Musikgeschichten - Vermittlungsformen: Festschrift für Beatrix Borchard zum 60. Geburtstag 9783412213275, 9783412206253

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Musikgeschichten - Vermittlungsformen: Festschrift für Beatrix Borchard zum 60. Geburtstag
 9783412213275, 9783412206253

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Musikgeschichten – Vermittlungsformen

MUSIK – KULTUR – GENDER Herausgegeben von Annette Kreutziger-Herr, Dorle Dracklé, Dagmar von Hoff, und Susanne Rode-Breymann

Band 9

Kultur ist Kommunikation: Wörter, die gelesen werden, ein literarisches oder filmisches Werk, das interpretiert wird, hörbare und unhörbare Musik, sichtbare oder unsichtbare Bilder, Zeichensysteme, die man deuten kann. Die Reihe Musik – Kultur – Gender ist ein Forum für interdisziplinäre, kritische Wortmeldungen zu Themen aus den Kulturwissen­ schaften, wobei ein besonderes Augenmerk auf Musik, Literatur und Medien im kultu­ rellen Kontext liegt. In jedem Band ist der Blick auf die kulturelle Konstruktion von Geschlecht eine Selbstverständlichkeit.

Musikgeschichten – Vermittlungsformen Festschrift für Beatrix Borchard zum 60. Geburtstag

Herausgegeben von Martina Bick, Julia Heimerdinger und Krista Warnke

2010 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Mariann Steegmann Foundation, der Hochschule für Musik und Theater Hamburg und des Etats für Frauen- und Nachwuchsförderung der Hochschule für Musik und Theater Hamburg

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildungen: 1, 2, 3: Mendelssohn-Salon an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg, 2009. © malzkornfoto.de. 4: Joseph Joachim ca. 1854, Fotografie, Privatbesitz. 5: Pauline Viardot ca. 1845. 6: Bläserensemble Die Geheimräte, Ringvorlesung Gender Studies an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg, 2008. © Berthild Lievenbrück. Umschlaggestaltung unter Verwendung eines Entwurfs von Thomas Jung © 2010 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D-50668 Köln, www.boehlau.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Druck und Bindung: Strauss GmbH, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier. Printed in Germany ISBN 978-3-412-20625-3

Mendelssohn-Salon 2010 in der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. © malzkornfoto.de

Inhalt Elmar Lampson Grußwort............................................................................................ 11 Vorwort der Herausgeberinnen................................................................ 13 Krista Warnke Statt einer Einleitung: Ist Musik Beziehungskunst? Drei grundlegende Thesen.................................................................. 17 Annette Kreutziger-Herr Diskontinuität des Kontextes, Kontinuität der Idee: Zur historischen Perspektivenbildung der Frauenfrage.............................. 29 Christin Heitmann Ewig weiblich, ewig drehend? Das Mädchen am Spinnrad – ein Topos in Literatur und Musik des 19. Jahrhunderts........................... 43 Melanie Unseld Copy and paste? Das heroengeschichtliche Erbe in Agnieszka Hollands Film Copying Beethoven....................................................... 67 Jan Brachmann Les valeurs ajoutées. Eine Streunerei durch die Belle Époque mit Impressionen von Geschlecht und Tonalität....................................... 75 Susanne Rode-Breymann Papagenas Ahnin oder Die Tugend des Stillschweigens..................... 85 Gerd Nauhaus Genoveva – und kein Ende. Impressionen von Inszenierungen einer „unspielbaren“ Oper................................................................... 95 Melanie Stier Pauline Viardot Garcia und die Oper Le Prophète von Giacomo Meyerbeer............................................................................ 107 Eva Rieger Auf den Leib geschrieben. Zum Verhältnis von Musik und Körper im Rosenkavalier...................................................................... 119

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Inhalt

Gudrun Föttinger Spurensuche in Bayreuth: Ottilie Metzger und Henriette Gottlieb – Jüdische Lebenswelt bei den Bayreuther Festspielen.......................... 129 Norbert Meurs Dirigieren oder Komponieren? Der merkwürdige Zwiespalt des Wilhelm Furtwängler...................... 147 Verena Naegele Penthesilea – ein Grenzen sprengendes Rätsel-Weib.......................... 159 Martina Bick Kommissar M. und die tote Melusine................................................. 173 Katharina Hottmann Johanne Charlotte Unzer: Eine weibliche Stimme der anakreontischen Aufklärung in Vertonungen von Christian Ernst Rosenbaum, Peter Paulsen und Carl Philipp Emanuel Bach.... 183 Hans Joachim Hinrichsen Zwischen Terminologie und Metaphorik. Zu Theodor W. Adornos frühen Essays über Franz Schubert............. 213 Michael Heinemann Halbsätze, Nachsätze. Zu Robert Schumanns Nussbaum op. 25/3...... 229 Rebecca Grotjahn Clara und Robert Schumann im Backfischroman............................... 235 Silke Wenzel Pauline Viardot und „Le savon du Congo“. Ein Beispiel musikalischer Reklame am Ende des 19. Jahrhunderts....................... 247 Cornelia Bartsch Spaziergänge im Garten von Freuden und Traurigkeiten. Hörwege in eine Musik Sofia Gubaidulinas....................................... 263 Kirsten Reese Ganna Walska – Lotusland – Lotussound. Eine (Ex-)Sängerin, ein Garten, eine Klanginstallation....................................................... 281

Inhalt

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Richard Sorg Zum ‚Inhalt‘ der Musik in Hegels Musikphilosophie und zu deren Kritik durch Eduard Krüger...................................................... 295 Bettina Knauer Kunst – Geselligkeit – Räume. Die Novelle als Experimentierfeld..... 315 Regina Back „Sonnenhelle Tage“ in Boulogne-sur-Mer. Das Wiedersehen von Fanny Hensel und Carl Klingemann im Spiegel ihrer Korrespondenz............................................................................ 333 Barbara Hahn Die Macht der Gespräche................................................................... 349

Grußwort des Präsidenten der Hochschule für Musik und Theater Hamburg Beatrix Borchard gehört zu den herausragenden Persönlichkeiten der Hochschule für Musik und Theater. Sie hat die Kultur unserer Hochschule entscheidend mitgeprägt. Im Sommersemester 2002 wurde Beatrix Borchard als Professorin für Musikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Genderforschung an die Hochschule für Musik und Theater Hamburg berufen. Heute leitet sie neben ihrer Lehrtätigkeit zwei große Forschungsprojekte mit zahlreichen MitarbeiterInnen - das durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderte Projekt Orte und Wege europäischer Kulturvermittlung durch Musik. Pauline Viardot – Sängerin, Pianistin, Komponistin, Arrangeurin, Volksmusiksammlerin, Pädagogin und Veranstalterin und den durch Mittel der Mariann Steegmann Foundation geförderten Aufbau der multimedialen Forschungsplattform MUGI – Musikvermittlung und Genderforschung im Internet. Ein weiterer Forschungsschwerpunkt Musik als Akkulturationsmedium ist im Aufbau. Durch Beatrix Borchards Aktivitäten ist das Fach Musikwissenschaft an der HfMT Hamburg erheblich aufgewertet worden. Und das ist nicht nur eine Frage des Renommees eines Faches, sondern vor allem ein Erfolg für die Profilbildung unserer Hochschule, die sich die Reflexion ihrer künstlerischen Ausbildung ausdrücklich zur Aufgabe gemacht hat. Auch in schwierigen finanziellen Zeiten. In der Lehre setzt Beatrix Borchard ihre besonderen Anliegen – die Musikvermittlung mit einer engen Verknüpfung zwischen Theorie und Praxis, die Kontextualisierung von Musik und ein reflektierendes Verständnis von Musikgeschichte – in immer wieder neuen Formen praktisch um. In fächerübergreifenden Projekten wie zum Beispiel dem bewegenden Projekt zur deutsch-jüdischen Kulturgeschichte: Musik in Theresienstadt, in der musiktheatralischen Befragung Alkestis Komplex oder in den beliebten, von ihr moderierten musikalisch-literarischen „Salons“ (Mendelssohn-Salons im SoSe 2009 oder Schumann-Salons im vergangenen Frühjahr) fordert und fördert sie die intensive Zusammenarbeit der verschiedenen Fachrichtungen der Hochschule, des Kollegiums wie der Studierenden. Durch ihre interdisziplinären Ringvorlesungen und szenischen Konzertprojekte werden die studierenden MusikerInnen angeregt, auch eigene Programmkonzepte zu entwickeln und dabei nicht nur die musikalischen Werke ins Zentrum der wissenschaftlichen und künstlerischen Auseinandersetzung zu stellen, sondern auch all jene Aspekte des Lebens, die mit der Entstehungs-, Aufführungs- und Rezeptions-

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Grußwort

geschichte von Musik verbunden sind. Genderaspekte sind dabei selbstverständlicher Bestandteil. Nicht zuletzt ist Beatrix Borchard zudem eine engagierte Mitarbeiterin in der akademischen Selbstverwaltung der Hochschule: sei es als Mitglied des Hochschulsenats und des Dekanatsrats III, als Vorsitzende des Promotionsausschusses oder als Leiterin des Instituts für Musikwissenschaft. Dank ihrer öffentlichen Veranstaltungen, ihrer wissenschaftlichen Publikationen und musikjournalistischen Arbeiten ist sie nicht nur ein glänzendes Aushängeschild für unsere Hochschule, sondern vor allem immer wieder auch eine inspirierende Gesprächspartnerin und Kollegin. Ich gratuliere unserer hochverehrten Kollegin Beatrix Borchard im Namen der Hochschule für Musik und Theater Hamburg und auch ganz persönlich von Herzen zum Geburtstag. Ich freue mich auf die weitere Arbeit an dem gemeinsamen Ziel, die Kunst in der Wissenschaft und die Wissenschaft in der Kunst zu entdecken. Elmar Lampson

Hamburg, im September 2010

Vorwort Interdisziplinär und quer zu bestehenden Disziplinen und Denkmustern bewegt sich Beatrix Borchard in ihren wissenschaftlichen Publikationen, die nicht denkbar wären ohne ihre innovativen Veranstaltungskonzepte, ihre Lehre und interdisziplinären Studienprojekte, ihre Moderationen, Film- und Hörfunkbeiträge. Nicht als kühne Sprengmeisterin versteht sie sich, sondern als behutsame Verknüpferin, die lieber Disparates, Verschüttetes hebt, als Festgefügtes, Etabliertes aufzulösen oder gar zu zerschlagen. Beatrix Borchards Engagement gilt gleichermaßen seit Jahrzehnten der Etablierung und Institutionalisierung der Frauen- und Geschlechterforschung im deutschen Wissenschaftsbetrieb wie auch im Lehrbetrieb der Hochschulen, insbesondere im Fach Musikwissenschaft, um letztlich jedoch über die Geschlechterfragen auch immer wieder hinauszugehen und eine Musikgeschichtsschreibung als kulturelles Handeln zu entwerfen. In dieser Festschrift sind Aufsätze von Weggefährtinnen und -gefährten, Kolleginnen und Kollegen, Mitarbeiterinnen, ehemaligen Studierenden und Promovierenden, Freudinnen und Freunden versammelt, die in unterschiedlicher Form an Beatrix Borchards Arbeit, ihr Wirken und Denken anknüpfen, Nähe und Verbundenheit mit ihr ausdrücken. An einigen Stellen des Bandes wird zudem auf Inhalte ihres stetig anwachsenden Langzeitprojekts verwiesen: das seit sechs Jahren online vergfügbare Forschungsprojekt MUGI – Musikvermittlung und Genderforschung im Internet, das die Arbeit von Musikerinnen systematisch erschließt und inzwischen über 300 lexikalischen Artikeln und 20 multimedialen Präsentationen enthält. Viele Aufsätze zeichnen sich durch ein hohes Maß an Trans- und Interdisziplinarität aus. Genderorientierte Fragestellungen und nachholende Frauenforschung werden zentral in Aufsätzen über die „Perspektivenbildung der Frauenfrage“ (Annette Kreutziger-Herr), über das „Mädchen am Spinnrad“ (Christin Heitmann), das „Verhältnis von Musik und Körper im Rosenkavalier“ (Eva Rieger) oder „Papagenas Ahnin“ (Susanne Rode-Breymann) sowie das „Grenzen sprengende Rätsel-Weib“ Penthesilea (Verena Naegele) behandelt; aber auch in „Impressionen von Geschlecht und Tonalität“ in der Belle Époque ( Jan Brachmann) oder im Nachdenken über das „heroengeschichtliche Erbe in Agniezska Hollands Film Copying Beethoven“ (Melanie Unseld) wird der Genderblickwinkel geöffnet. Studien über Robert Schumanns Lied Nussbaum op. 25/3 (Michael Heinemann) und seine Oper Genoveva (Gerd Nauhaus), oder über die Vertonungen

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Vorwort der Herausgeberinnen

von Gedichten der Altonaer Dichterin Johanne Charlotte Unzer (Katharina Hottmann) sind ebenso anzutreffen wie die Behandlung von Themen wie Wilhelm Furtwänglers Zwiespalt „zwischen Dirigieren oder Komponieren“ (Norbert Meurs), die Darstellung und Kritik der Hegelschen Musikphilosophie durch Eduard Krüger (Richard Sorg) oder Theodor W. Adornos früher Essay über Franz Schubert (Hans Joachim Hinrichsen). Klassische musikwissenschaftliche Aufsätze stehen neben neuen Vermittlungsformen wie z. B. der Beschreibung neuer „Hörwege in eine Musik Sofia Gubaidulinas“ anhand eines eigenen Gedichts (Cornelia Bartsch) oder dem Arbeitsbericht „Ganna Walska – Lotusland – Lotussound“ (Kirsten Reese); und auch ein (fast) echter Krimi ist dabei, in dem der Pariser Kommissar M. auf die Spur einer toten Melusine angesetzt wird (Martina Bick). Nicht nur die Kategorie Geschlecht kann für Hierarchisierungen benutzt werden, auch Differenzierungen in schaffende und nachschaffende Künstler, unterschiedliche Nationalitäten oder Religionen sorgen für Ausschlüsse und Marginalisierungen in der Kulturgeschichtsschreibung, wie Beatrix Borchard sie u. a. im Fall Joseph und Amalie Joachim exemplarisch aufgedeckt hat. Ausgrenzung und Verfolgung jüdischer Künstlerinnen ist auch das Thema „Spurensuche in Bayreuth“ (Gudrun Föttinger). Natürlich darf in einer Festschrift für Beatrix Borchard nicht ihre ‚erste Liebe‘ fehlen: das Musikerpaar Clara und Robert Schumann, hier aufgesucht „im Backfischroman“ (Rebecca Grotjahn) – ebenso wenig wie ihre derzeitige Favoritin und Gegenstand eines umfangreichen von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Forschungsprojekts: die Sängerin, Komponistin und Schriftstellerin Pauline Viardot-Garcia. Die Beiträge zu Viardots „musikalischer Reklame“ für die Seife „Le savon du Congo“ (Silke Wenzel) wie zu ihrer Arbeitsbeziehung zu Giacomo Meyerbeer am Beispiel der Aufführungen der Oper Le Prophète (Melanie Stier) verweisen auf das vielfältige Wirken dieser Künstlerin. Über Kunst, Geselligkeit und die dafür notwendigen Räume erfahren wir in der „Novelle als Experimentierfeld“ (Bettina Knauer), ebenso über „die Macht der Gespräche“ (Barbara Hahn) und der Korrespondenz am Beispiel von Fanny Hensel und Carl Klingemann (Regina Back). Und – „Statt einer Einleitung“ (Krista Warnke) – wird die grundsätzliche Frage gestellt: „Ist Musik Beziehungskunst?“ Mit großem Dank für ihre Anregungen und mit einer vielfachen Verneigung überreichen wir Beatrix Borchard mit den herzlichsten Glückwünschen zum 60. Geburtstag diesen Strauß aus Texten.

Vorwort der Herausgeberinnen

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Für die Ermöglichung dieser Festsschrift durch ihre großzügige finanzielle Unterstützung möchten wir der Hochschule für Musik und Theater Hamburg sowie der Mariann Steegmann Foundation herzlich danken. Annette Kreutziger-Herr und Susanne Rode-Breymann danken wir ebenso wie dem BöhlauVerlag für die freundliche Aufnahme des Bandes in die Reihe Musik – Kultur – Gender. Bedanken möchten wir uns zudem bei den Inhabern der Bildrechte für die Genehmigungen der Abbildungen und nicht zuletzt bei allen Autorinnen und Autoren für ihre Beiträge und die gute Zusammenarbeit. Die Herausgeberinnen

Hamburg, im September 2010

Krista Warnke

Statt einer Einleitung: Ist Musik Beziehungskunst? Drei grundlegende Thesen Hamburg an einem lauen Sommerabend. Die Flügeltüren eines Gartensaales sind zur Alster hin geöffnet. Luster verbreiten festliche Abendstimmung. Auf dem offenen Flügel Noten. Neben dem Notenständer ein Cello. Ein flackernder Leuchter ziert den mit rotem Samt gedeckten Tisch im Halbrund der Veranda. Gläser und Etageren mit Gebäck lassen vermuten, dass Gäste erwartet werden. Wo sind wir? Wir befinden uns im Budge Palais, seit den 50er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts Standort der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. Wir schreiben den 25. Juni 2009. Gleich beginnt der dritte von vier Mendelssohn-Salons: „Mit Worten und ohne Worte: Die Macht der Gespräche“ – Teil der Veranstaltungsreihe „Neue Wege der Musikvermittlung“, Konzeption und Leitung Prof. Dr. Beatrix Borchard.1 Was ereignet sich hier? Das Programm stellt eine gesellige Zusammenkunft im Hause Rahel Levin Varnhagen nach. Mit einer Mischung aus Texten, Gedichten, Liedern und Musik für Klaviertrio von Felix Mendelssohn Bartholdy und Fanny Hensel soll der Abend die Atmosphäre und Kultur dieser Geselligkeitsform erfahrbar machen. Es wird aus Briefen zitiert. Die Beziehung zum Dichterfreund Heinrich Heine, auf dessen Texte die Mendelssohnschen Geschwister Lieder komponiert haben, wird durch Briefzitate veranschaulicht, die Lieder dadurch in neuem Kontext gehört. Auch die enge künstlerische und menschliche Beziehung zwischen Fanny Hensel und ihrem Bruder wird in Musik- und Briefausschnitten nachgezeichnet. Schauspielszenen stellen Gespräche zwischen den Gästen des Salons bei Rahel Varnhagen nach.

1 Mendelssohn-Salons anlässlich des 200. Geburtstags von Felix Mendelssohn Bartholdy, April–Juli 2009 an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg; Gesamtkonzeption und Leitung: Prof. Dr. Beatrix Borchard.

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Krista Warnke

Die „Kunst der Geselligkeit“2 bleibt kein bloßes Motto. Bilder und Inszenierung versetzen uns in einen Gartensaal aus dem 19. Jahrhundert. Die Zuhörenden lassen sich begeistert einbeziehen und tauschen sich über das Erlebte aus. Klänge, Worte, Textbezüge, Hintergründe, kultur- und musikgeschichtliche Ereignisse werden lebendig, werden wieder zu Lebenswelten. Die Vermittlung der Vielfalt von Beziehungen zwischen den im Programm aufscheinenden Personen bettet das gemeinsame Musikerleben in einen besonderen Zusammenhang. Zuhörerinnen und Zuhörer erfahren Musikgeschichte als kulturelles Handeln. Wie wichtig sind diese Beziehungen für das Erleben von Musik3? Wie wichtig ist das Phänomen Beziehung überhaupt für das Entstehen und Verstehen von Musik? Mit drei grundlegenden Thesen möchte ich im Folgenden herausarbeiten, was mich bewogen hat, Musik als Beziehungskunst zu bezeichnen. Als Synonym für den Begriff Beziehung werden allgemein ‚Verbindung‘ und ‚Zusammenhang‘ genannt. Das auf dem lateinischen Wortstamm ‚relatio‘ basierende Wort ‚zurücktragen‘ verweist auf das wechselseitige Verhältnis zwischen zwei oder mehreren Personen, Objekten oder Einheiten, die in einer Beziehung stehen. Miteinander in Beziehung treten heißt, dass sich zwischen zwei oder mehreren Personen etwas ereignet. Das, was gerade passiert, beeinflusst das, was im nächsten Moment passieren wird. Rückkopplungsprozesse in Form von zirkulären Wechselwirkungen sind essentiell für Beziehungen.4 Können wir überhaupt ohne Beziehungen leben? Die Aussage Paul Watzlawicks, dass wir nicht nicht kommunizieren können,5 gilt in Abwandlung ebenso für das Phänomen Beziehung. Wir können nicht nicht bezogen sein. Es fragt sich nur, welcher Art die Beziehungen sind, in die wir eingebunden sind, welche Qualität sie haben.

2 Vgl. Barbara Hahns Beitrag Die Macht der Gespräche im vorliegenden Band. 3 Wenn ich im Folgenden pauschal von Musik spreche, beziehen sich meine Ausführungen auf ein breites Spektrum musikalischer Äußerungen. Von einfacher improvisierter Klangfolge bis zur komplexen musikalischen Gestalt. 4 Heinz von Foerster und Monika Bröcker, Teil der Welt. Fraktale einer Ethik- oder Heinz von Foersters Tanz mit der Welt, Heidelberg 2007, S. 334. 5 Paul Watzlawick, Janet H. Beavin und Don D. Jackson, Menschliche Kommunikation, Formen, Störungen, Paradoxien, Wien 1969.

Statt einer Einleitung: Ist Musik Beziehungskunst?

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These 1: In einer Musikgeschichte als Geschichte „Kulturellen Handelns“ werden Beziehungsmuster deutlich, die den Blick auf das Schaffen von Frauen verändern Musik entsteht durch Beziehungen vielfältigster Art. Schon der Kompositionsprozess schöpft aus einem dichten Netz an Einflüssen und Beziehungen: individuellen, ästhetischen, sozialen, politischen, kulturellen, geschlechtsspezifischen, ethnischen, technischen, und so fort. Sie alle sind durch Wechselwirkungen geprägt. Es ist wie bei einem verschlungenen Wurzelballen, bei dem jede Faser mit einer anderen in irgendeiner Weise verwoben ist. Wählt man das Format ganz groß, kann man wohl sagen, Musik birgt einen Kosmos an Beziehungen. Dass dieser Kosmos an Beziehungen in der musikwissenschaftlichen Forschung an Bedeutung gewinnt und transparenter gemacht wird, ist einem Wandel in den Forschungsansätzen und -methoden zu verdanken, die durch Gender Studies seit den 70er Jahren angeregt wurden. „Die neuere historische Kulturforschung fragt nach dem kulturellen Handeln und rückt Vorgänge und Prozesse in Kulturen vergangener Jahrhunderte ins historiographische Zentrum. Das führt zu einer ereignisästhetischen Perspektive.“6 Beziehungen können von sehr unterschiedlicher Qualität sein. In kommunikationswissenschaftlicher Forschung7 wird zwischen drei Grundkategorien von Beziehungen unterschieden.8 Jay Haley nennt die „Symmetrische Beziehung“, die „Komplementäre Beziehung“ und die „Metakomplementäre Beziehung“. Als symmetrisch wird eine Beziehung bezeichnet, wenn die an der Beziehung beteiligten Personen untereinander das gleiche Verhalten zeigen. Auf zwei Personen bezogen heißt dies: „beide [können] Vorschläge machen, den anderen kritisieren, ihm Ratschläge geben.“9 Die Beziehungsqualität der symmetrischen Beziehung lässt sich somit durch Verminderung von Unterschieden sowie durch ein aufeinander Eingehen charakterisieren. Bei der komplementären Beziehung – ich nenne sie im folgenden asymmetrisch – zeigen die an der Beziehung beteiligten Personen unterschiedliche 6 Annette Kreutziger-Herr und Katrin Losleben, Kulturphänomen „Gender“. Interdisziplinäres Symposium an der Hochschule für Musik Köln, Sektion II am 13. Juni 2008. 7 Watzlawick u. a., Menschliche Kommunikation (wie Anm. 5); Gregory Bateson, Ökologie des Geistes, Frankfurt a.M. 1981; Jay Haley, Gemeinsamer Nenner Interaktion, München 1978. 8 In den folgenden Ausführungen beziehe ich mich auf die drei Grundkategorien von Beziehungen von Jay Haley, zitiert nach Schulz von Thun, Miteinander Reden 1. Störungen und Klärungen, Reinbek bei Hamburg 1981, S. 181 ff. 9 Ebd. S. 181.

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Krista Warnke

Verhaltensweisen, „die sich aber ergänzen und gleichsam aufeinander zugeschnitten sind: Der eine fragt, der andere antwortet; der eine lehrt, der andere lernt; der eine befiehlt, der andere gehorcht. Meist impliziert diese Unterschiedlichkeit eine Art von Überlegenheit und Unterlegenheit.“10 Hierarchie und Abgrenzung sind Kriterien der asymmetrischen Beziehung. Komplizierter zu fassen ist die Qualität der dritten Kategorie, der sogenannten metakomplementären Beziehung. Hier ist durch widersprüchliche Kontextualisierung und Einstellung der an der Beziehung Beteiligten ein Schwanken zwischen Unterordnung, Symmetrie und Überordnung gegeben.11 Die eben genannten Grundkategorien von Beziehungen sind theoretische Grundkategorien und als solche wertfrei. Im ‚tatsächlichen Leben’ zeigt sich, dass sich je nach Handlungs- und Erlebenskontext die eine oder andere Beziehungsart einstellt und entsprechend ihrer Angemessenheit als gut oder schlecht bewertet wird. Eine symmetrische Beziehung, die ihre Stabilität verliert, kann zum Beispiel als bedrohlich erlebt werden. Ebenso eine asymmetrische, die erstarrt ist und einer Veränderung in der Rollendefinition des Partners oder der Partnerin nicht Rechnung trägt. Wie hilfreich es ist, Beziehungen in musikhistorischen Zusammenhängen in den Blick zu nehmen, zeigt zum Beispiel Melanie Unseld in ihrem Aufsatz „Auf dem Weg zu einer memorik-sensibilisierten Geschichtsschreibung“.12 Sie erwähnt hier Wolfgang Amadeus Mozarts Brief an seinen Vater aus der Entstehungszeit der Entführung aus dem Serail mit dem Wortlaut: „die aria von der konstanze habe ich ein wenig der geläufigen gurgel der Mad:selle Cavallieri aufgeopfert.“13 Melanie Unseld interpretiert diese Aussage nicht als Eingeständnis an eine ästhetische Einschränkung, sondern als „multiperspektivischen“ Gesichtspunkt, der die Abhängigkeit vom Vater (eher asymmetrische Beziehung) genauso einbezieht wie den künstlerischen Stellenwert der geschätzten Primadonna (eher symmetrische Beziehung). Mad:selle Cavallieri wird somit zum „integralen Bestandteil musikkulturellen Handelns.“14

10 Ebd. 11 Ebd., S. 182. 12 Melanie Unseld, „Auf dem Weg zu einer memorik-sensibilisierten Geschichtsschreibung“, in: Musik mit Methode, hrsg. von Corinna Herr und Monika Woitas, Köln 2006, S. 70 ff. 13 Ebd., S. 70. 14 Ebd., S. 70 f.

Statt einer Einleitung: Ist Musik Beziehungskunst?

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Das eingangs angedeutete Programm des dritten Mendelssohn-Salons, das die vielfältigen Beziehungen der Beteiligten an einem bei Rahel Varnhagen stattfindenden Gesprächs- und Musikkreis aufscheinen lässt, kann ebenfalls als Beispiel dienen, wie das Wissen um Beziehungsmuster und deren Qualität das Verständnis kulturgeschichtlicher Zusammenhänge verändert. So wurde aus dem Briefwechsel zwischen Felix Mendelsohn-Bartholdy und Fanny Hensel aus dem Jahr 182915 vorgelesen, in dem Fanny Hensel ihren Bruder um „kritische Rücksicht“16 auf einige ihrer neu komponierten Lieder bittet. Der Briefwechsel dokumentiert anschaulich das Schwanken zwischen schwesterlich-weiblicher Unterordnung und Erstarkung des Selbstwertgefühls. Letztere wird durch die äußerst wertschätzende Reaktion des Bruders unterstützt. Der Wechsel zwischen symmetrischer, asymmetrischer und metakomplementärer Beziehungsqualität ließe sich in vielen musikhistorischen Kontexten aufzeigen. Ein Blick auf die Beziehungsgefüge, die der Entstehung von Musik im Kompositions- wie im Aufführungsprozess zugrunde liegen, macht in dem verschlungenen Wurzelballen Verbindungen sichtbar, die musikgeschichtliche Zusammenhänge und Geschlechterverhältnisse in neuem Licht erscheinen lassen.17 Wie wichtig dabei Briefe und Tagebucheintragungen als historisches Quellenmaterial sind, ist evident. In neuer Lesart können sie Grundlage dafür sein, Beziehungskonstellationen anders zu sehen und die Verwobenheit von individuellen, sozialen und gesellschaftlich geprägten Rollenmustern neu zu interpretieren. Die herkömmliche Heroengeschichtsschreibung ist unter Geschlechtergesichtspunkten grundsätzlich asymmetrisch. Ihr ist die jahrhundertewährende Unterordnung von Frauen unter die männliche Definitionsmacht eingeschrieben. Ein beziehungsstiftender Blick auf musikgeschichtliche Zusammenhänge, der das Wechselspiel von symmetrischen, asymmetrischen, auch metakomplementären Beziehungsmustern je nach unterschiedlichen Lebenskontexten sichtbar macht, ist ein Garant für eine gendersensible Musikgeschichtsschreibung. Der Fokus auf Beziehungsmuster und deren Qualität lässt das musikalische Schaffen von Frauen und damit Musikgeschichten in anderem Licht erscheinen.

15 Siehe Barbara Hahns Beitrag im vorliegenden Band, S. 349. 16 Ebd., S. 357. 17 Siehe z. B. Melanie Stiers Beitrag im vorliegenden Band.

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Krista Warnke

These 2: Gemeinsames Musikhören und Musizieren ist ein herausragender Modellbereich für gelingende Beziehungen Der Mediziner und Psychotherapeut Joachim Bauer hat sich in den letzten Jahren mit zwischenmenschlichen Beziehungen aus neurobiologischer Sicht beschäftigt. Zudem hat er aktuelle neurowissenschaftliche Untersuchungen zu unseren körpereigenen Motivationssystemen zusammengetragen:18 zu den Beweggründen jemandem zuzuhören, sich mit einer Sache zu beschäftigen, ein Ziel zu verfolgen – sozusagen zu den „Antriebsaggregaten“ für unser Leben. Die Grundfrage, die ihn dabei leitete, war nicht nur, wann sind wir motiviert, sondern wann sind wir besonders nachhaltig motiviert. Das Ergebnis verblüffte nicht nur Bauer, sondern auch die Fachwelt. Auf den Punkt gebracht lässt es sich so formulieren: „wir sind – aus neurobiologischer Sicht – auf soziale Resonanz und Kooperation angelegte Wesen.“19 Nichts motiviert uns nachhaltiger, als gelingende Beziehungen. Wenn sie gelingen, erzeugen Hormonausschüttungen ein Gefühl des Wohlbefindens. Unser Organismus wird psychisch und physisch in den Zustand von Konzentration und Handlungsbereitschaft versetzt.20 Wann aber gelingen Beziehungen? Im Folgenden möchte ich, in Erweiterung von Bauer, Voraussetzungen dafür aufzeigen.21 Zuallererst sei die ‚gegenseitige Wertschätzung‘ zu nennen. Ohne sie können Beziehungen kaum gelingen. Wertschätzung wird von Zuwendungs- und Neugiergefühlen getragen. Diese lenken den Fokus unserer Aufmerksamkeit auf das Miteinander. Hormonell bescheren sie uns den Zustand des Wohlbefindens und der Konzentration.22 Die gegenseitige Wertschätzung birgt bereits die nächste Voraussetzung für das Gelingen von Beziehungen: ‚Wahrnehmen und wahrgenommen werden‘ im Sinne von „Sehen und gesehen werden“23, Hören und gehört werden.

18 Joachim Bauer, Prinzip Menschlichkeit. Warum wir von Natur aus kooperieren, Hamburg 2006. 19 Ebd., S. 34. 20 Ebd., S. 29. 21 Mein herzlicher Dank gilt Anke Böttcher und Berthild Lievenbrück für die gemeinsame Arbeit an dieser Fragestellung. 22 Was nicht heißt, dass kritische Haltung ausgeschlossen wäre. Wenn kritisches Umgehen miteinander wertschätzend geschieht, erhält es eine andere Qualität. Siehe auch „symmetrische Beziehung“. 23 Bauer, Prinzip Menschlichkeit (wie Anm. 18), S. 190.

Statt einer Einleitung: Ist Musik Beziehungskunst?

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Wenn ich beachtet werde und mich selbst authentisch einbringe, sind die körpereigenen Motivationssysteme aktiv. Im musikalischen Miteinander sind dies Grundvoraussetzungen für gemeinsames Gestalten. Viel zu oft völlig unterschätzt, aber in hohem Maße Beziehung stiftend, ist bereits „gemeinsames Handeln“24, etwas unmittelbar miteinander tun. Kommen Wertschätzung und beachtende Wahrnehmung hinzu, kann dies zu gegenseitiger ‚Resonanz‘ führen. Resonanz als „Fähigkeit, zu einem gewissen Grade auf die Stimmung eines anderen einzuschwingen oder andere mit der eigenen Stimmung anzustecken.“25 Dies ist auch ein wichtiges musikalisches Phänomen. Resonanz als Rückkopplungsprozess von Aufnehmen, Wiedergeben und wieder Aufnehmen. Ein weiteres wichtiges Beziehungselement ist die „gemeinsame Aufmerksamkeit gegenüber etwas Drittem. [...] Sich dem zuwenden, wofür sich eine andere Person interessiert, ist die einfachste Form der Anteilnahme und hat ein erhebliches Potential, Verbindung herzustellen.“26 Gemeinsam an etwas teilhaben, verbindet in hohem Maße, wie dies beim gelingenden Musikmachen und Musikhören der Fall ist. Als „Königsklasse der Beziehungskunst“ bezeichnet Bauer „das wechselseitige Verstehen von Motiven und Absichten“.27 Dies erfordert ein Aufeinander-eingehen-Wollen. Meist gelingt es erst, wenn die eben genannten Beziehungselemente wirksam sind, denn: „Verstehen fordert ein immer wieder neues Nachdenken“,28 und dazu sind wir durchaus nicht immer bereit. Laut Hirnforscher Ernst Pöppel nutzen wir unsere Hirnleistung mehr als 90% dazu, uns ständig zu bestätigen, dass alles noch beim Alten ist.29 Unser Gehirn ist höchst ökonomisch, ordnet neue Eindrücke gerne alten, erprobten Kategorien zu und erspart sich so die Herausforderung für neue Musterbildungen. In gelingenden Beziehungen können wir uns getragen fühlen von der emotionalen und sozialen Resonanz des Miteinanders. Nachdenken und Verstehen-Wollen werden beflügelt.

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Ebd. Ebd., S. 192. Ebd., S. 191. Ebd., S. 193. Ebd. Ernst Pöppel, Grenzen des Bewusstseins. Über Wirklichkeit und Welterfahrung, Stuttgart 1985.

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Krista Warnke

Musizieren, auch miteinander Musikhören, können ein Eldorado für gelingende Beziehungen sein und damit wiederum für Nachdenken- und Verstehen-Wollen. Miteinander Musizieren ist, wenn es gelingt, mehr als ein musikalischer Gestaltungsprozess. Miteinander Musizieren ist ein besonderer Modellbereich für das Gelingen von Beziehungen und damit Beziehungskunst. Die Beteiligten ordnen sich mit ihrem Anspruch auf individuelle und gemeinsame Leistungen wertschätzend und kritisch ein. Hören und gehört werden, empathisches Einschwingen auf den anderen, offenes Austauschen über Gestaltungsfragen, wechselseitiges aufeinander Eingehen kann hier geübt werden und ist zugleich Bedingung für gelingendes Gestalten. Momente gelingender Beziehungen – Beziehungskunst – beim Musizieren beflügeln nicht nur die Musikerinnen und Musiker, Zuhörende können gleichfalls an ihnen teilhaben. Vermittelnde Worte und Gesten der Veranstaltenden können diese Teilhabe intensivieren, wie dies beim dritten Mendelssohn-Salon erfahrbar war. Die Atmosphäre dieses Abend war geprägt von Wertschätzung und positiver Rückkopplung, von Wahrnehmen und Wahrgenommen werden. Beatrix Borchards Begrüßung und die auf den Abend einstimmenden Worte versetzten die Zuhörenden in aktiv Beteiligte, die gemeinsam an den künstlerischen Ereignissen teilhatten. Der Wechsel von Briefstellen,30 Zitaten, vielfältigen Musikstücken und erklärenden Texten ließ nicht nur historische Personen lebhaft aufscheinen, er ließ auch die „Königsklasse der Beziehungskunst“31 entstehen, das „Verstehen von Motiven und Absichten“. Aus einer heterogenen Zusammenkunft von Zuhörenden waren Beteiligte geworden, die in intensiven Gesprächen den Abend ausklingen ließen. These 3: Musik ist ein affektlogisches Ausdrucksmedium, das Körper, Herz und Geist in besonderem Maße in Beziehung bringt Fühlen und Denken, Emotion und Kognition sind grundlegende Phänomene unseres Erlebens und Verhaltens. Obwohl Gefühl und Verstand in all unseren Handlungen gemeinsam wirken, geben wir ihnen meist ganz unterschiedlichen Stellenwert. In unserem vorwiegend durch Ratio und Ökonomie geprägten Leben sind „emotionale Einflüsse auf Denken und Verhalten [...] bisher hauptsächlich als 30 Auswahl von Barbara Hahn, siehe ihren Beitrag im vorliegenden Band. 31 Vgl. Bauer, Prinzip Menschlichkeit (wie Anm. 18), S. 193.

Statt einer Einleitung: Ist Musik Beziehungskunst?

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Störfaktoren betrachtet worden, die aus dem ‚reinen Denken‘ und ‚rationalen Handeln‘ so radikal wie nur möglich zu verbannen wären.“32 In wissenschaftlichen Zusammenhängen haben Emotionen nach landläufiger Meinung gar nichts zu suchen. Sie verhinderten die ‚Objektivität‘ von Entscheidungen. Ein folgenschwerer Irrtum unserer mitteleuropäischen Denktradition, Denken und Fühlen als voneinander unabhängige Leistungen zu sehen! Die Forschung des Schweizer Psychiaters und Erkenntnistheoretikers Luc Ciompi aus den frühen 80er Jahren macht deutlich, dass eine Trennung von Fühlen und Denken nicht möglich ist.33 Neurowissenschaftler bestätigen und unterstützen diese Erkenntnis in den letzten Jahren nachdrücklich.34 Fühlen und Denken, Emotion und Kognition sind auf das engste in unserem Erleben und Verhalten miteinander verwoben. Luc Ciompi wählte als Schlüsselbegriff für das untrennbare Ineinandergehen von Fühlen und Denken in all unseren psychischen und geistigen Leistungen den Begriff „Affektlogik“. Sogar das Wörtchen ‚und‘, das zwar grundsätzlich auf einen verbindenden, doch auch summierenden Charakter verweist, wird vermieden. Die Untrennbarkeit des Beziehungsgefüges zwischen Fühlen und Denken wird mit dem Begriff Affektlogik besonders betont. In der Emotionsforschung wird oftmals zwischen den Begriffen Gefühl, Emotion, Stimmung und Affekt unterschieden – es gibt quer durch die Literatur eine Vielzahl an unterschiedlichen Interpretationen. Ciompi stützt sich bei seiner Schaffung eines klar definierten Oberbegriffes auf die „wichtigsten Gemeinsamkeiten von gefühlsartigen Erscheinungen aller Art“35 und bevorzugt den Begriff „Affekt“. Unter Affekt versteht er eine „von inneren oder äußeren Reizen ausgelöste, ganzheitliche psychophysische Gestimmtheit von unterschiedlicher Qualität, Dauer und Bewusstseinsnähe.“36 Wir alle kennen diese psychophysischen Reaktionen: Freude bringt das Herz zum rasen, Aufregung lässt unsere Hände zittern, Angst kriecht uns förmlich unter die Haut, Wut steigt uns zu Kopf. „In Anbetracht auch der Tatsache, dass Affekte [...] unter Umständen weitgehend unbewusst bleiben 32 Luc Ciompi, Die emotionalen Grundlagen des Denkens. Entwurf einer fraktalen Affektlogik, Göttingen 1999, S. 11. 33 Luc Ciompi, Affektlogik. Über die Struktur der Psyche und ihre Entwicklung. Ein Beitrag zur Schizophrenieforschung, Stuttgart 1982. 34 Vgl: Antonio R. Damasio, Der Spinoza Effekt. Wie Gefühle unser Leben bestimmen, Berlin 2005; Gerhard Roth, Fühlen, Denken, Handeln, Frankfurt a. M. 2001; Jaak Panksepp, Affective Neuroscience: The Foundations of Human and Animal Emotions, New York 1998. 35 Luc Ciompi, Gefühle, Affekte, Affektlogik. Wiener Vorlesungen, Wien 2002, S. 18. 36 Ciompi, Die emotionalen Grundlagen (wie Anm. 32), S. 67.

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Krista Warnke

und doch körperlich manifest sein können, erscheint als das eigentliche ‚Organ‘ von Gefühlen deshalb ganz klar der ganze Körper.“37 Unterschiedliche Gefühle haben jeweils spezifische Energieverteilungsmuster. Sie haben sich im Lauf der Evolution als lebenswichtige Energiegeber entwickelt. Angst ist Warnung bei Gefahr und energische Fluchthelferin, Wut ist Kraftgeberin zur Selbstbehauptung mit zum Teil zerstörerischen Folgen, Freude ist Bindungsenergie für ein Miteinander, Trauer das Gegenmittel zu den lustbetonten Gefühlen, ist Rückzug- und Lösungsenergie. Körperlich zeigen sich Gefühle, diese affektiv energetischen Prozesse, zudem auch in gestisch-mimischem Ausdrucksverhalten. Beim Musikmachen und Musikhören wird besonders deutlich, dass das eigentliche ‚Organ‘ von Gefühlen der ganze Körper ist. Schon das Erzeugen von Klängen und Klangfolgen ist ohne Bewegung und Gestik nicht möglich. Hinzu kommt die innere Bewegtheit, die dem Produzieren von Klängen vorweg geht und beim Hören evoziert werden kann. Grundlegend sind dabei vegetative Prozesse der Erregung und Beruhigung, die auf der gestischen, assoziativen und kontextuellen Ebene weiter differenziert werden.38 „Logik“ definiert Ciompi im klaren Unterschied zu dem Affektbegriff „als die Fähigkeit, sensorische Unterschiede wahrzunehmen und weiter zu verarbeiten“,39 sowie „die Art und Weise, wie einzelne kognitive Elemente zu größeren Einheiten verbunden werden.“40 Damit meint er „die schlüssige, oder auch nur gewohnte Verknüpfung von Sachverhalten, Handlungen, Verhaltensweisen.“41 Kognitive und emotionale Aspekte stehen im Erleben und Verhalten ständig in zirkulärer Wechselwirkung, das heißt, gefühls- oder stimmungsmäßige Wechsel haben Einfluss auf das Denken, Denken wiederum Einfluss auf die Stimmung, oder wie der Biologe und Philosoph Manfred Wimmer formuliert: „Emotion und Kognition sind untrennbare Teile eines einheitlichen Prozessgeschehens.“42

37 Ebd., S. 68. 38 Klaus-Ernst Behne: „Musik – Kommunikation oder Geste?“ in: Gefühl als Erlebnis – Ausdruck als Sinn, Laaber 1982 (Musikpädagogische Forschung 3), S. 125 ff. 39 Ciompi, Gefühle, Affekte, Affektlogik (wie Anm. 35), S. 21. 40 Ebd., S.22. 41 Ciompi, Die emotionalen Grundlagen (wie Anm. 32), S. 76. 42 Manfred Wimmer, „Biologische und Soziokulturelle Aspekte der Emotions- und Kognitionsdynamik“, in: Emotion Kognition Evolution, hrsg. von Manfred Wimmer und Luc Ciompi, Fürth 2005, S. 15.

Statt einer Einleitung: Ist Musik Beziehungskunst?

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Aus Erfahrung wissen wir, dass wir fühldenkende Menschen sind. Und doch geben wir den Gefühlen oftmals nur in extremen Lebenssituationen ihren Stellenwert – oder aber im Bereich der Kunst, vor allem dem der Musik. Hartnäckig hält sich die von Johann Nicolaus Forkel Ende des 18. Jahrhunderts geäußerte Metapher, Musik sei Sprache des Herzens, Sprache der Gefühle.43 Wenn Fühlen und Denken im Verhalten und Erleben aber untrennbar miteinander verbunden sind, kann Musik nicht nur Sprache der Gefühle sein. Sie ist vielmehr ein affektlogisches Ausdrucks- und Kommunikationsmedium, das uns durch seine klanggestisch strukturierte Energie in besonderem Maß in Resonanz versetzt. Je nach Genre, Situation, Vorwissen, Einstellung und vielem mehr kann Musik dabei eher als AFFEKTlogisches, oder als affektLOGISCHES Medium erlebt werden. Musik ist ein künstlerisches Medium, das dem Gefühl allerdings besonderen Raum gibt. Wer von uns kennt sie nicht, diese unmittelbar motivierende Energie, die schon erste erklingende Töne eines Musikstückes auf uns haben können, körperlich spürbar, je nach musikalischem Gestus, bis in die Zehenspitzen? Zuneigung, Abwehr, erfüllende Freude, tiefe Melancholie, der Wechsel kann immens sein. Basis hierfür ist eine musikalische Logik, die uns verborgen sein kann, und doch wirksam wird: Musik als offenes Verweissystem, das einer klaren Denotation entbehrt, Projektionsfläche für unsere Gedanken, Gefühle, Assoziationen, Bilder. Vielleicht liegt hier der Schlüssel für die enorme Kraft von Musik, die bewirkt, dass beim Musizieren, auch beim Musikhören, Affekt und Logik besonders gut in Beziehung kommen. Musik als Resonanzphänomen für Emotion und Kognition, für Affekt und Logik, für Herz, Körper und Geist. Musik ist Beziehungskunst in vielfältigster Form: Vom individuellen über den sozialen, gesellschaftlichen, bis in den historisch-kulturellen Bereich bestehen Möglichkeiten, durch Musik Beziehungen zu erleben, herzustellen, nachvollziehbar zu machen – Beziehung zu uns selbst, zu anderen, zu musikkulturellen Ereignissen. Wollen wir Musikgeschichten erleben, brauchen wir Vermittlungsformen, die den affektlogischen Beziehungsreichtum von Musik in all seiner Fülle deutlich und lebendig werden lässt. Wir wünschen uns viele weitere Projekte von und mit Dir, liebe Beatrix! 43 Johann Nicolaus Forkel,  Allgemeine Geschichte der Musik, 2 Bde., Leipzig 1788 und 1801, Einleitung zum 1. Band, S. 2.

Annette Kreutziger-Herr

Diskontinuität des Kontextes, Kontinuität der Idee Zur historischen Perspektivenbildung der Frauenfrage In seiner Studie Papier und Markt­geschrei. Die Geburt der Wis­sens­gesellschaft resümiert der Kunsthistoriker Peter Burke europäische Ideengeschichte mit einem Blick auf die Geschlechterfrage. Er arbeitet in einem Vergleich zweier Texte – Woman not Inferior to Man von einer anonymen Autorin (1739) und De l’Egalité des deux Sexes von François Poulain de la Barre (1673) – eine bemerkenswerte Kontinuität der Wissenssoziologie heraus, die zwischen Positionen der frühen Neuzeit und dem 20. Jahrhundert besteht.1 Sein Blick auf europäische Ideengeschichte ist nicht generell genderorientiert, und dennoch spielt die Geschlechterfrage eine prominente Rolle. Und dies, obwohl es in der wissenssoziologischen Kontinuität, der Bezugnahme auf bereits vorher Gedachtes, keine Kontinuität im Diskurs der Geschlechter gibt. Im Weiterreichen der Idee einer prinzipiellen und voraussetzungslosen Gleichheit aller Geschlechter bleiben zumeist Männer unter sich. Wie Gerda Lerner in ihrem Grundlagenwerk The Creation of Feminist Consciousness herausarbeitet, haben Frauen zwar in unterschiedlichen Ländern und zu unterschiedlichen Zeiten an demselben ideengeschichtlichen roten Faden weitergesponnen und dadurch am Denkprozess prägenden Anteil, dabei aber voneinander kaum oder gar keine Kenntnis gehabt: It is interesting to note that individual women thinkers in different countries and at different times proceeded along similar intellectual routes in developing their arguments for the equality and emancipation of women. Yet they hardly ever based their work on that of another woman […].2

Wie schade, denkt man unwillkürlich, denn die geschichtliche Kontinuität der Idee leuchtet in historischer Perspektive in schillernden Farben und hätte die einzelnen Denkerinnen mit ihrem Licht bestrahlen und bestätigen können. Diese geschichtliche Kontinuität der Idee, die immer in eine Diskontinuität des Kontextes eingebettet ist, bildet den Hintergrund, vor dem sich aktuelle 1 Peter Burke, Papier und Marktgeschrei. Die Geburt der Wissensgesellschaft, Berlin 2000, S. 248. 2 Gerda Lerner, The Creation of Feminist Consciousness. From the Middle-Ages to Eighteenseventy, New York, Oxford 1993, S. 139.

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Bemühungen um das Wiedererinnern der kulturellen Leistungen von Frauen ebenso vollziehen wie weitergeführte Bestrebungen, nicht nur Weiblichkeitsbilder zu generieren, sondern die Definitionen dessen, was Weiblichkeit meint, den Frauen selbst zu überlassen und Netzwerke mit Definitionshoheit für Frauen zu öffnen. Hierbei ist immer auch ein Rückgriff auf die Geschichte dessen sinnvoll, was in verschiedenen Kontexten im Wesentlichen dasselbe meint: „Querelle des femmes“, „The Woman Question“ oder „Die Frauenfrage“. Es gibt hier keine absoluten Anfänge oder Endpunkte, sondern das immer wieder neu und anders formulierte Herantreten an dieselbe Frage. Es ist dieser historische Kontext, in dem Beatrix Borchards inspirierende Arbeiten zu Hause sind, sie ist eine dame de lettres, deren Stimme Gewicht hat. „Querelle des femmes“, „The Woman Question“ oder „Die Frauenfrage“ „Querelle des femmes“ ist ein Ausdruck, der das erste Mal 1440 in Martin Le Francs Le Champion de Dames Verwendung findet und seitdem kontinuierlich eingesetzt wird für die europäische Debatte um die Geschlechter, die öffentlich in Wort und Bild ausgetragen wird – oft auch um Wort und Bild. Die Anfänge des Begriffs liegen in einem der zentralen Texte des Mittelalters, dem im 13. Jahrhundert entstandenen Rosenroman und drehen sich ausschließlich um Geschlechterfragen wie gleicher Zugang zu Bildung und politischer Partizipation, Mode und Benimmregeln, das Recht der Frau auf selbstbestimmten Umgang mit dem eigenen Körper, Bewertungen der Ehe. Christine de Pizan ist um 1400 in der ansonsten ausschließlich von Männern geführten Geschlechterdebatte aktiv und entwirft u. a. einen fiktiven Rosenorden, der Frauen gegen misogyne Angriffe schützen sollte. An der „Querelle des femmes“, die hier das erste Mal einen literarischen Kontext für eine soziale Frage konstruiert, sind seit dem 16. Jahrhundert verstärkt auch Schriftstellerinnen und Künstlerinnen (Moderata Fonte, Lucrezia Marinella, Artemisia Gentileschi, Marie de Gournay, Anna Maria van Schurmann) aktiv und formen in Europa den „Salon“ als einen zentralen Ort von „Querelles des femmes“. Die an der Geschlechterdebatte beteiligten Männer beziehen sowohl frauenfeindliche (Gratien du Pont) als auch frauenfreundliche (Agrippa von Nettesheim, Georg Christian Lehms und De l’Egalité des deux Sexes von François Poulain de la Barre von 1673) Positionen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert wird der Begriff „Woman Question“ im viktorianischen Amerika eingeführt und etabliert damit eine amerikanische Variante der „Querelle des femmes“, die auf sozialen Wandel abzielt und deren Argumentationsmuster sich aus der Bibelexegese speisen. In Europa erlebt um 1900 die Geschlechterdebatte im Kontext eines modernen

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Feminismus einen neuen Aufschwung. Unter den neuen Rahmenbedingungen, in denen Männlichkeit und männliche Geschlechterrollen gleichermaßen in den Blick genommen werden, ist die Kernfrage der „Querelle des femmes“ weiterhin die Stellung der Frau, und eine Kontinuität der Idee bringt trotz der Diskontinuität des Kontextes ans Licht, dass auch Gender Studies Teil der Frauenfrage sind – ob sie wollen oder nicht. Nahaufnahme: Christine de Pizan mischt sich ein (1405) Mitten im Hundertjährigen Krieg tritt in Europa eine Frau an die Öffentlichkeit, die einen bis dahin unbekannten Frauentypus symbolisiert: Sie lebt als Schriftstellerin von ihrer Feder, lässt als Unternehmerin ihre eigenen Schriften illustrieren, entdeckt für sich Schriftsteller und Philosophen der Antike und arbeitet als Historikerin und Chronistin an einem europäischen Königshof, hochangesehen in Kreisen des europäischen Adels der Zeit. Sie schreibt über Beziehungen von Männern und Frauen, äußert sich zur Männer- und Frauenbildung, zu politischen Verhältnissen und zu philosophischen Fragen. Christine de Pizan (um 1364 – um 1430) mischt sich, wie bereits erwähnt, in die Debatte um den Rosenroman ein,3 und konzentriert sich in ihrer Argumentation von Anfang an auf beide Geschlechter. Sie ist eine Feministin und Genderexpertin gleichermaßen. Ihr zentrales Anliegen ist es, die Gleichwertigkeit beider Geschlechter im Allgemeinen und die Würde der Frauen im Besonderen emblematisch zu zeigen. Dies gilt besonders für ihren Prosatraktat Das Buch von der Stadt der Frauen, der zwischen Dezember 1404 und April 1405 entstanden ist und eine neuartige Verbindung von Raum, Körper und Macht zur Diskussion stellt: Christine de Pizan ist die erste Schriftstellerin und Philosophin, die mit ihrer Frauenstadt einen ausschließlich von Frauen erbauten und bewohnten Ort imaginiert und in Worten konstruiert. Diesen versteht sie als eine räumliche wie auch philosophische Entgegnung auf all jene ‚Häuser‘ der (Kunst-, Musik-, Literaturund vieler anderer) Geschichte(n), die allein von Männern bevölkert und allein auf deren Bedürfnisse zugeschnitten scheinen.4

3 Margarete Zimmermann, ‚Wirres Zeug und übles Geschwätz‘. Christine de Pizan über den Rosenroman, Frankfurt a. M. 1993. 4 Margarete Zimmermann, Annette Kreutziger-Herr, „History|Herstory: Musikgeschichte, Repräsentation und tote Winkel“, in: History|Herstory: Alternative Musikgeschichten, hrsg. von Annette Kreutziger-Herr und Katrin Losleben, Köln, Weimar 2009, S. 4 f.

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In ihrem Text reagiert sie auf die misogyne Haltung des Rosenromans und die Herabsetzung des weiblichen Geschlechts, ihr Anliegen sind die Darstellung von Intelligenz, Intellekt und Größe beider Geschlechter. Ihr Argumentationsweg funktioniert über die literarisch überhöhte sokratische Methode und ihre Sprache ist direkt und von poetischer Kraft. So fragt Christine bzw. ihr literarisches Ich in der Stadt der Frauen: Gott hat wahrhaftig Erstaunliches über die Kraft jener Frauen, von denen Ihr erzählt, offenbart. Aber ich bitte Euch, klärt mich auch in einer anderen Hinsicht auf: hat es eigentlich jenem Gott, der den Frauen so zahlreiche Begünstigungen gewährte, auch gefallen, einige von ihnen mit überlegener Intelligenz und großer Gelehrsamkeit auszuzeichnen? Außerdem: sind sie überhaupt genügend intelligent für solche Dinge?

Die Vernunft antwortet: Tochter, noch einmal sage ich dir mit allem Nachdruck: wenn es üblich wäre, die kleinen Mädchen eine Schule besuchen und sie im Anschluss daran, genau wie die Söhne, die Wissenschaften erlernen zu lassen, dann würden sie genauso gut lernen und die letzten Feinheiten aller Künste und Wissenschaften ebenso mühelos begreifen wie jene. Zudem gibt es ja solche Frauen.5

In Bezug auf den Umgang mit herabsetzenden Argumenten wendet sie das Mittel der Quellenkritik an und kontextualisiert zur Herabsetzung von Frauen verfasste Pamphlete. Allegorisch belehrt erneut Frau Vernunft die Protagonistin: Es hat außerdem den Anschein, dass für dich jede Äußerung eines Philosophen den Status eines Glaubensgrundsatzes hat und du es für ausgeschlossen hältst, dass auch sie irren könnten. Was die Dichter angeht, von denen du sprichst: weißt du denn nicht, dass sie schon oft nichts anderes als Ammenmärchen verbreitet haben und zuweilen das Gegenteil von dem meinen, was sie in ihren Schriften kundtun? Aber man bekommt sie mit Hilfe einer rhetorischen Figur zu fassen, die ‚Antiphrase‘ heißt; wie du weißt, bezeichnet sie den Sachverhalt, dass man jemanden als schlecht bezeichnet, in Wirklichkeit aber meint, er sei gut und umgekehrt. […] Denn eines musst Du wissen: alle Bosheiten, die allerorts über die Frauen verbreitet werden, fallen letzten Endes auf die Verleumder und nicht auf die Frauen zurück.6

Léon Abensour zeigt in seiner frühen Geschichte des Feminismus, welch unerhörte Neuheit Christine de Pizans Verteidigung der Frauen für ein zutiefst 5 Christine de Pizan, Das Buch von der Stadt der Frauen, aus dem Mittelfranzösischen übersetzt, mit einem Kommentar und einer Einleitung versehen von Margarete Zimmermann, Berlin 1986, S. 94 (aus Kapitel XXVII). 6 Ebd., S. 39 (aus Kapitel II).

