Besuch und Gegenbesuch abliefen. 76 Zwar seien die Grafen von Stadion und der Graf von ÖttingenWallerstein gerade verreist, 77 doch würden die Visiten nachgeholt. Gestern früh besuchten wir in Gesellschaft des H. v. Dincklage die H. Grafen von Bentink. 78 Selbige waren recht höflich, und wollten es noch mehr seyn als es ihre Zunge ihnen zulassen wollte, der Holländer kam ums 3te Wort zum Vorschein [...]. Sie nähmen Stunde im teutschen erzählten sie uns, um denen Collegiis mit mehrerm Nuzen beywohnen zu können. 79 Erst 16- bis 17-jährig, hatten sie in den Wissenschaften noch keine sonderliche Progresse gemacht, sie seien noch in der philosophischen Sphäre und hörten Logik und Psychologie. 80 Interessiert nahm Philipp Ernst diese Mitteilungen auf, kamen sie doch d´une des premieres familles de la Hollande tres en credit dans ce pays. 81 Nach zwei Wochen waren die ersten Pflichtbesuche glücklich abgestattet, wie Colson zufrieden nach Bückeburg melden konnte: Bey denen Herrn Professores, und dahier studierenden Herrn Grafens auch einigen Cavaliers sind die erstern Besuche abgestattet, unter letztern befindet sich ein Herr von Münchhausen aus Hannover, so Director der hiesigen Piqueniques ist, und ein Sohn des Feldmarchal von Hardenberg, es haben auch die mehrsten bereits Gegen visite gemacht, am verfloßenen Sontag vormittag waren die Herrn Grafen von Bentinck mit Ihrem Hofmeister bey uns, überhaubt werden Herr Graf Carl mit einer Hochdenenselben gebührenden Distinction und Respect von Jedermann begegnet. 82 Außer bei studentischen Visiten traf man seinesgleichen auch bei Einladungen der Professoren: Vor einiger Zeit sind Herr Graf Carl Gnaden, Caspari, Brinckmann und ich bey Herrn Hofrath von Selchow zum Soupér invitiret gewesen, wo man einen Domherrn Adelmann aus Trier, einen Kammerherrn von Brackel und einen Obersten von Linsing traf. 83 Dass eine derart exponierte Stellung wie die des schaumburg-lippischen Erbgrafen auch ihre Gefahren barg, dürfte Philipp Ernst von früher bekannt F 1 A XVII 4 Nr. 2, Graf Philipp Ernst an Carl, 11.10.1779. Beispielsweise F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 18, Colson an Graf Philipp Ernst, 12.11.1779: Kürztlich ist annoch ein Graf von Zedlitz mit seinem Hofmeister aus Schlesien angekommen, um dahier zu studiren [...]. Sie haben uns gestern visite gemacht, wir werden demnach noch heute GegenBesuch abstatten. 77 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 3, Colson an Graf Philipp Ernst, 7.10.1779. Es handelte sich um die Grafen Friedrich und Johannes Philipp von Stadion und Thannhausen, imm. 12.10.1778, Matr.-Nr. 11275, 11276, sowie um Graf Philipp Joseph von ÖttingenWallerstein, imm. 2.11.1778, Matr.-Nr. 11371. 78 Die Grafen Wilhelm Gustav und Johann Carl Bentinck, imm. 28.7.1779, Matr.-Nr. 11646, 11647. 79 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 10, Carl an Graf Philipp Ernst, 11.10.1779. 80 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 16, Carl an Graf Philipp Ernst, 1.11.1779. 81 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 11, Graf Philipp Ernst an Carl, 21.10.1779. Sie interessierten ihn nicht zuletzt wegen einer möglichen Verbindung zu Varel und Kniphausen und der Jeverschen Sukzessionsfrage, vgl. dazu weiter unten. 82 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 14, Colson an Graf Philipp Ernst, 22.10.1779. 83 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 18, Colson an Graf Philipp Ernst, 12.11.1779. 75 76

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gewesen sein, und so wurde in die Colson erteilte schriftliche Instruktion ausdrücklich eine Passage aufgenommen, wonach Schmeicheleyen niederträchtiger Leute, die sich dadurch bey Denenselben zu insinuiren suchten, nicht zu dulden seien. 84 Wie recht er damit hatte, erfuhr Carl kurz nach seiner Ankunft, als sich ein Kammerjunker von Cramer bei ihm vorstellte und nach einigen leicht zu durchschauenden Vorwänden auf seinen schmalen Etat zu sprechen kam. Ich bedaurete sein Schicksal, und frug nach gleichgültigen Dingen, da ich nunmehr die Spur hatte, hinzu kam der H. Major Colson, und der H CammerJunker nahm Abschied. In ein paar Stunden fanden wir denselben bey dem H. G. J. R. Pütter vor, und hatte derselbe 2 Louisd´or auf den Tisch gezählt, welche ihn derselbe mochte abgeschwäzet haben. Er soll hier schon geraume Zeit studiret haben, indeßen muß derselbe ganz besondere Collegia über die unverschämte Beredsamkeit frequentiret haben. 85 Der Vorfall sei, so Philipp Ernst, eine Lehre, daß man in der Fremde nicht leicht trauen dürfe. 86 Vorsichtiger war Philipp Ernst daher, als sich ein junger nach Holland reisender Portugiese bei ihm in Münster vorstellte, der Carl und seine Begleiter in Göttingen kennen gelernt haben wollte. Da das Gerücht ging, er sei wegen eines Vorfalls aus Göttingen fortgewiesen worden, bat er Colson um nähere Nachricht. Dieser antwortete umgehend: Es ist ein Sohn des schon seit vielen Jahren in Lissabon sich etablirten sehr wohlhabenden teutschen Kaufmann und Juwelen Händler Herrn Hockel aus Hamburg. [...] Er besitzt so wohl in Lissabon als auf den Lande große Güter, und es ging sehr vornehm bey ihm zu. Der Sohn befinde sich seit zwei Jahren auf der Universität und scheine bis dahin nur galante Wissenschaften gewählt zu haben. Vor einigen Monaten ist zwischen ihm und einem hiesigen Studenten Nahmens von Sickingen aus Franckfurt wegen Gewäsche und Liebhaberey Streit entstanden, wobey letzterer hart blessirt worden. Darauf hatten beide nebst den adligen Sekundanten das Consilium abeundi erhalten, allein sind auf Befehl von Hannover wiederum recipiret worden [...], es sind alle vier sehr reiche Leute, so dahier sehr viel Geld verzehren. 87 Offenbar verfügte der junge Hockel auch ohne einen Adelstitel über genügend Ansehen und Einfluss, so dass selbst der vorsichtige Philipp Ernst in Bückeburg lediglich die Hoffnung aussprach, es werde keine künftigen Händel mehr geben, aber den Kontakt zu seinem Sohn nicht ausdrücklich verbot. 88 Als es bald neuen Verdruss gab, weil Hockel eine mitgebrachte englische Dogge trotz Befehl nicht abschaffen wollte, bemerkte er nur nachsichtig, Hockel fehle eben ein Hofmeister, welchen ihm sein Vater dort hätte mitgeben sollen, weilen derselbe sonst leicht verunglücken kan, und es eine große Thorheit von selbigen ist, sich um eines Hundes halben, mit der Obrigkeit verunwilligen zu wollen. 89 Wie bei Hockel, war auch das Leben vieler anderer Studenten von Reichtum und Repräsentation bestimmt. Insbesondere bei der Kleidung wurde in Göttingen ein größerer Aufwand als an anderen Universitäten getrieben, in F 1 A XVII 4 Nr. 3, f. 96, Instruktion, § VIII, 27.9.1779. F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 1, Carl an Graf Philipp Ernst, 7.10.1779. 86 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 2, Graf Philipp Ernst an Carl, 11.10.1779. 87 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 45, Colson an Graf Philipp Ernst, 12.2.1780. 88 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 47, Graf Philipp Ernst an Colson, 18.2.1780. 89 F 1 A XVII 4, Nr. 4, f. 49, Graf Philipp Ernst an Colson, 26.2.1780. Zur Hundehaltung siehe B RÜDERMANN , wie Anm. 13, S. 432f. 84 85

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der übertriebenen Prachtentfaltung sahen die Professoren auch die Ursache für Schulden. 90 Carl fiel gleich nach seiner Ankunft auf: Der Luxus unter den hiesigen Studiosis ist sehr groß, weswegen viele Schweizer hier sind, die sich französische Patenter geben lassen, um des Sonntags in wenig prächtigen Trachten erscheinen zu können. Auch gehen deswegen die Schweden bey Festtagen, oder vorfallenden Gelegenheiten in ihrer National Tracht. 91 Sein Vater mahnte ihn denn auch umgehend, dass es nicht notwendig sei, dem Beispiel der zu prachtvoll Gekleideten zu folgen, vor allem dann nicht, wenn man zu jenen Personen gehöre, die gegenüber den anderen den Ton angeben könnten. 92 Wie auch bei den übrigen Ausgaben galt die Maxime in Colsons Instruktion, daß nichts unnötiger Weise ausgegeben, jedoch [...] der Wohlstand dabey beobachtet werde. 93 Überhaupt wünschte Philipp Ernst nicht – ungeachtet aller Privilegien, die Carl im Studienbetrieb zuteil wurden -, dass er sich durch bloße Äußerlichkeiten von seinen Kommilitonen abheben sollte. Aus diesem Grund durfte er auch nicht mit Erbgraf und Hochgräfliche Gnaden angeredet werden, sondern war schlicht Graf zu Schaumburg-Lippe. Colson habe nur dafür zu sorgen, daß er was lerne und nicht überflüßige Titulaturen im Kopf kriege, welche nur schädlich sind und die Menschen verderben. 94 Ob diese Maßnahme wirklich einen Unterschied im Bewusstsein Carls und dem seiner Umgebung gemacht hat, muss offen bleiben. Grundsätzlich hatte sich Carl gegenüber jedem leutselig und seinem Stand gemäs zu betragen. 95

Freizeit Es fällt auf, dass es außerhalb der Visiten und Einladungen bei Professoren kaum Kontakte oder gar Freizeitbeschäftigungen gab, nicht einmal mit von Dincklage. Der volle Stundenplan ließ dergleichen nicht zu, und Colson hatte laut Instruktion auch darauf zu sehen, dass Carl nur mit solchen Personen Umgang pflegte, von welchen er in Wißenschaften und Lebens-Art Nutzen haben kann, alle übrige Gesellschaft aber, wo Unserm Gräflichen Sohn üble Grundsätze beygebracht, und die guten Sitten verdorben werden können, sei zu meiden, nicht zuletzt Hazardspiele. 96 Lediglich Kosten für Piqueniquebesuche sind in den Rechnungsregistern vermerkt. 97 Fast klingt es ein wenig neidisch, wenn Carl seinem Vater schilderte, er habe keine Stunde ausgelassen, wenn oft das halbe Collegium nur angefüllet war, und die B RÜDERMANN , wie Anm. 13, S. 342-344. F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 10, Carl an Graf Philipp Ernst, 11.10.1779. 92 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 11, Graf Philipp Ernst an Carl, 21.10.1779: Quand meme il y en auroit lesquels se portant en Habit trop magnifiquement, il n´est pas neccessaire de suivre cette Methode surtout ceux come vous, lesquels peuvant [= pouvant] donner le ton aux autres, ce que chaque individu ne peut pas faire. Les Suisses sont sage, de porter uniforme, et les Suedois l´habillement de leur nation. 93 F 1 A XVII 4 Nr. 3, f. 96, § XVII, Instruktion, 27.9.1779. 94 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 20, Graf Philipp Ernst an Colson, 20.11.1779. Vgl. auch f. 4, Philipp Ernst an Colson, 13.10.1779. 95 F 1 A XVII 4 Nr. 3, f. 96, § VII, Instruktion, 27.9.1779. 96 F 1 A XVII 4 Nr. 3, f. 96, § IV u. XXII, Instruktion, 27.9.1779. 97 F 1 A XVII 4 Nr. 4a, Rechnungsregister Januar 1780. 90 91

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übrige H. sich belustigten, ausritten, Schlitten fuhren pp wie denn der Fleiß im letzten Viertel Jahr sehr abgenommen. 98 Philipp Ernst kritisierte ein solch schlechtes Vorbild freilich sofort: Das[s] andere die Collegia nicht besuchet, ist gar nicht erlaubet, man hätte solches liederliches Zeug sollen wegjagen, oder dafür straffen. 99 Die wenige verbliebene Freizeit sollte Carl vor allem für Bewegung und körperlichen Ausgleich dienen, da eine Stunde Fechten pro Tag nicht ausreiche. So machten Carl und Colson gelegentlich Spaziergänge, beispielsweise auf den Wall um die Stadt und auf den Chaussée nach Wehnde. 100 In den Rechnungsregistern ist sogar der Kauf eines FederBall Spiel[s] zur Motion auf dem Zimmer vermerkt. 101 Der weitgehende Verzicht auf die mir zur Gewohnheit gänzlich gewordene Motion des Reitens seit ohngefehr 9 Jahr fiel Carl besonders schwer. 102 Da er mit seinen Begleitern ohne Pferde angereist war, musste er für gelegentliche Ausritte, beispielsweise nach Northeim oder Rauschenwasser, jedes Mal Pferde mieten. 103 Gestattet waren nur Tagesausflüge. 104 Dennoch sah Philipp Ernst diese Ausritte nur ungern, was vielleicht auch damit zu tun hatte, dass einige Jahre zuvor sein zweiter Sohn bei einem Reitunfall ums Leben gekommen war. Bey dem täglichen gehen aus einem Collegio in das andere, desgleichen bey dem Gebrauch des Fecht-Bodens kann man sich ohnehin genug Motion machen wenn man will, und ist es nur eine Einbildung, wenn man glaubt, daß man alle Tage keine andere Motion als mit reithen sich machen könne. 105 Einen kulturellen Höhepunkt stellten die sonnabends stattfindenden Konzerte dar, die Carl und Colson besuchen durften, nicht jedoch die übrigen Begleiter, wie Philipp Ernst einschärfte, und auch nur, falls ein Semesterpreis von 10 Rtlr nicht überschritten würde. 106 Außerdem gab es Gastspiele: Es finden sich dahier sehr fleißig fremde Virtuosen und Tonkünstler ein, so öffentliche Concerts aufführen. Vor einiger Zeit war ein gewißer Nahmens Bach hieselbst vermuthlich ein Verwandter des Concertmeister Bach in Bückeburg, 107 und am 9 ten dieses ließen sich Barth und der Castrat Galeazi aus Cassel in einen extraordinairen Concert auf den Kaufhause hören, Herr Graf Carl Gnaden sind mit mir hingewesen, die Zahl der Auditores war brillant, Barth excellirte in Blasen der Hautbois, letzterer hätte aber für einen Kastraten eine beßere Stim[m]e haben müßen. 108 Ein anderes Mal besuchten

F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 50, Carl an Graf Philipp Ernst, 22.2.1780. F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 55, Graf Philipp Ernst an Carl, 5.3.1780. 100 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 52, Colson an Graf Philipp Ernst, 22.2.1780. 101 F 1 A XVII 4 Nr. 4a, Rechnungsregister, 13.11.1779. 102 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 16, Carl an Graf Philipp Ernst, 1.11.1779. 103 F 1 A XVII 4 Nr. 4a, Rechnungsregister, 24.10.1779, 19.2.1780 und passim. 104 F 1 A XVII 4 Nr. 3, f. 96, § XXI, Instruktion, 27.9.1779. 105 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 39, Graf Philipp Ernst an Colson, 29.1.1780. Ähnlich f. 56, dies., 4.3.1780. 106 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 4, Graf Philipp Ernst an Colson, 13.10.1779. 107 Johann Christoph Friedrich Bach, ein Sohn Johann Sebastian Bachs, war Konzertmeister in Bückeburg und Schwiegervater von Colsons Bruder, vgl. C OLSON , wie Anm. 5, S. 37. 108 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 18, Colson an Graf Philipp Ernst, 12.11.1779. Sie bezahlten dafür 2 ½ Rtlr, vgl. F 1 A XVII 4 Nr. 4a, Rechnungsregister, 9.11.1779. Ferner Auftritt zweier fremder Virtuosen, ebd., 13.5.1780. 98 99

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die beiden eine Vorführung von Seiltänzern und Schattenspielen (ombres chinoises). 109

Die väterliche Aufsicht Sowohl durch Schreiben an Carl als auch an Colson versuchte Philipp Ernst aus der Ferne, durch Ratschläge und Vorgaben den Lernerfolg zu fördern und erzieherisch auf seinen Sohn einzuwirken. Sorge bereitete ihm beispielsweise dessen phlegmatisches Temperament, weshalb er möglichst wenig mit dem ähnlich gearteten von Dincklage beisammen sein sollte. 110 Carl sei schon immer ein melancholischer Träumer gewesen. 111 Wiederholt gab es daher praktische Ermahnungen. Als Carl vergaß, einen angekündigten Brief beizufügen, tadelte ihn sein Vater: Wenn wollt Ihr denn mal anfangen ordentlich zu werden? und an die Sachen zu denken die man vor hat, man kann auch sonst nichts lernen und behalten, wenn man nicht Achtung gibt auf die Sachen die man vor hat, überhaupt man komt zu nichts. 112 Zu Übungszwecken trug Philipp Ernst seinem Sohn auf, die Briefe an ihn in wechselnden Sprachen zu verfassen, bald lateinisch, ein andermal englisch, um es nicht zu vergeßen, ferner bald Italienisch, dann Französisch, dann nach H. Heine seiner Anweisung in den vollenkommensten Teutschen, welches nur möglich ist. 113 Aber auch Colson und die übrigen Begleiter mussten über ihr Tun und insbesondere über die entstehenden Kosten Rechenschaft ablegen, wobei letztere häufig höher ausfielen, als es Philipp Ernst aus seiner eigenen Studienzeit in Erinnerung hatte. Ein Beispiel stellten die zum Jahreswechsel üblichen Geschenke dar, wie Colson seinem Herrn vorsichtig beizubringen suchte: Ohngeachtet Stadtmusicanten und verschieden andere Betteleyen abgewiesen sind, so hat die Ausgabe am Neujahrs Tage dennoch außer Tambour, Postillons und den Briefträger sich auch auf die Küche des Traiteur, den Pedellen der Universitæt, Hoboisten, arme Schülers pp. extendiret, jedoch bey allen ist so viel möglich die Sparsamkeit zum Grunde gelegt. Es ist ein festgesetztes Geschenk von 24 mgr. so jeder Student am Neujahrstage und jedweden Jahrmarkt in die Küche seines Speisequartiers für Mittag und abendeßen zahlen muß, und haben desfals vorher jedoch ohne erfolg genung disputiret. Der Universitæts Pedell so jedesmahl die gedruckten Dissertations der disputirenden und zu Doctores promovirenden Studiosi an Herr Graf Carl einreicht, bestand auf ein Neujahrs Geschenk, daß sich demnach diese Ausgaben nicht evitiren ließen. 114 F 1 A XVII 4 Nr. 4a, Rechnungsregister, 14.4.1780. F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 4, Graf Philipp Ernst an Colson, 13.10.1779. 111 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 73, Graf Philipp Ernst an Colson, 15.3.1780. 112 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 8, Graf Philipp Ernst an Carl, 15.10.1779. 113 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 8, Graf Philipp Ernst an Carl, 15.10.1779. Bis auf einige französische Briefe wurde aber nichts daraus. 114 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 34, Colson an Graf Philipp Ernst, 18.1.1780; F 1 A XVII 4 Nr. 4a, Rechnungsregister, Januar 1780: Neujahrsgeschenke für Tambours des hannövrischen Infanteriebataillon, für Postillion, reform. Organist und Kirchendiener, Traiteur für 4 Personen, Briefträger, verschiedene Chorsänger aus Göttinger Schulen, Pedell Willich für Einreichung der gedruckten jurist. u. mediz. Diss. der disputierenden Studenten. 109 110

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Die Politik – Professoren und Landesherr Die durch einen Universitätsaufenthalt entstehenden Kontakte zu renommierten Gelehrten waren nicht nur wegen der reinen Wissensvermittlung nützlich, vielmehr konnte man auf diese Weise auch Ratgeber und Gutachter in juristischen und politischen Angelegenheiten gewinnen. Ein Beispiel stellt die sogenannte „Jeversche Angelegenheit“ dar, die in den Studienbriefen immer wieder zur Sprache kommt. Es ging hierbei um das Sukzessionsrecht in der Herrschaft Jever, das Philipp Ernst für seinen Sohn beanspruchte, dessen verstorbene Mutter eine geborene Prinzessin von Sachsen-Weimar gewesen war. Da auch andere Herrscherhäuser – Anhalt-Zerbst, Dänemark, Russland – Ansprüche geltend machten, war es erforderlich, die besten juristischen Gutachten vorweisen zu können. 115 So hatte sich Philipp Ernst zunächst an Pütter gewandt, jedoch eine Absage bekommen. 116 Der ehrgeizige Hofrat von Selchow war dagegen gern zur Übernahme der Aufgabe bereit. 117 Bei einer zweiten Prozessschrift – in der Lippe-Brakischen Rechtsangelegenheit 118 – gelang es allerdings, Pütters Hilfe zu gewinnen: Ob Er gleich ungerne mit Entwerfung dergleichen Schriften sich abgäbe, so würde Er sich dennoch ein wahres Vergnügen daraus machen, Ew. Hochgräflichen Gnaden hierunter gefällige Dienste zu erweisen. 119 Obwohl er nach seiner bisherigen Kenntnis der Angelegenheit von der Rechtmäßigkeit der schaumburg-lippischen Ansprüche überzeugt sei, wolle er sich erst nach Akteneinsicht endgültig entscheiden. Daraufhin wurde sofort aus Bückeburg ein Kurier mit den benötigten Akten abgefertigt, ja Philipp Ernst stellte sogar den Regierungsrat Habicht für einen Monat nach Göttingen ab, um Pütter bei Fragen behilflich sein zu können. Nur das schlechte Wetter hindere ihn, so Philipp Ernst, Pütter persönlich aufzusuchen, sicher ein besonderes Zeichen der Wertschätzung des berühmten Juristen. 120 Nach nicht einmal vier Wochen hatte er die Arbeit, welche noch auf die Nachkommen Nutzen schaffen wird, 121 abgeschlossen – im Gegensatz zu Selchow, der wieder und wieder gemahnt werden musste. 122

Carls Sonderwünsche – zwischen Pflicht und Vergnügen Nachdem der junge Graf sich im ersten Semester ganz den Stundenplanwünschen des Vaters gefügt hatte, entwickelte er später eigene InteressenschwerDer gesamte Vorgang in F 1 A XXXV 20a Nr. 4, Vol. I-IV. Ebd., Vol. II, f. 6. 117 Das Ergebnis lag 1780 vor: Aufführung des unstreitigen Erbrechtes des Hochgeborenen Herrn Reichsgrafen Herrn Karl Wilhelm Friedrich Ernst Grafen zu Schaumburg-Lippe pp auf die Herrschaft Jever nebst Ausführung der Rechtsfrage, bei welchen Gerichte im Fall eines etwa entstehenden Widerspruchs diese Sache zu verhandeln ist (ebd., Vol. IV). 118 Es ging um einen Streit mit Lippe-Detmold über die Ämter Schieder und Blomberg. 119 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 21, Colson an Graf Philipp Ernst, 3.12.1779. 120 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 23, Graf Philipp Ernst an Colson, 15.12.1779. 121 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 57, Graf Philipp Ernst an Colson, 5.3.1780. 122 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 28, Colson an Graf Philipp Ernst, 28.12.1779. 115 116

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punkte. Während ihm die zahlreichen juristischen Veranstaltungen auf Dauer wohl etwas trocken vorgekommen sein werden, reizten ihn andere, anschaulichere Kollegien, die er gern im Sommersemester zusätzlich besuchen wollte. Geschickt arbeitete er in einer entsprechenden Anfrage an seinen Vater den Nutzen heraus, den ihm dies bringen werde: 1. Die Archiologie bey Heine. Ew. Gnaden wissen wie oft man in den Fall kömt, wo man bey Betrachtung alter Büsten, oder Statuen über die Vorstellung befragt wird, welche oft sehr schwer zu erfahren sind, wenn man nicht hinlängliche Kenntnisse der Alterthümer besizet. Um sich in Latein üben zu können, seien die vielen alten Inscriptionen ungemein nützlich. 2. Die Physic bei Kästner, bei der es sich ja eigentlich um angewandte Mathematik handele. Sollte Philipp Ernst wegen Astronomischen Observations weiter etwas befehlen, um mich etwan mit den schönen Englischen Astronom. Instrumenten welche auf der Artillerie Bibliotheck stehen ein vergnügen machen zu können, und sie anzuwenden wißen, so würde ich solches mit vielen Vergnügen erlernen. 3. Die Psychologie. Diese möchte ich theils gerne deswegen bey H. Prof. Feder erlernen, um bey diesen großen Mann Collegia gehöret zu haben, theils um von seinen Einsichten zu profitiren, sollte es sich weiter über die Metaphysik pp erstrecken, als auch vorzüglich um die Eigenschaft und die Verbindung der Seele mit dem Cörper pp kennen zu lernen, weil hierauf alle GrundSäze, wenigstens sehr viel Juristische, gebauet sind, hauptsächlich gehören wohl criminal Fälle hieher, und ohne sie läßt sich kein Gesezgeber wohl gedenken. 123 Sein Vater wies diese Wünsche jedoch kurz und bündig zurück, zumal schon zuviel Zeit durch die Krankheit verlorengegangen sei: Wenn man eine lange Zeit und eine Folge von Jahren in Göttingen zuzubringen hätte, so könnte man mit H. Feder, H. Kästner, und H. Heine sich amusiren; so gelehrt diese Männer in ihren Fächern seyn mögen, so kann solches alles meinem Sohn zu dem rechten Endzweck nichts helfen: und wenn derselbe auch des Kästners seine ganze Mathematic in 8 Tagen in seinen Kopf hinein kriegen könnte, so würde ich denselben nicht einen Tag darum fort lassen. Was von H. Heine hat wollen gelernet werden, hat in diesen halben Jahre geschehen müssen; für zukünfftiges halbes Jahr gebe ich keine Zeit dazu. Diese muß nunmehro angewendet werden, um die zu denen Geschäften erforderlichen Wissenschaften zu lernen, dazu gehören alle juristische und historische Collegia. [...] Es würde vergebens Geld ausgegeben seyn, wenn man bey H Feder oder H Heine kostbare privatissima halten oder zahlen wollte, da ohnehin das so genannte Collegium der Archiologie, welches die Mithologie enthält, ein jeder aus dem Montfaucon 124 und andern Schrifften mit leichter Mühe erlernen kann, zu einer Zeit, wenn man sonst nichts nothwendiger zu thun hat. 125

F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 50, Carl an seinen Vater, 22.2.1780. Bernard de M ONTFAUCON , Antiquitates Graecae et Romanae. Griechische und Römische Alterthümer [...] 10 Bde. Folio [...], auszugsweise hrsg. v. M. Johann Jacob S CHATZ , Nürnberg 1757. 125 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 57, Graf Philipp Ernst an Colson, 5.3.1780. Vgl. auch ebd., f. 65, Graf Philipp Ernst an Colson, 20.3.1780: Das Jus feudale wird mit gehöret, und es ist nur eine Thorheit zu glauben, daß diese Stunden, [...] zu besuchen der Gesundheit schaden thäten: dieses kann man wohl Kindern glauben machen; Ich weis aber besser, daß des Kæstners seine Fratzen einem ehender den Kopf verdrehen können, als jenes. 123 124