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kirchlich geprägtes Zeitalter ist. Denn als die Protagonistin des Romans die Fülle falscher Anklagen bedenkt und in Trauer versinkt, erscheinen ihr als drei Unterstützerinnen nicht etwa die Jungfrau Maria, der Glaube oder die Barmherzigkeit, sondern „die drei hohen Frauen“ Gerechtigkeit, Rechtschaffenheit und Vernunft. Das Anliegen einer Gleichheit beider Geschlechter wird von Christine de Pizan im ausgehenden Mittelalter mit aufklärerischem Scharfblick fest auf der Erde verankert, in dieser Welt allein, so ihre Forderung, muss und kann sich Gleichheit verwirklichen. Ihr Appell richtet sich also an keine übergeordnete Macht, sondern rechnet mit der Vernunft und appelliert an Einsicht, Eleganz und menschliche Würde.7 Nahaufnahme: Sarah Grimké mischt sich ein (1837) In der zweiten Nahaufnahme wechseln wir in die USA und nähern uns den Vorboten der US-amerikanischen „Querelle des femmes“, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als „The Woman Question“ bezeichnet werden und in die Suffragettenbewegung münden wird. Eine US-amerikanische Version der „Querelle des femmes“ ist im 19. Jahrhundert ohne eine Auseinandersetzung mit der zentralen Autorität des öffentlichen Diskurses, der Bibel, nicht vorstellbar. Sie bildet das Feld, auf dem intellektuelle Debatten ausgetragen und liberale von konservativen Positionen unterschieden werden.8 Im Unterschied zu Europa begannen amerikanische Frauen deutlich früher, Öffentlichkeit für die zeitlose Idee einer Gleichheit der Geschlechter zu gewinnen und das traditionell männlich besetzte Gebiet der Theologie aufzugreifen. Sie drangen dabei nach und nach ins Allerheiligste vor: In die publizierte Kritik an gängigen Lesarten der Genesis. Dabei ragen die Texte von Sarah Grimké (1792–1873) heraus, sie sind der erste große Versuch einer Amerikanerin, den Mythos von Adam und Eva neu zu lesen, die Genesis zu interpretieren und aus der Interpretation Funken zu schlagen für die Frauenbewegung. In Grimkés Leben spielte dabei ein Weg durch die verschiedensten protestantischen Denominationen eine ebenso bedeutsame Rolle wie ihr En7 Léon Abensour, Histoire générale du féminisme, des origines à nos jours, Paris 1921, S. 124– 146. 8 Martin E. Marty, Pilgrims in their own land. 500 years of Religion, Boston, Toronto 1984, S.  297. Vgl. dazu Annette Kreutziger-Herr, „Sola scriptura: Genesisinterpretation, christliche Anthropologie und Feminismus im viktorianischen Amerika“, in: Glaube und Geschlecht: Fromme Frauen, Spirituelle Erfahrungen, Religiöse Traditionen, hrsg. von Ruth Albrecht, Annette Bühler-Dietrich und Florentine Strzelczyk, Köln, Weimar 2008, S. 101–121.

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gagement in der „American Antislavery Society“, für die sie öffentlich eintrat. Ihr öffentliches Predigen, das zu jener Zeit Frauen nicht gestattet war, ruft heftigen Widerstand hervor, und am 11. Juli 1837 publiziert sie ihren ersten von insgesamt fünfzehn Letters on the Equality of the Sexes, die in der abolitionistischen Zeitung The Liberator erscheinen. Die theologische Argumentation war eine Antwort auf direkte Repression und erklärt den radikalen Ton in ihren Texten, gleichzeitig wählt sie ein für den Viktorianismus typisches Genre: den Brief. Sarah Grimké schreibt aus einem konservativen christlichen Umfeld heraus und ist der Überzeugung, dass der biblische Text etwas Heiliges, aber durch menschliche Fehler Entstelltes ist. Sie insistiert auf ihrem Recht als Individuum, einen direkten Bezug zu den Texten herzustellen und sich in ihren Lesarten nicht von Kirche oder Kanzel beeinflussen zu lassen. Es ist ihr Anliegen, die Bedeutung der Bibeltexte selbst herauszufinden: … I also claim to judge for myself what is the meaning of the inspired writers, because I believe it to be the solemn duty of every individual to search the Scriptures for themselves, with the aid of the Holy Spirit, and not to be governed by the views of any man, or set of men. We must first view woman at the period of her creation. […] In all this sublime description of the creation of man, (which is a generic term including man and woman), there is not one particle of difference intimated as existing between them. They were both made in the image of God; dominion was given to both over every other creature, but not over each other. Created in perfect equality, they were expected to exercise the vicegerence intrusted to them by their Maker, in harmony and love.9

Im weiteren Verlauf wendet sie sich dem Sündenfall zu und begründet Evas Verhalten aus ihrer Unschuld und Unkenntnis heraus – sie war mit der Schlange mit einem Wesen konfrontiert, dass ihr bis dato nicht bekannt war, einer “satanic presence”10. Die in der theologischen exegetischen Literatur häufig konstruierte Gleichsetzung von Weiblichkeit und Schlange lehnt sie vollständig ab und verweist erneut auf den Text selbst, aus dem sie rhetorisches Potential für ihre Polemik zieht: Had Adam tenderly reproved his wife, and endeavored to lead her to repentance instead of sharing in her guilt, I should be much more ready to accord to man that superiority which he claims; but as the facts stand disclosed by the sacred historian, it appears to me that to say the least, there was as much weakness exhibited by 9 Sarah Grimké, Letters on the Equality of the Sexes and Other Essays, hrsg. von Elizabeth Ann Bartlett, New Haven, London 1988, S. 4. 10 Ebd., S. 6.

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Adam as by Eve. They both fell from innocence, and consequently from happiness, but not from equality.11

Textkritisch wendet sie den Bibeltext, der wie ein Grundgesetz eingesetzt wird, um das Predigtverbot für Frauen in protestantischen Gemeinden aufrecht zu erhalten. In ihrem fünfzehnten Brief vom 20. Oktober 1837 kommt sie erneut auf die Sündenfallfrage und das Schuldbewusstsein zurück und schreibt: Now, whether the fact, that Eva was beguiled and deceived, is a proof that her crime was of deeper dye than Adam’s, who was not deceived, but was fully aware of the consequences of sharing in her transgression, I shall leave the candied reader to determine.12

In ihrem ersten Brief hatte sie bereits ihre Argumentation mit einem an Luthers abschließenden Satz seiner Verteidigungsrede auf dem Reichstag zu Worms 1521 überhöhend beschlossen und damit der Bedeutung ihrer Argumentation reformatorische Kraft zu verleihen gesucht: Here then I plant myself. God created us equal; – he created us free agents; – he is our Lawgiver, our King and our Judge, and to him alone is woman bound to be in subjection, and to him alone is she accountable for the use of those talents with which her Heavenly Father has entrusted her. One is her Master even Christ. Thine for the oppressed in the bonds of womanhood. Sarah M. Grimké.13

Nahaufnahme: Elizabeth Higginbotham mischt sich ein (2008) Die dritte Nahaufnahme stellt den jüngsten Text einer führenden US-amerikanischen Soziologin vor. Elizabeth Higginbotham (geb. 1950) hat in den 1980er und 1990er Jahren auf den verschiedensten Foren ein „inclusive curriculum“ vorgeschlagen, und gegen Women’s Studies Programs argumentiert. Ihr Anliegen war stets, Frauenfragen in allen Bereichen akademischer Arbeit zu stellen, Gender als Basis-Kategorie allen Studierenden zu vermitteln und normale Universitätscurricula von Frauenfragen durchdringen zu lassen. Teil der Forderungen war Informationsgewinnung über die Unterschiedlichkeit weiblicher und männlicher Erfahrungen, die Entwicklung neuer Ansätze für Pädagogik und Didaktik und andere Formen von Seminaren und Seminar11 Ebd., S. 6 f. 12 Ebd., S. 96. 13 Ebd., S. 34.

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typen, um in einer geeigneten Atmosphäre Denk- und Erkenntnisprozesse sinnvoll anstoßen zu können. In ihrem jüngsten Beitrag schlägt sie vor, die Frauenfrage des 19. Jahrhunderts, die „Woman Question“, erneut in den Vordergrund zu rücken. Bereits ihr Titel lässt die Sprachmacht und rhetorische Kraft des Textes erahnen: “Reframing the discussion: How White male supremacy continues to obscure the reality of gender in higher education”14 Bereits zu Beginn integriert Higginbotham an prominenter Stelle ihre eigene Person: Listening to news commentaries and reading in detail about now former President Lawrence Summers’ comments on women and higher education […], I am reminded that he does not live in the world that I live in. That is not to say, that the world of a college president of an elite institution is altogether different from that of a professor in a highly reputable state institution or that speaking as a sociologist, I do not understand the world of a person whose training is in economics. I mean that as a White male from a comfortable, academically privileged background who is now quite wealthy, he does not walk in the world of an upwardly mobile Black woman – even one with some measure of middle class comfort. These are very different worlds. While I am not one of those ‘high-powered professionals’ in science and engineering, I can speak with authority of a different sort about the impact of being a member of two groups that have historically faced discrimination -- we could really say three -- since higher education has social class barriers that are very much present as well.15

Die Affäre um frauenfeindliche Äußerungen des Harvard-Präsidenten Lawrence Summers, die 2005 in amerikanischen Colleges und Universitäten für lebhafte Debatten sorgte (in die sich Tageszeitungen, Institutionen und Individuen, u. a. Nobelpreisträger Burton Richter einschalteten), ist der Ausgangspunkt für ihren Impuls, erneut die Frauenfrage zu stellen, und sie nicht hinter „Gender“ verschwinden zu lassen. Ihr Anliegen ist der realistische Blick auf Machtverhältnisse, auf „race“ und „class“, und die Erfahrungen im Implementieren von Frauenfragen im Basiscurriculum speisen den Text. Denn weiterhin geht es um ein ausbalanciertes Curriculum, und anders, als von ihr und anderen erwünscht, wurden Frauenfragen in die zahllosen Women’s Studies Programs verlagert, die jedes US-amerikanische College von Ruf zieren. Lawrence Summers hatte einen Zusammenhang von weiblichem Gehirn und der 14 Elizabeth Higginbotham, “Re-framing the discussion: how White male supremacy continues to obscure the reality of gender in higher education”, in: The ‘woman question’ and Higher Education. Perspectives on Gender and Knowledge Production in America, hrsg. von Ann Mari May, Cheltenham, Northampton 2008, S. 119–130. 15 Ebd., S. 119 f.

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Unterrepräsentanz von Frauen in naturwissenschaftlichen Fächern konstruiert und musste im Zuge des publizistischen Sturms zurücktreten.16 Elizabeth Higginbotham argumentiert, dass Lawrence Summers die falschen Fragen stelle, richtige Fragen drehen sich um Kontexte und soziale Realität, um reale Machtverhältnisse und Ausgrenzungsmechanismen: In thinking about women and higher education, there is more going on here than individual ability. College administrators have to start seeing the work that has been invisible for so long. Some institutions are more advanced than others in recognizing the complexity of integration, so we see women faculty moving to more welcoming institutions. A few women can indeed make choices, if they have them, to accept positions at institutions where they do less of the work of integrating and have more allies. It is in such settings that women are not only productive in their fields, but develop a voice to really make a contribution to gender equity in higher education.17

Die Publikation The ‘woman question’ and Higher Education. Perspectives on Gender and Knowledge Production in America, in der ihre vielbesprochene Replik auf Lawrence Summers erschien, umfasst Studien zur Aktualität der Frauenfrage in den USA und stellt die These in den Mittelpunkt, dass die „Woman Question“ des 19. Jahrhunderts im 21. Jahrhundert zurückgekehrt ist und erneut gestellt werden muss. Sie sei zurückgekehrt unter den Vorzeichen einer biologistischen Argumentation,18 die an Colleges und Universitäten zumindest in den USA dieselbe Meinungsführerschaft beansprucht, die im 19.  Jahrhundert die Prädestinationslehre beanspruchte: „A strong biological imperative has taken hold of intellectual life, and once again attention has shifted to bodies, not minds, social structures or rights.”19 In einer Besprechung des Buches unterstreicht die Kulturhistorikerin und Literaturwissenschaftlerin Julia Swindells: The essayists in this exhilarating collection, who speak from experience in a wide range of disciplines, have produced a manifesto for change in higher education, providing a political analysis of the production of knowledge in the US academy, together with strategies for challenging institutional sexism. There is also system16 Vgl. Keay Davidson, “Harvard president under microscope / Female scientists debate comments on gender science”, in: San Francisco Chronicle, 31.1.2005. Online verfügbar unter: http://articles.sfgate.com/2005-01-31/news/17357701_1_female-scientists-burtonrichter-girls, 5.5.2010. 17 Elizabeth Higginbotham, Re-framing the discussion (wie Anm. 14), S. 130. 18 Vgl. Dazu Annette Kreutziger-Herr, „Kritik an Gender Studies“, in: Lexikon Musik und Gender, hrsg. von Annette Kreutziger-Herr und Melanie Unseld, Kassel, Stuttgart 2010. 19 Helen Lefkowitz Horowitz, “The body in the library”, in: The ‘woman question’ and Higher Education (wie Anm. 14), S. 30.

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atic and fearless naming of universities (Pennsylvania, Harvard and the Bureau of International Research, California – Berkeley, Chicago) where the contribution of women researchers has been highly influential, even formative, but so often largely unacknowledged. But it would be a huge mistake to dismiss the commentary as peculiar to North America. Surely the same scrutiny is needed elsewhere, including Britain, in institutions with centuries of patriarchal infrastructure. […] Detractors will find all the supporting data that they might fear to see, as the authors have done their homework/housework and it is spotless. The opening statement of the acknowledgements can stand for the remainder of us – that in encouraging our academic interests, as a stimulus to creative energy, in making us laugh and in reminding us to hold on to that which we value most for women (and men) in higher education, there cannot be much improvement on this book.20

Von den Nahaufnahmen zum Weitwinkel Die Nahaufnahmen aus der reichen Geschichte der „Querelle des femmes“ zeigen eine Disparatheit der Kontexte, die sich über historischen Ort, Argumentationsfelder, biografische Konstellation bis hin zur verwendeten Textsorte und Argumentation erstrecken. Alle drei vorgestellten Autorinnen arbeiten mit Analogien und entnehmen diese Analogien ihrer Lebenswelt und ihrem Erfahrungshorizont. Aber die Kontinuität der Idee und die Kontinuität des Anliegens könnten nicht klarer sein. Es ist derselbe ideengeschichtliche Strang, den sie als Denkerinnen weiterführen. Die drei Autorinnen setzen sich damit auseinander, dass selbst gebildete Frauen – Frauen also, die die intellektuellen Mittel besitzen, um sich zu positionieren – im patriarchalischen Kontext eklatant im Nachteil sind. Über sie wird deutlich mehr gesprochen, als dass sie selbst Gehör finden. Die Autorinnen beobachten, dass Weiblichkeitsbilder konstruiert werden, auf die sie keinen Einfluss haben, die jedoch im gesellschaftlichen Kontext Gewicht besitzen. Im Allegorieverfahren nehmen sie dieses eklatante Missverhältnis, dass die Definitionshoheit zu Gunsten des Männlichen verschiebt, in den Blick und stellen es mit den Mitteln dar, die ihnen entsprechen, Argumentationswege, die typisch für ihre eigene Zeit sind. Bei Christine de Pizan ist es das bereits in Dantes Göttlicher Komödie angewendete Prinzip einer begleiteten Erkenntniserfahrung. Während Dante durch Hölle, Fegefeuer und Himmel mit Hilfe von Vergil und Beatrice wandert und Staunenswertes erfährt, wird Christine von Gerechtigkeit, Rechtschaffenheit 20 Julia Swindells, Rezension von The ‘Woman Question’ and Higher Education (vgl. Anm. 18), in: Times Higher Education, 3.7.2008, online vergfügbar unter: http://www. timeshighereducation.co.uk/story.asp?storyCode=402570§ioncode=26, 5.5.2010.

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und Vernunft geleitet. Die führenden „Individuen“ sind unantastbare Autoritäten. Margarete Zimmermann kommentiert: Christine de Pizan imaginiert mit ihrer Frauenstadt auch einen Ort der Befreiung von Fremdbildern und als eine allein von Frauen bewohnbare Stadt, deren ‚Baumaterial‘ erzählende Texte sind – Exempla, die Beispielgeschichten vorbildlicher Frauen.21

Sarah Grimké nimmt den Mythos des Sündenfalls auseinander und wagt sich direkt in die Höhle des Löwen vor, in das spätestens seit Albertus Magnus und Thomas von Aquin rücksichtslos eingesetzte und wirkungsmächtigste Unterdrückungsinstrument, um Frauen von Bildung, Einfluss und theologischer Praxis fern zu halten. Sie analysiert textkritisch und argumentiert exegetisch für eine gleichwertige Würde beider Geschlechter. Elizabeth Higginbotham hat als Professorin des 21. Jahrhunderts anders als die beiden anderen zitierten Beispiele Kenntnis über die lange Geschichte der Auseinandersetzung von Frauen mit dem patriarchalen System und argumentiert in ihrem Text auch mit Hilfe ihrer eigenen Erfahrung als schwarze Frau, die an einer USamerikanischen Institution (University of Delaware) forscht und lehrt. Ihre Stilmittel sind die Anapher und die Emphase, und die biografische Konstellation, die sie in die Waagschale wirft, verleiht ihrem Argument Authentizität und Zuspitzung. Ihr über viele Jahre verfolgtes Anliegen, Frauenfragen mitten hinein in das akademische Curriculum zu tragen und weiterhin festzustellen, dass „white males“ die Definitionshoheit nicht aus der Hand geben, transformiert in ihrem jüngsten Text zum Appell. Aus den drei Texten leite ich diese Einsichten ab: Eine Transformation des Denkens ist nicht vollständig, wenn sie nicht zu einer Transformation des Handelns führt. Theorie und Praxis gehören zusammen. Ein umgestaltetes akademisches Curriculum, das analog der Überlegungen von Marilyn Schuster und Susan Van Dyne Frauen- und Männererfahrungen22 gleichermaßen einbezieht, ist ebenso notwendig wie das Bemühen um konkrete Maßnahmen, die Frauen in den Stand setzen, ihre eigene Stimme zu erheben und „die unsichtbaren Frauen“ sichtbar zu machen – auf allen Ebenen der gesellschaftlichen Auseinandersetzung. An diesem Punkt verhalten sich Curriculum und Lebenspraxis wie Henne und Ei. Denn sowohl zur Pizan-Zeit als auch zur 21 Margarete Zimmermann, „Ein Buch mit Folgen: Christine de Pizans Stadt der Frauen“, in: History|Herstory (wie Anm. 4), S. 5. 22 Marilyn Schuster und Susan Van Dyne, “Placing Women in the Liberal Arts: Stages of Curriculum Transformation”, in: Harvard Educational Review 54 (1984), H. 4, S. 413– 428. Wiederabdruck in: Annette Kreutziger-Herr, „Musikgeschichte, Repräsentation und tote Winkel“, in: History|Herstory (vgl. Anm. 4), S. 45.

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Higginbotham-Zeit sind Frauenfragen Menschheitsfragen, auch wenn die nicht enden wollende „Querelle des femmes“ anderes suggerieren. Für musikwissenschaftliches Arbeiten bedeutet dies im Kontext von europäischer Tradition und des in Europa gewachsenen und immer wieder neu konstruierten engen Zusammenhangs von Musik und politischem Handeln, dass das hartnäckige Bemühen um einen „inklusiven Kanon“ auch eine politische Dimension hat. Die Fortschreibung von Setzungen wird mit einer Verstetigung der Genderperspektive in den historischen Wissenschaften und einer Fortführung von Gleichstellungsbemühungen beantwortet werden müssen. Eine Verstetigung der Genderperspektive in den historischen Wissenschaften ist gleichbedeutend mit einem Modernisierungsschub und ist ohne Gleichstellung nicht zu haben. Gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Fortschritt gibt es nicht zum Nulltarif. Für die Gender Studies bedeutet es, die Leitidee niemals aufzugeben: den Objektivitätsanspruch von Wissenschaft zu befragen und nicht müde zu werden, darauf hinzuweisen, dass akademisches Wissen nicht nur Freiheit bedeutet, sondern auch Teil einer Machtordnung ist und herrschende Tabus produziert.23 Denn auch im akademischen Bereich fahren Männer per Geburt weiterhin eine „patriarchale Dividende“ ein, ob sie wollen oder nicht.24 Die „Frauenfrage“ steht also weiterhin mitten in einem veränderten öffentlichen Raum und die „Querelle des femmes“ ist nirgendwo beendet. Dies bedeutet aber auch aus der Perspektive einer Historikerin, dass es zu allen Zeiten kluge Frauen geben wird, die sich eloquent in die Debatten einmischen werden, egal, ob sie zum Gespräch gebeten wurden oder nicht. In einem Cartoon aus dem New Yorker Magazine wird die Frage nach der öffentlichen Präsenz von Frauen so formuliert: „The question of tonight’s discussion is: Why are there no women on this panel?“25 Hier sind Facetten der „Querelle des femmes“ (oder der „Woman Question“ oder „Frauenfrage“) eingefangen und auf die Vergangenheit allegorisch übertragbar. Gleichzeitig ist das befreite Lachen, das das Betrachten und Verstehen dieses Cartoons begleitet ebenso neu wie die Fragestellung selbst. Aber die wiederum speist sich aus einer ganz alten Idee, deren Ursprünge nicht auszumachen sind. Denn was für seriöse Forschung gilt, gilt auch für seriöses Denken: Es kennt keine

23 Franziska Schößler, „Gender Studies und die Wissenschaften“, in: dies., Einführung in die Gender Studies, Berlin 2008, S. 17. 24 Raewyn Connell, Gender, Cambridge 2009, S. 142. 25 http://www.cartoonbank.com/November-16-2009/The-subject-of-tonights-discussionis-why-are-there-no-women-on-this-panel/invt/133877, 8.5.2010.

Diskontinuität des Kontextes, Kontinuität der Idee

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absoluten Anfänge,26 und eine Idee ist deshalb so kraftvoll und unüberwindlich, weil sie keine Ausgangspunkte im historischen Verlauf besitzt, sondern historische Verläufe ihrerseits nur Annäherungsprozesse an die Idee sind. Die Idee selbst bleibt zeitlos. Und wartet weiterhin auf ihre vollständige und uneingeschränkte Umsetzung.

26 Martina Löw, „Richtig ist: In seriöser Forschung gibt es keine absoluten Anfänge“, in: Martina Löw, Soziologie der Städte, Frankfurt a. M. 2008, S. 40.

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Ewig weiblich, ewig drehend? Das Mädchen am Spinnrad – ein Topos in Literatur und Musik des 19. Jahrhunderts* Derzeit steht ein weitgehend unbekanntes Werk der Sängerin und Komponistin Pauline Viardot im Zentrum meiner wissenschaftlichen Arbeit, die Opérette de salon Le dernier sorcier, Libretto von Ivan Turgenev (UA BadenBaden, 1867).1 Ein Lied der weiblichen Hauptfigur Stella, in dem sie vom Frühlingserwachen der Natur und einer beunruhigenden inneren Stimme singt, ist überschrieben mit Chanson du rouet, Lied des Spinnrads. Die musikalische Klavierbegleitung scheint sich mit stapfenden Albertibässen in der linken Hand und einer um den Grundton kreisenden Drehfigur in Endlosschleife in der rechten Hand förmlich um sich selbst zu winden. Das Bild eines heimlich liebenden Mädchens, das am Spinnrad sitzt und singt, kombiniert mit dieser Art ‚kreisender‘ Musik, war mir offenbar so selbstverständlich vertraut, dass mir zunächst nichts Besonderes daran auffiel. Doch dann konkretisierte sich die Quelle der unmerklichen Vertrautheit: Trotz des Kontextes einer Komödie und der entsprechenden heiter-harmlosen Grundstimmung könnte die Anspielung auf Goethes Gretchen am Spinnrade im ersten Teil der Faust-Tragödie und auf die Vertonung ihrer ergreifenden Verse durch Franz Schubert eindeutiger nicht sein, zumal sich im Sorcier bei genauerem Hinsehen noch etliche weitere intertextuelle Bezüge zu Goethes Faust finden lassen.2

* Für die sorgfältige Lektüre des Manuskripts und zahlreiche wertvolle Hinweise danke ich meiner Kollegin Silke Wenzel, Hamburg, und Ursula A. Schneider, Brenner-Archiv, Universität Innsbruck. 1 Eine längere Studie mit dem Arbeitstitel „Freiraum und Spielraum. Die Opérette de salon Le dernier sorcier (1867/1869) von Pauline Viardot und Ivan Turgenev“ entsteht im Rahmen des DFG-Projekts „Orte und Wege europäischer Kulturvermittlung durch Musik. Die Sängerin und Komponistin Pauline Viardot (1821–1910)“, Hochschule für Musik und Theater Hamburg, Leitung: Beatrix Borchard. Eine Website zum Forschungsprojekt ist online verfügbar unter: http://www.viardot.de. 2 Le dernier sorcier enthält zahllose Anspielungen auf Werke wie Shakespeares Sommernachtstraum oder Mozarts Zauberflöte u. v. m. Die Faust-Bezüge wurden bislang in der

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Abb. 1  Pauline Viardot, Chanson du rouet, Anfang (nach der autografen Partitur in Houghton Library, Harvard University, b MS MNS 232 (52)).

Aber wieso sitzen Gretchen und Stella eigentlich am Spinnrad? Dramaturgische Notwendigkeiten gibt es dafür im Faust nicht und in Le dernier sorcier werden sie – immerhin – etwas bemüht hergestellt. Diente das Spinnrad also in beiden Fällen vielleicht als Symbol? Mit einer Motivgeschichte zum Mädchen am Spinnrad ließe sich ohne weiteres ein dickes Buch füllen. An dieser Stelle mögen erste Funde, Beobachtungen, Deutungen mit einer gewissen Bevorzugung des deutschen Sprachraums und des 19. Jahrhunderts die Spannweite der Thematik andeuten.3 Ob in der griechisch-römischen Mythologie, ob im Alten Testament der Bibel, ob im Volkslied oder im Märchen: Das Bild des Spinnens – und zwar sowohl rekurrierend auf das Fäden ziehende und Netze webende Spinnentier als auch auf die Handarbeit mit Spindel oder Spinnrad – zieht sich wie ein Forschungsliteratur noch nicht berücksichtigt; sie werden von mir in der in Anm.  1 genannten Studie ausführlich untersucht. 3 Siehe auch Anm. 16.

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‚roter Faden‘4 durch die Texte, die wir als unser Kulturgut begreifen. Es ist in der europäischen Geistesgeschichte und Kultur fest verankert und scheint von einer Symbolkraft, die – ähnlich wie etwa das Bild des Sensenmannes oder Schnitters für den Tod – über Jahrhunderte nichts an elementarer Archaik und Aussagekraft verloren hat.5 Zahlreiche noch heute gängige Redensarten und bildhafte Begriffe haben ihre Wurzeln in diesen alten Bildern und zeigen, wie eng unser Denken und unsere Vorstellungen – jedenfalls im deutschsprachigen Raum – noch immer mit ihnen ‚verwoben‘ sind. Dabei ist das Bild des Spinnentiers kaum von der Handarbeits-Metaphorik zu trennen, und auch diese Verbindung ist bereits in der antiken Mythologie verwurzelt, im Mythos der Spinnerin und Weberin Arachne. Arachne fordert Pallas Athene, Göttin des Kriegs, der Wissenschaften, der Künste und des Handwerks, zu einem Web-Wettkampf heraus, weil sie Athenes göttliche Vorrangstellung nicht anerkennen will. Die Sterbliche Arachne gewinnt zwar den Wettkampf, jedoch wird sie zur Strafe für die Auflehnung gegen die Göttin von dieser in eine Spinne verwandelt.6 Es fällt auf, dass die Metaphorik des Spinnens mit erstaunlicher Kontinuität weiblich besetzt ist; schon in den entsprechenden antiken Mythen sind fast ausschließlich Frauen die Akteurinnen. Das berühmteste Beispiel einer Erzählung von einem Mann am Spinnrad zeigt diesen als entwürdigt und seiner Männlichkeit beraubt (während Arachne über eine gewisse, wenn auch endliche Macht verfügt): Es trifft ausgerechnet den Halbgott Herakles, Inbegriff von Heldentum und Männlichkeit. Er wird als Sklave an die lydische Königin Omphale verkauft, die sich in ihn verliebt und ihn heiratet. Doch in der sexuellen Verbindung zu Omphale verfällt Herakles in blinde Liebe und Abhängigkeit, und Omphale gewinnt wiederum Macht über ihn. Den Helden nun verachtend, kleidet sie sich in seine Löwenhaut, gibt ihm dagegen Frauenkleider und lässt ihn spinnen. Der Zeussohn ist auf dem Tiefpunkt seiner Vita angelangt…7 4 Dieses Bild geht nicht auf den Ariadne-Mythos zurück, wie vielfach angenommen, sondern es stammt aus Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften (1809). In dem Roman wird die alles verbindende Hauptidee im Tagebuch Ottilies mit dem durchlaufenden roten Faden im Tauwerk der britischen Marine verglichen, der die Taue als Eigentum des Königreichs kennzeichnen sollte (siehe 2. Teil, 2. Kapitel). 5 Vgl. hierzu und zum folgenden Überblick: Ekkehard Martens, Der Faden der Ariadne. Über kreatives Denken und Handeln, Stuttgart 1991, hier S. 7–13. 6 Ovid, Metamorphosen, Sechstes Buch, Verse 1 ff. 7 Vgl. Gustav Schwab, Die schönsten Sagen des klassischen Altertums, 1838–1840, Stuttgart 1986, S. 209 f.

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Auf der Bedeutungsebene erweist sich die Metaphorik des Spinnens ursprünglich als vielschichtig; sie deckt verschiedene Themen und Lebensbereiche ab, die sowohl in der antiken Mythologie als auch im jüdisch/christlich geprägten Zusammenhang zu finden sind. Am seidenen Faden hängen In dieser Bedeutung hat die Metapher des Spinnens ähnlich elementaren Charakter wie die des Schnitters, steht der Spinnfaden doch häufig als Sinnbild für den Lebensfaden, für das Schicksal des Menschen und erinnert an die Vergänglichkeit menschlichen Daseins. Die drei Schicksalsgöttinnen der antiken Mythologie – Klotho, die Spinnerin, Lachesis, die Zuteilerin und Atropos, die Unabwendbare8 – haben die Macht über Leben und Tod, indem sie den Lebensfaden eines jeden Menschen spinnen, seine Länge bemessen und ihn am Ende abschneiden. Auch im Alten Testament ist der Spinnfaden respektive das Spinnennetz als Bild für die Vergänglichkeit des irdischen Lebens und die Vergeblichkeit menschlichen Tuns und Hoffens zu finden.9 Hier erhält das Bild zusätzlich einen moralischen Tenor, sind doch nur die ‚Gottlosen‘ von Sterblichkeit betroffen, während die Gläubigen ewiges Leben erwarten dürfen. Vom Leitfaden zum Hirngespinst Den Faden verlieren, sich verhaspeln, Seemannsgarn spinnen – eine weitere Bedeutung ist die des kreativen Denkens und Sprechens. Das Bild des beim Handspinnen reißenden oder beim Haspeln sich verheddernden Fadens liegt nah, aber meist wird diese Bedeutungsebene mit dem Mythos der Ariadne in Zusammenhang gebracht. Sie verliebt sich in Theseus und stattet ihn mit einem Faden aus, bevor er sich in das Labyrinth ihres Vaters Minos begibt, um den dort hausenden Minotauros zu bezwingen. Der am Eingang festge8 So die Namen der Moiren, Töchter des Zeus und der Themis in der griechischen Mythologie. Vergleichbare Schicksalsgöttinnen gibt es auch in der germanischen (Nornen), der römischen (Parzen), der keltischen (Matronen) und der slawischen Mythologie (Zorya). 9 „So enden alle, die Gott vergessen, des Ruchlosen Hoffen wird zunichte. Ein Spinngewebe ist seine Zuversicht, ein Spinnennetz sein Verlaß“ heißt es in Hiob 8, 13–14 (zit. nach der Einheitsübersetzung, erschienen bei Herder, Freiburg, Basel, Wien 1980). Vgl. auch Jesaja 59, 5–6.

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knüpfte ‚Ariadnefaden‘ (der Vernunft) ist das genial einfache – und einzige – Hilfsmittel, sich im Labyrinth (des Denkens oder des Lebens) zurechtzufinden bzw. unbeschadet wieder hinauszufinden.10 „Spindel, Spindel, geh du raus, bring den Freier in mein Haus“11 Wie in den vorangehenden Beispielen ersichtlich, sind Handarbeiten wie Spinnen und Weben sowohl in der antiken Mythologie als auch im Alten Testament fast ausschließlich den Frauen zugeordnet und werden insofern auch zum Bild für Weiblichkeit im Allgemeinen und weibliche Tugend und weiblichen Fleiß im Besonderen.12 In diesem Zusammenhang verliert sich allerdings die Verknüpfung mit weiblicher Macht: Odysseus’ treue Gattin Penelope webt, während sie nach dem Ende des Kriegs um Troja auf ihren irrfahrenden Gatten wartet, unaufhörlich an einem Leichentuch für den alten Vater Odysseus’, um zahllose Freier von sich fernzuhalten. Als sie einen Sänger bittet, andere Lieder als die von der traurigen Heimkehr der Griechen aus Troja zu singen, die sie an den Verlust ihres Gatten erinnern, weist ihr Sohn Telemachos sie zurecht, dass sie nicht die einzige sei, die einen Verlust zu beklagen habe, und stellt zugleich die Machtverhältnisse klar: Nicht Odysseus allein verlor den Tag der Zurückkunft Unter den Troern; es sanken mit ihm viel andere Männer. Aber gehe nun heim, besorge deine Geschäfte, Spindel und Webestuhl, und treib an beschiedener Arbeit Deine Mägde zum Fleiß! Die Rede gebühret den Männern, Und vor allen mir; denn mein ist die Herrschaft im Hause!13

Unverschlüsselt und als moralische Forderung formuliert findet sich das fleißige Spinnen und Weben als Merkmal der guten (Ehe-)Frau im Alten Testament in den Sprüchen Salomos unter der Überschrift „Das Lob der tüchtigen Frau“, denn diese versieht nicht nur Heim und Herd, sondern sie stellt auch 10 Auch in Grimms Märchen findet sich das Bild von einem sich abrollenden Wollknäuel, dessen Faden einen geheimen Weg weist: „Die sechs Schwäne“, in: Brüder Grimm, Kinder- und Hausmärchen (im Folgenden: KHM), Nr. 49 (= Grimm, KHM 49), hier benutzte Ausgabe: München 1993. 11 Aus dem Märchen Spindel, Weberschiffchen und Nadel (Grimm, KHM 188). 12 Vgl. Ulrike Claßen-Büttner, Spinnst Du? – Na klar! Geschichte, Technik und Bedeutung des Spinnens von der Handspindel über das Spinnrad bis zu den Spinnmaschinen der Industriellen Revolution, Norderstedt 2009, S. 26. 13 Homer, Odyssee in der Übersetzung von Johann Heinrich Voß (1781), Erster Gesang, Verse 354–359, zit. nach der Ausgabe: Frankfurt a. M. 1990.

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warme Kleidung her: „Sie sorgt für Wolle und Flachs und schafft mit emsigen Händen. […] Nach dem Spinnrocken greift ihre Hand, ihre Finger fassen die Spindel. […]“14 Vom Werkzeug zur Dekoration zum Symbol Während in den Texten der antiken Mythologie und des Alten Testaments also eine gewisse Vielfalt an Bildern und Bedeutungen rund um das Spinnen zu finden ist, scheint sich die Metaphorik später auf die Handarbeitsthematik und damit auf das Weiblichkeitsbild zu beschränken. Durch die Mechanisierung des Spinnens und Webens im Zuge der Industriellen Revolution, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Bereich der Textilindustrie begann, wandelte sich das Spinnen und Weben von Hand von einer notwendigen Alltagsarbeit und einem Wirtschaftsfaktor allmählich zur häuslichen Handarbeit für den Eigenbedarf, zur Freizeitbeschäftigung für wohlhabende Damen, und schließlich geriet es ganz in Vergessenheit. Bilder – von Grafik und Gemälde über das Postkartenmotiv zum Familienfoto – von Frauen oder Mädchen mit einem Spinnrad sind zwar im 19. Jahrhundert weit verbreitet, sie zeigen jedoch das Spinnrad meist als Dekoration, nicht als Werkzeug. Die Bilder verraten, dass die richtige Handhabung eines Spinnrads nicht mehr bekannt war.15 Der Rekurs auf die Handspinnerei in bildender Kunst und Dichtung ist im 19. Jahrhundert längst als Nostalgie zu werten, was im Zusammenhang mit der bürgerlichen Moral möglicherweise die Einengung der Bedeutung dieser Metaphorik mit bedingte. Ganz gleich, ob wir die Kinder- und Hausmärchen der Gebrüder Grimm oder eine der Volksliedsammlungen des 19. Jahrhunderts wie etwa die Liedersammlung Des Knaben Wunderhorn von Achim von Arnim und Clemens Brentano aufschlagen, überall werden wir fündig, und überall steht die fadenziehende Handarbeit für Häuslichkeit, weibliche Tugend und Fleiß.16 Stets 14 Das Buch der Sprichwörter Salomos 31, 10–31, hier Verse 13, 19, 21, zit. nach der Einheitsübersetzung (wie Anm. 9). 15 Vgl. Claßen-Büttner, Spinnst Du? (wie Anm. 12), S. 51 und 66. Siehe auch Betram Popp, „Breitdaumen, Breitlippe und Breitfuß – Das Spinnrad als Visitenkarte einer jungen Frau?“, in: Pracht, Prunk, Protz. Luxus auf dem Land, hrsg. von Birgit Angerer u. a., Finsterau 2009, S. 227–240, hier: S. 231; zur Inszenierung von Idealvorstellungen des Landlebens auf Fotos des frühen 20. Jahrhunderts: ebd., S. 233. 16 Als Einstieg habe ich zunächst zwar gezielt, aber nicht systematisch und nur im deutschsprachigen Raum gesucht; schon das ergab so viele Beispiele, dass im hier gegebenen Rahmen nicht alle genannt und behandelt werden können. Die nichtwis-

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ist es ein Mädchen an der Schwelle zum Erwachsenwerden, das am Spinnrad sitzt – und im 19. Jahrhundert kann Erwachsenwerden für Frauen mit Heirat gleichgesetzt werden. Somit symbolisiert das Spinnen in zahllosen Vers- und Prosatexten letztlich die sexuelle Unschuld der Frau, respektive deren Verlust, sei es durch die Heirat oder außerehelich und damit jenseits der moralischen Norm.17 In Märchen erweist sich am Spinnen der ‚gute und reine Charakter‘ des Mädchens, Menge und Qualität sind das Maß für Fleiß oder Faulheit, und nicht selten ist die Begabung zum Spinnen die Voraussetzung für eine ‚gute Partie‘. Im Spinnen vollzieht sich oft eine Bewährungsprobe, eine Art ‚Reifeprüfung‘ vor der Verheiratung des Mädchens, ein Initiationsritus.18 Öfter sind auch Spinnrad oder Spindel magische Gegenstände, die das Mädchen aus einer Notlage retten, ihr ihren Liebsten zurückbringen oder zu einer Heirat verhelfen.19 senschaftliche Internet-Textsammlung http://www.volksliederarchiv.de/ weist Anfang 2010 allein 92 Lieder zum Thema Weben und Spinnen aus; das im Aufbau befindliche Historisch-kritische Liederlexikon des Deutschen Volksliedarchivs Freiburg – http:// www.liederlexikon.de/ – enthält noch keine entsprechenden Einträge, doch besitzt das Archiv etliche Dokumentationsmappen zu Spinn- und Spinnstubenliedern; für die Auskunft danke ich Dr. Eckard John, Herausgeber des Liederlexikons. Der deutschsprachige Raum kann in diesem ‚ersten Versuch über das Thema‘ als repräsentativ gelten. Dennoch soll nicht unerwähnt bleiben, dass die Symbolik des Spinnens als Bild für Weiblichkeit, weibliche Tugend und weibliche Initiation auch in anderen Sprachund Kulturräumen verbreitet ist; so haben etwa die meisten Märchen eine europaweite oder sogar weltweite Herkunfts- und Verbreitungsgeschichte und sind seit Beginn des 20. Jahrhunderts in internationale „Erzähltypen“ kategorisiert worden (Aarne-Thompson-Index). 17 Für diese thematische Ausrichtung gibt es freilich auch Beispiele aus dem späten 18. Jahrhundert, so etwa zwei Gedichte von Johann Heinrich Voß, beide mit dem Titel Die Spinnerin (1787 bzw. 1791). 18 Etwa in den Märchen Die zwölf Brüder (Grimm, KHM 9) und Die sechs Schwäne (Grimm, KHM 49), Frau Holle (Grimm, KHM 24), Die drei Spinnerinnen (Grimm, KHM 14), Rumpelstilzchen (Grimm, KHM 55), Die Schlickerlinge (Grimm, KHM 156) sowie Die faule Spinnerin (Grimm, KHM 128). In Die zwölf Jäger (Grimm, KHM 67) sollen mit Hilfe von Spinnrädern die als Jäger verkleideten Mädchen enttarnt werden. Da den Mädchen aber die List verraten wird, zeigen sie kein Interesse an den Spinnrädern und werden weiter für Männer gehalten. Vgl. hierzu und im Folgenden Marianne Rumpf, „Spinnerinnen und Spinnen. Märchendeutungen aus kulturhistorischer Sicht“, in: hrsg. von Sigrid Früh und Rainer Wehse, Die Frau im Märchen, Kassel 1985, S. 59–72. 19 So etwa in Allerleihrau (Grimm, KHM 65), Die Nixe im Teich (Grimm, KHM 181) oder Spindel, Weberschiffchen und Nadel (Grimm, KHM 188). Vgl. auch die ebenfalls auf einem Märchen beruhende Ballade Zlaty kolovrat (Das goldene Spinnrad) des tschechischen Dichters Karel Jaromír Erben (s. auch Anm. 38).

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Ist der Mann seines Glückes Schmied, so ist das Mädchen sozusagen ihres Schicksals Spinnerin. Dabei erweist sich die Aussicht auf eine gute Heirat oft auch als Motivation für fleißiges Spinnen – ‚beliebt‘ scheint diese Handarbeit allerdings bei den wenigsten Mädchen zu sein... Spinnerlied Spinn, spinn, meine liebe Tochter, Ich kauf dir ein paar [!] Schuh. Ja, ja meine liebe Mutter, Auch Schnallen dazu; Kann wahrlich nicht spinnen, Von wegen meinem Finger, Meine Finger thun weh.

Spinn, spinn, meine liebe Tochter, Ich kauf dir einen Mann. Ja, ja, meine liebe Mutter, Der steht mir wohl an; Kann wahrlich gut spinnen, Von all meinen Fingern, Thut keiner mir weh.20

Spinn, spinn, meine liebe Tochter, Ich kauf dir ein paar Strümpf. Ja, ja meine liebe Mutter, Schön Zwicklen darin; Kann wahrlich nicht spinnen, Von wegen meinem Finger, Mein Finger thut weh. 20

Die Verbindung des Spinnens mit der Heiratsthematik hat freilich seinen ganz realen Hintergrund im Alltagsleben vorangegangener Jahrhunderte: Das Spinnrad war unverzichtbares Werkzeug bei der Arbeit an der Aussteuerwäsche, die als Heirats-Mitgift für die Tochter im Elternhaus selbst hergestellt wurde. Und nicht nur die Wäsche, sondern auch das Spinnrad selbst gehörte traditionell zum Heiratsgut einer jungen Braut und trug symbolisch das Ansehen ihrer Wohlhabenheit, Tugend und Häuslichkeit, ihres Fleißes und Geschicks bei allen häuslichen Arbeiten.21

20 Zit. nach: Achim von Arnim und Clemens Brentano: Des Knaben Wunderhorn. Alte deutsche Lieder, Erstausgabe 1808, Studienausgabe in neun Bänden, hrsg. von Heinz Rölleke, Band 3, Stuttgart u. a.: Kohlhammer, 1979, S. 43 f. In anderen Liedersammlungen ist noch eine weitere Strophe an dritter Stelle überliefert, und der Refrain lautet wie hier: „Spinn, spinn, meine liebe Tochter, / Ich kauf dir ein Kleid. / Ja, ja, meine liebe Mutter, / nicht zu lang und nicht zu weit; / Ich kann ja nicht spinnen / es schmerzt mich mein Finger, / und tut und tut und tut mir so weh.“ 21 Vgl. Popp, Breitdaumen (wie Anm. 15), S. 229 f. und 232.

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Abb. 2  Ary Scheffer: Marguerite; Stich von Hermann Eichens, ca. 1880 Mit freundlicher Genehmigung der Herzogin Anna Amalia Bibliothek Weimar, Faustsammlung, Signatur: F gr 8046 (72).

Das Mädchen am Spinnrad in der Fiktion scheint auf männliche Figuren – seien es nun Märchenprinzen oder Rumpelstilzchen – eine magische Anziehungskraft auszuüben, allzu häufig nähert sich ein Jüngling dem spinnenden Mädchen.22 Der Faden, den das Mädchen durch die Handarbeit herstellt, ist als ihr eigenes Produkt zugleich der Nachweis ihres Fleißes und Könnens und die Fessel, die sie an die Situation, an ihren Stuhl und ihre Tätigkeit bindet, denn der Faden darf aus verschiedenen Gründen nicht reißen… Selbst wenn sie wollte, sie kann dem nahenden Mann nicht ausweichen. Und schließlich liegt auch Gefahr im Spinnen, in Grimms Märchen repräsentiert z. B. durch den folgenreichen Stich an der Spindel, aufgrund dessen 22 Die ‚Vereinzelung‘ des Mädchens am Spinnrad in diesen Szenen stellt bereits eine Entfremdung der früheren Alltagssituation dar, die möglicherweise einfach der Erzeugung von Intimität diente; bis zur Mechanisierung des Spinnvorgangs war das Spinnen in den sogenannten Spinnstuben die Regel, vgl. Popp, Breitdaumen (wie Anm. 15), S. 232. Auf diese Spinnstuben geht sicherlich auch die Verbindung von Spinnen und Singen und Geschichten-Erzählen zurück, die sich in zahllosen Spinnstubenliedern ebenso wie in Theater- und Opernszenen erhalten hat.

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Dornröschen in ihren Schlaf fällt, oder in Frau Holle durch die vom Spinnen blutigen Finger und die blutige Spule, die beim Reinigen in den Brunnen fällt. Blutige Finger beim Spinnen sind zweifellos eine Anspielung auf den weiblichen Menstruationszyklus und damit wieder auf das Erwachsenwerden des Mädchens. „Spinnt, ihr Mädchen…“23 Ohne an dieser Stelle die Frage nach der Volkstümlichkeit der genannten Sammlungen und Texte erörtern zu wollen – auch in zahlreichen Beispielen aus Kunstdichtung und -musik spiegelt sich die Symbolkraft des Weiblichkeits-Entwurfs wider, die das Bild des Mädchens am Spinnrad im späten 18. und 19. Jahrhundert ausgestrahlt haben muss. Im Musiktheater lässt sich der Wandel vom Alltagsszenario zum Symbol deutlich nachvollziehen: In der Pariser opéra comique und anderen komischen Bühnengattungen, namentlich im 18. Jahrhundert, wurde der höfisch-aristokratischen Welt der tragédie lyrique das Bürgertum gegenübergestellt, und damit entsprechend auch der bürgerliche Alltag statt der historischen Helden- und antiken Sagenstoffe auf die Bühne gebracht. Folgende Beschreibung macht es anschaulich: Die trauliche Luft im Bürgerhause mit all seinen täglichen Geschäften, Soldatenaufzüge, Schnitter- und Winzerfeste, Szenen vor Gericht, im Wirtshause, im Vorzimmer großer Herren, Karten- und Blindekuhspiel u. dgl. werden dichterisch und musikalisch mit besonderem Behagen ausgeführt.

In einer Anmerkung werden die „täglichen Geschäfte“ erläutert: Das aus dem Fidelio bekannte Liebesspiel beim Plätten der Wäsche ist sehr beliebt, ebenso die erwartungsvollen Szenen am Spinnrad mit den damit verbundenen Liedern, die später die deutsche romantische Oper übernommen hat.24

Ein Beispiel für eine solche Übernahme enthält Richard Wagners „Romantische Oper in drei Aufzügen“ Der fliegende Holländer. Die erste Szene des zweiten Aufzugs könnte eine ebensolche Alltagsszene darstellen, wäre da nicht ein Mädchen, das aus der Reihe tanzt. Die Mädchen sitzen zusammen mit Mary, der Amme, um einen Kamin herum und spinnen und singen das unvermeidliche Lied dazu: 23 Siehe Anm. 26. 24 Hermann Abert, W.A. Mozart. Neubearbeitete und erweiterte Ausgabe von Otto Jahns Mozart, Leipzig 1955/56, S. 531.

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Mädchen: Summ und brumm, du gutes Rädchen, munter, munter, dreh dich um! Spinne, spinne tausend Fädchen, gutes Rädchen, brumm und summ! Mein Schatz ist auf dem Meere draus, er denkt nach Haus ans fromme Kind; – mein gutes Rädchen, braus und saus! Ach! gäbst du Wind, er käm’ geschwind. […]25

Marys Kommentar dazu lautet: „Ei! Fleißig, fleißig! Wie sie spinnen! / Will jede sich den Schatz gewinnen.“26 Nur Senta sondert sich ab: Statt zu spinnen, sitzt sie im Sessel und betrachtet versonnen das Wandbild des fliegenden Holländers. Nicht allein, dass sie als Liebsten einen Jäger hat und nicht wie alle anderen Mädchen einen Matrosen, überdies ist sie trotz ihrer Liaison augenscheinlich in den Mann auf dem Bild verliebt und sehnt diesen herbei. Senta kennt die Sage vom fliegenden Holländer schon seit ihrer frühen Kindheit und ist von der Vorstellung beseelt, die Frau zu sein, die den Holländer von seinem traurigen Schicksal erlöst („Ich sei’s, die dich durch ihre Treu’ erlöse!“). Zu ihr sagt Mary folglich: „Du böses Kind, wenn du nicht spinnst, / vom Schatz du kein Geschenk gewinnst.“ Senta entspricht in keinem Punkt den an die jungen Mädchen gerichteten Erwartungen, und so ist es nur folgerichtig, dass sie auch nicht spinnen will, die anderen Mädchen sogar davon abzubringen versucht. Durch das Gegenbild, das Senta verkörpert, tritt die Symbolik des Spinnens umso deutlicher hervor: Das tugendhafte, treue, sehnsuchtsvolle und letztlich passive Warten auf die Rückkehr des Liebsten, dessen Zuneigung durch fleißiges Spinnen verdient werden muss.

25 Richard Wagner, Der fliegende Holländer (UA Dresden 1843), Zweiter Aufzug, Erste Szene; dieses und alle folgenden Zitate nach der Ausgabe Stuttgart 2004, hrsg. von Egon Voss nach Wagners eigener letzter Ausgabe in Gesammelte Schriften und Dichtungen, Bd. 1, Leipzig 1871, S. 20 ff. 26 In dieser Textstelle findet sich eine Anspielung auf ein verbreitetes Volkslied: „Spinnt, ihr Mädchen, spinnt, / daß ihr einen Schatz gewinnt. / Die bekommt den besten Mann, / die am besten spinnen kann.“, zit. nach Rumpf, Spinnerinnen (wie Anm. 18), S. 68.

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„Meine Ruh ist hin“ Etwas anders verläuft die Entwicklung in der Lyrik – von jeher die Gattung der Symbole und Metaphern, aber auch die Gattung des intimsten Ausdrucks von Liebesfreud und Liebesleid. Im Lied der Spinnerin von Emanuel Geibel findet sich eine Verbindung der Heirats- mit der bereits erwähnten Schicksals- und Vergänglichkeitsthematik. Die Nähe von Heirat und Tod ist dabei im 19. Jahrhundert für Frauen noch gefürchtete Realität, bedenkt man die Sterberaten bei Geburten und durch Kindbettfieber: Lied der Spinnerin Schnurre, schnurre, meine Spindel, Dreh’ dich ohne Rast und Ruh’! Totenhemd und Kinderwindel Und das Brautbett rüstest du.

Schnurre, Spindel, schnurre leise, Rund ist wie dein Rad das Glück; Gehst du selig auf die Reise, Kehrst du weinend wohl zurück.

Goldner Faden, kann nicht sagen, Welch ein Schicksal dir bestimmt, Ob mit Freuden, ob mit Klagen Das Gespinst ein Ende nimmt.

In die Wolken geht die Sonne, Schnell verweht im Wind ein Wort; Wie der Faden rollt die Wonne Rollen Lieb’ und Treue fort.

Anders wird’s, als wir’s begonnen, Anders kommt’s, als wir gehofft; Was zur Hochzeit war gesponnen, Ward zum Leichentuch schon oft.

Schnurre, Spindel, schnurr’ im Kreise, Dreh’ dich ohne Rast und Ruh’ – Und ihr Tränen, fließet leise, Fließet unaufhaltsam zu!27

Geibels Spinnerin bewegt sich noch auf moralisch gefestigtem Boden, doch viel früher schon, in Johann Wolfgang Goethes Gedicht Die Spinnerin, wird erstaunlich drastisch auf den Punkt gebracht, welche konkrete Gefahr auch im Spinnen lauert: In dieser Handarbeit liegen nicht nur weibliche Tugend und Unschuld, sondern zugleich auch das Risiko, beides zu verlieren. Ist der Faden erst gerissen, gibt es kein Zurück mehr. 27 Entstanden 1838–1840. Zit. und datiert nach Geibels Werke. Kritisch durchgesehene und erläuterte Ausgabe, hrsg. von Wolfgang Stammler, Bd. 1, Leipzig, Wien o. J. [1918]. Vertont von Ernst Ludwig, op. 9: Drei Lieder. (No. 1. Schlafe mein Herz, schlaf ein: „Gute Nacht mein Herz und schlummre ein“. No. 2. Agnes: „Rosenzeit! wie schnell vorbei“. No. 3. Lied der Spinnerin: „Schnurre, schnurre, meine Spindel“.), nachgewiesen in Hofmeister, Monatsbericht Mai 1885.

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Die Spinnerin

Als ich still und ruhig spann, Ohne nur zu stocken, Trat ein schöner junger Mann Nahe mir zum Rocken.

Und des Flachses Stein-Gewicht Gab noch viele Zahlen; Aber, ach! ich konnte nicht Mehr mit ihnen prahlen.

Lobte, was zu loben war: Sollte das was schaden? Mein dem Flachse gleiches Haar, Und den gleichen Faden.

Als ich sie zum Weber trug, Fühlt’ ich was sich regen, Und mein armes Herze schlug Mit geschwindern Schlägen.

Ruhig war er nicht dabei, Ließ es nicht beim Alten; Und der Faden riß entzwei, Den ich lang’ erhalten.

Nun, beim heißen Sonnenstich, Bring’ ich’s auf die Bleiche, Und mit Mühe bück’ ich mich Nach dem nächsten Teiche. Was ich in dem Kämmerlein Fein und still gesponnen, Kommt – wie kann es anders sein? – Endlich an die Sonnen.28

Goethe greift hier wohlgemerkt auf traditionelle Bilder zurück – ebenso wie in der Volksdichtung und im Märchen war der Verlust der Jungfräulichkeit auch in der Kunstdichtung schon früher Gegenstand literarischer Gestaltung: In der Rokoko-Dichtung etwa, zu deren Vertretern auch der junge Goethe selbst noch gezählt wird, wurden aus verschiedenen ‚weiblichen‘ Tätigkeiten DeflorationsMetaphern abgeleitet, neben zerbrochenen Krügen oder geknickten Blumen eben auch das Reißen des Spinnfadens. Der Weg zum Teich deutet auf den Kindsmord als dem oft einzigen Ausweg hin, den unehelich Schwangere in ihrer Notlage sahen.29 Das zweifellos berühmteste spinnende Mädchen der Literatur – Gretchen am Spinnrad in Goethes Faust I – ist innerlich zerrissen zwischen Zuneigung und Bewunderung für den gebildeten Faust einerseits und einer dunklen Ah28 Entstanden wohl 1795, bestimmt für Schillers Musen-Almanach für das Jahr 1796, wo es jedoch nicht abgedruckt wurde. Vgl. Textkommentar in Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche in 40 Bänden, Bd. I,1 Gedichte 1756–1799, hrsg. von Karl Eibl, Frankfurt a. M. 1987, S. 1225. NB die Doppeldeutigkeit des Wortes Rocken: der Spinnrocken ist die meist stabförmige Halterung für die noch unversponnenen Fasern, zugleich lässt sich hier aber natürlich auch das Kleidungsstück Rock in einer veralteten Dativ-Bildung lesen. „Stein-Gewicht“ ist ein altes Gewichtsmaß. 29 Vgl. Eibl, Goethe-Gedichte (wie Anm. 28).

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nung andererseits. Gretchen ist keineswegs ein naives Mädchen, sondern sie schätzt ihre Situation ganz realistisch ein: Sie spürt deutlich Fausts Fremdheit – etwas ‚stimmt nicht‘ mit ihm – und die Gefahr, die von einer Verbindung mit ihm für sie selbst ausgeht. Dennoch erfüllt seine Erscheinung sie mit einer bisher ungekannten Leidenschaft und Lust. Zwar hat sie ihre Unschuld noch nicht verloren, aber dieses Ereignis steht in der Spinnrad-Szene bereits unabwendbar bevor, und auch hierin ist ihre in den beiden letzten Zeilen geäußerte Ahnung ganz realistisch: Gretchens Stube Gretchen am Spinnrade allein Meine Ruh ist hin, Mein Herz ist schwer; Ich finde sie nimmer Und nimmermehr. Wo ich ihn nicht hab, Ist mir das Grab, Die ganze Welt Ist mir vergällt. Mein armer Kopf Ist mir verrückt, Mein armer Sinn Ist mir zerstückt. Meine Ruh ist hin, Mein Herz ist schwer;

Ich finde sie nimmer Und nimmermehr. Nach ihm nur schau ich Zum Fenster hinaus, Nach ihm nur geh ich Aus dem Haus. Sein hoher Gang, Sein’ edle Gestalt, Seines Mundes Lächeln, Seiner Augen Gewalt, Und seiner Rede Zauberfluß, Sein Händedruck, Und ach, sein Kuß!

Meine Ruh ist hin, Mein Herz ist schwer, Ich finde sie nimmer Und nimmermehr. Mein Busen drängt Sich nach ihm hin. Ach dürft ich fassen Und halten ihn, Und küssen ihn, So wie ich wollt, An seinen Küssen Vergehen sollt!30

Das Spinnrad steht auch hier für die bereits beschriebene Symbolik: Die Handarbeit als weiblich definierte Tätigkeit, räumlich dem Inneren des Hauses, der Stube, zugeordnet, und der (noch nicht gerissene) Faden als Fessel, als Bild für die ängstliche Befangenheit ihres Herzens und die Gefangenheit in ihrer zwiespältigen emotionalen Situation. Darüber hinaus sind das Drehen des Rades und der unaufhörliche Fußtritt als Abbild von Ruhelosigkeit und kreisenden Gedanken zu deuten. 30 Johann Wolfgang Goethe, Faust. Der Tragödie erster Teil, Erstdruck 1808, hier zit. nach der Ausgabe: Stuttgart 1986, die der sogenannten Weimarer oder Sophienausgabe von 1887 folgt, S. 98 f.

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Um der Metaphorik des Unschulds-Verlustes noch stärkeren Nachdruck zu verleihen, folgt in der übernächsten Szene ein Dialog zwischen Gretchen, die zwischenzeitlich Faust ihre ‚Gretchen-Frage‘ gestellt hat, und Lieschen, die von der unehelichen Schwangerschaft einer gemeinsamen Freundin zu berichten weiß: Am Brunnen Gretchen und Lieschen mit Krügen. […] Lieschen. […] War doch so ehrlos, sich nicht zu schämen, / Geschenke von ihm anzunehmen. / War ein Gekos und ein Geschleck; / Da ist denn auch das Blümchen weg! Gretchen. Das arme Ding! Lieschen. Bedauerst sie noch gar! / Wenn unsereins am Spinnen war, / Uns nachts die Mutter nicht hinunterließ, / Stand sie bei ihrem Buhlen süß, / Auf der Türbank und im dunklen Gang / Ward ihnen keine Stunde zu lang. / Da mag sie denn sich ducken nun, / Im Sünderhemdchen Kirchbuß tun!31

Doch eines ist bei Gretchen am Spinnrad neu, deutlicher als in Goethes oben zitiertem Gedicht Die Spinnerin und anders auch als in den meisten späteren Texten anderer Autoren, und irgendwie ‚typisch Goethe‘32: Die konkrete Darstellung der weiblichen Lust. Wenn Gretchen auch ängstlich und befangen ist, passiv ist sie nicht. Zwar benennt sie klar die von der gesellschaftlichen Moral gesteckten Grenzen, aber ihre darüber hinausgehenden Wünsche und Phan-

31 Ebd., S. 104. 32 Nicht nur in Die Spinnerin und bei Gretchen, auch sonst wusste Goethe das Thema des Verlusts der weiblichen Unschuld auf verschiedenste Art zu thematisieren – ob metaphorisch (Sah ein Knab ein Röslein steh’n, 1779, 2. Fassung 1789) oder ganz unver‚blümt‘ (Vor Gericht, 1776/77). Und ob es die sich wehrende, stechende Rose ist oder die unverheiratete Schwangere, die vor Gericht ihr ungeborenes Kind verteidigt: Diese Frauenfiguren sind weder passiv noch entsprechen sie dem weiblichen Rollenbild der Schicksalsergebenen, auf Erlösung untätig und gläubig Wartenden. Bekanntlich beschäftigte Goethe sich auch als Jurist mit der Thematik der unehelichen Mutterschaft, schon in seiner Disputation erörterte er theoretisch die Frage, ob und wie sogenannte Kindsmörderinnen, also unehelich Schwangere, die ihr Neugeborenes aus Verzweiflung töten, zu bestrafen seien. Bald darauf verfolgte er mit regem Interesse einen realen Fall in seiner Heimatstadt Frankfurt am Main (Stichwort „Gretchentragödie“; vgl. Das Frankfurter Gretchen. Der Prozeß gegen die Kindsmörderin Susanna Margaretha Brandt, hrsg. von Rebekka Habermas, München 1999). War die Problematik der unehelichen Mutterschaft in der zeitgenössischen Dichtung durchaus ‚virulent‘, so ist dieser aufrechte, stolze Frauentyp außer in Goethes Werken sonst kaum zu finden (vgl. auch das Klärchen in seinem Egmont).

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tasien formuliert sie in den beiden letzten Strophen ebenso klar, obwohl sie ihr unausweichlich Unheil bringen werden. Das einzige deutschsprachige Gedicht einer Dichterin über eine Frau am Spinnrad, das sich finden ließ, bedient allerdings nicht das Klischee der Tugendhaftigkeit bzw. der verlorenen Unschuld, sondern es erzählt von einer Greisin, die sich beim Spinnen am Kamin zurückerinnert, wie sie nacheinander ihren Ehemann und ihre drei Söhne verlor. Das Spinnrad spiegelt dabei ebenso wie das Feuer in ihrem Kamin ihre Gefühlsregungen wider: Die Spinnerin Sie sitzt am flackernden Feuer und spinnt. Ihr Auge starrt, ihre Seele sinnt und wandert zurück in entschwundene Zeit und kostet noch einmal Glück und Leid. Ein Scheit in die Flammen. Es lodert die Glut, und rinnt und rieselt wie rotes Blut: Die Greisin sieht – ihr zittert die Hand – den Gatten gestürzt von der Felsenwand. Der wackerste Führer im Glocknergebiet… Das Rädchen schnurrt sein eintönig Lied. Ein anderes Scheit, – o trauriges Los: Sie zog die drei Buben in Mühsal groß. Der Franz, der erste, ein schmucker Gesell, die Augen so leuchtend und falkenhell, so fröhlich sein Herz und der Stimme Klang, voll Lebensfreude – voll Jugenddrang… Er musste zum Krieg nach Welschland hinein: Bei Solferino – – – Das Rad hält ein. Ein anderes Scheit in die zuckende Glut. Wie war der Nazi33, der zweite, so gut! Wie eifrig ging er dem Pfarrer zur Hand mit Rauchfass und Glöcklein als Ministrant, und schaffte für sie, der schweigsame Sohn, im Walde um kärglichen Tagelohn. Doch als die tückische Seuche genaht – die tückische Seuche – – – es säumt das Rad.

33 „Nazi“ war im süddeutschen Raum als Kurzform des Vornamens Ignaz geläufig.

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Das letzte Scheit. Die Flamme zischt auf. Wild schwingt sich die Haspel in zornigem Lauf, und der feine, glänzende Faden reißt… Der Wenzel, das war ein Feuergeist, der oft ihr mahnendes Wort verlacht, der sie in Jammer und Schande gebracht. Bei Nacht und Nebel mußt’ er entfliehn. – – Wo mag er jetzt durch die Lande zieh’n? Vielleicht in Elend, in Seelennot? Es drückt ihr das Herz ab. – O, wäre er tot! Viel besser ein Grab in der Erde Schoß, als des Kain qualvolles Wanderlos! Wo mag er sein? – Wo Gott es will. Das Feuer verglimmt. – Das Rad steht still. Alice Freiin von Gaudy (1863–1929)34

„Summ und brumm, du gutes Rädchen“35 Mindestens ebenso berühmt wie Goethes Gretchen-Text über den Verlust von Seelenruhe und sexueller Unschuld ist auch dessen Vertonung von Franz Schubert (D 118, 1814, Erstdruck 1821). Seine musikalische Gretchen-Version mit den rastlosen und gleichsam um sich selbst kreisenden Drehfiguren setzt nicht nur das Drehen des Spinnrades und den gleichmäßigen Tritt des Fußpedals in Musik um, sie spiegelt auch Gretchens kreisende Gedanken und ihre ausweglose Not auf die eindringlichste Weise wider. Wenn auch die meisten anderen Vertonungen von Goethes Gretchen-Versen nicht diesem musikalischen Prinzip gehorchen,36 so lassen sich doch auch im Bereich der Musik reichlich Beispiele finden, die dem Schubert-Lied erstaunlich ähnlich sind: zahlreiche ,Spinnrad-Gedichte‘ wurden mit ähnlichen musikalischen Mitteln vertont,37 aber auch etliche Instrumentalwerke, die z. B. 34 Zitiert nach Die deutsche Gedichtebibliothek. Gesamtverzeichnis deutschsprachiger Gedichte, in: http://gedichte.xbib.de/, 5.1.2010. 35 Siehe Anm. 25. 36 Z. B. von Karl Friedrich Zelter, Conradin Kreutzer, Leopold Lenz, Karl Loewe, Louis Spohr, Richard Wagner, Hector Berlioz oder Giuseppe Verdi. 37 Schubert selbst vertonte Goethes Gedicht Die Spinnerin im Jahr 1815 (D 247); auch Wagners Musik zu dem oben zitierten Ausschnitt aus dem Textbuch Der fliegenden Holländer ist hier zu nennen (s. Anm. 25). Drei Beispiele aus dem 18. Jahrhundert weisen auch bereits Elemente dieser musikalischen Symbolik auf, führen diese jedoch nicht mit derselben unerbittlichen Endlosigkeit aus wie Schubert: W. A. Mozart, Die

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als symphonische Dichtung oder als Klavieretüde durch ihren Titel Bezug auf die Spinnrad-Thematik nehmen,38 weisen dieselbe im Kreis drehende und rastlose Motivik auf wie Schuberts Gretchen. Robert Schumann hatte augenscheinlich eine besondere Vorliebe für das Spinnrad-Motiv, er komponierte mehrere beispielhafte Lieder.39 Besonders interessant ist in diesem Zusammenhang das fünfte Lied aus dem Liederzyklus Frauenliebe und Leben (op. 42, 1840, Revision 1843, Gedichte von Adalbert von Chamisso), „Helft mir, ihr Schwestern“. Das lyrische Ich bereitet sich hier auf die Hochzeit mit dem Liebsten vor und teilt ihre Ängste, aber auch ihre Vorfreude mit ihren Freundinnen, deren Kreis sie bald verlassen wird. In Schumanns Klavierbegleitung fehlt die Darstellung des Pedaltritts durch einen ostinaten Bassrhythmus, dafür wirken die in beiden Händen parallel sich unaufhörlich wiederholenden Drehfiguren umso eindeutiger. In ihrem Aufsatz über Robert Schumanns Frauenliebe und Leben spricht Ruth Solie hier bezeichnender weise von „typical female-identified Spinnrad music“: Die Verbindung der Spinnrad-Symbolik mit der Thematik des Heiratens und aller Konsequenzen wurde bei den literarischen Betrachtungen bereits deutlich. Auch ohne dass das Mädchen hier am Spinnrad sitzt, wirkt diese Verbindung bei Schumann allein auf der Ebene der Musik.40 Es ist nicht nur ein literarischer, sondern auch ein musikalischer Topos. Wie schon im Bereich der Dichtung, so fällt auch im Bereich der Musik auf, dass Komponistinnen in diesem ‚Repertoire‘ praktisch nicht vertreten sind. Von den über 20 bekanntesten Vertonungen von Goethes Gretchen kleine Spinnerin (KV 531, Textdichter anonym, 1787; ein Kinderlied, in dem sich das Mädchen nicht ‚verführen‘ lässt, mit dem Jungen zu spielen), Joseph Haydn, Bess and her spinning wheel (aus den schottischen Volksliedbearbeitungen Hob. XXXIa:147, Text Robert Burns, 1792; besingt das bescheidene Glück einfacher Verhältnisse, die durch das Spinnrad symbolisiert sind) sowie Johann Abraham Peter Schulz, Die Spinnerin (Text: Johann Heinrich Voß, 1789, vgl. Anm. 17; hier klingt im Text bereits die Deflorationsthematik an). 38 Zlaty kolovrat (Das goldene Spinnrad), Symphonische Dichtung op. 109 von Antonín Dvořák (1896/97) zu der gleichnamigen Ballade von Karel Jaromír Erben (s. Anm. 19); Le rouet d’Omphale, Symphonische Dichtung op. 31 von Camille Saint-Saëns (1872), La fileuse, Étude pour piano op. 157, Nr. 2 von Joachim Raff, Spinnerlied aus den Liedern ohne Worte op. 67, Nr. 4 von Felix Mendelssohn Bartholdy (1845). 39 Z. B. Spinnelied (Altes Lied) (Textdichter unbekannt) aus Lieder-Album für die Jugend op. 79 (1849), Nr. 24, und Die Spinnerin (Text Paul Heyse), aus Sechs Gesänge op. 107 (1851/52), Nr. 4. 40 Ruth Solie, „Whose life? The gendered self in Schumann’s Frauenliebe songs“, in: Music and text: critical inquiries, hrsg. von Steven Paul Scher, Cambridge 1992, S. 219–240, hier S. 234.

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stammt keine von einer Komponistin – ebenso wenig wie irgendeine andere thematisch ‚einschlägige‘ Liedkomposition.41 Die einzige mir bisher bekannte ‚Mädchen-am-Spinnrad-Komposition‘ von einer Komponistin stammt von Pauline Viardot: Die eingangs genannte Chanson du rouet in der Opérette de salon Le dernier sorcier. Von Pauline Viardot existiert darüber hinaus eine autografe Skizze für eine Vertonung des erwähnten Goethe-Gedichts Die Spinnerin, eine vollendete Fassung ist jedoch nicht bekannt.42 Außerdem gibt es von ihr eine Bearbeitung der Klavier-Etüde La fileuse von Joachim Raff (s. Anm. 38). Viardot setzte die Musik für eine Singstimme und Klavier, der befreundete Jurist, Maler und Dichter Louis Pomey (1835–1901), der auch die Texte für die Chopin-Mazurken in Viardots Bearbeitungen und zahlreiche Übersetzungen von Liedtexten für Viardot verfasst hat, schrieb den Gesangstext dazu. Er gibt in Ich-Form die Gedanken einer Mutter wieder, die nachts allein über ihr Kind wacht und sich um dessen Zukunft sorgt, da sie nicht weiß, wo der Vater des Kindes geblieben ist. Das Spinnen beschäftigt und beruhigt sie: Seul compagnon de ma nuit solitaire, / O mon rouet, tourne, tourne en chantant; / Calme un instant les tourments de la mère, / Qui veille en prière sur son enfant. […]43

Die Stella im Dernier sorcier aber ist wieder ein erwachsen werdendes Mädchen und im Begriff, sich zu verlieben und wenn möglich zu heiraten. Vorab einige Worte zu Entstehungskontext und Inhalt der Operette: Viardot und Turgenev entwickelten in den Jahren 1863 bis 1867, während sie in Baden-Baden lebten, mehrere komisch-buffoneske Musiktheaterstücke, die im Viardot’schen Salon halb einstudiert halb improvisiert unter Mitwirkung der Kinder und Schülerinnen Pauline Viardots vor geladenen Gästen aufgeführt wurden und sich großer Beliebtheit erfreuten. In Le dernier sorcier wird die Geschichte einer Elfenkönigin und ihrer Gefährtinnen erzählt, die ihren Feenwald nicht länger 41 Fanny Hensel vertonte etliche Goethe-Texte, darunter auch zwei Texte aus Goethes Faust: die erste Szene von Faust II („Wenn der Blüten Frühlingsregen“, 1843) und eine Strophe aus dem Walpurgisnachtstraum aus Faust I („Gab die liebende Natur“, 1846). Gretchen am Spinnrad wählte sie nicht aus. Über die Existenz von Werken von Komponistinnen lassen sich allerdings keine sicheren Aussagen machen, da nach wie vor zu vermuten ist, dass Kompositionen von Frauen nicht gefunden werden, weil sie noch nicht erschlossen sind. 42 Fundort: Harvard, Houghton Library, bMS Mus 232 (61/13). 43 „Einziger Gefährte meiner einsamen Nacht, / O mein Spinnrad, dreh dich, dreh dich surrend; / Beruhige für einen Augenblick die Qualen der Mutter, / Die betend über ihr Kind wacht.“ (Übers. d. Verf.)

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mit einem alternden, machtlos gewordenen Zauberer teilen wollen. Stella, die Tochter des Zauberers, und Lelio, ein junger Prinz auf der Jagd, verlieben sich ineinander. Indem die Elfenkönigin es dem Prinzen ermöglicht, sich Stella zu nähern und ihr seine Liebe zu erklären, erreicht sie letztlich auch ihr eigenes Ziel. Denn erst als der Zauberer Krakamiche erkennt, dass seine Tochter den Prinzen liebt (und dass dieser tatsächlich ein Prinz ist), erklärt er sich bereit, den Feenwald zu verlassen und mit den beiden in die Heimat des Prinzen zu gehen. Trotz der zahlreichen Elemente aus der Märchenwelt – die ‚märchenhaften‘ Umstände des Mädchens am Spinnrad im zuvor beschriebenen männlichen Blick sind hier auf vielfache Weise entzaubert: In dem unmittelbar vorhergehenden Dialog und Duett Stellas mit ihrem Vater fordert dieser seine Tochter auf, ihn für ihr Glück sorgen und sich reich verheiraten zu lassen. Stella setzt sich über die Vorstellungen und Erwartungen ihres Vaters hinweg und nimmt eine autonome Position ein; sie ist bereits verliebt und bleibt bei ihrer ‚romantischen‘ Vorstellung von Glück, das keinen materiellen Reichtum braucht, sondern ‚wahre Liebe‘. Eine Prüfungs- oder Bewährungssituation verbindet sich hier nicht mit dem Spinnen, Lelio scheint sich für Stellas Fleiß nicht zu interessieren. Vielmehr fordert der Vater Stella auf, sich ans Spinnrad zu setzen und ihn mit ihren ‚Hirngespinsten‘ in Ruhe zu lassen – mit anderen Worten: ihm ihre Zukunft anzuvertrauen. Das Spinnrad also wieder als passive Warteposition des Mädchens? So wünscht es der Vater und befindet sich damit im Einklang mit dem traditionellen Topos. Doch seine Rechnung geht nicht auf: Stella beschließt während des Dialogs, ihrem Vater noch nicht zu verraten, dass sie verliebt ist – sie wahrt damit ihr Geheimnis und ein Stück innere Unabhängigkeit. Und ähnlich wie Goethes Gretchen lässt sich Stella nicht an das Spinnrad respektive an die Rollenerwartungen binden, sondern sie nutzt das Spinnen, um ihre emotionale Situation zu reflektieren. Genau das bringt Stella nicht zur (väterlich definierten) Vernunft, sondern sie kommt ihren eigenen Wünschen näher. Noch während ihres Liedes, in der dritten Strophe, spricht der Geliebte aus dem Hintergrund zu ihr und erlöst sie damit zumindest von der Ungewissheit, ob ihre Liebe erwidert wird (sie wird) und ob sie auf die Erfüllung ihrer Sehnsucht hoffen kann (sie kann):

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Chanson du rouet Stella Quand vient la saison fleurie où tout s’éveille à la fois – Le ruisseau dans la prairie Le rossignol dans les bois… au cœur de fille jolie En secret chante une voix.

Lelio (dans la coulisse) Près de vous quelqu’un respire Qui met en vous son espoir… Il attend, languit, soupire Et si vous daignez le voir Peut-être il saura vous dire Ce que vous voulez savoir.44

Cette voix est douce et tendre, Et chaque fois qu’il l’entend Le cœur ne peut se défendre De battre légèrement… Il voudrait bien la comprendre – Mais il ne sait pas comment! 44

Zwar bewegt sich auch Stella auf ‚verbotenem Terrain‘, aber dem Entstehungs- und Aufführungskontext entsprechend sind Stellas Lust und die Frage des Unschulds-Verlusts hier nicht so konkret greifbar wie bei Goethes Gretchen; Le dernier sorcier ist ursprünglich nicht für professionelle SängerInnen geschrieben, sondern für Pauline Viardots jugendliche Töchter, den 10-jährigen Sohn und für ihre Gesangsschülerinnen, und es wurde vermutlich darauf geachtet, dass die Mädchen durch ihre Rollen nicht in Konflikt mit bürgerlichen Moralvorstellungen gerieten. Die Bilder des Frühlings und der inneren Stimme sind indessen ebenso harmlos wie eindeutig, und der Rekurs auf den Spinnrad-Topos wird nicht zufällig einerseits bedient und andererseits gebrochen: Er steht hier wie in all den anderen Beispielen für das Mädchen an der Schwelle zum Erwachsenwerden, aber es zeigt ein Mädchen mit der Autonomie, sich dem Vater zu widersetzen und sich selbst den zukünftigen Ehemann 44 Ivan Turgenev, Chanson du rouet, aus ders. und Pauline Viardot, Le dernier sorcier (1867), zit. nach dem autografen Libretto (Harvard, Houghton Library, bMS Mus 232 (52) I). „Stella: Wenn die blühende Jahreszeit kommt / In der alles plötzlich erwacht / Der Bach in der Au / Die Nachtigall im Wald… / Dann singt im Herzen des schönen Mädchens / Eine heimliche Stimme. // Diese Stimme ist sanft und zärtlich / Und immer, wenn es sie vernimmt / Kann ihr Herz nicht umhin / höher zu schlagen… / Es möchte sie gerne verstehen / Aber es weiß nicht wie! // Lelio (hinter der Kulisse): Nahe bei dir atmet jemand / Der auf dich hofft… / Er wartet, sehnt sich, seufzt / Und wenn du wünschst ihn zu sehen / Wird er dir vielleicht sagen können / was du wissen willst.“ (Übers. d. Verf.)

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auszusuchen, ohne dabei die Grenzen bürgerlicher Moral zu überschreiten. Anders als Wagners Senta kann Stella es sich leisten, weiter zu spinnen, es gefährdet ihre Selbstbestimmung nicht, sondern es bietet ihr die Möglichkeit zum inneren Rückzug. Zwar spricht auch Pauline Viardots eingangs beschriebene Klavierbegleitung den Topos der ‚Spinnradmusik‘ an, doch gerät diese hier zum Klischee: Die Alberti-Bässe wirken eher wie eine Parodie als wie die ernsthafte Darstellung des Fußtritts, das (nicht mehr ganz so) unaufhörliche Drehen der Musik hält an jedem zweiten Versende durch Fermaten an, die Akzente auf der zweiten Zählzeit in Vor- und Zwischenspiel verschleiern das Metrum und die Auftaktigkeit der Drehfigur. Die Erlösung ist der Musik ebenso wie dem Text einkomponiert: Das Begleit-Pattern kommt vollständig zum Erliegen, als Lelio das Wort ergreift: Er singt unbegleitet oder von schlichten Akkorden unterlegt. Ebenso schert die Harmonik aus der bisherigen Tonika-Zentriertheit aus: Entfernte Tonarten sowie vermehrte Fortschreitung in Terzbeziehungen bringen mehr Farbenreichtum und modulatorische Freiheit. Die neue, rhythmisch wie harmonisch ungebundene Begleitung repräsentiert nicht nur den aktuellen Sänger Lelio, sie symbolisiert auch, dass es nicht wichtig ist, ob Stella spinnt oder nicht – Lelio liebte sie schon, bevor er sie spinnen sah. *** Die bisher gefundenen Dichtungen und Kompositionen von Frauen sind zu wenige, und namentlich in Viardots Sorcier sind die Art des Werkes und der Kontext der Szene zu verschieden, als dass sich auf dieser Grundlage der weibliche und der männliche Blick auf das Mädchen am Spinnrad fundiert vergleichen ließen. Immerhin gehörte es auch zur Tradition komischer Bühnenstücke, das ernste Theater zu parodieren, und dennoch liegt in der Geschichte von Stella, ihrem Spinnrad und Lelio weit mehr als die Parodie eines Symbols. Die geringe Anzahl der auffindbaren Beispiele von Dichterinnen und Komponistinnen ebenso wie der andere Umgang mit dem Topos, der in diesen wenigen Beispielen zu finden ist, legen die Vermutung nahe, dass der weibliche Blick auf das Mädchen am Spinnrad ein sehr anderer ist. Es zeigt sich ein größeres Spektrum sowohl an weiblichen Figuren – vom Mädchen über die junge Mutter45 bis hin zur Greisin – als auch an Funktionen des Spinnens 45 Obwohl auch die Texte zu Pauline Viardots Kompositionen von Männern stammen, so darf dennoch ein Einfluss Viardots auf deren Inhalte angenommen werden; die Operetten für Baden-Baden sind in engster Zusammenarbeit Pauline Viardots und Ivan Turgenevs entstanden, an der auch Louis Pomey beteiligt war. Auch wenn es keine

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und damit an Bedeutungen des Symbols. Der besondere Reiz in der Szene zwischen Stella und ihrem Vater besteht darin, dass hier der männliche Blick des Vaters auf das ‚zu verheiratende Mädchen‘ und die weibliche Perspektive Stellas, des sich zurückziehenden und seine Autonomie wahrenden Mädchens selbst, einander gegenübergestellt sind.

eindeutigen Belege dafür gibt, ist wohl auch für die Chopin- und Raff-Bearbeitungen zu vermuten, dass Viardot und Pomey gemeinsam die Texte erarbeitet haben.

Melanie Unseld

Copy and paste? Das heroengeschichtliche Erbe in Agniezska Hollands Film Copying Beethoven Es gehört zu den Kunstgriffen im Genre des biografischen Films (Biopic1), eine fiktive Person einzuführen, um anhand einer solcherart gestalteten dramaturgischen Konstellation zentrale Themen einer Filmbiografie über eine historische Person veranschaulichen zu können. Agnieszka Holland bedient sich dieses Kunstgriffs, indem sie in ihrem Film Copying Beethoven2 neben Ludwig van Beethoven eine zweite, weibliche Hauptfigur installiert, die junge Musikstudentin Anna Holtz, die im Verlauf des Filmes Beethovens Kopistin, Mitarbeiterin und Schülerin wird. Und auch wenn Anna Holtz in gewissen Nuancen mit realen Personen aus Beethovens letzten Lebensjahren Ähnlichkeiten hat (etwa mit Karl Holz3), ist sie eine fiktive Person, die jene Funktion, zentrale Themen der Beethoven-Biografie ansprechen zu können, genauestens erfüllt. Sie ist als weibliche Hauptrolle ein Pendant zu Beethoven, eine Kontrastfigur, die in ihrem diametralen Anderssein den Charakter Beethovens umso deutlicher erkennen lässt. Darüber hinaus aber erscheint sie auf den ersten Blick als moderne Figur: eine emanzipierte Frau, die sich mit der Härte des Künstlers Beethoven auseinandersetzt und 1 Vgl. Henry McKean Taylor, Rolle des Lebens. Die Filmbiografie als narratives System (Zürcher Filmstudien 8), Zürich 2002, S. 20–23 und Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien, hrsg. von Christian Klein, Stuttgart 2009, bes. Kapitel 7: „Biographische Erzählungen in audio-visuellen Medien“, bes. S. 154 f. 2 Regie: Agnieszka Holland, Drehbuch: Stephen J. Rivele, Christopher Wilkinson. Deutscher Verleihtitel: Klang der Stille, dt. Kinostart: 2007. Darsteller: Ed Harris (Ludwig van Beethoven), Diane Kruger (Anna Holtz), Matthew Goode (Martin Bauer), Ralph Riach (Wenzel Schlemmer), Joe Anderson (Karl van Beethoven), Nicholas Jones (Erzbischof Rudolph), Bill Stewart (Rudy), Angus Barnett (Krenski), Viktoria Dihen (Magda), Karl Johnson (Stefan Holtz), Phyllida Law (Mutter Canisius), USA 2006. 3 Karl Holz war ab 1824 zweiter Geiger im Schuppanzigh-Quartett und freundete sich in der Folge mit Beethoven an, übernahm für ihn auch alltägliche Dienste und arbeitete als unbezahlter Sekretär für ihn. U. a. kopierte er (zusammen mit dem Cellisten Joseph Linke) im August 1825 Beethovens Streichquartett op. 132. Im August 1826 übertrug Beethoven ihm die Rechte, eine Biografie über ihn zu verfassen, was Holz nie in die Tat umsetzte (vgl. Vertrag im Beethoven-Haus Bonn, Sammlung H. C. Bodmer, HCB BBr 23, HCB ZBr 6).

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sich ihr stellt, während andere Männer aus dem Umfeld – wie etwa der Kopist Wenzel Schlemmer4 oder der Neffe Karl von Beethoven – eben daran zugrunde gehen. Sie scheint emanzipiert auch deshalb, weil sie unbeirrt ihrer Idee, Komponistin zu werden, folgt, und sie diese Idee gegen mancherlei Widerstände in die Tat umsetzt. An diesen Widerständen ist nicht zuletzt darstellbar, welchen konkreten Schwierigkeiten und Vorurteilen sich komponierende Frauen im frühen 19. Jahrhundert ausgesetzt sahen. Die fiktive Anna Holtz mithin als Sprachrohr emanzipierter Weiblichkeit im frühen 19. Jahrhundert? Sinnbild einer Komponistin als Beethoven-Nachfolgerin?

Der Film Copying Beethoven bietet eine solche ‚emanzipierte‘ Lesart an, allerdings nur dann, wenn man außer Acht lässt, als wessen Pendant Anna Holtz hier eingesetzt wird und welche Funktion sie in dieser Hinsicht einnimmt: Ihre Hauptaufgabe besteht darin, die Filmfigur Beethoven zu konturieren, ihr einen möglichst plastischen Gegenpart zur Seite zu stellen. Aus dieser Doppelperspektive heraus aber wird letztlich erkennbar, dass die Figur der Anna Holtz vor allem dazu beiträgt, das heroengeschichtliche Beethoven-Bild zu stützen. Dieser „copy-and-paste“-Effekt, mit dem das aus dem 19. Jahrhundert stammende heroische Beethoven-Bild5 in eine aktuelle Filmbiografie eingefügt wird, steht in den folgenden Überlegungen im Mittelpunkt, wobei drei zentrale Aspekte herausgegriffen werden sollen: die Metapher des Kopierens – im Zusammenhang mit der Genie-Diskussion des 19. Jahrhunderts eine zentrale Frage von Individualität und Kreativität versus Reproduktion und Epigonentum, die Frage von Liebe/Sexualität sowie Aspekte des Glaubens und der Religiosität. Allen drei Aspekten ist eine überdeutliche Geschlechterpolarisierung eingeschrieben: eine ins Extrem ausgedehnte Überbetonung des Männlichen für Beethoven und eine defensive Weiblichkeit für die Figur der Anna Holtz. Über die Bedeutung des Verbs ‚kopieren‘ nachzudenken, legt allein der Originaltitel nahe. Copying Beethoven verweist dabei zunächst auf die Tätigkeit der Anna 4 Wenzel Schlemmer war tatsächlich Beethovens langjähriger wichtigster Kopist. Er starb am 6. August 1823, also fast ein Jahr vor der Uraufführung der 9. Symphonie am 7. Mai 1824. Im Film erlebt er diese als todkranker Mann mit. 5 Vgl. dazu vor allem Beatrix Borchard, „Beethoven: Männlichkeitskonstruktionen im Bereich der Musik“, in: Kunst, Geschlecht, Politik. Männlichkeitskonstruktionen und Kunst im Kaiserreich und in der Weimarer Republik, hrsg. von Martina Kessel, Frankfurt, New York 2005, S. 65–83; Der „männliche“ und der „weibliche“ Beethoven: Bericht über den Internationalen Musikwissenschaftlichen Kongress vom 31. Oktober bis 4. November 2001 an der Universität der Künste Berlin, hrsg. von Cornelia Bartsch, Beatrix Borchard und Rainer Cadenbach, Bonn 2003; Albrecht Riethmüller, „Wunschbild: Beethoven als Chauvinist“, in: Archiv für Musikwissenschaft 58 (2001), S. 91–109.

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Holtz, die als Kopistin zu Ludwig van Beethoven geschickt wird, um ihm in den Tagen vor der Uraufführung seiner 9. Symphonie zu helfen. Damit ‚schleicht‘ sich in den Titel, der die (reale) biografierte Person benennt, die zweite (fiktive) Hauptfigur, die Kopistin Anna Holtz, ein. Auf diese Weise gelingt es, neben dem perifilmischen Authentizitätssignal6 auf Beethoven den Fokus auf eine Person neben dem Titelhelden zu legen: auf eine Person, die im heroengeschichtlichen Kontext grundsätzlich nicht als biografiewürdig galt, die aber durch das Stilmittel der „Kammerdiener-Perspektive“ nun präsent wird.7

Doch der Titel ist mehrdeutig und trägt neben dieser Interpretation, die auf die konkrete Tätigkeit des Kopisten oder der Kopistin abhebt, eine metaphorische Bedeutung, die für die Komponisten-Generation nach Beethoven zentral war: Denn gerade für diese galt es als Herausforderung, dem Kopieren beethovenscher Musik und damit dem Vorwurf des Epigonentums auszuweichen, mit einer eigenen Schreibart zugleich auch Einzigartigkeit als Voraussetzung zum Geniehaften unter Beweis zu stellen. Und während der „‚Maßstab Beethoven‘, an dem sich im 19. Jahrhundert jeder Komponist messen lassen musste, […] auf männliche ‚Nachfolger‘ bisweilen erdrückend“8 wirkte, war er für Komponistinnen aufgrund der männlich ausgerichteten Genieästhetik gänzlich undenkbar: Die Verbindung des Genialen mit dem Heroisch-Männlichen verschloss ihnen die Tür zur ‚hohen Kunst‘. Der Frau wurde die Rolle der Muse, der Inspirationsquelle zugewiesen. […] Eine Komponistin im schöpferischen Wettstreit mit dem ‚Originalgenie‘ war einfach nicht vorstellbar.9

Im Sinne der Genieästhetik galt Kopieren als Makel, als Zeichen fehlender Individualität und Originalität. Und in ebendiesem Sinne zielt der Titel Copying Beethoven auch auf eben jene Streitfrage ab, ob Frauen überhaupt schöpferisch tätig sein 6 Als perifilmisches Authentizitätssignal bezeichnet Knut Hickethier jene Elemente des biografischen Films, die „sich in unmittelbarer Nähe zum Film“ befinden und diesen als biografischen (in Abgrenzung zum fiktiven) Film kennzeichnen, so zum Beispiel Titel, Texttafeln und/oder einleitende (Erzähler-)Kommentare, die einen eindeutigen Hinweis auf die biografierte Person geben, vgl. dazu: Klein, Handbuch Biographie (wie Anm. 1), S. 159. Das perifilmische Authentizitätssignal im vorliegenden Fall ist demnach der Name Beethoven im Filmtitel. 7 Klein, Handbuch Biographie (wie Anm. 1), S. 163. 8 Maßstab Beethoven? Komponistinnen im Schatten des Geniekults, hrsg. von Bettina Brand und Martina Helmig, München 2001, Vorwort, S. [7]. 9 Ebd. Dass die Zuschreibungen von Originalgenie/Beethoven (= männlich) und kreativem Unvermögen (= weiblich) einer Theorie entsprach, die sich in der Praxis nicht immer durchsetzte, wird in dem erwähnten Band anhand einiger Komponistinnen und Interpretinnen exemplarisch dokumentiert.

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können. Konkret spielt er auf das Unvermögen von Anna Holtz als Komponistin an, zumindest auf die Tatsache, dass sie nicht aus dem Schatten ihres Vorbildes hinaustreten kann, dass sie Kopistin, nicht Nachfolgerin Beethovens bleibt. Hierzu findet sich eine Schlüsselszene gegen Ende des Films, einer Sequenz, in der vor allem die „Zukunft der Musik“ – mithin auch die Frage der Beethoven-Nachfolge – im Zentrum steht: In einem Wutanfall über die Technikgläubigkeit seiner Zeitgenossen hat Beethoven das Modell einer Eisenbrücke zerstört, das Anna Holtz’ Verlobter Martin Bauer entworfen hat. Anna Holtz stellt ihn zur Rede, er reagiert mit einer unerwarteten Replik: Ludwig van Beethoven: „Du liebst ihn nicht. Nicht ihn!“ Anna Holtz (ironisch): „Nun, dann liebe ich wohl Sie?“ Ludwig van Beethoven: „Nein, Du willst sein wie ich.“ Anna Holtz: „Ich will nicht mal in Ihrer Nähe sein.“ (Während Anna Holtz wütend das Zimmer verlässt, setzt sich Beethoven an den Flügel und spielt erstmals ihre Komposition10. Sie kommt zurück.) Anna Holtz: „Ich wollte nicht, dass Sie es sehen.“ (nimmt die Notenblätter weg) […] Ludwig van Beethoven: „Es ist gut. Ein paar Stellen muss man ausarbeiten. Sonst ist es sehr gut. Es ist kraftvoll und gefühlsbetont und von erfrischender Schlichtheit. Das einzige Problem: Du kopierst mich, Anna Holtz!“ Anna Holtz: „Ist das so schlecht?“ Ludwig van Beethoven: „Die Welt braucht nicht noch einen Beethoven, aber viel leicht Dich. Du darfst gehen, wenn Du willst. Aber das wird Dich nicht von mir befreien… Ich habe das Ende der Fuge überarbeitet. Sie ist fertig. Es ist meine Brücke, Anna Holtz. Meine Brücke zur Zukunft der Musik. Wenn Du sie eines Tages überquerst, wirst Du vielleicht frei sein.“11

Bis zum Ende des Filmes wird Anna Holtz nicht mehr als Komponistin gezeigt: sie ist wieder Beethovens Kopistin12 und die Große Fuge bleibt ihr bis zum Schluss unverständlich.13 Nichts deutet darauf hin, dass es ihr gelingen wird, jene „Brücke“ 10 Die als von Anna Holtz ausgegebene Komposition stammt von Antoni Łazarkiewicz, vgl. http://www.lazarkiewicz.art.pl/, 6.1.2010. 11 Copying Beethoven (01:25:12–01:27:05). Das Drehbuch wird hier und im Folgenden in der synchronisierten deutschen Fassung nach eigener Transkription wiedergegeben, die Zeitangaben basieren auf der DVD-Fassung Klang der Stille/Copying Beethoven, Concorde 2006. 12 In der vorletzten Szene diktiert ihr Beethoven vom Krankenbett aus den Beginn des dritten Satzes (Molto adagio, „Heiliger Dankgesang eines Genesenen an die Gottheit“) des Streichquartetts op. 132. 13 Copying Beethoven (01:29:25–01:29:47): Anna Holtz: „Ich höre sie einfach nicht so wie Sie, Maestro! Es tut mir leid.“ Ludwig van Beethoven: „Ist schon gut, Anna Holtz. Das macht nichts. Wirklich nicht. Es hat so enden müssen.“

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zu überqueren. Damit belässt Agnieszka Holland die (fiktive) Komponistin Anna Holtz in jenem Stadium, das die Genieästhetik des 19. Jahrhunderts für Frauen vorsah: nicht selbst schöpferisch tätig werden zu können, sondern allenfalls als Kopistin oder als Beethoven-Epigonin. In jener eben zitierten Schlüsselszene wird auch der Annahme einer erotischen Beziehung zwischen Anna Holtz und Ludwig van Beethoven endgültig eine Absage erteilt. Von Anfang an steht die Frage einer Liaison im Raum – sei es, dass im Gasthaus darüber Anspielungen gemacht werden, sei es, dass der Verlobte von Anna Holtz eifersüchtig und Beethovens Neffe anzüglich wird. Auch Mutter Canisius, eine nahe Verwandte, in deren Obhut Anna Holtz während ihres Aufenthalts in Wien lebt und die als junges Mädchen nach Wien kam, um bei Antonio Salieri zu studieren, macht Andeutungen, dass das Lehrer-Schülerin-Verhältnis dazu prädestiniert sei, aus der Schülerin eine Geliebte werden zu lassen. Sie warnt Anna Holtz davor und bietet ihr Schutz in ihrem Kloster an. Trotz dieser Andeutungen, Vermutungen und Vorannahmen findet eine körperliche Annäherung zwischen Beethoven und Holtz im Film nicht statt, trotz aller Nähe beim gemeinsamen Arbeiten bleibt die Beziehung platonisch. Unterstrichen wird dies vor allem durch Beethovens Äußerungen, er nennt Anna Holtz mehrfach einen „Engel“, seine „Muse“.14 Die auf diese Weise entsexualisierte Person entspricht dabei exakt jenem Frauenideal, das im 19. Jahrhundert an der Seite eines asketischen Genies vorstellbar war: nicht als konkrete (Ehe)frau oder als Sexualpartnerin, sondern entpersonalisiert als Muse oder entsexualisiert als Engel.

Im Sinne dieser Lesart ist auch eine weitere Schlüsselszene des Films, die Uraufführung der 9. Symphonie, konzipiert: Aufgrund seiner Taubheit kann Beethoven nicht mehr das Orchester leiten, tritt aber von der auratischen Position als Dirigent nicht ab, sondern verlangt nach einem Assistenten. Sein Neffe Karl verweigert sich, Anna Holtz übernimmt seine Stelle. Sie kniet zwischen den Orchestermusikern und dirigiert, Beethoven übernimmt ihre Tempi

14 Ludwig van Beethoven: „Ich bin fertig [mit der Komposition der 9. Symphonie]. Sehen Sie, Anna Holtz, Ihr Fleiß hat mich inspiriert. Sie müssen ein Engel sein. Eine Muse.“ (00:32:55–00:33:00, Hervorhebung: M. U.). Und: Ludwig van Beethoven: „Du musst sie erleben, diese Werke von mir. Es ist eine neue Sprache, Anna Holtz. Eine Sprache, um über die Erfahrungen mit Gott zu sprechen. Meine Erfahrungen mit Gott. Darum wurdest Du zu mir geschickt, um diese Sprache niederzuschreiben. Du bist seine schreibende Hand. Du liest durch mich von seinen Lippen. Und Du verstehst es. […]“ Beethoven überreicht ihr die Partitur seiner 9. Symphonie, sie liest die Widmung: „Meine liebe Anna. Du bist der Engel meiner Seele. Die einzigen Hände, denen ich sie anvertrauen kann, sie durch den Strom der Zeit zu tragen.“ (01:10:46–01:11:34).

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und Einsätze. Die lange Aufführungs-Sequenz ist dabei als visuelle Steigerung angelegt, deren Höhe- und Endpunkt in Kameraführung und Schnitttechnik deutlich an eine Liebesszene erinnert: Großaufnahmen der ekstatisch-verklärten Gesichter von Beethoven und Holtz werden übereinander geblendet, die dirigierenden Hände scheinen durch die gewählte Kameraperspektive den jeweils anderen zu streicheln, ein unruhige Kameraführung nimmt Momentaufnahmen von geschlossenen Augen und einem leicht geöffneten Mund auf.15 Die gemeinsame Ekstase findet im Erleben und Gestalten der Musik statt, nicht in einer körperlich erlebten Liebe. Dass in einer dritten Schlüsselszene des Films ebenfalls körperliche Nähe ohne sexuelle Anzüglichkeit auskommt, ist bezeichnend. In dieser Szene, in der eine Kernfrage des Komponierens thematisiert wird – die Inspiration –, gelingt es, die körperliche Annäherung durch religiöse Überhöhung als ‚rein‘ zu inszenieren: Beethoven hat Holtz soeben zum zweiten Mal eine Art Kompositionsstunde erteilt, die in der Sentenz endet: „Die Stille ist der Schlüssel. Die Stille, zwischen den Noten. Wenn diese Stille Dich umhüllt, kann Deine Seele singen.“16 Nach einer kurzen Pause fordert Beethoven sie auf, ihn zu waschen: Anna Holtz, weißt Du, was Du mir bedeutest? Die letzten Jahre habe ich in Angst gelebt, weil ich allein war wie ein Mann in einem Gefängnis. Dann hat Dich Gott zu mir geschickt. Durch die Gitterstäbe reiche ich Dir meine Noten. Du bist der Schlüssel zu meiner Befreiung. – Wasche mich!17

Nach anfänglichem Zögern greift Anna Holtz zum Waschzuber und beginnt, Beethoven zunächst den Oberkörper, dann die Füße zu waschen. In diesem Moment dreht Beethoven seinen Kopf zur Seite und die entstehende Komposition wird hörbar: Die musikalische Inspiration scheint durch die Fußwaschung ausgelöst worden zu sein. Die Fußwaschung als christliches Symbol des Dienens aber auch der Reinigung ist der Kulminationspunkt zahlreicher christlich-religiöser Anspielungen, die die Beethoven-Figur durch den gesamten Film hinweg begleiten: Beethoven selbst bezeichnet sich einerseits als Christus („Ich werde gekreuzigt! Gott im Himmel, warum peinigt man mich!“18), andererseits sieht er sich mehrfach mit Gott auf Augenhöhe, unter anderem in jener Szene, in der Anna Holtz ihm ihren Wunsch offenbart, Komponistin zu werden: 15 Copying Beethoven, vor allem 01:02:30–01:03:54, hier bezeichnenderweise auch zur Textstelle „[…] diesen Kuß der ganzen Welt.“ 16 Copying Beethoven (01:17:24). 17 Ebd. (01:18:19). 18 Ebd. (00:08:46–00:08:49).

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Anna Holtz: „Ich kam nach Wien, weil es Gottes Wunsch ist, dass ich Komponis tin werde.“ Ludwig van Beethoven: „Dann hat ER einen großen Fehler begangen, weil er aus Ihnen eine Frau gemacht hat.“ Anna Holtz: „Sie sollten nicht derart über Gott reden.“ Ludwig van Beethoven: „Ich versichere Ihnen Anna Holtz, der Allmächtige und ich verstehen uns prächtig. Wir sind wie zwei Bären in einer Höhle. Wir knurren, fletschen die Zähne und zeigen unsere Krallen. Wir schlafen Rücken an Rücken. Keiner wagt es, in unsere Nähe zu kommen.“ Anna Holtz: „Das klingt nach einer sehr einsamen Religion.“ Ludwig van Beethoven: „Einsamkeit ist meine Religion.“19

Weitere Beispiele wären zu nennen – der Befund bliebe derselbe: Die Beethoven-Figur des Films greift mehrfach zu jenen christlichen Vergleichen und Metaphern, die dem Geniebild des 19. Jahrhunderts inhärent waren und die gerade auch die Heroisierung Beethovens maßgeblich beförderten:20 ,Leidensnotwendigkeit‘, ‚Überwindung des Körpers durch den Geist‘, das wurden die entscheidenden Stichworte eines dem ‚Mythos Beethoven‘ kennzeichnenden Amalgams aus biografischen Momenten, sprachlichen Analogien zu Darstellungen des Leidenswegs Christi und Charakteristika einzelner seiner Kompositionen […].21

Durch die Fußwaschung scheint in Beethoven ein Charakterwandel stattgefunden zu haben: Der Vorstellung eines eruptiv schaffenden Künstlers entsprechend war Beethoven zuvor menschenverachtend, unbeherrscht und virilaggressiv, ein Künstler-Bild, das in einer Rezension aus der Los Angeles Times bezeichnenderweise mit dem Habitus von Jackson Pollock22 verglichen wurde: “it reduces Beethoven to a moldy cliché. [Ed] Harris reprises shades of Jackson Pollock to create a method Ludwig, for whom the creative process is an extended physical effusion.”23 Doch nach der Fußwaschung scheint Beetho19 Ebd. (00:46:48–00:47:17). 20 Vgl. dazu etwa auch Willy Hess, „Die Verunglimpfung des Genius. Auch ein Beitrag zum Beethoven-Gedenkjahr“, in: Österreichische Musikzeitschrift, 26. Jg., 1971, S. 37–40. In dieser Apologie des heroischen Beethoven-Bildes spielt der Christus-Vergleich eine zentrale Rolle. 21 Borchard, Beethoven: Männlichkeitskonstruktionen im Bereich der Musik (wie Anm. 5), S. 73. 22 Vgl. dazu Gabriele Rippl, „John Updikes ‚Seek My Face’ (2002) zwischen kunstgeschichtlicher Anekdote und fiktionaler (Meta-)Biographie“, Vortrag gehalten auf der Tagung „Anekdote – Biografie – Kanon. Zur Geschichtsschreibung in den schönen Künsten“, 19.–21. März 2009, Bern. Publikation in Vorb. 23 Carina Chocano, “Copying Beethoven”, in: Los Angeles Times, 10.11.2006, vgl. http:// www.calendarlive.com/movies/cl-et-beethoven10nov10,0,4658812.story, 6.1.2010.

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ven seinen inneren Frieden gefunden zu haben. In symbolischer Überladung macht – zumal zwei andere ‚Waschszenen‘ zuvor gerade den rüpelhaften, seine Mitmenschen verachtenden Beethoven charakterisiert hatten – die rituelle Waschung durch Anna Holtz Beethoven zu einem ‚reinen‘ Menschen, dessen Charakterschwächen durch die engelsgleiche Frau eliminiert werden und der durch sie einen letzten (göttlichen) Inspirationsschub erfährt. Eine abschließende Rundung erfährt diese inhaltliche Interpretation von Copying Beethoven als ‚Remake‘ einer Heroisierung der Titelfigur durch den Gesamtaufbau des Filmes: Der Ausschnitt aus Beethovens Leben, der im Film erzählt wird – die Zeitspanne zwischen Mai 1824 und Beethovens Tod – folgt in seinem Aufbau dem klassischen Plot-Prinzip, für das die „Verbindung der Ereignisse durch ein zusammenhängendes Narrativ mit ausgeprägten Ursache-Wirkung-Beziehungen“24 kennzeichnend ist. Damit nutzt der Film weder Techniken der Fragmentarisierung der Narration noch unterschiedliche Perspektivierungen, Montageverfahren oder andere, eine geschlossene Erzählhaltung aufbrechende Techniken, wie sie in Biopics der jüngsten Vergangenheit mehrfach Anwendung fanden.25 Die Geschlossenheit der Form und die „narrative Struktur [gehen] in der Regel mit einer Zentrierung auf die Hauptfigur einher. Dadurch ragt die Figur – ganz im Sinne der ‚Teleologie des Ruhms‘ – über alle anderen hinaus und wird ins ‚Übermenschliche‘ überhöht.“26

24 Klein, Handbuch Biographie (wie Anm. 1), S. 162. 25 Beispielsweise Nixon (Regie: Oliver Stone, USA 1995, vgl. dazu McKean Taylor, wie Anm. 1, S. 144–158) oder I’m Not There (Regie: Todd Haynes, USA 2007), eine Filmbiografie über Bob Dylan, die ihren Kinostart kurz nach Copying Beethoven hatte. Bernhard Fetz weist dabei zurecht darauf hin, dass mit I’m Not There ein „eindrückliches Beispiel“ der „Innovationsfreudigkeit des biographischen Films“ vorliegt, zugleich aber auch, dass hierbei biografische Innovationsformen aufgegriffen werden, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts immer wieder diskutiert und reflektiert werden, so u. a. bei Virginia Woolf (Orlando. Eine Biographie, 1928). Vgl. dazu Bernhard Fetz, „Die vielen Leben der Biographie. Interdisziplinäre Aspekte einer Theorie der Biographie“, in: Die Biographie. Zur Grundlegung ihre Theorie, hrsg. von Bernhard Fetz, Berlin, New York 2009, S. 3–66, hier S. 50 f. 26 Klein, Handbuch Biographie (wie Anm. 1), S. 162.

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Les valeurs ajoutées Eine Streunerei durch die Belle Époque mit Impressionen von Geschlecht und Tonalität „Das ist nicht sein Thema.“ Beatrix Borchard über Jan Brachmann, anlässlich einer Plauderei über Musik und Geschlecht.

Das dreizehnte Kapitel der Technik meiner musikalischen Sprache von Olivier Messiaen ist überschrieben mit „Harmonie, Debussy, hinzugefügte Töne“.1 Diese hinzugefügten Töne sind ein Aspekt der vielen „hinzugefügten Werte“ harmonischer oder rhythmischer Natur, der valeurs ajoutées, mit denen Messiaen das Vokabular der Musik zu erweitern suchte, ohne das Empfinden für Tonalität außer Kraft zu setzen. Unter dem Punkt eins dieses Kapitels geht Messiaen ein auf hinzugefügte Töne bei Claude Debussy, bei denen man zu dessen Zeit „von Vorhalten ohne Auflösung, von Durchgängen ohne Ziel“ sprach. Es handelt sich um harmoniefremde Töne – weder vorbereitet noch aufgelöst, ohne besonderen Ausdrucksakzent – die einfach zum Akkord gehören, seine Farbe verändern, ihm neue Würze, neuen Duft geben. Diese Töne behalten den Charakter von Eindringlingen, von etwas Zusätzlichem: die Biene in der Blume!2

Mit Bienen und Blüten erklärt man ja so mancherlei. Und Messiaens erstes Beispiel für einen hinzugefügten Ton im Akkord ist die sixte ajoutée, die hinzugefügte Sexte, meist in einem Durdreiklang. Dieser seit dem 18. Jahrhundert beliebte Akkord richtet nun allerhand an. Denn traut man der Metaphorik von den „Tongeschlechtern“, so tritt mit der Sexte zu einem Durakkord etwas hinzu, was das genus durum, das harte Geschlecht, verunklart in Richtung des genus molle, des weichen Geschlechts. Ein Sixte-Ajoutée-Akkord lässt sich als Durdreiklang mit hinzugefügter Sexte ebenso lesen wie als Umkehrung eines kleinen Moll-Septakkords. Er ist ein Konfusionsklang.

1 Olivier Messiaen, Technik meiner musikalischen Sprache, übersetzt von Sieglinde Ahrens, Bd. 1, Paris 1983, S. 45. 2 Ebd.

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Rameau habe diesen Akkord „vorausgeahnt“, schreibt Messiaen, Chopin und Wagner haben von der hinzugefügten Sexte „Gebrauch gemacht (und auch mehrere Komponisten mit einem leichten und unbeschwerten Temperament, namentlich Massenet und Chabrier)“. Doch erst den Kollegen Debussy und Ravel attestiert Messiaen, die hinzugefügte Sexte „endgültig in die musikalische Sprache eingeführt“ zu haben.3 Endgültigkeitsfragen sind Ansichtssachen, Komponisten „mit einem leichten und unbeschwertem Temperament“ jedoch ebenso sympathisch wie verheißungsvoll. Sie gehören einer Zeit an, die man nach dem Ersten Weltkrieg rückblickend „Belle Époque“ nannte. Klammern wir die ideologiekritische Diskussion einmal aus, dass diese Epoche nur schön war für eine herrschende oder gut verdienende Minderheit. Und vereinfachen wir die Datierungsfragen, indem wir uns pragmatisch auf die Zeit zwischen dem Ende des preußisch-französischen Krieges und dem Beginn des Ersten Weltkriegs, also 1871 bis 1914 festlegen.4 Diese Zeit lädt zu einem geistigen Flanieren ein, weil sie für das Projekt friedlicher, undramatischer Emanzipation stehen könnte. Sie ging mit dem Ersten Weltkrieg ebenso unter wie mit dem, was man in der Kunst „klassische Moderne“ nennt. Jene „klassische Moderne“ nämlich, die dem Krieg in ihrer Begeisterung für ihn mental verschwistert ist, scheint mir nichts anderes zu sein, als ein Scheitern der zivilen und unheroischen Moderne der Belle Époque, ein Scheitern in Gestalt von deren Ablösung durch eine polemische, heroische und dramatische Moderne, die Gewalt für etwas Notwendiges hält. Beschäftigen soll uns dies nur am Beispiel zweier Befreiungserzählungen: jener von der Emanzipation der Dissonanz und jener von der Emanzipation der Frau. Der Beginn der Belle Époque in Frankreich ist vielleicht gar nicht so sehr mit einem politischen Ereignis verknüpft als vielmehr mit einem künstlerischen: der neu aufflammenden Begeisterung für den Rokoko-Maler Antoine Watteau (1681–1721), wie sie sich in den Schriften der Brüder Goncourt, dem Gedichtzyklus Fêtes galantes von Paul Verlaine und schließlich der umfangreichen Schenkung mehrerer Watteau-Gemälde an den Louvre durch den Pariser Arzt Louis La Caze im Jahr 1869 manifestierte.5 Diese Rehabilitierung des 18. Jahrhunderts und mit ihm des Ancien Régime, die in einer Kultur des „zweiten Rokoko“ – und zwar europaweit – kulminierte, ging einher mit einer 3 Ebd. 4 Über das Ende der Belle Époque sind sich meistens alle einig; als Beginn stehen wahlweise der Tod Victor Hugos 1885 oder sogar erst der Regierungsantritt des englischen Königs Edward VII. im Jahr 1901 zur Diskussion; man könnte jedoch den Beginn ebenso gut vorverlegen auf 1851, das Jahr der ersten Weltausstellung in London. 5 Vgl. Iris Lauterbach, Antoine Watteau, Köln u. a. 2008, S. 12.