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Krankheit und Abschied von Göttingen In Colsons Instruktion war ihm an erster Stelle aufgetragen worden, alles zu vermeiden, was seinem Schützling zu Gefahr oder Schaden gereichen könne. 126 Nachdem Carls jüngerer Bruder Georg im Jahre 1776 beim Reiten verunglückt war – dem Hofmeister wurde wegen vernachlässigter Aufsicht der Prozess gemacht –, 127 ruhten alle Hoffnungen auf dem nunmehr einzigen Sohn Carl, dessen Gesundheitszustand stets Gegenstand besonderer Sorge war; dass er über eine schwächliche Konstitution verfügte, wollte sein Vater nicht wahrhaben. 128 Eine Erkrankung des Erben war ein Politikum, weshalb Colson sich beeilte, Philipp Ernst zu beruhigen, falls sich ein falsches Gerücht über Carls Gesundheitszustand bereits über Rinteln nach Bückeburg und Münster verbreitet haben, mit dem beygefügten Figment ich seye im Duell tödtlich blessirt. 129 Nur wenige Tage später musste er freilich doch mit der Wahrheit herausrücken, dass Carl nämlich seit kurzem an einem Fluss am Auge und einem Katarrh litte. Letzteres sei jedoch bei zahlreichen Studenten der Fall und teils auf Wetterwechsel, teils auf die infizierte Luft in den überfüllten Auditorien zurückzuführen. 130 Der besorgte Vater äußerte Zweifel, ob die Behandlung durch den ihm unbekannten Dr. Osann ausreichend sei, und bestand auf Zuziehung des Leibmedicus Prof. Richter, der als erster Augenartzt Teutschlands galt. 131 Nach Abschluss der Behandlung stellte die Begleichung der Arztkosten ein Problem dar, denn bei einem so vornehmen Patienten weigerten sich die Ärzte, eine Rechnung zu fordern, und überließen die Bestimmung des Honorars seiner Großzügigkeit. Als Colson sich deswegen umhörte, erfuhr er, dass der zwei Monate lang krank gewesene Graf von Stadion wegen einer angemessenen Bezahlung seiner drei Ärzte ebenfalls embarassiret war und noch nicht gezahlt hatte. 132 Obwohl Carl ab Mitte Februar wieder die Kollegien besuchte, wurde die Augenerkrankung nicht wirklich besser, 133 auch wenn Philipp Ernst F 1 A XVII 4 Nr. 3, f. 96, Instruktion, § I, 27.9.1779. F 1 A XVI 26; F 1 A XXXV 23 Nr. 3. 128 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 66, Colson an Graf Philipp Ernst über ein entsprechendes Urteil des Leibmedicus Richter, 24.3.1780; ebd., f. 68, Graf Philipp Ernst an Colson, 7.4.1780. 129 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 34, Colson an Graf Philipp Ernst, 18.1.1780. 130 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 35, Colson an Graf Philipp Ernst, 22.1.1780. 131 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 35, Colson an Graf Philipp Ernst, 22.1.1780; ebd., f. 36, dies., 25.1.1780; ebd., f. 37, Dr. Hoffmann, der Münsteraner Arzt des Grafen Philipp Ernst, o. D.; ebd., f. 39, Graf Philipp Ernst an Colson, 29.1.1780. Hoffmann sollte behutsam dem Leibmedicus seine eigene, von den verschriebenen Rezepten abweichende Meinung kundtun. Es ist aber zu beachten, daß solches mit Vorsicht dem HofRath Richter zu verstehen gegeben wird, weil selbiger sonst solches übel nehmen könnte, und alsdann die Sache nur verdorben würde (f. 39). 132 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 58, Colson an Graf Philipp Ernst, 7.3.1780. Schließlich bekam er heraus, dass ein Honorar von 6-8 Louisd´ors wohl als angemessen angesehen wurde, vgl. ebd., f. 63, Colson an Graf Philipp Ernst, 14.3.1780. 133 Schon seit Anfang des Jahres gab es wohl Probleme, denn zur Schonung der Augen las Carl bei seinen Studien daheim nur mit einem grünen Lichtschirm, der mit Draht am Kopf befestigt wurde, vgl. F 1 A XVII 4 Nr. 4a, Rechnungsregister, 8.1.1780 u. 23.1.1780. 126 127

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ungeduldig wurde und keine umfangreichen Krankenberichte der Ärzte mehr lesen und schon gar nicht bezahlen wollte. 134 Die Augenbeschwerden kehrten immer wieder, Katarrh, Rheuma, Fieber und Husten wechselten sich ab und hinderten Carl häufig am Studium. Er klagte, es müsse wohl in Göttingen ein ungesundes Klima herrschen, denn alles kränkelt, was aus der Fremde kömt. 5 Studenten die gesund hier kamen sind begraben, und viele während eben meinem Hierseyn von den Doctoribus weggewiesen worden. Ferner muß wohl die Veränderung des Essens und Trinkens, das zumahl für einen Patienten hier zuweilen äußerst schlecht ist, auch einen Einfluß haben. 135 Der über die verlorene Zeit und die unnötigen Kollegkosten verärgerte Philipp Ernst verlor zusehends seine Hochachtung vor den einstmals so geschätzten Göttinger Medizinern. 136 Als Carl schließlich gar begann, Blut zu husten und auch der zusätzlich hinzugezogene Prof. Baldinger nicht helfen konnte, 137 sah der Graf schließlich ein, dass die Lage ernst und das Semester ohnehin verloren war. In seinem Vorhaben, den Sohn nach Hause zu holen und dort von dem eigenen Arzt behandeln zu lassen, wurde er von den Göttinger Professoren bestärkt. Falls sie das tragische Ende vorhersahen, war es ihnen sicher lieber, wenn der prominente Student nicht ausgerechnet in ihrer Universitätsstadt verstarb und die traurige Statistik des Semesters erhöhte. Bis zu seiner Abreise am 21. Mai 1780 wurde dem jungen Mann alle erdenkliche Aufmerksamkeit zuteil. Gatterer holte am Krankenbett sein ausgefallenes Privatissimum nach, und Selchow stellte Carl gar sein persönliches Vorlesungsskript zur Verfügung, das er nicht jedem geben würde, ich stehe aber in besondern Credit bey ihm. [...] Das Heft habe ich auseinander geschnitten, und nun sizt alles dabey und copirt, weil ichs gerne mit hätte, und er es Ausgangs der Ferien selbst wieder braucht. Dieses will ich denn wenigstens für mich durchstudieren. 138 Carls Hoffnung auf ein Wiedersehen mit der Leinestadt sollte sich nicht erfüllen. Alle im Studium aufgewandten Mühen waren umsonst gewesen, denn er erlag seiner Krankheit am 7. September 1780. Vielleicht lag es nicht zuletzt an diesen traurigen Erfahrungen, dass sich erst 1866 mit dem späteren Fürsten Georg ein weiteres Mitglied des Hauses Schaumburg-Lippe in Göttingen immatrikulierte.

F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 56, Graf Philipp Ernst an Colson, 4.3.1780. F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 79, Carl an seinen Vater, 19.5.1780. 136 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 73, Graf Philipp Ernst an Colson, 15.3.1780: Der Medicus Richter wird nun wohl endlich den Husten bey meinem Sohn vertrieben haben, denn bey jungen Leuten kann solches bald geschehen, oder der H. Medicus versteht sein Handwerk nicht. Seinem eigenen Arzt Hoffmann schrieb er, daß die Facultæt in Göttingen schwache Practici sind, sehen Sie und wissen es (ebd., f. 18.5.1780). 137 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 74, Colson an Graf Philipp Ernst, 11.5.1780. Richter und Baldinger galten als die hiesigen beyden vornehmsten Medici (F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 41, Colson an Graf Philipp Ernst, 1.2.1780). 138 F 1 A XVII 4 Nr. 4, f. 79, Carl an seinen Vater, 19.5.1780. 134 135

„Um diese das Landeswohl befassende Absicht zu erreichen...“ Die Verordnung wegen des Hopfenbaues auf dem Eichsfeld von 1783 und ihre Auswirkungen Thomas T. Müller

Malz und Hopfen Nun schwenke mein Krüglein, du zierliche Maid, Und eile behend’ zu dem Fasse! Wie wohl ist mir zu der Abendzeit Bei dem kräftigen braunen Nasse. Ich setzte den schäumenden Krug an den Mund, Leer’ ihn bis zum letzten Tropfen Und rufe: „Es lebe zu jeder Stund“ Das Brüderpaar, Malz und Hopfen!“ Moritz Bolzau, Heiligenstadt, 1889

Bier, jenen bitteren Ersatz für Wein, hielten Griechen und Römer für ein Getränk, welches nur Barbaren und Arme häufiger zu sich nahmen. Im Notfall war es als Medizin geduldet. Ob es auch Hildegard von Bingen lediglich zu medizinischen Zwecken trank, sei dahingestellt. Auf jeden Fall galt für sie das Brauen mit Hopfen bereits als selbstverständlich, kannte sie doch dessen konservierende Wirkung. Dennoch war es zu dieser Zeit ebenso noch üblich, dem Gebräu statt des Hopfens auch Wacholder, Harz, Laserkraut, Lorbeer oder andere Gewürze beizumengen. Um diesen Gepflogenheiten entgegenzuwirken, wurde in der thüringischen Stadt Weißensee bereits im Jahr 1434 ein Reinheitsgebot für Bier erlassen. In der „Statuta thaberna“ findet sich im Artikel 12 folgende Festlegung: ... ayn sal auch nicht in die bier / weder harcz nach keynerleie andre ungefercke dar zcu nicht thun / danne hophin malcz und wasser daz vor butet man bie zcwen marken / und bie vier wochn zcu rumene. 1 Nur Hopfen, Malz und Wasser sollten als Grundstoffe für des Deutschen liebstes Getränk dienen, darin waren sich die Thüringer mit den Bayern einig. 1 Historisches Archiv der Stadt Weißensee: Rep. B, Tit. II. Nr. 3, fol. 2 r. Zitiert nach: Hopfen, Malz und Wasser. Das Reinheitsgebot der Stadt Weißensee. Auszug aus der Stadtgeschichte von Weißensee. Erfurt 2000, S. 24.

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Frisches Wasser war allerorts zu bekommen, und auch die Gerste oder der Weizen, aus dem das Malz gewonnen wurde, war relativ leicht zu beschaffen. Ein wenig anders verhielt es sich mit dem dritten wichtigen Grundstoff für das Bier, dem Hopfen. Kultiviert wird die Pflanze (lat.: humulus lupulus) in Mitteleuropa seit dem 8. Jahrhundert. Bereits in einer Schenkungsurkunde Pippins von 768 werden die später weit verbreiteten Hopfengärten (humlonariae) erwähnt. 2 Ein größerer Bedarf an der Pflanze entwickelte sich allerdings erst im Hoch- und im Spätmittelalter, nachdem durch das Wachstum der Städte und deren Bevölkerung das Bier zu einem begehrten Handelsartikel geworden war. Während Einbeck zu den bedeutendsten Exporteuren des „Gerstensaftes“ emporstieg, profitierten aber auch die Brauer der kleineren Städte vom Wachstum der Branche. Dabei galt eine recht einfache Rechnung: Um so teurer der meist importierte Wein wurde, um so begehrter wurde das Bier. Auch in Duderstadt 3 und im benachbarten Heiligenstadt 4 wurden die Braupfannen häufig genutzt. Um nun auch alle drei Rohstoffe in ausreichendem Maße zur Verfügung zu haben, förderten die Städte den Hopfenanbau und sorgten dafür, daß die begehrte Pflanze weder in ihren Mauern von Fremden angeboten noch an auswärtige Händler verkauft wurde. In den Duderstädter Statuten von 1434 findet sich folgende Bestimmung als Artikel 101: Neyn gast schal hoppen uppe dem markede koypen. In welkes mannes huß dii gast den hoppen droge, dii schal der stad vif schillinge geven. Welk borger den utluden hoppen kofte, dii scholde der stad eyn punt geven, unde die hoppe scholde hyr blyven. 5 In Heiligenstadt läßt sich der Hopfenbau bereits für das 14. Jahrhundert belegen. In der Willkür der Stadt aus dem Jahr 1335 wird unter anderem festgelegt: Wer deme andirn schaden uffe dem felde, an korne, an winbern, an erweißin, an bonen, an hophin, [...] an grase, an obeße addir an andi fruchten, wilcherhande di sin, di 2 In jener Schenkungsurkunde Pippins für das Kloster St. Denis vom September 768 heißt es ... et in Ulfrasiagas mansos duos et Humlonarias cum integritate. Vgl.: Die Urkunden der Karolinger. Bd. 1: Die Urkunden Pippins, Karlmanns und Karls des Großen. Unter Mitwirkung von Alfons D OPSCH , Johann L ECHNER , Michael T ANGL bearb. v. Engelbert M ÜHLBACHER (MGH Diplomata Karol. Bd. 1), 2. Aufl. Berlin 1956, Nr. 28, S. 39. 3 Zum Duderstädter Bier vgl. Karl W ÜSTEFELD : Vom alten Duderstädter Bier. In: Unser Eichsfeld 1907, S. 9-12. Klemens L ÖFFLER : Ein Urteil über die eichsfeldischen Biere aus dem 16. Jahrhundert. In: Unser Eichsfeld 1907, S. 30-31. Ausführlich hierzu: Christoph L ERCH : Vom Bierbrauen in Duderstadt. In: Goldene Mark 1978, S. 65-83. Bernhard O TTO : Das Brauwesen und der Hopfenbau in unserer Heimat. In: Goldene Mark 1972, S. 64-70. 4 Ein Hinweis auf Heiligenstädter Bier findet sich u. a. in der Heiligenstädter Willkür aus dem Jahr 1335. Vgl. Gerhard G ÜNTHER (Bearb.): Willkür der Stadt Heiligenstadt aus dem Jahre 1335. Stadtrecht im Mittelalter. Duderstadt 1997, Art. 12, S. 27. Die Deutung des in der Willkür erwähnten Hamprun huse (Art. 44, S. 41) als Hopfenhaus (sogenannte „Darre“) durch Erhard Müller ist wohl zu weit gegriffen. Vgl. Erhard M ÜLLER , Inge B ILY , Horst N AUMANN : Die Flurnamen des Kreises Heiligenstadt (Namenkundliche Informationen der Karl-Marx-Universität Leipzig. Beiheft 8), Leipzig 1986, S. 53. 5 Julius J AEGER (Hg.): Urkundenbuch der Stadt Duderstadt bis zum Jahre 1500. Hildesheim 1885 (Neudruck: Osnabrück 1977), Nr. 521, S. 411.

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sal der stat czehin schillinge geben. 6 Neben anderen Maßnahmen zum Schutz des fast vollständig abgeholzten Stadtwaldes wurde durch das „Einwort“ der Stadt Heiligenstadt 1554 auch die Entnahme von Hölzern, die als Hopfenstangen zu gebrauchen waren, verboten. 7 Später waren es in Heiligenstadt insbesondere die Jesuiten, die sich mit dem Anbau des Hopfens intensiver auseinandersetzten. Bald nach der Eröffnung ihrer Heiligenstädter Niederlassung im Jahr 1575 wandten sie sich neben ihrer seelsorgerischen und schulischen Tätigkeit auch dem Brauen zu. Den dafür notwendigen Hopfen bauten sie selbst an. In den Annalen des Kollegs finden sich Hinweise auf ihren Hopfengarten und auch auf die Sorgfalt, mit der sie den Ertrag desselben verfolgten und ihn zu verbessern suchten. Für das Jahr 1732 notierte der Chronist: Im übrigen war der Hopfengarten weniger ertragreich. Es wird für vorteilhafter gehalten, wenn der Hopfen nach und nach in den neuen Garten, gewöhnlich Kuhlsberg genannt, verpflanzt wird. 8 Auch in und um Mühlhausen wurde die Pflanze im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit häufig angebaut. An der Unstrut gab es zahlreiche Hopfengärten. Christian Gottlieb Altenburg berichtet in seiner topographischhistorischen Beschreibung der Stadt Mühlhausen aus dem Jahr 1824 über deren Ende folgendes: Der Bau des Hopfens dauerte bis 1740, wo man anfieng sie auszurotten; dieses gieng so fort bis 1760, wo man fast keinen Hopfengarten mehr sah. 9 Über die Entwicklung im Eichsfeld, die ähnlich verlief, beschwerten sich am 12. Dezember des Jahres 1783 die „Kurmainzer zur Landesregierung des Eichsfeldes gnädigst verordnete Statthalter, Kommissarius und Geheime Hofund Regierungsräthe“. In einer in ihrem Namen von Johann Christoph Chrysostomus von Keller 10 unterzeichneten „Verordnung wegen des Hopfenbaues“ erklärten sie: Wir haben seit einiger Zeit misfällig wahrgenommen, daß die hierländische kurfürstl[iche] Unterthanen nicht allein die Erweiterung des in allem Betracht so nützlichen Hopfenbaues gänzlich vernachläßigen, sondern sogar den bereits angelegt gewesenen Hopfen größtentheils eingehen lassen, und diejenige Theile ihrer Besitzungen, worinn diese für

6 Gerhard G ÜNTHER (Bearb.): Willkür der Stadt Heiligenstadt aus dem Jahre 1335. Stadtrecht im Mittelalter. Duderstadt 1997, Art. 19, S. 31. Hinweise zum Gebrauch von Hopfen in der Stadt finden sich auch in den Heiligenstädter Brauordnungen von 1556 (Johann W OLF : Geschichte und Beschreibung der Stadt Heiligenstadt. Göttingen 1800. Urkundenteil Nr. XXIII, S. 64-67) und 1661 (StadtA. Heiligenstadt: XXXI. Nr. 2). 7 Johann W OLF : Geschichte und Beschreibung der Stadt Heiligenstadt. Göttingen 1800. Einwort der Stadt Heiligenstadt. Urkundenteil Nr. XXV, Artikel LXII, S. 77. 8 Bernhard O PFERMANN (Hg.): Die Geschichte des Heiligenstädter Jesuitenkollegs. Teil 2 (1686-1772). Duderstadt 1989, S. 185. 9 Christian Gottlieb A LTENBURG : Topographisch-historische Beschreibung der Stadt Mühlhausen in Thüringen. Aus verschiedenen alten Handschriften zusammengetragen. Mühlhausen 1824, S. 92-93. 10 Keller war von 1777 bis 1789 in Heiligenstadt. Er starb am 18. August 1790 in Mainz. Vgl. Bernhard O PFERMANN : Gestalten des Eichsfeldes. Ein biographisches Lexikon. 2., von Thomas T. M ÜLLER , Gerhard M ÜLLER und Heinz S CHOLLE erweiterte und bearbeitete Aufl. Heiligenstadt 1999, S. 186.

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die Bierbrauerey so unentbehrliche Pflanze bisher ihr Gedeihen gefunden, entweder in Gärten, oder Fruchtfelder umschaffen. 11 Der Grund für den erteilten Tadel war ein rein wirtschaftlicher. Aufgrund des Rückgangs der eichsfeldischen Hopfenproduktion waren die mit der Braugerechtigkeit begnadigte kurfürstl[iche] Unterthanen gezwungen, den notwendigen Hopfen aus fremden Landen zu importieren. Der Mangel einer eichsfeldischen Konkurrenz führte nun wiederum dazu, daß die von den auswärtigen gesetzte Preiße zum merklichen Nachteil dieser Gewerbschaft sich schlechterdings entwickelten. So ist zu vermuten, daß sich über kurz oder lang – resultierend aus einem überteuerten Einkauf – auch der Preis für das Eichsfelder Bier erhöhen mußte. Preissteigerungen insbesondere bei einem solch heiklen Thema wie dem Bier schürten jedoch den Unwillen des Volkes und dürften sicher nicht im Interesse der Eichsfelder Regierung gelegen haben. Darüber hinaus wäre diese absehbare Preissteigerung in den Augen der Regierung eine unnötige Anhebung gewesen, da bis vor wenigen Jahren die Hopfenproduktion im eigenen Land den Bedarf nahezu gedeckt haben wird. Für die Verordnung wegen des Hopfenbaues werden aus der Sicht der Regierung auch die in jener Zeit gern und häufig propagierten Autarkie-Ideen eine Rolle gespielt haben. 12 Als Grund für den Rückgang des Hopfenanbaus im Eichsfeld sind sicher die ständigen Plünderungen und Verwüstungen während des Siebenjährigen Krieges (1756-1763) anzusehen. Während dieser für die Eichsfelder Bevölkerung überaus schwierigen Zeit werden sich diejenigen, die sich bei der häufigen Bedrohung durch Soldaten bzw. Freibeuter auf ihre Felder wagten, wohl zuerst um den Anbau des lebenswichtigen Getreides oder Gemüses gekümmert haben, bevor sie sich um ihre Hopfengärten bemühten, wenn dieselben nicht schon längst zerstört worden waren. Auch die große deutsche Hungersnot von 1771 wird die Gedanken der Bauern auf andere Dinge gelenkt haben, als auf die Wiederaufnahme ihrer brachliegenden Hopfengärten. 13

11 Verordnung wegen des Hopfenbaues. KreisA. Eichsfeld: Bestand Worbis, Sign. A/101. Der Kreisarchivarin Frau Anja Seeboth danke ich an dieser Stelle recht herzlich für ihre Unterstützung. Über den Inhalt der Verordnung informierte zuerst Karl-Heinz K ABISCH : Eine „Verordnung wegen des Hopfenbaus“ auf dem Eichsfeld aus dem Jahre 1783. In: Eichsfelder Heimathefte 1982, S. 371-372. Kabisch hatte die Verordnung noch im Kreisarchiv Worbis, welches mittlerweile mit dem Kreisarchiv Heiligenstadt vereinigt ist, eingesehen. 12 Eine Parallele zur „Verordnung wegen des Hopfenbaues“ bildete das Herangehen der Kurmainzer Regierung an das Problem der dahinsiechenden Wollweberei. Auf Empfehlung des Vorsitzenden des Regierungskollegiums in Mainz, des Wirklichen Geheimen Hofrats Augustin Maximilian von Strauß, wurde auch hier nach 1766 versucht, jegliche Einwirkung durch Auswärtige auszuschließen und die Wirtschaftskraft im eigenen Land anzuheben. Vgl. Karl Paul H AENDLY : Das kurmainzische Fürstentum Eichsfeld im Ablauf seiner Geschichte, seine Wirtschaft und seine Menschen. Duderstadt 1996, S. 121-134. 13 Eine anschauliche Schilderung der Leiden der Eichsfelder Bevölkerung gibt der entsprechende Jahresbericht des Heiligenstädter Jesuitenkollegs. Vgl. Bernhard O PFERMANN (Hg.): Die Geschichte des Heiligenstädter Jesuitenkollegs. Teil 2 (1686-1772). Duderstadt 1989, S. 376-377.

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Bestätigt wird diese Vermutung durch die Äußerungen Johann Wolfs, der in seiner Geschichte der Stadt Duderstadt im Jahr 1802 schrieb: Vormals mögen die Hopfenberge zahlreich gewesen sein, aber der siebenjährige Krieg hat sie fast alle ruinirt. Denn der Soldat, ob Freund und Feind, verbrannte die Hopfenstangen, und da der Eigenthümer befürchten mußte, die neuen würden ihm ebenfalls verbrannt werden: so kaufte er keine mehr und gab den Hopfenbau auf. 14 Hier setzte nun die Verordnung wegen des Hopfenbaues der Kurmainzer Regierung an. Dieser dramatische Rückgang der Eichsfelder Hopfenproduktion habe es schließlich zur Notwendigkeit gemacht, die kurfürstl[ichen] Unterthanen zu Erweiterung des Hopfenbaues aufzumunteren, und zugleich die dagegen eintretende Hindernisse, so viel immer möglich ist, zu beseitigen, erklärte die Regierung in ihrer Verordnung. Um diese das Landeswohl befassende Absicht zu erreichen wurde auf höchsten Befehl S[eine]r kurfürstl[ichen] Gnaden unseres gnädigsten Kurfürsten und Herrn andurch verordnet, daß jeder kurfürstliche Untertan jene Grundstücke, welche wegen ihrer steilen Lage oder des zu trockenen Bodens nicht für den Fruchtbau geeignet und auch nicht zentbar waren, zu Hopfengärten umgestalten dürfe. Lediglich die zuständige Ortsobrigkeit müsse darüber in Kenntnis gesetzt werden. Es war den Neu(hopfen)bauern sogar gestattet, einen Zaun um ihren Garten anzulegen. 15 Darüber hinaus gestand die Regierung den Hopfenbauern für ihr Anbaugebiet das Gartenrecht zu, so daß die Pflanzungen mit keinem Viehe bey 10 Reichsthalern Strafe betrieben, oder auf sonstige Art beschädigt werden sollten. 16 Es wurde jedoch auch insofern vorgesorgt, als daß in der Verordnung auch dem Mißbrauch dieser Rechte entgegengewirkt wurde. Um den Hutberechtigten, die durch die Einzäunung der Hopfengärten natürlich Teile ihrer Hutweide verloren, nicht unnötigen Schaden aufzubürden, war in der Verordnung unmißverständlich festgelegt worden, daß das erteilte Gartenrecht erlösche, sobald der Eigentümer des Hopfengartens die Pflanzen eingehen ließe bzw. der dieser Erlaubniß vorgesetzte Endzweck nicht mehr erreicht würde. 17 Aber auch das von Johann Wolf erwähnte Problem der Beschaffung von geeigneten Hopfenstangen, also jener Hölzer, an welchen die Pflanzen emporranken konnten, war von den Ausarbeitern der Verordnung bedacht worden. Um die nötige Menge der Stangen zu erhalten, wurde festgelegt, daß sämtliche Gemeinheiten hiesigen Landes, die eigene Waldungen besitzen, bei den in ihrem Bereich erfolgenden Holzeinschlägen das als Hopfenstangen zu gebrauchende Holz auszuzeichnen und die Anzahl der entsprechenden Stangen an die zuständigen Gerichts- oder Amtsvorsteher zu melden hätten. Diese wiederum sollten jene Angaben an die kurfürstliche Regierung weiterleiten, 14 Johann W OLF : Geschichte und Beschreibung der Stadt Duderstadt. Göttingen 1803, S. 289. 15 Verordnung wegen des Hopfenbaues. § 1. 16 Verordnung wegen des Hopfenbaues. § 2. 17 Verordnung wegen des Hopfenbaues. § 3.

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welche dann dafür Sorge trug, daß selbige Angaben jährlich im örtlichen Intelligenzblatt veröffentlicht wurden. Den Hopfenbauern sollte auf diese Weise der Ort angewiesen werden, wo sie die benötigten Stangen gegen eine billigmäßige Taxe erhalten könnten. 18 Jenen Schultheißen, Vorstehern und Holzaufsehern, die dieser Meldeaufforderung nicht nachkommen würden oder sogar gestatten sollten, die in ihren Holzschlägen befindliche Hopfenstangen zu Brennholz aufzuhauen, wurde eine Strafe von 20 Reichstalern pro Vergehen angedroht. Um dieser Drohung noch einen besonderen Nachdruck zu verleihen, wurde weiterhin festgelegt, daß ein Drittel der für ein solches Vergehen angesetzten Geldstrafe demjenigen zustehe, welcher dasselbe zur Anzeige brächte. Dem „Verräter“ wurde darüber hinaus die Verschweigung seines Namens zugesichert. 19 Daß die Beschaffung von geeigneten Hopfenstangen bis zu dieser Verordnung tatsächlich ein Problem darstellte, beweist auch ein Vergleich, den der Mainzer Erzbischof Damian Hartard von der Leyen am 6. Mai 1677 mit dem Rektor des Heiligenstädter Jesuitenkollegs Pater Aloys Strauss über die Einkünfte des Kollegs schloß. Neben der Zuwendung von 1000 Reichstalern, 80 Malter Korn, 14 Malter Weizen, 20 Malter Gerste, 30 Malter Hafer, 62 Klafter Holz sowie zwei Wagen Kohlen wird darin auch die jährliche Lieferung von 400 Hopfenstangen vereinbart, die das Kolleg erhalten sollte. 20 Dieses Holzproblem sollte nun im Jahre 1783 durch die Verordnung wegen des Hopfenbaues beendet werden. Am Ende derselben wurden schließlich kurfürstl[iche] Beamte, klösterlich- adeliche und städtische Gerichtsvorgesetzte andurch nachdrucksamst angewiesen, gegenwärtige Verordnung nicht allein in ihren Amts- oder Gerichtsortschaften sogleich behörend bekannt zu machen, sondern auch denen ihnen gnädigst anvertrauten kurfürstlichen Unterthanen bey dem zu veranstaltenden Hopfenbau allen Vorschub, und Unterstützung zu geben, anbey diejenige, welche sich hierinn besonders auszeichnen werden, kurfürstlicher Regierung in den (. . .) befohlnen Berichten namhaft zu machen, damit man auf selbe bey sich ereignenden schicklichen Gelegenheiten eine vorzügliche Rücksicht nehmen, und dadurch die bewiesene Thätigkeit und Fleiß belohnen könne. 21 Zumindest in Duderstadt wurde den Wünschen der Landesregierung in den Folgejahren nachgekommen. Im Jahr 1802 konnte Johann Wolf berichten: Seit kurzer Zeit hat sich auch der Hopfenbau, eine äußerst wichtige Arbeit für die hiesige starke Bierbrauerei ungemein gehoben. (. . .) Die Stadt fühlte es [die Zerstörung der Hopfengärten, Th. M.] nur zu viel, da sie mehrere Jahre große Summen ins Ausland für Hopfen schicken mußte, bis einige der ansehnlichern Bürger anfingen, neue Hopfenberge anzulegen. Ihr Beispiel fand um so mehr Nachahmung, weil gerade um selbige Zeit der Preis des Hopfens ungewöhnlich stieg. Jetzt zählt man schon 106 Morgen Hopfenberge, und größtenteils an solchen Anhöhen, wo vorhin nichts wuchs, auch nichts wachsen Verordnung wegen des Hopfenbaues. § 4. Verordnung wegen des Hopfenbaues. § 5. 20 F. K UNZE : Die Jesuiten auf dem Eichsfelde. In: Aus der Heimat. Halbmonatsschrift zur Heiligenstädter Zeitung. Nr. 37 vom 15. Januar 1904. 21 Verordnung wegen des Hopfenbaues. § 6. 18 19

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konnte, bis die Hand des nachdenkenden Anbauers erst einen neuen Boden schuf. Auch die jetzige Art, den Hopfen zu bauen, ist weit zweckmäßiger, als die vorige. Man nimmt bessere Stangen, wie sonst; man gibt den Stöcken mehr Raum; man bearbeitet sie fleißiger und dünget auch reichlicher, als ehedessen. Der Lohn dafür ist mehr und besserer Hopfen, welchen die Duderstädter denjenigen theuer verkaufen, die ihnen sonst den ihrigen verkauft haben. 22 Letztere Angaben Wolfs finden sich auch an anderer Stelle bestätigt. Im März 1803, als die Einführung des altpreußischen Accise- und Zollsystems bevorstand, forderte die preußische Interimsregierung in Heiligenstadt, die die Arbeit der abgesetzten Kurmainzer Beamten übernommen hatte, vom Duderstädter Stadtrat einen Bericht über die dortigen Zustände. In ebenjenem heißt es unter anderem: Der Hopfenbau wird hier so gut betrieben, daß nicht allein dasjenige davon genommen wird, was zur hiesigen Bierbrauerei erforderlich ist, sondern auch für eine ansehnliche Summe ins Ausland verfahren wird. 23 In nur 20 Jahren war das Eichsfeld also von einem Hopfenimporteur zum Hopfenexporteur herangewachsen. Eine entscheidende Rolle hierfür dürfte die kluge und weitsichtige Förderung des Hopfenbaues durch die Kurmainzer Regierung gespielt haben. In guter Kenntnis der Lage in der Region wurden die richtigen Maßnahmen getroffen, um diesen darniederliegenden Erwerbszweig wieder zu neuer Blüte zu bringen. Eine wichtige Quelle für der Erforschung des Hopfenanbaues im Eichsfeld sind auch die Flurnamen. 24 Aus ihnen läßt sich leicht ersehen, wie verbreitet die Pflanze in der Region war. Allein die Bezeichnung „Hopfengarten“ kommt außer in Duderstadt und Heiligenstadt auch in den Orten Bernterode (bei Heiligenstadt), Geisleden, Kalteneber, Krombach, Uder, 25 Gieboldehausen, Lindau, Obernfeld, Rhumspringe, Rüdershausen, Seulingen, Tiftlingerode und Westerode 26 vor. Flurnamen mit Bezug zum Hopfen finden sich darüber hinaus auch in Arenshausen, Asbach, Birkenfelde, Bodenrode, Bornhagen, Dieterode, Döringsdorf, Ershausen, Flinsberg, Großbartloff, Kella, Krombach, Mengelrode, Rustenfelde, Rüstungen, Schönhagen, Steinheuterode, Uder, Volkerode, Wahlhausen, Weidenbach, Wiesenfeld und Wilbich. 22 Johann W OLF : Geschichte und Beschreibung der Stadt Duderstadt. Göttingen 1803, S. 288-289. 23 Zitiert nach Julius J AEGER : Bilder aus der Goldenen Mark. Bd. II, Duderstadt 1922, S. 12-13. 24 Eine entsprechende Auflistung liegt für den Altkreis Duderstadt und den Altkreis Heiligenstadt vor. Die Altkreise Worbis und Mühlhausen wurden diesbezüglich leider noch nicht untersucht. Vgl. P(aul) B UERSCHAPER : Flurnamen erinnern an Weinberge und Hopfengarten. In: Goldene Mark 1968, S. 34-36. Erhard M ÜLLER : Wein- und Hopfenbau im Kreis Heiligenstadt im Lichte der Flurnamen. In: Eichsfelder Heimathefte 1978, S. 119-127. Erhard M ÜLLER : Hopfenanbau auf dem Eichsfeld im Lichte der Flurnamen gesehen. In: Eichsfelder Heimatborn vom 12. August 1966. 25 Erhard M ÜLLER : Wein- und Hopfenbau im Kreis Heiligenstadt im Lichte der Flurnamen. In: Eichsfelder Heimathefte 1978, S. 125-126. 26 P(aul) B UERSCHAPER : Flurnamen erinnern an Weinberge und Hopfengarten. In: Goldene Mark 1968, S. 34-36.

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Aber auch unter den noch nicht zu dieser Frage untersuchten Flurnamen der Altkreise Worbis und Mühlhausen dürften sich noch zahlreiche weitere Beispiele für den Anbau der begehrten Nutzpflanze finden lassen. In Duderstadt endete der Hopfenanbau um die Mitte des 19. Jahrhunderts, nachdem ein großer Brand im Jahr 1852 die Brauhäuser der Stadt zerstört hatte und der Absatz für den Hopfen in der Stadt zusammenbrach. Auf den größeren Bauenhöfen wurde jedoch auch weiterhin für den Hausgebrauch Hopfen angebaut. Die Bauern nutzten ihn zum Brauen von Kofent, einem beliebten Dünnbier, das im Geschmack einer „Berliner Weißen“ ähnelte. 27 Dennoch war der Hopfen als Kulturpflanze im Eichsfeld spätestens um 1920 nahezu ausgestorben. 28 Ursache hierfür war der Mangel an Gerstenmalz zur Zeit des Ersten Weltkriegs, der den Bauern eine der Grundlagen für das Kofentbrauen raubte. 29 Lediglich im Obereichsfeld erlebte der Hopfenanbau in den 1960er Jahren nochmals in größerem Maßstab eine Renaissance. Neben der Fernverkehrsstraße Worbis-Nordhausen, unmittelbar hinter dem früheren Kalischacht Bernterode, reihte sich rechts der Straße auf einem acht Hektar großen Hopfenfeld Mast an Mast. Die imposante Gerüstanlage hatte die Aufgabe der in früheren Jahrhunderten so heiß begehrten Hopfenstangen übernommen. Der Zweck beider Varianten war jedoch gleich: Sie ermöglichten den jungen Hopfenplanzen, den sogenannten Flechsern, das Emporwachsen zu voll entwickelten Blütenträgern. Initiator dieses Neubeginns war der ehemalige Saazer Hopfenbauer Otto Lässig, der auch nach seiner Vertreibung nicht von der Pflanze lassen konnte. Rund 400 Pflücker fanden zeitweilig bei der Hopfenernte Arbeit. 30 Erst in den 1980er Jahren wurde der Hopfenanbau in der Region gänzlich aufgegeben. Heute wächst der Hopfen im Eichsfeld nur noch zur Zierde in einigen Gärten und ab und zu findet sich auch noch eine verwilderte Pflanze an einem Berghang.

27 Informationen zum Brauvorgang und auch ein Rezept (!) gibt: Anna K ÄSEHAGEN : Wie in Obernfeld Kofent gebraut wurde. In: Goldene Mark 1975, S. 64-70. 28 Größere Bestände fanden sich zehn Jahre zuvor noch am Rustberg, bei Zella und Heiligenstadt. Vgl.: Franz N EUREUTER : Illustrierte Flora des Eichsfeldes. Heiligenstadt 1910, S. 73. 29 Karl W ÜSTEFELD : Über die Einführung verschiedener Kulturgewächse und deren Weiterverbreitung auf dem Eichsfelde. Ein Beitrag zur Geschichte der eichsfeldischen Landwirtschaft. In: Unser Eichsfeld 1927, S. 46-48. Nahezu wörtlich – allerdings ohne Verweis – übernommen von Helmut S TELZER : Woher und wann gelangten die verschiedenen Kulturpflanzen auf das Eichsfeld? In: Worbiser Heimathefte 1955, S. 60-61. 30 H(einrich) B R ( ENNECKE ): „Hopfen und Malz – Gott erhalt’s!“ Das erste Hopfenfeld auf dem Eichsfeld – Unionsfreund Lässig war der Initiator. In: Eichsfelder Heimatborn vom 27. November 1964.

Joseph Joachims Taufe in der Aegidienkirche zu Hannover am 3. Mai 1855 Siegfried Schütz

Nun will ich die Taufe Joachims beschreiben. Um ¼ 1 Uhr ging ich allein in die Kirche. Joachim und Arnold waren schon dort; um ½ 1 Uhr kamen König und Königin ganz allein ohne Bedienung. Wir gingen in die kleine Sakristei, wo das Taufbecken stand, der Pastor Flügge stellte sich vor den kleinen Altar, vor ihm saß Joachim, dicht neben ihm König und Königin von der einen, wir beide von der anderen Seite. Der Pastor sprach sehr gut, sagte dann Joachim das Glaubensbekenntnis her und fragte ihn, ob er sich dazu bekenne. Auf seine Bejahung mußte er hinknien, und Flügge begoß ihn dann dreimal mit einem Wasserstrom. Während sich Flügge die Hände trocknete, mußte Arnold eine Serviette nehmen und Joachims Haare trocknen. Wir waren alle sehr ergriffen; und nun ging der Pastor voraus, dann Joachim, Königspaar und dann wir langsam vor den Altar in die Kirche, wo er das Abendmahl bekam. Wir standen hier wieder so wie in der Sakristei. Es brannten Lichter auf den Altaren, da er lutherisch ist, und Joachim empfing kniend die Oblate und den Wein. Er wurde auch eingesegnet. Beim Dankgebet betete Flügge für das Königspaar und dann für uns beide, was mir außerordentlich rührend war. Flügge überreichte Joachim eine Bibel in Samt gebunden mit goldenem Schloß, worauf das Datum und sein verschlungener Name steht; inwendig hat sich die Königin geschrieben. Der König gab ihm eine herrliche Repetieruhr mit Kette, worauf in der Mitte ganz fein verschlungen G. M. J. steht: Georg Maria Joseph. Nachdem die Herrschaften nun ihm gratuliert hatten und die Königin mir auch die Hand gegeben, hörte ich wieder den König fragen: „Wo ist denn Wehner?“ und nun führte ihn die Königin zu mir, und er drückte mir auch die Hand und sagte, er könne mir nicht sagen, wie es ihn gefreut, mit uns beiden eine solche Feierlichkeit zu erleben. Sie gingen dann wieder still aus der Kirche, ganz allein; die Königin steckte sich ihre weißen Handschuhe in die Tasche, zog wieder bunte an. Du kannst dir keine Vorstellung machen, wie ergreifend alles war; der Prediger ist sehr vorzüglich. Joachim als unser Freund lag uns auch so am Herzen, und dazu den herrlichen König und die Königin, die so anspruchslos und so herzlich teilnehmend dabei waren. 1 Dieser ausführliche Bericht über den am 3. Mai 1855 in der Aegidienkirche in Hannover vollzogenen Übertritt des Joseph Joachim, eines in Ungarn geborenen Juden, zum evangelisch-lutherischen Glauben stammt aus der Feder Pauline Wehners, der Gattin des im Text erwähnten Arnold Wehner, des 1 Andreas M OSER , Joseph Joachim. Ein Lebensbild. Neue, umgearb. u. erw. Ausg. Bd. 1.2. Berlin 1908-10, hier Bd. 2, S. 70/71: Brief Pauline Wehners an ihren Bruder Wilhelm Pfeiffer, 6. Mai 1855.

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damaligen Göttinger Akademischen Musikdirektors und Leiters der Neuen Singakademie in Hannover. Auf den ersten Blick mutet das Geschehen wie ein stiller und gewöhnlicher Taufakt an, wären da nicht die beteiligten Personen von hohem Rang: Der König und die Königin, das sind König Georg V. von Hannover und seine Gattin Marie, während es sich bei dem Täufling um den königlich hannoverschen Konzertmeister Joseph Joachim handelt, damals 23 Jahre alt und ledig. Ungewöhnlich ist aber nicht nur die Konstellation der Beteiligten, auch das Geschehen selbst überrascht: Als Schauplatz für diese Taufe wären die Schloßkirche im Leineschloß oder die Neustädter Hofund Stadtkirche St. Johannis zu erwarten, nicht aber St. Aegidien. König und Königin erscheinen ganz allein ohne Bedienung, nur der die Taufhandlung ausführende Pastor und das damals mit Joachim befreundete Ehepaar Wehner 2 nehmen an dem Geschehen teil. Etwas Konspiratives haftet der Erzählung an. Bestätigt finden wir Pauline Wehners Schilderung übrigens in einem Brief des Pastors Flügge, den dieser am 24. Januar 1856 einem Freund schrieb: König und Königin waren ohne alle Begleitung von Adjudanten oder Hofdamen als Gevattern bei der heil. Handlung gegenwärtig. 3 Warum wurde diese Taufe mit so viel Bedacht im Verborgenen vollzogen? Wieso traten König und Königin als Taufpaten auf? Und was bewog überhaupt den in späteren Jahren berühmtesten und besten Violinisten Deutschlands dazu, seine Konfession zu wechseln? Um diese Fragen beantworten können, werden wir uns mit dem Lebensweg Joseph Joachims beschäftigen, bis zu dem Punkt, an dem er sich taufen ließ.

Joseph Joachims Weg von Kittsee bis nach Hannover Joseph Joachim wurde am 28. Juni 1831 in Kittsee (heute Burgenland/Österreich) als siebtes von acht Kindern einer deutschsprachigen jüdischen Familie geboren. 4 Der Vater Julius war ein Kaufmann mit zwar bescheidenem, aber doch gesichertem Einkommen, dessen Streben es war, 2 Spätere Briefe Joachims sind voll mit Klagen über Wehners Geltungssucht, etwas davon klingt in dem Brief seiner Frau an. Auch Wehners dirigentische und musikalische Fähigkeiten konnten vor Joachims kritischem Auge und Gehör keinen Bestand haben. Joachim brachte den freundschaftlichen Umgang schließlich durch beharrliches Schweigen zum Erliegen. 3 M(arie) B ALLAUFF , Joseph Joachim und der königlich Hannoversche Hof, in: Niedersachsen Jg. 18, 1912/13, S. 137-143, hier S. 139. 4 Diese und alle folgenden Angaben nach der bis heute maßgeblichen Biographie: M OSER , Joseph Joachim (wie Anm. 1). Moser war Schüler Joachims und diesem freundschaftlich bis an sein Lebensende verbunden. Diesem Umstand verdankt sich die Qualität von Mosers Werk, andererseits führt das enge Verhältnis zwischen Autor und Porträtiertem auch zur Verklärung. Als kurzer lexikalischer Abriß: Werner B OLLERT , Joseph Joachim, in: Neue deutsche Biographie, Bd. 10, Berlin 1974, S. 440/41; Wolfgang B OETTICHER , Joseph Joachim (1831-1907), in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Bd. 7, Kassel 1958, Sp. 56-64. - Eine neuere Biographie Joseph Joachims stellt angesichts seines bevorstehenden hundertsten Todestages im Jahre 1907 ein Desiderat der Forschung dar.

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den Kindern eine angemessene Ausbildung zu ermöglichen. 1833 zog die Familie deshalb und aus wirtschaftlichen Erwägungen nach Pest (heute Budapest). Als nun die außerordentliche musikalische Begabung des kleinen Joseph erkannt wurde, förderte man das junge Talent nach Kräften. 1839 beschlossen die Eltern auf den Ratschlag von Fanny Figdor, Josephs Wiener Cousine, hin, den Knaben zu den mütterlichen Verwandten nach Wien zu schicken, wo er dann bei Georg Hellmesberger (senior) und Joseph Böhm Violinunterricht erhielt. Wiederum war es die inzwischen als Frau Witgenstein nach Leipzig vermählte Cousine Fanny, die 1843 Felix Mendelssohn-Bartholdy als neuen Lehrer vorschlug. Nach einem Probevorspiel im Frühjahr 1843 in Leipzig entschied Mendelssohn, Joseph sei begabt genug, um ohne festen Lehrer weiter an seinem Geigenspiel zu arbeiten. Hingegen mahnte er einen sorgfältigen und gründlichen Unterricht in wissenschaftlichen Fächern an, also eine solide Schulbildung. Diese erhielt der noch nicht Zwölfjährige nun von einem Magister Hering, Kandidaten der Theologie 5. Hering unterwies Joseph Joachim im Lateinischen, in Geographie, Geschichte, Literatur und Religion. Über letzteren Punkt führt Moser aus: Magister Hering stand zwar auf dem Boden gläubigen Christentums, war aber ein abgesagter Feind starrer Dogmatik und toten Buchstabenglaubens. Vielmehr war es ihm darum zu tun, seinem Schüler die verklärte Gestalt des Stifters unserer Religion und seine Lehre vom rein ethischen Standpunkt zu erläutern, mit strengster Vermeidung jeglichen Proselytentums. 6 Mit der Gründung des Konservatoriums durch Felix MendelssohnBartholdy im April 1843 war Leipzig vollends zum Zentrum junger Musiker in Deutschland geworden - eine für einen hochbegabten Knaben wie Joseph Joachim äußerst anregende Umgebung, in der sich so bedeutende Musiker wie Robert Schumann und Ferdinand David um Mendelssohn scharten. In seinen Leipziger Jahren knüpfte Joachim denn auch zahlreiche freundschaftliche Bande zu den hervorragendsten Musikern seiner Zeit (erinnert sei nur an das Ehepaar Schumann), vervollkommnete seine spielerischen Fähigkeiten und unternahm die ersten Auslandskonzertreisen. Ein frühes Ende fand diese äußerst glückliche Zeit mit Mendelssohns Tod am 4. November 1847, im Alter von erst 38 Jahren. Nun nahm sich der auf dem Höhepunkt seines Ruhmes als Klaviervirtuose stehende Franz Liszt des jungen Zöglings an. Joachim zog auf dessen Aufforderung hin im Herbst 1850 nach Weimar, wo er Liszts Konzertmeister am Großherzoglichen Theater wurde. Auch hier fand Joachim einen anregenden Kreis von Musikern und Künstlern vor. Einem längeren Aufenthalt Bettina von Arnims in Weimar im September 1852 verdankte er die Bekanntschaft mit deren Tochter Gisela und dem sie begleitenden Sohn Wilhelm Grimms, dem Literaten und Kunsthistoriker Herman Grimm. 7 5 Siehe die humorige Schilderung dieses Privatgelehrten bei M OSER , Joachim (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 46/47, sowie Bd. 2, S. 69/70. 6 M OSER , Joachim (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 47. 7 In dieser Begegnung fand Joseph Joachim mit der literarisch wie ihre Eltern begabten, aber hochsensiblen Gisela von Arnim seine (unerfüllte) Jugendliebe; das über lange Jahre unentschieden zwischen Freundschaft und Liebe schwankende Dreiecksverhältnis

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Für den uns interessierenden Aspekt aus Joseph Joachims Leben, seine Stellung zum Judentum, gilt es festzuhalten: Moser berichtet von der Familie nur, daß Josephs Eltern ihn und seine Geschwister im jüdischen Glauben erziehen ließen. 8 Der Umzug nach Preßburg und die Bereitschaft der Eltern, dem Knaben eine musikalische Erziehung zuteil werden zu lassen, lassen einen Hang zur Akkulturation an die christliche Umgebung erkennen, ohne das wir Genaueres wüßten. 9 Bei seiner Cousine Fanny Figdor, verh. Witgenstein in Wien bzw. Leipzig, in deren Familie Joachim seit seinem achten Lebensjahr lebte, dürfen wir von einer weitgehenden Akkulturation ausgehen. In den entsprechenden Kapiteln von Mosers Biographie ist jedenfalls nirgends von der jüdischen Herkunft der Familie oder von einer religiösen Lebensweise die Rede. Joseph Joachim lebte also schon in jungen Jahren außerhalb der jüdischen Tradition. Entscheidend dürfte dann der Einfluß seines verehrten Lehres Felix Mendelssohn-Bartholdy und von dessen Umgebung in Leipzig gewesen sein. Mendelssohn selbst war als Kind mit seinen Geschwistern getauft worden, unter seinen Anhängern befanden sich weitere jüdische Konvertiten wie der Violinist Ferdinand David, damals Konzertmeister am Gewandhaus, der Dirigent und Komponist Ferdinand Hiller und der Musikdirektor der Berliner Universität, Adolf Bernhard Marx. Joachims von einem Privatgelehrten erteilter Schulunterricht enthielt wie selbstverständlich auch die protestantische Theologie, wobei Mosers Schilderung erkennen läßt, daß man auf die jüdische Konfession des Schülers Rücksicht nahm, es wurde also kein direkter Missionsversuch an Joseph Joachim unternommen. Für die geistige und religiöse Entwicklung des Hochbegabten konnte dieser Unterricht nicht ohne Folgen bleiben. Anzumerken gilt noch, daß Joseph Joachim seine Kenntnisse in Musiktheorie von dem Thomaskantor Moritz Hauptmann erhielt. Mendelssohns Rolle für die Wiederbelebung der Kirchenmusik Johann Sebastian Bachs, des Komponisten des deutschen Protestantismus, ist allgemein bekannt. Joachim wuchs also in Leipzig in die protestantische kulturelle Tradition hinein. Die für seinen weiteren Werdegang entscheidenden Freundschaften - das Ehepaar Schumann, Bettina und Gisela von Arnim, Herman Grimm u.a. suchte und fand Joachim in diesen Leipziger und Weimarer Jahren, mit einer gewichtigen Ausnahme: Johannes Brahms, dem er erst während seiner Hannoveraner Jahre begegnete. Irgendein Name jüdischer Intellektueller oder Künstler findet sich nicht darunter. In Weimar wandte Joachim sich schon bald von den musikalischen Vorstellungen Liszts ab, und so verwundert es nicht, daß er im Herbst 1852 ein Angebot auf die Konzertmeisterstelle an der königlich hannoverschen zwischen Joseph Joachim, Gisela von Arnim und Herman Grimm schildert Luba D RAMALIEWA , Gisela von Arnim. Leben, Persönlichkeit und Schaffen, Leipzig, Univ., Diss., 1925, S. 36-72. 8 M OSER , Joachim (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 4. 9 Es fehlen Arbeiten zur Familiengeschichte, wie auch zu den jüdischen Gemeinden in Kittsee und Preßburg.

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Hofoper annahm, zumal er in Hannover wesentlich besser verdienen sollte als in Weimar. Am 1. Januar 1853 trat der damals 22jährige Joachim dann seine neue Anstellung als Konzertmeister am Königlichen Hoftheater in Hannover an. In dieser Stellung hatte er neben der Verpflichtung, in der Oper mitzuspielen, die „Instrumentalmusik“, d. h. die Sinfoniekonzerte des Orchesters zu dirigieren. Welches künstlerische und soziale Milieu fand Joachim an seiner neuen Wirkungsstätte vor?

Das musikalische Leben Hannovers um 1850 Georg Fischer, der kenntnisreiche Theaterhistoriker Hannovers, 10 berichtet von einem Vorfall zu Beginn der 1840er Jahre, um zu illustrieren, wie es in den ersten Regierungsjahren König Ernst Augusts um die Musik in Hannover bestellt war: Im Juni 1841 zog es die an die Hofoper engagierte italienische Primadonna Gentiluomo nach mehreren vergeblichen Gesuchen um Entlassung vor, sich überstürzt aus Hannover abzusetzen: Als Grund des Contractbruchs hatte sie angegeben, Hannover sei ihr zu langweilig, worauf der König, welcher von London und Berlin her an ein grossstädtisches Leben gewöhnt war, bemerkte: „Denkt denn das Luder, dass ick mich hier amüsiere?“ 11 Fischer frönt hier seiner Leidenschaft für das Anekdotische: Immerhin ließ Ernst August den Neubau des Opernhauses durch den Architekten Laves beginnen, immerhin wirkte mit Heinrich Marschner seit 1831 einer der bekanntesten deutschen Komponisten der Zeit als Hofkapellmeister in Hannover. 12 Doch ginge man sicherlich fehl, wollte man Hannover bereits in den 1840er Jahren eine führende Rolle im Musikleben Deutschlands zuschreiben. 13 Das Fernbleiben der Herrscher und die reduzierte Hofhaltung in den Zeiten der Personalunion Hannovers mit Großbritannien zwischen 1714 und 1837 hatte sich langfristig hemmend auf die gesellschaftliche und eben auch auf die musikalische Entwicklung der Stadt ausgewirkt. Zudem hatte das künstlerische Ensemble der Oper (Sänger und Orchestermusiker) während der französischen Besetzung von 1807-13 stark gelitten und musste danach erst neu aufgebaut werden. 10 Zu Georg Fischers Person und seinem Werk: Gerlinde H AHN , Chronist einer Blütezeit. Georg Fischer und sein Nachlaß in der Stadtbibliothek Hannover, in: Heinrich Marschner (wie Anm. 12), S. 144-151. 11 Georg F ISCHER , Musik in Hannover. 2., verm. Aufl. v. „Opern und Concerte im Hoftheater zu Hannover bis 1866“, Hannover/Leipzig 1903, S. 109. 12 Zu Marschner nun die Aufsätze in: Heinrich Marschner. Königlicher Hofkapellmeister in Hannover. Von Brigitta W EBER . Mit Beitr. v. Allmuth B EHRENDT [u.a.] (Prinzenstraße. 5), Hannover 1995. 13 Grundlegend zur Musikgeschichte Hannovers in dieser Zeit: Heinrich S IEVERS , Hannoversche Musikgeschichte. Bd. 2: Vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zur Auflösung des Königreichs Hannover, Tutzing 1984. - Klaus-Jürgen E TZOLD , Die KöniglichHannoversche Hofkapelle - Neuaufbau, Stabilisierung, Aufschwung und Blütezeit 1814 bis 1866, in: Niedersächsische Staatstheater Hannover GmbH (Hrsg.), Das Niedersächsische Staatsorchester Hannover 1636 bis 1986. Gesamtred. Wulf K ONOLD , mit Beitr. v. Klaus-Jürgen E TZOLD [u.a.], Hannover 1986, S. 35-69.

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König Ernst August starb 1851, und nun gelangte mit seinem Sohn Georg V. ein künstlerisch gebildeter und interessierter Monarch zur Regierung. 14 Georg hatte in seiner Jugend eine gründliche musikalische Ausbildung erhalten und bis zu seinem Regierungsantritt an die 200 vorwiegend kleinere Werke wie Klavierstücke, Chöre und Kirchenlieder komponiert. Die Regierungsgeschäfte ließen ihm nach 1851 keine Gelegenheit mehr für die Komposition, doch blieb er ein leidenschaftlicher Musikliebhaber und war lebhaft an der Förderung des höfischen, wie auch des bürgerlichen Musiklebens in seiner Residenzstadt beteiligt. 15 So wurde 1852 das neue Opernhaus eröffnet und es konnten bedeutende Künstler wie der Tenor Albert Niemann (Wagners erster Siegfried-Darsteller) und eben Joseph Joachim für ein langfristiges Engagement gewonnen werden. Joachims freundschaftliche Kontakte zu den bedeutendsten Musikern Deutschlands sollten sich bald in Gastkonzerten von Franz Liszt, Clara Schumann und später auch des jungen Johannes Brahms niederschlagen. Dominierte 1852 noch die vom König vorgezogene italienische Oper bzw. die von Heinrich Marschner vertretene deutsche Romantik die Aufführungen, so konnten Joachim und seine Anhänger das Repertoire allmählich auch für die neuen deutschen Komponisten wie Schumann, Brahms und Wagner öffnen.

Joachims gesellschaftliche Stellung in Hannover Joachim fühlte sich schon bald recht vereinsamt in Hannover, was drei Briefbeispiele illustrieren mögen: So schrieb er schon am 4. Februar 1853 dem Freunde Woldemar Bargiel nach Berlin: Ich habe hier die letzten Monate ein wahres Einsiedler-Leben geführt, fast ohne jeden Verkehr; und es gab Stunden, in denen ich meinte, es müsse ewig so fortdauern. 16 Sehr viel deutlicher fällt ein Brief an Bernhard Coßmann in Weimar aus: Hier fehlt es mir gänzlich an sympathischem, musikalischen Umgang; ich lebe fast einsiedlerisch! ... Mit Marschner kann man nicht musikalisch verkehren; er kennt nur sich; es ist ekelhaft, wie er sich von seinen Freunden und seiner Familie qualmigen Weihrauch vordampfen läßt, und trotz seiner Freundlichkeit fühl' ich mich durchaus nicht zu ihm gezogen; es leuchtet überall der

14 Eine wissenschaftliche Biographie fehlt bis heute, grundlegend aber der Aufsatz von Dieter B ROSIUS , Georg V. von Hannover, der König des „monarchischen Prinzips“, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte Bd. 51, 1979, S. 253-291, zu Georgs musikalischer Begabung S. 263/64. 15 Georgs Kompositionen sind von Seiten der Musikwissenschaft bislang nicht erforscht worden. Dasselbe gilt für seine Rolle im Musikleben Hannovers. Erste Überlegungen hierzu durch E TZOLD , Hofkapelle (wie Anm. 13), S. 56/57, sowie nun bei Günter K ATZENBERGER , Höfisches und bürgerliches Musikleben in Hannover zur Zeit König Georgs V., in: Arnfried E DLER , Joachim K REMER , (Hrsg.), Niedersachsen in der Musikgeschichte. Zur Methodologie und Organisation musikalischer Regionalgeschichtsforschung (Publikationen der Hochschule für Musik und Theater Hannover. 9) Augsburg 2000. 16 Briefe von und an Joseph J OACHIM . Ges. u. hrsg. v. Johannes J OACHIM u. Andreas M OSER . Bd. 1-3, Berlin 1911-13, hier Bd. 1, S. 38.