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kritischeren Sicht auf die Französische Revolution und alles Bürgerliche. Edmond und Jules de Goncourt holten in ihren sittengeschichtlichen Schriften aus zu einer ebenso lustvollen wie geistreichen und zudem informierten Kritik an der bürgerlichen Kultur, einer Kritik dezidiert von Rechts, mit unverhohlen aristokratischer Attitüde. In ihren Schilderungen aus der Zeit der Revolution – bis heute ist beider Histoire de la société française pendant la Révolution (1854) nicht ins Deutsche übersetzt – wimmelt es von Beschreibungen Angehöriger des Adels, die mit Anmut, moralischer Überlegenheit und Verachtung für bürgerliche Vorteilswahrung aufs Schafott gingen. Einen besonderen Raum in ihren historischen Forschungen nahm die Rolle der Frau ein. La femme au XVIIIme siècle (von 1862) ist eines ihrer Hauptwerke; der letzten Königin Marie-Antoinette sowie den beiden einflussreichsten Mätressen Ludwigs XV., der Madame Pompadour und der Madame Dubarry, widmeten sie eigene Monografien. Das Auffällige an diesen Arbeiten ist, dass sich die Goncourts überhaupt nicht auf biologistische Konstruktionen über das Verhältnis von Begabung und Geschlecht einlassen. Ihr „Lebensbild“ der Madame Pompadour6 ist darin beispielhaft: Das Geschlecht der Porträtierten spielt für die Darstellung nur insofern eine Rolle, als diese es gezielt einsetzte, um die Gunst des Monarchen zu gewinnen. Danach erfüllt die Weiblichkeit Pompadours keinerlei markierte Funktion mehr im Diskurs der Autoren: Die Leistungen der Frau, gerade auf politischem Gebiet, werden kritisch mit dem gleichen Blick beurteilt wie jene der Männer, der Minister, Generäle, Priester und des Königs. Die geschichtspolitische Pointe dieses Verfahrens gewinnt dabei auf noble Weise keinerlei methodische oder programmatische Betonung: Die Goncourts beschreiben völlig unaufgeregt einen Freiheitsvorsprung der Frau in der vor-bürgerlichen Gesellschaft gegenüber der bürgerlichen. Auch wenn der Adel sich nicht die Gleichheit aller Menschen zum Ziel gesetzt hatte, ließ er politische Mitbestimmung und weitgehende wirtschaftliche Selbständigkeit unabhängig vom natürlichen Geschlecht zu – zumindest in der Rückprojektion der Goncourts. Durch Déodat de Séverac, einen Angehörigen von Maurice Ravels Apachen-Clique, fand – beiläufig bemerkt – diese sittengeschichtliche Huldigung der Goncourts an die Mätresse Ludwigs XV. im Jahr 1907 ein musikalisches Pendant: Stances à Madame de Pompadour ist ein zartes Lento e molto espressivo in A-Dur für Klavier, das in seiner Harmonik reichlich von „hinzugefügten Noten“ Gebrauch macht und in der Coda – molto lento, zudem très tendre et 6 Vgl. Edmond und Jules de Goncourt, Madame Pompadour. Ein Lebensbild nach Briefen und Dokumenten. Ins Deutsche übertragen von M. Janssen und B. Rhein, Wiesbaden o. J. (ca. 1960).

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grave, schließlich encore plus doux zu spielen – ein tongeschlechtliches Sfumato erreicht, das auch durch George Gershwin oder Bill Evans nicht raffinierter hätte ersonnen werden können. Doch zurück zu den Goncourts: In ihren literarischen Arbeiten haben die Brüder (und nach Jules’ frühem Tod Edmond allein) dieses unbürgerliche Frauenbild von der Vergangenheit auf die Gegenwart übertragen. La Faustin etwa, ein Roman, den Edmond 1882 schrieb, macht uns mit der Schauspielerin Juliette Faustin bekannt, die sich auf dem Höhepunkt ihrer Karriere von der Bühne zurückzieht – ihrem Geliebten Lord Annandale zuliebe. Doch was zunächst wie Gehorsam gegenüber der bürgerlichen Sitte aussieht, nämlich die Privatisierung weiblicher Existenz und die Preisgabe wirtschaftlicher Unabhängigkeit, ist etwas ganz anderes: Juliette Faustin verlässt aus freien Stücken den Beruf und lehnt zugleich den Heiratsantrag von William Annandale ab. Sie akzeptiert das Eheversprechen nicht als Gegenleistung und Tauschhandel. So wahrt sie im Verzicht ihre Souveränität. William ist von dieser aristokratischen Geste – der Machtbehauptung durch verweigerte Vorteilsnahme – so verwirrt, dass er tödlich erkrankt. Dieser Abschied von der weiblichen Opferrolle sollte typisch werden für die Literatur der Zeit. Im gleichen Jahr ließ auch Theodor Fontane in der Novelle L’Adultera eine Scheidungsgeschichte – anders als später in Effi Briest – nicht mit dem Untergang der Frau enden. Einundzwanzig Jahre später, also 1903, veröffentlichte Eduard von Keyserling seine Erzählung Beate und Mareile. In deren Mittelpunkt steht die Opernsängerin Mareile Ziepe, die nicht nur die Scheidung vom Maler Hans Berkow ganz passabel verkraftet, sondern auch ihre berufliche Unabhängigkeit verteidigt, als Günther von Tarniff eine Affäre mit ihr beginnt. Bezeichnend ist jener leise, gelassene Dialog, den Mareile und Günther in einer Berliner Wohnung miteinander führen. Günther beginnt: „Ach, wollen wir fortgehen – irgendwohin, wo es still und heiß und blau mit Gold besetzt ist.“ Mareile schüttelte den Kopf. „Warum?“ fragte er böse. „Weil ich arbeiten muß“, meinte sie. „Arbeiten? Warum?“ „Um Geld zu haben.“ „Geld? Warum nimmst du nicht meines?“ „Weil ich eine selbständige Welle bin, wie das alte Buch in der Türkenbude sagt.“7 7 Eduard von Keyserling, „Beate und Mareile“, in: ders., Abendliche Häuser. Ausgewählte Erzählungen, hrsg. von Wulf Kirsten, Berlin 1986, S. 23–128, S. 116.

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Weitere Figuren ließen sich benennen, darunter die Literaturexpertin Frieda Wulffen, die in Walter Leistikows Künstlerroman Auf der Schwelle den jungen Dichter Hans Lürssen dadurch beeindruckt, dass „sie so klar, so frei im Leben stand“ und „durch eigene Kraft sich zu einem solchen hohen Verstehen aufgearbeitet“ hatte, weshalb Lürssen glaubt, Frieda Wulffen sei „ihm an Intelligenz und an Temperament so himmelweit überlegen“.8 Das undramatische Schildern und Beurteilen der Madame Pompadour durch die Goncourts ist hier dem Empfinden von Konkurrenz oder gar männlicher Unterlegenheit gewichen. Das Geschlechterverhältnis wird bei Leistikow latent heroisiert, wenn auch noch nicht zu einem Kampf zugespitzt. Der Historiker Willy Haas sah das zentrale Ereignis der europäischen Belle Époque in „der vielleicht größten, entscheidenden, ja einzig wahren Revolution des endenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts“, nämlich dem Ende der patriarchalischen Familie, des patriarchalischen Staates, der patriarchalischen Welt. „Sie ist in knapp zehn Jahren zusammengestürzt“.9 Im Bild vom „Kampf der Geschlechter“, bei heroischen Modernisten wie Nietzsche oder Strindberg ausgemalt, sowie im magischen Erotismus eines Baudelaire oder Wagner allerdings erblickte Haas das „gesamte geistige Urmaterial […] des Antifeminismus, des erotischen Dämonismus und des neuen Irrationalismus“.10 Demgegenüber hatten die Brüder Goncourt schon 1864 in ihrem Roman Renée Mauperin die Figur eines völlig unverkrampften Patriarchen entworfen. Der alte Charles-Louis Mauperin ist es, der die Freigeistigkeit und Ungebundenheit seiner Tochter Renée genießt und gar nichts dagegen hat, dass sie – unverheiratet – mit einem jungen Mann – ebenfalls unverheiratet – sommers in der Seine badet. Als sich seine Frau darüber empört, dass Monsieur so etwas gestatte, antwortet der Papa: „Madame Mauperin, […] ich gestatte nicht, ich dulde es“.11 Genau das ist das Modell der valeurs ajoutées. Das Abweichende, bislang Fremde oder gar Unzulässige wird nicht als Bedrohung oder Konkurrenz empfunden, eben weil man sich des eigenen Fortbestehens gewiss bleibt. So erscheint das neu Hinzutretende als Bereicherung, das – ohne eine Zerstörung bereits existenter Regeln – geduldet werden kann, aber nicht bekämpft werden muss. Kaum ernsthaft betrachtet wurde bislang, dass sich der Übergang zur Atonalität – also das Sprengen existenter Regeln – bei Arnold Schönberg 1909 8 9 10 11

Walter Leistikow, Auf der Schwelle, Berlin 1896, Reprint: Berlin 2008, S. 223. Willy Haas, Die Belle Époque, München 1967, S. 69. Ebd., S. 75. Edmond und Jules de Goncourt, Renée Mauperin (1864), aus dem Französischen übertragen von Curt Noch, Leipzig 1982, S. 18.

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in direkter Reaktion auf ein dramatisches Geschlechterverhältnis ereignete: Seine Ehe mit Mathilde war „vermutlich schon bald nach der Geburt des Sohnes Georg im September 1906“12 zerrüttet. Im Sommer 1908 trat Schönbergs Frau zusammen mit dem Maler Richard Gerstl, der ihr leidenschaftlich zugetan war, die Flucht an, kehrte jedoch zurück. Dass diese Ereignisse bei der Komposition von Schönbergs zweitem Streichquartett eine Rolle gespielt haben, wird gar nicht in Abrede gestellt, ja sogar eigens betont beim Zitat des Liedes „O, du lieber Augustin, alles ist hin“. Dennoch hält man landläufig den Übergang zur Atonalität im Finale nicht für den Bewältigungsversuch privater Spannungen, sondern für die geschichtsphilosophische Konsequenz aus der Entwicklung spätromantischer Harmonik seit Richard Wagner. Dass die Schönberg’sche „Emanzipation der Dissonanz“ jedoch geboren wurde aus dem Gefühl einer Bedrängung oder gar Gefährdung als Ehemann und Vater, also einer kritischen Situation des eigenen patriarchalen Status, mag so nebensächlich gar nicht sein. In der Auseinandersetzung mit der Dichtung Richard Dehmels war das herrschaftsfreie Miteinander der Geschlechter ohnehin schon seit Jahren ein Thema für Schönberg, wenngleich er – wie Dehmel – den Weg dahin stets als dramatischen, konfliktgeprägten Prozess mit betonten Brüchen und Durchbrüchen gestaltete. Doch eigentlich war die Dissonanz – ohne dabei die Tonalität zu zerstören und die Konsonanz mit einem Tabu zu belegen – zu jener Zeit längst von alten Stimmführungs- und Kadenzregeln befreit, eben durch jenes Verfahren der „hinzugefügten Noten“, das Verwenden „von Vorhalten ohne Auflösung, von Durchgängen ohne Ziel“, um an Messiaens Formulierung zu erinnern. Nicht erst Debussy war dieser Umstand zu verdanken. Er selbst hatte hier – wahrscheinlich in seiner Zeit als Hauspianist bei Nadeshda Filaretowna von Meck – viel von russischen Komponisten gelernt, auch wenn er es nicht gern zugab. Maurice Ravel war da weniger um Einflussverleugnung bemüht. Der Anfang der zweiten Symphonie von Alexander Borodin diente ihm (dem jugendlichen Liebhaber von Kosakenhemden) und seiner Clique als Erkennungspfiff. Borodin machte von den hinzugefügten Noten reichlich Gebrauch. Die Rêverie seiner Petite Suite für Klavier von 1885 beginnt gleich mit einem frei einsetzenden Sixte-ajoutée-Akkord, und das abschließende Nocturne fügt noch ganz andere Intervalle zu den Normklängen hinzu. Borodins Verfahren ist ein hedonistisches, kein expressives, dramatisches oder polemisches. Ohne große Herleitung finden wir ein konfliktfreies Neben- und Ineinander von Konsonanz und Dissonanz bei gewahrter Tonalität. Nikolaj Rimskij-Korsakow konnte über 12 Hans Heinz Stuckenschmidt, Schönberg. Leben, Umwelt, Werk (1974), München 1989, S. 88.

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den Arzt, Chemiker und Komponisten Alexander Borodin zugleich schreiben: „Er war einer der eifrigsten Streiter für die Gleichstellung der weiblichen Studenten an der medizinischen Fakultät und trat den verschiedensten Hilfs- und Förderungseinrichtungen der studierenden Jugend, besonders der weiblichen, bei“.13 Acht Jahre später, 1893, eröffnete Sergej Rachmaninow das zweite seiner Sechs Lieder op. 8 mit einem viertaktigen Vorspiel aus lauter unvorbereiteten und folgenlosen Akkorden mit allerlei hinzugefügten Noten, mezzoforte harmonioso zu spielen, in leuchtendem Es-Dur. Der folgende Text ist die russische Version einer bekannten Frauenhuldigung von Heinrich Heine: „Du bist wie eine Blume“. Man erlebt bei dieser harmonischen Technik die Einebnung des Gefälles von Konsonanz und Dissonanz. Zugleich verliert der Prozess der Harmonik seine Richtung – anders als in der drängenden, auf dramatische Durchbruchsund Mündungsereignisse gerichteten Chromatik Wagners, deren übersteigerte Leittönigkeit dann geschichtsphilosophisch angeblich zwingend zu Schönberg führen musste. In Frankreich hat Gabriel Fauré diese Richtungslosigkeit fließender Harmonik zu enormer Unvorhersehbarkeit verfeinert. Dabei gelang es ihm, die Bindungen an traditionelle Kadenzfunktionen völlig aufzugeben, ohne das tonale Empfinden zu zerstören. Im Januar 1910 vollendete Fauré, unter dessen Direktion am Pariser Konservatorium erstmals Frauen den Prix de Rome gewannen (Nadia Boulanger 1908 den zweiten Preis, ihre Schwester Lili 1913 den ersten), seinen Liederzyklus La Chanson d’Ève nach Texten des belgischen Symbolisten Charles van Lerberghe. Ganz ruhig, in fast kargem Satz, mit Anlehnung an die Gregorianik nähert sich Fauré hier den Texten, in denen Eva (und nicht Adam) im Paradies von Gott ermuntert wird, allen Geschöpfen einen Namen zu geben. Eva entdeckt die Schöpfung, die Sprache und ihre eigene Stimme dabei. Die ersten drei Töne des Klaviers, nacheinander gespielt, aber teils zusammenklingend, sind e1, h1, c2 – der Rahmen eines Sixteajoutée-Akkords in Moll. Wie es für die Komponisten Charme hatte, zu bekannten Akkorden Töne hinzuzufügen, so hatte es für die Literaten einen Reiz, zu bekannten Geschlechtern weitere zu erfinden – fernab der spirituellen Keuschheit eines Fauré, gelegentlich sogar mit Absicht einer sexuellen Transgression. Joris-Karl Huysmans ließ im berühmtesten Dandy-Roman der Jahrhundertwende, A rebours, deutsch auch: Gegen den Strich, seinen müden Helden Floressas Des Esseintes im Jahr 1884 die Bekanntschaft von Miss Urania machen, „eine Amerikanerin mit kräftig gebautem Körper, nervigen Beinen, Muskeln aus Stahl und Armen aus 13 Nikolaj A. Rimskij-Korsakow, Chronik meines musikalischen Lebens, hrsg. und aus dem Russischen übertragen von Lothar Fahlbusch, Leipzig 1968, S. 216.

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Gußeisen. Sie war eine der berühmtesten Zirkusakrobatinnen ihrer Zeit“.14 Im Verlauf der weiteren Annäherung an Miss Urania sah Des Esseintes „in ihr eine künstliche Geschlechtsumwandlung vor sich gehen; ihre anmutigen Possen, ihre Weibchenaffektiertheit verwischten sich immer mehr, indes sich an ihrer Stelle der agile und mächtige Zauber des Maskulinen entwickelte“.15 Doch die Enttäuschung folgte für den Décadent auf dem Fuße, denn Miss Urania war „im Bett von puritanischer Zurückhaltung und besaß keine der Athletenbrutalitäten, die er ersehnte und zugleich fürchtete“.16 Es scheint bezeichnend, dass diese Männerphantasie wieder von den Fermenten der Gewalt und des Dämonischen durchsetzt ist, während wenige Jahre später eine Frau, nämlich Colette, ganz unbeschwert, geradezu zivil mit unklar definierten Geschlechterrollen spielt. Ihr Roman Chéri über die Liaison eines jungen Mannes mit einer vierundzwanzig Jahre älteren Frau beginnt mit der Bitte des Mannes: „Léa! Schenk sie mir, deine Perlenkette! Hörst du, Léa? Schenk mir deine Kette!“17 Als Léa ihm das Geschenk verweigert – das sei doch nichts für ihn – und ihm lieber eine Krawattennadel mit Perle kaufen möchte, entgegnet der geschlechtsdiffuse Liebhaber: „Ich stehe über den Konventionen. Ich finde es idiotisch, daß ein Mann eine Perle als Nadel oder zwei für Manschettenknöpfe von einer Frau annehmen kann, sich aber entehrt fühlt, wenn sie ihm fünfzig schenkt“.18 Es lag wohl in der Natur der Dinge, dass Colette und der Krawattenperfektionist Maurice Ravel bei der Oper L’Enfant et les Sortilèges zusammenfanden. Denn schon 1903 hatte Ravel die Metaphorik von den „Tongeschlechtern“ geradezu wörtlich genommen und mit ihrer Überlagerung gespielt. „Deine Augen sind süß wie die eines Mädchens, junger Fremder“, beginnt der Schlussgesang seiner Shéhérazade nach Texten von Arthur Leclère (der das grotesk wagnerianische Pseudonym Tristan Klingsor benutzte). Und dieser Monolog einer faszinierten Frau endet mit der Bewunderung für „ta démarche féminine et lasse“, den lässigen und weiblichen Gang des Burschen. Ravel leitet das Lied ein mit langsam pendelnden Akkorden aus ineinander verzahnten Quinten. So entstehen Dreiklänge mit hinzugefügten Noten, die sich als Überlagerung von Dur und Moll begreifen lassen: beide Geschlechter in einem. Das 14 Joris-Karl Huysmans, Gegen den Strich, aus dem Französischen von Brigitta Restorff, München 32007, S. 126. 15 Ebd. 16 Ebd., S. 127. 17 Colette, Chéri/Chéries Ende. Aus dem Französischen von Roseli und Saskia Bontjes van Beek, Frankfurt a. M. 1999, S. 7. 18 Ebd., S. 8.

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Lied heißt L’ Indifférent. Man übersetzt dies gern (durchaus richtig) mit „Der Gleichgültige“, da der Junge tatsächlich nichts wissen will von der Frau, die ihn beobachtet. Doch zugleich ist L’Indifférent der Unentschiedene und Unentscheidbare, quasi ein Sexe-ajouté, dessen eigentümlicher Reiz gerade darauf beruht, dass die etablierten Geschlechter bekannt und intakt sind, ohne in gewaltsame Konkurrenz zueinander zu treten. Der gewahrten Tonalität kommt dabei die Bedeutung einer vertrauten Welt zu, die man nur auf neue Weise miteinander teilt, statt sie zu zertrümmern. In Dänemark, wo die Frau des Komponisten Carl Nielsen, nämlich AnneMarie Brodersen, zur bedeutendsten Bildhauerin des Landes werden konnte und den Auftrag für das Reiterstandbild des Königs Christian IX. erhielt und ausführte, schrieb zur Zeit Ravels und Nielsens der Dichter Gustav Wied seinen tiefsinnig-komischen Roman Die leibhaftige Bosheit. Er endet mit dem Gespräch zweier Freunde, des Oberlehrers Clausen und des Zollvorstehers Knagsted (seiner borstigen Körperbehaarung wegen „Esau“ genannt). Die beiden haben den lang verspotteten jungen Hofbesitzer Emanuel Thomsen besucht, dessen Frau Wulfdine ihr erstes Kind erwartet. Auf dem Heimweg wünscht sich Clausen etwas. „Daß es ein Junge werden möchte, den die kleine Wulfdine da draußen bekommt, denn das Dasein würde Emanuel Thomsen ein wenig lichter erscheinen, wenn er einen Stammhalter bekäme, für den er arbeiten könnte – Meinst du nicht auch?“ „Hm ja, vielleicht“, antwortete Esau, „aber, weißt du, es ist doch im Grunde hier in der Welt dumm eingerichtet, Clausen“, fuhr er fort, indem er nach einer vorüberfliegenden Mücke schlug, „daß man nur zwei Sorten Kinder bekommen kann“. „Unsinn, Knagsted!“ „Ja, das sagte der selige Mörch auch.“ Und dann stießen sie von neuem ihre Stäbe in den Kies.19

19 Gustav Wied, Die leibhaftige Bosheit (Livsens ondskab, 1898), Rostock 1965, S. 251.

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Papagenas Ahnin oder Die Tugend des Stillschweigens Aus Anlass des Namenstages von Kaiser Leopold I. wurde 1688 in Wien das Dramma per musica Il Silentio di Harpocrate aufgeführt. Es war absolut ungewöhnlich für die Musiktheatergepflogenheiten am Habsburger Hof, eine elf Jahre alte Oper ein zweites Mal einzustudieren. Noch dazu war dieses Lehrstück über das Stillschweigen 1688 ästhetisch veraltet, denn es trat, was zu dieser Zeit in Wien lange schon nicht mehr üblich war, ein komisches Paar auf – Limaco, ein einfältiger Schüler des Harpocrates, und Cleta, ein schwatzhaftes Hoffräulein. Außerdem wurde die Oper bei der Wiedereinstudierung frappierenderweise von „Frauen=Zimmern und Cavalliern Wälsch gesungener vorgestellt“, wie aus dem Titelblatt der deutschen Librettoübersetzung1 zu erfahren; „vorgestellet“ werde die Oper, so führt die Vorrede „An den Leser“ weiter aus, „von Frauenzimmern und Cavalliern hohes Standes und ansehentlichster Würden / welche die Zierde der Music auß guter Neigung und Geschicklichkeit deß hohen Geists / nicht auß Ubung und mühsamer Erlernung besitzen“2. Es muss besondere Gründe für die Neueinstudierung eines ästhetisch nicht aktuellen Musiktheaterwerks und die Dilettantenbesetzung gegeben haben – möglicherweise ähnliche, wie 1677, als Il Silentio di Harpocrate als Faschingsoper mit brisantem Realitätsbezug auf die Bühne gebracht worden war. Auf diesen Hintergrund hat Herbert Seifert, gestützt auf die Korrespondenz des Grafen Lorenzo Magalotti3, aufmerksam gemacht: Magalotti habe unter Angabe der Seitenzahl im gedruckten Libretto berichtet, der offenbar allgemein bekannte Anspielungscharakter der Handlung sei ihm erst einige Zeit nach der Aufführung erklärt worden. Es gehe darum daß der Graf Johann Quentin I. Jörger, der Vizepräsident der Hofkammer, nicht aufhöre zu versuchen, die Rückkehr des 1669 verbannten Fürsten Johann Weikhard von Auersperg zu betreiben, der ihm verwandt war. Zu diesem Zweck habe er durch eine Nichte, die gegenüber dem Hofkanzler Hocher wohne und durch ein in die Mauer gebohrtes Loch Einblick in dessen Privatraum habe, in Erfahrung 1 Nicolò Minato, Das Stillschweigen Deß Harpocrates. Libretto-Druck, dt. Übersetzung, Wien 1688 (Österreichische Nationalbibliothek Wien: 25.830-A M). 2 Ebd., ohne Seitenzählung. 3 Graf Lorenzo Magalotti (1637–1712) trat 1677 in den Dienst von Ferdinando II de Medici. Seine Laufbahn als Diplomat führte ihn durch Europa.

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gebracht, daß dieses Kabinett oft von der Frau Hochers und einem Diener betreten werde. Diese beiden blätterten Schriftstücke durch und fertigten von manchen Abschriften an. Der Kaiser, dem dies berichtet worden sei, habe sich jedoch damit begnügt, die Angelegenheit komponieren zu lassen. Auch Hocher habe davon erfahren. […] Außer allgemeiner Kritik an Höflingen […] kommt auf der von Magalotti genannten Stelle ein ganz konkreter Fall zur Sprache.4

In der von Magalotti angeführten 13. Szene des II. Aktes von Il Silentio di Harpocrate warnt Harpocrates (ein Weltweiser) Gelanor (den König von Argos) vor dem Treiben an seinem Hof: Herr. Es ist einer / der in Bewahrung deren ihme anvertrauten Schrifften / etwas unachtsamer ist / dannenhero / oder durch die nicht wohl verschlossene Thür  / oder aber vermittels nachgemachter Schlisseln / ein verstohlene Hand darüber kommet / dieselbige entziehet / und für das Gelt / den Außspehern zukommen lasset. Die Schuld dieses Verbrechens traget zweiffels ohne jener / der sie seiner Pflicht gemäß nicht besser verwahret. […] Ich bitte dich aber O König / verfahre mit denen / so die Verschwiegenheit verletzen / eben also wie die Kälte zur Winterszeit mit dem Gewässer der rauschenden Bäche. Sie schliesset ihr lautmähriges Geschwätze in die Bande deß Eyses ein.5

Im Libretto geht es einerseits um eine (ziemlich verworrene) Liebesintrige, andererseits um die Erziehung zum Schweigen als einer unverzichtbaren Maxime höfischen Sprachverhaltens6. Die Belanglosigkeit der Liebesintrige und die philosophisch-diskursive Anleitung zu höfisch-politischer Klugheit, die die Kunst des Schweigens zu umfassen habe, stehen im Libretto letztlich unverbunden nebeneinander. Das wenig plausible Nebeneinander scheint Resultat der Herausforderung zu sein, eine für das Musiktheater taugliche Darstellungsweise für die eigentlich im Zentrum stehende Hofkritik zu finden – als brauche es besonderer Umdrehungen der handelnden Personen auf der Bühne, um die schwerwiegende Aussage theatral kommunizierbar zu machen.

4 Herbert Seifert, Die Oper am Wiener Kaiserhof im 17. Jahrhundert, Tutzing 1985 (Wiener Veröffentlichungen zur Musikgeschichte 25), S. 270 f. 5 Minato, Stillschweigen (wie Anm. 1), S. 45. 6 Vgl. dazu Claudia Benthien, Barockes Schweigen. Rhetorik und Performativität des Sprachlosen im 17. Jahrhundert, München 2006, S. 24: „In der bisherigen Forschung zur Frühen Neuzeit wurde das Thema Schweigen nur marginal berücksichtigt. Der einzige Autor, der ihm aus germanistischer Perspektive einige Aufmerksamkeit widmet, ist Wilhelm Kühlmann, der in seiner Studie über Gelehrtenrepublik und Fürstenstaat das Thema unter der Überschrift ‚Das bedachte Verstummen als Maxime politischen Sprachverhaltens‘ behandelt.“

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Mehrfach ist von der Geschwätzigkeit bei Hof die Rede (I, 2; I, 10; III, 4; III, 12), die vor allem von Cleta verkörpert und proklamiert wird. Geschwätzigkeit scheint die Regel, Stillschweigen die Ausnahme am Hof. Harpocrates ist dementsprechend erfreut über die Schweigsamkeit von Gelanors Sohn Acrisius: In ihm findet er immerhin einen am Hof des Königs von Argos, der schweigen kann. Harpocrates, zunächst verborgen, wird (im II. Akt) Ohrenzeuge eines Gesprächs zwischen Gelanor und Acrisius mit Argenor (einem ägyptischen Fürsten). Er gibt Acrisius im Laufe des Gesprächs mehrfach Zeichen zu schweigen, tritt schließlich hervor und belehrt den König und dessen Sohn über die Unverzichtbarkeit des Schweigens: Herr / das Stillschweigen verführet niemand / Wohl aber das unachtsame / boßhaffte und büssige Geschwätze; und dem ienigen / der schweiget / ist man vielmahl zu dancken verpflüchtet. Liebe / O König / das Stillschweigen / als eine Stütze der Thronen : Und hütte dich vor den ienigen / welche entweder auß Pralerey / damit sie nemlich für deine Vertraute sollten angesehen werden / oder auß Unachtsamkeit / oder auß angebohrner Schlupferigkeit ihrer Zungen das ienige außschwätzen / was du ihnen entdeckest / und keine Acht haben / dieses zu verschweigen / was ihnen von Pflicht wegen gebühret. […] Du wirst mehrmalen gehöret haben / daß man den Hoff einem Meer vergleiche. Mir aber gehet diese Gleichheit gar nicht ein. Weil keine stumme Fisch darin zufinden seyn.7

Der Gedanke, dass eine Staatsführung unbedingt einer getreuen Verschwiegenheit8 bedarf, wird von Harpocrates nochmals mit aller Deutlichkeit in der 4. Szene des III. Aktes ausgesprochen: Ach Herr / seye darob / daß in deinem aller­klugisten Kriegs= und Staats=Rathschlüssen / die Verschwiegenheit un­verletzt bleibe / und kein vorhineylender Schall den Würckungen vorgehe.9

Unter der Überschrift „Emblematik und Ikonographie des Stillschweigens“ untersucht Claudia Benthien im zweiten Kapitel ihrer Studie Barockes Schweigen. Rhetorik und Performativität des Sprachlosen im 17. Jahrhundert „bildliche Darstellungen, literarische Gestalten, Personifikationen, Allegorien, Typen, Topoi und rhetorische Figuren […], die schweigen, Schweigen repräsentieren oder Formen des Verstummens und der Unsagbarkeit codieren.“10 Harpocrates, „bis in die Frühe Neuzeit als wichtigste allegorische Figur des Schweigens 7 Minato, Stillschweigen (wie Anm. 1), S. 41 f. 8 Vgl. dazu ebd., S. 13: „Sehr viel ist den Königen daran gelegen / daß durch getreue Verschwiegenheit der Eingang zu ihren Throne bewahret werde.“ (I, 10). 9 Ebd., S. 54. 10 Benthien, Barockes Schweigen (wie Anm. 6), S. 36.

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tradiert“11, widmet sie einen höchst instruktiven Abschnitt, der eine Fährte zum Wiener Hof legt:12 Harpokrates findet in zahlreichen gelehrten Schriften Erwähnung und wird titelgebende Figur für ethische und theologische Publikationen von Autoren verschiedener Konfessionen und mit gänzlich variierender Thematik […]. Auch Athanasius Kirchers monumentales Werk Oedipus aegyptiacus (1652–54) zählt zu den einschlägigen Darstellungen des Harpokrates in der Frühen Neuzeit. Wie wichtig Kircher diese Figur ist, belegt die Tatsache, dass er am Ende der Widmungsvorrede an Kaiser Ferdinand III. ein Gedicht einfügt, das auf das Stillschweigen als höchste Form des Lobes verweist und sich im Anschluss an das Gedicht eine bildliche Darstellung mit einer jungen Frau in Harpokrates-Pose findet.13

Die Tugend der Schweigsamkeit spielte mithin bereits im Umfeld von Leopolds Vater Ferdinand III. eine zentrale Rolle und stand darüber hinaus, so Claudia Benthien, auch sonst hoch im Kurs: Als Ausdruck und Element der Macht wird Verschwiegenheit in der Frühen Neuzeit in politischen Kontexten strategisch eingesetzt; zahlreiche Klugheitsund Verhaltenslehren bringen den am Hofe agierenden Individuen bei, wie sie die Beweggründe ihres Handelns, ihnen zugängliche Informationen und Affekte zurückhalten und dissimulieren können. Sie schützen sich so vor Angriffen und Missinterpretationen und etablieren zugleich eine Aura der Wichtigkeit und des Geheimnisses. Die Kontrolle sprachlicher Äußerung gilt als zentrales Element der Selbstbeherrschung. Macht wird darin nicht nur ausgeübt, sondern auch erzeugt. Demgegenüber steht das Schweigen-Müssen von sozial Niedrigstehenden oder Entmachteten, das – ebenfalls performativ, wenngleich auch unwillentlich – gesellschaftliche oder situative Machtlosigkeit herstellt.14

Im Kontext ihrer Überlegungen thematisiert Claudia Benthien abschließend auch Il Silentio di Harpocrate15 als eine „gesungene [...] Verhaltenslehre des Stillschweigens“16, wobei ihr Blick allerdings lediglich auf den profanen Bereich fällt. Es gehe in dieser Oper um ein profanes Schweigen, sowohl im Sinne der persönlichen Taktik als auch der höfischen Klugheit. Primäres Anliegen ist es, Gefühle wie Begehren, Liebe, Zwei11 12 13 14 15

Ebd., S. 42. Vgl. ebd., S. 42–55. Ebd. S. 45 f. Ebd., S. 158. Vgl. ebd., S. 191 ff. Zu Il Silentio di Harpocrate vgl. auch Michael Ritter, „Man sieht der Sternen König glantzen“. Der Kaiserhof im barocken Wien als Zentrum deutsch-italienischer Literaturbestrebungen (1653–1718) am besonderen Beispiel der Libretto-Dichtung, Wien 1999, S. 95 f. 16 Benthien, Barockes Schweigen (wie Anm. 6), S. 158.

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fel, Misstrauen und verletzte Eitelkeit nicht im Überschwang zu äußern, sondern sie klug für sich zu behalten. Insbesondere in Liebesdingen, so lehrt der maestro del silenzio, sei Vorsicht geboten; beispielsweise sei es ratsam, einen gegen die Geliebte aufkommenden Verdacht nicht sofort zu äußern.17

Obgleich Claudia Benthien damit eine überzeugende Zusammenfassung für den Aspekt der Liebesintrige gibt, greift die Interpretation doch zu kurz, da sie offenkundig ohne Kenntnis der konkreten politischen Anspielung entstanden ist.18 Die Verschwiegenheit wird in Il Silentio di Harpocrate im Hinblick auf das Lebensalter, den Stand und das Geschlecht differenziert: „Bey der Jugend ist sie eine Schamhafftigkeit / bey Erlebten eine Klugheit / bey Dienenden eine Ehrentbietung“, exponiert Harpocrates (in I, 2) und setzt zuspitzend fort, „das Stillschweigen“ sei eine „Zierde deß Adels und Hoher Fürsten“, die Geschwätzigkeit „eine Gewohnheit deß niederträchtigen Pövels.“19 Ebenso eindeutig scheint auf den ersten Blick die Geschlechterdifferenzierung zu sein: Stillschweigen sei „bey den Frauen ein Wunderwerck“20. „Ein Geheimnuß / daß man einem Weib“ anvertraue, so Harpocrates (in III, 12), sei „wie ein Wasser / daß man laitet. Rinnet von einer Röhren in die andere / biß es endlich auff die Erde fallet / allwo es mit Staub und Sand vermenget zu einer Lacken wird / so sich auff alle Seiten erbreitet.“21 Bei genauerem Hinsehen erweisen sich die Frauen dann jedoch in sehr verschiedenem Maße des Schweigens mächtig: Cleta, das junge Hoffräulein, kann und will nicht schweigen. Limaco versucht (in I, 16) vergeblich, sie dazu zu bewegen, bricht seine Versuche dann aber mit den entnervten Worten ab: „Ey schwätze dir deinen Kragen ab. Es ist ein greuliche Sachen / daß man die Heuschreck und Weiber nie kann schweigen machen.“22 Ganz anders allerdings die Hofdame Elidora, die sogar ihrer Königin Lincea gegenüber im Schweigen standhaft bleibt. „Ein Frauenbild / das schweigt?“, fragt Harpocrates (in I, 15) verwundert und kommentiert, sie sei „fürwahr von allen die Erste / die verschwiegen.“23 17 Ebd., S. 192 f. 18 Das Literaturverzeichnis von Claudia Benthiens Studie enthält nicht die oben angegebene grundlegende Studie von Herbert Seifert, in der der politische Hintergrund des Librettos offengelegt ist und sich auch Angaben zu den beiden erhaltenen Akten der Partitur von Il Silentio di Harpocrate finden, von der Benthien behauptet, sie sei „bedauerlicherweise nicht überliefert“ (S. 191). 19 Minato, Stillschweigen (wie Anm. 1), S. 3. 20 Ebd. 21 Ebd., S. 66. 22 Ebd., S. 23. 23 Ebd., S. 20.

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Königin Lincea deutet das Schweigen der rangniederen Hofdame Elidora ihr gegenüber als Eigensinn, aber Harpocartes widerspricht vehement: „Nennest du sie eigensinnig? Und giebest der schönsten Tugend den Titel eines Lasters? Schweigen ist weit sicherer als reden / O Königin.“24 Obwohl (in I, 15 und I, 16) am Beispiel der Königin Lincea und dem jungen Hoffräulein Cleta die auch für Frauen denkbare Spanne zwischen Stillschweigen und Schwatzhaftigkeit abgesteckt ist, folgt dann (in III, 12) die oben zitierte und zu diesem Zeitpunkt dramaturgisch nicht mehr schlüssige Pauschalierung durch Harpocrates, der ja im I. Akt Zeuge von Linceas Schweigen geworden war und also hätte schlussfolgern können, dass es zumindest einzelne Frauen gibt, die sehr wohl schweigen können. Das macht die Spezifik dieses Namenstagoperntyps25 deutlich, in dem es nicht um eine dramatische Handlung geht, während der die auf der Bühne agierenden Personen ihre Erkenntnisse vertiefen, sondern in dem Einsichten, Bewertungen, Rollenbilder (nicht den Gesetzen von Handlungslogik folgend) nebeneinandergestellt werden, um Anleitungen zur Affektkontrolle und in diesem Fall sprachlicher Selbstkontrolle zu geben. Das Libretto erfüllt damit moralische Funktion wie Klugheitslehren und Hofschulen und macht Denkangebote, sodass die Rezipienten ihre Haltungen bedenken und ihre Rollen profilieren können. Soll das gelingen, muss eine möglichst große Textverständlichkeit gewährleistet sein. Folglich belehrt Harpocrates nicht nur seinen Schüler auf der Bühne, sondern vor allem auch die Zuhörerinnen und Zuhörer der Namenstagmusiktheateraufführung in langen, von Antonio Draghi komponierten Rezitativen, die den Text möglichst unmissverständlich transportieren. Il Silentio di Harpocrate besteht folglich vor allem aus Rezitativen und durchweg eher einfachen Arien, ist nahezu frei von jeglichem Ensemble und fern von Ansätzen zur Bildung größerer Szenen-Zusammenhänge. Das geht hin bis zu Szenen wie II, 4, in der Harpocrates Arcrisius über 14 Partiturseiten26 hinweg rezitativisch auf die Tugend des Schweigens (wie sie für ihn als königlichen Erbprinz angemessen ist) einschwört und die Zwischenfragen von Limaco beantwortet, also zwei sehr verschiedene Schüler belehrt, bevor die Szene endlich in einer abschließenden Arie von Harpocrates mündet. „Ich dancke dir“, so wendet sich Arcrisius in der Schlussszene an Harpocrates, „daß du mich schweigen gelehret. So ich geredet hette / hette ich gros24 Ebd. 25 Vgl. dazu Susanne Rode-Breymann, Musiktheater eines Kaiserpaars. Wien 1677 bis 1705, Hildesheim 2010. 26 Antonio Draghi, Il Silentio di Harpocrate. Handschriftliche Partitur, I. und II. Akt (Österreichische Nationalbibliothek Wien: Mus. Hs. 16.018).

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sen Irrthumen nicht wissen zu entrinnen.“27 Damit schließt sich erkenntnisvermittelnd der Bogen zu Acrisius’ „pace“-Aria zu Beginn der Oper. In einer kleinen, dennoch ausdrucksstarken a-b-a’-Aria in d-moll besingt er, dass ihn „due serene pupille“ affiziert und ruhelos gemacht haben. Frappierend dabei die Sparsamkeit der musikalischen Mittel: Ein Quartsprung aufwärts und eine ihm folgende, absteigende Melodie verbinden sich zu einem kurzen Motiv, das die Seelenverfassung von Acrisius hörbar macht. Aus diesem kurzen Motiv heraus entwickelt sich musikalisch der weitere Verlauf der gesamten Aria: Alle Phrasen beginnen mit einem großen Sprung aufwärts oder abwärts, also einer Klangchiffre für die extrovertierte Seite des Affiziertseins, dem eine mehr oder weniger lange melodische Linie in Sekundschritten in der jeweiligen Gegenbewegung folgt, also eine Klangchiffre für das introvertiert vor sich hin singende, ruhelose Individuum. Die Friedenssehnsucht, so verdeutlicht der weitere Verlauf der Namenstagoper, gilt wie für die Verwirrungen durch die Liebe, so auch für innen- und außenpolitische Verwirrungen. Und in allen diesen Situationen, so Arcrius’ Einsicht am Ende des III. Aktes, ist es zielführend, zu schweigen, bzw. zu wissen, wann Schweigen angebracht ist: „jener gefalle wohl / der redet / wann er muß / und schweiget / wann er soll.“28 Die Szenen am Ende des I. und II. Aktes, beide werden von Cleta und Limaco bestritten und gehen in Tanz über, vermessen Distanzen bis zu solcher Einsicht, zu der Arcrisius in der Schlussszene gelangt – wie gut ein Jahrhundert nach ihm ähnlich Tamino in Mozarts Zauberflöte. Wie dort wird in Il Silentio di Harpocrate das Schweigenkönnen von Männern und Frauen musiktheatral verhandelt. In beiden Opern werden dazu positiv-negativ-polarisierende Männer- und Frauentypen29 entworfen – die Männertypen Prinz Arcrisius/Prinz Tamino und Limaco/Papageno einerseits, die Frauentypen Lincea/Pamina und Cleta/Papagena andererseits. In beiden Opern wird dies von frauenfeindlichen Reden begleitet.30

Allerdings stehen Lincea, der Königin in Argos, noch andere Handlungsspielräume zu Gebote als späterhin Pamina: Wegen der Gewalttätigkeit der

27 Minato, Stillschweigen (wie Anm. 1), S. 77 f. 28 Ebd., S. 78. 29 Vgl. dazu Eva Rieger, „,Hinab mit den Weibern zur Hölle!‘ – Warum wurde die Zauberflöte ein Erfolg?“, in: Venus Weltklang. Musikfrauen – Frauenmusik, hrsg. von Rita von der Grün, Berlin 1983, S. 165–175. 30 Vgl. dazu Rebecca Grotjahn, „Paminas Einweihung. Menschenbild und Geschlechterverhältnisse in der Zauberflöte“, in: Mozart im Blick. Inszenierungen, Bilder und Diskurse, hrsg. von Annette Kreutziger-Herr, Köln 2007 (Musik – Kultur – Gender 4), S. 194– 208 und dies., „Der Wirkungskreis des Weibes. Zur Funktion frauenfeindlicher Rede in der Zauberflöte“, in: Wider die Frau. Zur Geschichte und Funktion misogyner Rede, hrsg. von Andrea Geier und Ursula Kocher, Köln 2008, S. 37–58.

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Micenier habe sich Gelanor, ihr „angebetter Ehegemahl […] von dannen begeben“ müssen, erfahren wir in der 5. Szene des I. Aktes. „Inmittels beherrsche“ sie „dieses Königreich mit gelind und sanfften Züglen / doch finde“ sie „anbey / wie eine Frauen Hand so schwer der Scepter sey.“31 Dementsprechend richtet sich ihr Sehnen in einer sogar dreistrophigen Aria vollkommen auf seine Rückkehr und damit das Ende ihrer Regentschaft. Auch die Regentschaft auf Zeit32 aber bedarf politischer Klugheit, u. a. der Tugend der Verschwiegenheit, wie sie Lincea unter Beweis stellt und damit handelnd die pauschale Geltung der frauenfeindlichen Reden entkräftet. Für Cleta gilt die frauenfeindliche Rede jedoch ohne jede Einschränkung. Sie ist eine Frau – aber wie Lincea erweist, können auch Frauen die Tugend der Schweigsamkeit besitzen. Sie ist von niedrigerem Status als Lincea – aber auch Limaco ist von niedrigerem Stand und öffnet sich dennoch erfolgreich Harpocrates’ Belehrungen über die Tugend des Stillschweigens. Cleta aber ist vollkommen unbelehrbar. Es sind, wie exemplarisch an Acrisius Aria gezeigt, einfache musikalische Mittel, mit denen Antonio Draghi das suchende (und dann eben auch belehrbare) Individuum kennzeichnet: Dessen Gesang wächst im Zuge von Variantenbildungen aus melodischem Kern. Dass auch Limaco sich belehren lässt und auf dem Weg der Selbstvervollkommnung ist, gibt Draghi am Ende des I. Aktes musikalisch auf diese Weise zu erkennen: In immer wieder anderen und doch aufeinander bezogenen melodischen Wendungen besingt Limaco das Stillschweigen (vgl. Abb. 1). Cletas Arienantwort ist von deutlich anderer musikalischer Physiognomik: temporeich, brillierend, melodische Elemente wiederholend (vgl. Abb. 2) redet und redet sie, ohne die Idee vom Nutzen des Stillschweigens an sich heranzulassen. Möglicherweise liegt hier der zentrale Punkt der Geschlechterdifferenzierung in Il Silenzio di Harpocartes: Schaut man genau hin, lautet die Quintessenz nicht, Männer sind verschwiegen, Frauen schwatzhaft, sondern: Es ist ein Lernprozess, die Tugend der Verschwiegenheit zu erreichen – und darin unterscheiden sich die Geschlechter. Der Königin Lincea sind Klugheits- und Verhaltenslehren offenkundig zugänglich, Frauen wie Cleta jedoch nicht, d. h. Bildung ist, anders als bei den Männern, deutlich an den Status gekoppelt. Damit leistet die Oper implizit einen Beitrag zur Diskussion der Bildungsfähigkeit33 von Frauen.

31 Minato, Stillschweigen (wie Anm. 1), S. 8. 32 Vgl. dazu Susanne Rode-Breymann, „Zwischen Leidenschaft und Seelengröße. Herrscherinnen in der Oper des 17. Jahrhunderts“, in: Maske und Kothurn 47 (2002), S. 167– 180, vor allem S. 172. 33 Vgl. ebd., S. 173.

Abb. 1  Antonio Draghi, Il Silentio di Harpocrate, Ausschnitte aus dem Schluss des I. Aktes, handschriftliche Partitur, Österreichische Nationalbibliothek Wien, Mus. Hs. 16.018.

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Abb. 2  Antonio Draghi, Il Silentio di Harpocrate, Ausschnitte aus dem Schluss des I. Aktes, handschriftliche Partitur, Österreichische Nationalbibliothek Wien, Mus. Hs. 16.018.

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Genoveva – und kein Ende Impressionen von einer „unspielbaren“ Oper Das „herrliche, unspielbare Werk“ hat meiner Erinnerung nach Walter Felsenstein Mozarts Don Giovanni genannt, als er damit seine Komische Oper nach längerer Umbaupause wiedereröffnete. Das zweite seiner Epitheta scheint in verstärktem Maße für ein Werk zu gelten, das jahrzehntelang – so hier in Zwickau mit Sicherheit zwischen 1935 und 19751 – niemand mehr auf der Bühne gesehen hatte und bei dessen Beurteilung sich die tradierten Vorurteile förmlich überschlugen: Robert Schumanns einzige Oper Genoveva, sein Schmerzens- und mein (Schumannsches) Lieblingskind. Aber kann man das Beiwort jetzt, nachdem zumindest vor, im und nach dem Genoveva-Jubiläumsjahr 20002 eine Handvoll Inszenierungen über die Bühne gegangen sind, einfach streichen? Hierzu möchte ich im Folgenden ein paar Gedanken und Erinnerungen beisteuern und sie Beatrix Borchard als lieber Kollegin und Freundin seit langen Jahren zu Füßen legen. Es sind keine ‚wissenschaftlichen‘ Erkenntnisse, sondern subjektive Impressionen, die allerdings durchaus ernst gemeint und mir wichtig sind. Seit mehr als 40 Jahren beschäftigt mich – natürlich sporadisch und mit großen zeitlichen Zwischenräumen – Schumanns Oper, der ich unter der Ägide meines akademischen Lehrers Walther Siegmund-Schultze in Halle 1969 eine notwendig lückenhafte, aber zumindest mit einigem Fleiß erstellte Diplomarbeit widmen konnte. In ihr versuchte ich, so gut es ging, auch die bis dahin eruierbare Aufführungsgeschichte aufzuarbeiten, was teilweise recht interessante und überraschende

1 Hier beging man 1935 eine (historisch ins Kriegsjahr 1918 gehörende) städtische 800-Jahrfeier, verbunden mit dem Jubiläum von Schumanns 125. Geburtstag, anlässlich dessen u. a. ein Genoveva-Gastspiel des Landestheaters Rudolstadt stattfand. 1975 war dagegen ein ,jubiläumsfreies‘ Jahr; von dieser Aufführung wird noch berichtet werden. 2 Die Oper wurde am 25. Juni 1850 unter Leitung des Komponisten im Leipziger Stadttheater uraufgeführt. Am 150. Jubiläumstag war in Zwickau zur Eröffnung des XIV. Internationalen Robert-Schumann-Wettbewerbs zumindest die Genoveva-Ouvertüre zu hören. Die Garsington Opera in England (s. u.) brachte die gesamte Oper am selben Tag und sodann in sechs weiteren Vorstellungen auf die Bühne.

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Ergebnisse zutage förderte.3 Die angeblich verfehlte und zu dauerndem Misserfolg verurteilte Oper4 konnte nämlich im 19. Jahrhundert mehrere erfolgreiche Aufführungsserien unter namhaften Dirigenten aufweisen, von denen stellvertretend die unter Hermann Levi am Karlsruher (1867) und unter dem späteren Wiener Hofoperndirektor Wilhelm Jahn am Wiesbadener Theater (1874) genannt seien. Natürlich waren das keine ganz großen Bühnen, doch auf denen – nennen wir nur Wien, München, Berlin, Leipzig, Dresden – ging es mit Genoveva meist mehr oder weniger schief, was wir vielleicht als Indiz dafür nehmen sollten, dass mittlere und kleinere Häuser damals wie heute oft weniger voreingenommen und dafür beherzter an ungewohnte Stücke herangehen. Im 20. Jahrhundert, nach dem Zweiten Weltkrieg, gab es zumindest zwei nennenswerte Aufführungen: die von Gustaf Gründgens beim Maggio Musicale Fiorentino 1951 inszenierte unter dem Dirigat von André Cluytens5 und die in Bonn im Schumann-Jubiläumsjahr 1956 unter Peter Maag6. Ebenfalls 1951 entstand eine jüngst wieder aufgelegte Rundfunk-Produktion als Konzertmitschnitt beim SWDR Stuttgart unter Hans Müller-Kray, ein Jahrzehnt später die wohl erste (italienischsprachige) Gesamtaufnahme auf Schallplatten von Vittorio Gui – doch diese Klangaufnahmen, denen in einigem Abstand die Schallplatten- bzw. CD-Einspielungen von Kurt Masur, Gerd Albrecht, Nikolaus Harnoncourt7,

3 Dass sich daran ein Fachkollege, dessen Name schon deshalb ungenannt bleiben kann, weil er inzwischen längst verstorben ist, in seiner 1978 vorgelegten Arbeit kräftig bedient und es zum Doktortitel gebracht hat, sei am Rande erwähnt. Die deutsche Teilung trug damals dazu bei, dass das Plagiat nur unvollkommen geahndet wurde – nicht mit der Aberkennung des Titels, sondern nur mit einer Rüge seitens der zuständigen süddeutschen Universität und der Auflage an den Autor, der Arbeit nachträglich einen Berichtigungs- und Entschuldigungszettel beizufügen. 4 Der dennoch ein erfahrener Opernkomponist und -kapellmeister wie Louis Spohr gegenüber Schumann das Zeugnis ausstellte, sie enthalte „ein[en] Schatz von Phantasie und ein herrliches dramatisches Leben“; vgl. Berthold Litzmann, Clara Schumann. Ein Künstlerleben nach Tagebüchern und Briefen, Bd. 2 (Ehejahre 1840–1856), Leipzig 71925, S. 217. 5 Gründgens selbst soll sich darüber später ziemlich wegwerfend geäußert haben – er habe die Regiearbeit nur des Geldes wegen unternommen, was angesichts seiner sonstigen künstlerischen Grundsätze immerhin erstaunt. Dass jedoch Schauspielregisseure nur selten gute Opernregisseure sind oder sein können, wird noch zu erörtern sein. 6 Die erstgenannte, die nur zwei Vorstellungen mit allerdings je 5000 Zuschauern erzielte, macht anhand überlieferter Fotos einen recht statuarischen Eindruck, die in Bonn soll – verkürzt ausgedrückt – mehr kammerspielartig, ohne die Chöre und selbst ohne Aktpausen abgelaufen sein. 7 Gemeint ist, im Unterschied zur Züricher DVD-Produktion (s. u.), seine Aufnahme von 1997 mit Ruth Ziesak in der Titelpartie.

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Marc Piollet und anderen folgten, sollen uns hier als quasi ‚konzertante‘ Wiedergaben der Oper nicht weiter beschäftigen.

In mein eigenes Blickfeld trat Genoveva in den Jahren meiner Zwickauer Theatertätigkeit, als man hier zur 850-Jahrfeier der Stadt 19688 eine gleichfalls konzertante Darbietung plante, an deren Vorbereitungen ich als Musikdramaturg – obwohl gerade in der ‚heißen Phase‘ meiner Diplomarbeit begriffen – beteiligt war. So hatte ich zum besseren Verständnis auch einen Handlungsabriss zu liefern, den ich bei der Premiere selbst vortrug, während er in den beiden späteren Wiederholungsaufführungen von einer Schauspielerin übernommen wurde. Dabei erwies sich, dass bestimmte Aspekte des Bühnengeschehens durch eine solche ‚Textierung‘ kaum adäquat verdeutlicht werden können – das gilt vor allem für die Zauberbilder im 3. Akt –, und es tauchte erstmals der Plan einer szenischen Realisation auf. Ehe es zu dieser kam, waren manche Hindernisse und sogar Intrigen9 zu überwinden, doch 1974/75 gingen wir tatsächlich daran, eine Bühnenaufführung vorzubereiten.10 Zu meiner Freude haben sich sogar einige Szenenfotos der am 26. Oktober 1975 über die Zwickauer Gewandhausbühne gegangenen Aufführung erhalten, von denen zwei hier wiedergegeben werden können.11 Ohne in zuviel Details zu verfallen, möchte ich einige Grundzüge der Darbietung rekapitulieren. Ihr größtes Plus war der zügige Ablauf des Ganzen, der einer praktikablen Bühnenbildlösung12 zu verdanken war: Eine auf die Drehscheibe gesetzte große Schräge ermöglichte rasche Verwandlungen bei offener Szene, die ganz unterschiedliche Aktionsräume eröffneten – so fand beispielsweise die auf Genovevas Gebet folgende fatale „Entdeckungs-“ und Mordszene im Finale des 2. Aktes ganz oben auf der Schräge statt, und der Leichnam des allzu rasch erstochenen Drago rollte diese mit Aplomb hinunter... Ein rapider Verlauf der Oper scheint auch Schumann selbst vorgeschwebt zu haben, der 8 Diesmal war das Jubiläum historisch korrekt eingeordnet; vgl. Anm. 1. 9 So kursierte sogar in Theaterkreisen die abschreckende Mär von der auf der Bühne erscheinenden „Hirschkuh“ Genovevas, die bekanntlich in der alten Volkslegende, in Schumanns Oper aber durchaus nicht vorkommt. 10 Ich erwähne hier nur am Rande, dass ich für unsere Aufführung gemeinsam mit dem Regisseur eine neue Textfassung herstellte, die natürlich den Handlungsverlauf unangetastet ließ, jedoch das sprachliche Gewand des im Wesentlichen von Schumann selbst stammenden Librettos behutsam ‚modernisierte‘. Heute wäre dergleichen wohl nicht mehr erforderlich. 11 Ich danke sehr herzlich der Fotografin, Frau Ursula Höhnerbach-Richter, die mir ihre damaligen Aufnahmen zur Verfügung stellte und deren Reproduktion gestattete. 12 Für Bühne und Kostüme zeichnete Peter Gemarius de Kepper verantwortlich, Regie führte Rainer Wenke.

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in seinem im Robert-Schumann-Haus aufbewahrten musikalischen Skizzenbuch jeweils die geschätzte Zeitdauer der einzelnen Akte notierte (ein Indiz gegen seine oft behauptete Bühnen- und Realitätsferne, ebenso wie es das von ihm sorgfältig annotierte Szenarium des Leipziger Uraufführungsregisseurs Barthel darstellt!), die eine Gesamtspielzeit von etwa zwei Stunden ergibt. Die sonstige Ausstattung war stilisiert und sparsam, die Kostüme allerdings sorgfältig historisierend-repräsentativ gestaltet – an das heute übliche, einfallslose Agieren der Darsteller in moderner Straßenkleidung würde damals zum Glück niemand gedacht haben.

Abb. 1 und 2  Dissens und Abkehr – zwei Phasen im Duett Genoveva & Golo (2. Akt, Nr. 9), Aufführung Zwickau 1975, Darsteller: Doris Bauer, Sopran, und Vlasta Waiseitl, Tenor, Fotos: Ursula Höhnerbach-Richter, Zwickau.

Es versteht sich von selbst, dass dem im Vergleich zu heute qualitativ recht bescheidenen Zwickauer Theater jener Jahre keine künstlerischen Höhenflüge vergönnt waren: Orchester und Solisten bewegten sich auf durchschnittlichem Niveau, die Chöre wirkten allerdings dank mancherlei Verstärkung recht imposant.13 So war das, wie wir heute sagen würden, Medienecho nicht eben umwerfend. Doch immerhin fühlte sich der DDR-Theaterverband bemüßigt, 13 Chordirektor war Gunter Wolf, die musikalische Leitung lag in Händen des langjährigen Zwickauer Musikchefs Hans Storck (1912–2000).