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krasseste Egoismus speckig glänzend durch! Da kriegt man Abscheu vor der Indolenz. 17 Und als Joachim zum Jahreswechsel Franz Liszt in Weimar einen Besuch abstatten will, schreibt er ihm vorab: Wie freue ich mich darauf! Ich fühle mich hier bodenlos vereinsamt. 18 In Hannover befand sich Joachim in einer für ihn ungewohnten Situation: Was sein Amt und die damit verbundenen Pflichten betraf, hatte Joachim alle Ursache zufrieden zu sein. Auch seine Tätigkeit als Dirigent bereitete ihm viel Freude, denn sie wurde allseitig ohne Vorbehalt anerkannt. Der innere Mensch in ihm aber fühlte sich während der ersten Jahre in Hannover so verwaist und einsam, daß er Gefahr lief, Hypochonder zu werden. Fremd fühlte er sich in der neuen Ungebung, wo er keinen gleichstrebenden Genossen hatte, kein verständnisvoller Freund zur Stelle war, der sich für seine Ideale begeistert hätte. 19 Ganz offensichtlich konnte der wesentlich ältere Marschner nur wenig Verständnis für den jungen Künstler aufbringen, Joachims eigene Antipathie gegen Marschner ist unübersehbar. Mit der hannoverschen Hofgesellschaft konnte Joachim nicht warm werden, immerhin fand er in der jungen Gräfin Bernstorff 20 eine musikalisch interessierte Gesprächspartnerin. Mit seinem Vorgesetzen, dem Hofopernintendanten Graf Platen verband ihn ein fortwährend gespanntes Verhältnis. 21 König und Königin dagegen waren dem jungen Musiker herzlich zugetan, ein Umstand, den Joachim in vielen Briefen mitteilte. 22 Kontakte zu jüdischen Kreisen scheint Joachim in Hannover nicht gesucht zu haben, was nach dem oben Geschilderten auch nicht zu erwarten war. Hingegen sind Besuche im Hause der Familie des Schriftstellers und Politikers Johann Hermann Detmold belegt. Detmold war bereits als Kind 1815 mit seinen Geschwistern getauft worden. 23

Briefe von und an Joseph J OACHIM (wie Anm. 16), Bd. 1, S. 43, März 1853. Ebenda, S. 135, 29. Dezember 1853. 19 M OSER , Joachim (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 145. 20 F ISCHER , Musik in Hannover (wie Anm. 11), S. 228. Mosers Behauptung (S. 235), die Gräfin Bernstorff sei bei der Taufe zugegen gewesen, wird von den beiden oben angeführten Zeugnissen widerlegt. 21 M OSER , Joachim (wie Anm. 1) Bd.1, S. 147/48, charakterisiert Graf Platen als Intriganten; seiner problematischen Stellung zwischen dem König und den von jenem favorisierten Künstlern wird man so sicherlich nicht gerecht: Mehrmals vermochten Sänger und Schauspieler ihre Interessen an der Intendanz vorbei durch Audienzen beim König durchzusetzen. 22 Zum Beispiel die Beurteilung einer Aussprache mit Georg V. in: Briefe von und an Joseph J OACHIM (wie Anm. 16), Bd. 1, S. 308/09, 7. Februar 1856: Der König behandelte die Sache streng künstlerisch; nicht protektorenhaft, Liebe einflößend, edel benahm er sich. 23 Briefe von und an Joseph J OACHIM (wie Anm. 16), Bd. 1, S. 424-26, hier S. 426; Brief an Gisela von Arnim von Mitte Mai 1857. Vgl. zur Person Detmolds: Helmut Z IMMERMANN , Johann Hermann Detmold, in: Leben und Schicksal. Zur Einweihung der Synagoge in Hannover, Hannover 1963, S. 64-70. - Bernhard M ÜHLHAN , Johann Hermann Detmold, Satiriker und Politiker, in: Neue deutsche Biographie, Bd. 3, Berlin 1957, S. 619/20. 17 18

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In den 1850er Jahren legte sich Joachim seine Devise „F A E“ zu: „Frei, aber einsam!“, 24 womit er sowohl seinen Status als Künstler als auch seine gesellschaftliche Situation als unverheirateter Mann charakterisierte. 25 Damit ist ein weiterer Punkt angesprochen, der zu Joachims Vereinsamung erheblich beitrug, die unglückliche Liebesbeziehung zu Gisela von Arnim, der Tochter Achim von Arnims und Bettina Brentanos. 26 Gisela und der ihr bereits freundschaftlich verbundene Sohn Wilhelm Grimms, der Kunsthistoriker Herman Grimm sowie Joachim lernten einander 1852 bei dem oben erwähnten Besuch in Weimar kennen; es folgten jahrelange freundschaftliche Kontakte mit häufigen Besuchen Joachims „In den Zelten“, also in der Berliner Wohnung der Familie Arnim unter dieser Adresse. Dies ist für unser Thema vor allem deshalb von Bedeutung, weil sich hieraus auch Kontakte Joachims zu den Berliner Salons ergaben, in denen Bürger, Adlige, Künstler und eben auch Juden gesellschaftlichen Umgang miteinander pflegen konnten. 27 Von den jüdischen Salonnièren sind viele wie zum Beispiel Fanny Lewald während der ersten Jahrhunderthälfte konvertiert. Vielleicht hat Joachim hier weitere Anregungen zu seiner späteren Taufe erhalten, doch können wir dafür noch keine konkreten Anhaltspunkte liefern. Was die Beziehung zu Gisela von Arnim betrifft, so blieb diese bis zu einem schweren Nervenzusammenbruch Giselas im August 1857 in der Schwebe, dann erwirkte Herman Grimm eine Klärung, die zu einem zeitweiligen Abbruch des freundschaftlichen Verkehrs zwischen Joachim und Gisela führte. Nach dem Tode der Mutter Bettina willigte Gisela schließlich im Laufe des Jahres 1859 in die Heirat mit Herman Grimm ein. 28 Joachim blieb dann noch einige Jahre „frei, aber einsam“, bis er im Mai 1862 die an die Hofoper engagierte Sängerin Amalie Weiss (Künstlername, eig. Schneeweiß) kennenlernte und sich beide ineinander verliebten. Am 10. Juni 1863 wurden sie in der Schlosskirche zu Hannover getraut, Königin Marie fungierte als Trauzeugin. 29 Es bleibt festzuhalten, daß Joachim in Hannover freundschaftliche Beziehungen und gesellschaftlichen Kontakt nur zu wenigen Personen pflegte, vielmehr in einen regen Brief- und Besuchsverkehr zu seinen Musikerfreun24 Dieser Devise verdankt die Musikwelt eine gemeinsam von Johannes Brahms, Albert Dietrich und Robert Schumann komponierte Violinsonate, eben die FAE-Sonate. Siehe M OSER , Joachim (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 179/80. 25 Vgl. Johannes B RAHMS , Briefwechsel. Bd. 5-6: Johannes Brahms im Briefwechsel mit Joseph Joachim. Hrsg. v. Andreas M OSER . Bd. 1-2, hier Bd. 1, 3. Aufl., Berlin 1921, Nr. 128, S. 177-180. 26 Neben der bereits benannten älteren Arbeit von D RAMALIEWA , Gisela von Arnim (wie Anm. 7), siehe jetzt: Ruth-Ellen B OETCHER -J OERES , Gisela von Arnim (1827-1889). „Sie ist wie ein Felsen ... und ich bin nur die Ranke darum“, oder: Der Märchenaufstand, in: Luise F. P USCH (Hrsg.), Töchter berühmter Männer. Neun biographische Portraits (Insel Taschenbuch. 979), Frankfurt/M. 1988, S. 208-238. 27 Zu den jüdischen Salons grundlegend: Deborah H ERTZ , Die jüdischen Salons im alten Berlin. Frankfurt/M. 1991. 28 D RAMALIEWA , Gisela von Arnim (wie Anm. 7), S. 80. 29 M OSER , Joachim (wie Anm. 1), Bd. 2, 1910, S. 121.

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den aus Leipziger und Weimarer Tagen trat. Die gemeinsamen musikalischen Interessen mit König Georg V. wußte Joachim zuweilen zu seinen Gunsten zu nutzen, wenn er in Auseinandersetzungen mit der Theaterintendanz geriet. Für Kontakte zur jüdischen Gemeinde in Hannover gibt es bislang keine Anhaltspunkte. Für Joachims Lebensweise erscheint die 1855 erfolgte Taufe also konsequent. Den Anstoß dazu lieferte der König.

Joachims Konversion zur evangelisch-lutherischen Kirche Andreas Moser hat in drei gewichtigen Bänden den Briefwechsel Joachims herausgegeben, der eine hervorragende Quelle für die Biographie dieses Künstlers darstellt. In einigen Briefen Joachims, vornehmlich gegenüber seiner Vertrauten Gisela von Arnim, finden sich Äußerungen über seine jüdische Herkunft. Joachim sieht in seinem jüdischen Erbe die Ursache für seine melancholischen Anwandlungen, einen störender Faktor, der ihn in seiner Schaffenskraft lähmt und in seinem Lebenswandel behindert. So beschreibt er im Dezember 1853 in einem sehr langen Brief Gisela eine lang andauernde Depression und vergleicht beider Gemüt miteinander: Du kennst des Schmerzes Verklärung in Dir; mir ist das nicht gegeben ... Ich habe mir oft Vorwürfe darüber gemacht, es zu überwinden gesucht, aber es ist wohl zu tief in mir begründet, muß wohl zu meiner Natur gehören, und stammt vielleicht aus dem Orient, dass ich so leicht in so schlimme Stimmung verfalle. 30 Der Orient, das ist unverkennbar die jüdische Herkunft. Und noch ein weiterer, schon als jüdischer Selbsthaß zu bezeichnender Beleg, in unmittelbarer Nähe zur anstehenden Taufe an Herman Grimm geschrieben: Mir ist, als wär’ ich erst jetzt recht frei von Bitterkeit und kampfberechtigt gegen alles Unschöne des Judenthums, dem ich so feindlicher mich gesinnt fühle, je mehr ich eigene Schäden in mir zu heilen habe, an denen ich früher unbewusst, später bewusst durch jüdische Erziehung zu leiden hatte. 31 Eine erste Andeutung von der bevorstehenden Konversion findet sich in einem Brief Joachims an Herman Grimm vom 22. April 1855, wo er den Freund bittet, es aber keiner Menschenseele anzuvertrauen: es wird hier in aller Stille geschehen in ziemlich romantischer Weise. 32 Was mit der romantischen Weise gemeint ist, erfährt Grimm im nächsten Brief: König und Königin werden während eines mittäglichen Spazierganges unbemerkt in die Aegidienkirche treten, wo dann in aller Stille die Taufhandlung vollzogen werden soll. Der hannoversche König als Taufpate für seinen Konzertmeister - wie es dazu kam, auch das erzählt Joachim im selben Brief: Mich freut die reine Güte des Königs, der neulich ... durch meine Äußerungen über Bach zur Frage kam, wie ich, in katholischen Landen geboren, so dessen Geist würdigte, und da ich ihm meine israelitische 30 Briefe von und an Joseph J OACHIM (wie Anm. 16), Bd. 1, S. 113-119, hier 113/14, 3. Dezember 1853. 31 Briefe von und an Joseph J OACHIM (wie Anm. 16), Bd. 1, S. 283-85, hier S. 284, 26. April 1855. Spätere Briefe enthalten wieder positivere Beurteilungen, z. B. der Brief vom 31. Dezember 1856, ebd. S. 391-93. 32 Briefe von und an Joseph J OACHIM (wie Anm. 16), Bd. 1, S. 280.

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Abstammung und anderes aus meinem Leben erzählte, die Gründe erforschte, die mich bei meinem „christlichen“ Wesen abgehalten hätten, die christliche Religion anzunehmen. Meinem Hauptgrund, die Scheu vor allem äußerlich Auffallenden bei rein seelischen Vorgängen, hob er durch die Bitte, die ihn zu meinem Pathen gemacht hat. 33 Nun lassen sich die eingangs gestellten Fragen beantworten: Als sich Joseph Joachim 1855 in Hannover taufen ließ, hatte er sich innerlich längst vom Judentum gelöst. Die einzelnen Stationen seiner musikalischen Ausbildung: Wien, Leipzig, Weimar, hatten ihn umfassend in die christliche Umwelt sozialisiert, oder um den Fachbegriff der deutsch-jüdischen Historiographie zu verwenden: akkulturiert. So bedurfte es nur noch eines äußeren Anstoßes, um Joachim zum Glaubenswechsel zu bewegen. Dieser trat ein in Gestalt eines Gesprächs mit Georg V., der Joachim in gemeinsamem Interesse an der Musik freundschaftlich verbunden war. Seine Scheu vor öffentlichen Auftritten in einer seinem Empfinden nach privaten Angelegenheit, bewog ihn, die Konversion in aller Stille zu vollziehen. Dabei wird man ihm doch einen romantischen Zug für das Konspirative und Schwärmerische der Situation nicht absprechen können, schließlich schreibt er im selben Brief an Herman Grimm auch: Ich wollte, die Gisel und Du wären meine Pathen in irgend einer DorfKirche, so romantisch bin ich. 34 Zwar fand die Taufe am 3. Mai 1855 nicht in einer Dorfkirche statt, dafür aber doch in der hannoverschen Aegidienkirche, nicht in der städtischen Hauptkirche, der Marktkirche, nicht in der Neustädter Hofkirche oder gar in der Schloßkirche im Leineschloß. Anstelle des eingangs zitierten Berichts von Pauline Wehner sei hier noch die kürzere Beschreibung des ausführenden Pastors Flügge angeführt, wie er sie am 24. Januar 1856 einem Freund mitteilte: Vor etwa einem Jahre kam Joachim zu mir mit der Bitte, ihn nach gehöriger Vorbereitung zu taufen. Ich überzeugte mich bald von der Reinheit der Motive, welche ihn getrieben, aus dem Judentum in das Christentum überzutreten; ich lernte in ihm einen aufrichtigen, strebsamen, begabten Menschen kennen, der mit kindlichem Sinn die christlichen Glaubenslehren in sich aufnahm und in sich lebendig werden ließ und habe ihn am 3. Mai vor[igen] J[ahres] in der Aegidienkirche getauft. König und Königin waren ohne alle Begleitung von Adjudanten oder Hofdamen als Gevattern bei der heil. Handlung gegenwärtig. Zu seinem Namen bekam er die Namen Georg Maria. 35 Der Bericht des Pastors läßt keinen Zweifel daran aufkommen, daß Joachim sich aus innerer Glaubensüberzeugung taufen ließ. Vielleicht hoffte er außerdem, sich mit Hilfe der Taufe seiner Stimmungsschwankungen zu entledigen, schrieb er sie doch stets einem jüdischen Erbe in sich zu. Daneben sind auch nicht-religiöse Beweggründe denkbar. Um ein Beispiel zu nennen: Im September 1854 wünschte sich Clara Schumann Joachim als Paten ihres jüngsten Sohnes Felix, was aber angesichts Joachims jüdischer KonfesBriefe von und an Joseph J OACHIM (wie Anm. 16), Bd. 1, S. 284, 26. April 1855. Ebd., S. 285. Gisel und Du = das Freundespaar Gisela von Arnim und Herman Grimm. 35 B ALLAUFF , Joseph Joachim (wie Anm. 3), S. 139. 33 34

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sion unterbleiben mußte. 36 Hinweise auf berufliche Vorteile, die Joachim etwa durch einen Religionsübertritt erwirkt hätte, gibt es keine; an seinem Kontrakt änderte sich durch die Konversion nichts. Übrigens führte Joseph Joachim zeitlebens die christlichen Taufnamen nicht, vor allem wohl aus Rücksicht gegen die jüdisch verbliebenen Eltern.

Reaktionen auf die Taufe Mitte März 1856 schrieb Joseph Joachim an Gisela von Arnim im Zusammenhang mit einem bevorstehenden Besuch in Berlin. Giselas Mutter Bettina hatte Joachim eingeladen, in ihrer Wohnung „In den Zelten“ zu übernachten. Joachim lehnte dies Ansinnen jedoch dankend ab und fuhr fort: Wahrscheinlich denkt sie selbst nicht mehr daran, und vollends seitdem ich nicht mehr Benjamin, sondern Georg Maria heiße ... 37 Was zunächst noch als scherzhafte Anspielung unter einander vertrauenden und verstehenden Freunden verstanden werden kann, entbehrte doch nicht eines ernsten Hintergrundes, wie aus dem weiteren Bericht Joachims hervorgeht: Das dumme Zeitungsgeklatsch über mein Christenthum! was hat mir das für alberne Briefe zugezogen, ... und wie hat es mich überhaupt den Widerspruch von Sein und Schein einmal wieder recht auskosten lernen! Das Geschmeiß, das so etwas nur immer mit Carrière-Sucht in Verbindung setzt. 38 Joachims von Anfang an gehegte Befürchtungen, die Taufe könne ihm, wenn erst einmal an die Öffentlichkeit gelangt, falsch ausgelegt werden, waren also gut begründet. Doch auch von unerwarteter Seite konnte er in dieser Situation in Bedrängnis und Erklärungsnot geraten. Denn er fuhr im selben Brief an Gisela von Arnim gewandt fort: Mir ist's übrigens nicht ganz recht, daß Du liebe Seele, um meine CharakterStärke in ein schöner Licht zu setzen, meinen Übertritt als eine Art von Notwehr gegen Pretensionen von Juden darstellst, denen ich dadurch die Gemeinschaft aufgesagt haben soll. Es liegt innerlicher und tiefer, und ich werde noch darauf zurückkommen. Für heute will ich Dich, ..., nicht mit meiner Religiosität plagen. 39

36 Briefe von und an Joseph J OACHIM (wie Anm. 16), Bd. 1, S. 210-213, hier S. 212; Brief Clara Schumanns an Joachim vom 21. September 1854. Offenbar wußte Clara Schumann nichts von Joachims jüdischer Konfession, sonst hätte sie ihn nicht um die Patenschaft gebeten. 37 Briefe von und an Joseph J OACHIM (wie Anm.16), Bd. 1, S. 326. 38 Ebd. 39 Ebd.

Der Ertrag der historischen Ausbildung für die Arbeit im Verlag, oder: Was in aller Welt mache ich hier? Claudia Kaufold

Einem Interregio-Abteil der 1. Klasse entstiegen zwei junge Geschäftsfrauen, die zügig den Hamburger Hauptbahnhof durchquerten und sich mit einem Taxi zu einem Tagungshotel der gehobenen Klasse bringen ließen. „New Electronic Media?“ Der Portier wies eilfertig den Weg. Im Foyer des Konferenzraumes begrüßte der Sales Director die Ankömmlinge, und der Personal Management Assistant begleitete die Damen zu ihren Plätzen. Lexikon-CDs, Internet-Datenbanken und neue Platforms waren die Themen an diesem Tag. Zwischen den einzelnen Conferences tauschten sich die Representatives über New Media und E-Commerce aus und deuteten knapp ihre neuen Projekte an. Man fühlte sich sehr up-to-date, denn das Internet hatte soeben den Weg über den Atlantik gefunden und versprach komplett neue business-Möglichkeiten. So gestaltete sich mein erster Arbeitstag in einem Verlag für präklinische Notfallmedizin, dessen Namen ich gerade ohne zu stocken auszusprechen gelernt hatte. Ich kannte knapp zwei Prozent der Produktpalette vom Anschauen und hatte noch keine englische Funktionsbezeichnung - ehrlich gesagt, wußte ich noch nicht einmal auf deutsch, was ich demnächst machen sollte. Sehr eloquent konnte ich aber schon an jenem Montag die Vorteile des Verlagsstandortes im Nordwesten gegenüber Frankfurt benennen (Personalkosten! Vertriebswege!). Und so saß ich denn, direkt vom diplomatischen Parkett des 17. Jahrhunderts auf den glatten Boden der Neuen Medien gerutscht, zwischen lauter 30-jährigen Anzugträgern, die gepflegtes Denglish sprachen, und wünschte mich in den 3. Stock des Blauen Turmes zurück. Meine erste Aufgabe als Lektoratsassistentin war das Einräumen der Buchbestände in die neue Bibliothek. Prima, dachte ich, so etwas kann ich. Daß ich über präklinische Notfallmedizin nichts wußte, versteht sich wohl von selbst. Nach diesem Tag war ich dann in der Lage, auch die übrigen Gebiete aufzuzählen, die für mich Neuland waren. Und das war nicht nur Medizin, sondern gleichermaßen Verlagsrecht, Marketing und so fort. Wenn ich aber eines im geisteswissenschaftlichen Studium gelernt habe, dann das Einarbeiten in immer neue Gebiete. Wenn man dabei auch nicht bis zur tiefsten Erkenntnis vordringt, sondern nur an der Oberfläche kratzt, bleiben zumindest der Erwerb einer gewissen Fachsprache und Small talk-taug-

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liches Halbwissen übrig. Und das ist in der Verlagsarbeit geradezu ideal, denn die Experten sind ja die anderen; die Autoren. Zunächst durch Korrekturlesen eignete ich mir die nötige Fachsprache an und wurde in die Politik der einheitlichen Schreibweisen eingeführt. Dank der im Studium gelegentlich aufgefrischten Lateinkenntnisse und da Notfallmedizin – wenn ich das als Laie so sagen darf - ein recht überschaubares Gebiet ist, bereitete dies keine großen Schwierigkeiten. Geübt wurde beim Korrigieren auch die Layoutkontrolle, etwas, was seit dem Einzug der Computer in die Studierstuben keine absolut ungewohnte Tätigkeit ist. Nach meinen Beobachtungen scheint es in der Branche geradezu typisch zu sein, Quereinsteiger einzustellen. In unserem Verlag beispielsweise ist das Lektorat nur mit Geisteswissenschaftlern besetzt, von denen jeder wenigstens im Nebenfach auch Germanistik studiert hat. Die „Beigaben“ sind Geschichte, Kunstgeschichte, Publizistik und Fremdsprachen. Kuriosität am Rande: Im ganzen Verlag sind genauso wenig Mediziner wie Leute zu finden, die eine verlagstaugliche Ausbildung absolviert hätten, nämlich kein einziger. Ein Argument, weshalb man auf Mediziner in diesem Bereich verzichten kann, ist, daß die Vertreter der drei für die Notfallmedizin wichtigsten Fächer - Innere Medizin, Anästhesie, Chirurgie - in angrenzenden Gebieten auch des Rates des Fachmannes bedürfen. Und da der Umgang mit umfangreichen Texten, das Erstellen und Beachten konsequenter Gliederungen usw., nicht gerade die Domäne der Mediziner ist und weil in Bereichen wie Notfallseelsorge oder Notfallpsychologie ohnehin fast jeder fremd ist, hat man in unserem Verlag die Lösung gewählt, das Lektorat mit Geisteswissenschaftlern zu besetzen und ihnen externe Fachleute zur Seite zu stellen. Journalistisches Know-how und Rechercheideen bringen überdies auch eher die ersteren mit. Das haben wir schließlich lange genug geübt. Die Fähigkeit, schwere Fehler und Unstimmigkeiten zu bemerken, entwickelt sich auch beim Fachfremden mit der Zeit. Hilfreich im Umgang mit schwierigen Autoren ist es, gelegentlich germanistische Kompetenzsignale zu senden, um Diskussionen über Kommata, syntaktische Eigentümlichkeiten oder Sprachlogik zu beenden. Fremdsprachenkenntnisse sind tatsächlich nötig, und sei es, um slowenische Zollformulare auszufüllen. Das Lektorat ist überdies in der Lage, Anrufe in vier Sprachen entgegenzunehmen. Und wie nützlich ist nun die Beschäftigung mit Geschichte für die Arbeit in einem fachfremden Verlag? Historisches Wissen war gelegentlich gefragt in der Konversation mit Referenten oder Autoren. Anrufer werden im Telefonat mit kompetenten Historikern der Mühe des Buchstabierens enthoben, wenn sie zum Beispiel in der Graf-Yorck-Straße wohnen oder am Findorff-Platz. Techniken aus der diplomatischen Praxis um 1700 wurden gelegentlich zum Beispiel in Verhandlungen mit Druckereien angewendet, durchaus mit Erfolg. Eher einen Heiterkeitserfolg bewirkte mein Ansinnen, als ich in der Einarbeitungszeit die Buchbestellung einer Universitätsbibliothek bearbeiten sollte und zum besseren Verständnis des Vorgangs die früheren Aktenordner durchsehen wollte (es waren drei Stück). Auch die Frage, ob nach preußi-

Was in aller Welt mache ich hier?

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schem oder nach hannoverschem Ablagesystem abgeheftet würde, stieß auf Unverständnis. Um aber nun nicht ins Anekdotische abzuschweifen und um endlich auf den Punkt zu kommen: Noch vor wenigen Jahren war zum Beispiel die Kluft zwischen akademischer und Geschäftswelt tiefer als im Internet-Zeitalter. Aber selbst, als ich die Aufgabe übertragen bekam, die umfangreiche Homepage des Verlages zu konzipieren - wonach ich mich weiß Gott nicht gedrängelt hatte – und dann wochenlang unter Zeitdruck Konzepte und Entwürfe ersann, wäre ich ohne die im Studium erworbenen Fähigkeiten vermutlich dem Wahnsinn verfallen. Auch dies war einige Jahre typisch für die Branche, daß der Internet-Bereich dem Lektorat als „Nebenaufgabe“ zugewiesen wurde. Ohne Einstellung von zusätzlichen Kräften natürlich, und ich befand mich in der glücklichen Lage, fürs Programmieren eine Firma beauftragen zu dürfen und nicht am Feierabend noch HTML pauken zu müssen. Für meine jetzige Tätigkeit als Lektorin hätte ich statt Geschichte auch genau so gut Arabistik oder Keilschriftkunde studieren können, und statt zu promovieren hätte ich vielleicht ein Volontariat machen können. Um ganz auf Nummer sicher zu gehen, hätte ich auf meine Großmutter hören und eine Banklehre machen sollen. Aber auf die Sichtweise auf die Dinge des Lebens, die ich im Studium erworben habe, würde ich auch im Verlagsalltag nicht verzichten wollen. Ohne das Bewußtsein für die „longue durée“ würde ich im Alltagskleinkram untergehen. Vielen Dank, verehrte Lehrer!

Vom Gehen, Radeln und Fahren in Rom Stefan Brüdermann

Den Organisatoren dieses Bandes hatte ich auf ihre Anfrage hin versprochen, ich wolle – ganz im Sinne meines Verständnisses der „Fahrende Leute“Forschung – etwas über die Geschichte des Fahrradfahrens schreiben. Kaum wollte ich ernsthaft mit der Arbeit beginnen, mußte ich aber feststellen, daß mir meine in Deutschland begonnenen Forschungen zur Zeit (meiner Mitarbeit am Repertorium Germanicum beim Deutschen Historischen Institut in Rom) etwas fern liegen (organisatorisch und mental), während ich mir etwas Vergleichbares für Italien oder Rom nicht zutrauen kann. Daher lasse ich hier – ziemlich subjektiv und unsystematisch – meine Eindrücke über den gegenwärtigen Verkehr in Rom folgen.