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ein kleines Kolloquium zu der Aufführung anzuberaumen, von dessen Teilnehmern mir noch Werner Wolf aus Leipzig – dort jahrzehntelang und noch heute als Kritikerinstanz wirkend – in Erinnerung ist. Was dennoch hervorgehoben zu werden verdient, ist, dass die Inszenierung trotz vorheriger Unkenrufe zu einem echten und nachhaltigen Publikumserfolg wurde, der es gestattete, sie über fast zwei Jahre im Repertoire zu halten und sie abschließend dem internationalen Zuschauerkreis des VII.  Robert-Schumann-Wettbewerbs 1977 zu präsentieren, der sich ebenfalls davon angetan zeigte. Schade, dass die Erinnerung nur bei den mehr oder weniger zahlreichen Augen- und Ohrenzeugen jener Jahre lebendig ist. Ein großer Bogen spannt sich für mich von dort hin zu der im Sommer 2000 gehörten und gesehenen Genoveva-Aufführung der Garsington Opera nahe Oxford, einem wunderbaren Open-Air-Theater in der sattgrünen mittelenglischen Landschaft, die kennenzulernen ich einer Einladung des verehrten und unvergessenen Musikantiquars Albi Rosenthal verdanke. Wie man hört, wird 2010 das letzte Opernjahr an diesem Platze sein, was angesichts mannigfaltiger, die Veranstalter bedrängender Probleme verständlich, aber trotzdem tief betrüblich ist. ‚Irgendwie’ soll trotzdem die Tradition weitergeführt werden, was man nur mit besten Wünschen begleiten kann. Mein Rückblick auf Garsington 2000 stellt sich folgendermaßen dar:14 Die im Vorfeld des 150jährigen Uraufführungs-Jubiläums der Genoveva im Oktober 1999 in Leipzig veranstaltete Neuinszenierung des Werkes von Achim Freyer hatte auf Grund ihrer rigiden Stilisierung15 insgesamt mehr Fragen aufgeworfen als Antworten geboten. So fuhren wir ‚en famille’ im Juli 2000 mit einigermaßen gemischten Gefühlen nach Garsington, hatten wir doch keinerlei Vorstellung davon, was uns erwarten würde. Genoveva war neben Mozarts Le nozze di Figaro und Haydns Il mondo della luna die dritte Oper der zwölften dortigen Opernsaison, die jeweils im Juni/Juli stattfand, wobei die Mitwirkenden im Wesentlichen im ehrwürdigen jakobitischen16 Bau des Garsington Manor beherbergt wurden. Das Theater war auf der steinernen, an das Herrenhaus angrenzenden Gartenterrasse mit ihrer (in diesem Falle nur 14 Er fußt auf einem kurzen Bericht, den ich in den Correspondenz betitelten Mitteilungen der Düsseldorfer Robert-Schumann-Gesellschaft, Nr. 23, Dezember 2000, S. 22 f., veröffentlicht habe und mit Genehmigung der Redaktion zitiere. 15 Dazu trugen vor allem die seltsamen, von der Presse ziemlich treffend als „Tetrapacks“ bezeichneten Kostüme bei, die den Darstellern nur sehr begrenzte Aktionen erlaubten – so war es z.B. dem Sänger des Drago nach seiner Ermordung nicht einmal möglich, umzufallen! 16 D. h. zur Zeit König Jakobs ( James’) I. entstanden, der 1603–1625 regierte.

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ahnbaren) dreibogigen Loggia aufgeschlagen, der mobile Zuschauerraum mit steil ansteigenden Sitzreihen in den herrlichen Park hineingebaut. Angekündigt war Genoveva zu Recht als „erste professionelle Aufführung in England“, wozu man wissen muss, dass Sir Charles Villiers Stanford in London sowohl 1893 als auch 1910 Produktionen des Royal College of Music und noch etwas früher, 1887, die erste, konzertante Darbietung der Oper dirigiert hatte – verdienstvolle Unternehmungen, die man dennoch heute vielleicht als ‚Studioproduktionen‘ bezeichnen würde.17 Von der statuarisch-hieratischen Deutung Achim Freyers in Leipzig mit ihrem selbstauferlegten „Realismus-Verbot“ (Reinhard Kapp) unterschied sich die Genoveva in Garsington zu unserer Freude wie Feuer von Wasser. Sie nahm ohne gespielte oder wirkliche Naivität, dafür aber mit umso mehr Vorurteilslosigkeit und frischer Empfänglichkeit Schumanns Werk so, wie es der Komponist gemeint hatte, als „ein Stück Lebensgeschichte“ und zugleich als ein echtes Stück Musiktheater. Dass dies überhaupt möglich sei, wurde ja von Biografen, Rezensenten und vermeintlichen Experten häufig und hartnäckig bestritten. Garsington tat gut daran, solcherart Besserwisserei zu ignorieren, und lieferte den überzeugenden Gegenbeweis. Die Bühne war, verglichen selbst mit den Zwickauer Gegebenheiten, denkbar schlicht und ohne alle technische Raffinessen (ausgenommen die Beleuchtung, die am späteren Abend allmählich das Tageslicht ersetzte), der schon erwähnte Hintergrund mit der Loggia für Genoveva mit düsteren, strickverschnürten Plastikplanen verhangen. Die Kostüme waren zeitlos-unprätentiös, doch farblich ansprechend in Rot, Blau und Weiß gehalten. Dekorationen gab es fast keine außer einer halbrunden, nach vorn abgeschrägten und mit einer schweren, ‚bespielbaren‘ Tür versehenen roten Mauer, die anfangs mit den Schwertern der in die Maurenkämpfe ziehenden Krieger bespickt war. Neben einem mächtigen Prozessionskreuz, das im ersten, dritten und vierten Akt ‚mitspielte‘, war dies das einzige Signum für die (in Schumanns Konzept unwesentliche) historische Zeit, das 8. Jahrhundert Karl Martells und Abdorrhamans. Vielmehr entfaltete sich ein spannendes Drama von Liebe, Leidenschaft, Verrat, Bedrohung und Rettung, dem das bis auf den letzten Platz gefüllte Auditorium trotz deutscher Originalsprache (es gab ein zweisprachiges Textheft, das vielfach mitgelesen wurde) atemlos folgte. Die immer wieder behaupteten Längen, Ungereimtheiten, dramaturgischen Schwächen des Stücks (deren Existenz auch gar nicht ganz geleugnet werden soll) gerieten 17 Der Aufführung von 1893 galt die überaus vergnüglich zu lesende Rezension von George Bernard Shaw, wieder abgedruckt in: Musik in London, hrsg. von H. H. Stuckenschmidt, Frankfurt a. M. o. J. [1957], S. 113 ff.

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völlig in Vergessenheit neben dem fesselnden Geschehen um die Titelgestalt, ihren männlich-arglosen Gatten Siegfried, den aus verschmähter Leidenschaft ehrlos handelnden Golo und die schlangenhaft-geschmeidige „Hexe“ Margaretha. Dass dazu Schumanns psychologisch tiefe und gleichwohl leuchtkräftige Musik das entscheidende Wort beitrug, braucht kaum besonders betont zu werden. Hervorzuheben ist aber die exzellente sängerische wie darstellerische Qualität der Protagonisten, allen voran die wahrhaft dramatisch singende und agierende Genoveva Susannah Glanvilles, ebenso aber Johannes Mannov (Siegfried), Nigel Robson (Golo), Kathryn Turpin (Margareta) und die übrigen. Hinsichtlich der Personenregie bot wohl die Darstellung der Margaretha die meisten Überraschungen, zugleich aber auch die größten Probleme – das betraf weniger ihre vom Regisseur ausgebaute finale Reue und „Entsühnung“, als vielmehr ihre physische Jugend und erotische Motivation: Leidenschaft und Eifersucht gegenüber Golo, die dessen (so im Libretto bezeichneter) „Amme“ wenig anstehen mochten... Eines der schwierigsten Probleme der Regie, das z. B. in Freyers Version völlig unter den Tisch fiel, wurde hier einfach und elegant, dabei sogar noch auf die Theaterpraxis der Schumannzeit zurückgreifend gelöst: die Darstellung der Zauber-(Trug-)Bilder mittels dreier Paare von Kinderdarstellern in aufsteigender Größe. Und mochte die Kernszene der Oper, das aus dem Volkslied Wenn ich ein Vöglein wär erwachsende Leidenschaftsduett, anfangs zu direkt und sinnlich aufgeheizt wirken, so enthüllte sich in seinem Verlauf das auseinander driftende Empfinden der Personen ganz deutlich, gipfelnd in Genovevas harscher Zurückweisung und Golos Rachefluch. Der Regieleistung Aidan Langs gebührte also insgesamt hohe Achtung, vermochte sie doch das Drama als Lebensgeschichte überzeugend verständlich zu machen. Der Dirigent der Aufführung, Elgar Howarth, wurde dem Schumann-Ton wie allen Erfordernissen der Szene souverän gerecht, und die Qualitäten des relativ kleinen, aber ungemein schlagkräftigen und präzisen Chores wie des verdeckt sitzenden und dennoch (oder gerade deshalb?) wohlklingenden bzw. dramatisch geschärften Orchesters waren bestechend. Dass die exemplarische Darbietung nicht mehr als sechs Reprisen erlebte, meinte man in der Hoffnung auf weitere Genoveva-Erlebnisse verschmerzen zu können, die sich damals in Gestalt von Inszenierungsabsichten für das rare Werk bei der Opera North, ja sogar in Covent Garden ankündigten. In die Realität traten sie nicht; dafür wurde uns 2008 eine weitere Fragwürdigkeit präsentiert, die Züricher Genoveva-Produktion von Nikolaus Harnoncourt, einem erklärten Anhänger, Verteidiger und Promotor der Oper, im Verein mit dem Schauspielregisseur Martin Kušej, dessen Salzburger Don Giovanni (2002) und seine ebenfalls mit

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Harnoncourt in Zürich gestartete Zauberflöte (2007) – beide erst kürzlich im Fernsehprogramm wiederholt – einen Vorgeschmack dafür liefern konnten, was bei Genoveva in etwa zu gewärtigen sei.18 Bevor ich einige Worte zu dieser von den Medien als „Durchbruch“ von Schumanns Werk gepriesenen Tat sage, die ich nur in Form einer DVD-Aufnahme (die natürlich keine restlos adäquate und vollständige Beurteilung ermöglicht) konsumieren konnte, sei ein Seitenblick auf zwei weitere deutsche Versuche geworfen, die Genoveva der heutigen Bühne zurückzugewinnen: die Inszenierungen in Bielefeld (1995/96) und Heidelberg (2003/04).19 Theoretisch hätte ich dank des Wegfalls der deutschen Teilung beide besuchen können, praktisch blieb es beim Vorsatz, leider. Dem Bielefelder Programmheft, das auf dem Umschlag ein tränendes Auge und im Innern u. a. ein Schumannsches Tagebuchzitat über die Welt als „einen Friedhof gestorbener Träume“ trägt, entnehmen wir, dass außer Solisten, Chor und Orchester auch Tänzer zum Einsatz kamen. Die musikalische Leitung hatte Geoffrey Moull, Regie führte Katja Czellnik. Die Handlungsbeschreibung enthüllt einen ungewohnten Ansatz: das Geschehen entwickelt sich aus Margarethas unerfüllter Glücks-Sehnsucht, die sich auf Siegfried richtet – am Ende bleibt sie zurück, buchstäblich am Boden zerstört, doch ihre Niederlage ist voller „Sprengkraft“... Wenn ein Programmheft-Aufsatz die Handlung der Oper in Beziehung setzt zu den Zeitereignissen des Vormärz’ und der 1848er Revolution, so werden wir diesen Gedanken wieder begegnen in – Kušejs Züricher Regiekonzept (‚es ist alles schon mal dagewesen!‘). Auch die Parallele zur Gegenwart wird gezogen, ebenso aber der Blick auf die Historie der romantischen Oper, auf Heinrich Marschners Vampyr und Louis Spohrs Faust, gerichtet; die Gedanken der Regisseurin kreisen demgegenüber um Ehe- und Glaubensfragen. So erscheint einem Rezensenten die Genoveva „Wie Szenen einer Ehe“, einem anderen gleich Fidelio als „Hohelied der Gattenliebe“, während die aufhorchen machende Schlagzeile eines dritten: „Schumanns ‚Genoveva’ ist ein Heidenspaß“ schon verrät, dass die Inszenierung vor „Parodie, die niemals zum Klamauk verkommt“ nicht zurückschreckt. Der bekannte Kritiker Frieder Reininghaus bringt es schließlich im Rheinischen Merkur auf den Punkt: Es sei „schade für Schumann und das Schmerzenskind Genoveva“ 18 Hingegen wirkte eine ebenfalls vom Fernsehen gesendete Schauspielinszenierung Kušejs aus dem Wiener Akademietheater (2008), Der Weibsteufel von Karl Schönherr, freilich auch dank des geradezu dämonisch eindringlichen Spiels von Birgit Minichmayr, absolut überzeugend und stimmig. 19 Der Musikdramaturgie des Bielefelder Theaters und dem Stadtarchiv Heidelberg (das dortige Theater befindet sich im Umbau) sei herzlich für die Übersendung von Informationsmaterial zu den beiden Aufführungen gedankt.

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gewesen, dass sie „in die Hände von Wohlstandskindern fiel, die ihr Unbehagen an historischen Rollen der Frau abreagierten“. Dennoch resümiert Klaus Leymann im Focus: „Sie gehört auf die Bühne“, und wir möchten ihm zustimmen, trotz alledem! In der Regie von Wolf Widder und unter der musikalischen Leitung von Volker Christ wurde die Heidelberger Genoveva-Produktion auf die Bühne gebracht. Die einzige mir vorliegende Rezension klingt mehr als skeptisch abwägend und spricht schon in der Überschrift von einer „Zaghaft reanimierte(n) Rarität“. Das beigefügte Szenenfoto, betitelt „Die Heiligen bleiben standhaft“, zeigt eine offenbar barbusige Genoveva – hat sie der böse Golo oder der heutige Zeitgeist so zugerichtet?20 Dass die Titelfigur vom Rezensenten konsequent und mehrmals als „Heilige“ benannt wird, zeigt, dass er das auf Hebbels psychologischer Tragödie fußende Konzept des Komponisten entweder nicht kannte oder bewusst ignorierte, das freilich im Programmheft klar benannt ist, so wie auch die gesellschaftliche Einbettung der Oper, der Konflikt zwischen Schumann und Wagner und die musikalischen Gestaltungsprinzipien von Schumanns Werk so anschaulich wie überzeugend geschildert werden – kein Wunder, denn diese Passagen stammen aus Arnfried Edlers exemplarischem Buch Schumann und seine Zeit21. In einem weiteren Aufsatz von André Meyer wird der Handlungsgang der Oper noch einmal präzis aufgeschlüsselt und vor allem die zentrale Szene, das Duett Genoveva-Golo im 2. Akt, als Dreh- und Angelpunkt des Ganzen benannt. Hiernach hätte man Lust, die Heidelberger Aufführung zu sehen, von der der schon erwähnte Rezensent allerdings meint, dass sie das Stück zumindest in den beiden ersten Akten zu zaghaft angepackt und sich erst dann zu einer gewissen Stringenz gesteigert habe, wobei die musikalische Qualität im Gegensatz zur szenischen den Vorteil habe, „noch wachsen“ zu können. Nähern wir uns nun abschließend der Züricher Aufführung, so sei gleich einleitend gesagt, dass Regisseur Kušej sich an ihr partout nicht beteiligen wollte und sich erst dazu entschloss, nachdem ihm Harnoncourt „die Pistole auf die Brust gesetzt“ hatte – ein, wie mir scheint, ‚idealer‘ Ansatz zu einer Opernregie. Dass er die Genoveva eigentlich nicht mag, glaubt man seiner Inszenierung denn auch auf Schritt und Tritt anzumerken. Ohne jede Rücksicht auf die herrliche und tiefsinnige Musik wird bereits die Ouvertüre ‚vertanzt‘, ehe nach gängiger zeittypischer Praxis der in Libretto und Partitur fixierten Opern20 Zwei zerstückelte Aktfotos im Programmheft lassen letzteres vermuten. Sei’s drum. 21 1982 zuerst bei Laaber erschienen, kam es 2008 in 3. revidierter Auflage heraus.

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handlung eine zweite (soll ich sie Afterhandlung nennen?) aufgepfropft wird. Diese ist vorwiegend schwarz, schmutzig, auch blutig eingefärbt und jedenfalls niemals – mit einer einzigen kleinen Ausnahme22 – freundlich entgegenkommend, wie es die Genoveva doch nach vieler Meinung, bei aller Dramatik und Tragik, auch auf weite Strecken ist. Die kalkweiße Szene wirkt auf den ersten Blick wie das Endenicher Krankenzimmer Schumanns, was uns kein bisschen verwundern würde, soll indes die Dresdner Wohnung der Familie Schumann (mit einem zunächst blitzblanken Villeroy & Boch-Wandwaschbecken samt Spiegel neben einer begehbaren Doppeltür) in der Revolutionszeit um 1848 darstellen. Warum, weshalb, wieso diese ‚Transformation‘? Keiner weiß es, keiner errät’s, es sei denn, weil die aufgehetzte Dienerschaft im 2. Aktfinale sich so desto besser als Horde von Aufständischen im Kohlenträgerlook präsentieren kann. Was man dem Regisseur unter Umständen abnehmen könnte, ist die dauernde Bühnenpräsenz der vier Hauptfiguren Genoveva, Siegfried, Golo und Margaretha, durch welche das Geschehen zum „inneren“ Vorgang dieser vier gemacht werden soll, aber wirklich zwingend ist auch das nicht. Ich muss es mir versagen, die weitere Kušej-Handlung hier nachzuerzählen, möchte aber doch die Schreckbilder des 4. Akts nicht unerwähnt lassen, da das (schon zuvor durch Margaretha als begehbar erprobte) Waschbecken plötzlich Blut zu enthalten scheint, mit dem nicht nur in Nitsch’scher Manier herumgeschmiert wird, sondern durch das die arme Genoveva, nein: die arme, am Kälberstrick geführte Juliane Banse mehrfach hüpfen muss, wobei ihr einziger Ruhepunkt in diesem Bild ein zu besteigender Armsessel ist... Mit dem (zugegeben, etwas aufgesetzten) Schlussjubel der Oper nun kann Kušej überhaupt nichts mehr anfangen, sodass er die Szene im Schwarzen versinken lässt. Konsequenter wäre es gewesen, den ganzen Schluss zu streichen, doch das hätte vermutlich der Dirigent denn doch nicht geduldet. Der nun agiert ganz so, wie wir es von ihm gewohnt sind: anfeuernd, stets wachsam und das Geschehen in ununterbrochenem Fluss haltend. Die Darsteller, allen voran die wunderbare Juliane Banse, singen makellos, Chor und Orchester sind bestechend gut, sodass eine CD-Produktion der Aufführung dem Hörer eine reine Freude wäre. Der Blick auf die Bühne aber macht jede Freude zunichte. Augenzeugen des schaurigen Spektakels haben mir gesagt, „in Wirklichkeit“ sei es gar nicht so schlimm. Mir genügt der Blick auf meinen Fernsehbildschirm, um das vehement zu

22 Der einzige ‚nette‘ und sogar amüsante Einfall der ganzen Inszenierung: Der stumme Angelo, von dem Siegfried äußert: „Ist die Red’ ihm auch versagt, ein treu Gemüth spricht aus seinem Auge –“ wird ersetzt durch einen, noch dazu recht hübschen Hund, auf den die Sentenz natürlich ebenso zutrifft!

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bezweifeln, und andere glaubwürdige Zeugen beschreiben diese Inszenierung als „Sakrileg an Schumann“. Während ich dies niederschreibe, bereitet sich das Zwickauer Theater nach 35  Jahren erneut auf eine Genoveva-Inszenierung vor, die zum JubiläumsSchumannfest im Juni 2010 ihre Premiere im Zwickauer Gewandhaus erleben soll. Darf man sich auf sie freuen? Der designierte Regisseur, ein erprobter Adept von Peter Konwitschny in Leipzig, hat vor Jahren hier eine lockeramüsante Zauberflöte auf die Bühne gestellt, und ihm eilt der Ruf voraus, dass er zumindest musikalisch beschlagen sei und sehr präzis arbeite, was uns Gutes von ihm hoffen lässt.23 Warnend ins Stammbuch geschrieben sei ihm, was jüngst Kurt Masur – auch er ein glühender Bewunderer sowohl Schumanns als auch der Genoveva – geäußert hat: ...ich bin traurig, dass diese für mich musikalisch enorm starke Oper nur selten gespielt wird. Ich glaube, die Regisseure von heute haben nicht genügend Fantasie, das Stück so darzustellen, wie Schumann mit seiner enorm starken Vorstellungskraft es gemeint hat. Es könnte genauso ein Riesenerfolg werden wie Hoffmanns Erzählungen von Offenbach. Ich habe noch nie einen Regisseur getroffen, der in der Lage war, das zu erfassen.24

Wenn ich Masur richtig verstehe, dann meint er mit der „nicht genügenden Fantasie“ der Regisseure das Vorherrschen von deren je eigener Vorstellung von einem Stück Musiktheater, die mit diesem selbst und seinem Eigenwert selten bis nie zusammenfällt. Sich auf das historisch Gegebene einzulassen und dennoch nicht im Vergangenen steckenzubleiben, das ist wohl die Kunst – „das Einfache, das schwer zu machen ist“ (Brecht).

23 Die Inszenierung des Theaters Plauen-Zwickau hatte am 4. Juni 2010 Premiere (Dirigent: Tobias Engeli, Regie: Jochen Biganzoli, Ausstattung: Stefan Morgenstern; Genoveva: Maria Gessler). Überraschend kam bereits eine Woche zuvor, am 29. Juni 2010, eine weitere Inszenierung am Staatstheater Cottbus zur Aufführung (Dirigent: Evan Christ, Regie: Martin Schüler, Ausstattung: Gundula Martin; Genoveva: Gesine Forberger). 24 So äußerte sich Masur im Fernsehfilm Robert Schumanns verlorene Träume von Volker Schmidt-Sondermann, der seine Erstsendung am 14.3.2010 im ARD-Programm erlebte und in dem sowohl Beatrix Borchard als der Autor mit Statements vertreten sind.

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Pauline Viardot Garcia und die Oper Le Prophète von Giacomo Meyerbeer1 In Londoner Opernkreisen fragte man sich 1849, ob Giacomo Meyerbeer selbst in die englische Hauptstadt kommen würde, um die Proben und Aufführungen seiner Oper Le Prophète zu leiten. Diese war in Paris mit Pauline Viardot in der Hauptrolle ein außergewöhnlicher Erfolg gewesen. Der Komponist jedoch entschied sich, die Einstudierung und Leitung der Vorstellungen Michael Costa2, dem Dirigenten der Royal Italian Opera, zu überlassen. Pauline Viardot, die in die Überarbeitungsprozesse des Komponisten miteinbezogen gewesen war und die Proben und Aufführungen in Paris miterlebt hatte, war auch in London für die Hauptrolle engagiert. Vertreterin von Giacomo Meyerbeer Giacomo Meyerbeer war sehr besorgt um eine gute Einstudierung seiner Oper in London. Während die Proben für die Uraufführung in Paris3 fast ein halbes Jahr in Anspruch genommen hatten, waren in London drei Wochen vor dem geplanten Aufführungstermin am 15. Juli 1849 bis auf Chorproben noch keine Vorbereitungen getroffen worden. Zudem waren zahlreiche Änderungen notwendig: Nicht nur sollte die Oper, wie damals in London üblich, in italieni1 Pauline Viardot Garcia (1821–1910) war nicht nur eine berühmte Opern- und Konzertsängerin des 19. Jahrhunderts, sondern auch Komponistin, Arrangeurin, Veranstalterin, Lehrerin, Förderin, Managerin und vieles mehr. Sie prägte entscheidend das Musikleben ihrer Zeit. In meiner von Beatrix Borchard betreuten Dissertation Pauline Viardot Garcia in Großbritannien und Irland. Formen kulturellen Handelns mache ich die kulturellen Aktivitäten Pauline Viardots in Großbritannien und Irland anhand von Fallbeispielen sichtbar und arbeite ihre Auswirkungen auf das Musikleben des 19. Jahrhunderts heraus. Der folgende Text basiert auf einem Kapitel der Arbeit, in dem ich mich mit Pauline Viardots Anteil an und Einfluss auf Einstudierung, Aufführung und Rezeption der Oper Le Prophète von Giacomo Meyerbeer (1791–1864) in London 1849 auseinandersetze. 2 Michael Costa (1808–1884), italienischer Dirigent und Komponist, lebte seit 1830 in England. 3 Diese hatte am 16.4.1849 stattgefunden.

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scher Sprache aufgeführt werden und musste daher übersetzt werden, auch sollten der erste und zweite Akt zu einem zusammengefasst und die gesamte Oper erheblich gekürzt werden.4 Am 21. Juni 1849 schrieb der Komponist daher einen dringlichen Brief an seinen französischen Verleger Louis Brandus5 nach London, in dem er seine Vorstellungen hinsichtlich der Probenarbeit deutlich machte. Darin heißt es: Recht herzlich danke ich Ihnen für Ihren so ausführlichen und interessanten Brief. Wenn ich gleich mit Befriedigung daraus ersehe, daß die Chöre bereits seit längerer Zeit die Proben angefangen haben, so erfüllt es mich doch mit großer Besorgniß anderseits daraus zu ersehen, daß die Sänger noch immer nicht die Proben begonnen haben. Soll die Oper würklich den 15ten July gegeben werden, so bleiben zu sämmtlichen Proben von der ersten bis zur letzten drei Wochen übrig, und dabei kennt niemand dort von den Dirigirenden das Werk. Suchen Sie wenigsten’s von Beal[e]6 zu erlangen daß so viel Zeit bleibt daß Me Viardot ein paar Klavierproben ein paar Orchesterproben, und ein paar Mise en Scène Probe halten kann. Wenn Beale sich dazu versteht, die Oper statts des 15ten July den 22ten zu geben, so wird das möglich sein.7

Aus diesem Schreiben wird ersichtlich, dass Giacomo Meyerbeer vorhatte, die künstlerische Verantwortung für die Einstudierung der Solopartien in die Hände Pauline Viardots zu legen. Sie hatte ihre Fähigkeit zur Bewältigung solcher Aufgaben offensichtlich bereits bei den Proben in Paris unter Beweis gestellt. Julius Stockhausen8 schwärmt in einem Brief aus Paris an seinen Vater von Pauline Viardots Talent, das er bei verschiedenen Gelegenheiten erlebt hat: Aber was ich am meisten bewundere, ist Gottes Werk, nämlich den musikalischen Instinkt dieser Frau. Nach den vier ersten Proben des „Propheten“ saß sie am Klavier und begleitete die große geschriebene Orchesterpartitur, um es ihren Kame-

4 Vgl. Gustave Dulong, Pauline Viardot. Tragédienne lyrique. Paris 21987, S. 101. 5 Louis Brandus (1823–1887). 6 Thomas Frederick Beale (?–1863), zu der Zeit Direktor der Royal Italian Opera, Covent Garden. 7 Brief vom 21.6.1849, Giacomo Meyerbeer an Louis Brandus, vgl. Giacomo Meyerbeer. Briefwechsel und Tagebücher, 8 Bände, hrsg. von Heinz Becker und Sabine Henze-Döhring, Berlin 1960–2006, Bd. 5, S. 11. 8 Julius Christian Stockhausen (1826–1906), deutscher Bariton, Gesangspädagoge und Dirigent. Schüler von Pauline Viardots Bruder Manuel Garcia (1805–1906) in London.

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raden Roger9, Castellan10 und Levasseur11 einzuüben! Ist das nicht merkwürdig? Nun, so will ich auch werden! Es ist das Edle der Kunst! Mechanismus kann jeder arme Henker, aber musikalische Auffassung – das besitzen sehr wenige. – Ich gäbe zehn Francs, um wöchentlich eine Stunde mit Mme. Viardot am Klavier in Mozarts und Mendelssohns Partituren zuzubringen!12

Giacomo Meyerbeer konnte also mit gutem Grund dem Operndirektor von Covent Garden ans Herz legen, der Sängerin Zeit zum Proben einzuräumen. Diese Proben sollten sich, wie das Zitat aus Meyerbeers Brief zeigt, nicht auf reine Klavierproben beschränken, sondern auch Orchesterproben und die Inszenierung umfassen. Am 6. Juli hatte die vorerst letzte Vorstellung von Le Prophète in Paris stattgefunden, „da Made Viardot auf drei Monate Urlaub hat um den Propheten in der italiänischen [sic] Oper von Covent-Garden zu singen.“13 Nur zwei Tage später sollte die Abreise nach London erfolgen, wie Pauline Viardot ihrer Freundin George Sand14 mitteilt: Liebe Ninounne, ich habe es heute morgen sehr eilig, so dass ich Ihnen nur einen Gruß schreiben kann. Wir reisen übermorgen ab und ich bin erschreckt darüber, wieviel ich noch zu tun habe. Ich werde Ihnen von London aus schreiben sobald wir angekommen sind. Wir werden dasselbe Haus wie in der letzten Saison haben, 27 Clifton Villas, Maida vale. [...]15

9 Gustave Roger (1815–1879), französischer Tenor, sang in Paris die männliche Hauptrolle des Jean de Leyden. 10 Anaïs Castellan (1819–1858), französische Sopranistin, sang in Paris die Rolle der Berthe. 11 Nicolas Levasseur (1791–1871), französischer Bass, sang in Paris die Rolle des Anabaptisten Zacharie. 12 Brief vom 3.5.1849, zit. nach: Julia Wirth, Julius Stockhausen: Der Sänger des Deutschen Liedes. Nach Dokumenten seiner Zeit dargestellt von Julia Wirth geb. Stockhausen, Frankfurt 1927 (Frankfurter Lebensbilder 10), S. 106. 13 Brief vom 8.7.1849, Giacomo Meyerbeer an Carl Kaskel, zit. nach Becker, Meyerbeer (wie Anm. 7), Bd. 5, S. 26. 14 George Sand (1804–1876), französische Schriftstellerin und Sozialkritikerin. Enge Freundin Pauline Viardots. 15 „Chère Ninounne, je suis bien préssée ce matin pour vous ecrire autre chose qu’un bonjour. Nous partons après demain et je suis effrayée de tout ce qui me reste encore à faire. Je vous ecrirai de Londres dès notre arrivée. Nous aurons la même maison que la saison dernière 27 Clifton Villas, Madia vale.“ Brief vom 6.7.1849, zit. nach Lettres inédites de George Sand et de Pauline Viardot 1839–1849, hrsg. von Thérèse Marix-Spire, Paris 1959, S. 285. Alle Übersetzungen von M. S.

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Instruktionen Giacomo Meyerbeer musste aus gesundheitlichen Gründen den Sommer im Kurort Bad Gastein in Österreich zubringen und konnte daher definitiv nicht nach London reisen. Deshalb gab er Pauline Viardot als seiner Vertreterin Anweisungen mit auf den Weg. Am 6. Juli, zwei Tage vor der Abreise der Sängerin, finden sich in seinem Taschenkalender folgende Stichpunkte, die den Inhalt eines Briefes an Pauline Viardot wiedergeben: Viardot [:] Daß der Monat May für Berlin zu spät für mich ist – wegen Trio des 5ten Aktes kürzen – Geschwindere Tempo’s – Mir auf jeden Fall nach Paris schreiben – Mir ihre Adresse in London geben – Mein Traité bedingt Mario – wenn sie glauben daß ich eine Reclamation machen muß mir schreiben – Ob nicht [Louis] Viardot hier bleiben kann um seine Bezahlung und sein Engagement zu verfolgen [ – ] Die Kürzungen – Terzett 5te Akt.16

Pauline Viardot hatte demnach mehrere Aufträge: Sie sollte Michael Costa die Kürzungen darlegen sowie das Tempo angeben. Sie sollte sicherstellen, dass Mario17, wie im Vertrag gefordert, die Rolle des Jean de Leyden singen würde und war somit ebenfalls Giacomo Meyerbeers rechtliche Vertretung. Selbstverständlich sollte sie ihn brieflich über alles benachrichtigen und ihrerseits brieflich erreichbar sein. Sobald Pauline Viardot in London angekommen war, wurde sie Mittlerin zwischen Komponist und Ausführenden. Dies machen folgende Ausschnitte aus einem Brief Giacomo Meyerbeers an die Sängerin deutlich: Meine liebe Madame Viardot! Ich habe die Ehre, Ihnen beiliegend eine Änderung zu schicken, die erlauben wird, das ganze Terzett des 5. Aktes bis zum Stretta (O spectre èpouvantable!) herauszuschneiden. Das Rezitativ des Offiziers, das ich Ihnen schicke, beginnt sofort nach dem Duett & [...] verbindet es mit dem Terzett in dem Moment, wo Berthe, als sie das Wort „Prophète“ aus dem Mund des Offiziers hört, ruft: Wenn Sie die äußerste Güte haben würden, das Rezitativ Monsieur Costa zu geben & ihm den Schnitt zu erklären, denn ich fürchte, dass ich sie vielleicht in der beiliegenden Partitur nicht mit genügend Klarheit angezeigt habe. – [...] Ich erwarte mit einer sehr starken Ungeduld, meine liebe Madame Viardot, die Nachricht, wie die Proben des Prophète sind, wie viele Proben man Ihnen lassen wird … 16 Becker, Meyerbeer (wie Anm. 7), Bd. 5, S. 20. 17 Giovanni Matteo de Candia (1810–1883), bekannt unter dem Namen Mario, italienischer Tenor.

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Ich hoffe, man lässt Ihnen mindestens 10 Tage nach Ihrer Ankunft, um mit den Sängern am Klavier zu proben & einige Orchesterproben zu machen, denn es scheint mir unmöglich, die Vorstellung vor dem 20. zu geben, außer diese Herren wollen den Erfolg des Prophète überstürzen, wie sie bereits den des Robert [le Diable] überstürzt haben … …nicht vergessen, bei der Reprise der Cavatine im 5. Akt die folgenden Takte wieder einzusetzen, die in Paris herausgeschnitten wurden …18

Pauline Viardot vermittelte offenbar zwischen Komponist und Dirigent und setzte die vom Komponisten gewünschten Änderungen, Kürzungen und Einfügungen um. Dass sie bereits im Entstehungsprozess der Oper viele Änderungen selbst vorgeschlagen hatte, bezeugen zahlreiche Tagebucheinträge des Komponisten, wie beispielsweise: „Zu Madame Viardot wegen einer kleine [sic] Instrumentationsänderung, die sie wünscht“19 oder „Eine Veränderung in der Prière des 3. Aktes gemacht, um eine Ähnlichkeit zu vermeiden, auf welche mich die Viardot aufmerksam gemacht hatte.“20

18 „Ma chère Madame Viardot! J’ai l’honneur de Vous envoyer ci-joint une changement qui permettra découper tout le Trio du 5e acte jusqu’à la Stretta (O spectre èpouvantable!). Le Récitatif de l’Officier que je vous envois commence immédiatement apres le Duo & […] l’enchaine avec le Trio au moment ou Berthe entendant le mot «Prophète» dans la bouche de l’Officier s’écrie [Noten] &c&c Veuillez avoir l’extrême bonté de donner ce Récitatif à Monsieur Costa, & de lui expliquer la coupure, parceque je crains ne l’avoir peut ètre pas indiqué avec assez de clarté sur la partition ci-jointe. – […] J’attends avec une bien vive impatience ma chère Madame Viardot les nouvelles comment sont les repètitions du Prophète, combien des rèpètitions on Vous laissera…J’espère qu’on vous laissera au moins 10 jours après votre arrivée pour pouvoir répéter avec les chanteurs au piano & faire quelques répétitions d’orchestre, enfin il me parait impossible d’aller avant le 20 en scène, à moins que ces Messieurs ne veuillent pour précipiter l’effet du Prophète, comme ils sont déjà précipité celui de Robert…à la reprise de la Cavatine du 5e acte ne pas oublier de remettre les mesures suivantes qui sont coupées à Paris ...“ Der Brief wird auf den 11.7.1849 datiert, da Giacomo Meyerbeer am selben Tag im Tagebuch notiert: „Vermöge eines neuen Rezitatives eine Kürzung gefunden, welche 4/5 Teile des Terzett des 5. Aktes wegschneidet. Dieses Rezitativ und diese Kürzung machte ich und schickte sie an Madame Viardot für die Londoner Aufführung des Propheten.“ In: Becker, Meyerbeer (wie Anm. 7), Bd. 5, S. 27. Bei dem Brief handelt es sich um einen Textauszug aus dem Auktionskatalog Thierry Bodins vom 27.11.1990, daher sind nur Bruchstücke des Briefes abgedruckt in: ebd., S. 28. 19 Tagebuch 2.3.1849, ebd., Bd. 4, S. 478. 20 Tagebuch 27.1.1849, ebd., S. 470 f.

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„Kapellmeisterin“ Die Situation an der italienischen Oper am Covent Garden war 1849 nicht ideal. Das Unternehmen stand kurz vor dem Bankrott, die Direktoren wechselten ständig, die Gehälter waren nicht gesichert und die Sängerinnen und Sänger wenig kooperativ. Eine große Aufgabe wartete daher auf die Viardots, die sich für die Aufführung von Giacomo Meyerbeers Oper verantwortlich fühlten. Louis Viardot21 schreibt vor der Abreise an George Sand: Wir gehen mit Bedauern nach London. Wir werden dort ein zerrüttetes Theater vorfinden, die immer absolutere Herrschaft der Italiener, die Direktion bankrott und auf der Flucht, kaum noch Bruchstücke einer Entlohnung. Vielleicht sind wir acht Tage nach unserer Abreise wieder zurück.22

In England angekommen, scheint das Zustandekommen einer Aufführung nicht selbstverständlich zu sein. Pauline Viardot schreibt ihrem Freund Iwan Turgenjew23 offensichtlich von diesen Unsicherheiten, denn er antwortet ihr am 14. Juli: Was Sie uns vom Prophète sagen, ließ uns lange überlegen; wir haben uns darüber sehr ernsthaft unterhalten. – Ich meinerseits bin überzeugt, dass man Sie ein Duzend Mal singen lassen wird – und dass Sie nicht so bald zurückkommen, wie Sie sagen.24 21 Louis Viardot (1800–1883), französischer Schriftsteller, Journalist, Operndirektor am Théâtre Italien in Paris seit 1838. Als er 1840 Pauline Garcia kennenlernte, gab er diesen Posten auf, um sie nach ihrer Heirat als Manager auf den Reisen zu begleiten. 22 „Nous allons à Londres avec regret. Nous y retrouverons un théâtre en désarroi, le règne de plus en plus absolu des Italiens, la direction en faillite et en fuite, à peine des bribes d’appointement. Peut-être serons-nous de retour huit jours après notre départ.“ Fußnote zum Brief vom 6.7.1849 von Pauline Viardot an George Sand. Thérèse MarixSpire schreibt als Einleitung zur Fußnote: „Moins pris par l’immédiat que Pauline, ayant plus de loisirs pour penser, Louis écrivait à G. S.“ Pauline Viardot selbst hatte nur einen ganz kurzen Brief an die Freundin verfasst. Louis Viardot reagiert mit dieser Schwarzmalerei vielleicht auf George Sands Brief vom 3. Juli, in dem sie die Viardots darum beneidet, in diesem Moment das Land zu verlassen, wo in Frankreich alles nur traurig und schwarz und alles sowieso schrecklich sei, vgl. George Sand: Correspondance, hrsg. von Georges Lubin, Bd. 9, Paris 1972, S. 208. 23 Iwan Turgenjew (1818–1883), russischer Schriftsteller, mit den Viardots eng befreundet und meistens in ihrer Nähe lebend. 24 „Ce que vous nous dites du Prophète nous a fait beaucoup réfléchir; nous nous sommes entretenus là-dessus avec beaucoup de gravité. – Pour ma part, je suis persuadé qu’on vous le fera chanter une douzaine de fois – et que vous ne reviendrez pas sitôt que vous le dites.“ Brief vom 14.–18.7.1849, hier 14.7., in: Quelques lettres d’ Ivan Tourguénev à Pauline Viardot, hrsg. von Henri Granjard, Paris 1974, S. 74. Iwan Turgenjew befand

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Ebenfalls am 14. Juli war in der Londoner Zeitung Musical World zu lesen, dass die Proben nun „aktiv“ begonnen hätten: Pauline Viardot Garcia kam letzten Samstag in London an. Sie war Donnerstagabend in Her Majesty’s Theatre und schien in bester körperlicher und geistiger Verfassung zu sein. Nachdem Sontag25 ‚Una voce‘26 gesungen hatte, verließ sie die Oper und ging zum Opernhaus am Covent Garden, um Grisi in den Huguenots zu hören. Nächste Woche werden wir das Vergnügen haben, von ihrem ersten Auftritt in dieser Saison und, wir haben keinen Zweifel daran, von einem ihrer größten Triumphe an der Royal Italian Opera zu berichten. Die Proben des Prophète sind jetzt aktiv im Gange und werden Donnerstag oder spätestens Samstag abgeschlossen sein. Wir freuen uns umso mehr auf die Aufführung von Meyerbeers Werk, weil sie uns die Möglichkeit geben wird, eine der größten Künstlerinnen moderner Zeiten zu sehen und zu hören.27

Aus den Briefen Iwan Turgenjews erfahren wir, dass die Oper tatsächlich aufgeführt werden sollte und Pauline Viardot offensichtlich auch die Proben leitete: So werden Sie also wirklich Le Prophète singen – und Sie sind es, die alles machen, die alles leiten…Verausgaben Sie sich nicht mehr als nötig. – Dass ich um des Himmels Willen den Tag der ersten Vorstellung vorher erfahre...28

Zwar war der Tag der Premiere noch nicht festgelegt worden, aber es war Pauline Viardot zumindest gelungen, diesen um einige Tage zu verschieben, um zusätzliche Proben abhalten zu können. In einem Brief an Mikhail Wielhorski29

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sich zu der Zeit mit Pauline Viardots Mutter, der Tochter des Ehepaars Viardot Louise und der Schwester von Louis Viardot. Henriette Sontag (1806–1854), deutsche Sängerin. “Una voce poco fa”, Arie aus Giacomo Rossinis Oper Il barbiere di Siviglia. „Pauline Viardot Garcia arrived in London on Saturday last. She was at Her Majesty’s Theatre on Thursday evening, looking in excellent health and spirits. After Sontag sang the ‘Una voce’, she left and went to Covent Garden, to hear Grisi in the Huguenots. Next week we shall have the pleasure of recording her first appearance this season, and we have no doubt, one of her greatest triumphs at the Royal Italian Opera. The Prophète is now in active rehearsal, and will be ready by Thursday, or Saturday at farthest. We look forward to the production of Meyerbeer’s work with the more pleasure, since it will afford us an opportunity of seeing and hearing one of the greatest artists of modern times.“ In: Musical World, Vol. XXIV, 14.7.1849, S. 433, Leitartikel. „Ainsi décidément vous allez chanter le Prophète – et c’est vous qui faites tout, qui dirigez tout… N’allez pas vous fatiguer outre mesure. – Au nom du ciel, que je sache d’avance le jour de la première représentation …“ Brief vom 19.–21.7.1849, hier 19.7., zit. nach: Granjard, Quelques lettres (wie Anm. 24), S. 80. Graf Mikhail Wielhorski (1788–1865), russischer Komponist und Kunstmäzen, Ehrendirektor der philharmonischen Gesellschaft St. Petersburg, enger Freund Pauline Viardots.

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beschreibt sie das Chaos, das an der Londoner Oper herrschte: Direktoren auf der Flucht, Sänger, die erst singen würden, wenn sie die Gage erhalten hätten, keiner der sie bezahlen könne usw. Sie schreibt weiter: Meine Ankunft hat ihnen den Mut ein bisschen zurück gegeben, wie man sagt, und die Proben von Le Prophète haben letzten Dienstag begonnen, unter meiner musikalischen Leitung, wohlgemerkt. Seit diesem Tag arbeiten wir wie die Neger, ich vor allem. […] Es wird eine Meisterleistung sein, vor allem wenn es gut läuft. Ein Werk, für dass wir 74 Proben in Paris gebraucht haben, in London in 14 Tagen auf die Bühne gebracht!30

In einem Brief zwei Tage später sagt sie deutlich, dass sie die musikalische Leiterin der Oper ist: Ich muss diesen Brief heute abschicken, sonst könnte ich es erst nach Le Prophète tun, denn bis dahin sehe ich keinen freien Moment. Ich bin es, die alle Proben mit Klavier und die Inszenierungsproben leitet. Costa begnügt sich, den Taktstock in der Hand zu halten, – er würde es verdienen, dass man ihm dafür manchmal zärtlich auf den Rücken klopft.31

Dass Pauline Viardot die eigentliche Probenarbeit leistete, wird auch durch andere Quellen bestätigt. So schrieb beispielsweise Ignaz Moscheles32 am Tag nach der Aufführung an seine Frau: Madame Viardot ist nicht nur eine ausgezeichnete Fides, sie hat auch, wie die Franzosen sagen, créé le rôle; sie ist Kapellmeister, Régisseur – mit einem Wort, die Seele der Oper, die ihren großen Erfolg wohl zur Hälfte ihr verdankt.33

30 „Mon arrivée leur a un peu remis le coeur au ventre, comme on dit, et les répétitions du Prophète ont commencé mardi dernier, sous ma direction musicale, bien entendu. Depuis ce jour nous travaillons comme des nègres, moi surtout. […] Ce sera un grand tour de force, surtout si cela marche bien. Un ouvrage, pour lequel il a fallu 74 répétitions à Paris, monté à Londres en 14 jours!“ Brief vom 17.7.1849, zit. nach: Michèle Friang, Pauline Viardot au miroir de sa correspondance. Biographie. Paris 2008, S. 93. Die Autorin zitiert die Briefe an den Grafen Wielhorski aus: Aleksandr Rozanov, Polina ViardoGarsia, Leningrad 1982. Sie hat sie offensichtlich aus dem russischen ins französische rückübersetzt oder übersetzen lassen. 31 „Il faut que j’expédie cette lettre aujourd’hui, autrement je ne pourrais le faire qu’après Le Prophète, car d’ici là, je ne vois plus un instant de liberté. C’est moi qui dirige toutes les répétitions avec piano et de mise en scène. Costa se contente de tenir son bâton à la main, - il mériterait bien parfois d’en recevoir la caresse sur le dos.“ Brief vom 19.7.1849, ebd. 32 Ignaz Moscheles (1794–1870), böhmischer Pianist, Komponist und Musikpädagoge. 33 Undatierter Brief, in: Charlotte Moscheles, Aus Moscheles’ Leben. Nach Briefen und Tagebüchern herausgegeben von seiner Frau, 2 Bände, Leipzig 1873, Bd. 2, S. 206.

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George Sand auf ihrem Landsitz Nohant erfährt über einen Freund von Pauline Viardots Erfolg als Probenleiterin. Sie schreibt an ihren Freund: Sie machen mir außerdem eine große Freude, indem Sie mir alle Einzelheiten der Aufführung von Le Prophète geben, wo mein Mädchen Pauline so bewundernswert war, so außergewöhnlich als Impresario und als Ganzes. […] Sie haben das Genie dieser erstaunlichen Künstlerin gesehen und geschätzt.34

Es war sicherlich eine große Arbeitsbelastung, die Hauptrolle zu singen und zugleich für die Einstudierung der anderen Partien und das Zusammenspiel mit Orchester und Chor verantwortlich zu sein. Iwan Turgenjew zeigt sich in mehreren Briefen besorgt um die Gesundheit Pauline Viardots. Sie wurde jedoch für ihren Einsatz belohnt. Nach der letzten Generalprobe wurde Pauline Viardot vom Orchester und einer kleinen Anzahl von Zuhörern auf die Bühne gerufen und gefeiert, was ein Londoner Korrespondent als unüblich beschrieb: […] und ich erzähle Ihnen von der letzten Generalprobe, bei der ich etwas gesehen habe, was ich bisher nicht gesehen hatte und vielleicht nie sehen werde, und ich vermerke es hier wegen der Seltenheit. Nach dem vierten Akt (hier der dritte, da der Prophète in London in vier Akten gespielt wird), wurde Mme Viardot vom ganzen Orchester und von der kleinen Anzahl von Zuschauern im Saal auf die Bühne gerufen. Das war ein gutes Omen; aber könnte man für eine Künstlerin wie sie weniger veranlassen?35

Giacomo Meyerbeer war offensichtlich äußerst zufrieden mit der Arbeit seiner „Kapellmeisterin“, denn er machte später meist auch für die Aufführungen der Oper in einigen anderen Städten zur Bedingung, dass Pauline Viardot die Rolle der Fidès singe und wünschte ihre Anwesenheit bei den Proben. Dies zeigt beispielhaft der Ausschnitt aus einem Brief des Komponisten, in dem es um die Aufnahme von Le Prophète in Florenz geht:

34 „Vous me faites aussi un grand plaisir en me donnant tous ces détails sur la représentation du Prophète où ma fille Pauline a été si admirable, si prodigieuse comme impressario et comme tout. […] Vous avez vu et apprécié le génie de cette étonnante artiste.“ Brief vom 4.8.1849, zit. nach: Lubin, George Sand: Correspondance (wie Anm. 22), Bd. 9, S. 239. 35 „[...] et je vous parlerai de la dernière répétition générale, où j’ai vu ce que je n’avais pas vu encore, ce que peut-être je ne verrai plus jamais, et je le note ici pour la rareté du fait. Après la quatrième acte (ici troisième, puisque le Prophète se joue en quatre acte), Mme Viardot fut rappelée par tout l’orchestre et par le petit nombre de personnes qui se trouvaient dans la salle. C’était de bon augure; mais pouvait-on faire faire moins pour une artiste comme elle?“, in: Revue et Gazette Musicale de Paris 16, Nr. 30, 29.7.1849, S. 233 f.

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Jedoch trifft es sich durch einen glücklichen Zufall, dass Mad. Viardot, welche die Rolle der Fidès [mit immensem Erfolg]36 in Paris kreiert hat, in diesem Moment frei von jeglichem Engagement ist. Mad. Viardot ist nicht nur eine einzigartige Sängerin, mit einem [unermesslichen Talent] begabt und von einer bewundernswerten dramatischen Fähigkeit: sie ist auch mehr als jede andere in der Lage, die Rolle der Fidès [die ich ausdrücklich für sie komponiert habe] und die die wichtigste des Werkes ist, vollkommen zu singen. Als Le Prophète in Paris geprobt wurde, hat Mad. Viardot ihre Rolle unter meiner ständigen Leitung studiert, so dass sie nicht nur meine ganzen Intentionen für die Figur kennt, die sie interpretiert, sondern auch alles, was die Ausführung der anderen Rollen sowohl gesanglich als auch schauspielerisch betrifft [wie auch die Orchesterpartie, die Chöre & die Inszenierung]. Es wäre deshalb für das Theater von Florenz ein großes Glück, wie auch eine Garantie für den Erfolg des Werkes, wenn Mad. Viardot die Rolle singen könnte, die sie kreiert hat; neben der Tatsache, dass diese Rolle besser nicht besetzt werden könnte, wären die Ratschläge Mad. Viardots von sehr großer Nützlichkeit für das Einstudieren der anderen Rollen und des ganzen Werkes.37

Auch in St. Petersburg ein Jahr später vertraute der Komponist ganz auf Pauline Viardots Fähigkeiten, die Proben nach seinen Vorstellungen zu begleiten und besprach brieflich erneut Kürzungen oder Veränderungen mit ihr.38 Pauline Viardot blieb eine geschätzte Beraterin Giacomo Meyerbeers, auch über die Arbeit an Le Prophète hinaus. So sollte beispielsweise die italienische Übersetzung seiner Oper L’Etoile du Nord in London der Sängerin vorgelegt werden, damit diese überprüfen könne, ob der Text sich der Musik perfekt 36 Von diesem Brief ist nur der vom Komponisten diktierte Entwurf erhalten, die eckigen Klammern machen nachträgliche Korrekturen bzw. Ergänzungen Meyerbeers deutlich, vgl. Angaben zur Edition im Vorwort von Becker, Meyerbeer (wie Anm. 7), Bd. 5, S. XV. 37 „Cependant par une heureuse circonstance il se trouve que Mad. Viardot qui a créé le rôle de Fidès à Paris [avec un immense succès] est en ce moment libre de tout engagement. Mad. Viardot est non seulement une cantatrice hors ligne, donnée d’un [immense talent] qui est d’une habilité dramatique admirable: mais elle est encore mieux que personne dans le cas de chanter à la perfection le rôle de Fidès [que j’ai expressement composé pour elle] et qui est le plus important de l’ouvrage. Quand le Prophète a été monté à Paris, Mad. Viardot a étudié son rôle sous ma direction continuelle, en sorte qu’elle connaît non seulement toutes mes intentions pour le personnage qu’elle interprète, mais aussi tout ce qui concerne l’exécution des autres rôles tant pour le chant que pour l’action dramatique [comme pour la partie de l’orchestre des Chœurs & de la mise en scène]. Ce serait donc une bonne fortune pour le théâtre de Florence, comme une garantie du succès de l’ouvrage si Mad. Viardot pouvait y chanter le rôle qu’elle a créé; outre que ce rôle ne pourrait être mieux rempli, les conseils de Mad. Viardot seraient d’une très grande utilité pour l’étude des autres rôles et de l’ensemble de la pièce.“ Brief von Giacomo Meyerbeer an Marquis Martelli vom 17.10.1852, zit. nach: Becker, Meyerbeer (wie Anm. 7), Bd. 5, S. 659. 38 Ebd., Bd. 6, S. 19.

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anpasse. Sie habe anlässlich der Proben für Le Prophète in London berichtet, dass die Sänger den Text der italienischen Fassung von Le Prophète erheblich hatten ändern müssen.39 Deutlich wird aus diesen Dokumenten, dass Pauline Viardot von Giacomo Meyerbeer den Auftrag bekommen hatte, ihre Erfahrungen und ihr Wissen aus den Proben und Aufführungen in Paris der Einstudierung in London zugute kommen zu lassen. Als Vertreterin des Komponisten vermittelte sie nicht nur, sondern übernahm die musikalische Einstudierung sowie die Regiearbeit. Ihre Tätigkeiten gingen somit weit über die üblichen Aufgaben einer Opernsängerin hinaus. Sie trug die Verantwortung für das Gelingen der Proben und für eine erfolgreiche Aufführung von Le Prophète in London. Pauline Viardot setzte sich für viele weitere Werke und deren adäquate Aufführung in Großbritannien und Irland ein. Während ihrer zahlreichen Aufenthalte auf den britischen Inseln weckte sie durch ihr außergewöhnliches Konzertrepertoire das Interesse an Musik vergangener Jahrhunderte, machte das Publikum mit zeitgenössischen Komponisten vertraut und brachte Volkslieder verschiedenster nationaler Herkunft zu Gehör. Mit ihrem Programm änderte bzw. prägte sie die Hörgewohnheiten des Publikums. Somit hatte ihr künstlerisches Handeln Einfluss auf die Repertoirebildung und dadurch auch auf die Musikgeschichte.