Im römischen Straßenverkehr Radfahren in Rom? Als ich Anfang Mai 1999 nach Rom fuhr, zunächst mangels Wohnung mit leichtem Gepäck, hatte ich natürlich mein Stadtrad (ganz neu) in den Zug geladen. Natürlich? So einfach leider auch nicht, denn es ist heutzutage alles andere als selbstverständlich, daß internationale Züge auch Fahrräder mitnehmen. Die entsprechende Zugverbindung (über die Schweiz) erforderte dann auch 24 statt der sonst etwa nur 18 Stunden Reisezeit. Aber ich wollte in Rom doch sofort unabhängig und schnell beweglich sein. Die Reaktion der neuen Kollegen war überwiegend verwundert bis freundlich entsetzt. In Rom Fahrrad fahren? Bei dem Autoverkehr und den Abgasen? Dann doch lieber, so der mehrfache Vorschlag, auf einem „Motorino“ fahren, einem jener knatternden und stinkenden Zweiräder, die hier sehr gebräuchlich sind, weil sie anstrengungslose Beweglichkeit ermöglichen. Tatsächlich wird in diesem Zusammenhang ernsthaft behauptet, MotorinoFahren sei ungefährlicher, weil es schneller ist und man damit gewissermaßen der Gefahr davonfahren kann. Nun ja, ich glaube, nur ein Panzer wäre leidlich ungefährlich (für die Insassen), oft wünsche ich mir einen, vor allem bei der Benutzung von Zebrastreifen. (Übrigens ist Italien das Land in der Welt, in dem am meisten gepanzerte Autos verkauft werden, aber die Gründe liegen weniger im Straßenverkehr.) Seitdem ich hier bin, trage ich meistens einen Helm beim Fahrradfahren. Das hat zunächst einen einfachen Grund: Ich mußte es meiner besorgten Mutter versprechen. Außerdem würde es in gewissen Fällen wahrscheinlich den Schaden mildern. Andererseits: Als Fußgänger trage ich ja auch keinen

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Helm, obwohl es sicher sinnvoll wäre, zumindest auf Zebrastreifen. Als wacher Radfahrer hat man sowieso fast immer Angst, daß etwas passiert. Ob Radfahren hier gefährlicher ist als in einer deutschen Stadt, weiß ich nicht, aber es ist auf jeden Fall deutlich anders. Kaum irgendwo muß man sich hier Gedanken machen, ob man einen Radweg benutzen muß: Es gibt fast keine und das vereinfacht vieles. Man schwimmt fast auf jeden Fall irgendwie im Straßenverkehr mit. Der hat aufgrund der hohen Autodichte den Vorteil, daß er häufig sehr langsam funktioniert. Und bei geringen Geschwindigkeiten kann nicht so ganz viel passieren. Dabei glaube ich nicht einmal, daß (aus der Radlersicht) die Autos das Gefährlichste im Verkehr sind. Das Gefährlichste ist vielmehr der wankende Untergrund ... Meine „Lieblingskreuzung“ in dieser Hinsicht ist die Piazza Venezia vor dem Monumento Vittorio Emanuele: Von der Via delle Botteghe Oscure kommend schert man in den Verkehr ein, vorbei an den haltenden Bussen, links einordnen, denn gleich geht es links am Monumento vorbei. Während rechts und links die Schnelleren vorbeiströmen, ordnet man sich in die Querstraße ein und sucht dort von links kommend ordnungsgemäß die rechte „Spur“ (eigentlich gibt es natürlich keine Fahrspuren) zu erreichen. Doch hier ist das Kopfsteinpflaster nicht nur grob, uneben und glatt zugleich, sondern die Steine liegen auch noch locker, bilden Längs- und Querrillen und werden unterbrochen von wesentlich größeren abgeschrägten Quadern ... Ein Mountainbike für den Stadtverkehr, eigentlich braucht man das doch. In der Gefahrenskala auf dem zweiten Platz folgen gleich die Motorini. (Etwas poetisch werden sie zusammen mit ihren Fahrer/inne/n auch „Zentauren“ genannt, weil Fahrer und Fahrzeug so harmonisch miteinander verwachsen sind.) Denn für sie gibt es offenbar keine Regeln. Es geht rechts und links vorbei, mit hoher Geschwindigkeit und wie mir scheint ohne jedes Risikobewußtsein. Man muß also, auch wenn man sich als Radler relativ weit rechts hält, jederzeit damit rechnen, daß rechts etwas vorbeizieht, vor allem an Kreuzungen. Überhaupt, die Kreuzungen! Man hält hier nicht an den Haltelinien; das gilt auch für vierrädrige Fahrzeuge, vor allem aber für Zweiräder. Meist sind auch auf der anderen Seite der Kreuzung die Ampeln angebracht; die kann man natürlich weit besser betrachten, wenn man schon ein Stückchen in die Kreuzung hineinfährt. Manch einer fährt auch so tief in die Kreuzung hinein, daß das Anhalten dann gar keinen Sinn mehr macht und er schließlich schicksalsergeben Gas gibt und weiterfährt. Allerdings gibt es auch Kreuzungen, bei denen auf der gegenüberliegenden Seite keine Ampeln mehr stehen. Hier fährt man hinein und läßt sich dann vom Hupkonzert wecken, wenn es „Grün“ geworden ist. Andererseits sorgt der besonders chaotische Motorino-Verkehr dafür, daß Autofahrer wirklich so ziemlich mit allem rechnen und im Zentrum relativ defensiv fahren. An der Peripherie, wo der Weg freier ist, ist das leider gründlich anders. Um mit dem Positiven fortzufahren: Die Geduld der Autofahrer ist notgedrungen sehr groß, gelegentliche Hupkonzerte sind im allgemeinen weniger Zeichen der Aggressivität, sie drücken vielmehr (so vermute ich wenigstens)

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Verzweiflung über blockierte Straßen und die eigene Beteiligung an der Blockade aus. In Neapel hingegen drücken Autofahrer anscheinend automatisch alle 30 Sekunden auf die Hupe, ohne irgendein unmittelbares Motiv. Im römischen Straßenverkehr ist mir bisher jenes aus Deutschland so gut bekannte „Hupen für Radfahrer“ („Was suchst Du hier? Dort ist ein Radweg! Du könntest noch 20 cm weiter rechts fahren.“) noch nicht begegnet. Das gibt mir trotz aller Widrigkeiten im Straßenverkehr das Gefühl, ein richtiger Mensch zu sein. Anders als in Deutschland scheinen mir hier nicht die Radler, sondern die Fußgänger „das Letzte“ zu sein. Das ist aber noch ein eher vager Gedanke. Und woran mag es liegen? An der allgemeinen sehr starken Abneigung, zu Fuß zu gehen? (Neulich hörte ich im Fernsehen einen Fitness-Tip: Parken Sie doch Ihr Auto mal ein bißchen entfernt vom Zielort, wenn es möglich ist, und gehen Sie ein paar Schritte zu Fuß – dieser revolutionäre Gedanke war ganz ernst gemeint.) Mag auch das Hupen nicht aggressiv sein, sondern vom Fatalismus geprägt, so stört der Lärm den empfindsamen Nordeuropäer doch. Häufig kommt es vor, daß am Straßenrand geparkte Autos durch die zweite Reihe zugeparkt sind. Der blockierte Zeitgenosse drückt dann einfach so lange auf die Hupe, bis endlich der Blockierer irgendwo aus dem Fenster kommt oder (mit gepflegter Eile) aus einer Tür tritt und die Reise freigibt. Als Anwohner hört man zudem abends und nachts nicht gerade selten die sogenannten Alarmanlagen, die selbst die stehenden Autos zuweilen noch zu Lärmemissoren machen. Polizei gibt es hier auch, sogar viele verschiedene Sorten, aber im Straßenverkehr dient sie mehr dekorativen Zwecken oder übt zuweilen die allgemeine Drohgebärde. Im morgendlichen Berufsverkehr werden gelegentlich die Ampeln an den Kreuzungen von „vigili urbani“ per Hand geregelt, manchmal stehen jene auch nur an den Kreuzungen und beobachten, wie der Verkehr so fließt. Auch Strafzettel werden gelegentlich ausgestellt. Ich habe sogar schon (einmal!) Polizisten gesehen, die ein Auto aufschrieben, das einen Gehweg blockierte. Interessanterweise parken die Autos hier nicht wie in Deutschland auf den Bürgersteigen (dazu sind jene vielleicht zu schmal, schmutzig oder unbequem), sondern nur daneben, dies aber so, daß der Zugang oft sehr erschwert ist. (Mütter mit Kinderwagen sieht man hier sehr selten.) Es wird außerdem behauptet, für allzuviele Personen gäbe es Mittel und Wege, die „multe“ (mit diesem Wort werden die kleinen Geldstrafen und die Strafzettel bezeichnet) nicht zu bezahlen. Neulich stand in der Zeitung, es gebe im Zentrum jemanden, der unberechtigt Strafzettel an falsch parkende Autos heftet. Der Aussteller ist bei der Polizei unbekannt und verwendet veraltete Formulare. Die Ordnungswidrigkeiten sind aber zutreffend festgestellt. Das Interessante daran ist nun die Vermutung über das Motiv des Täters: Es sei jemand, der mit dieser Aktion die allgemein mangelnde Zahlungsbereitschaft für „multe“ weiter unterminieren wolle. Auf den Gedanken, es könne sich um einen verzweifelten Fußgänger handeln, der zur Selbsthilfe greift, kam weder die Polizei noch die Zeitung. Entsprechend versicherte die Polizei denn auch der Zeitung, sie

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werde den Täter sicher bald fassen. Anstatt ihm einfach das Handwerk zu legen, indem man selbst die Falschparker verfolgt ... Aber das ist wohl ein zu fremdartiger Gedanke. Auch hier im Süden machen sich Jahreszeiten im Verkehr bemerkbar, wenn auch nicht durch Schnee. Im römischen Herbst ist das Radfahren anders als im Sommer. Die Luft ist weniger verschmutzt, aber dennoch ist es anstrengender. In den Wochen nach dem Ende der allgemeinen Urlaubszeit scheint mir die Atmosphäre auf den Straßen allgemein aggressiver, so als habe man sich noch nicht an den Verlust der relativen Freiheit des Augusts gewöhnt (dabei sind in den Feriengebieten die Blechkarawanen kaum geringer). Nach einigen Wochen herrscht dann wieder Normalität, aber es wird früh dunkel. Im meinem ersten Herbst hier mußte ich manchmal schon im Dunkeln, aber während der Rushhour vom Institut in die Stadt zum Sprachkurs durch die relativ schmale Via Aurelia fahren. Auf der rechten Seite eine lange Reihe parkender Autos. Links die Schlange der die Stadt verlassenden Autos mit ihren Scheinwerfern. Zwischen den Autos die Motorini, die bei jeder Gelegenheit versuchen, links vorbeizuziehen, mehr oder weniger dann direkt auf mich zu. Bei diesen Fahrten sind die Adrenalin-Stöße besonders vorprogrammiert. Dann geht es an der Rückseite des Vatikan-Staates an den Festungsmauern vorbei und man taucht hinab in den Smog von Prati. Dort sind die Abgase besonders dicht, weil infolge der breiten Straßen einerseits der Autoverkehr relativ stark ist, andererseits wegen der hohen Bebauung die Abgase auch nicht so leicht entkommen können. Aber auch auf diesen eigentlich breiten Straßen ist nicht viel Platz. Ich fahre z. B. fast täglich die Via Gregorio VII hinauf (übrigens ein schöner Name für eine recht steil zum Deutschen Historischen Institut hinaufführende Straße). Sie hat breite Bürgersteige, auf jeder Seite einen Parkstreifen, zwei breite Fahrspuren, einen weiteren Parkstreifen, in der anderen Fahrtrichtung genauso. In der Mitte befinden sich zwei Busfahrstreifen, durch Alleebäume abgetrennt. Also insgesamt 6 Fahr- und 4 Parkspuren. Dennoch bewegt sich der Autoverkehr in der Hauptverkehrszeit häufig mehr oder weniger auf je einer Fahrspur, denn die zweite Fahrspur ist regelmäßig zugeparkt. An der in verkehrstheoretischen Schriften von Ökospinnern verbreiteten ketzerischen These, jedes Auto stehe 23 Stunden am Tag und werde nur 1 Stunde lang gefahren, ist vielleicht doch etwas dran. Jemand erzählte mir mal, vor einigen Jahren noch habe man in Rom selbst eine stark befahrene Kreuzung mit einer aufgeschlagenen Zeitung vor der Nase überqueren können. Gemütlich im Chaos also. Heute sollte man das wohl nicht mehr probieren, obwohl andererseits etwas von dieser Unverfrorenheit dazu gehört. Kein Auto hält hier, weil ein Fußgänger wartend vor einem Zebrastreifen steht. Damit werden auch hier aus unerfindlichen Gründen Straßen verziert: Touristen werden so zum Irrglauben verführt, sie hätten hier als Fußgänger irgendwelche Rechte. Nein, man muß schon entschiedenen Schrittes über die Straße gehen, dann wird man auch meistens auf relativ rücksichtsvolle und umsichtige Weise umkurvt. Daran gewöhnt man sich schnell. Übrigens soll man hier, anders als in Deutschland, nicht den Blick-

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kontakt zum Fahrer suchen – die Leute hier schließen daraus, man sei einverstanden, wenn sie weiterfahren. Nicht gewöhnt habe ich mich aber an das rasende Tempo, mit dem die Fahrzeuge auf dem Fußgängerüberweg vor der Deutschen Schule auf mich zuhalten. Dies sind wohl die gefährlichsten Meter meines täglichen Wegs zum Institut an der Via Aurelia Antica, die ich das Fahrrad schiebend oder zu Fuß zurücklege. Und an dieser Stelle sind nicht nur Zebrastreifen, sondern auch beleuchtete Schilder über der Straße – alles egal. Sobald man in der Peripherie der Stadt ist, wird das Verkehrsklima viel brutaler. Beim Überqueren der Straße hilft es, wenn man etwas Waffenähnliches – etwa einen Schirm – auf die Autos richtet. Eine Maschinenpistole wäre mir aber lieber. Als ich neulich mal wieder in Deutschland war, war ich sehr verblüfft, als immer wieder Autos anhielten, weil ich mich auf einen Zebrastreifen zuzubewegen schien. An den Kreuzungen stehen Immigranten (jedenfalls sind es überwiegend Ausländer – merkwürdig, diesen Begriff zu verwenden, wenn man selbst gerade Ausländer ist), die bei Rotlicht die Windschutzscheiben der wartenden Autos putzen – es sei denn, der Fahrer macht energisch deutlich, daß er dies nicht will. Dieses Geschäft, so armselig es zunächst wirkt, ist aber schon vergleichsweise etabliert. In der Zeitung las ich, daß eine „gute Kreuzung“ (starker PKW-Verkehr und lange Standzeiten) täglich etwa 100.000 Lire bringt. Deshalb kann man auch gelegentlich von Schlägereien lesen, die vorkommen, wenn Neulinge versuchen, in das Geschäft einzudringen. Dann gibt es hin und wieder auch Leute, die nur mit einem Lappen in der Hand die Scheinwerfer der Autos abwischen. Eine wenig sinnvolle Handlung, aber von hohem symbolischen Wert. Als Radfahrer dachte ich immer, daß mich dies nicht betrifft, bis einmal jemand meinen Fahrradscheinwerfer putzte. Aber das war ein Scherz. Einmal kam ich an der Piazza Pio XI vorbei, als gerade die Ampeln ausgefallen waren. Die sogenannte Piazza ist eigentlich nur eine riesige Kreuzung: zweispurig zuzüglich Busspur. An einer solchen Kreuzung ist bei einem Ampelausfall in Deutschland entweder sofort die Polizei, oder es bricht das Chaos aus – oder beides. Hier beobachtete ich, wie eine Richtung frei durchfuhr, während die andere vor der Kreuzung wartete. Nach einer gewissen Zeit begannen sich die wartenden Autos allmählich unter Gehupe in die Kreuzung hineinzuschieben, bis die anderen anhielten – und zwar ebenfalls vor der Kreuzung, so daß nun die zunächst wartenden freie Fahrt hatten. So etwas habe ich in Deutschland nie gesehen, da verkeilt sich gleich alles in der Kreuzung.

Öffentliche Verkehrsmittel („mezzi pubblici“) Ich kann und ich will nicht immer Fahrrad fahren. Manchmal regnet es zu sehr und manchmal habe ich einfach keine Lust auf diesen Streß. Es gibt ja noch Busse und Bahnen. Dazu kann man grundsätzlich zweierlei sagen: Die „Beförderungsqualität“ ist bedeutend schlechter als in deutschen Großstädten und die Preise sind ungefähr im gleichen Maß niedriger. Der Einzelfahrschein

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kostet 1.500 Lira im weiträumigen Stadtbereich. Ich habe mir gleich die Jahreskarte für 360.000 Lire gekauft. 30 Mark im Monat und ich darf in jedem Bus, jeder U-Bahn und sogar im innerstädtischen Eisenbahnverkehr fahren! Und am Sonntag sogar in der Metro nach Ostia mein Fahrrad gratis mitnehmen! Und dabei sind mit der Jahreskarte sogar noch viele andere Vorteile verbunden. Man bekommt zum Beispiel Rabatt in Konzerten und Ausstellungen, die römischen Verkehrsbetriebe (ATAC) sponsern. Man muß es nur wissen oder ahnen, was nicht immer leicht ist. Einmal wollte ich in ein Klavierkonzert gehen, das 25.000 Lira kosten sollte. Als ich an der Kasse vor mir in der Reihe etwas von Skonto hörte, zeigte ich die Jahreskarte vor. Darauf bekamen meine Begleiterin und ich die Karten für die Hälfte und zusätzlich noch eine CD. Wenn ich mich recht entsinne, hatte ich früher das Vorurteil, der öffentliche Verkehr in Rom sei nicht gut organisiert. Hier konnte ich nun diese Vermutungen an der Realität überprüfen. Auf der Strecke vom Zentrum zum Institut fahren zum Beispiel zwei Buslinien, die 98 und die 881, etwa 80 Prozent der Strecke parallel, um sich dann im Außenbezirk noch zu verzweigen. (Warum übrigens zwei Busse, die fast die gleiche Strecke fahren, völlig verschiedene Nummern haben, ist mir auch ein Rätsel. Aber warum eigentlich sollten die Nummern einer Systematik unterliegen?) Beide fahren in einem recht dichten Takt, tagsüber vielleicht alle 10 Minuten, auffallenderweise folgen die beiden Busse fast immer unmittelbar aufeinander. Das scheint daran zu liegen, daß die Busfahrer an der innerstädtischen Endhaltestelle zusammen Pause gemacht haben. Dadurch ist der erste Bus meist bedeutend voller als der zweite. Das ist eine der typischen sinnreichen Einrichtungen, die einer für mich bis dahin nachgeordneten Logik folgen: In einem für den Fahrgast gut organisierten System wären die beiden parallelen Linien natürlich so abgestimmt, daß sie möglichst im 5-Minuten-Takt fahren, anstatt nach 10 Minuten zu zweit. Hier jedoch gehen die Interessen der Fahrer vor. Es würde mich nicht wundern, wenn dieses Verfahren gewerkschaftlich abgesichert wäre. Auch sonst sind die Busfahrer recht gesellig: Wenn laut Fahrplan alle 6 Minuten ein Bus fährt, dann heißt das eben nur, daß in einer Stunde etwa 10 fahren. Die Verteilung kann dann schon sehr schwanken und das macht sich auf weniger frequentierten Linien und in den Außenbezirken manchmal sehr bemerkbar. So konnte ich schon in der Zeitung lesen, daß wartende Fahrgäste, deren Bus nach stundenlangem Warten nicht kam, einen anderen Bus „besetzten“ und den Busfahrer zwangen, ihre Linie zu fahren. Vom Autoverkehr unbehindert, aber deshalb keineswegs komfortabel, verkehrt hier auch die U-Bahn. Genau genommen sind es zwei Linien, die sich am Bahnhof Termini kreuzen. Die Wagen sind überwiegend uralt und verkommen, immer mal wieder liest man von Zügen, die aufgrund von Defekten einige Zeit im Tunnel liegen bleiben. Immerhin ist eine Linie zum Jubiläum neulich verlängert worden, ansonsten wird über U-Bahn-Bau viel geredet und geschrieben, große Projekte gibt es seit langem. Eine wirkliche Renaissance erlebt erfreulicherweise die Straßenbahn, es wird sogar behauptet, auf dem Corso Vittorio Emanuele solle in einigen Jahren die Straßenbahn fahren.

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Auch sonst hat sich in letzter Zeit aus Anlaß des Jubeljahres viel getan im öffentlichen Verkehr und jenseits aller Probleme und Mängel kann man doch deutlich gute Absichten und auch wirkliche Verbesserungen sehen. Das Liniennetz wird überarbeitet und die oft haltenden Busse durch Schnellbusse ergänzt. Leider sind auch die neuen Busse furchtbare Abgasschleudern und nicht viel weniger laut als die alten. Eine besondere Spezialität ist ein selbständiges zweites Liniennetz der blauen J-Linien. Es wurde eigens zum Jubiläumsjahr geschaffen, um von peripheren Busparkplätzen die Touristen in die Stadt zu schaffen. Die Touristenbusse erscheinen hier in solchen Massen, daß sie wirklich eine Plage sind. Leider gelten in diesen sehr komfortablen Bussen andere Fahrkarten, so daß ich noch nie einen benutzt habe ... Die Linienführung der Busse wurde in letzter Zeit vielfach geändert, auch infolge der vielen Baustellen zur Jubiläumsvorbereitung. Kein Wunder, wenn die Busfahrer manchmal den Weg nicht kennen. Einige Wochen lang fuhr die „64“, die berühmteste Buslinie der Stadt, unter meinem Fenster (im 2. Stock) entlang. Auf dem Kopfsteinpflaster erzeugen diese Fahrzeuge mit ihren ungedämpften Motoren einen Lärm, der auch in einem Freund der öffentlichen Verkehrsmittel ambivalente Gefühle erzeugt. Inzwischen hat sich die Linienführung wieder verändert, aber zur Verzweiflung der Fahrgäste bog noch hin und wieder ein Bus in die Via della Stazione di S. Pietro ein. Einmal saß ich Samstag morgens um 6 Uhr im Bus, als offenbar ein Neuling steuerte. An einer Abzweigung hielt der Busfahrer zweifelnd an, bis eine Passagierin rief: „Hier links und die nächste rechts!“ Sie sorgte auch gleich dafür, daß der Busfahrer die nächste Haltestelle doch nicht übersah, denn: „Hier wartet immer ein älterer Herr.“ Und tatsächlich, da war er. Die „64“ ist nicht nur deshalb so berühmt, weil sie zwischen Bahnhof Termini und S. Pietro verkehrt und damit die für Touristen wichtigste (und oft fast einzig benutzte) Linie ist, sondern auch weil sie aus dem gleichen Grunde sehr intensiv von Taschendieben benutzt wird. Man kann die Taschendiebe recht leicht erkennen, aber man kann nicht alle Taschen gleichzeitig zuhalten. So ist mir bislang noch nichts Wertvolles gestohlen worden, aber ein Stadtplan oder ein Notizblock fehlte nach solchen Begegnungen schon. Zu Übungszwecken vermutlich. Man muß gelegentlich einen Bus in den Außenbezirken während der späten Abendstunden benutzen, um zu erfahren, daß in jedem Busfahrer ein (keineswegs verhinderter) Rennfahrer steckt. (Empfehlen kann ich hier wiederum die 98 und 881). Die Straßen sind frei, die Fahrgäste sind wenige und sie haben genug Möglichkeiten, sich festzuhalten. Der Bus kommt mit einigem Tempo an die Haltestelle herangebraust, die Tür bereits ungeduldig geöffnet. (Trotz des Tempos kommt sie punktgenau vor dem einzelnen Wartenden an.) Während des Aufspringens schließt sich die Tür bereits und der Bus braust weiter, während der Fahrgast einen festen Punkt im Bus zu erreichen sucht (Sicherheitsgurte gibt es leider nicht). Es ist erstaunlich, wie schräg man so ein scheinbar schwerfälliges Fahrzeug in die Kurve legen kann, welche Belastungen ausgeleierte Stoßdämpfer aushalten, wenn der Bus mit hohem Tempo die Schlaglöcher sucht. Ein Höhepunkt ist die rasende Fahrt bergab

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auf der Busspur der Gregorio VII. Wo kann man heute noch für 1.500 Lira Achterbahn fahren? (Und der Dauerkartenbesitzer hat´s noch billiger.) Zu den neuen Einrichtungen des Busliniensystems gehören Buslinien, die nach einem genauen Fahrplan fahren. Das heißt, einige gab es schon vorher (und ich habe den Eindruck, auch Linien, denen man es zunächst nicht anmerkt, haben durchaus ihren Fahrplan (es heißt „-plan“, warum verwechseln das viele eigentlich mit der Realität?)), aber nun haben sie einen schönen Namen: „Linea e esatta“ In der Nähe des Instituts gibt es einer Haltestelle einer solchen Linie, der 892. An der Haltestelle ist an Stelle des Fahrplans seit vier Monaten folgende Notiz angebracht: „La linea effettua servizio con orari diversi da quelli finora esposti. Gli orari definitivi dei passaggi verranno communicato successivamente.” (Die Linie fährt nach Fahrplänen, die von den bislang ausgehängten abweichen. Die definitiven Fahrpläne werden später mitgeteilt.) Ich bin sehr neugierig, ob ich das Aushängen dieser „definitiven Fahrpläne“ hier noch erleben werde. Immerhin bekam ich neulich einen Fahrplan mit Angaben über die Frequenz aller Linien zugesandt. Daran, daß ich anders als andere diesen Fahrplan zur Kenntnis nahm, merkte ich mal wieder, daß ich immer noch ein Neuling bin.