39 Ebd., S. 531.

Eva Rieger

Auf den Leib geschrieben Zum Verhältnis von Musik und Körper im Rosenkavalier Wer kennt nicht Loriots unseligen Konzertgänger, der so ziemlich alle Tabus

durchbricht, die es im Konzertsaal gibt? Er steigt über die Sitzreihen, spricht die Nachbarin an, spuckt versehentlich seinen Bonbon auf ihren Hals und vermengt ahnungslos die Diskursebenen: ohne etwas von Musik zu verstehen, will er allen, die in der Nähe sitzen, etwas von einem Preisausschreiben einer Bratpfannenfirma erzählen. Das Groteske an der Situation speist sich daraus, dass der Besucher vor allem eins nicht begreift: bei ‚gehobenen‘ Musikveranstaltungen haben sich lediglich ‚geistige Dinge‘ abzuspielen. In der abendländischen Musikkultur ist für das Publikum mit der Entstehung des Konzertwesens die Verbindung zwischen Körperlichkeit und Musik nach außen hin verloren gegangen. Man isst nicht, man spricht nicht, und schon gar nicht tanzt man zu den Klängen, sondern lässt das tönende Ereignis äußerlich regungslos auf sich wirken. Der Körper wurde in dunkle Stoffe gehüllt, um ihn unsichtbar zu machen. Noch heute tragen die meisten KonzertbesucherInnen dunkle Kleidung, wird der Konzertsaal abgedunkelt, spricht und speist man nicht während der Aufführung. Die Tanzdielen hingegen gaben den Stadtbewohnern ersatzweise die Möglichkeit, sich körperlich zu bewegen und Discos, in denen man zur Musik den Körper bewegt, erinnern noch heute an die ursprüngliche Verbindung von Musik und Körperlichkeit. Diese Polarisierung, deren Ursprung in der Verteufelung der Sinnlichkeit durch die abendländische christliche Kultur liegt, hatte zur Folge, dass der Körper im Zusammenhang mit ‚hoher Musik‘, die angeblich der geistigen Kontemplation diente, innerhalb der musikwissenschaftlichen Diskussion nicht thematisiert wurde. Und das, obwohl es keinen Zweifel daran gibt, dass Musik mit ihren Spannungen, die sich aufbauen und entladen, den dissonanten Reibungen, die nach Auflösung drängen, mit ihrer marschmäßigen Motorik oder ihrem tänzerischen Schwung immer wieder mit dem Körper und durch den Körper erfahren wird. Auch wenn das sinnliche Erleben durch Projektionen in das Reich der Fantasie sublimiert wird, ist der Reiz im musikalischen Erleben präsent und vermag starke Gefühle auszulösen. Inzwischen sind Diskussionen über die Ausklammerung des Körperlichen aus der Wissenschaft und Kunst längst zum Gegenstand akademischer For-

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schung geworden. Sie gingen einher mit der Kritik an einer Musikwissenschaft, die sich mit ihrer Betonung der autonomen, universellen und transzendenten Qualität von Musik, der Ausgrenzung der Emotionalität und Verleugnung der Subjektivität bei der Betrachtung musikalischer Phänomene sowie der Konzentration auf die europäische, gehobene Musik letztlich an traditionell männlichen Werten orientierte.1 In der Musikwissenschaft waren es die US-amerikanischen KollegInnen, die die kritische Diskussion anstießen. Kurioserweise war es ausgerechnet die Oper Der Rosenkavalier, die zur Erläuterung teilweise gewagter Theorien verleitete. So bezeichnet Sam Abel den Eindruck, den Opern auf die Zuschauer machen, als durchaus erotisch. Er beschreibt, was in ihm vorgeht, wenn er zuhause das herrliche Schlussterzett aus dem Rosenkavalier von Richard Strauss hört: Mein Herz schlägt schneller. Meine Magenmuskeln ziehen sich zusammen, mein Gesäß strafft sich, mein Gesicht verzerrt sich bei jeder neuen harmonischen Spannung. Mein Kopf bewegt sich zur Musik, ich dirigiere die Oper mit meinem bewegungslosen Körper. Die drei Sopranistinnen erreichen den obersten Bereich ihrer Register. Sie können nicht höher singen, aber ich bin noch nicht befriedigt. Die Harmonien sind noch nicht aufgelöst worden, die Musik muss sich noch immer in die Höhe schrauben. Die Geigen übernehmen die Melodie und tragen sie über die Höhe, sie lösen allmählich die hoffnungslos dichten Harmonien auf. Streicher und Stimmen pressen sich aneinander und steigern das Entzücken. Mein Rücken biegt sich, er berührt das Sofa nicht mehr. So verharrt mein Körper während des unmöglich langen Höhepunkts; alle meine Muskeln sind gespannt. Schließlich lösen sich die komplexen Harmonien langsam auf. Die Melodie bewegt sich nun abwärts. Meine Muskeln entspannen sich allmählich, und ich sinke in die Kissen zurück. Die Schwarzkopf ruft einen himmlischen Segen über unseren gemeinsamen Akt, unsere ménage-à-quatre: ‚In Gottes Namen‘. Die Musik schwindet dahin und geht in Octavians und Sophies paralleles Duett ein. Ich atme wieder normal. Wenn ich rauchen würde, würde ich mir jetzt eine Zigarette anstecken.2

Abel empfindet das Terzett als musikalischen Orgasmus und behauptet, dass der Körper in der Musik von Richard Strauss, Giacomo Puccini und anderen eingeschrieben sei. Für den Rosenkavalier wollte Hugo von Hofmannsthal auf keinen Fall „eine abstoßend barbarische, fast tierische Sache, dieses Aufeinander-Losbrüllen zweier Geschöpfe in Liebesbrunst, wie er (Richard 1 Vgl. Philip Brett, „Musicology and Sexuality: The Example of Edward J. Dent“, in: Queer Episodes in Music and Modern Identity, hrsg. von Sophie Fuller und Lloyd Whitesell, Urbana, Chicago 2002, S. 180. 2 Sam Abel, Opera in the Flesh. Sexuality in Opera Performance, Boulder, Colorado 1996, S. 80 f. (Übersetzung der Autorin).

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Wagner) es praktiziert.“3 Strauss hatte somit die Aufgabe, die Erotik, die doch das gesamte Sujet beherrscht, mittelbar aufklingen zu lassen, ohne zu direkt zu wirken. Dies gelingt ihm ebenso wie die Zeichnung ‚männlicher‘ und ‚weiblicher‘ Charaktereigenschaften4. Hier kannte er sich aus, hatte er doch in seinen Tondichtungen Don Juan op. 20 (1889), Also sprach Zarathustra op. 30 (1896), die einen hymnischen Dialog zwischen dem männlichen ‚Ich‘ und dem ‚All‘ zeichnet, sowie Ein Heldenleben op. 40 (1899) hinlänglich Erfahrung in der Zeichnung traditionell ‚männlicher‘ und ‚weiblicher‘ Eigenschaften gewonnen. Gemäß der Ideologie des 19. Jahrhunderts hielt der Komponist die ungleiche Wesensart der Geschlechter für natürlich. Er ging davon aus, dass Männer eine privilegierte Stellung besaßen. Eine Herrenmoral bricht sich folglich in den Tondichtungen Bahn. Das männliche Subjekt besiegt die Frauen (Don Juan), dem Helden wird die Frau in zweitrangiger Position zugeordnet (Don Juan, Ein Heldenleben). Während in Ein Heldenleben das ‚männlich – aufsteigende‘ Hauptthema im Tutti vier Oktaven umspannt und als im heroisch bezeichneten Es-Dur gehalten ist, bleibt für die Charakterisierung der Partnerin die Solovioline. Strauss identifizierte sich mit seinen Helden: ”Ich sehe nicht ein, warum ich keine Symphonie auf mich selbst machen sollte. Ich finde mich ebenso interessant wie Napoleon oder Alexander.“5 In Also sprach Zarathustra lässt sich Strauss vom Selbstbewusstsein des Titelhelden anstecken: „Zarathustra ist herrlich – weitaus das Bedeutendste, Formvollendetste, inhaltsreichste, Eigentümlichste meiner Stücke... Ich bin doch ein ganzer Kerl und habe wieder einmal ein bisschen Freude an mir.“6 Strauss spiegelt in seinem Schaffen die Geschlechtercharaktere seiner Epoche. In der Tondichtung Macbeth op. 23 (1890) ist Lady Macbeth mit Dissonanzen und Streichertremoli als typische Femme fatale gezeichnet. In seiner Oper Elektra findet sich die klassische Gegenüberstellung zweier Frauenfiguren: Elektra will aus Rache töten und ihre weibliche Rolle nicht annehmen, Chrysotemis will heiraten, Kinder bekommen, also ihre Rolle annehmen. Elektra ist mit zwei übereinandergeschichteten Akkorden die größte Dissonanz zugeordnet. Ihr Charakter wird dadurch als pathologisch gezeichnet, was sich auch an den jähen Umbrüchen der scharf markierten Akkorde sowie den 3 Brief vom 6.6.1910, in: Richard Strauss – Hugo von Hofmannsthal, Briefwechsel, hrsg. von Willi Schuh, Zürich 41964, S. 91. 4 Damit ist die musikalische Zeichnung dessen gemeint, was im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert weitgehend als ‚natürliche’ Weiblichkeit und Männlichkeit begriffen wurde. 5 Zit. in: Andreas Kluge, „Biographie und Verklärung“, in: Booklet zur CD Werke von R. Strauss (Sony SBK 53511). 6 Ebd.

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rhythmischen und harmonischen Verzerrungen zeigt, die ihre seelische Zerrissenheit akzentuieren. Chrysotemis dagegen wird mit weicher, fraulicher Wesensart gezeichnet, die durch Diatonik, Periodisierung, Durtonart, arienhafte Gesangspartien und tänzerisch-schwingenden Walzercharakter ausgedrückt wird. (In Elektra übertrifft übrigens Agamemnon mit seinem reichhaltigen Motivmaterial alle anderen Figuren und wird damit zur Hauptperson, obwohl er nicht mehr lebt. So beherrscht selbst hier ein Mann eine Frauenoper.) Im Rosenkavalier durchziehen Motive das Werk, die je nach dramaturgischer Erfordernis kunstvoll und vielfältig variiert werden und durchaus entziffert werden können. Bereits in den ersten Takten der Ouvertüre erklingt Octavians Motiv: ein von den Hörnern gespieltes, über zwei Oktaven aufwärts drängendes, rhythmisch markantes Thema, das seine Ähnlichkeit mit dem Hauptthema in Ein Heldenleben nicht verbergen kann. Es steht im Gegensatz zu den fallenden Streichersexten, die gleich darauf folgen und die Welt der Marschallin beschreiben. Kurz darauf (T. 4–5) ist ein punktierter, an Militärmusik erinnernder Triolen-Rhythmus zu hören, der im weiteren Verlauf Octavian begleitet. Strauss gibt dazu die Anweisung „stürmisch bewegt“ sowie „sehr überschwenglich im Vortrag”. In der Instrumentation treten vor allem die Hörner deutlich hervor, sie stehen bei Strauss für Schwung und Temperament sowie für männliche Kraft. Es folgt eine drängende Passage voller Begehren, die an Wagners Einleitung zu Tristan und Isolde erinnert. Octavian singt vom „Ziehen, Sehnen und Drängen, Schwindeln, Schmachten und Brennen“, das er in seinem Körper spüre, und eben dieses Gefühl wird durch die sich steigernden Wellen des Begehrens vermittelt. Die Passage kulminiert in HörnerGlissandi, von denen William Mann behauptet, damit würde eine Ejaculatio praecox in Musik gesetzt.7 Strauss, ein großer Anhänger Richard Wagners, übernahm zwar dessen kunstvolle Verarbeitung seiner Leitmotivtechnik, hat aber hier Wagners Umsetzung eines sexuellen Höhepunktes mit langer Steigerung als Apotheose des Begehrens, wie sie in Isoldes Liebestod erklingt, nicht imitiert. Strauss geht nicht wie jener vom weiblichen Erleben, sondern von dem jungen Octavian aus: Kaum wogt die Musik sehnsuchtsvoll, kommt es bereits zur Entladung. Der stürmisch-drängende Charakter Octavians vermengt demnach seine männliche Identität mit seiner Sexualität, und ist damit körperlich-musikalisch gefasst. Warum lässt Strauss den jungen Liebhaber von einer Frau spielen? Zum einen gibt es eine lange musikalische Tradition von Travestie-Rollen. Frauen spielen junge Männer in den Opere serie von Georg Friedrich Händel, Wolf7 William Mann, Richard Strauss. London 1964, S. 101.

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gang Amadeus Mozart schuf Cherubino in Figaros Hochzeit, Gioachino Rossini hat gleich mehrere Hosenrollen erdacht. Auch Gaetano Donizetti, Vincenzo Bellini und Charles Gounod erfanden Cross-Dressing-Gestalten. Ob Johann Strauss’ Graf Orlofsky oder Jean in Jules Massenets Der Glöckner von Notre Dame: Hosenrollen erfreuten sich stets großer Beliebtheit. Im ersten groben Entwurf der Handlung des Rosenkavaliers dachte Hugo von Hofmannsthal sofort an „ein als Mann verkleidetes graziöses Mädchen“.8 Der Begriff „graziös“ lässt vermuten, dass es ihm dabei vorrangig um den ästhetischen Anblick, verquickt mit dem Reiz der weiblichen Stimme ging. Die Gründe liegen jedoch tiefer. Der noch halb in der Pubertät steckende Octavian sammelt seine ersten erotischen Erfahrungen. Er bekleidet kein öffentliches Amt, kann also weder gesellschaftlich noch privat der Umwelt – oder der Frau – seinen Willen aufzwingen. Machtlos wie er ist, spürt er die Macht des Sexus dafür umso stärker. Seine nachpubertäre Labilität überwältigt ihn, er bricht vor der Marschallin in Tränen aus. Oktavians schwärmerische Unausgeglichenheit beruht darauf, dass er dabei ist, seine eigenen Fähigkeiten als Liebhaber zu entdecken, die in dem erstmalig erlebten Zusammenfließen von Erotik, Sexualität und seelischer Tiefe kulminieren. Typisch ist sein Widerwille gegen das Tageslicht. Er möchte die Illusion der Nacht erhalten, da ihm bei Tage unliebsame Realitäten entgegenschlagen: Die Geliebte gehört einem anderen, er muss sich vor der Umwelt verstecken. Octavian könnte eigentlich seine Geliebte für ein Gemälde eintauschen, schreibt Reinhard Gerlach in seiner Untersuchung dieser Figur.9 Er meint damit, dass der junge Mann vorrangig mit sich selbst befasst ist und die Geliebte eher am Rande wahrnimmt. Deshalb vollzieht er den Umschwung zu Sophie so reibungslos: Seine Sinne sind angesprochen, es gilt, neue Erfahrungen zu machen. Octavian kann gegenüber Frauen noch nicht als Autorität fungieren. Aufgrund seiner unterlegenen Position erfährt er von ihnen eine eher mütterlich-herablassende als eine partnerschaftliche Liebe. Hierin liegt die Erklärung für die Besetzung dieser Partie mit einer Frauenstimme. Es wäre ein abendländischer Anachronismus, hätte man zur Zeit der Entstehung dieser Oper, die der Tradition des 19. Jahrhunderts verhaftet ist, einen der Frau psychisch unterlegenen Mann mit einem strahlenden Heldentenor besetzt. Dennoch wäre es einseitig, in Octavian nur den weiblich-empfindsamen Jüngling zu sehen. Hofmannsthal bemühte sich, dies zu vermeiden. In einem 8 Brief vom 11.2.1909, in: Schuh, Richard Strauss – Hugo von Hofmannsthal (wie Anm. 3), S. 54. 9 Reinhard Gerlach, Don Juan und Rosenkavalier. Studien zu Idee und Gestalt einer tonalen Evolution im Werk Richard Strauss, Bern 1966.

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an seinen Freund und Miterfinder des Librettos, Graf Harry von Kessler gerichteten Brief fragte er ihn besorgt, ob er Octavian im 2. Aufzug „männlich genug“ fände, was dieser bejahte. An Zeichen fehlt es nicht. Octavians Degen liegt zu Beginn der Oper ostentativ herum. Er fordert Ochs zum Zweikampf auf. Seine doppeldeutige Äußerung über den Marschall – „Er jagt, und was jage ich?“ – lässt die altbekannte Assoziation der Tierjagd mit dem Erobern von Frauen anklingen. Strauss hatte somit zweierlei zu bedenken, als er Octavian musikalisch gestaltete. Zum einen musste das Unfertige, das Sehnen und Begehren dieser Gestalt hörbar gemacht werden, zum anderen musste seine Männlichkeit gewahrt bleiben, zumal die Rolle von einer Frau gespielt wurde. Dies wird durch das männlich konnotierte Hauptthema geleistet. Strauss gelingt somit in einzigartiger Weise, das Jugendlich-Stürmische des Liebhabers ebenso als eine Wesensart zu zeichnen wie dessen Überwältigtwerden durch den Sexus. Diese zwei Aspekte sind ebenso kunstvoll verwoben wie die des ‚Männlichen‘ und des ‚Weiblichen‘, die Strauss in den ersten Takten der Einleitung miteinander verkoppelt, obwohl sie später getrennt erklingen. Das drängende Begehren führt zu drei Motiven, die ursächlich mit der Marschallin, oder besser gesagt: mit der Liebesfähigkeit der Marschallin verbunden sind. Die Besetzung reduziert sich weitgehend auf die Holzblasinstrumente und Streicher. Der Komponist verzichtet im wörtlichen Sinne auf Instrumente, und dieser Verzicht gibt ihren Passagen einen resignativen Charakter. Die Motive der Marschallin streben vor allem in den ersten Tönen, die häufig abgespalten und wiederholt werden (z.  B. am Ende des 1. Aufzuges) abwärts, im Gegensatz zu Octavians Motiv, das aufwärtsgerichtet ist. Der Septsprung abwärts signalisiert den Konflikt und nimmt die Trennung vorweg. Die ältere Frau wird die Leidtragende sein, nicht ihr junger Partner. Während Octavians Motive besonders markant betont werden, singt die Marschallin meist legato, was der Melodik eine weiche, warme Qualität verleiht. Sie ist diejenige, die Zuneigung, Liebe und Geborgenheit ausstrahlt. Bei dem Ausruf der Marschallin: „Du bist mein Bub, Du bist mein Schatz! Ich hab dich lieb.“ lichtet sich die Instrumentation, Flöten und Klarinetten tun sich hervor und werden von den Streichern abgelöst. Die Stelle ist diatonisch gehalten, in ihrer Schlichtheit ergreifend, aber sie reduziert die Frau zugleich auf die Passiv-Empfangende. Ganz ähnlich ist die Melodik bei dem Monolog der Marschallin gehalten, als sie über die entschwundene Jugend klagt. Im Gegensatz zu der schlichten, gebundenen Melodik ist der harmonische Unterbau der Marschallin nicht selten kompliziert. Strauss moduliert häufiger in andere Tonarten als bei den Partien Octavians. Er unterstreicht damit das negativ Konnotierte, wie es aus der Barockzeit bekannt ist: Absteigende Melo-

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dik sowie dissonante Harmonik sind kennzeichnend für Konflikte, Trauer oder Angst. Die Marschallin hat sich zurückzunehmen, ihre Opfer- und zugleich Liebesfähigkeit ist gemäß den Vorstellungen des 19. Jahrhunderts ihrem Charakter und ihrem weiblichen Körper eingeschrieben. Während Octavian im Licht steht, steht sie im Schatten. Sie ist zwar diejenige, die im 3. Aufzug die Fäden in der Hand hält und den Konflikt löst, aber sie ist zugleich die Verliererin. Daran erinnert die Musik immer wieder. Die Marschallin steht als Frau, die selbstbestimmt über ihre sexuellen Bedürfnisse entscheidet, der Femme fatale nahe, hat aber keine der bedrohlichen männermordenden oder machtergreifenden Eigenschaften, die dieser sonst anhaften. Im Gegenteil, sie wird durchgehend mit liebenswerten Eigenschaften ausgestattet. Dies ist Hofmannsthal zuzuschreiben, dessen waches Sensorium für Menschen ihn Frauen gegenüber eine differenzierte Haltung einnehmen ließ. Er befasste sich mit den matriarchalen Theorien Johann Jakob Bachofens, wobei ihn mit jenem eine mystische Ehrfurcht vor der kosmisch-vitalen Überlegenheit der Frau verband. Dass diese Einstellung die Zeichnung der Marschallin beeinflusste, ist naheliegend. Das zeltförmige Himmelbett, neben dem der abgelegte Degen des Liebhabers liegt, kann nach Hugo Wyss sogar als Amazonen-Zeichen auf der Bühne ausgelegt werden (also als Zeichen weiblicher Macht).10 Eigentlich bedarf es keiner Symbole, denn alle Fäden laufen bei der Marschallin zusammen. Sie kann in die Zukunft sehen, wobei sie einen ironischen Ton anschlägt („Jetzt muß ich noch den Buben dafür trösten, daß er mich über kurz oder lang wird sitzen lassen“11), sie sorgt dafür, dass Sophie ihren Mann bekommt, und sie besitzt die Größe, trotz ihrer Trauer über den Verlust Octavians, diesem zu verzeihen. In Anklang an den Archetyp der „großen Mutter“ wird ihre Funktion als Gebende und zugleich Verschlingende in den Worten Sophies deutlich, die gleichzeitig vor ihr ehrfürchtig niederknien und ihr etwas antun möchte.12 Die Marschallin ist nicht nur ein Abbild mythisch-mystischer Vorzeiten, sondern zugleich ein Kind des Bürgertums. Trotz ihrer Rückdatierung in die adlige Gesellschaft des 18. Jahrhunderts bleibt sie eine mit bürgerlichen Tugenden ausgestattete Frau. Daher stellt der ‚Seitensprung‘ eine klare Überschreitung bürgerlicher Normen dar und verlangt nach einer Ahndung. Damit gleicht die Marschallin der Verdischen Traviata, einer Halbweltdame, die sich am Ende läutert. Zum Wohle des Geliebten opfert Violetta ihr Glück, sie darf zum Lohn 10 Hugo Wyss, Das Bild der Frau in der Dichtung Hugo von Hofmannthals, Freiburg 1944. 11 1. Akt. 12 „Ich möcht’ mich niederknien dort vor der Frau und möcht’ ihr was antun, denn ich spür’, sie gibt mir ihn und nimmt mir was von ihm zugleich.“ (3. Aufzug, Terzett).

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schließlich als rechtschaffene und allseits anerkannte Frau sterben. Auch die Marschallin wird durch den Verlust des Geliebten bestraft. Eine Inszenierung in Weimar vor einigen Jahren hat sicherlich auch deshalb manche ZuschauerIn irritiert, weil die Marschallin am Schluss Faninal als Partner akzeptiert. Damit wird die gewohnte Balance von Schuld und Sühne nachhaltig gestört. Für Sophie reserviert Strauss die Harfe, nimmt die Celesta hinzu und erreicht so den silbernen, „geradezu atemhemmend überirdischen“13 Klang des 2.  Aufzugs. Im Gegensatz zu Hofmannsthal, der in ihr ein „recht hübsches gutes Dutzendmädchen“ sah,14 stattet Strauss sie musikalisch mit allen Attributen des Reinen und Asexuellen aus. Der Umgang mit den Namensnennungen von Sophie und Octavian macht die gesellschaftlich unterlegene Position der jungen Frau erkennbar, die nicht nur ihrer Rolle als Tochter eines Emporkömmlings zuzuschreiben ist. Octavian hat mehrere Namen, auf die mehrfach eingegangen wird: Der Chor der Diener singt vierzehn Mal „Rofrano!“, und Sophie zählt ihm seine verschiedenen Namen auf. Sie dagegen wird weder von Octavian noch von der Marschallin beim Namen genannt – Ochs spricht einmal vom „Fräulein Faninal“, ansonsten vom „Mädel“, und ihr Vater erwähnt ein einziges Mal ihren Namen, was innerhalb eines Terzetts jedoch untergeht. Auch hier steht demnach die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern fest, denn Octavians Identität wird durch die häufige Namensnennung nach außen hin, also in der gesellschaftlichen Ordnung gefestigt und gestärkt, während er seelische Turbulenzen erlebt. Die anderen Männer kommen allesamt nicht gut weg in dieser Oper. Vom Marschall ist anhand der militärisch-straffen Rhythmen, die seine Namensnennung begleiten, auf wenig Einfühlungsvermögen seiner Frau gegenüber zu schließen. Faninal ist ähnlich wie Daland im Fliegenden Holländer der Typ des geschäftstüchtigen Vaters, der seine Tochter als Ware behandelt. Mit der Gestalt des Ochs schließlich wird – übrigens entgegen der Absicht Hofmannsthals, der die Figur komplexer sah – ein primitives Mannsbild vorgeführt, das seine sexuellen Bedürfnisse animalisch befriedigt. Er wird übrigens in einen feudalen, gesellschaftlich überlebten Zusammenhang gestellt, hat also mit dem bürgerlichen Mann nichts gemein. Es ist bemerkenswert, dass Strauss die üblichen männlich konnotierten Mittel nicht für Ochs anwendet. Dieser erhält ein verspieltes Motiv, das an eine Kratzfuß-Verbeugung denken lässt. In seiner Gestaltung der Geschlechterrollen bleibt Strauss dem bürgerlichen Klischee verhaftet. Dieses schreibt dem Mann das aktive Element zu, 13 Max Steinitzer, Richard Strauss, Berlin, Leipzig 1927, S. 205. 14 Brief vom 12.7.1910, in: Schuh, Richard Strauss - Hugo von Hofmannsthal (wie Anm. 3), S. 95.

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idealisiert die junge, unberührte Frau und verleiht der weiblich-liebenden Wesensart der Marschallin eine quasi natürliche, anthropologische Konstante. Zugleich wird dem Publikum vermittelt, dass eine bürgerliche Frau nicht ungestraft untreu sein darf. Die Aussage von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer aus der Dialektik der Aufklärung erhält im Hinblick auf den Rosenkavalier eine besondere Bedeutung. In der Welt des Tausches hat der unrecht, der mehr gibt; der Liebende ist allemal der mehr Liebende. [...] Gerade in der Liebe selber wird der Liebende ins Unrecht gesetzt und bestraft. Die Unfähigkeit zur Herrschaft über sich und andere, die seine Liebe bezeugt, ist Grund genug, ihm die Erfüllung zu verweigern.15

Indem sie auf ihr Liebesobjekt verzichtet, zeigt die Marschallin Größe und wird von uns umso mehr geliebt. Hofmannsthal hat dies übrigens sehr wohl erkannt, wenn er an Strauss schreibt: „Es ist diese Figur, die das Publikum, namentlich die Frauen, als Hauptfigur empfinden und mit der sie gehen.”16 Bekanntlich gibt es keine natürliche Weiblichkeit oder Männlichkeit. Die Geschlechterrollen sind kulturell überformt und daher veränderbar. Eine Möglichkeit, die Asymmetrie in der Bewertung von Frauen- und Männerkörper zu überwinden, besteht in der Überwindung der strengen Trennung der Geschlechterrollen. Viele Künstlerinnen sind daher bemüht, die Grenzen spielerisch zu überwinden, z. B. durch die Erkenntnis, dass das Geschlecht performativ ist, vergleichbar einer Rolle, die man übernimmt. Nimmt man Judith Butlers Theorie ernst, wonach das Geschlecht zwar biologisch feststeht, aber dennoch wie eine Rolle angenommen oder abgelegt werden kann, ist eine Gesellschaft vorstellbar, in der wir mal Frau, mal Mann sein könnten. Die Gestalt des Octavian würde dadurch ins 21. Jahrhundert katapultiert. Es ist zu fragen, ob ein mutiger Regisseur diese Verwandlungen inszenieren und beispielsweise den 1. Aufzug von einem Countertenor spielen lassen könnte. Dies würde sicherlich einen Sturm der Entrüstung hervorrufen. Haben aber Strauss und Hofmannsthal nicht bereits die starren Geschlechterrollen durchbrochen, als sie eine Frau einen Mann spielen lassen, der sich als Frau verkleidet? Könnte nicht auch mal ein Mann Octavian sein und damit eine Frau darstellen, die einen Mann spielt, der sich als Dienstmädchen verkleidet und einen Mann verführt? 15 Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a. M. 1969, S. 67. 16 Brief vom 6.6.1910 in: Schuh, Richard Strauss – Hugo von Hofmannsthal (wie Anm. 3), S. 91.

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Die Kulturwissenschaftlerin Terry Castle machte den Versuch, ihre Schwärmerei für Brigitte Fassbaenders Stimme theoretisch zu fassen und zum Ausdruck zu bringen. Castle bekennt, lesbisch zu sein und durch den Geschlechtertausch und Fassbaenders Cross-Dressing einen besonderen Genuss zu empfinden. Sie verweist auf deren Interpretation der Schubertschen Winterreise, wobei sie zu beweisen versucht, dass die Sängerin nicht nur die Rolle des männlichen Subjekts übernimmt, sondern sich darüber hinaus als begehrende Frau an eine Frau wendet. Castle findet in der Videoaufnahme des Rosenkavaliers mit der Sängerin viele Anzeichen dafür, dass sie als Frau agiert. Ich glaube, dass niemand ihren Octavian mit einem 17-jährigen Jungen gleichsetzt. Was wir in der berauschenden Eingangs-Szene erleben, ist, wie sie und die Diva schmachtend übereinanderliegen und Fassbaender dabei ist, diese leidenschaftlich zu lieben. Gleichgültig, wie scheinbar echt die jungenhaften Gesten sind, kann Fassbaender in Hosen niemanden täuschen. Es bleibt eine unverrückbare Tatsache, dass der Körper und die Stimme weiblich sind.17

Castle sieht gerade in den tiefen Lagen der Frauenstimme dasjenige Element, das das Androgyne hervorhebt. Die Oper Der Rosenkavalier bietet somit mehr als nur ein Fest schöner Stimmen: Sie zeigt eine in bester humaner Tradition stehende Marschallin, die das Mütterlich-Weibliche tradiert, wobei dieses humane Element nur um den Preis ihrer Zurücksetzung und ihres Unglücks zu haben ist.18 Zugleich taucht das Werk in den Reiz des Geschlechtertausches ein und ermöglicht, Fantasien zu entwickeln, die über die bürgerliche Moral hinweg in neue Welten führen. Es ist schon als ironisch zu bezeichnen, dass ausgerechnet Strauss, der den heroischen Mann so gern in den Mittelpunkt stellte, um den sich dann das weibliche Element rankte, eine Figur schuf, die die Möglichkeit der Zersetzung des Bildes von den polaren Geschlechterrollen in sich birgt. Das macht das Moderne, Zeitgemäße dieser Oper aus. Die Diskussion um Körperliches in der ‚hohen Musik‘ erhält durch diese Oper neue Nahrung, denn Strauss hat das Sinnlich-Erotische ebenso musikalisch umgesetzt wie die Sexualität, und er verbindet mit dem jeweiligen Geschlecht bestimmte Eigenschaften – ohne freilich zu wissen, dass es später eine Gesellschaft geben würde, die mit diesen Vorgaben spielerisch jongliert.

17 Terry Castle, „What are these Women doing in Opera?“, in: En Travesti. Women, Gender Subversion, Opera, hrsg. von Corinne E. Blackmer und P. J. Smith, New York 1995, S. 42 f. 18 Parallelen zu Wagners Hans Sachs waren durchaus beabsichtigt: eine ältere Person entsagt der Liebe und ermöglicht zwei jüngeren Menschen die Heirat, vgl. Hugo von Hofmannsthal, Sämtliche Werke, Frankfurt a. M. 1975, Bd. 23, S. 661.

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Spurensuche in Bayreuth Ottilie Metzger und Henriette Gottlieb – Jüdische Lebenswelt bei den Bayreuther Festspielen Als am 23. Juli 1998, zwei Tage vor der Premiere der Bayreuther Festspiele, unterhalb des Festspielhauses im idyllisch angrenzenden Park eine Gedenktafel an zwei jüdische Sängerinnen enthüllt wurde, titelte die Lokalzeitung mit einem Zitat des damaligen Festspielleiters Wolfgang Wagner, dem Enkel Richard Wagners: „Ein Zeichen, mit dem noch nichts erledigt ist.“1 Die Tafel erinnert an zwei Mitwirkende der Bayreuther Festspiele, Ottilie MetzgerLattermann (1901–1904; 1912) und Henriette Gottlieb (1927–1930). Mit Unterstützung der Stadt sowie der Israelitischen Kultusgemeinde Bayreuth hatte Wolfgang Wagner laut Lokalblatt „die Nachforschungen mit allen ihm zugänglichen Informationen“ gefördert. Nachforschungen, deren Ergebnis nun in zwölf kurzen Zeilen auf einer etwa 40  x  50  cm großen Metallplatte Niederschlag findet. Pikanterweise wird diese Gedenktafel noch von der seit 1955 im Festspielpark in unmittelbarer Nähe prominent platzierten und grimmig auf sie blickenden Breker-Büste Richard Wagners beäugt. Arno Breker war bekanntlich der Lieblingsbildhauer Adolf Hitlers. Seit diesen im Herbst 1997 vielversprechend lancierten „Nachforschungen“ sind – trotz des während der Festspiele 1998 veranstalteten Symposiums zum Thema „Wagner und die Juden“ – zwar viele Publikationen zum Thema generell, aber kaum neue Details oder Fakten über jüdische Mitwirkende ans Tageslicht gekommen. Der damalige Oberbürgermeister Dieter Mronz verkündete als Ergebnis der Recherchen geradezu erleichtert, „daß von den Bayreuther Festspielen selber keinerlei Feindschaft gegen ihre jüdischen Mitwirkenden ausging.“ Vielmehr habe sich herausgestellt, dass „Winifred Wagner in vielen Fällen helfend eingriff und die Verträge mit diesen Mitwirkenden weiterlaufen ließ.“2

1 U. B., „,Ein Zeichen, mit dem noch nichts erledigt ist.‘ Gedenktafel enthüllt: Erinnerung an zwei jüdische Sängerinnen.“ Nordbayerischer Kurier, 24.7.1998, S. 11. 2 Ebd.

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Und in der Tat lieferte Winifred Wagner nach Kriegsende eine Aufstellung an das CIC3 mit den Namen und Rollen der „jüdischen, jüdisch versippten und des Paragraphen 175 verdächtigen“ Künstlerinnen und Künstler sowie von nichtdeutschen, also ausländischen Mitwirkenden. Winifred Wagner setzte diese Liste auf zum Beweis dafür, „that Hitler never interfered with any artistic questions concerning the Festspiele but on the opposite backed any of my decisions which might not agree with the party programme.“4 Unbestritten hatte Winifred Wagner auch einen enormen Spielraum, ihr war vieles erlaubt, was an anderer Stelle längst Argwohn hervorgerufen hätte. Die Persönlichkeit Winifred Wagners und insbesondere ihr Verhältnis zum NS-Regime hätte Thema einer Ausstellung zu deren 100. Geburtstag in Bayreuth werden sollen. Das Projekt lief bereits auf Hochtouren, wurde jedoch auf Wunsch von Wolfgang Wagner überraschend kurzfristig abgesagt. So blieb auch jede weitere Spur von den beiden jüdischen Sängerinnen im Dunkeln. Diese unterlassene Spurensuche soll, was Bayreuth betrifft, mit diesem Text erfolgen und möchte Anfang und Anstoß sein. Am Beispiel der beiden jüdischen Sängerinnen soll der Frage nachgegangen werden, wie das politische Klima, das künstlerische Schaffen und die Möglichkeit, in diesen Zeiten persönlich aufrichtig und wirtschaftlich zu überleben war. Wie mochten sich jüdische Künstlerinnen und Künstler beim Intonieren von germanischen Heldensagen und Lobgesang auf „deutsche und ächte Kunst“ fühlen? Gab es Grenzen des Schicklichen, Machbaren, Möglichen und wo lagen sie? Jüdisches Musikleben im „Dritten Reich“ Getragen von bereits im 19. Jahrhundert gesellschaftlich etablierten antisemitischen Vorurteilen hatte die „NS-Ideologie“ zuerst schleichend, dann ab den 1920er Jahren immer offensichtlicher, zusammen mit den schwierigen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen der Nachkriegs- und Weimarer Zeit leichtes Spiel. Besonders in Bayreuth war seit Joseph Arthur Gobineaus Rassentheorie und später mit der Wagner-Pflege durch Wahnfrieds Chefideologen und Richard Wagners Schwiegersohn Houston Stewart Chamberlain das Deutsch-Nationale bereits früh etabliert, wurde Wagners Werk dafür geradezu 3 Counter Intelligence Corps (Vorläufer der heutigen CIA), amerikanischer Geheimdienst in den Streitkräften, der ab dem Jahr 1945 in der amerikanischen Besatzungszone tätig war. 4 Richard-Wagner-Museum mit Nationalarchiv der Richard-Wagner-Stiftung, Bayreuth (im Folgenden: RWM/NA), Signatur A 2010, 6.3.2.1.

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instrumentalisiert und fand schließlich Heimat im so genannten „Bayreuther Geist“. Siegfried und Winifred Wagner selbst waren seit ihrem persönlichen Miterleben von Hitlers Münchner Putschversuch am 9. November 1923 begeistert von Hitler und seiner „Mission“, und alle Sängerinnen und Sänger wurden in Bayreuth zwangsläufig damit konfrontiert. Der deutsch-nationale Geist begann sich in der Folge zu organisieren: 1928 gab es die „Nationalsozialistische Gesellschaft für Kultur“, aus der der „Kampfbund für deutsche Kultur“ (KfdK) hervorging, ein Sammelbecken für Persönlichkeiten des Musiklebens, die hier den „rechten“ Geist am Werk sahen. Die Ortsgruppe Bayreuth wurde vom Leiter des Wahnfried-Archivs und Wagnerforscher Otto Strobel geleitet und war geprägt von eben jenem „Bayreuther Geist.“5 Noch waren die „Säuberungsaktionen“ in den ersten Monaten nach der Machtübernahme Hitlers 1933 nicht amtlich abgesegnet, sondern tobten sich mit Unterstützung der SA in Boykotten von „unerwünschten“ Veranstaltungen aus. Dieser Taktik fielen u.  a. Otto Klemperer und Bruno Walter zum Opfer. Am 7. April 1933 schließlich wurde die Boykott-Taktik auf eine gesetzliche Ebene gehoben und im „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ mit dem „Arierparagraphen“ verankert. Auch für Ottilie Metzger-Lattermann und für Henriette Gottlieb bedeutete dieses Berufsverbot das abrupte Ende ihrer Karriere und damit ihrer wirtschaftlichen Existenzsicherung. Als vorgezeichnete Stationen für jüdische Personen gab es also zunächst den sozialen Tod durch dieses Gesetz, das zur Bildung eines „Kulturghettos“, dem am 6. Juli 1933 gegründeten „Kulturbund Deutscher Juden“ führte. Alles dort fand unter Aufsicht und mit Genehmigung des „Sonderreferates Hinkel“ statt: Häufigkeit und Zeitpunkt der Auftritte, Aufführungsorte, zugelassenes Publikum, Eintrittspreise und vor allem das Programm. Ottilie Metzger war es seit 1933 nur noch erlaubt, dort aufzutreten. Sie sang bei den Aufführungen des Kulturbundes 1934 in Berlin und hatte im Oktober 1935 noch einen Auftritt in ihrer Geburtsstadt Frankfurt am Main. Die nach der Pogromnacht von 1938 immer länger werdenden Verbotslisten für das Repertoire zwangen die jüdischen Künstlerinnen und Künstler dazu, fast ausschließlich „deutsche“ Kunst von „deutschen“ Geistesgrößen aufzuführen. Die Strategie des Regimes ging auf: das Publikum blieb aus, der „Reichsverband Jüdischer Kulturbünde in Deutschland“ wurde am 11.  September 1941 aufgelöst. Mit dem Befehl vom 14. Oktober begannen die Deportationen.6 5 Fred K. Prieberg, Musik im NS-Staat, Köln 2000, S. 37 und S. 40. 6 Verstummte Stimmen. Die Vertreibung der „Juden“ aus der Oper 1933 bis 1945. Eine Ausstellung von Hannes Heer, Jürgen Kesting und Peter Schmidt, Berlin 2008, S. 87.

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Bayreuth unter dem Einfluss Hitlers Siegfried Wagner hatte vor dem Ersten Weltkrieg und der dadurch bedingten neunjährigen Festspielpause (1915–1923) zunächst versäumt, den künstlerischen Nachwuchs für Bayreuth zu fördern und geriet damit in einen schier unüberwindbaren Zwiespalt. Insbesondere die Dirigenten der ‚ersten Generation‘ wie Hans Richter und Felix Mottl standen zur Wiedereröffnung der Festspiele 1924 nicht mehr zur Verfügung und so musste man außerhalb von Bayreuth suchen. Der durch Cosima begründete, beinahe religiös besetzte Festspielgedanke und der etablierte „Bayreuther Geist“ jedoch schlossen zuvorderst jüdische Dirigenten und ausländische Mitwirkende aus. Und so behalf man sich zunächst mit dem altgedienten Karl Muck und dem politisch liberalen Michael Balling. Der Dresdner Fritz Busch war à la longue nicht bereit, „die bescheidene Demut und den heiligen Fanatismus des Gläubigen“7 mitzubringen und kehrte nach einer Saison 1924 nicht mehr nach Bayreuth zurück. Der „Bayreuther Geist“, seit den Zeiten Chamberlains gewachsen und mittlerweile fest etabliert, war landauf landab in den künstlerischen Kreisen bekannt. Andererseits aber galt Bayreuth als die Konsekrationsinstanz schlechthin, wenn es um die ‚höheren Weihen’ des Operngesangs ging. Und so hatten die jüdischen Künstlerinnen und Künstler, die ernsthaft eine große Karriere anstrebten, keine wirkliche Wahl, eine Einladung nach Bayreuth abzulehnen. Es galt, um mit Parsifal zu sprechen: „Dienen! Dienen!“ Andererseits hatte auch die Festspielleitung, sei es unter Cosima, Siegfried oder Winifred, keine wirklich große Auswahl an „arischen“ und „rein deutschen“ Mitwirkenden. Waren also Opportunismus und Pragmatismus auf beiden Seiten an der Tagesordnung? Die Behelfssituation, das Lavieren zwischen der auch wirtschaftlich notwendigen künstlerisch hohen Qualität, die nur mit ausländischen und eben jüdischen Künstlern, wie z. B. dem Jahrhundert-Wotan Friedrich Schorr, zu halten war und dem vorherrschenden nationalsozialistischen Klima, aber auch den strikt konservativen Lagern der Alt-Wagnerianer, wurde schließlich 1933 mit der Machtübernahme und den nun offiziellen und gesetzlichen Auflagen immer schwieriger. Die Nationalsozialisten vollzogen letztlich per Gesetz die Auslöschung jüdischer Existenzen, darunter auch der beiden Bayreuther Sängerinnen. Ottilie Metzger wurde vermutlich im Frühjahr 1943 in Auschwitz vergast, und Henriette Gottlieb kam ebenfalls in einem Konzentrationslager ums Leben. Damit wurden ihre Spuren gründlich verwischt. 7 Brief von Karl Muck an Fritz Busch, in: Egon Voss, Die Dirigenten der Bayreuther Festspiele, Regensburg 1976, S. 43.

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Ottilie Metzger-Lattermann Ottilie Metzger wurde in Frankfurt am Main am 15. Juni 1878 geboren, so weiß es Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters.8 Bereits über ihr Geburtsdatum herrscht Unklarheit. Ebenfalls den 15.  Juni nennt ein umfassender Artikel, der 1905 im Musikalischen Wochenblatt erscheint,9 während das als Standardwerk geltende Sängerlexikon von Kutsch/Riemens den 15. Juli nennt.10 Ebenfalls Juli wird im Lexikon der Juden in der Musik (1940) genannt11 und auch der 2008 zur Ausstellung Verstummte Stimmen erschienene Katalog12 nennt den Monat Juli. Wenn auch solches als Marginalie empfunden werden kann, ja sich in der Biografieforschung geradezu als alltäglich erweist, so kann es im Kontext gerade dieser Biografie als bezeichnend ge- Abb. 1  Ottilie Metzger-Lattermann als sehen werden für die Lücken auf der Waltraute in „Götterdämmerung“. Foto: Suche nach der Person Ottilie Metz- A. Pieperhoff, Bayreuth1904. 8 Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters. Oper, Operette, Musical, Ballett, hrsg. von Carl Dalhaus und dem Forschungsinstitut für Musiktheater der Universität Bayreuth unter Leitung von Sieghart Döhring, München, Zürich 1997, S. 469. 9 Emil Krause, „Ottilie Metzger-Froitzheim“, in: Musikalisches Wochenblatt, Jg. XXXVI, No. 26 (29.6.1905), S. 506–507. 10 Karl J. Kutsch, Leo Riemens, Großes Sängerlexikon, Bd. 5, 4. erweiterte und aktualisierte Auflage. Unter Mitwirkung von Hansjörg Rost, München 2003, S. 3097. 11 Lexikon der Juden in der Musik. Mit einem Titelverzeichnis jüdischer Werke. Zusammengestellt im Auftrag der Reichsleitung der NSDAP. auf Grund behördlicher, parteiamtlich geprüfter Unterlagen, bearbeitet von Dr. Theo Stengel, Referent in der Reichsmusikkammer, in Verbindung mit Dr. habil. Herbert Gerigk, Leiter der Hauptstelle Musik beim Beauftragten des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP. Veröffentlichungen des Instituts der NSDAP, zur Erforschung der Judenfrage Frankfurt a. M., Bd. 2, Berlin 1940, S. 185. Reprint in: Eva Weissweiler, Ausgemerzt! Das Lexikon der Juden in der Musik und seine mörderischen Folgen, Köln 1999. 12 Verstummte Stimmen (wie Anm. 6), S. 48.

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ger. Wenig Eindeutigkeit herrscht auch über ihr Stimmfach. So wird sie als Altistin im Kutsch/Riemens geführt, das CD-Booklet zur bereits erwähnten Ausstellung Verstummte Stimmen weist sie hingegen als Mezzosopran aus. Ottilie Metzger begann mit sechzehn Jahren ihre ersten Gesangsstudien in Berlin. Laut Emil Krauses Portrait im Musikalischen Wochenblatt13 wagte sie sich aber bereits 1893, mit fünfzehn Jahren und damit vor ihrem Gesangsstudium, an ein erstes eigenes Konzert in Berlin. 1895 trat sie ins Stern’sche Konservatorium ein und wurde Schülerin der jüdischen Gesangspädagogin Selma Nicklaß-Kempner (1850–1928). Ihre darstellerische Ausbildung erhielt sie bei Emanuel Reicher. In der Händel-Stadt Halle begann 1898 ihre Bühnenlaufbahn und unweit des dortigen Stadttheaters hatte sie in der Karlstraße 5 ihre Wohnung. Nach Halle kehrte sie immer wieder gerne zurück und ihr Name ist heute mit einem Ottilie-Metzger-Weg im Stadtplan verewigt. Es war eine kleine Rolle, der Edelknabe im Lohengrin, aber ausgerechnet Wagner, zu dessen Musik sie später immer wieder zurückkehren sollte. Bereits am folgenden Tag sang sie die Azucena im Troubadour und wenig später die Fricka in der Walküre. Wieder Wagner! Vor ihrem nächsten dreijährigen Engagement am Opernhaus in Köln von 1900 bis 1903 nahm sie weiteren Gesangsunterricht in Berlin, diesmal bei Georg Vogel. Mit Gastauftritten in Berlin und Wien (1901) sowie Wiesbaden und München (1903) festigte sie ihren Ruf und baute ihre Stimme zunehmend auf das „deutsche Fach“ hin aus. Wollte sie als Sängerin erfolgreich sein, kam sie um dieses Repertoire auch als Jüdin nicht herum. Noch in Köln engagiert, wurde sie 1901 erstmals für die Mitwirkung als Floßhilde und Grimgerde bei den Bayreuther Festspielen „herangezogen“, wie es im Praktischen Handbuch für Festspiel-Besucher heißt.14 Auch Emil Krause fällt in seinem Portrait von 1905 mit einer ähnlich despektierlichen Wortwahl auf: „Ein Beweis höchster Anerkennung der Leistungen der Künstlerin ist ihre Hinzuziehung zu den Bayreuther Aufführungen, denen sie seit 1901 dauernd ihre Kräfte widmete.“15 Die geringschätzige Wortwahl gibt deutlich das hierarchische Verhältnis wieder, das am Bayreuther Hügel herrschte: unterwürfig, devot und dankbar galt es für die Mitwirkenden den richtigen Ton zu treffen, wollte man Einlass finden in den hohen Tempel der Kunst auf dem Grünen Hügel. Direktes 13 Emil Krause, Ottilie Metzger-Froitzheim (wie Anm. 9), S. 506. 14 Friedrich Wild, Praktisches Handbuch für Festspiel-Besucher. Unter Mitwirkung von Eduard Reuss, Mor. Wirth, Max Chop, August Göllerich, Prof. Dr. Herm. Kretzschmar, Leipzig 1901, S. 14. 15 Krause, Ottilie Metzger-Froitzheim (wie Anm. 9), S. 507. Hervorhebungen durch die Autorin.

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Zeugnis davon, wie sehr auch Ottilie Metzger sich darum bemühen musste, geben die im Nationalarchiv der Richard-Wagner-Stiftung liegenden wenigen Briefe von ihr an Cosima Wagner: Hochverehrte gnädige Frau, mit dem freudigsten Dank nahm ich die freundliche Einladung zur erneuten Mitwirkung bei den nächstjährigen Festspielen entgegen, und diesen Dank beehre ich mich, Ihnen hochverehrte Frau, durch diese ganz ergebenen Zeilen auszudrücken.16

Bei aller Demut war sich Ottilie Metzger jedoch auch ihrer Leistungen und Fähigkeiten bewusst und pokerte mit Cosima für die Festspiele 1904 um die umfangreicheren Rollen der Waltraute und Erda, nachdem sie bereits 1902 dort nochmals Floßhilde und Schwertleite sowie eine Norn gesungen hatte: Hochverehrte Frau Meisterin, es wird mir sehr schwer, Ihnen hochverehrte Frau, diesen Brief zu schreiben. Ihr wertes letztes Schreiben hat mir eine große Enttäuschung bereitet, vielleicht die größte, die mir in meiner verflossenen Laufbahn zuteil wurde, da ich wohl nie mit so echter wahrer Begeisterung wie in Bayreuth in meiner Kunst gewirkt habe, was mir von nun ab verschlossen sein soll, denn ich muß unter diesen Umständen Ihre so ehrenvolle Einladung ablehnen. Ich kann in meiner Stellung am hiesigen Theater und als gastierende und concertierende Sängerin nicht mehr an zweitem Platze in Bayreuth mitwirken. Mein ganzes Renommé nicht allein der Welt, sondern auch meiner dortigen Kollegen gegenüber würde dadurch erschüttert werden. Solange noch Frau Schumann [Ernestine Schumann-Heink], die ich unvergleichlich hoch als Künstlerin stelle, die […] Altrollen sang, war diese meine Position möglich, jetzt aber da Frau Schumann wie sie anläßlich ihrer Anwesenheit vergangene Woche hier selbst sagte, nächsten Sommer nicht in Bayreuth sein wird, kann ich nicht hinter einer anderen Altistin zurückstehen. Es ist dies sicher kein falscher Ehrgeiz, denn ich bin frei von aller Äußerlichkeit und nehme es mit meiner Kunst bitterernst. Aber wenn Sie, verehrte Frau, sich in ihrer alles begreifenden Güte an meine Stelle denken, werden Sie mir sicher nicht Unrecht geben.17

In der Tat, es gelang ihr, und die Kritiken fielen durchwegs positiv aus: „In der erstgenannten Künstlerin [Ottilie Metzger] hat Bayreuth eine gute Waltraute gewonnen, deren umfängliches Organ und temperamentvolles Spiel sie zu dieser schwierigen Rolle durchaus befähigt […].“18 Allerdings sind die Spuren von Ottilie Metzger aufgrund der ungenauen, fehlenden, geänderten oder sich 16 Ottilie Froitzheim-Metzger [sic!] an Cosima Wagner. Hamburg, 8.10.1903, RWM/ NA V A 21-6-1. 17 Ottilie Froitzheim-Metzger [sic!] an Cosima Wagner. Hamburg, 22.10.1903, RWM/ NA V A 21-6-2. 18 Gustav Manz, „Bayreuther Tagebuch; III. 29. Juli 1904“ Unbekannte Zeitung, RWM/ NA A 2525/XVI-45.

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widersprechenden Angaben bei den Besetzungen schwer nachzuzeichnen. 1904 war Ernestine Schumann-Heink vermutlich indisponiert, sie sang nur das Alt-Solo im Parsifal und es gab laut Cosima „Komplikationen“.19 Manche Zeitungen berichten von ein und derselben Götterdämmerung-Aufführung mit zwei verschiedenen Waltrauten. Von Metzgers Auftritten 1904 in Bayreuth existiert eine Tonaufnahme des Rheintöchter-Terzetts20 im Bayreuther Archiv mit ihr als Floßhilde von dem Jürgen Kesting schwärmt: „Es ist ein höchstwertiges Beispiel für Ensemble-Singen mit feiner Klangabstimmung, die nur möglich ist durch die präzise tonliche Definition der Stimmen. Nichts von dem schrillen Gekeife vieler heutiger Bayreuther Aufführungen.“21 Trotz ihres großen Umfangs ist Ottilie Metzgers kräftige Stimme eher in den Tiefen zu Hause. Ihr Alt hat durch dunkel artikulierte Vokale und weiche Konsonanten etwas Düsteres. Die Tempi wirken zuweilen etwas schleppend, die Sprünge wenig agil. Ihr musikalischer Gestus hat etwas betont Dramatisches. Für die nächsten anstehenden Festspiele 1906 befand Cosima, dass es „in Deutschland jetzt keine bedeutende Altistin gibt“ und schlug mit Louise Kirkby-Lunn und Clara Butt zwei unbekannte Ausländerinnen vor, statt die hochkarätige Jüdin Metzger-Lattermann. Doppelt verwunderlich, hatte Cosima doch bei den Festspielen von 1904 allerhand Kritik wegen ihrer Besetzung mit zahlreichen nichtdeutschen Mitwirkenden hinnehmen müssen. Die Stimmen in der Presse wurden allerdings zunehmend lauter, ja durchaus persönlich und sehr direkt: Eine deutsche Frau, z. B. Frau Wesendonck, hätte dazu niemals ihre Hand geboten. Wer aber freilich in seinen Adern keinen Tropfen deutschen Blutes hat, wird leichter zur Internationalität neigen. Und darum: wer berufen ist, dieser verderblichen Neigung entgegenzutreten, tue seine Pflicht und wahre in Bayreuth ein heiliges deutsche Gut. Amen!22

Erstaunlich auch Cosimas Aussage vor dem Hintergrund, dass Ottilie Metzger 1902, also nur ein Jahr nach ihrem ersten Auftritt in Bayreuth, in London am berühmten Covent Garden debütierte und seither häufig dort zu Gast war, 19 Cosima Wagner, Das zweite Leben. Briefe und Aufzeichnungen 1883–1930, hrsg. von Dietrich Mack, München, Zürich 1980, S. 661. 20 Die Aufnahme des Rheintöchter-Terzetts aus dem Rheingold mit Ottilie Metzger, Bayreuth 1904 ist online verfügbar in MUGI – Musikvermittlung und Genderforschung im Internet unter: http://mugi.hfmt-hamburg.de/A_lexartikel/lexartikel.php?id=metz1887 (Eintrag zu Ottilie Metzger). 21 Jürgen Kesting, Die Großen Sänger 2, Düsseldorf 1986, S. 811. 22 Theodor Krause, „Bayreuther Stimmungen und Verstimmungen; IV,“ in: Der Reichsbote, Nr. 211 (8.9.1904).

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vorwiegend mit Wagner-Partien u.  a. im Ring, als Magdalene in den Meistersingern und als Brangäne in Tristan und Isolde. 1910 wirkte sie ebenfalls am Covent Garden bei den englischen Erstaufführungen von Richard Strauss’ Salome als Herodias unter Sir Thomas Beecham sowie als Klytemnästra in Elektra mit. In der Zeit von 1903 bis 1915 war sie festes Ensemblemitglied des damaligen Hamburger Stadttheaters, der heutigen Oper, und legte von hier aus den Grundstein für ihre große Karriere.23 Man feierte sie als Carmen neben Enrico Caruso oder Orpheus neben Lotte Lehmann in Christoph Willibald Glucks Orfeo ed Euridice. Sie sang bereits große Rollen auf bedeutenden Bühnen und hatte den unterwürfigen Ton, den sie gegenüber Cosima anschlug, eigentlich nicht nötig. Oder war es ihre jüdische Herkunft, von der man diesen in Bayreuth erwartete? Dabei waren doch „Wagner und die Neuesten […] in ihren reformatorischen Bestrebungen das Glaubensbekenntnis der Künstlerin“,24 wie Krause umschreibt. Die Verbindung nach Bayreuth wirkte für Ottilie Metzger fort, als Siegfried Wagner am 13. Oktober 1905 seine Oper Bruder Lustig im Hamburger Stadttheater zur Uraufführung brachte. Eine Hamburger Kritik25 berichtet, dass „in Frau Metzger-Froitzheim […] die Rolle der Urme eine prächtige Vertreterin“ erhielt, aber auch mehrfach davon, dass „das Werk nicht besondere Schwierigkeiten bietet“ und eine Aufführung herauskam, die sich so sehr selbst lobte, daß sie von der Kritik nicht gelobt zu werden braucht. Im Theater roch es nach Bayreuth. Im buchstäblichen Sinne des Wortes in den Szenen der Urme, in denen man durch die Nase an Klingsors Zauberturm erinnert wurde. Und auch sonst beherrschte die Physiognomie Bayreuths den Raum: ‚Wahnfried‘ war vollzählig vertreten und daneben alles, was zu den Freunden des Hauses zählt […].

Ottilie Metzger wird gelobt, wie sie „sich der Hexe mit der ganzen Energie ihrer künstlerischen Persönlichkeit und der Fülle ihres ungewöhnlichen Könnens“ annahm.26 Die Hamburger Nachrichten heben das Hässliche der Rolle hervor: „Die Urme! Wie das klingt! Man weiß nicht, ist’s eine Kröte oder 23 Kutsch u. a., Großes Sängerlexikon (wie Anm. 10), S. 3097. 24 Krause, Ottilie Metzger-Froitzheim (wie Anm. 9), S. 507. 25 H[einrich]. Ch[evalley], „Feuilleton. Stadt-Theater. Die Uraufführung von Siegfried Wagners ‚Bruder Lustig‘“, in: Hamburger Fremdenblatt, o. D. [1905], RWM/NA A 2545/ IV/12. 26 Ferdinand Pfohl, „,Bruder Lustig‘ von Siegfried Wagner, Uraufführung im Stadttheater am 13. Oktober 1905“, in: Musikalisches Wochenblatt, Jg. XXXVI, No. 42 (19.10.1905), S. 746–747, hier S. 747.