Radfahren mit Römer/inne/n Ich habe in Deutschland im Allgemeinen Deutschen Fahrradclub (ADFC) mitgearbeitet, aus politischen Gründen, ein „Vereinsmeier“ war ich nie. Aber ich dachte immer, man muß etwas tun, auch wenn wir keine Chance haben. Fahrrad gefahren bin ich immer lieber ohne Verein, das ist etwa Privates, meist eher Einzelgängerisches. Hier aber habe ich nun das Fahrrad als Mittel zur Geselligkeit entdeckt. Denn im DHI – das fast nur aus Deutschen besteht – ist es schwer bis unmöglich, mit der Umwelt in Kontakt zu kommen. Über das Internet fand ich schon vor der Fahrt nach Italien Hinweise auf zwei in Rom existierende Vereine von „Cicloambientalisten“ und ihr Tourenprogramm. „Ruotalibera“ ist entstanden, als einige Mitglieder der associazione cicloambientalista „Pedale Verde“ fanden, auch wenn der Eisenbahnverkehr möglichst vorzuziehen sei, könne man die Räder notfalls auch auf einem Autodach an einen Ort außerhalb der Stadt bringen, um eine Fahrradtour zu unternehmen. So kommt es, daß viele im Verein vor allem nett zusammen radeln wollen und Umweltschutz auch ganz gut finden, während andere radeln wollen und ein kleines bißchen die Welt zum Besseren des Radlers verändern wollen. Ein Unterschied, der manchmal als Interessenkonflikt aufbricht, weil bei den entsprechenden Vorhaben der aktiven Mitglieder nicht immer viele mitziehen. Aber kennengelernt habe ich den Verein bei den Fahrradtouren. Ich hatte aus dem Internet das Reiseziel (die Insel Ponza), die Angabe des Wochenendes und eine Telefonnummer. Wochenlang versuchte ich dort vergeblich anzurufen. Es ist ja bekannt, daß es hier schon mehr telefonini gibt als in Deutschland (wo sie Handys heißen), aber ich habe erst hier die Erfahrung

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gemacht, daß Personen mit zwei Telefonen keineswegs erreichbar sein müssen. Irgendwann schaffte ich es dann doch und mir wurde bereitwillig ein Treffpunkt auf einem bestimmten Platz am Samstag um 8.30 mitgeteilt. Dort war ich zum fraglichen Zeitpunkt als einziger. 10 Minuten später kam ein Freund des Reiseleiters vorbei, wir begrüßten uns und er erklärte, wir könnten gleich losradeln, müßten nur noch zu ihm nach Hause, damit er rasch seine Sachen packen könnte. Unterwegs sammelte sich dann die Gruppe, etwa acht, auch der Reiseleiter kam und nach einer Stunde brachen wir in höchst raschem Tempo nach Nettuno auf. Es wurde dann aus verschiedenen Gründen ein unvergeßlich schönes Wochenende. Das Verblüffende war für mich die funktionierende Mischung aus Organisation und Chaos und die Fähigkeit, völlig fremde Menschen zu integrieren. Seitdem habe ich öfter an Tages- und Wochenendtouren teilgenommen, einmal auch an einer einwöchigen Reise auf Sizilien. Es wird zum Teil durchaus relativ sportlich gefahren, andererseits werden auch viele Pausen gemacht. Und ich habe nie ein Wort oder auch nur eine Andeutung gehört gegenüber jenen, die vielleicht etwas hinter der Gruppe zurückbleiben. Zu den herausragenden sportlichen Leistungen des Vereins zählt eine Bergabfahrt des Präsidenten mit 92 Stundenkilometern. Ein gewisses Problem sind manchmal die Pünktlichkeit und (aus meiner Sicht) gewisse Organisationsfragen. Auch meine Auffassungen von Pünktlichkeit haben sich hier leider ein bißchen geändert. Wenn der Abfahrtszeitpunkt mit 8.30 Uhr angegeben ist, dann geht es keinesfalls vor 9.00 Uhr los. Da das alle wissen, treffen so gegen 8.30 Uhr gerade die ersten Teilnehmer ein und der Organisator muß noch keineswegs darunter sein. In puncto Organisation fallen mir die Pausen auf. Gerade auf längeren Touren passiert es regelmäßig, daß sich die Teilnehmer bei den Pausen zerstreuen. Man hält an, mir ist in so einem Moment meist nicht klar, ob wir jetzt eine richtige Pause oder nur eine Verschnaufpause machen: Dann sucht die erste Radlerin einen Geldautomaten, zwei kommen auf die Idee, einen Kaffee zu trinken, der vierte entfernt sich zum Telefonieren, ein fünfter sucht ein Geschäft, um eine Hose zu kaufen. Da eine längere Wartezeit entsteht, trinken schließlich auch die anderen drei noch einen Kaffee, inzwischen ist Nr. 5 verschwunden, man macht sich auf, ihn zu suchen, dann entsteht der Gedanke, man könnte jetzt eigentlich das Pausenbrot kaufen und nach einer Stunde fährt man schließlich weiter. Das ist nicht immer so, aber doch nicht ganz untypisch. (Als ich irgendwann mal anmerkte, daß mir diese Art, Pausen zu machen, auffällt und daß man in Deutschland im allgemeinen vorher sagt, wie lange eine Pause dauert, fand man das sehr lustig und wollte unbedingt bei Gelegenheit eine Tour „alla tedesca“ machen.) Oder man will sich morgens vor dem Hoteleingang treffen: Ich komme als erster mit dem Gruppenleiter hinunter, er schlägt vor, ein paar Schritte zu gehen, wir finden ein Kleidungsgeschäft, ihm fällt ein, er könnte jetzt eigentlich ein Mitbringsel kaufen. Nach einer guten Viertelstunde kommen wir zurück und stellen fest, daß die anderen sich inzwischen gesammelt hatten, uns nicht mehr vorfanden und schon mal losgingen. „Sucht ihr die in den kurzen Hosen? Die sind nach

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rechts gegangen.“ Für mich anfangs noch ungewohnt, aber dank telefonino findet man sich ja immer wieder. Auffallend an diesem Verein ist die intensive Benutzung elektronischer Kommunikationsmittel. Mir war ja schon das Ausflugsprogramm per Internet bekannt geworden. Sieht man sich die Homepage an, glaubt man nicht, daß der Verein etwa 60 Mitglieder hat, von denen allerdings immerhin 20 „aktiv“ sind. Einladungen zu den Touren werden per E-Mail verschickt und Diskussionen ebenfalls per E-Mail geführt oder vorbereitet. Dabei verblüfft mich der häufig sehr heftige und polemische Ton, der dennoch entgegen meinen anfänglichen Befürchtungen keineswegs den Zusammenhalt gefährdet. Während es wohl insgesamt in Italien noch nicht soviel E-Mail-Anschlüsse gibt, ist bei Ruotalibera die Versorgung ausgesprochen groß. Andererseits ist das Fahren ohne Licht hier sehr verbreitet, zumal die meisten besseren verkauften Räder als Mountainbikes serienmäßig gar nicht mit Licht versehen sind. Außerdem ist der Dynamo hier nicht Vorschrift und eine Batterieleuchte hat man eben nur dabei, wenn man vorher weiß, daß es dunkel wird. Wenn ich mein gut ausgestattetes Fahrrad mit Standlicht abends abstelle, werde ich regelmäßig von freundlichen Menschen darauf aufmerksam gemacht, daß ich zur Schonung der Batterie noch das Licht ausschalten muß. Dann kann ich jedesmal stolz erklären, daß das Licht ganz ohne Batterie per Kondensator noch einige Minuten im Stehen nachleuchtet. Der heutige technische Vorsprung Germaniens wird hier neidlos anerkannt. Die technische Ausstattung ist jedenfalls ein deutlicher Hinweis darauf, wie wenig selbstverständlich alltägliches Radfahren ist. Bei den abendlichen Treffen von Ruotalibera bin ich eine Zeitlang fast der einzige gewesen, der mit dem Fahrrad kam. Ich kann gut verstehen, wenn es die anderen nicht tun, es ist eben deutlich gefährlicher, als tagsüber zu fahren. M. e. nicht, weil es dunkel ist, sondern weil abends die Straßen leerer sind und daher die Autos schneller fahren. Aber so kann man natürlich nicht glaubwürdig das Fahrrad als Alltagsverkehrsmittel propagieren. Abgesehen davon, daß ein bißchen Bewegung nur gut tut, ist für mich so merkwürdigerweise gerade das Fahrrad der Weg zum intensivsten RomKontakt geworden. Wie hätte ich sonst so nette Freunde finden können? Der Autor hat lediglich eigene Eindrücke und Meinungen von sich gegeben. Dennoch hier zwei Literaturhinweise: Klaus B RILL : Angriff der Zentauren. Eine römische Straßenplage: die motorini, in: Ders: Die Köchin, die Pornodiva und der Papst. Römische Begegnungen. Wien 1998, S. 29-32. Franca M AGNANI : Die Römer im Verkehr, in: Dies., Rom. Zwischen Chaos und Wunder. Köln 1998, S. 132-136.

Der Blick über den Zaun - die Universität in Frankreich Beate Schuster

Wenn das Modell Frankreich in der aktuellen Diskussion um die Hochschulreform in Deutschland kaum angesprochen wird, hat das seine Gründe. Das Bildungsideal der französischen und der deutschen Universität könnte kaum unterschiedlicher sein: Hier die Humboldtsche Vorstellung einer Universalbildung, seit den 70er Jahren zunehmend verstanden als Selbstfindung in einer fast beliebig verlängerbaren Jugendzeit, und dort das Leitbild einer höheren Schule. Das ist kein Zufall: Die Grundstrukturen des französischen Universitätssystems sind nach der Niederlage gegen Deutschland am Ende des 19. Jahrhunderts als bewußter Gegenentwurf zum deutschen System konzipiert worden, und dies hat bis heute Folgen. Deutsche Beobachter (nicht nur der frankreichfeindliche Spiegel, sondern auch informierte Beobachter wie die Korrespondenten der Zeit) lassen in der Regel kein gutes Haar am französischen Bildungssystem: Sie denunzieren die Zweiteilung in Eliteschulen für Höchstbegabte und in Universitäten für das Mittelmaß, bemängeln die fehlende intellektuelle und materielle Autonomie der Studenten und können als Beweis für die Bildungsmisere jenseits des Rheins häufige Streiks anführen. Sind die französischen Hochschulen also nicht mehr als ein abschreckendes Beispiel dafür, wohin die sich auch in Deutschland abzeichnende Disqualifizierung der akademischen Ausbildung führen kann? Eine Art Parkplatz für künftige Arbeitslose - als „Mülluniversität“ (l’université poubelle), wie die Kritiker dieses Systems in Frankreich so schön sagen? Von außen betrachtet, bieten die französischen Hochschulen tatsächlich kein attraktives Bild. Nicht nur aus deutscher Perspektive ist die bauliche, materielle und personelle Ausstattung mehr als beklagenswert. Zerfallende Gebäude, teilweise wegen Baufälligkeit gesperrt und asbestverseucht, hoffnungslose Unterausstattung an Geräten (wie Videorecordern, Computern, Internetzugang), Rumpfbibliotheken ohne jeden wissenschaftlichen Anspruch und eine chronische administrative Unterbesetzung (in der Regel nur ein zentrales Sekretariat für einen ganzen Fachbereich mit wesentlich weitgespannteren organisatorischen Aufgaben als in Deutschland, daneben keine persönlichen Sekretariate der Professoren). Es sind vornehmlich desorientierte Anfänger, die diese Mängel der Infrastruktur auszubaden haben, während die älteren Studenten gelernt haben, sich zu organisieren (bei der Einschreibung, bei der Suche nach Informationen, Räumen und vermißten Lehrenden, die über Raumwechsel nicht informiert wurden). Aber trotz aller Fähigkeit, sich zurecht zu finden (es gibt kein besseres Wort dafür als se débrouiller, wörtlich übersetzt „sich entknäueln“), bleibt sowohl seitens der

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Studierenden als auch der Lehrenden das Gefühl einer chronischen Unterversorgung, das in den Streiks zum Ausdruck kommt. Zwar münden sie im Unterschied zu Deutschland in der Regel in konkrete Maßnahmen seitens des Erziehungsministeriums, aber diese bleiben angesichts gleichbleibend hoher Studentenzahlen bloße Tropfen auf dem heißen Stein. Hinzu kommt, daß jeder neue Erziehungsminister zur Beruhigung der Aufregung eine fundamentale Studienreform verspricht - eine Ankündigung, die spektakulär wirkt, aber wenig kostet. Die Folge ist eine zähe und langwierige Umsetzungsarbeit an den Universitäten, die administrative und pädagogische Kräfte bindet, was die mangelnde Betreuung der Studenten verschärft. Eigentlich kommt man aus dem Reformieren nicht mehr heraus, selbst wenn sich immer nur die äußeren Formen, aber nie das Prinzip der Ausbildung ändert. Denn die Lehrenden haben gelernt, ihre Vorstellung von Universität zu verteidigen, in Gegenstrategien, die jedes noch so ehrgeizige Reformprogramm wie eine Seifenblase zum Zerplatzen bringen können. So bleibt am Ende alles beim Gleichen und der nächste Streik ist vorprogrammiert. Aus deutscher akademischer Sicht ähneln solche Zustände einer Art Vorhölle. Daher ist es kaum erstaunlich, daß deutsche Lektoren, eine Art fremdsprachliche Assistenten zweiter Klasse, in aller Regel mit der festen Überzeugung, sie hätten Entwicklungsarbeit zu leisten, an französischen Universitäten ihren Dienst antreten. Unter ihnen war auch ich, als ich 1994 in Nanterre meine Stelle antrat, und nach einem einjährigen Stipendium an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales, der Elitehochschule für Geschichte und Sozialwissenschaften, war der Fall in den Alltag der Normaluniversität vielleicht besonders tief. Aber im Laufe der fünf Jahre meiner Lektorentätigkeit an der Universität Paris-X habe ich gelernt, daß es sich auch an französischen Universitäten leben und lehren läßt. Und mehr als das: Als ich mich einmal im Deutschlandurlaub in einem Göttinger Café als ungewollte Zuhörerin eines lautstarken Gespräches am Nebentisch wiederfand, konnte ich mir ein Lächeln nicht verkneifen: Studenten, offenkundig aus niederen Semestern, stellten hier mit einer Überzeugung den Wert ihrer ungerecht beurteilten Proseminararbeit dar, als ob der Professor ihnen wissenschaftlich kaum das Wasser reichen könnte. Im Gedanken an meine französischen Studenten, denen es nicht in den Sinn kam, vor dem ersten, ja dem zweiten Studienabschluß (der Licence nach drei, bzw. der Maîtrise nach vier Jahren) wissenschaftliche Ambitionen zu hegen, schüttelte ich innerlich verwundert den Kopf. Ist es wirklich angemessen, 19-Jährige als gleichberechtigte Diskussionspartner zu behandeln? Wenn ich nicht selbst eine typische deutsche Studentin gewesen wäre, die von der Wissenschaftlichkeit ihres Studiums von der ersten Minute an überzeugt war, hätte ich wahrscheinlich in den Refrain der deutschen Arroganz eingestimmt, der von der französischen Presse (und insbesondere der linken Presse) so gern gesungen wird. Daß diese Vorstellung frappierend mit dem Fremdbild des Westdeutschen, das von den Ostdeutschen entwickelt wurde, zusammenfällt, mag kein Zufall sein. Auch heute noch, mehr als ein Jahr nach meiner Rückkehr, habe ich diesen Grenzgängerblick auf das deutsche Hochschulsystem nicht verloren. Und vielleicht lohnt es sich ja auch für die, die in ihm leben, sich einmal in

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Gedanken in ein anderes Land entführen zu lassen, und sei es nur, um sich der Eigenart des deutschen Universitätssystems bewußt zu werden. Keine Angst: ein umfassender Vergleich liegt nicht in meiner Absicht. Statt dessen möchte ich hier einen kurzen Einblick in die Aspekte des universitären Alltagslebens geben, die aus deutscher Sicht die befremdlichsten sind: eine selektive Notengebung, ein straff organisiertes Studiensystem und die Lehre mehr als pädagogische, denn als wissenschaftliche Aufgabe. Klingt das nicht wie das Traumbild mancher Universitätsreformer? Es liegt mir fern, das vielgepriesene amerikanische Vorbild durch das französische ersetzen zu wollen. Mein Aufenthalt in Frankreich hat mich gelehrt, wie eng das jeweilige Bildungssystem vom Erziehungsideal und das heißt vom Menschenbild einer Gesellschaft abhängig ist. Das heißt konkret: die Mehrzahl der französischen Studenten, die von einem Austauschjahr in Deutschland zurückkommen, ziehen das eigene dem fremden System vor. Sie genießen die für sie ungewohnte Freiheit, aber betonen deren Kosten, die Isolation, die vollkommene Eigenverantwortung für die Organisation des Studiums und die Schwierigkeit, in Kontakt mit überlasteten Professoren zu kommen. Umgekehrt geht es deutschen Austauschstudenten, die in Frankreich ihre Freiheit vermissen und unter Leistungsdruck leiden, aber gleichzeitig während ihres Aufenthaltes das Leben in einer Gemeinschaft, einem Art Klassenverband, und die intensive pädagogische Betreuung genießen. Vor dem Hintergrund solcher Erfahrungen stellt sich der Unterschied zwischen dem deutschen und dem französischen System als der zweier konträrer Modelle dar, die beide Vor- und Nachteile haben. Wenn ich aus Respekt und Liebe zu meinem langjährigen Gastland im folgenden eine bewußt einseitige, frankophile Perspektive einnehme, heißt das also nicht, daß ich für eine Übernahme des französischen Bildungskonzeptes plädieren würde. Daher sind die folgenden Beobachtungen mehr als Erlebnisbericht, denn als Analyse gestaltet, in einem Nachvollzug der Entwicklung meines eigenen Standpunktes im Laufe meines Aufenthaltes. Aber ich will auch nicht verschweigen, daß ich still und heimlich doch die Hoffnung hege, beide Modelle könnten sich einander annähern, in einer Abmilderung der Nachteile des jeweiligen Systems. Von dieser Entwicklung könnte dann meine heute zweijährige Tochter Nora profitieren, wenn sie je die Lust auf ein deutsches oder französisches Studium packt.

1. Über oder unter zehn – eine gnadenlose Selektion? Die erste Schwierigkeit, mit der sich ein Lektor konfrontiert sieht, betrifft die Notengebung. Nicht nur, daß weder die Notengebung von 1-6, noch die von 1-15 einfach auf die französische Zwanzigerskala umzurechnen sind, in der Praxis ist jede rein arithmetische Umrechnung zum Scheitern verdammt. Während man bei der deutschen Bewertung von der keineswegs mit Allwissenheit gleichgesetzten Bestnote ausgeht, und von dort aus Defizite in Abwärtsschritten berechnet, was zur Folge hat, das eine Zwei (bzw. zwölf Punkte) zu einer normalen und die Drei (neun Punkte) zu einer schlechten Note werden, konzentriert sich die französische Notengebung auf den

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Halbwert, die magische Zehn, die das Bestehen der Prüfung bedeutet. Jeder, der sich einer elf, zwölf, ja dreizehn rühmen kann, geht zufrieden oder gar mit stolzgeschwellter Brust nach Hause, weil er das Lernziel erreicht hat, und bei Notenstreitigkeiten ist niemand zufriedener als der, dem es gelingt, sich durch Reklamationen von neun auf zehn zu hieven. Es geht um Durchkommen oder nicht, und dies zu akzeptieren, ist für deutsche Lektoren schwer. In der Regel dauert es zwei bis drei Jahre, bis sie sich dazu durchringen, einen Studenten durchfallen zu lassen. Manche tun das nie. Auch für mich waren Hemmschwellen zu überwinden, bevor ich mit großer Überraschung feststellte, daß eine strenge Benotung keineswegs ein Trauma bedeuten muß. Für Studenten, die in allen Veranstaltungen im Laufe eines Jahres mindestens zwei Prüfungen, eine nach Weihnachten und eine am Abschluß des universitären Jahres, ablegen, scheint es sich bei der Benotung um ein System von Verkehrsampeln zu handeln. Mehr als zehn heißt grün und weiter so, in einem wohldosierten Aufwand für ein Fach neben vielen anderen Prüfungsfächern, neun und darunter ist Rot, das heißt Stopp in einer deutlichen Intensivierung der Anstrengungen, und 10 heißt Glück gehabt. Eine solche Einstellung läßt es aus Lehrersicht ratsam erscheinen, keine guten Noten im ersten Semester zu vergeben, ansonsten sieht man sich mit völlig demotivierten Zuhörern konfrontiert, die ihre Anstrengungen auf andere, kritischere Fächer konzentrieren. Und wenn dann das Unglück passiert, daß mehrere Ampeln wiederholt und endgültig auf rot geschaltet sind, ist die Schande weit weniger groß, als dies bei einer schlechten Prüfung in Deutschland der Fall ist. Zum einen findet man sich zumeist in „guter Gesellschaft“, zum anderen bleibt ja immer noch die Nachprüfung nach den Semesterferien, vor dem Anfang des neuen Semesters, und nicht zuletzt erlaubt es ein selektives System auch, in einem Wiederholungsjahr den für die Berufschancen wichtigen Notendurchschnitt erheblich anzuheben, während eine schlechte Abschlußnote in Deutschland in der Regel unrevidierbar bleibt. Unbestritten ist der Leistungsdruck groß, der mit der ständigen Benotung erzeugt wird, was sich unter anderem in einem erhöhten Konsum von Schlaf- und Beruhigungsmitteln unter den Studenten ausdrückt. Allerdings handelt es sich hier, die Zahlen im europäischen Vergleich belegen es, um eine „französische Gewohnheit“, oder besser gesagt, um einen Mangel des Gesundheitssystems, so daß man diesen Medikamentenmißbrauch nicht allein auf schulischen, bzw. universitären Leistungsdruck zurückführen kann. Die ständigen Prüfungen bedeuten übrigens nicht nur für die Prüflinge Streß: Eine gute, schnell in Massen korrigierbare und im Vergleich objektivierbare schriftliche Prüfung auszuarbeiten, braucht Zeit und Erfahrung. Mündliche Prüfungen ähneln bereits bei 30 Studenten einem Marathon, in dem man sich einer Masse von Gesichtern und Meinungen ausgesetzt sieht und die Benotung angesichts nicht objektiv festsetzbarer Kriterien ein bis zwei Tage Bedenkzeit verlangt. Im Laufe der Zeit stellt sich freilich eine Routine ein, und man beginnt die Prüfungen sogar zu schätzen, als Phase eines intensiven Austausches mit den Studenten, Möglichkeit einer direkten Rückmeldung, ob das Gelehrte angekommen ist, und Chance zur Aufdeckung

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von Versäumnissen der bisherigen Ausbildung, an deren Aufholen man sich im Anschluß machen kann. Hinzu kommt, daß die Prüfungen Anlaß sind, sich mit anderen Lehrenden auszutauschen, über eine Gruppe, über einzelne Studenten, und auch hier bietet sich die Möglichkeit, die Strategie in der Lehre und in der Pädagogik abzustimmen. So ist man nicht allein, wenn man eine undisziplinierte Gruppe streng bewertet und bei einer bemühten Gruppe ein Auge zudrückt. Allerdings erweist sich die strenge und selektive Benotung am Ende weit weniger streng, als es zunächst den Anschein hat. Man verteilt bei den ersten Prüfungen ernsthafte Warnungen und gibt dafür bei den zweiten die Möglichkeit zum Ausgleich. Und wenn es um das Bestehen des Jahres geht, wird in Abstimmung mit den anderen Lehrenden meist doch der coup de pouce, der „kleine Stoß mit dem Daumen nach oben“ gegeben, der das Durchkommen ermöglicht. Auch wenn dazu die Noten um 1 bis 2 Punkte angehoben werden müssen. Der Student beklagt sich darüber nicht, und das Rektorat bekommt geschönte Notenlisten geliefert. Allerdings gibt es durchaus auch Studenten, die durchfallen, aber meiner Erfahrung nach hat dies bei weitem nicht immer negative Auswirkungen. Es trifft diejenigen, die in diesem Studiengang tatsächlich nicht an ihrem Platz sind, und bedeutet daher auch für sie eine frühzeitige Erlösung von ihrer Qual. Natürlich stellt das Durchfallen in jedem Fall einen Schock dar, aber da es zum französischen System gehört, ist es möglich, damit zu leben. Ich habe mehrmals mit Erstaunen feststellen können, wie gewinnbringend das Stoppsignal des ersten Jahres sein kann. Völlig uninteressierte, apathische Studenten haben sich im Wiederholungsjahr zu eifrigen Mitarbeitern und Lernern entwickelt, mit denen mich dann im zweiten und in den folgenden Jahren eine Art Komplizenschaft des nachträglichen Einverständnisses mit meiner für sie so folgenreichen Entscheidung verband. Wie ein zweisprachig aufgewachsener Diplomatensohn, der davon überzeugt war, ohne jede Anstrengung durch das Studium zu kommen, oder ein Student, der mir später gestand, er habe ein Jahr bummeln wollen. Doch kommt mir auch das Bild der Studentin vor Augen, die völlig eingeschüchtert und schockiert im zweiten Jahr zu uns kam, da sie aus dem Auswahlverfahren für die Elitehochschulen herausgefallen war. Sie brauchte ein Jahr, um sich von diesem Schock zu erholen, bis sie den Mut fand, selbständig zu arbeiten und trotz fehlerhaftem Deutsch zu sprechen. Meine Studenten situierten sich ohne jede Frage jenseits der nervenaufreibenden Hochleistungskonkurrenz und daher konnten sie trotz Tränen mit Niederlagen umgehen.

2. Ein straff organisiertes Studiensystem – Verschulung ohne Wahl? Denke ich an meine ersten Konstanzer Studienjahre zurück, erinnere ich mich an die Begeisterung und die Freude an der mir gebotenen intellektuellen Freiheit, der Möglichkeit unbegrenzter Neugier in Selbstverantwortung und der Anleitung zur Kritik an jeder Form des etablierten Wissens. Daher erschien mir, und mit mir meinen Lektorenkollegen, das straff organisierte Studien-

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system der französischen Universität zunächst lediglich als Begrenzung und Beschneidung, eine Entmündigung in einer Art künstlich verlängerten Schulzeit. Alle Studenten in einem bestimmten Studienjahr besuchen gemeinsam eine hohe Zahl von Pflichtveranstaltungen, daneben gibt es wenige, meist fachfremde Wahlfächer. Im Alltag heißt das Abarbeiten eines Pflichtprogrammes und Leben und Lernen in einer Gruppe. Eine solche Einschränkung der Wahlfreiheit hat Folgen für die Motivation: Eigeninteresse und Engagement sind keine selbstverständlichen Voraussetzungen, sondern Glücksfälle. Die Klagelitanei aller deutschen Lektoren in Frankreich beginnt daher mit einem langen Lied über die passiven Studenten, denen man mühsam beibringen muß, Fragen zu stellen und Referate zu halten. Weit mehr als die französischen Kollegen mißt man den Erfolg des eigenen Unterrichtes nicht an den Noten, sondern an der Mitarbeit, der „Diskussion“, und die ist schwer in Gang zu bringen. Angesichts der unerschütterlichen Passivität mancher Gruppen wird man so zum Alleinunterhalter, zum Zugpferd, das den Karren, koste es was es wolle, durch das pädagogische Ziel ziehen muß. Im ersten Jahr träumt man daher sehnsuchtsvoll von deutschen Diskussionen, bei denen man dem Gegenüber nicht die Meinung aus der Nase ziehen muß, von Referaten, die über das Handbuchwissen hinausgehen, von Nachfragen und Infragestellungen, und hat Schwierigkeiten den erwartungsvollen Augen zu begegnen - wenn man sie findet: Sie sind nämlich meistens unsichtbar, da die Köpfe über Hefte gebeugt sind, in denen jedes Wort des Dozenten eifrig mitprotokolliert wird. In den Prüfungen sieht man sich dann in zehn– bis zwanzigfacher Ausführung mit den eigenen Aussprüchen konfrontiert, und ist entsetzt über diese unkritische Art der Verarbeitung. Und da es mit dem deutschen Hörverständnis noch nicht hundertprozentig klappt, finden sich dann witzige Verhörfehler in fünfzigfacher Ausführung verschriftlicht. Kann man so etwas als Universität bezeichnen? Oder handelt es sich um eine Art von Eintrichterungsanstalt? Verständlich ist die Haltung der Studenten allemal, sie arbeiten ja nicht für die Erweiterung ihres Horizontes, sondern für eine von vielen Prüfungen, die sie zu bestehen haben. Andererseits verfolgen sie weit aufmerksamer als deutsche Studenten den Unterricht, und im Falle einer pädagogischen Pleite, kann es durchaus passieren, daß sie sich beim Leiter des Studienganges beschweren. Passivität bedeutet also nicht unbedingt Desinteresse, sondern kann auch Synonym mit Erwartungshaltung sein: Am Lehrenden, ihnen beizubringen, „wie es gewesen ist“ und worauf es ankommt. Relativierungen und vermittelnde Positionen zwischen Diskussionsfronten sind nicht gefragt, auch der deutsche Lektor muß Farbe bekennen, und zwar positivistische. Es gilt daher, sich so schnell wie möglich ein Pflichtprogramm des notwendigen Wissens über eine Epoche zu erarbeiten, und dieses so deutlich und strukturiert wie möglich zu vermitteln. Und je länger man lehrt, um so eher neigt man dazu, strittige, verwirrende Forschungsfragen wegzulassen, oder nur am Rande zu behandeln, in den ersten oder letzten fünf Minuten der Sitzung. Es macht daher wenig Sinn, seine Zeit mit der Bewältigung der wissenschaftlichen Forschung zu verlieren, man spezialisiert sich schließlich auf Vermittlungs- und Überblicksarbeiten, ein Buchmarkt, der nicht umsonst in Frankreich blüht. Lektoren sind hier freilich

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privilegiert. Sie wenden sich an die Informationszentrale für politische Bildung und bestellen kostenlos ein paar Kilo „Schlaglichter der Weltgeschichte“, „Handbuch der deutschen Geschichte“ oder passende Themenhefte zum Kurs. Ist in einem solchen System nicht wissenschaftlich gesehen Hopfen und Malz verloren? Für die Dauer des Studiums bis zum DEUG (Abschluß nach zwei Jahren), mit Einschränkungen auch bis zur Licence (Abschluß nach drei Jahren): Ja. Hier hat Wissenschaft keinen oder wenig Raum. Es geht um die Vermittlung eines Überblickes und eines Allgemeinwissens, über das auch ich nicht verfügte, als ich aus Deutschland kam. Das erste Jahr beschäftigte ich mich daher intensiv mit deutscher Architektur, Kunst, Musik, Philosophie, machte mich mit den deutschen romanischen Kirchen, mit dem Bauhaus, dem Dadaismus, dem Unterschied zwischen Schubert und Wagner, der Beziehung zwischen Fichte und Kant vertraut. Heute bin ich froh über dieses breite Wissen, und ich hoffe, das gilt auch für meine Studenten, die mir im Nachhinein bestätigten, wieviel Spaß sie an den Zivilisationskursen hatten. (Inzwischen werden sie freilich vieles, wenn nicht alles vergessen haben, da mache ich mir keine Illusionen. Aber ihr Deutschlandbild hat dennoch an Tiefe und an Differenzierung gewonnen). Eine solche allgemeine Bildung heißt nicht Verdummung, auch sie bedeutet intellektuelle Anstrengung und schafft dadurch die Basis für intellektuelle Autonomie. Spätestens ab der Maîtrise findet man sich mit ebenso selbständigen und selbständig fragenden und eigenständig denkenden Studenten konfrontiert wie in Deutschland. Eine geheimnisvolle Dialektik des Systems? Oder hat diese Entwicklung einfach mit Lebensalter und Lebenssituation zu tun? Die französischen Studenten kommen ja früher an die Universität, mit 17 Jahren, und wohnen während der Studienzeit in der Regel zu Hause, bei ihren Eltern. Das hat nicht nur, aber auch mit den im Vergleich zu Deutschland niedrigeren Einkommen zu tun, trotz Doppelverdienerschaft. Die billigste Lösung ist es, das Kind am Ort studieren zu lassen, und das ist so normal, daß die außerhalb von Paris aufgewachsenen Studenten quasi keine Chance haben, einen Studienplatz in Paris zu ergattern. In der Regel beginnen die Studenten daher erst im zweiten, bzw. dritten Jahr zu jobben, um für einen Teil des finanziellen Aufwandes ihres Studiums selbst aufzukommen. So werden auch sie flügge, ohne wie vieler ihrer deutschen Kommilitonen ins kalte Wasser der hauswirtschaftlichen und psychologischen Eigenständigkeit geworfen worden zu sein. Hinzu kommt, daß die Verlängerung des dreijährigen Studiums in einem weiteren Jahr der Maîtrise eine bewußte Entscheidung für eine wissenschaftliche oder zumindest pädagogische Laufbahn bedeutet. Sie trifft nur eine Minderheit derjenigen, die die Licence bestehen. Nach abgeschlossener Maîtrise und nach abgeschlossenem DEA, einer Art Zulassungsprüfung für das Doktorstudium, sind dann französische Doktoranden nicht weniger kreativ, innovativ und wissenschaftlich anspruchsvoll als deutsche (und ungefähr gleich alt). Aus französischer Sicht bedeutet die intellektuelle und organisatorische Eigenständigkeit deutscher Studenten eine Überforderung. Und ich denke, darin

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liegt ein Körnchen Wahrheit, wenn man sieht, wie die freie Veranstaltungswahl dazu verführt, intellektuelle Hürden zu umgehen und Schwierigkeiten auszuweichen. Wer wagt es noch, in Veranstaltungen mit lateinischen Quellen und fremdsprachiger Literatur zu arbeiten? Wenn die Anforderungen auch niedriger sind, so sind es in Frankreich die Lehrenden, die sie definieren. Und da kann man auch den ganz unpopulären Fichte aufs Programm setzen und trotz der Schwierigkeit des Textes ein Semester mit den „Reden über die deutsche Nation“ verbringen. Am Ende des dreijährigen Studiums stehen schließlich solide Grundkenntnisse im Überblick über die Geschichte, das ist nicht viel, aber auch nicht so wenig. Denn es wird dabei auch ein nicht abprüfbares methodisches Wissen vermittelt, das in der Maîtrise, im DEA oder im Doktorat unvermutet mobilisiert wird, im Sprung zu intellektueller Eigenständigkeit. Ist das nicht besser als ein deutsches Schmalspurstudium? Oder gibt es nicht auch in Deutschland dann einen dialektischen Sprung, wenn die Studenten spätestens in der Prüfungsvorbereitung zu verstehen beginnen, daß ein Überblick und eine Kenntnis der Grundstrukturen aller Epochen nützlich und notwendig sind, und Auswendiglernen nicht so schrecklich und so schwer ist, wie man dachte?