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ein Mensch, der so heißt. Das scheußliche Weib entdeckte Siegfried Wagner auf einer Orientierungsfahrt durch fremde Sagen und Märchen.“ Ottilie Metzgers Rolle ist die einer Zauberin, ähnlich wie Kundry, das wilde Weib, ist sie Verfluchte und Verfluchende zugleich, erhält Attribute des Unweiblichen, ja Unmenschlichen. Sie bleibt trotz des läuternden Feuers des Scheiterhaufens unzerstörbar, unausrottbar, ewiglich und ewig bedrohlich. Der Jüdin und „geniale[n] Künstlerin“ Ottilie Metzger wird eine „eindrucksvolle Verkörperung“ dieser Hexenrolle attestiert. Sie ist „die personifizierte Repräsentantin jenes heidnischen Elementes“,27 eine Gefahr für das Christentum in Krähengestalt, die „aus den Flammen auffliegt, wie des Volkes ewig sich erneuernder Hexen- und Teufelsaberglaube.“28 Noch in Hamburg engagiert, übernimmt sie in der Saison 1912/13 am Théâtre de la Monnaie in Brüssel Partien in Wagners Ring. In der Zwischenzeit wurde sie zum „Officier de l’Académie“ unter Verleihung der Palmen ernannt. Dies erwähnt jedoch nur der Bayreuther Festspielführer von 1912, das Jahr, in dem sie letztmals nach Bayreuth zurückkehrte. Und trotz ihres internationalen Renommees muss sie für die Rollen als Floßhilde, eine der Walküren, Norn und Waltraute wieder bei der Festspielverwaltung darum kämpfen, nicht als „II. Kraft abgestempelt“29 zu werden. Inzwischen ist sie seit 1910 in zweiter Ehe mit dem gleichfalls an der Hamburger Oper wirkenden jüdischen Bariton Theodor Lattermann (29.7.1880– 4.3.1926) verheiratet, der am 23. Januar 1914 bei der Hamburger Erstaufführung des Parsifal als Gurnemanz „einen starken Eindruck“ hinterließ.30 Beide unternehmen in der Spielzeit 1914/15 eine ausgedehnte Nordamerika-Tournee, bevor Ottilie Metzger 1916 als Brangäne in Amsterdam gastiert und am 21. November 1916 im von deutschen Truppen besetzten Lille (Frankreich) zusammen mit Max Lippmann bei Wilhelm Furtwänglers einzigem Dirigat von Gustav Mahlers Lied von der Erde singt. Ottilie Metzgers Publikum besteht fast ausschließlich aus deutschem Militär. Vom 1. August 1918 bis Ende der Spielzeit 1921 erhält sie nochmals ein festes Engagement bei der Dresdner Hofoper (ab 1918 Staatsoper). Im ersten Jahr hat sie dort ihre Antrittsrolle als Herodias in Salome, im gleichen Jahr singt sie die Amme in Strauss’ Die Frau ohne Schatten unter Fritz Reiner. Im Verlauf 27 Siegfried Wagners Bruder Lustig. Uraufführung am 13. Oktober 1905 im Stadttheater zu Hamburg. Separatabzug aus dem Rigaer Tageblatt, Nr. 235 (1905), S. 8. 28 Ebd. 29 Ottilie Metzger an die Verwaltung der Bühnenfestspiele Bayreuth, Hamburg, 3.10.1911, RWM/NA V A 21-6-4. 30 Alan Jefferson, Lotte Lehmann. Eine Biographie, Zürich 1991, S. 53.

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ihres Dresdner Engagements festigt und erarbeitet sie ein umfangreiches Programm. Mit Magdalena, Azucena und Ulrica pflegt sie ihr Verdi-Repertoire. Daneben tritt sie in Dresden noch als Carmen (1918/1920), als Magdalena in Wilhelm Kienzls Evangelimann (1918/1920), als Gräfin im Wildschütz (1918) und Lucia in Cavalleria rusticana (1920) in Erscheinung.31 1920 ist sie zu Gast in Oslo, 1921 am Teatro Liceo in Barcelona. Doch es zieht sie in den bereits ideologisch enger werdenden Zeiten erneut in die USA. Mit Leo Blechs German Opera Company geht sie mit ihrem Mann von 1922 bis 1924 wieder auf Tournee. Bei weiteren Auftritten in Boston, Baltimore, Philadelphia und New York singt sie fast ausschließlich Wagner-Rollen: Erda, Waltraute, Fricka, Floßhilde, Erste Norn, eine Walküre und die Brangäne an der Seite von Marie Lorentz-Hoellischer, Alexander Kipnis und Jacques Urlus, dem Siegmund aus Bayreuther Tagen 1912. Trotz ihres Rufs als exzellente Wagner-Sängerin wird sie 1924 nicht nach Bayreuth zur Wiedereröffnung eingeladen, obwohl eine Wiederaufnahme des Rings geplant ist. Ab 1927, mit 49 Jahren, betätigt sie sich als Gesangspädagogin an ihrer ehemaligen Ausbildungsstätte, dem in jüdischer Tradition stehenden Stern’schen Konservatorium in Berlin. Eine Spurensuche im Bildarchiv des Richard-Wagner-Museums in Bayreuth führte zu einem weiteren Mosaiksteinchen in Ottilie Metzgers sängerischer Biografie. Ein bisher unbekanntes Foto zeigt sie als Fidès in Giacomo Meyerbeers Le Prophète. Das Bild trägt den Aufdruck „Emil Bieber Berlin“. Diese Rolle hat sie jedoch sehr wahrscheinlich nicht, wie der Zusatz Berlin vermuten ließe, in Berlin gesungen. August Emil Julius Berlin hat wie sein Vater zu seinem Familiennamen den Zusatz „Bieber“ hinzugefügt. Er hatte sein renommiertes Atelier in Hamburg, musste jedoch als Jude ins Exil nach Südafrika vor den Nationalsozialisten fliehen. Weitere in Bayreuth vorhandene Fotos zeigen sie als Waltraute (siehe Abb. 1), Erda und im Portrait. Im engeren Freundeskreis wurde sie offensichtlich auch „Otti“ genannt, wie die Widmung auf dem Portraitfoto vermuten lässt (siehe Abb. 2). Neben ihrer reichen Bühnentätigkeit war Ottilie Metzger auch als Konzertsängerin sehr erfolgreich. So trat sie nachweislich im Frühjahr 1919 mit ihrem Ehemann Theodor Lattermann und dem Pianisten Karl Pembaur in Dresden unter anderem mit Schubert-Liedern auf. Für den „Frauenclub Dresden 1910“ gab sie am 3. April 1919 einen Brahms-Liederabend. Ihre letzten offiziellen Konzerte waren 1933 unter den jüdischen Dirigenten Bruno Walter in Berlin

31 Gedankt sei hier ausdrücklich Frau Janine Schütz vom Historischen Archiv der Sächsischen Staatsoper Dresden für die detaillierten Auskünfte, Besetzungslisten, Kritiken, Theaterzettel und Bilder.

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Abb. 2  Ottilie Metzger-Lattermann. Portaitfoto handsigniert von 1920. Fotograf unbekannt.

und Otto Klemperer in Dresden. Beim „Jüdischen Kulturbund“ gibt sie, wie bereits erwähnt, zwischen 1935 und 1937 noch einige Konzerte, unter anderem auch mit einem Repertoire, das dem in der Ausstellung Entartete Musik 1938 gebrandmarkten entspricht: sie singt „Negro-Spirituals“ und jüdische Lieder.32 1939 schließlich schafft sie es noch ins Exil nach Brüssel, wohin bereits ihre Tochter Susanne Leonore Lattermann, ebenfalls Sängerin, geflüchtet war. Sie lebt von kärglichem Lohn als Gesangspädagogin. Nach der Besetzung Belgiens 1942 wird sie verhaftet und nach Auschwitz deportiert, wo sie im Februar 1943 ermordet wird. Ottilie Metzger-Lattermann und ihr Mann Theodor Lattermann waren für Hans Költzsch, den Verfasser des Abschnitts „Das Judentum in der Musik“ im 1935 bereits in 39., erweiterter Auflage erschienenen Handbuch der Judenfrage derart ‚prominent‘, dass sie in einem Atemzug mit Richard Tauber, Alexander Kipnis, Lilly Lehmann und Emanuel List genannt wurden.33 Eine letzte Spur, bevor sie in Auschwitz verwischt. Seit dem 23. April 2007 erinnern in Hamburg vor Ottilie Metzgers langjähriger Wirkungsstätte, der Staatsoper,

32 Hans Severus Ziegler, Entartete Musik. Eine Abrechnung, Düsseldorf 1938. 33 Theodor Fritsch, Handbuch der Judenfrage. Die wichtigsten Tatsachen zur Beurteilung des jüdischen Volkes. 39. Auflage (181. bis 200. Tausend), Leipzig 1935, S. 318.

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zwölf sogenannte „Stolpersteine“ an das Schicksal verfolgter Künstlerinnen und Künstler. Einer davon trägt ihren Namen. Henriette Gottlieb Noch wesentlich schwieriger lassen sich die Spuren der Sopranistin Henriette Gottlieb nachzeichnen. Einzig Kutsch/Riemens gibt mit einem halbspaltigen Eintrag die wenigen bekannten Fakten wieder.34 Es gibt weder einen Eintrag in Kestings Die großen Sänger, noch in Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters. Ebenfalls fehlt ein Eintrag in den von den Nationalsozialisten angelegten Juden-Lexika und Kompendien.35 Aber auch dieses Fehlen konnte sie vor ihrem schrecklichen Ende nicht bewahren. Nur sechs Jahre jünger als Metzger, geboren am 1. Juni 1884 in Berlin, fand Henriette Gottlieb 1909 den Weg auf die Bühne im Stadttheater Plauen (Sachsen). Ihr nächstes Engagement ging sie 1913 mit dem Abb. 3  Henriette Gottlieb. Portraitfoto. Deutschen Opernhaus in Berlin- Foto: Suse Byk, Berlin o. J. Charlottenburg ein, wo sie bis 1932, also fast zwanzig Jahre, wirkte. In Berlin war sie bei zahlreichen Ur- und Erstaufführungen beteiligt, daneben sang sie 1919 und 1923/24 die Venus im Tannhäuser sowie 1921 die Ortrud im Lohengrin. Ähnlich wie Ottilie Metzger 1905 in Hamburg die Hexe Urme, verkörperte Henriette Gottlieb in Berlin mit der Rolle der Königin der Erdgeister in Heinrich Marschners Hans Heiling ein ebensolches Fabelwesen aus der Unterwelt. Auch gegen Ende ihrer sän34 Kutsch u. a., Großes Sängerlexikon (wie Anm. 10), S. 1794–1795. 35 Stengel, Lexikon der Juden (wie Anm. 11); Fritsch, Handbuch der Judenfrage (wie Anm. 33); Judentum und Musik – mit einem ABC jüdischer und nichtarischer Musikbeflissener, hrsg. von Hans Brückner und Christa Maria Rock, 3. Auflage, München 1938.

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gerischen Laufbahn sang sie erneut eine dämonische Partie, die der Hexe in Engelbert Humperdincks Hänsel und Gretel. Als Stimme von Antonias Mutter aus Jacques Offenbachs Hoffmanns Erzählungen übernahm sie die Partie einer toten Frau und sang quasi aus dem Jenseits. In den 1920er Jahren etablierte sie sich zunehmend als Wagner-Interpretin und feierte neben Venus und Brünnhilde auch als Kundry und Ortrud, die beide als „fürchterliches, verfluchtes, unseliges Weib“ oder „wilde Seherin“ bezeichnet sind, große Erfolge. Aber auch als mutige Leonore in Beethovens Fidelio erzielte sie beachtliche Wirkung. Den „Nachteil“ ihrer kleinen Körpergröße gelang es ihr offensichtlich durch große stimmliche Wirkung und schauspielerische Leistung zu kompensieren. Zudem nutze sie das neu erstandene Medium Schallplatte, wie die Aufnahme von 1932 ihrer Leonore im Quartett zeigt, die an der politisch von den Nationalsozialisten vereinnahmten Zoppoter Waldoper entstanden war. Die Waldoper wurde 1934 zur „Reichswichtigen Festspielspielstätte“ erhoben. Wagners Musik hatte dort eine lange und feste Tradition, Zoppot galt als das „Bayreuth des Nordens“. Nicht nur akustisch und in der Literatur finden sich kaum Spuren von Henriette Gottlieb, auch die Primärquellen in Bayreuth sind rudimentär: Die Spurensuche im Bildarchiv war zeitaufwändig aber nicht erfolglos. Nach dem einzigen bisher bekannten Portraitfoto von Henriette Gottlieb, welches im Berliner Atelier der sehr erfolgreichen jüdischen Portraitfotografin Suse Byk entstand, gelang es mir, aus der Fülle von anonymen Gruppenaufnahmen aus der Zeit, sie auf zwei Fotos zu identifizieren (siehe Abb. 4).36 Daneben sind die Besetzungszettel und Festspielführer aus den Jahren 1927 bis 1930 die einzigen Zeugnisse ihres Bayreuther Wirkens. Hinzu kommt ein handgeschriebener Brief vom 24. Mai 1927, in dem sie den Verpflichtungsschein für die Rollen der 3.  Norn und der Ortlinde37 für die Festspiele im Sommer retourniert und korrekt nachfragt, ob sie einen Tag früher abreisen dürfe, als in der Vereinbarung festgehalten, da sie von der Städtischen Oper nicht genügend Urlaub erhalten habe und zudem am letzten vereinbarten Tag für sie gar keine Vorstellung mehr zu singen sei. Zwölfhundert Reichsmark erhielt sie in jedem Jahr für ihre beiden Rollen als Gerhilde und 3. Norn. Kleine 36 Weiteres Bildmaterial siehe in den lexikalischen Artikeln zu Ottilie Metzger-Lattermann und Henriette Gottlieb in MUGI – Musikvermittlung und Genderforschung im Internet, online verfügbar unter: http://mugi.hfmt-hamburg.de/A_lexartikel/lexartikel. php?id=metz1887 (Ottilie Metzger-Lattermann) und http://mugi.hfmt-hamburg. de/A_lexartikel/lexartikel.php?id=gott1884 (Henriette Gottlieb). 37 Offensichtlich war sie für die Ortlinde vorgesehen. Laut Besetzungszettel sang sie jedoch bereits 1927 die Gerhilde.

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Abb. 4  Henriette Gottlieb mit weiteren Sängern am Festspielhaus Bayreuth. Foto: Sieglinde Sammet, Bayreuth 1930.

Rollen für eine gut etablierte Sängerin. Die Kritiken fallen spärlich aus, sie wird kaum namentlich erwähnt, was auch ihren kleinen Rollen innerhalb des Rings zu schulden ist. Es ist zu lesen, dass die drei Nornen „vortrefflich“ ihre Aufgabe erfüllten und sich die Damen Luise Schmidt-Gronau, Enid Szantho und Henriette Gottlieb-Huth „in eine wiederum urweltliche Dämmerungsvision von nordischer Eddastimmung“ fügten.38 Bezeichnend, dass das publizistische Parteiorgan der NSDAP, der Völkische Beobachter vom 4. August 1930, ihren Namen nicht nennt. Hingegen beklagt die Greifswalder Zeitung bereits am 16. Juli 1927 die geistige „Verflachung, Entdeutschung und Internationalisierung“ der Festspiele und gibt Henriette Gottlieb und allen anderen ausländischen und jüdischen Mitwirkenden in Bayreuth zu verstehen, welchen Geist man in Bayreuth erwarte. Richard Wagner und sein Werk werden zitiert und ideologisch instrumentalisiert für die deutsche „Regeneration und Renaissance“ und die „Wiedergeburt des deutschen Volkes aus dem deutschen Geiste, aus dem Geiste unserer großen Meister.“ Auch der in Bayreuth allseits präsente Völkische Beobachter sehnt das „deutsche Volk“ als „Publikum von Morgen“ herbei. Darüber hinaus wird anlässlich der Mitwirkung Arturo Toscaninis 38 Sonderausgabe der Hamburger Nachrichten (ohne Datum, 1930), S. 5.

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die „deutsch-italienische Kulturgemeinschaft“ beschworen.39 Wie fremd muss sich Henriette Gottlieb in diesem aufgeheizten Klima gefühlt haben. Nicht nur die Presse, auch die Bayreuther Festspielführer aus den Jahren ihrer Mitwirkung geben Zeugnis von dem zunehmend nationalsozialistischen Klima. Sie lieferten rassistische und faschistische Propaganda in Form von Opernkommentaren und in der plumpen Verkleidung von pseudo-wissenschaftlichen Texten. Zunächst verkörperten Siegfrieds Schwert, später dann Hitlers Hakenkreuz darin symbolisch den Erlösungsgedanken der deutschen Nation und beschworen die Nibelungentreue. In diesen offiziellen Führern wurde u.  a. dem am 1. August 1925 von Otto Daube gegründeten „Bayreuther Bund der deutschen Jugend“, der im Bayreuth-freien Jahr 1926 in Weimar die ersten „Deutschen Festspiele“ ins Leben rief, Jahr für Jahr großzügig Raum für sein Gedankengut gegeben.40 Aber auch dem Wahnfried-Schwiegersohn Chamberlain, „dem Vorkämpfer des Germanentums“, wurde jedes Jahr Platz für seine Texte eingeräumt, noch weit über seinen Tod 1927 hinaus.41 Am meisten aber muss Henriette Gottlieb erschüttert haben, im Bayreuther Festspielführer von 1928 einen beißend antisemitischen Artikel gegen den jüdischen Schriftsteller Franz Werfel und seinen Roman Verdi lesen zu müssen,42 und all dies nur durch wenige Blätter getrennt von ihrem Portraitfoto und ihrer Kurzbiografie. Im Zuge ihrer Bayreuther Auftritte, wo sie unter anderem unter dem Dirigenten Franz von Hoesslin sang, geschah es möglicherweise, dass sie zur Mitwirkung bei den Wagner Festivals in Paris im Théâtre des Champs-Élysées eingeladen wurde. Die beiden Festivals 1929 und 1930 waren hochkarätig besetzt. Neben Nanny Larsén-Todsen, Lauritz Melchior, Anny Konetzni, Ludwig Hofmann und Ludwig Weber wirkten auch Walther Kirchhoff und Frida 39 Josef Stolzing, „Bayreuther Nachklänge“, in: Völkischer Beobachter, 9.8.1930. 40 Bayreuther Festspielführer, hrsg. von Paul Pretzsch, Bayreuth 1927 etc. Siegfried Wagner wurde zusammen mit seinen drei Schwestern und seiner Frau Winifred Wagner Mitglied des Ehrenpräsidiums. Aber auch der Rest der Mitgliederliste liest sich wie ein „Who is who“ der deutschnational gesinnten Elite. Der „Bund“ wurde unter anderem gegründet, „um den tiefen Sinn der unmittelbaren Verbundenheit des großen deutschen Erinnerungswerkes Adolf Hitlers und seines kulturellen Willens mit dem Werke von Bayreuth zu erschließen.“ In: Frederic Spotts, Bayreuth: eine Geschichte der Wagner Festspiele, (aus dem Englischen übersetzt von Hans J. Jacobs), München 1994., S. 164. 41 Siegfried Wagner erlaubte Adolf Hitler im Januar 1927 zu Chamberlains Beerdigung SA-Leute als Sargträger zu stellen und nach Bayreuth zu kommen. Vgl. Spotts, Bayreuth (wie Anm. 40), S. 165. 42 Reinhold Zimmermann, „Werfel wider Wagner“, in: Bayreuther Festspielführer 1928, hrsg. von Paul Pretzsch, Bayreuth 1928, S. 156–161.

Spurensuche in Bayreuth

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Leider unter dem Dirigat von Franz von Hoesslin mit. Für Henriette Gottlieb war ihre Bayreuther Rolle als Gerhilde vorgesehen. Als Glücksfall für die Nachwelt erwies sich, dass die renommierte Schallplattenfirma Pathé sich entschloss, umfangreiche Ausschnitte aus dem Ring in Festival-Besetzung im Studio aufzunehmen. Wichtige Künstler waren allerdings durch langfristige Exklusivverträge an andere Firmen gebunden und mussten für die Aufnahmen ersetzt werden. Walther Kirchhoff übernahm daher auch die Partien, die Lauritz Melchior gesungen hatte. Friedrich Schorr (Wotan und Wanderer) wurde bei den Aufnahmen durch Ludwig Weber ersetzt, der als Hunding und Fafner bei den Aufführungen mitgewirkt hatte. Henriette Gottlieb, die auf Schallplatten und an ihrem Stammhaus in Berlin bereits ihre hochdramatischen Qualitäten bewiesen hatte, war zwar – wahrscheinlich wegen ihrer geringen Körpergröße – international nie als Brünnhilde, die nach Wagners Auffassung eine „reisige Maid“, eine stattliche Amazone mit Waffen und Schild zu sein hatte, in Erscheinung getreten. Für die Schallplatte übernahm sie nun aber diese Partie von Frida Leider und Nanny Larsen-Todsen in allen drei Ring-Teilen. Weil das vollständige Original-Set im Schallarchiv des Richard-Wagner-Museums vorhanden ist,43 verfügen wir über ein eindrückliches akustisches Zeugnis ihrer großen dramatischen Sopranstimme.44 Wie bereits als Gerhilde in der Pariser Aufnahme, beweist Henriette Gottlieb auch in der Lohengrin-Kurzoper-Aufnahme von 1929 ihre Fähigkeit zum Ensemblesingen. Ihre hochdramatische Stimme ist dynamisch flexibel und differenziert, klingt wenig fließend, was an der mangelhaften Aussteuerung der Aufnahme liegen könnte. Ihr musikalischer Gestus ist subtil sprechend und nicht forciert dramatisch. Selten war ein so schauerlicher Ruf Ortruds an Elsa zu vernehmen. In ihrem letzten Bühnenjahr an der Berliner Deutschen Oper tritt sie noch einmal am 16. Juni 1932 in der Premiere von Giacomo Puccinis Gianni Schicchi als Ciesca in Erscheinung. Ab 1933 waren ihr, ebenso wie Ottilie Metzger, Auftritte in Deutschland verwehrt. Aus unbekannten Gründen ging sie nicht ins Exil und lebte noch 1940 in Berlin. In den ersten Jahren des Zweiten Welt43 Das vollständige Original-Set des Schallarchivs im Richard-Wagner-Museum wurde 1999 für die Publikation auf CD bei Gebhardt zur Verfügung gestellt. Die Aufnahme stammt trotz des Labelaufdrucks 1929 wahrscheinlich von 1930. 44 Die Aufnahmen als Ortrud aus Lohengrin, Berlin 1929 bei Grammophone und Brünnhilde „Ewig war ich, ewig bin ich…“ aus Paris 1930 bei Pathé ist online verfügbar unter MUGI – Musikvermittlung und Genderforschung im Internet: http://mugi.hfmthamburg.de/A_lexartikel/lexartikel.php?id=gott1884.

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Gudrun Föttinger

krieges wurde sie in ein Konzentrationslager in Łódź (Polen) deportiert und starb dort am 2. Januar 1942. Ausblick Bereits zehn Jahre vor Enthüllung der Gedenktafel am Festspielhügel stand in einer Sitzung im Bayreuther Stadtrat vom 21. Dezember 1988 das 1922 verliehene Ehrenbürgerrecht Houston Stewart Chamberlains im Mittelpunkt der Debatte. Es wurde die Aberkennung gefordert, die nach juristischen Bedenken schließlich in einer offiziellen Distanzierung mündete. Zeitgleich wurde die Umbenennung der bis dahin bestehenden Chamberlainstraße in Henriette-Gottlieb-Straße angeregt. Henriette Gottlieb hat es jedoch nicht in den Stadtplan von Bayreuth geschafft. 1989 wurde die Chamberlain-Strasse zwar umbenannt, aber nicht nach dieser jüdischen Sängerin und Darstellerin großer Wagner-Rollen, sondern nach dem ebenfalls in Bayreuth wirkenden Wilhelm Furtwängler, der jedoch durch seine bisweilen opportunistische Haltung im „Dritten Reich“ noch heute als umstritten gelten kann. Dank der bereits erwähnten Ausstellung Verstummte Stimmen45 sind durch gründliche Recherchen neue Details und Erkenntnisse ans Tageslicht gekommen. Eine Leistung, die auch und gerade Bayreuth nicht schlecht stünde. Immerhin hat Katharina Wagner elf Jahre nach dem Versprechen ihres Vaters Wolfgang dieses wiederholt und angekündigt: „Unabhängig und ohne jede Beeinflussung von uns soll eine lückenlose Dokumentation der Geschichte Bayreuths erstellt werden. Zusagen kann ich dafür die Öffnung des Privatarchivs von Wolfgang Wagner und des Archivs der Festspiele. Inwiefern sich die anderen Familienmitglieder für dieses Projekt engagieren wollen, dazu kann ich nichts sagen. Aber ich betone, alles was Eva und ich zugänglich machen können, das werden wir auch tun.“46 Die Spurensuche geht hoffentlich weiter.

45 Wie Anm. 6. 46 Volker Blech, „Katharina Wagner. Nazi-Geschichte in Bayreuth wird neu untersucht“, in: Welt Online, 18.6.2009, in: http://www.welt.de/kultur/article3948563/NaziGeschichte-in-Bayreuth-wird-neu-untersucht.html, 9.1.2010.

Norbert Meurs

Dirigieren oder Komponieren? Der merkwürdige Zwiespalt des Wilhelm Furtwängler Es mag wohl eine Art Überempfindlichkeit sein, wenn ich meine eigenen Kinder so ungern den Gang in die Welt ungeleitet und unbeschützt antreten lasse. Aber die Eindrücke, die ich immer wieder von dem geistigen Niveau der heutigen Musiker [...] bekomme, sind so negativ, daß ich mit gutem Grund für meine eigenen Sachen dasselbe Schicksal erwarten muss, wie es die späteren Beethovenschen und auch gewisse Brahmssche Werke haben, nämlich, hartnäckig auf verhängnisvolle Weise mißverstanden zu werden. Im Falle Beethoven und Brahms ist das nun kein solches Unglück, da der Name ihrer Schöpfer die Hörer über das Gefühl des Befremdens irgendwie hinwegbringt und höchstens den Eindruck hinterlässt, als ob eben da ein grosser Meister ein schwächeres Werk geschrieben habe. Bei einem Unbekannten wie mir aber wird nach solchen Eindrücken über den ganzen Mann der Stab gebrochen.1

Wer spricht so? Eigentlich sollte man meinen, dass sich ein Künstler wie Wilhelm Furtwängler über mangelnden Ruhm nie zu beklagen hatte. Ein Dirigent, dessen Laufbahn eine einzige Erfolgsgeschichte war und der mit 36 Jahren, als er die Leitung des Berliner Philharmonischen Orchesters übernahm, erreicht hatte, was ein Dirigent in Deutschland überhaupt erreichen konnte. Nur wollte sich Furtwängler nie in erster Linie als Dirigent verstehen. Er sah sich als Komponist, fühlte sich als solcher freilich verkannt, zu schweigen davon, dass er als solcher keinen auch nur annähernd vergleichbaren Erfolg hatte. Kein Gedanke daran, dass der Ruhm des Dirigenten der Aufnahme seines Werkes im Wege stehen könne.2 Merkwürdig mutet auch der Vergleich mit dem späten Beethoven und Brahms an. Genauso gut hätte er auch auf das Schicksal der Werke von kaum weniger verkannten Zeitgenossen blicken können. So schließt sein Vergleich wohl mehr ein: nicht nur, dass Beethoven und Brahms die Messlatte für ihn als Komponisten abgeben, sondern auch, dass die Höhenluft, die er mit ihnen zu atmen meint, seine Einsamkeit in einer ansonsten als mittelmäßig wahrgenommenen Zeit begründet. 1 Brief an Ludwig Curtius vom 21.2.1942, in: Wilhelm Furtwängler, Briefe, hrsg. von Frank Thiess, Wiesbaden 1965, S. 104. 2 Vgl. Anm. 13.

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Norbert Meurs

Anfänge Schon im Kindesalter schien festzustehen, dass er Komponist werden würde. 1886 in Berlin geboren, wuchs er in einem musischen, akademisch geprägten Elternhaus auf. Der Vater war ein bedeutender Archäologe, der bald auf einen Lehrstuhl nach München berufen wurde. Die Mutter, eine geborene Wendt – der Name begegnet einem auch in der Brahms-Biografie – galt als begabte Malerin. Das Schwabinger Haus der Furtwänglers war ein Treffpunkt für Künstler, Schriftsteller, Journalisten und Wissenschaftler, eine von einem konservativ-nationalistischen Idealismus geprägte Welt des Geistes, der hellenisch-deutschen Klassik, der Kunst und der Musik.3 Wilhelm, der älteste Sohn, tendierte zunächst zur Malerei, dann trat seine musikalische Begabung immer stärker hervor. Die Eltern waren überzeugt vom schöpferischen Talent, ja Genie des Sohnes und versuchten, seine Entwicklung nicht nur zu fördern, sondern zu beschleunigen. Sie holten den Rat kompetenter Musiker ein, so von Joseph Joachim, dem großen Geiger, Brahms-Freund und Begründer der Berliner Musikhochschule, dem Dirigenten Hermann Levi, ebenfalls Freund von Brahms, aber auch von Richard Wagner und Anton Bruckner, sowie Max von Schillings, dem Komponisten der Erfolgsoper Mona Lisa. Zur Entrüstung der Eltern zeigten sie sich von der Begabung des Jungen unterschiedlich beeindruckt, hielten sich vor allem in der Beurteilung seines kompositorischen Talents eher zurück. Wilhelm erhielt fortan Privatunterricht von Studenten seines Vaters – zunächst von Walter Riezler, dem späteren Professor für Musikgeschichte in München und Autor einer nach wie vor lesenswerten Beethoven-Biografie, dann von Ludwig Curtius, der sich später als Archäologe einen Namen machte. Klassische Philologie bildete den einen Schwerpunkt der Erziehung – inklusive Reisen nach Griechenland und Italien zur unmittelbaren Anschauung. Der andere Schwerpunkt galt der Musik, für die unter anderen die Komponisten Karl Rheinberger und Max von Schillings zuständig waren. Letzterer schrieb über seinen gerade 17-jährigen Schüler: Ein ganz merkwürdiges Talent. Eigenartig weltabgewandt aufgewachsen und in der Erziehung ganz sich selbst überlassen, hat [er] sich in einer für sein Alter erstaunlichen Art und Weise in die Empfindungswelt und Stilarten des letzten Beethoven hineingebohrt. Die Entwicklung, die die Musik seit Beethoven durch3 Vgl. Eberhard Straub, Die Furtwänglers. Geschichte einer deutschen Familie, Berlin, München 2008. Straub geht minutiös den Verästelungen der Familie nach, ihrem gesellschaftlichen Umfeld, und entwirft gewissermaßen das Soziogramm einer Familie, die er als paradigmatisch versteht für die Geschichte des gehobenen akademischen Bürgertums im Deutschland des 20. Jahrhunderts.

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gemacht hat, ist fast ganz ohne Einfluss auf ihn geblieben: ein jugendliches Phänomen [...] Wenn er doch nur mal einen Walzer komponierte.4

Nein, Michelangelo, Shakespeare, Goethe, Kleist und Beethoven waren die Götter des Heranwachsenden, der sich für die Grundlagen des musikalischen Handwerks dagegen nicht sonderlich interessierte. Welche Formen seine Verehrung annahm, kann man den Briefen an seine Jugendliebe Bertel von Hildebrand, der Tochter des Bildhauers Adolf von Hildebrand und späteren Frau des Komponisten Walter Braunfels, entnehmen. Bertel war ähnlich beethovenbegeistert wie er. Völlig zerknirscht entschuldigt sich der 16-Jährige einmal dafür, dass er seine Freundin damit geneckt habe, er möge Wagner: Ich sehe nur wie furchtbar dumm und bös ich war, dass ich Dir geschrieben habe, ich hätte Wagner gern. Freilich dachte ich nicht, dass Du Dich darüber so aufregen würdest, obwohl ich, wenn ich drüber nachdenke, glaube, dass ich eben so gewesen wäre, wenn Du mir das geschrieben hättest. Ich wundere mich nur, Bertele, dass Du das glauben konntest; ich schrieb ja so deutlich, dass es nur ein Witz sei, und habe Dir oft gesagt, dass mir nichts über Beethoven geht und gehen kann. Und nun gar der Wagner, der nie ein richtiger Künstler war. Ich habe zwar neulich einen echten Wagnerianer kennengelernt, der behauptete, Wagner und besonders der Tristan wäre das grösste Kunstwerk, aber ich konnte ihm nur sagen, dass ich Wagner, soweit ich ihn kennte, und gerade den Tristan, garnicht aushalten könnte [...] Liebstes Bertele! – Ich finde selber, dass es abscheulich von mir war, das zu schreiben. [...] Ich weiss garnicht, wie ich dazu kam [...] Manchmal habe ich eben eine unbezwingliche Begier nach etwas Dummem.5

Diese „Begier“ passte tatsächlich nicht zu dem Bild, das sie von ihrem Freund hatte: „Die Bergwelt liebte er, ihre weite einsame Größe paßte gut zu ihm, denn er hatte sehr stark etwas Einsames trotz seiner Liebesfähigkeit, etwas Ringendes in sich, was seine Welt einsam machte.“6 Schon früh zeichnen sich die Leitlinien seines Lebens ab: klassischer Bildungshorizont, Naturverbundenheit, Sinn für Größe, ein unbeirrbares Bewusstsein von der eigenen Aufgabe, ein Absolutheitsanspruch, der mitunter an Verbohrtheit grenzt, Unbekümmertheit gegenüber der Außenwelt, daraus resultierend aber auch Einsamkeit, Unzeitgemäßheit und das Gefühl, missverstanden zu werden. Den von den Eltern aufgebauten Erwartungsdruck hatte er offenbar vollkommen internalisiert. Welche Hypothek sein Anspruch für sein Leben bedeuten könnte, erkannte schon der 15-Jährige: 4 Friedrich Herzfeld, Wilhelm Furtwängler. Weg und Wesen, Leipzig 1942, S. 32. 5 Furtwängler, Briefe (wie Anm. 1), S. 30 f. 6 Elisabeth Furtwängler, Über Wilhelm Furtwängler, Wiesbaden 1979, S. 9.

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Ich weiß, daß ich ein außerordentlicher Komponist werden muß und sehr schöne Sachen schreiben kann, aber wenn meine Kraft nicht groß genug ist und ich nicht das erreichen kann, was ich weiß, daß ich erreichen muß, dann weiß ich, daß ich einer der unglücklichsten Menschen werde, der sich immer über die Schlechtigkeit seiner eigenen Werke hinwegtäuschen muß, um es überhaupt ertragen zu können.7

Bis zu seinem fünfzehnten Lebensjahr entstehen Lieder, Sonaten, Trios, ein Streichquartett, ein Chorwerk – Kompositionen, in denen sich die Begeisterung für die Klassiker und vor allem für Beethoven niederschlägt. 1906, also mit zwanzig, dirigiert er erstmals ein auf Kosten der Eltern veranstaltetes Konzert mit dem renommierten Münchner Kaim-Orchester. Das für ein Debut reichlich mutige Programm macht seinen Anspruch unmissverständlich klar: ein monumentales Adagio einer zweiten, unvollendet gebliebenen Symphonie wird flankiert von Beethovens Ouvertüre Die Weihe des Hauses und Bruckners 9. Symphonie. Während der Dirigent immerhin aufhorchen lässt, fällt der Komponist beim Publikum wie bei der Kritik völlig durch. Es ist also kein Zufall, wenn sein Werk über den 1. Satz nicht hinauskam: „Das Anfangsthema“, beobachtet sein Lehrer und Mentor Walter Riezler, ist wie eine Musik gewordene Vision aus der Welt von Michelangelos Jüngstem Gericht. Dies über einen ganzen Symphoniesatz durchzuhalten, war dem jungen Furtwängler noch nicht gegeben, aber die Konzeption war gewaltig. Nur eine im Tiefsten tragische Natur konnte solche Töne finden, und als solche hat er sich ja auch Zeit seines Lebens empfunden.8

Zum Zeitpunkt seines Konzertdebuts hatte Furtwängler schon die ersten Schritte hin zu einer Dirigentenlaufbahn unternommen. Dabei ging es ihm vermutlich nicht nur um die zukünftige Existenzsicherung, sondern – ganz im Sinne seiner Eltern, die ihn als musikalischen Schöpfer, nicht etwa aber als Nach-Schöpfer sahen – um die Möglichkeit, eigene Kompositionen aufführen zu können. Im Jahr zuvor war er nach Breslau gegangen, um als Korrepetitor erste praktische Erfahrungen an einem Theater zu sammeln. Für ihn bedeutete das einen Sprung ins kalte Wasser. Denn unversehens wurde er aus der Welt seiner Ideale herausgerissen: Jemals einen Theaterkapellmeister zu machen, kommt mir unmöglicher als je vor [...] Welche Masse schlechter Musik es gibt [...], machst Du Dir keinen Begriff; und die Menschen schwimmen darin vor Wonne, finden alles schön und herrlich 7 Wilhelm Furtwängler. Dokumente – Berichte und Bilder – Aufzeichnungen, hrsg. von Karla Höcker, Berlin 1968, S. 17. 8 Walter Riezler, „Furtwänglers geistige Welt“, in: Gottfried Kraus, Ein Maß, das heute fehlt. Wilhelm Furtwängler im Echo der Nachwelt, Salzburg 1986, S. 64.

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und wälzen sich drin wie die Schweine im Dreck. Alle gute Musik, Mozart, Beethoven, scheint einem dagegen so anspruchslos, direkt wie nichts, und es ist ganz konsequent, daß solche Leute sie langweilig finden.9

Später setzte er denn auch seinen ganzen Ehrgeiz daran, der Opernfron zu entkommen und sich auf Konzerte zu konzentrieren. Die nächsten Stationen sind Zürich und München. 1910 geht Furtwängler als dritter Kapellmeister nach Straßburg zu Hans Pfitzner, im Jahr darauf schließlich als Nachfolger von Hermann Abendroth nach Lübeck. Hier kann er erstmals selbständig arbeiten und vor allem auch Konzerte dirigieren. Rasch macht er sich über Lübeck hinaus einen Namen und wird 1915 auf Empfehlung von Bruno Walter an die Mannheimer Oper berufen. Dann geht es Schlag auf Schlag: Wiener Tonkünstlerorchester, Frankfurter Museumskonzerte, Symphoniekonzerte der Staatsopernkapelle Berlin und 1922 Nachfolge des kurz zuvor verstorbenen Artur Nikisch beim Leipziger Gewandhausorchester und den Berliner Philharmonikern. Noch aus Lübeck hatte er an den Leipziger Thomaskantor Karl Straube geschrieben: Ich bin überzeugt, dass ich in 2 Jahren soweit bin wie ich eigentlich will, nämlich entweder die mir zusagende Konzert-Dirigentenstelle, die mir zur eigenen Arbeit Zeit lässt, oder die Möglichkeit eines ehrenvollen Ausscheidens aus dem Beruf.10

Dirigent oder Komponist? Diese Frage stellte sich nicht nur Furtwängler. Spätestens seit der Wende zum 20. Jahrhundert sahen sich viele Musiker vor die Alternative gestellt, ob sie als Komponist oder als Interpret tätig sein wollten. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wäre eine solche Entscheidung noch absolut ungewöhnlich gewesen, wurden von Kapellmeistern älterer Prägung doch selbstverständlich Kompositionen aus eigener Feder verlangt. Einer der ersten, der sich weitestgehend auf die Orchestererziehung spezialisierte, war Hans von Bülow. Als Dirigent der Meininger Hofkapelle setzte er durch systematische Probenarbeit einen neuen Standard der Orchester- und Spielkultur, demonstrierte, dass das Dirigieren in einer Zeit, da Orchesterapparat wie Partituren immer komplexer wurden, eine Arbeitsteilung zwischen Komponist und Interpret erforderte. Sein Vorbild sollte Schule machen. Fritz Steinbach, Arthur Nikisch, Bruno Walter, Otto Klemperer, Erich Kleiber usw. – sie alle beschränkten sich in diesem 9 Höcker, Wilhelm Furtwängler (wie Anm. 7), S. 19. 10 Brief vom 24.3.1915, in: Furtwängler, Briefe (wie Anm. 1), S. 48.

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Sinn auf die Funktion des Interpreten, ‚dienten‘ dem Werk anderer.11 Zumindest nach außen hin. Nicht jeder besaß die Rigorosität eines Arturo Toscanini, der als 22-Jähriger die italienische Erstaufführung des Tristan besuchte und sich, noch bevor der erste Aufzug zuende war, schwor, nie wieder eine Note zu komponieren. Bruno Walter schrieb u. a. Lieder, Kammermusik und zwei Symphonien, Otto Klemperer drückte im Alter von fünfzig sogar noch einmal die Schulbank, um bei Arnold Schönberg in Los Angeles Kompositionsunterricht zu nehmen12. Für sie alle gilt: so wichtig es für sie als Musiker war, sich schöpferisch zu betätigen, so sehr war es doch auch eine Privatsache, die eher selten ans Licht der Öffentlichkeit gelangte. Die hauptberuflichen Komponisten hatten derweil zunehmend eine neue Möglichkeit der Existenzsicherung gefunden: die Lehre an den neugegründeten Musikhochschulen bzw. Kompositionsklassen der Akademien. So unterrichteten im Berlin der 1920er Jahre u. a. Ferruccio Busoni, Hans Pfitzner, Franz Schreker, Paul Hindemith und Arnold Schönberg. Zwar waren Komponisten wie Gustav Mahler oder Richard Strauss auch als Dirigenten tätig, doch wurde es immer schwieriger, beides ein Leben lang erfolgreich miteinander zu vereinbaren. Geglückt ist es wenigen. Die Leitung eines Opernhauses erlaubte kaum die zum Komponieren nötige Konzentration. Gustav Mahler ist nur einer von denen, die unter der Doppelbelastung förmlich zusammengebrochen sind: sich das Jahr über im Theaterbetrieb aufzureiben und die kurze Zeit des Sommers zum Komponieren zu nutzen – eine Zeitaufteilung die sich in so manchen Musikerbiografien wiederfindet.13 Furtwängler war sich solcher Probleme bewusst, wie er in seinen Briefen erkennen lässt. Doch faktisch hatte für ihn seine Dirigenten-Karriere durchwegs Priorität. Im Lauf der 20er Jahre verfolgte er sie geradezu generalstabmäßig, 11 Dieser Differenzierungsprozess korrespondiert auf solistischer Ebene weitgehend der Entwicklung vom Virtuosen zum Interpreten. Vgl. dazu Beatrix Borchard, Stimme und Geige. Amalie und Joseph Joachim, Wien, Köln, Weimar 2005, S. 61 f. und passim. 12 Klemperers Werke sind ein Kapitel für sich, insofern sie aufs Engste mit seiner Krankheitsgeschichte verknüpft waren. Manisch-depressiv veranlagt, zerstörte er in den Phasen der Depression regelmäßig einen Großteil dessen, was er im Rausch der Hochstimmung geschrieben hatte. Vgl. Peter Heyworth, Otto Klemperer. Dirigent der Republik. 1885–1933. Berlin 1988, S 56. f. 13 Und noch etwas lässt sich bei Mahler studieren: dass die Öffentlichkeit einem Dirigenten, der in seinem Metier unangreifbar ist und Weltberühmtheit erlangt hat, den Komponisten nicht abnehmen will. Da fällt in der Regel das hinterhältige Wort von der „Kapellmeistermusik“. Dass so einer genial instrumentieren kann, ist eher verdächtig, scheint sich allein seiner Routine im Umgang mit dem Orchester zu verdanken. Bei Richard Strauss fügt sich die ihm häufig zugeschriebene „kompositorische Glätte“ ins Bild des ‚routinierten Praktikers‘.

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sodass sich seine Verpflichtungen zunehmend verzweigten. Zwar gab er die Leitung des Leipziger Gewandhausorchesters 1928 auf, dafür kamen aber die Wiener Philharmoniker hinzu, später die Berliner Staatsoper, die Bayreuther Festspiele, ferner Gastspiele in Schweden, England, der Schweiz, Amerika, Frankreich, Italien etc. Furtwängler entschied sich klar für den Musikbetrieb, für das also, was er ansonsten beredt in Frage stellte. Richard Strauss sprach süffisant von „kleinlicher Taktstockeitelkeit“ und meinte, Furtwängler könne es nicht ertragen, „dass irgendeine Stadt zwischen Hongkong und Schneidemühl in einem Jahr nicht von ihm beglückt wird“.14 Das war zwar stark übertrieben, schärft aber den Blick, um sogar eine Kontinuität zwischen Furtwängler und seinem erbittert bekämpften Nachfolger Herbert von Karajan zu erkennen, der nach dem Krieg Schritt für Schritt sein eigenes europäisches ‚Imperium‘ ausbaute. Die lebendig-organische Form Nichtsdestoweniger gab es seltene Phasen, in denen Furtwängler zum Komponieren kam. So schrieb er im Sommer 1920 – vor einer von Terminen übervollen Konzertsaison – an seinen alten Lehrer Ludwig Curtius: Ich selber habe das Gefühl, diesen Sommer viel gearbeitet zu haben, so viel als es wohl eben ging. Und jeden Tag, so möchte mir scheinen, wachse ich an Klarheit, Einsicht und auch Vermögen; was ich unternehme ist schwer, so schwer, dass es kein anderer wagt; aber es scheint mir unumgänglich und jedenfalls für meine Person das einzig mögliche. Natürlich sehe ich immer wieder von neuem, dass alles was wachsen will, Zeit braucht, viel Zeit, und wenn ich dies Jahr aufhöre so ists nur in der Hoffnung, dass es im nächsten Jahr endgültig anders werden muss. Es war in den letzten Wochen manchmal tagelang wirklich etwas wie ein Kampf auf Leben und Tod, und wenn ich auch nicht immer als Sieger hervorgegangen bin, so doch als ein Erfahrener. Ich habe Hoffnung, dass nächstes Jahr, wenn ich 5 Monate Zeit habe, jedenfalls eine der vielen Sachen ganz fertig wird. Es geht mir sicherlich auch hier, wie im Lauf der Jahre mit dem Dirigieren: das Krampfhafte legt sich mehr und mehr und das Ziel, das Ruhig-Organische tritt immer klarer und leichter zu Tage, das, was allen, die wirklich mit der Stimme unserer Zeit zu sprechen unternehmen, fast unmöglich erscheint.15

Der hohe Ton, die pathetische Ergriffenheit von der eigenen Aufgabe, unterstreicht nur, unter welcher Bürde Furtwängler arbeitet. Den vorsichtig geäußerten Optimismus wollte Curtius allerdings nicht gelten lassen. Zeitlebens 14 Zitiert nach Straub, Die Furtwänglers (wie. Anm. 3), S. 196. 15 An Ludwig Curtius 14.9.1920 aus Wiessee. Furtwängler, Briefe (wie Anm. 1). S. 54 f.

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verband ihn, der die steile Dirigentenkarriere seines Schülers durchaus skeptisch verfolgte, mit Furtwängler ein besonderes Vertrauensverhältnis – nach dem Tod des Vaters übernahm er gewissermaßen dessen Rolle und vertrat in den Briefen so etwas wie das (schlechte) Gewissen des schöpferischen Künstlers.16 Curtius hielt mit seiner Meinung offenbar nicht hinter dem Berg, denn in seiner Antwort schlägt Furtwängler auf einmal ganz andere, zerknirschte Töne an: [...] was Du mir geschrieben hast, war mir wie Ausstrahlung meiner eigenen Gedanken [...] und wenn ihr Inhalt z. T. traurig genug ist, so empfinde ich doch voller Dankbarkeit, dass Du mich heute noch wie ehedem immerfort begleitest. Ich weiss es selber am besten, dass das Leben, das ich führe, nicht mein Leben ist, dass ich sozusagen im Begriff stehe meine Erstgeburt, meine Seele um ein Linsengericht zu verkaufen. Aber es wird nicht geschehen; und so bitter es mich immer trifft, wenn ich daran denke, dass ich soviel Zeit verlieren muss, so sage ich mir doch, dass alles seine Zeit haben muss ...17

Den Sommer 1922 verbringt Furtwängler im Engadin: Hier bin ich einsam, arbeite. Am Talent fehlt es nach wie vor nicht, davon habe ich mich überzeugt. Aber Zeit, Ruhe und Konzentration. Die Aufgabe ist schwerer als sie jemals war; mitten in den Anforderungen der Gegenwart sich die lebendigorganische Form zu bewahren. Aber ohne dies hat das Musizieren für mich keinen Sinn und kein Interesse. Was ich mit ‚organische Form‘ meine, davon weiss freilich heute weder Musiker noch Wissenschaftler etwas – und ob in 10 Jahren überhaupt noch jemand etwas davon weiss? Schon heute fehlt dafür durchaus der Begriff ebenso wie die Sache, ich weiss nicht, ob ich, – selbst wenn es gelänge – auf diese Leidenschaft und Sehnsucht, die wahrhaft buchstäblich an meinem innersten ‚Lebensmark‘ zehrt,  jemals eine Antwort bekomme.18

Es sollte bis Mitte der 30er Jahre dauern, dass Furtwängler wieder ernsthaft zum Komponieren kam. Auslöser war der „Fall Hindemith“, der Eklat um die 1934 von den Nationalsozialisten untersagte Uraufführung der Oper Mathis der Maler. In einem Artikel in der Deutschen Allgemeinen Zeitung verwahrte sich Furtwängler gegen jede politische Bevormundung, worauf er von allen seinen Ämtern zurücktreten musste.19 16 Leider ist nur ein Bruchteil der Furtwängler-Briefe veröffentlicht, die Gegenbriefe der Empfänger fehlen ganz. 17 Brief vom 21.12.1920 aus Stockholm, in: Furtwängler, Briefe (wie Anm. 1), S. 55 f. 18 Brief vom 15.8.1922. Ebd., S. 60. 19 Vgl. dazu Giselher Schubert, „Der Fall Hindemith“, in: Andres Briner, Dieter Rexroth, Giselher Schubert, Paul Hindemith. Leben und Werk in Bild und Text, Zürich, Mainz, 1988, S. 143 ff. Zu den politischen Hintergründen s. auch Fred K. Prieberg, Kraftprobe. Wilhelm Furtwängler im dritten Reich, Wiesbaden 1986, S. 185 ff.

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Kurz darauf erkrankt er. Für ein Jahr zieht er sich völlig aus der Öffentlichkeit zurück, reist nach Ägypten und beginnt wieder zu komponieren. Zwei Werke entstehen, ein Klavierkonzert und die 1. Violinsonate d-Moll, wenig später eine zweite in D-Dur. Doch da hat er seine Dirigiertätigkeit längst wieder in altem Umfang aufgenommen. Ein zweiter Kompositionsschub folgt dann noch einmal nach 1945. Wieder von außen ausgelöst, diesmal durch den Umstand, dass Furtwängler zwei Jahre lang Auftrittsverbot hat, bis sein Entnazifizierungsverfahren stattfindet. Es entsteht seine 2. Symphonie, in späteren Jahren dann eine dritte, die er aber nicht mehr vollendet. Diese Kompositionen zeigen Furtwängler in der Tat als Unzeitgemäßen. Sie sind gleich weit entfernt vom Expressionismus bzw. den Zwölftonkompositionen der Wiener Schule Schönbergs wie vom Geist des Neoklassizismus eines Strawinsky oder der Neuen Sachlichkeit eines Hindemith. Furtwängler hält an den Grundlagen der klassisch-romantischen Musik fest: an Tonalität, an der klassischen Form, am Prinzip des Symphonischen und der organischen Entwicklung. Mit 45–50 Minuten Dauer sprengen seine Sonaten alle gewöhnlichen Maße, lassen auch die Kammermusik von Reger oder Pfitzner, an deren Ton sie bisweilen erinnern, weit hinter sich. Ihr Anspruch ist symphonisch: nicht nur durch das Gewicht und den Ausdrucksgehalt der einzelnen Sätze, sondern vor allem auch durch die thematische Entwicklung, die sich über das ganze Werk ausbreitet, es durch zahlreiche motivische Beziehungen verklammert. Symphonisch wirken nicht zuletzt die gewaltigen Bögen von Spannung und Entspannung – die Partituren sind übersät mit zahllosen Angaben zu Tempo und Ausdruck, sodass es hier auf eine Kunst besonders ankommt, die der Dirigent Furtwängler unnachahmlich beherrschte: die Kunst, Übergänge zu gestalten. Sein Lehrer Walter Riezler urteilte über die Werke dieser Phase zusammenfassend: [...] eine persönliche ‚Aussage‘ von größter, den Hörer bedrängender Gewalt, dabei eine Kraft der Gestaltung, der es gelingt, die überdimensionierten Sätze in eine geschlossene Form zusammenzufassen [...] Aber alles etwas übersteigert, nicht nur in den Dimensionen, sondern auch im Ausdruck.20

Der Tribut an die Zeit Manche dieser Werke hatten durchaus Erfolg, so die 2. Violinsonate, die Furtwängler 1940 zusammen mit Georg Kulenkampff uraufführte, oder das Klavierkonzert, das des Öfteren nachgespielt wurde. Dennoch war ihm das 20 Riezler, Furtwänglers geistige Welt (wie Anm. 8), S. 66 f.

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nicht genug. Er sah sich nach wie vor verkannt. Wenn er sich an Beethoven oder Brahms maß, wollte er, wie er sagte, seiner Zeit entgegentreten und das Steuer wieder herumreißen.21 Er wollte die Entwicklung, die die Musik im 20. Jahrhundert genommen hatte, rückgängig machen. Und seine Tragik war weniger, dass er dies nicht erreichte als dass er wusste, dies nicht erreichen zu können. Dabei hatte er diese Entwicklung zeitweise sogar maßgeblich mitvollzogen. In den Zwanzigerjahren war er – dies vergisst man aus heutiger Perspektive allzu leicht – ein prominenter Interpret Neuer Musik gewesen, hatte zahlreiche Ur- und Erstaufführungen betreut. Er dirigierte auf Festen zeitgenössischer Musik und war zeitweise sogar Präsident der deutschen Sektion der internationalen Gesellschaft für neue Musik.22 Für ihn war es selbstverständlich, das Publikum mit zeitgenössischen Werken bekannt zu machen. Im Lauf der Zeit kam er in Berlin auf 124;23 so dirigierte er zwischen 1922 und 1927 Schönbergs Orchesterstücke op. 16, eine Symphonie von Max Trapp, Pfitzners Klavierkonzert, Le Sacre du Printemps und das Klavierkonzert von Strawinsky (mit dem Komponisten am Flügel), Werke von Bernhard Sekles, Ferruccio Busoni, Walter Braunfels, Georg Schumann, Philipp Jarnach, Arthur Honegger, Ottorino Respighi und Alfredo Casella, Béla Bartóks Tanzsuite und Paul Hindemiths Konzert für Orchester op. 38.24 Hindemith galten auch drei Uraufführungen, u. a. seinem Philharmonischen Konzert zum 50-jährigen Jubiläum der Berliner Philharmoniker und der Symphonie Mathis der Maler 1934. Die Uraufführung der Variationen für Orchester op. 31 von Arnold Schönberg ging in die Geschichte der großen Skandale ein.25

21 22 23 24

Ebd., S. 74. Vgl. Herbert Haffner, Furtwängler, Berlin 2006, S. 106. Ebd. Furtwänglers Engagement für die Moderne deswegen höher zu bewerten als das von Kollegen wie Klemperer oder Kleiber, schießt freilich übers Ziel hinaus, waren sie doch primär Operndirigenten, unterlagen somit anderen Bedingungen und Zwängen. Vgl. z. B. Straub, Die Furtwänglers (wie Anm. 3), S. 168. 25 Bei allen Gegensätzen verband die beiden ihre Verwurzeltheit in der Tradition. Während sich Schönberg über „Kleiber, Klemperer und Walter und alle die anderen Affen der Sachlichkeit“ mokierte, die nur „ihnen aber nicht mir eine ist“, lernte er den zwölf Jahre jüngeren Furtwängler schätzen: „Er gefällt mir eigentlich [...] wirklich sehr gut“, schrieb er Webern am 2.11.1928, kurz vor der Uraufführung. „Es ist merkwürdig, daß ich oft gegen Leute, die sich später sehr gut gegen mich benehmen, anfangs so gereizt bin. Ich habe mich bisher gegen Furtwängler immer wie ein ‚Bosel‘ benommen, obwohl er sehr nett war [...] Ich glaube fast, man sollte ihn ernster nehmen. Ich bin nur immer so misstrauisch gegen frühe

Dirigieren oder Komponieren?

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Andererseits war schon damals unverkennbar, dass Furtwängler all dies mit einem gewissen Vorbehalt tat. Einem Vorbehalt, der sich später zu einem ziemlich vernichtenden Urteil steigerte: „Bis Brahms, Bruckner, Wagner“, äußerte er z. B. 1940, „entwickelte sich die Musik. Was danach wie weitere äußere Entwicklung aussah, war Inflation (Strauss, Reger, Mahler)“26 – von den Repräsentanten der neuen Musik ganz zu schweigen, über die er 1947 bemerkt: „Die gegenwärtige Musik steht – seit 30 Jahren – unter dem Zeichen der Auflösung.“27 Eine ziemlich vernichtende Bilanz der neueren Musikgeschichte. Aufschlussreich sind Furtwänglers Äußerungen über Béla Bartók, dessen Musik für Saiteninstrumente, Schlagzeug und Celesta er sogar noch 1938 in Berlin dirigiert hatte.28 Im Juli 1947 klagt er seinem Kollegen Ernest Ansermet, in Salzburg leider nur das Brahmssche Violinkonzert aufzuführen zu können statt des neuen Werks von Bartók, das ihn sehr interessiert hätte.29 Drei Jahre später bemerkt er in einem Brief an den Heidelberger Komponisten Gerhard Frommel: „Ich ziehe Bartók als europäische Musik ganz entschieden vor,30 wobei mir gerade auch die organische Faktur von wesentlicher Bedeutung zu sein scheint“.31 Im Vergleich zu diesen konzilianten Äußerungen gegenüber Vertretern zeitgenössischer Musik, darunter auch dem Komponisten und Leiter der Salzburger Festspiele Gottfried von Einem, überrascht eine private Aufzeichnung. Da heißt es 1947: Bartók: ein überabstrakter Kopf, ein komponierendes Geist-Gespenst. Die Metronomisierung bis zur Teilung von x-tel Sekunden ist eine Abstraktion. Im selben Sinne die ganze Musik angepackt. Machtlosigkeit, Hybris des Abstrakten!!32

Ein gnadenlos scharfes, für Furtwängler aber durchaus typisches Urteil, das allerdings vollends unverständlich wird, wenn man hört, wie er zusammen mit

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Erfolge.“ Vgl. Nuria Nono-Schönberg, Arnold Schönberg 1874–1951, Lebensgeschichte in Begegnungen, Klagenfurt 1998, S. 269. Wilhelm Furtwängler, Aufzeichnungen 1924–1954, hrsg. von Elisabeth Furtwängler und Günter Birkner, Wiesbaden 1980, S. 209 f. Ebd., S. 288. Vgl. Joachim Matzner, Wilhelm Furtwängler. Analyse, Dokument, Protokoll, Zürich 1986, S. 82. Furtwängler, Briefe (wie Anm. 1), S. 171. Vor Igor Strawinsky, über den es weiter heißt: „Strawinsky verfügt über einzelne neue wirklich ‚gefundene‘ Themen, die aber leider durch alle seine Werke sich wiederholen.“ Ebd., S. 214. Furtwängler, Briefe (wie Anm. 1), S. 214. Furtwängler, Aufzeichnungen (wie Anm. 26), S. 288.