3. Forschung oder Lehre – was hat das mit den Kindern zu tun? Eines ist sicher, angesichts der hohen Lehrbelastung und ihrer pädagogischen Verantwortung neigt sich beim Auswiegen der Arbeitsbelastung für die Lehrenden das Gewicht mehr zur Lehre als zur Forschung. Daher wenden sich manche sehnsüchtige Blicke von der Universität zum CNRS, den Vollblutforschern an einer Art nationalem, überregional organisierten Max-PlanckInstitut. Allerdings gilt das nur für die wissenschaftlich ambitionierten Kollegen, und sie stellen keineswegs das Gros der Professorenschaft dar. Professor ist man in Frankreich ab dem Unterricht in der Sekundarstufe, d.h. jeder, der das Abitur vorbereitet, steht auf der Stufe eines Universitätsdozenten. Natürlich gibt es auch „richtige Professoren“, mit weniger Lehrbelastung und mehr Forschungsengagement, aber da die Habilitation schon lange abgeschafft ist, und man zur Beförderung lediglich eine Sammlung von Artikeln und Arbeiten braucht, ist der Klassenunterschied nicht so drastisch wie in Deutschland. Zumal die Professoren ohne Stelle dort weiterarbeiten, wo sie vorher beschäftigt waren, als verbeamteter Assistent (ohne Zuordnung zu einem Professor), so lange, bis sie eine Stelle finden. Diese frühe Verbeamtung setzt freilich in der Regel das Bestehen eines Concours voraus, einer nationalen Prüfung im jeweiligen Fach, die dem erfolgreichen Prüfling eine Stelle garantiert, aber eben nicht unbedingt an der Universität. Er kann sich also auch in der Sekundarstufe eines Gymnasiums wiederfinden, und bewirbt sich dann von dort auf universitäre Stellen. Dieses Schicksal trifft angesichts bestehender Seilschaften selbst begabte Jungforscher, und es ist trotz materieller Sicherheit nicht immer einfach zu verkraften. Der Vorteil eines solchen Systems liegt in einer engen Rückbindung von Universität und Schule und einer gesicherten Lebensperspektive der

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Lehrenden, von der vor allem die Frauen profitieren. Nach der Verbeamtung in der Phase der Einarbeitung in die Lehre werden in der Regel die Kinder geboren und großgezogen, und man kann sich auch nach dieser Belastungszeit noch entscheiden, ob man die Professur anstrebt oder nicht. So gibt es dann anerkannte Professorinnen mit fünf Kindern, und nicht nur der Frauenanteil, sondern auch der Mütteranteil unter den Dozierenden ist erheblich höher als in Deutschland. Das bedeutet auch, daß es eine Kultur des Verständnisses für die Schwierigkeiten der Vereinbarkeit von Mutterschaft und Beruf gibt. Man darf ein oder zwei Jahre und auch länger, ohne damit per definitionem out zu sein, wissenschaftlich zurückstecken, und man spricht auf Kongressen auch über Kinder, die keineswegs exklusive Angelegenheit derjenigen sind, die den Professoren den Rücken freihalten (obwohl sich auch in Deutschland manches geändert hat). Eine solche Sicherheit und Offenheit gegenüber der Elternschaft können alle Frauenbonusse Deutschlands nicht ausgleichen. Hier bin ich und bleibe ich, vielleicht auch angesichts meiner eigenen unsicheren Zukunft mit einem nicht standesgemäßen Kind vor der angestrebten Habilitation, hoffnungslos nostalgisch. P.S. Mein französischer Mann ist mit meinem Standpunkt in Bezug auf die Notengebung, den Kollektivgeist und die intellektuelle Autonomie überhaupt nicht einverstanden. Er findet das deutsche Bildungssystem viel besser und wünscht sich für Nora eine deutsche Schulbildung.

Verzeichnis der Veröffentlichungen von Ernst Schubert Stand: Juni 2001 Zusammengestellt von Siegfried Schütz

Vorbemerkung Die Einträge sind in den Abteilungen 1 bis 3 nach dem Erscheinungsjahr, innerhalb dessen alphabetisch geordnet. In Abteilung 4 folgen die von Ernst Schubert betreuten Dissertationen nach dem Alphabet der Verfasserinnen und Verfasser. Nachdrucke, Neuauflagen und Übersetzungen sind dem Eintrag des Erstdruckes als Anhang beigefügt. Auf die Aufnahme von Rezensionen, Magister- und Staatsexamensarbeiten musste leider verzichtet werden.

1. Selbständig erschienene Schriften 1.1. Academiae Herbipolensis Fontes. Friedrich Anton Leopold Reuss und seine Materialien zur Geschichte der Universität Würzburg. Würzburg: Jäger, 1967. (Quellen und Beiträge zur Geschichte der Universität Würzburg. Beiheft. 3) 114 S. 1.2. Die Landstände des Hochstifts Würzburg. Würzburg: Schöningh, 1967. (Veröffentlichungen der Gesellschaft für fränkische Geschichte. 9: Darstellungen aus der fränkischen Geschichte. 23) - 213 S. Zugl.: Würzburg, Univ., Diss. 1965. 1.3. Materielle und organisatorische Grundlagen der Würzburger Universitätsentwicklung 1582-1821. Ein rechts- und wirtschaftshistorischer Beitrag zu einer Institutionengeschichte. Neustadt an der Aisch: Degener, 1973. (Quellen und Beiträge zur Geschichte der Universität Würzburg. 4) - 238 S., 1 Kt. 1.4. Das Jahrhundert der Bettler und Gauner im Hochstift Bamberg. Lichtenfels: Meranier-Gymnasium, 1978. (Fränkische Heimat am Obermain. 15) (Jahresbericht des Meranier-Gymnasiums Lichtenfels. Jg. 1977/78, Beilage) - 32 S.

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Schriftenverzeichnis

1.5. König und Reich. Studien zur spätmittelalterlichen deutschen Verfassungsgeschichte. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1979. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte. 63) - 419 S. Zugl.: Erlangen-Nürnberg, Univ., Habil.-Schr., 1974. 1.6. Arme Leute, Bettler und Gauner im Franken des 18. Jahrhunderts. Neustadt an der Aisch: Degener, 1983. (Veröffentlichungen der Gesellschaft für fränkische Geschichte. 9: Darstellungen aus der fränkischen Geschichte. 26) – 486 S. - 2., durch ein Nachw. u. ein Reg. erg. Aufl. 1990. - 502 S. 1.7. Die Quaternionentheorie als Deutung der spätmittelalterlichen Reichsverfassung. Konstanz 1984. (Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte e.V.. Protokoll. 265) - 12 S. [vervielf. Typoskript] 1.8. Vom Zweikampf zum Duell. (Nürnberg: Coburger Convent) 1984. (Studentengeschichtliche Vereinigung des C[oburger] C[onvent]. Sonderheft. 1984) - 17 S. 1.9. Einführung in die Grundprobleme der deutschen Geschichte des Spätmittelalters. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1992. (Grundprobleme der deutschen Geschichte.) - VI, 328 S. - [Neuaufl. u.d.T.:] Einführung in die deutsche Geschichte im Spätmittelalter. 2., bibliogr. aktualisierte Aufl. Darmstadt: Primus Verl., 1998. - VI, 328 S. [Lizenzausgabe:] Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1998. 1.10. Fahrendes Volk im Mittelalter. Bielefeld: Verl. für Regionalgeschichte, 1995. XII, 497 S. - [Lizenzausgabe:] Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1995. 1.11. Fürstliche Herrschaft und Territorium im späten Mittelalter. München: Oldenbourg, 1996. (Enzyklopädie deutscher Geschichte. 35) - IX, 141 S. 1.12. mit Gerd Althoff, Hans-Werner Goetz: Menschen im Schatten der Kathedrale. Neuigkeiten aus dem Mittelalter. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1998. - X, 358 S.: Ill. - [Buchhandelsausgabe:] Darmstadt: Primus Verl, 1998. [siehe auch: 3.98.]

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2. Herausgeberschaften 2.1. mit Bernd Herrmann: Von der Angst zur Ausbeutung. Umwelterfahrung zwischen Mittelalter und Neuzeit. Orig.-Ausg. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 1994. ([Fischer Taschenbücher]. 11194: Fischer alternativ) - 185 S.: Ill., Tab. [siehe auch: 3.74.] 2.2. mit Wolfgang Benz, Georg G. Iggers [u.a.]: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Berlin: Metropol. - Jg. 42, 1994 ff. 2.3. Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung der Universität Göttingen. Bd. 24, 1987 ff. 2.4. mit Bernd Ulrich Hucker, Bernd Weisbrod: Niedersächsische Geschichte. Göttingen: Wallstein, 1997. - 764 S.: Ill. [siehe auch: 3.91.] 2.5. Geschichte Niedersachsens. Begr. v. Hans Patze. Bd. 2, Teil 1: Politik, Verfassung, Wirtschaft vom 9. bis zum ausgehenden 15. Jahrhundert. Hannover: Hahn, 1997. (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen. 36: Geschichte Niedersachsens. 2,1) - XVIII, 1378 S.: Kt., Tab. [siehe auch: 3.87. und 3.88.] 2.6. (Mitwirkung an d. Herausgabe v.:) Concilium medii aevi. Zeitschrift für Geschichte, Kunst und Kultur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Göttingen: Duehrkohp & Radicke. – Jg. 1, 1998 ff. 2.7. Göttinger Forschungen zur Landesgeschichte. Bielefeld: Verl. für Regionalgeschichte. - Bd. 1, 1998 ff. 2.8. mit Peter Aufgebauer, Uwe Ohainski: Festgabe für Dieter Neitzert zum 65. Geburtstag. Bielefeld: Verl. für Regionalgeschichte, 1998. (Göttinger Forschungen zur Landesgeschichte. 1) - 422 S.: Ill., Kt. [siehe auch: 3.94.]

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2.9. mit Dieter Neitzert, Uwe Israel: Hartmut Boockmann: Wege ins Mittelalter. Historische Aufsätze. München: Beck, (2000.) - XI, 484 S. : 25 Abb. auf Taf.

3. Aufsätze in Zeitschriften und Sammelwerken, Lexikonartikel, Katalogbeiträge und ein Nachruf 3.1. Zu Oberthürs Biographie Philipp Adam Ulrichs, in: Professor Franz Oberthür. Persönlichkeit und Werk. Hrsg. v. Otto Volk. Neustadt an der Aisch: Degener, 1966 (Quellen und Beiträge zur Geschichte der Universität Würzburg. 2), S. 131-148. 3.2. Gegenreformationen in Franken, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung. Bd. 28. Neustadt an der Aisch: Degener, 1968, S. 275-307. - [Wiederabgedr.] in: Gegenreformation. Hrsg. v. Ernst Walter Zeeden. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1973 (Wege der Forschung. 311), S. 222-269. 3.3. Rudolf von Scherenberg, in: Fränkische Lebensbilder. Bd. 2. Würzburg: Schöningh, 1968 (Veröffentlichungen der Gesellschaft für fränkische Geschichte. Reihe VIIa), S. 133-158. Ill. 3.4. Julius Echter von Mespelbrunn, in: Fränkische Lebensbilder. Bd. 3. Würzburg: Schöningh, 1969 (Veröffentlichungen der Gesellschaft für fränkische Geschichte. Reihe VIIa), S. 158-193. Ill. 3.5. Die Geschichte der Gemeinden, in: Landkreis Höchstadt a[n] d[er] Aisch. Vergangenheit und Gegenwart. Hrsg.: Georg Daßler. Aßling, München: Verl. für Behörden u. Wirtschaft Hoeppner, 1970, S. 49-141. Ill. 3.6. Päpstliche Provision und dynastische Politik im Spiegel des Kampfes um das Bistum Würzburg 1314-1317, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung. Bd. 30. Neustadt an der Aisch: Degener, 1970, S. 287-301. 3.7. Die politische Geschichte des Kreisgebietes, in: Landkreis Höchstadt an der Aisch. Vergangenheit und Gegenwart. Hrsg.: Georg Daßler. Aßling, München: Verl. für Behörden u. Wirtschaft Hoeppner, 1970, S. 30-42. Ill.

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3.8. Zur Typologie gegenreformatorischer Universitätsgründungen: Jesuiten in Fulda, Würzburg, Ingolstadt und Dillingen, in: Universität und Gelehrtenstand 1400-1800. Büdinger Vorträge 1966. Hrsg. v. Hellmuth Rössler u. Günther Franz. Limburg/Lahn: Starke, 1970 (Deutsche Führungssschichten in der Neuzeit. 4), S. 85-105. 3.9. Albrecht Achilles, Markgraf und Kurfürst von Brandenburg (1414-1486), in: Fränkische Lebensbilder. Bd. 4. Würzburg: Schöningh, 1971 (Veröffentlichungen der Gesellschaft für fränkische Geschichte. Reihe VIIa), S. 130172. Ill. 3.10. Protestantisches Bürgertum in Würzburg am Vorabend der Gegenreformation, in: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte. Bd. 40. Nürnberg: Verein für bayerische Kirchengeschichte, 1971, S. 69-82. 3.11. Zur Konzeption des kaiserlichen Landgerichts Nürnberg: Eine unbeachtete Überlieferung des Memoriale des Alexander von Roes, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung. Bd 31. Neustadt an der Aisch: Degener, 1971, S. 335-342. 3.12. Berthold VII. (der Weise) von Henneberg, in: Fränkische Lebensbilder. Bd. 5. Würzburg: Schöningh, 1973 (Veröffentlichungen der Gesellschaft für fränkische Geschichte. Reihe VIIa), S. 1-22. Ill. 3.13. Conrad Dinner. Ein Beitrag zur geistigen und sozialen Umwelt des Späthumanismus in Würzburg, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung. Bd 33. Neustadt an der Aisch: Degener, 1973, S. 213-238. 3.14. Goethe, Johann Wolfgang (1782 von), in: Biographisches Wörterbuch zur deutschen Geschichte. Begr. v. Hellmuth Rössler u. Günther Franz. 2., völlig neubearb. u. stark erw. Aufl. bearb. v. Karl Bosl, Günther Franz, Hanns Hubert Hofmann. Bd. 1, München: Francke, 1973, Sp. 919-924. 3.15. „bauerngeschrey“. Zum Problem der öffentlichen Meinung im spätmittelalterlichen Franken, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung. Bd. 34/35 = Festschrift für Gerhard Pfeiffer. Neustadt an der Aisch: Degener, 1975, S. 883-907.

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3.16. David Papebrochs Reisebericht über Nürnberg, Ellingen, Weißenburg und Eichstätt aus dem Jahre 1660. II. Historische Anmerkungen, in: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte. Bd. 44. Nürnberg: Verein für bayerische Kirchengeschichte, 1975, S. 90-97. 3.17. Die Stellung der Kurfürsten in der spätmittelalterlichen Reichsverfassung, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte. Jg. 1. Koblenz: Landesarchivverwaltung Rheinland-Pfalz, 1975, S. 97-128. 3.18. Königswahl und Königtum im spätmittelalterlichen Reich, in: Zeitschrift für historische Forschung. Bd. 4. Berlin: Duncker & Humblot, 1977, S. 257-338. 3.19. Erspielte Ordnung. Beobachtungen zur bäuerlichen Rechtswelt des späteren Mittelalters, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung. Bd. 38. Neustadt an der Aisch: Degener, 1978, S. 51-65. 3.20. Franken als königsnahe Landschaft unter Karl IV., in: Blätter für deutsche Landesgeschichte. Jg. 114. Göttingen: Gesamtverein d. deutschen Geschichtsu. Altertumsvereine, 1978, S. 865-890. - [Zugl.] in: Kaiser Karl IV., 1316-1378. Forschungen über Kaiser und Reich. Hrsg. v. Hans Patze. Neustadt an der Aisch: Schmidt, 1978, S. 865-890. 3.21. Motive und Probleme deutscher Universitätsgründungen des 15. Jahrhunderts, in: Beiträge zu Problemen deutscher Universitätsgründungen der frühen Neuzeit. Hrsg. v. Peter Baumgart u. Notker Hammerstein. Nendeln/Liechtenstein: KTO Press, 1978 (Wolfenbütteler Forschungen. 4), S. 13-74. 3.22. Grundzüge der geschichtlichen Entwicklung, in: Der Landkreis ErlangenHöchstadt. Hof (Saale): Verl. für Behörden u. Wirtschaft Hoeppner, 1979, S. 55-77. Ill. 3.23. [Nachruf auf] Hanns Hubert Hofmann, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung. Bd. 39. Neustadt an der Aisch: Degener, 1979, S. 209-216. 3.24. Das Königsland: zu Konzeptionen des Römischen Königtums nach dem Interregnum, in: Jahrbuch für fränkische Landesforschung. Bd. 39. Neustadt an der Aisch: Degener, 1979, S. 23-40.

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3.25. (mit Wilhelm Held [u.a.]) Die Geschichte der Gemeinden, in: Der Landkreis Erlangen-Höchstadt. Hof (Saale): Verl. für Behörden u. Wirtschaft, 1979, S. 78-186. Ill. 3.26. Die Entwicklung der Grundherrschaft im Spiegel der Ortsnamen, in: Erlanger Ortsnamen-Kolloquium. Ortsnamen als Ausdruck von Kultur und Herrschaft. Hrsg. v. Rudolf Schützeichel. Heidelberg: Winter, 1980 (Beiträge zur Namenforschung, N.F. Beiheft. 18), S. 49-65. 3.27. Knorr, Peter, in: Neue Deutsche Biographie. Hrsg. v. d. Historischen Kommission bei d. Bayerischen Akademie d. Wissenschaften. Bd. 12, Berlin: Duncker & Humblot, 1980, S. 223. 3.28. Ulrich von Hutten (1488-1523), in: Fränkische Lebensbilder. Bd. 9. Neustadt an der Aisch: Degener, 1980 (Veröffentlichungen der Gesellschaft für fränkische Geschichte. Reihe VIIa), S. 93-123. Ill. 3.29. Die Universität, in: Würzburg. Geschichte in Bilddokumenten. Hrsg. v. Alfred Wendehorst. München: Beck, 1981, S. 77-80 (Text), S. 153-157 (Bilderläuterungen), Abb. 179-197. 3.30. Erlangen als Fabrikstadt des 18. Jahrhunderts, in: Erlangen. Von der Strumpfer- zur Siemens-Stadt. Beiträge zur Geschichte Erlangens vom 18. zum 20. Jahrhundert. Hrsg. v. Jürgen Sandweg. Erlangen: Palm & Enke, 1982, S. 13-58. Ill. - 2., korr. Aufl. [1983]. 3.31. Studium und Studenten an der Alma Julia im 17. und 18. Jahrhundert, in: 1582-1982. Studentenschaft und Korporationswesen an der Universität Würzburg. Hrsg. zur 400 Jahrfeier der Alma Julia-Maximiliana vom Institut für Hochschulkunde an der Universität Würzburg, Würzburg: Becker, 1982, S. 11-47. 3.32. Der Wald im Mittelalter, in: Journal für Geschichte. Braunschweig: Westermann, Jg. 1982, H. 6, S. 48-55. Ill.

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3.33. Entwicklungsstufen der Grundherrschaft im Lichte der Namenforschung, in: Die Grundherrschaft im späten Mittelalter. Hrsg. v. Hans Patze. T. 1. Sigmaringen: Thorbecke, 1983 (Vorträge und Forschungen. 27), S. 75-95. 3.34. Nachwort, in: Georg Friedrich Rebmann, Briefe über Erlangen. Faks. d. Ausg. [Frankfurt am Main, Leipzig] 1792. Erlangen: Palm [&] Enke, 1984 (Bibliotheca Franconica. 9), 14 S. o. Pag. 3.35. Die Studentenschaft und ihre Orden im 18. Jahrhundert (1743-1810), in: Erlangen. Geschichte der Stadt in Darstellung und Bilddokumenten. Unter Mitarb. v. Gerhard Pfeiffer hrsg. v. Alfred Wendehorst. München: Beck, 1984, S. 84-92. 3.36. Gauner, Dirnen und Gelichter in deutschen Städten des Mittelalters, in: Mentalität und Alltag im Spätmittelalter. Mit Beitr. v. Werner Goez [u.a.] Hrsg. v. Cord Meckseper u. Elisabeth Schraut. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1985 (Kleine Vandenhoeck-Reihe. 1511), S. 97-128. - 2. Aufl. 1991. 3.37. Kurfürsten und Wahlkönigtum. Die Wahlen von 1308, 1314 und 1346 und der Kurverein von Rhens, in: Balduin von Luxemburg, Erzbischof von Trier Kurfürst des Reiches, 1285-1354. Festschrift aus Anlaß des 700. Geburtsjahres. Hrsg. v. Franz-Josef Heyen. Mainz: Gesellschaft für mittelrheinische Kirchengeschichte, 1985 (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte. 53), S. 103-117. 3.38. Randgruppen in der Schwankliteratur des 16. Jahrhunderts, in: Städtische Randgruppen und Minderheiten. 23. Arbeitstagung [des Südwestdeutschen Arbeitskreises für Stadtgeschichtsforschung] in Worms, 16.-18. November 1984. Hrsg. v. Bernhard Kirchgässner u. Fritz Reuter. Sigmaringen: Thorbecke, 1986 (Stadt in der Geschichte. 13), S. 129-160. 3.39. Der Wald: wirtschaftliche Grundlage der spätmittelalterlichen Stadt, in: Mensch und Umwelt im Mittelalter. Mit Beitr. v. Klaus Arnold [u.a.] Hrsg. v. Bernd Herrmann. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1986, S. 257-274. - 2. Aufl. 1986. - 3. Aufl. 1987. - [Lizenzausgaben:] Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1986. Wiesbaden: Fourier, 1996. - [Taschenbuchausg.:] Lizenzausg. Frankfurt am Main: Fischer TaschenbuchVerl., 1989 (Fischer Taschenbüchetttgtr. 4192: Fischer-Perspektiven). -

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6.-7. Tausend. 1990. - 8.-9. Tausend. 1993. (Fischer-Taschenbücher. 4192: Fischer alternativ: Perspektiven.) 3.40. Geschichte Niedersachsens, in: Niedersachsen. Politische Landeskunde. Hrsg. v. d. Niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung. Hannover: Schlüter, 1987, S. 12-23. Ill. - 2., verb. Aufl. 1988. - 3., überarb. u. erw. Aufl. 1993, S. 13-24. Ill. 3.41. Ludwig Timotheus Spittler und Wilhelm Havemann. Die Anfänge der Landesgeschichte in Göttingen, in: Geschichtswissenschaft in Göttingen. Eine Vorlesungsreihe. Hrsg. v. Hartmut Boockmann u. Hermann Wellenreuther. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1987 (Göttinger Universitätsschriften. A: Schriften. 2), S. 122-160. Ill. 3.42. Probleme der Königsherrschaft im spätmittelalterlichen Reich. Das Beispiel Ruprechts von der Pfalz (1400-1410), in: Das spätmittelalterliche Königtum im europäischen Vergleich. Hrsg. v. Reinhard Schneider. Sigmaringen: Thorbecke, 1987 (Vorträge und Forschungen. 32), S. 135-184. 3.43. Mobilität ohne Chance: Die Ausgrenzung des fahrenden Volkes, in: Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität. Hrsg. v. Winfried Schulze. München: Oldenbourg, 1988 (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien. 12), S. 113-164. 3.44. Soziale Randgruppen und Bevölkerungsentwicklung im Mittelalter, in: Saeculum. Jahrbuch für Universalgeschichte. Bd. 39. Freiburg im Breisgau, München: Alber, 1988, S. 294-339. 3.45. Stadt und Kirche in Niedersachsen vor der Reformation, in: Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte. Bd. 86. Blomberg: Druckerei Rihn, 1988, S. 9-39. 3.46. Die deutsche Stadt um 1300, in: Jahrbuch der Oswald-von-WolkensteinGesellschaft. Bd. 5. Marbach am Neckar: Wolkenstein-Gesellschaft, Jg. 1988/89, S. 37-56. 3.47. Der Zweikampf. Ein mittelalterliches Ordal und seine Vergegenwärtigung bei Heinrich von Kleist, in: Kleist-Jahrbuch. Berlin: Schmidt, Jg. 1988/89, S. 280-304.

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3.48. Forst I. Allgemein. Mittel-, Westeuropa und Italien, in: Lexikon des Mittelalters. Bd. 4. München, Zürich: Artemis, 1989, Sp. 658-661. 3.49. Scheu vor der Natur, Ausbeutung der Natur. Die Wandlung des Umweltbewußtseins im Mittelalter, in: Naturwissenschaftliche und historische Beiträge zu einer ökologischen Grundbildung. Sommerschule „Natur und Geschichte“ vom 14. bis 27. September 1989 an der Georg-August-Universität Göttingen. Zusammengest. u. bearb. v. Bernd Herrmann u. Angela Budde. Hannover: Niedersächsisches Innenministerium, 1989, S. 28-34. 3.50. Stato, fisco e confessione religiosa nei principati ecclesiastici del Meno tra la pace di Augusta e la guerra dei Trent’anni, in: Fisco, religione, stato nell’età confessionale. A Cura di Hermann Kellenbenz e Paolo Prodi. Bologna: Società editrice il Mulino, 1989 (Annali dell’Istituto storico italo-germanico. Quaderno. 26), S. 147-190. [Übersetzung ins Italienische: Elvira Magro.] - [Wiederabgedr. als:] Staat, Fiskus und Konfession in den Mainbistümern zwischen Augsburger Religionsfrieden und Dreißigjährigem Krieg, in: Fiskus, Kirche und Staat im konfessionellen Zeitalter. Hrsg. v. Hermann Kellenbenz, Paolo Prodi. Berlin: Duncker & Humblot, 1994 (Schriften des ItalienischDeutschen Historischen Instituts in Trient. 7), S. 111-140. 3.51. Armut und Not als Gestalter der sozialen Verhältnisse im Franken des 18. Jahrhunderts, in: Schriften des Fränkische Schweiz-Museum. Hrsg. vom Zweckverband Fränkische Schweiz-Museum Tüchersfeld. Bd 3. Bayreuth: Ellwanger, 1990, S. 85-94. 3.52. Die Antwort niedersächsischer Kirchenordnungen auf das Armutsproblem des 16. Jahrhunderts, in: Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte. Bd. 89 = Festschrift zum 70. Geburtstag von Prof. Dr. Dr. Hans Walter Krumwiede. Blomberg: Druckerei Rihn, 1991, S. 105-132. 3.53. Kammer, Kämmerer I. Deutsches Reich, in: Lexikon des Mittelalters. Bd. 5. München, Zürich: Artemis, 1991, Sp. 885/886. 3.54. Konrad von Weinsberg, in: Lexikon des Mittelalters. Bd. 5. München, Zürich: Artemis, 1991, Sp. 1366.

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3.55. Kurfürsten, in: Lexikon des Mittelalters. Bd. 5. München, Zürich: Artemis, 1991, Sp. 1581-1583. 3.56. Landesherrschaft und -hoheit, in: Lexikon des Mittelalters. Bd. 5. München, Zürich: Artemis, 1991, Sp. 1653-1656. 3.57. Steuer, Streit und Stände. Die Ausbildung ständischer Repräsentation in niedersächsischen Territorien des 16. Jahrhunderts, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte. Bd. 63. Hannover: Hahn, 1991, S. 1-58. 3.58. Von der Interzonengrenze zur Zonengrenze: Grenzbildende Faktoren zwischen 1945 und 1949 im Raum Duderstadt, in: Sozialwissenschaftliche Informationen. Jg. 20. Seelze: PZ Verl., 1991, S. 186-191. 3.59. Gestalt und Gestaltwandel des Almosens im Mittelalter, in: Jahrbuch für fränkische Heimatforschung. Bd. 52 = Festschrift Alfred Wendehorst. T. 1. Neustadt an der Aisch: Degener, 1992, S. 241-262. 3.60. mit Peter Aufgebauer: Königtum und Juden im deutschen Spätmittelalter, in: Spannungen und Widersprüche. Gedenkschrift für František Graus. Hrsg. v. Susanna Burghartz [u.a.] Sigmaringen: Thorbecke, 1992, S. 273-314. 3.61. Mittelalterliche Geschichte: Geschlechter- und Sozialgeschichte. Dialog zwischen Claudia Opitz und Ernst Schubert, in: Zweierlei Welten? Feministische Wissenschaftlerinnen im Dialog mit der männlichen Wissenschaft. Frankfurt am Main: Campus, 1992, S. 123-150. 3.62. Städte im Aufbruch und Wandel, in: Stadtluft, Hirsebrei und Bettelmönch. Die Stadt um 1300. (Katalog d. Ausstellung Zürich/Stuttgart 1992/93.) Hrsg. vom Landesdenkmalamt Baden-Württemberg u. d. Stadt Zürich. Stuttgart: Theiss, 1992, S. 381-392. Ill. 3.63. Die Capitulatio de partibus Saxoniae, in: Geschichte in der Region. Zum 65. Geburtstag von Heinrich Schmidt. Hrsg. v. Dieter Brosius [u.a.] Hannover: Hahn, 1993 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen. Sonderband), S. 3-28.

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3.64. Die Chronik Thietmars von Merseburg, in: Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen. Katalog d. Ausstellung Hildesheim 1993. Hrsg. v. Michael Brandt u. Arne Eggebrecht. Bd. 2. Hildesheim: Bernward; Mainz: Zabern, 1993, S.239-242. Ill. 3.65. Die Geschichte der Habilitation, in: 250 Jahre Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Festschrift. Hrsg. v. Henning Kössler. Erlangen: Universitäts-Bund, 1993 (=Erlanger Forschungen. Sonderreihe. 4), S. 115-151. 3.66. Die Quaternionen. Entstehung, Sinngehalt und Folgen einer spätmittelalterlichen Deutung der Reichsverfassung, in: Zeitschrift für historische Forschung. Bd. 20. Berlin: Duncker & Humblot, 1993, S. 1-63. 3.67. Der Reichsepiskopat, in: Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen. Katalog d. Ausstellung Hildesheim 1993. Hrsg. v. Michael Brandt u. Arne Eggebrecht. Bd. 1. Hildesheim: Bernward; Mainz: Zabern, 1993, S. 93102. Ill. 3.68. Sachsen um das Jahr 1000, in: Bernward von Hildesheim und das Zeitalter der Ottonen. Katalog d. Ausstellung Hildesheim 1993. Hrsg. v. Michael Brandt u. Arne Eggebrecht. Bd. 1. Hildesheim: Bernward; Mainz: Zabern, 1993, S. 209-216. Ill. 3.69. Van dem gemenen Kasten vor de Armen - Die Antwort der Osnabrücker Kirchenordnung auf das Armutsproblem des 16. Jahrhunderts, in: 450 Jahre Reformation in Osnabrück. Hrsg. v. Karl Georg Kaster u. Gerd Steinwascher. Bramsche: Rasch, 1993 (Osnabrücker Kulturdenkmäler. 6), S. 447-451. Ill. 3.70. Die verbotene Existenz der Zigeuner, in: Rainer Erb (Hrsg.), Die Legende vom Ritualmord. Zur Geschichte der Blutbeschuldigung gegen Juden. Berlin: Metropol, 1993 (Dokumente, Texte, Materialien. 6), S. 179-200. 3.71. Von der Interzonengrenze zur Zonengrenze. Die Erfahrung der entstehenden Teilung Deutschlands im Raum Duderstadt 1945-1949, in: Bernd Weisbrod (Hrsg.), Grenzland. Beiträge zur Geschichte der deutsch-deutschen Grenze. Hrsg. vom Arbeitskreis Geschichte des Landes Niedersachsen (nach 1945). Hannover: Hahn, 1993 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen. 38: Quellen und Untersuchungen zur Geschichte Niedersachsens nach 1945. 9), S. 70-87.

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3.72. Bettler und arme Leute. Existenznot und Fürsorge im Franken und Bayern des 18. und 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für bayerische Sparkassengeschichte. Bd. 8. München: Bayerischer Sparkassen- u. Giro-Verband, 1994, S. 7-20. 3.73. Fahrende Schüler im Spätmittelalter, in: Bildungs- und schulgeschichtliche Studien zu Spätmittelalter, Reformation und konfessionellem Zeitalter. Hrsg. v. Harald Dickerhof. Wiesbaden: Reichert, 1994 (Wissensliteratur im Mittelalter. 19), S. 9-34. 3.74. Scheu vor der Natur - Ausbeutung der Natur. Formen und Wandlungen des Umweltbewußtseins im Mittelalter, in: Von der Angst zur Ausbeutung. Umwelterfahrung zwischen Mittelalter und Neuzeit. Hrsg. v. Ernst Schubert u. Bernd Herrmann. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verl., 1994 ([Fischer Taschenbücher]. 11194: fischer alternativ), S. 13-58. 3.75. Wucher und Kredit in Bayern vom 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für bayerische Sparkassengeschichte. Bd. 8. München: Bayerischer Sparkassen- u. Giro-Verband, 1994, S. 21-44. 3.76. Der Hof Heinrichs des Löwen, in: Heinrich der Löwe und seine Zeit. Herrschaft und Repräsentation der Welfen 1125-1235. Katalog d. Ausstellung Braunschweig 1995. Hrsg. v. Jochen Luckhardt u. Franz Niehoff. Bd. 2. Essays. München: Hirmer, 1995, S. 190-198. Ill. 3.77. Der rätselhafte Begriff „Land“ im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, in: Was ist Region? Hermannsburg: Missionshandlung, 1995 (Soltauer Schriften. Schriften der Freudenthal-Gesellschaft. 4), S. 23-31. - [Wiederabgedr.:] in: Concilium medii aevi. Zeitschrift für Geschichte, Kunst und Kultur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Jg. 1. Göttingen: Duehrkohp & Radicke, 1998, S. 15-27. 3.78. Reichsfürsten, in: Lexikon des Mittelalters. Bd. 7. München: LexMA Verl., 1995, Sp. 617/618. 3.79. Ruprecht, dt. Kg., in: Lexikon des Mittelalters. Bd. 7. München: LexMA Verl., 1995, Sp. 1108-1110.

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3.80. Sächsische Weltchronik, in: Lexikon des Mittelalters. Bd. 7. München: LexMA Verl., 1995, Sp. 1242/1243. 3.81. Die Schlacht bei Langensalza, in: Rainer Sabelleck (Hrsg.), Hannovers Übergang vom Königreich zur preußischen Provinz: 1866. Beiträge zu einer Tagung am 2. November 1991 in Göttingen. Hannover: Hahn, 1995 (Schriftenreihe des Landschaftsverbandes Südniedersachsen. 1), S. 101-123. 3.82. Spielmann, -leute, in: Lexikon des Mittelalters. Bd. 7. München: LexMA Verl., 1995, Sp. 2112/2113. 3.83. Daily life, consumption, and material culture, in: Germany. A New Social and Economic History. Bd. 2: 1630-1800. Ed. by Sheilagh Ogilvie. London [u.a.]: Arnold, 1996, S. 350-376. [Übersetzung ins Englische: Sheilagh Ogilvie.] 3.84. Kunststaat und Franzosenzeit. Die Entstehung der modernen niedersächsischen Territorien 1803-1815, in: Horst Kuss, Bernd Mütter (Hrsg.), Geschichte Niedersachsens - neu entdeckt. Braunschweig: Westermann, 1996, S. 10-20. Ill. 3.85. Der Fremde in den niedersächsischen Städten des Mittelalters, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte. Bd. 69. Hannover: Hahn, 1997, S. 1-44. 3.86. Die deutsche Königswahl zur Zeit Johanns von Böhmen, in: Johann der Blinde, Graf von Luxemburg, König von Böhmen 1296-1346. Tagungsband der 9. Journees Lotharingiennes, 22.-26. Oktober 1996, Centre Universitaire de Luxembourg. Hrsg. v. Michel Pauly. Luxembourg: Section Historique de l’Institut Grand-Ducal de Luxembourg, 1997 (Publications de la Section Historique de l’Institut Grand-Ducal de Luxembourg. 115) (Publications du CLUDEM. 14), S. 135-166. 3.87. Geschichte Niedersachsens vom 9. bis zum ausgehenden 15. Jahrhundert, in: Geschichte Niedersachsens. Begr. v. Hans Patze. Bd. 2, T. 1. Hannover: Hahn, 1997 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen. 36), S. 1-904. Ill.

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3.88. mit Heinrich Schmidt: Geschichte Ostfrieslands im Mittelalter, in: Geschichte Niedersachsens. Begr. v. Hans Patze. Bd. 2, T. 1. Hannover: Hahn, 1997 (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen. 36), S. 905-1038. Ill. 3.89. Landstände und Fürstenherrschaft. Kommentar zu den Beiträgen von Ulf Molzahn und Frank Göse, in: Geschichte des sächsischen Adels. Hrsg. v. Katrin Keller u. Josef Matzerath. Köln [u.a.]: Böhlau, 1997, S. 161-166. 3.90. Der Mainzer Kurfürst als Erzkanzler im Spätmittelalter, in: Der Mainzer Kurfürst als Reichserzkanzler. Funktionen, Aktivitäten, Ansprüche und Bedeutung des zweiten Mannes im alten Reich. Hrsg. v. Peter Claus Hartmann. Stuttgart: Steiner, 1997 (Geschichtliche Landeskunde. 45), S. 77-97. 3.91. (Beiträge in:) Niedersächsische Geschichte. Hrsg. v. Ernst Schubert, BerndUlrich Hucker, Bernd Weisbrod. Göttingen: Wallstein, 1997, Vorwort S. 1114; Beiträge S. 171-184, S. 189-211 (gemeinsam mit Christof Römer), S. 235255, S. 268-327, S. 333-352, S. 363-493; Statt eines Nachwortes: Geschichte und Gegenwart, S. 665-674. 3.92. Verden, in: Lexikon des Mittelalters. Bd. 8. München: LexMA Verl., 1997, Sp. 1499/1500. 3.93. Verden, „Blutbad v.“, in: Lexikon des Mittelalters. Bd. 8. München: LexMA Verl., 1997, Sp. 1500/1501. 3.94. Der betrügerische Bettler im Mittelalter und in der frühen Neuzeit, in: Festgabe für Dieter Neitzert zum 65. Geburtstag. Hrsg. v. Peter Aufgebauer, Uwe Ohainski u. Ernst Schubert. Bielefeld: Verl. für Regionalgeschichte, 1998 (Göttinger Forschungen zur Landesgeschichte. 1), S. 71-107. 3.95. Ernst der Bekenner als Landesherr, in: Herzog Ernst der Bekenner und seine Zeit. Beiträge zur Geschichte des ersten protestantischen Herzogs von Braunschweig-Lüneburg anläßlich der 500jährigen Wiederkehr seines Geburtstages in Uelzen im Jahre 1497. Hrsg. v. Hans-Jürgen Vogtherr. Uelzen: Stadt, 1998 (Uelzener Beiträge. 14), S. 25-62. Ill.

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3.96. Fremde im mittelalterlichen Deutschland, in: IMIS-Beiträge. Hrsg. vom Vorstand des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien der Universität Osnabrück. Bd. 7, Osnabrück: Rasch, 1998, S. 7-33. 3.97. Marschall in der Provinz. Jean Baptiste Bernadotte als Statthalter im Kurfürstentum Hannover, in: Jean-Baptiste Bernadotte. Bürger - Marschall König. (Katalogred.: Antoinette Ramsey Herthelius.) Mainau, 1998, S. 53-65. - [Schwedische Ausgabe:] Marskalken i provinsen. Jean Baptiste Bernadotte som ståthållere i kurfurstendömet Hannover, in: Karl XIV Johan. En europeisk karriär. Red.: Antoinette Ramsey Herthelius. Stockholm: Kungl. Husgeraadskammaren, 1998 (Skrifter fraan Kungl. Husgeraadskammaren. 9), S. 53-65. 3.98. Spätmittelalter - die Rahmenbedingungen des Lebens kleiner Leute, in: Gerd Althoff, Hans-Werner Goetz, Ernst Schubert, Menschen im Schatten der Kathedrale. Neuigkeiten aus dem Mittelalter. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1998, S. 229-350. Ill. 3.99. Verdeckte Opposition in der Provinz Hannover. Der Kampf der „Welfen“ um die regionale Identität während des Kaiserreichs, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte. Jg. 134. Koblenz: Gesamtverein d. deutschen Geschichtsu. Altertumsvereine, 1998, S. 211-272. 3.100. Willebrief, in: Lexikon des Mittelalters. Bd. 9. München: LexMA Verl., 1998, Sp. 207. 3.101. Fremde und Erfahrungen des Fremden im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Deutschland, in: Uwe Meiners, Christoph Reinders-Düselder (Hrsg.), Fremde in Deutschland - Deutsche in der Fremde. Schlaglichter von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart. Cloppenburg: Museumsdorf Cloppenburg Niedersächsisches Freilichtmuseum, 1999, S. 23-37. 3.102. Fremde und Erfahrungen des Fremden im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Deutschland, in: Angeworben - eingewandert - abgeschoben. Ein anderer Blick auf die Einwanderungsgesellschaft Bundesrepublik Deutschland. Hrsg. v. Katja Dominik, Marc Jünemann, Jan Motte, Astrid Reinecke. Münster: Westfälisches Dampfboot, 1999, S. 56-82.

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3.103. Normen und Rahmenbedingungen des Alltagslebens nach dem Dreißigjährigen Krieg, in: Concilium medii aevi. Zeitschrift für Geschichte, Kunst und Kultur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Jg. 2. Göttingen: Duehrkohp & Radicke, 1999, S. 71-104. 3.104. Das Schauspiel in der spätmittelalterlichen Stadt, in: Stadt und Theater. 35. Arbeitstagung [des Südwestdeutschen Arbeitskreises für Stadtgeschichtsforschung] 1996. Hrsg. v. Bernhard Kirchgässner u. Hans-Peter Becht. Stuttgart: Thorbecke, 1999 (Stadt in der Geschichte. 25), S. 19-70. 3.105. Die Umformung spätmittelalterlicher Fürstenherrschaft im 16. Jahrhundert, in: Rheinische Vierteljahrsblätter. Bd. 63 = Festgabe Wilhelm Janssen zum 65. Geburtstag. Bonn: Bouvier, 1999, S. 204-263. 3.106. Würzburg und Franken - Region und Universität im 18. Jahrhundert, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte. Jg. 135, Koblenz: Gesamtverein d. dt. Geschichtsvereine, 1999 (ersch. 2000), S. 59-100. 3.107. Zusammenfassung, in: Attempto - oder wie stiftet man eine Universität. Die Universitätsgründungen der sogenannten zweiten Gründungswelle im Vergleich. Hrsg. v. Sönke Lorenz. Stuttgart: Steiner, 1999 (Contubernium. Tübinger Beiträge zur Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte. 50), S. 237256. 3.108. Die Absetzung König Adolfs von Nassau, in: Studien zur Geschichte des Mittelalters. Jürgen Petersohn zum 65. Geburtstag. Hrsg. v. Matthias Thumser, Annegret Wenz-Haubfleisch u. Peter Wiegand. Stuttgart: Theiss, 2000, S. 271-301. 3.109. Der „starke Bettler“. Das erste Opfer sozialer Typisierung um 1500, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft. Jg. 48, Berlin: Metropol, 2000, S. 869-893. 3.110. Adel im ausgehenden 18. Jahrhundert: Nordwestdeutsche Edelleute und süddeutsche Reichsritter im landesgeschichtlichen Vergleich, in: Britain and Germany Compared: Nationality, Society and Nobility in the Eighteenth Century. Mit Beitr. v. Joseph Canning [u.a.] Hrsg. v. Joseph Canning u. Hermann Wellenreuther. Göttingen: Wallstein, 2001 (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft. 13), S. 141-229.

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3.111. Erscheinungsformen der Armut in der spätmittelalterlichen deutschen Stadt, in: Die Stadt als Kommunikationsraum. Beiträge zur Stadtgeschichte vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Festschrift für Carl Czok zum 75. Geburtstag. Hrsg. v. Helmut Bräuer u. Elke Schlenkrich. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 2001, S. 659-697. 3.112. Landesgeschichte, in: Geschichtsforschung in Niedersachsen. Dokumentation eines vom Niedersächsischen Heimatbund am 12. März 1999 in Hannover durchgeführten Symposiums. Hrsg.: Niedersächsischer Heimatbund. Hannover: Landbuch, 2001 (Schriften zur Heimatpflege. 11), S. 11-19.

4. Betreute Dissertationen 4.1. Cord Alphei, Geschichte Adelebsens und Lödingsens. Göttingen: Goltze, 1990. - 201 S.: Ill., Kt. Zugl.: Göttingen, Univ., Diss. 1990. 4.2. Brage Bei der Wieden, Außenwelt und Anschauungen Ludolf von Münchhausens (1570-1640). Hannover: Hahn, 1993. (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen. 32: Niedersächsische Biographien. 5) - 308 S. Zugl.: Göttingen, Univ., Diss. 1993. 4.3. Marlene Besold-Backmund, Stiftungen und Stiftungswirklichkeit. Studien zur Sozialgeschichte der beiden oberfränkischen Kleinstädte Forchheim und Weismain. Neustadt an der Aisch: Degener, 1986. (Schriften des Zentralinstituts für fränkische Landesforschung und allgemeine Regionalforschung an der Universität Erlangen-Nürnberg. 27) - IV, 566 S.: Ill. Zugl.: Erlangen-Nürnberg, Univ., Diss. 4.4. Stefan Brüdermann, Göttinger Studenten und akademische Gerichtsbarkeit. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1990. (Göttinger Universitätsschriften. A: Schriften. 15) - 591 S. Zugl.: Göttingen, Univ., Diss. 1987. 4.5. Sven-Uwe Bürger, Der Frankfurter „tag“ von 1442. Eine Studie zum Reichstagsgeschehen im 15. Jahrhundert. Göttingen, Univ., Diss. 1999.

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4.6. Peter Burschel, Söldner im Nordwestdeutschland des 16. und 17. Jahrhunderts. Sozialgeschichtliche Studien. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1994. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte. 113) 400 S.: Ill. Zugl.: Göttingen, Univ., Diss. 1992. 4.7. Sigrid Dahmen, Der Publizist und der Staat im 18. Jahrhundert. Justus Mösers Reflexion der Verordnungs- und Mandatspolitik des Fürstentums Osnabrück. 1995 [erschienen] 1997. - 338 S. Zugl.: Göttingen, Univ., Diss. 1995. 4.8. Gerhard Diehl, Exempla für eine sich wandelnde Welt. Studien zur norddeutschen Geschichtsschreibung im 15. und 16. Jahrhundert. Bielefeld: Verl. für Regionalgeschichte, 2000. (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung an der Universität Göttingen. 38) - 416 S. Zugl.: Göttingen, Univ., Diss. 1995. 4.9. Josef Dolle: Studien zur Geschichte der Herren von Boventen. Bovenden: Flecken, 1994. (Plesse-Archiv. 29) - 510 S.: Beil. [Auch als Sonderdruck Bovenden 1994.] Überarb. Teildr. d. Diss. Univ. Göttingen 1989/90. Urkundenbuch zur Geschichte der Herren von Boventen. Bearb. v. Josef Dolle. Hannover: Hahn, 1992. (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen. 37: Quellen und Untersuchungen zur Geschichte Niedersachsens im Mittelalter. 16.) - VIII, 507 S. Überarb. Teildr. d. Diss. Univ. Göttingen 1989/90. 4.10. Rainer Driewer: Obrigkeitliche Normierung sozialer Wirklichkeit. Die städtischen Statuten des 14. und 15. Jahrhunderts in Südniedersachsen und Nordhessen. Bielefeld: Verl. für Regionalgeschichte, 2000. (Göttinger Forschungen zur Landesgeschichte. 2) - 279 S. Zugl.: Göttingen, Univ., Diss. 1997. 4.11. Ilka Göbel, Die Mühle in der Stadt. Müllerhandwerk in Göttingen, Hameln und Hildesheim vom Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert. Bielefeld: Verl. für Regionalgeschichte, 1993. (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung der Universität Göttingen. 31) - 272 S.: Ill., Kt. Zugl.: Göttingen, Univ., Diss. 1991.

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4.12. Cecilie Hollberg, Deutsche in Venedig im späten Mittelalter. Eine Untersuchung von Testamenten aus dem 15. Jahrhundert. – 250 Bl., 11 Bl. Anhang. Göttingen, Univ., Diss., 2001. 4.13. Axel Janowitz, Die Lüneburger Saline im 18. und 19. Jahrhundert. Göttingen 1997. - [IV,] 336 Bl., 18 Anhänge. Göttingen, Univ., Diss., 1998. 4.14. Clemens Kappl, Die Not der kleinen Leute. Der Alltag der Armen im 18. Jahrhundert im Spiegel der Bamberger Malefizamtsakten. Bamberg: Historischer Verein, 1984. (Historischer Verein für die Pflege der Geschichte des ehemaligen Fürstbistums Bamberg. Beiheft. 17) - [8,] VIII, 577 S. Zugl.: Konstanz, Univ., Diss. 1984. 4.15. Claudia Kaufold, Ein Musiker als Diplomat. Abbé Agostino Steffani in hannoverschen Diensten (1688-1703). Bielefeld: Verl. für Regionalgeschichte, 1997. (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung der Universität Göttingen. 36) - X, 343 S. Zugl.: Göttingen, Univ., Diss. 1994. 4.16. Sebastian Kreiker, Armut, Schule, Obrigkeit. Armenversorgung und Schulwesen in den evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts. Bielefeld: Verl. für Regionalgeschichte, 1997. (Religion in der Geschichte. Kirche, Kultur und Gesellschaft. 5) - 277 S. Zugl.: Göttingen, Univ., Diss. 1996, u.d.T.: Armenversorgung und Schulwesen in den evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts. Obrigkeitliche Entwürfe einer disziplinierten Gesellschaft. 4.17. Nathalie Kruppa, Die Grafen von Dassel (1097-1337/38). Bielefeld: Verl. für Regionalgeschichte, 2001. (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung der Universität Göttingen. 42) im Druck. Zugl.: Göttingen, Univ., Diss. 2000. 4.18. Arend Mindermann, Adel in der Stadt des Spätmittelalters. Göttingen und Stade 1300 bis 1600. Bielefeld: Verl. für Regionalgeschichte, 1996. (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung der Universität Göttingen. 35) - X, 499 S. Überarb. Diss. Univ. Göttingen 1993.

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301

4.19. Dieter Neitzert, Die Stadt Göttingen führt eine Fehde 1485/86. Untersuchung zu einer Sozial- und Wirtschaftsgeschichte von Stadt und Umland. Hildesheim: Lax, 1992. (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung der Universität Göttingen. 30) - VIII, 175 S.: Ill. Zugl.: Göttingen, Univ., Diss. 1990. 4.20. Klaus Nippert, Nachbarschaft der Obrigkeiten. Zur Bedeutung frühneuzeitlicher Herrschaftsvielfalt am Beispiel des Hannoverschen Wendlands im 16. und 17. Jahrhundert. Hannover: Hahn, 2000. (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen. 196) - 367 S.: Kt. Zugl.: Göttingen, Univ., Diss., 1998. 4.21. Heung-Sik Park, Krämer- und Hökergenossenschaften in norddeutschen Städten des Mittelalters: Handelsbedingungen und Lebensformen der Hausierer, Krämer und Höker am Beispiel von Lüneburg, Goslar und Hildesheim. Göttingen, Univ., Diss., 1999. 4.22. Gustav Partington, Armut und Bettel in Lippe und Schaumburg-Lippe vom 16. bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. Göttingen 1994. - III, 560, XLIII S. Zugl.: Göttingen, Univ., Diss. 1995. 4.23. Wolfgang Petri, Fräulein Maria von Jever. Studien zur Persönlichkeit und Herrschaftspraxis. Aurich: Ostfriesische Landschaft, 1994. (Abhandlungen und Vorträge zur Geschichte Ostfrieslands. 73) - 219 S.: Ill. Zugl.: Göttingen, Univ., Diss. 1993. 4.24. Michael Reinbold, Die Lüneburger Sate. Ein Beitrag zur Verfassungsgeschichte Niedersachsens im späten Mittelalter. Hildesheim: Lax, 1987. (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung der Universität Göttingen. 26) - XII, 262 S.: Kt. Zugl.: Göttingen, Univ., Diss. 1986. 4.25. Ida-Christine Riggert, Die Lüneburger Frauenklöster. Hannover: Hahn, 1996. (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen. 37: Quellen und Untersuchungen zur Geschichte Niedersachsens im Mittelalter. 19) - 499 S. Zugl.: Göttingen, Univ., Diss. 1992/93.

302

Schriftenverzeichnis

4.26. Beate Schuster, Die freien Frauen. Dirnen und Frauenhäuser im 15. und 16. Jahrhundert. Frankfurt am Main [u.a.]: Campus, 1995. (Reihe Geschichte und Geschlechter. 12) - 511 S.: Ill. Zugl.: Göttingen, Univ., Diss. 1992. 4.27. Brigitte Streich, Zwischen Reiseherrschaft und Residenzbildung: Der Wettinische Hof im späten Mittelalter. Köln [u.a.]: Böhlau, 1989. (Mitteldeutsche Forschungen. 101) - X, 666 S.: Kt. Zugl.: Göttingen, Univ., Diss. 1988. 4.28. Rainer Täubrich, Herzog Heinrich der Jüngere von Braunschweig-Wolfenbüttel (1489-1568). Leben und Politik bis zum Primogeniturvertrag von 1535. Braunschweig: Braunschweigischer Geschichtsverein, 1991. (Quellen und Forschungen zur braunschweigischen Geschichte. 29) - 348 S. Zugl.: Göttingen, Univ., Diss. 1987/88. 4.29. Ingrid Titz-Matuszak, Mobilität der Armut. Das Almosenwesen im 17. und 18. Jahrhundert im südniedersächsischen Raum. Bovenden 1988. - 338 S. : Kt. Zugl.: Göttingen, Univ., Diss. 1987. Auch in: Plesse-Archiv. Hrsg. vom Flecken Bovenden. H. 24, 1988, S. 9-338. 4.30. Silke Wagener, Pedelle, Mägde und Lakaien. Das Dienstpersonal an der Georg-August-Universität Göttingen 1737-1866. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1996. (Göttinger Universitätsschriften. A: Schriften. 17) - 609 S.: Ill. Zugl.: Göttingen, Univ., Diss. 1994. 4.31. Arno Weinmann, Braunschweig als landesherrliche Residenz im Mittelalter. Braunschweig: Braunschweigischer Geschichtsverein, 1991. (Braunschweigisches Jahrbuch. Beihefte. 7) - [IV,] 325 S.: Ill. Zugl.: Göttingen, Univ., Diss. 1989. 4.32. Jürgen Wilke, Die Ebstorfer Weltkarte. Bielefeld: Verl. für Regionalgeschichte, 2001. (Veröffentlichungen des Instituts für Historische Landesforschung der Universität Göttingen. 39) - 347, 167 S.: Ill., Kt. Zugl.: Göttingen, Univ., Diss. 1999.