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Norbert Meurs

Yehudi Menuhin eben jenes Bartóksche 2. Violinkonzert aus dem Jahr 1938 für die Schallplatte einspielte: die beiden interpretieren das Werk mit einer Selbstverständlichkeit, als handele es sich um ein klassisches. Die 12-TonChromatik des zweiten Themas im 1. Satz löst sich in reine Kantabilität auf, wie überhaupt diese Interpretation von einer ungeheuren Intensität im Melodischen lebt. Wenn Furtwängler das vermeintlich Abstrakte, Intellektuelle dem Natürlichen und Organischen entgegenstellt, so setzt er hier alles darauf, das eine durch das andere zu substituieren – mit faszinierendem Ergebnis.33 Als Komponist ist ihm Vergleichbares nicht gelungen. Das Dirigieren sei das Dach gewesen, unter das er sich geflüchtet habe, weil er sonst als Komponist gescheitert wäre, äußerte er gegen Ende seines Lebens. Aber schon lange vorher war ihm der Verdacht gekommen, dass auch er als Unzeitgemäßer nicht außerhalb der Zeit stand, dass sich sein Jugendtraum, der ihm von seinen Eltern vorgeträumt worden war, überholt hatte. Seinem väterlichen Freund Ludwig Curtius schreibt er 1931 aus Bayreuth: [...] dass mir meine eigene künstlerische Arbeit – an die ich heute genauso glaube, wie mit 20 Jahren – fast sinnlos und zwecklos erscheint, mag ein Symptom sein. Denn ich bin im Grunde sowohl intellektuell als auch der Art meines Talents und meiner Kunst nach eine der durch die Problematik der Zeit am wenigst angreifbaren Künstlernaturen. Ich bin der objektiven Richtigkeit meiner Sache heute noch so sicher wie meiner selbst – aber ich bin genug in der Großstadt gewesen (vielleicht zu viel!) um die Sinnlosigkeit des Künstlerdaseins für den heutigen Menschen ganz ermessen zu können. Das war wohl der große Fehler in meinem Leben – dass mich das Schicksal und der Beruf an Berlin gefesselt hat, während ich in der Einsamkeit das hätte werden können, was ich glaubte werden zu müssen. Nur, ob ich das heute noch glaube?34

33 Was übrigens durchaus einschließt, dass die rhythmische Seite des Werks vielleicht etwas unterbelichtet bleibt. 34 Furtwängler, Briefe (wie Anm. 1), S. 74 f.

Verena Naegele

Penthesilea – ein Grenzen sprengendes Rätsel-Weib Die Kritik in der Frankfurter Zeitung (FaZ) zur Uraufführung von Othmar Schoecks Oper Penthesilea, die am 8. Januar 1927 an der Sächsischen Staatsoper in Dresden stattgefunden hatte, beginnt mit einer seltsam anmutenden Aussage: „Ein naturbürtiger Lieddichter wirbt mit Penthesilea um die Bühne. Man spürt, dass der Anlauf nicht überall das Ziel erreicht.“ War Schoeck als Lyriker auf neuen Wegen? Mitnichten, denn der 41-jährige Schweizer Komponist war zu diesem Zeitpunkt alles andere als ein Neuling auf der Bühne, hatte er doch mit dem Singspiel Erwin und Elmire (UA 1916 in Zürich), mit der Komischem Oper Don Ranudo (UA 1919 in Zürich), mit der Ballett-Pantomime Das Wandbild (UA 1921 in Halle) und mit der Oper Venus (UA 1922 in Zürich) bereits vier Bühnenwerke vorgelegt. Und trotzdem ist der Ausgangspunkt der FaZ-Kritik Schoeck als Liedkomponist, der „um die Bühne wirbt“, ein Sinnbild für dessen lebenslanges Ringen um den großen internationalen Erfolg als Opernschöpfer. Schoeck, neben Arthur Honegger und Frank Martin der Schweizer Komponist dieser Zeit, rang mit der prestigeträchtigen Form der Oper. Bis heute wird Othmar Schoeck vor allem als letzter Liedmeister oder gar als letzter Romantiker und Schöpfer von über 400 Klavierliedern und Liedzyklen wahrgenommen, viele komponiert auf deutsche romantische Dichter von Eduard Mörike bis Joseph von Eichendorff. Gerade diese Reduzierung hat wohl auch bei seiner Penthesilea den ganz großen Durchbruch verhindert, obwohl sie zweifellos im Dramaturgischen wie im Kompositorischen und Formalen alle Attribute eines bedeutenden Bühnenwerks des 20. Jahrhunderts auf sich vereinigt. Der Abstand zwischen Schoecks Frühwerken und der Penthesilea, der durch einen musikalischen und inhaltlichen Bruch vom Spätromantiker zum Expressionisten gekennzeichnet ist, dürfte viel zu diesen Schwierigkeiten beitragen. Die gewalttätige Geschichte, die bis an ihre Grenzen getriebene Harmonik und die vielfältige Sprachbehandlung vom Melodram über gesprochene Passagen bis hin zum expressiven Gesang nehmen in der Tat eine besondere Position in Schoecks Schaffen ein. So ist die in manchem an Richard Strauss’ Elektra erinnernde Penthesilea-Tragödie ein Solitär in Schoecks dramatischem Werk, die immer wieder zu kontroversen Diskussionen Anlass gibt. Nach seinem Tod 1957 fast vergessen, wurde die Oper erst in den letzten Jahren

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mehrfach wieder gespielt, und gerade aus dieser Distanz zeigen sich an der Penthesilea eklatante Veränderungen in der Lebenswelt zwischen der Entstehung und dem 21. Jahrhundert. Der 1886 in Brunnen am Vierwaldstädtersee geborene Othmar Schoeck war das jüngste von vier Kindern des Kunstmalers Alfred Schoeck und der Hoteliertochter Agathe Fassbind. Eigentlich sollte Othmar in die Fußstapfen des Vaters treten, weshalb er zuerst Malunterricht erhielt. Zahlreiche Aquarelle, Öl- und Bleistiftskizzen zeugen vom zeichnerischen Talent Schoecks, der sich zudem bis weit in die 1920er Jahre hinein auf Postkarten an Freunde und in Gästebucheintragungen mit Karikaturen präsentierte. Seine bildhafte, stark wortausdeutende Musiksprache mag damit zusammenhängen. Schon bevor Schoeck 1905 ein Musikstudium am Konservatorium Zürich begann, hatte er in jugendlichem Enthusiasmus mit Bühnenstücken experimentiert. 1907 ging Schoeck nach Leipzig ans Königliche Konservatorium, wo er seine Studien 1908 bei Max Reger abschloss. Anschließend kehrte er nach Zürich zurück, wo er bis zu seinem Tod 1957 wohnte; ein Umstand, der für sein Schaffen nicht nur von Vorteil war. Einen ersten großen Erfolg errang Schoeck kurz nach seiner Rückkehr in die Schweiz beim Tonkünstlerfest in Baden, wo seine Serenade op. 1 und die Ouvertüre William Ratcliffe aufgeführt wurden. Wichtige Impulse vermittelte ihm die junge ungarische Geigerin Stefi Geyer, der er die D-Dur-Violinsonate op. 16 widmete. Geyer, die das heftige Liebeswerben von Schoeck nicht erwiderte, inspirierte ihn auch zu seinem Violinkonzert op. 21, in dem er seinen Liebesschmerz zu verarbeiten suchte. In seinem Exemplar des Klavierauszuges sind über einigen Passagen veritable Liebeserklärungen in Worten notiert. Stefi Geyer war aber nicht die einzige Frau, die in Schoecks Schaffen nachhaltige Spuren hinterlassen hat. Zu diesen gehörte auch die Genfer Pianistin Mary de Senger, die er im August 1918 kennenlernte. Wie der SchoeckBiograf Chris Walton nachweist, erfuhr die leidenschaftliche Liebe zu Mary de Senger mehrfach in Schoecks Werk ihren Niederschlag, in erster Linie in den Opern Venus und Penthesilea.1 Erstere komponierte er im frühen Stadium der problematischen, von Höhen und Tiefen geprägten Liebe. In der blinden Leidenschaft von Horace für eine Statue der Venus sieht Walton eine Parallele zu Schoecks eigenen Gefühlen zu Mary; im zweiten Akt zitiert er zudem zweimal aus einem Mary gewidmeten Klavierstück Consolations. Hier ist es die Hingerissenheit des Helden zu einer Frau – makellos modelliert, aber aus 1 Chris Walton, Othmar Schoeck. Eine Biographie, Zürich, Mainz 1994.

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Marmor und damit unantastbar – die mit dem Tod des Mannes endet. Musikalisch schlägt die 1922 bei der Uraufführung in Zürich gefeierte Venus einen Bogen von der romantischen Lyrik zur dramatisch gesteigerten Ausdrucksmusik, die Harmonik bleibt durchwegs tonal. Die eineinhalb Jahre später begonnene Penthesilea fiel in eine Zeit des privaten und musikalischen Umbruchs. Zuerst erlebte Schoeck im Sommer 1923 zusammen mit dem Komponistenfreund Arthur Honegger in Paris die Uraufführung von Igor Strawinskys Ballett-Kantate Les Noces für vier Klaviere, Schlagzeug, Stimme und Chor. Die ungewöhnliche Instrumentation und Strawinskys Umgang mit Rhythmen beeindruckten die beiden ebenso wie der anschließende Besuch des IGNM-Festes in Salzburg. Dort wurden Schoecks romantisierende Hafis-Lieder op. 33 neben Werken der aktuellen Avantgarde von Schönberg, Berg und Strawinsky gespielt, was laut Walton das kompositorische Selbstverständnis Schoecks stark erschüttert habe.2 Nach der Rückkehr in die Schweiz folgte der nächste Schock, denn Mary de Senger beendete abrupt die langjährige Liebesbeziehung. In dieser Situation voll beruflicher und privater Verunsicherung, Wut und Trauer über den Verlust der eigenwilligen Geliebten und von ihm geäußerter Hassliebe zur Frau an sich, stieß Schoeck in Zusammenarbeit mit seinem Freund Hans Corrodi auf den Penthesilea-Stoff.3 Gemeint ist nicht der griechische Mythos, der besagt, dass Penthesilea, die Königin der Amazonen und Tochter des Kriegsgottes Ares, von Achilles, dem Helden der Griechen, im Kampf getötet wird, und dass Achill beim Anblick des toten weiblichen Körpers der Penthesilea sich verzweifelt in die leblose Feindin verliebt. Als Vorlage für Schoecks Oper diente vielmehr Heinrich von Kleists Version, in der er die Penthesilea-Geschichte ins Grauenhafte verkehrte, zuspitzte und mit einer politischen Ursprungsgeschichte der Amazonen verkettete: Aus Rache, wegen eines mörderischen Frauenraubs, gründet sich in mythischer Vorzeit der Frauenstaat der Amazonen. Sie ziehen auf Raubzüge aus, um sich Männer zu holen, welche sie wieder verstoßen, sobald diese ein Kind gezeugt haben. Bei Kleist muss nun Achill Penthesilea zum Opfer fallen. Sie muss den Geliebten besiegt haben, um ihn lieben zu dürfen. Entsetzt, den Geliebten zerfleischt zu haben, darf sie mit dem Ermordeten in die Ewigkeit ziehen, nachdem sie sich das Leben genommen hat. Kaum verwunderlich, dass Schoeck und sein Freund Corrodi Kleists Penthesilea sogleich als Kampf der Geschlechter begriffen. 2 Ebd., S. 140 ff. 3 Ebd., S. 149.

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Es war damals eine in mehrerer Hinsicht zeitgemäße Stoffidee für eine Oper, passte Penthesilea doch in eine lange Reihe von Wiederentdeckungen antiker Mythen durch die literarische Moderne, wie sie mit Hugo von Hofmannsthals Einakter Elektra 1903 ihren Anfang genommen hatte. Bemerkenswerterweise begann sein Komponistenfreund Honegger, mit dem Schoeck in Paris bei der Groupe des Six zusammengekommen war, beinahe gleichzeitig mit der Vertonung des antiken Stoffes der Antigone auf einen Text von Jean Cocteau. Die im Dezember 1927 in Brüssel uraufgeführte Antigone passt mit ihrem kompromisslos expressiven Stil und den aufreizenden Rhythmen in diesen Kontext. Ausgelöst worden war die Reihe mit Richard Strauss’ expressiv-psychologisierender Vertonung der Elektra, die 1909 an der Semperoper Dresden ihre Uraufführung erlebte, in der 18 Jahre später auch Penthesilea zum ersten Mal gegeben wurde. Gemäß der damals modernen Lesart der antiken Frauengestalten, die Archaik und Unberechenbarkeit auf sich vereinen, ergibt sich eine neue Stimmbewertung der Altstimme, denn das dunkle Timbre assoziiert Verführung, Weiblichkeit und Megäre. Die Erotisierung des dunklen Frauentyps ist der Antigone, der Klytämnestra und der Penthesilea eigen. Es gibt einige weitere Analogien zwischen Elektra und Penthesilea: Inhaltlich durch die Exposition extremer Gefühlszustände, emotionalen Verfalls und blutigem Ende, musikalisch durch ähnlich spektakuläre Instrumentationen mit acht bzw. zehn Klarinetten sowie durch ihre expressive Dramatik. Bei Schoeck kommen zwei Klaviere dazu, die an Strawinskys Les Noces erinnern. Die Parallelen sind offensichtlich auch stoffbedingt, selbst wenn Schoeck in der Ausformung letztlich andere Wege ging. Beide Werke gehören zu einer neuen Spezies von Skandaloper und -ballett, die um die Jahrhundertwende um das Motivpaar Tod und Weiblichkeit kreisen. Ob Salome und Elektra bei Strauss,  Jeanne d’Arc bei Widor und später bei Honegger, oder die Amazonen bei Anatoli Ljadow (Danse de l’amazone 1910) und nun bei Schoeck, immer ist es „ein Rätsel-Weib, das fast zwanghaft am Abgrund steht“, wie Melanie Unseld in ihrer wegweisenden Dissertation „Man töte dieses Weib!“ zeigt4. Dieses „neue Weib“ konfrontiert den bürgerlichen Mann mit Zweifeln und Ängsten vor dem Fremden. Man soll vorsichtig sein bei biografischen Bezügen, doch ein Bezug auf die eigenwillige und unberechenbare Freundin von Schoeck, Mary de Senger, liegt hier nicht fern. Die aktuelle Lebenswelt Schoecks findet offensichtlich Eingang in das expressivste Psychodrama-Stück seines gesamten Oeuvres. 4 Melanie Unseld, Man töte dieses Weib. Weiblichkeit und Tod in der Musik der Jahrhundertwende, Stuttgart, Weimar 2001, S. 14.

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Melanie Unseld folgert aus ihrer detaillierten Untersuchung der Musik dieser Zeit und der damaligen Frauenfiguren auf der Bühne: Die traditionelle musikalische Formsprache und Tonalität, die als Repräsentation des männlich hegemonialen Bürgertums und dessen moralischen Ansprüchen galt, wird mit Hilfe einer weiblichen Figur durchbrochen, die bewusst ihre Ansprüche ignoriert, die sie negiert und aus den Angeln hebt. Diese Figur legitimiert durch ihr stoffgeschichtliches Material eine Musiksprache, die sich ebenfalls von formalen und tonalen Ansprüchen loszumachen sucht. [...] Strauss selbst empfand Salome und Elektra als Endpunkt einer Entwicklung, die nicht zu überschreiten sei, weder in kompositorischer Hinsicht noch in der Darstellung von sexuell abwegigen und hysterischen Frauenfiguren.5

Diese Aussage steht geradezu exemplarisch für den bruchhaften Wechsel in Schoecks Musiksprache der Penthesilea, die, wie Hans-Joachim Hinrichsen zeigt, den harmonischen Rahmen bei weitem sprengt.6 Schoeck selber äußerte dazu einmal: „Die Harmonien sind äusserst gepfeffert, von der traditionellen Tonalität ist nichts mehr zu merken.“7 Penthesilea, dieses Weib, halb Furie halb Grazie, halb hysterisch, zuletzt im Wahnsinn mordend, verlangte offenkundig nach einer von Schoeck bisher gemiedenen, Grenzen sprengenden Gestaltung.

Nachdem vorerst Hans Corrodi mit der Ausarbeitung eines dreiaktigen Librettos begonnen hatte, entschloss sich Schoeck Anfang 1924, Kleists Originaltext in stark gekürzter Form zu verwenden und damit – wohl auch seinem literarischen Verständnis entsprechend – eine Literaturoper zu realisieren. Aus einem expressiven Werk in der eindrucksvollen Folge der Femmes fatales der Jahrhundertwende wurde durch die Entscheidung des Komponisten die Vertonung eines klassischen Kleist-Dramas. Allerdings schrumpfte das schoeck’sche Bühnenwerk schließlich gegenüber dem kleist’schen Original auf ein Viertel des Gesamtvolumens. „Die Oper bringt das Wesentliche des kleist’schen Dramas. Sie ist eigentlich ein grosses Finale“, erklärte der Komponist dazu. Herausgestrichen hat er vorwiegend die epischen Teile, die Teichoskopien, bei denen Handlungen und Beziehungen durch dritte Personen für das Publikum kommentierend geschildert werden. Damit erhielt Schoeck eine gedrängte Hinführung zur Tat Penthesileas: „Die Tragödie sollte vorüberrauschen wie ein Sturmwind und den Hörer gar nicht zum Aufatmen kommen lassen“, wie er Corrodi mitteilte. Gemeint ist damit nicht einfach eine Zeit5 Ebd., S. 170. 6 Hans-Joachim Hinrichsen, „Das ‚Wesentliche des Kleist’schen Dramas‘? Zur musikdramatischen Konzeption von Othmar Schoecks Operneinakter Penthesilea“, in: Archiv für Musikwissenschaft, 2002, Jg. 59, H. 4, S. 267–297. 7 Zit. nach Walton, Othmar Schoeck (wie Anm. 1), S. 154.

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dimension, sondern auch die Verdichtung der Konstellation von Figuren und Gefühlen auf den Kampf der Geschlechter. Folgerichtig ergibt sich der bedeutendste Eingriff am Beginn der Operntragödie, der nicht, wie bei Kleist, die Handlung und die Figuren episch exponiert und das Aufeinanderprallen von Achill und Penthesilea, ihre auflodernde Liebe, mittels Teichoskopie schildern lässt. Schoeck beginnt seine Penthesilea vielmehr mit dem 8. Auftritt der Vorlage, der Verwundung von Penthesilea durch Achill. Damit lässt er der aufkeimenden Amour fou zwischen den zwei selbstbewusst titanischen Persönlichkeiten keinen Raum. Schoeck exponiert die stolze Amazone als Geschlagene, Verletzte, ihres weiblichen Selbstverständnisses im Amazonenstaat beraubte ‚Frau im Staube‘. Das klassische kleist’sche Drama wird auf die Skandaloper der Jahrhundertwende, auf die von Schoeck prognostizierte Urfeindschaft der Geschlechter fokussiert und Penthesilea als Femme fatale exponiert, die nicht mit ihrer Niederlage leben kann. So empfand Schoeck „den Sadismus“ von Penthesilea „als Triebfeder der grausigen Tat“8. Seine Penthesilea befindet sich damit in bester Gesellschaft mit Salome und Elektra mit ihrer enorm bedrohlichen Weiblichkeit, ihrer Nähe zur Hysterie, zur sexuellen Obsession und dämonischen Verbindung zum Tod und zum Töten.9 Zum ersten Mal gespielt wurde Penthesilea am 8. Januar 1927 in Dresden, weil kein Geringerer als Fritz Busch das Werk zur Uraufführung angenommen hatte. Das Dirigat überließ er dann allerdings dem zweiten Kapellmeister des Hauses, Hermann Kutschbach. Die vielen erhalten gebliebenen Kritiken vermitteln insgesamt eine wohlwollende Beurteilung, allerdings war dem Werk kein durchschlagender Erfolg beschieden und verschwand nach vier Vorstellungen aus dem Spielpan. Analysiert man die Rezensionen im Einzelnen, ergibt sich das erstaunliche Bild, dass nicht der Inhalt, die schauerliche Geschichte um Hass, Liebe, Bisse, Küsse, Zerfleischung und Wahnsinn im Mittelpunkt der Betrachtungen steht, sondern – wie schon am Anfang dieses Essays gezeigt – die neuen hoch-expressiven Bahnen des Lyriker-Komponisten Othmar Schoeck, sowie dessen Umgang mit Kleists Vorlage. Schoeck sei kein Dramatiker, meinte Ludwig Misch kurz und bündig im Berliner Lokal-Anzeiger.10 Hans Schnoor teilte in seiner Kritik im Dresdner Anzeiger diese Meinung, auch wenn er dif8 Alle Zitate nach Walton, Othmar Schoeck (wie Anm. 1), Kap. 5, „Griechen und Amazonen“, S. 145–171. 9 Vgl. Unseld, Man töte dieses Weib (wie Anm. 4), S. 28. 10 Ludwig Misch, „Penthesilea“ (Besprechung der Uraufführung), in: Berliner Lokal-Anzeiger, 10.1.1927.

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ferenzierter urteilte und neben „leer und laut wirkenden“ dramatischen Szenen insbesondere „die üppige, sinnliche, farbige Lyrik“ in der Musik rühmte.11 Auch Karl Schönewolf akzentuierte in den Dresdner Neuesten Nachrichten den Lyriker Schoeck, den er offensichtlich schätzte und folgert: „Der PenthesileaVorwurf war zu gewaltig. Seine hohe lyrische Begabung mag auf gemäßerem Boden fruchtbarer noch gedeihen.“12

Abb. 1  Penthesilea, Szenenbild der Uraufführung am 8.1.1927. (Archiv Sächsische Staatsoper Dresden, Foto: Ursula Richter.)

Es ist geradezu grotesk, wie die Rezensenten das heiße Eisen der beißenden Figur der Femme fatale meiden und sich lieber hinter der Kleist’schen Vorlage verstecken, die etwa als „ungeheuerste Vision eines Mythos, die je einen Dichter überfiel“ (Schönewolf ) bezeichnet wird. Schnoor attestierte der schoeck’schen Vorlage, dass „trotz des zusammengeschrumpften Organismus, aus der Fülle des Genies genug [blieb], um Kleist daran zu erkennen“. Nicht die Geschichte an sich verurteilt Otto Schmid in seinem Verriss in der Sächsischen Staatszeitung, sondern die Unfähigkeit des Komponisten zur Umsetzung:

11 Hans Schnoor, „Schoecks Penthesilea“. Uraufführung im Dresdner Opernhaus, in: Dresdner Anzeiger, 10.1.1927. 12 Karl Schönewolf: „Schoecks Penthesilea-Oper. Uraufführung im Opernhaus“, in: Dresdner Neueste Nachrichten, 11.1.1927.

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Der bis zur Starrheit grüblerische Geist Kleist hat sich niemals als musikalisch eigentlich befruchtend auswirken können, und gerade auch die Tragödie von der Liebe der Amazonenkönigin Penthesilea zu Achilles, den sie in einem Wahnsinnsanfall tötet, ist viel zu sehr auf dialektische Auseinandersetzung gestellt, als dass sie einen Musiker, wie es doch sein muss, gefühlsmäßig hätte inspirieren können.13

Mehrfach wird auch der Vergleich zur Elektra angeführt, allerdings nur im Musikalischen, um zu konstatieren, dass Schoeck nie dessen expressive Wucht erreiche.

Abb. 2  Irma Tervani als Penthesilea, 8.1.1927. (Archiv Sächsische Staatsoper Dresden, Foto: Ursula Richter.)

Über die szenische Umsetzung dieser so schwierig zu fassenden Tragödie durch Regisseur Waldemar Staegemann erfährt man kaum etwas, außer dass „die Aufmachung des Ganzen in Bild, Trachten usw. keinen Wunsch offen liess“ (Otto Schmid), oder dass Staegemann „alles Menschenmögliche getan habe, um die in der Oper traditionell gegebene Pathetik zu mildern“ (Schönewolf ). Interessante Hinweise auf die Art, wie Penthesilea 1927 dargestellt und vom Publikum empfunden wurde, ergeben sich aus der Schilderung der beiden Protagonistinnen. Bei Friedrich Plaschkes Achill wird durchwegs „die Weiche seiner Stimme“ und die „geistige Verzauberung seines Gemüts“ gelobt oder er wird allenfalls als „blässlich und blutarm“ (Ludwig Misch) bezeichnet. Als eklatanter Gegensatz dazu Irma Tervani als Penthesilea, eine „vom Anfang bis zum Ende des Stücks pervers hysterische Gestalt“ (Misch). Differenzierter die Schilderung von Schönewolf: Überragend Irma Tervani. Es liegt vielleicht an Schoeck, wenn sie mehr Furie als Grazie war. Unheimlich diese hochgereckte, stolze Gestalt mit dem rötlich flammenden Haarbusch, dieses zuckende Gefäss einer vulkanisch ausbrechenden Seele. 13 Otto Schmid, „Othmar Schoecks Penthesilea. Uraufführung in der Staatsoper“, in: Sächsische Staatszeitung, 10.1.1927.

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Die szenische Lesart tendierte offensichtlich auf die Akzentuierung der Titelfigur als Femme fatale, während Achill „nur repräsentiert werden kann“, wie Otto Schmid definiert. Nach dem mäßigen Erfolg der Dresdner Uraufführung komponierte Schoeck in die Mitte des Dialoges zwischen Penthesilea und Achill ein Duett hinein, wohl auch, um dem Ruf nach dem feingeistigen Schoeck gerecht zu werden, den Karl Schönewolf so gezielt ansprach: „Das Erstaunlichste: Der Lyriker Schoeck lässt sich die Rosenszene entgehen.“ Schoeck komponierte genau diese „Rosenszene“ als wunderbar fließendes, veritables Liebesduett, das wohl auch menschliche Züge ins Geschehen hineinbringen sollte. Musikalisch sinnfällig herrscht hier kontinuierlicher Gesang, harmonische Lyrik und motivische Dichte – eine Liebesszene in klassisch-romantischer Operntradition, mit der Schoeck das Lyrische bediente, das nach Auffassung der Rezensenten beim Urtext zu kurz gekommen war. Am Grundsatz seiner Dramaturgie einer dämonischen Verbindung von Weiblichkeit zum Tod und Töten änderte sich damit aber nichts. Der Schluss ist und bleibt ganz der Penthesilea zugedacht, ihrem Tod, der in der Tradition des Rätsel-Weibes als Selbstaufgabe oder -vernichtung steht. Schoeck betont die finale Dominanz der Musik, der Schluss sei „ganz in Musik getaucht“. In der Regieangabe schreibt er ähnlich wie Richard Wagner zu Isoldes Liebestod beim Tristan: „Sie stirbt und gleitet aus den Armen Prothoes auf die Leiche Achills.“ Und doch ist dies kein Liebestod, der die ekstatische Vereinigung mit dem Geliebten erst in der Auflösung ermöglicht. Schoeck hat konsequenterweise einen unaufgelöst dissonanten Schluss komponiert, Penthesilea sühnt sich selbst für ihren dämonischen Sadismus – ein solches Weib darf nicht weiter leben. Auch in der erweiterten Fassung war Penthesilea kein nachhaltiger Erfolg beschieden, und so verschwand die Oper nach einigen wenigen Produktionen nach dem Tod ihres Schöpfers 1957 fast gänzlich von der Bildfläche. Zum 50. Todestag von Othmar Schoeck wagten sich in der Saison 2007/2008 dann gleich zwei renommierte Häuser und Regieteams an die delikate Aufgabe einer Neuinszenierung von Penthesilea: In Basel waren es Regisseur Hans Neuenfels und Dirigent Mario Venzago, in Dresden Günter Krämer und Gerd Albrecht, die sich der Tragödie annahmen. Es geschah Erstaunliches: Beide Produktionen wurden zu preisgekrönten Erfolgen. Das Regietheater von Neuenfels und von Krämer hinterfragte kritisch den Inhalt des Stückes, interpretierte den Geschlechterkampf auf moderne Weise und bezog auch die Befindlichkeit der geistigen Schöpfer des Werkes in ihre Bewertung ein. Die Basler Aufführung wurde in der Kritikerumfrage der Opernwelt 2008 zur „Aufführung des Jahres“ gewählt, während die Interpretin der Dresdner Penthesilea, Iris Vermillion, den Deutschen Theaterpreis „Der Faust“ in der Kategorie „Beste Sängerdar-

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stellerleistung im Musiktheater“ erhielt. In Dresden wie in Basel wurde das Thema in den Lebenswelten des 21. Jahrhunderts positioniert, und in beiden Produktionen gelang es, mythologische, kleist’sche, schoeck’sche und moderne Sichtweisen zu einer schlüssigen Deutung zu verbinden. In Dresden beginnt Günter Krämer seinen Abend mit Kleist, allerdings nicht à la 1927 mit bewunderndem Blick auf das Genialische der klassischen Dichtung.

Abb. 3  Penthesilea-Inszenierung in Dresden, Markus Nieminen und Iris Vermillion, Foto: Mathias Creutzinger, Dresden.

Vielmehr faucht die Schauspielerin Anna Franziska Srna Passagen aus frauenfeindlichen Briefen Kleists an seine Cousine Marie in den Raum. Damit ist der Rahmen des Abends „mit einem ordentlichen Schuss antiweiblichen Ressentiments“ 14 abgesteckt. Tatsächlich präsentiert Krämer die männliche Gefolgschaft Achills in Tarnanzügen, während die Amazonen als weiß geschminkte „Masken von Weiblichkeit“ erscheinen. Eine unüberwindliche Wand auf der Bühne türmt sich auf „zwischen Achilles und Penthesilea, aber auch zwischen Mann und Frau an sich“, wie der Redakteur von Bayern 4 Klassik parabelhaft deutet. Darauf steht majestätisch Achill, quasi als Statue auf dem Podest, bis er sich herablässt zur unterlegenen Penthesilea im Reifrock. Uwe Friedrich von Deutschlandradio Kultur kommentiert dazu: „Diese Liebe scheint noch unbeschwert, aber sie kann nicht dauern, weil sie auf List, Täuschung und Lüge basiert. Obwohl Achill Penthesilea liebt, wird er sie beinahe vergewaltigen, obwohl auch Penthesilea Achill liebt, wird sie ihn bald im Rausch zerfleischen. [...] Wenn dann Penthesilea erscheint, über und über mit Blut besudelt, ist 14 Penthesilea-Kritik in Bayern 4 Klassik, 10.2.2008.

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das beeindruckender als es das pseudorealistische Schocktheater etwa eines Calixto Bieito je sein kann.“15 Während die männlichen Kritiker sich trotz der blutbesudelten Schlussszene und harten Geschlechterfronten von Krämers Deutung beeindruckt zeigen, beschreibt die FAZ-Redakteurin Julia Spinola die beiden Lager als „ein Heer frigider Zicken und eine Rotte männlicher Kampf- und Vergewaltigungsmaschinen in militärischen Tarnanzügen“. Zum entsetzlich blutrünstig inszenierten Schlussbild folgert sie: „Achill wird denn von Penthesilea auch nicht in Stücke gerissen, sondern – so muss man den Blutfleck auf dem ansonsten intakten Leichnam wohl deuten – schlicht entmannt.“16 Entsprechend ungnädig ist die Bewertung Spinolas: An der Tragik des Stücks, an der Größe der Figuren geht das vollständig vorbei. Davon, dass hier zwei Gestirne aufeinanderprallen, dass zwei Menschen an ihrer fatal entgrenzten Liebe zueinander schier verglühen, ist auch deshalb wenig zu spüren, weil diese Liebe bei Krämer immer entweder primitiv brutal oder unerträglich harmlos ist: Buchstabe für Buchstabe malt der verliebte Achill mit dem Finger Penthesileas Namen in die Luft. Gemeinsam malen sie ein Herz: ‚Make love, not war!‘17

Auch die Basler Inszenierung von Hans Neuenfels fokussiert auf den von Schoeck so dezidiert dargestellten und von NZZ-Kritiker Peter Hagmann als grausam empfundenen Geschlechterkampf.18 Hier sind die Amazonen in langen blauen Mänteln als leicht überschminkte Suffragettentruppe gezeichnet, während die Männer ironisierend einen Machohaufen aus Cowboys, Piraten, Toreros und Al Capones bilden. Achill erscheint, anders als der sinnierende Friedrich Plaschke in der Uraufführung, als strahlender Sunnyboy mit blond wallenden Haaren. Die ganz große Überraschung in Basel ist Tanja Ariane Baumgartner als Penthesilea, eine schlanke, zierliche Person ohne jegliche ‚Megärenallüren‘. Keine Furie mit rötlich flammendem Haarbusch wie die Irma Tervani in der Uraufführung, sondern eine ruhige und lachend den Amazonen zuwinkende junge Frau mit einer „einnehmenden Stimme, die mehr dunkelmild schimmert als heroisch dröhnt“ (Claus Spahn).19 Am Schluss schiebt sie einen Roll15 Uwe Friedrich, Penthesilea-Kritik im Deutschlandradio Kultur, 10.2.2008. 16 Julia Spinola, „Da werden Männer zu Hyänen“, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 13.2.2008. 17 Ebd. 18 Peter Hagmann, „Geschlechterkampf gestern und heute“, in: Neue Zürcher Zeitung, 12.2.2008. 19 Claus Spahn, „Jetzt ist uns das Süßeste erreicht!“, in: Die Zeit, 8.11.2007.

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Abb. 4  Penthesilea-Inszenierung in Basel, Friedrich Plaschke und Tanja Ariane Baumgartner, Foto: Theater Basel.

stuhl mit bluttriefenden Koffern vor sich her, in denen sie den zerstückelten Geliebten mitführt – ein verstörendes Bild, das man nicht so leicht vergisst, und das Manuel Brug in Die Welt pathetisch kommentiert: Bei Neuenfels bringt Penthesilea den toten Geliebten in drei blutigen Koffern auf einem Rollstuhl zurück, kost rosenblütenbekränzt diese im stillen Wahnsinn wie auch den triefenden Todespfeil, bis sie – wie Elektra – die Verzückungsekstase letal niederstreckt. [...] Neuenfels gelang eine so uneitle wie grandios strenge Operndeutung des als psychotisches Liebesdrama fast unmöglich gewordenen Werks.20

Der Kreis hat sich geschlossen, denn das, was bei der Uraufführung noch negiert wurde, wird nun in Regie und Kritik benannt und in die Nähe zu Elektra gerückt. Gerade die inszenatorische Offenlegung des geschlechterkonfliktträchtigen Stoffes macht den Weg frei für die Musik, weg vom verfestigten Bild des Lyrikers Othmar Schoeck hin zum hochexpressiven Musikdramatiker, wie er sich in Penthesilea tatsächlich präsentiert. Schoecks Musik erinnere in manchem an Elektra, sei aber insgesamt „kantiger, zugleich von faszinierender Unmittelbarkeit und Bildhaftigkeit, voller Kraft“, befindet Elisabeth Schwind im Südkurier.21 Gerhard W. Koch lobt: „Die Aufführung bestätigte den Rang des Werkes, mit den Extremen sowohl der dissonanzreichen Harmonik wie des gellenden Klangs von zehn Klarinetten, der operunüblichen Farbe zweier Klaviere“.22 Als „spröder, brüchiger, weniger geglättet“ als bei Strauss bezeichnet Sigfried Schibli von der Basler Zeitung Schoecks Musik und folgert „diese Wiederbegegnung mit einer fast vergessenen Oper lohnt sich auch musikalisch.“23 20 Manuel Brug, „Der tote Geliebte im Koffer“, in: Die Welt, 7.11.2007. 21 Elisabeth Schwind, „Klassik ohne Faltenwurf“, in: Südkurier, 6.11.2007. 22 Gerhard R. Koch, „Der Schrecken braucht Form“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7.11.2007. 23 Sigfried Schibli, „Küsse, Bisse, das reimt sich“, in: Basler Zeitung, 5.11.2007.

Penthesilia – ein Grenzen sprengendes Rätsel-Weib

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Und selbst Julia Spinola kann sich der Faszination von Schoecks Musiksprache nicht entziehen, die Gerd Albrecht in Dresden so großartig auslotete: Avanciertheit, expressionistische Härte und dramatische Wucht der ‚Penthesilea‘Musik lagen bei Gerd Albrecht und der famosen Staatskapelle in den besten Händen. Der außergewöhnlichen Orchesterbesetzung mit vorherrschenden Bläsern, zwei Klavieren und üppig bestücktem Schlagzeug verlieh die Kapelle einen stimmungsvoll dunkel grundierten, noch in den massivsten Auftürmungen differenzierten Klang. Schoecks polytonal-dissonante Harmonik kam atmosphärisch zur Geltung. Hörbar wurde, wie viel Strawinsky in dieser herben, oft manisch rhythmisierten, raffiniert aus grundierenden Klangbändern, jäh einfallenden Sologesten und brachialem Schlagwerk geschichteten Musik, neben den offensichtlicheren Anklängen an die verwandte ‚Elektra‘, auch steckt. Durchaus sturmwindartig.24

Schoeck erscheint nunmehr dank der modernen Vermittlungsform der Regie durchwegs als dramatisch versierter Komponist, wobei der Geschlechterkampf nicht nur als ernstzunehmendes Programm wahrgenommen, sondern sogar pointiert akzentuiert wird. Entsprechend reißerisch präsentieren sich die Zeitungstitel: „Der tote Geliebte im Koffer“ (Die Welt), „Da werden Männer zu Hyänen“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung), „Geschlechterkampf gestern und heute“ (NZZ), oder „Das gemordete Glück“ (Der Tagesspiegel). Wie analysiert doch Melanie Unseld so weitsichtig: „Die traditionelle musikalische Formsprache und Tonalität, die als Repräsentation des männlich hegemonialen Bürgertums und dessen moralischen Ansprüchen galt, wird mit Hilfe einer weiblichen Figur durchbrochen.“ Und weiter: Strauss selbst empfand Salome und Elektra als Endpunkt einer Entwicklung, die nicht zu überschreiten sei, weder in kompositorischer Hinsicht noch in der Darstellung von sexuell abwegigen und hysterischen Frauenfiguren.25

Dies trifft auch auf Schoeck zu, bei dem Penthesilea Kulminations- und Endpunkt seiner musikalisch avantgardistischen Ambitionen war. Ob sich Schoecks Penthesilea nach so gelobten Aufführungen nun doch noch auf der Bühne wird etablieren können? Die einen meinen „ja“, die anderen bezweifeln es – als zu „unerbittlich“, ja „unappetitlich“ wird das Werk bzw. seine Titelfigur empfunden.

24 Spinola, Da werden Männer zu Hyänen (wie Anm. 16). 25 Unseld, Man töte dieses Weib (wie Anm. 4), S. 170.

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Kommissar M. und die tote Melusine1 Kriminalgeschichte Es war noch dunkel an diesem späten Septembermorgen des Jahres 1932, als Kommissar M. die neue heimelige Wohnung am Boulevard Richard Lenoir und seine junge Frau verließ, um sich wie jeden Morgen mit der Metro in sein Büro am Quai des Orfèvres zu begeben. Es waren nur drei Stationen bis Châtelet, aber als er dort ankam, hatten sich die Wolken gelichtet und es schien endlich Tag werden zu wollen. Ehe er die Pont au Change überquerte, um zu seinem Dienstgebäude auf der Seine-Insel zu gelangen, kam es ihm wider alle Gewohnheit in den Sinn, einen Abstecher bei Tonio zu machen. Er ließ sich am Tresen ein kleines blondes Bier zapfen und leerte das Glas gelassen, aber zügig im Stehen. „Haben Sie schon gehört?“, fragte Tonio und hörte nicht auf, mit routinierten Bewegungen frisch gespülte Gläser mit einem rot karierten Küchentuch zu polieren. „Was?“ Der Kommissar setzte seine erste Pfeife in Brand, die er auf dem Fußweg zu rauchen gedachte. „Hat fürchterlich gebrannt heute Nacht. Haben sie gerade im Radio durchgegeben. In Auteuil. Die Villa von einem Grafen sowieso. Meine Großtante hat früher in Auteuil gewohnt. Hatte einen schönen großen Garten.“ M. ließ eine Münze auf das Kupfer der Schankanlage fallen und nickte zum Abschied. „Bis später.“ „Bis später, Chef !“ Am Quai des Orfèvres warteten die Inspektoren Lucas und Janvier bereits ungeduldig auf seine Ankunft. Lucas hatte einen Dienstwagen besorgt und spielte nervös mit dem Schlüssel. „Zwei verkohlte Leichen in Auteuil, noch nicht identifiziert. Es wird sich wohl um einen Unfall im Zusammenhang mit der Brandkatastrophe handeln. Aber wir sollen mal nach dem Rechten schauen.“ 1 In Anlehnung an meine wissenschaftliche Hausarbeit zur Erlangung des akademischen Grades einer Magistra Artium im Jahre 2005 im Fach Historische Musikwissenschaft an der Universität Hamburg mit dem Titel Die Oper Melusine von Aribert Reimann, geprüft von Prof. Dr. Peter Petersen und Prof. Dr. Beatrix Borchard.

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M. legte seine Pfeife zum Abkühlen auf den Schreibtisch und überflog den knappen Bericht, der ihnen von der Einsatzzentrale zugestellt worden war. „Rue Jasmin, ist das noch Auteuil? Ziemlich weit draußen, oder?“ „Neubaugebiet“, meinte Janvier. „Waren früher Kleingärten, verwilderte Parks, ein schönes Gelände. Heute wird alles zugebaut. Ich will ja nicht drängeln, aber wir werden erwartet.“ Die Rauchsäule, die die Brandstätte kennzeichnete, war schon vom Kreisverkehr am Trocadéro aus sichtbar. Der Westwind trug ihnen Rauchgeruch entgegen und die drei Männer waren still, als sie ihr Auto an der Brandstelle parkten. Löschwagen und neugieriges Publikum versperrten die Sicht. Auf der einen Seite der Straße standen hübsche moderne Wohnblocks. Auf der anderen lag ein großer verwilderter Park, der von einer hohen Steinmauer umgeben war. In diesen Garten hinein hatte sich vor kurzem Graf L., letzter Spross eines alten burgundischen Adelsgeschlechts, ein hochmodernes, luxuriöses Stadtchalet bauen lassen, dessen Einweihung am vergangenen Wochenende aufwändig gefeiert worden war. Am Ende der Feier war durch noch unbekannte Ursache ein Feuer ausgebrochen, das sich rasch über das ganze Haus verteilt habe, erfuhren die Polizisten. Soweit bis jetzt bekannt, hatten alle Gäste sich ins Freie retten können. Nur der Hausherr selbst wurde noch vermisst. Man musste annehmen, dass er als einer der beiden verkohlten Leichname identifiziert werden würde, die heute Morgen in der Brandstätte gefunden worden waren – Seite an Seite auf einem Diwan im Erdgeschoss des Hauses liegend. Wer die zweite Leiche war, galt es noch herauszufinden. Ungeklärt war auch noch die Ursache des Feuers. Da es zu Protesten gegen den Schlossbau und die Zerstörung des Gartens gekommen war, konnte man Brandstiftung nicht ausschließen. M. stopfte sich eine neue Pfeife, entzündete sie – trotz oder gerade wegen des Brandgeruchs, der in der Luft lag, war ihm dies ein Bedürfnis – und begab sich mit seinen beiden Mitarbeitern an den Ort des Geschehens. Bis zur Mittagszeit hatten die Kriminalpolizisten sowohl die Leichname als auch die Brandruine in Augenschein genommen, soweit diese bereits zugänglich war. Sie hatten mit zahlreichen Gästen und den Verwandten des Grafen gesprochen, deren Entsetzen über seinen Tod den Schock durch den Brand noch überstieg, obwohl die Feuersbrunst ungeheuerlich und erschreckend gewesen war. „Ich verstehe nicht, warum er nicht hatte entkommen können wie wir alle“, hatten sich mehrere Zeuginnen und Zeugen gefragt. „Es war doch Zeit genug, um das Gebäude zu verlassen.“

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„Die Türen in den Garten waren ja geöffnet“, erklärte eine alte Dame, deren versengte Haarspitzen und Augenbrauen davon zeugten, dass sie dabei gewesen war. „Sogar wir Alten konnten uns retten. Es ist mir ein Rätsel.“ Ein Rätsel blieb auch die Identität der zweiten Leiche. Der Gerichtsmediziner stellte fest, dass es sich um eine Frau handelte und bestimmte ihr Alter auf zwischen 25 und 30 Jahre. Ihre Haarfarbe war rotbraun gewesen, ihr Gesundheitszustand gut. Sie war ungefähr einen Meter fünfundsechzig groß, zierlich, schlank und wohlgestaltet. Vermutlich hatte sie ein grünes, silbern schimmerndes Kleid getragen, von dem ein winziger Stofffetzen übrig geblieben war, ein schmaler Schnipsel in der Form eines Fischschwanzes. Als ihnen der Stoffrest gezeigt wurde, erinnerten sich plötzlich einige der Gäste an die Frau: „Es stimmt, der Graf hat fast den ganzen Abend mit einer jungen Frau getanzt. Niemand kannte sie.“ – „Sie sah fast noch aus wie ein Kind.“ – „Sie schienen sich sehr nahe zu stehen, wie frisch Verliebte.“ Auch der persönliche Diener des Grafen wagte es nun, seine Eindrücke beizusteuern: „Eine unbekannte junge Dame. Sie erschien erst, als die Feier schon begonnen hatte. Da ich sie nicht kannte, wollte ich sie nicht hereinlassen. Aber dann kam der Graf dazu. Er nahm sie einfach am Arm und führte sie in den Saal. Ich kann nicht sagen, ob er die Person schon vorher kannte oder in dem Augenblick zum ersten Mal sah. Ich hatte sie jedenfalls noch nie zuvor gesehen.“ M. hatte irgendwann genug gehört und gesehen. Während Lucas und Janvier damit beschäftigt waren, Adressen aufzunehmen und Protokolltermine zu vergeben, stapfte der Kommissar die schmale, noch immer vom Brandgeruch beherrschte Rue Jasmin hinab bis zum nächsten großen Boulevard und kehrte ein in das erstbeste Bistro. Hier wurden Tripes à la Tomate zum Mittagstisch angeboten, sein Leibgericht. Und das einzige, das Madame M. trotz liebevollster Fürsorge nicht für ihn zubereitete, weil sie Kutteln nicht ausstehen konnte. Der Kommissar klopfte seine Pfeife an der Schuhsohle aus, betrat das Bistro und setzte sich an den Tresen. Dem Herrn neben ihm, einem schmalen jungen Mann mit weichen, runden Gesichtszügen und kurzem dunklem Haar wurde gerade ein Teller Tripes hingestellt. „Guten Appetit“, wünschte der Kommissar. Der Mann sah überrascht auf und sagte dann sehr leise: „Danke.“ „Und?“, lauerte M., nachdem der andere den ersten Bissen gekostet hatte. „Gut?“ Der Mann nickte. Dann nahm er M. genauer in Augenschein. „Sie sind nicht von hier?“ „Quai des Orfèvres, Kriminalpolizei. Wir ermitteln wegen des Brandes in der Rue Jasmin. M. ist mein Name.“

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„Yvan Goll“, sagte der Mann und schaute wieder auf seinen Teller. „Sie wohnen hier? Haben sie den Brand miterlebt?“ „Ich wohne in einem Haus gegenüber des Gartens“, sagte Goll. Er schien plötzlich den Appetit verloren zu haben und ließ seine Gabel sinken. Der Kommissar trank einen Schluck Bier aus dem Glas, das der Wirt ihm hingestellt hatte, und schob sich die leere Pfeife zwischen die Zähne, wie um seinem Gesprächspartner zu signalisieren, dass er geduldig wartete bis dieser weiter spräche. Aber da kam nichts mehr. Goll schob seinen Teller von sich weg. „Yvan“, sagte der Wirt und nahm den Teller vom Tresen. „Nimm es dir doch nicht so zu Herzen. Sie wird schon wieder kommen. Sie ist noch immer zurückgekommen.“ M. schaute interessiert von einem zum anderen. „Sie?“, fragte er schließlich. „Wer ist sie?“ „Seine Frau, Claire. Stimmt’s, Yvan? Das ist es doch, was dich bedrückt. Sie ist ihm mal wieder davongelaufen“, fuhr der Wirt fort, an den Kommissar gewandt. „Aber sie kommt bestimmt zurück. Eine Dichterin. Ein bisschen … tralala.“ Er lachte. „Künstler eben, so sind sie, die Literaten von Paris.“ „Sie sind Schriftsteller?“, fragte M. und nahm schweren Herzens Abschied von den Tripes à la Tomate. Sie rochen köstlich, genauso wie die seiner Mutter. „Seit wann ist Ihre Frau verschwunden?“ „Seit gestern. Gestern Mittag habe ich sie zuletzt gesehen. Sie wollte einen Spaziergang machen.“ „Einen Spaziergang“, wiederholte M.. „Ihre Frau kannte nicht zufällig Ihren neuen Nachbarn von gegenüber, den Grafen von L.?“ Yvan Goll hob den Kopf. Der Blick, mit dem er den Kommissar ansah, erinnerte an den eines waidwunden Tiers. Er zuckte die Achseln. „Ich fürchte, ich muss Ihnen etwas zeigen, Monsieur Goll“, sagte M. langsam. „Wenn Sie mich bitte begleiten wollen?“ Der Dichter konnte den Leichnam der jungen Frau nicht eindeutig als seine Gattin identifizieren. Er konnte jedoch auch nicht ausschließen, dass sie es war. Verschiedene Laboruntersuchungen würden vielleicht Aufschluss bringen. Bis dahin aber wurde der arme Mann in Untersuchungshaft genommen und Stunden und Tage am Quai des Orfèvres verhört. Lucas und Janvier verbissen sich regelrecht in ihn. Er war zur Zeit des Brandes allein zuhause gewesen und hatte auf seine Frau gewartet. Eine Hausdurchsuchung brachte Briefe und Gedichte zutage, die von bewegten Auseinandersetzungen der jungen Eheleute zeugten. Offenbar war Madame Goll eine geschickte Verführerin mit zahlreichen Verehrern. Der arme Yvan schien sich nur mit Gedichten gegen diese Verletzungen wehren zu können.

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„Traurig. So schöne Gedichte“, erklärte Madame M. abends verträumt. Sie hatte die brandig riechenden Kleider ihres Mannes gelüftet und hörte nun den Versen zu, die er ihr aus einem schmalen Cahier vorlas. „So jemand legt kein Feuer“, stellte sie fest. „Der legt nur Feuer in die Herzen, mon Chéri. Ihr seid auf der falschen Spur.“ „Und wer hat dann hat die Villa in Brand gesteckt?“, murmelte der Kommissar. Madame M. zuckte die Achseln. „Böse Geister gibt es überall. Du wirst sehen, die junge Frau kommt sicher bald wieder zurück.“ Aber auch zwei Wochen nach dem schrecklichen Unglück war die Dichterin noch nicht wieder aufgetaucht. Schließlich musste Yvan Goll mangels Beweisen aus der Haft entlassen werden. Viele Jahrzehnte später, im Herbst des Jahres 1972, befand Kommissar M. sich bereits seit mehreren Jahren im wohlverdienten Ruhestand. Er lebte noch immer in Eintracht und Frieden mit seiner Frau zusammen in der kleinen Wohnung am Boulevard Richard Lenoir unweit der Place de la Bastille. Eines Tages erstand Madame M., wie es ihr hin und wieder einfiel, zwei Theaterkarten für sich und ihren Mann. „Ich weiß, mein Lieber, die Oper ist nicht dein Fall. Aber dieses Stück, dachte ich, könnte dich interessieren.“ M., der gerade eine seiner Pfeifen stopfte, die er nach Möglichkeit versuchte, draußen im Freien, auf dem allmorgendlichen Weg zu seinem Stammbistro oder zum Zeitungskiosk zu rauchen, sah von seiner Beschäftigung auf und studierte die Billets, die seine Frau ihm reichte. „Melusine“, las er laut. „Oper von Aribert Reimann, Libretto von Claus H. Henneberg, nach dem gleichnamigen Drama von Yvan Goll2.“ Er stutzte und sah seine Frau staunend an. „Yvan Goll, das war doch …“ „… der junge Dichter, den ihr seinerzeit verhaftet hattet wegen des Brandes in Auteuil.“ „Ich bewundere wieder einmal dein phänomenales Gedächtnis“, sagte M. und überlegte, wie damals der Fall ausgegangen war. Gar nicht, fiel ihm schließlich ein. Einer der wenigen unrühmlichen Fälle im Laufe von vielen, vielen Dienstjahren, die er nicht hatte aufklären können. Seine Kollegen hat2 UA der Oper 1971 in Schwetzingen, in Paris bis jetzt noch nicht aufgeführt. Das Schauspiel von Yvan Goll entstand 1920 in französischer Sprache und wurde von ihm 1930–32 vollständig überarbeitet, UA 1956 in Wiesbaden. Erschien zuerst in deutscher Sprache als Typoskript, dann in der Werkausgabe: Yvan Goll, Dichtungen. Lyrik, Prosa, Drama, hrsg. von Claire Goll, Berlin 1960.

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ten den Tod des Grafen und der unbekannten Frau als Unfall deklariert. Aber im Grunde hatten sie alle gewusst, dass dies nicht erwiesen war und mehr der Verklärung der Statistik diente. Eine offene Rechnung, eine Lücke, die er nur zu gern schließen würde. Er ertappte sich dabei, seine Pfeife in der Wohnung entzündet zu haben und beeilte sich, Hut und Mantel zu nehmen, um Madame M.s Vorhänge zu schonen. Nicht ohne sich vorher in aller Form bei ihr für ihre Aufmerksamkeit zu bedanken. Bis zum Abend lief er durch die Straßen von Paris, stöberte lange in den Regalen verschiedener Buchhandlungen und wartete schließlich ungeduldig auf seine Frau, bis sie endlich zur vereinbarten Stunde vor dem prächtigen alten Palais Garnier erschien. Arm in Arm betraten sie das eindrucksvolle Opernhaus und nahmen ihre Plätze ein, die so günstig gewesen waren, dass Madame M. sogar Parkettsitze hatte buchen können. „Moderne Musik – da bleiben die Abonnenten zuhause“, sagte die Platzanweiserin und führte sie zu ihrer Reihe. Bis der Vorhang sich hob, war das große Haus kaum zur Hälfte besetzt. Vom ersten Takt an zogen ungewöhnliche Klangereignisse das Publikum in ihren Bann. In Ermangelung seiner Pfeife ergriff der Kommissar schon am Ende des kurzen Orchestervorspiels die Hand seiner Frau und ließ sie bis zur Pause nach dem 2. Akt nicht wieder los. Die exzentrischen Arien der Melusine, gespickt mit hohen und höchsten Tönen, ließen ihn erschauern, drollige Auftritte von Waldgeistern und Gnomen mit eigenwilligem Sprechgesang brachten ihn zum Lächeln, ein inniges Liebesduett im zweiten Teil nach der Pause schließlich ließ sein Herz schmelzen. Schulter an Schulter, Kopf an Kopf lauschte das Ehepaar M., das in diesem Sommer feierlich seinen Goldenen Hochzeitstag bei einem zünftigen Picknick im Bois de Boulogne begangen hatte, den Liebesschwüren des Grafen von Lusignon und der betörenden Melusine, einem Wasserwesen, halb Fisch, halb Frau, das ihn anfangs wegen seines die Natur zerstörenden Schlossbaus bekämpft, sich dann aber in ihn verliebt hatte. Am Ende starben die beiden Liebenden in einer musikalisch schauerlich dargestellten Feuersbrunst. Kaum war der letzte Ton der Oper verklungen, drängelte der Kommissar sich von seinem Platz in der Mitte der Reihe an zahlreichen Knien vorbei und ließ sich an der Garderobe Mantel und Hut reichen. Ein Taxi brachte ihn direkt zu seinem ehemaligen Büro am Quai des Orfèvres. Man kannte ihn noch überall. Ohne Zögern wurden ihm die Akten des Falls aus dem Jahr 1932 gebracht. Noch spät in der Nacht führte er zahlreiche Telefonate und las dann bis in die frühen Morgenstunden in seinen Funden aus den Buchhandlungen. Als Janvier und Lucas, beide inzwischen kurz vor der Pensionierung, am Morgen ins Büro kamen, wunderten sie sich nicht schlecht, ihren alten Chef dort

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vorzufinden. Aber der hatte weder Augen noch Ohren für ihre freundliche Begrüßung. Er bat Janvier, einen Dienstwagen zu besorgen und ihn in die Rue Vaneau zu fahren. Yvan Goll ruhte bereits seit 20 Jahren auf dem Friedhof Père Lachaise, das war schon im Programmheft zu lesen gewesen. Aber darin wurde auch Claire Goll für ihre intensive Mitarbeit am Libretto der Oper gedankt – sie war also wieder aufgetaucht! Und lebte in Paris, wie M. inzwischen herausgefunden hatte. Aufgrund ihrer jüdischen Abstammung hatten sie und ihr Mann Yvan 1939 aus Europa fliehen müssen und Krieg und Nazizeit im amerikanischen Exil überlebt. Die Dichterin, inzwischen über 80 Jahre alt, öffnete ihnen selbst die Tür ihrer kleinen Dreizimmerwohnung im fünften Stock und ließ sie eintreten. M. fragte sich, ob er selbst sich in den vergangenen Jahren auch nur so wenig verändert hatte. Die hübschen, etwas frechen Züge der jungen Dichterin waren noch immer unter denen der alten Frau sichtbar. In einem vollgestellten Arbeitszimmer bot sie ihnen zwischen Unmengen von Büchern und Papieren einen Platz an. Die Wände waren lückenlos mit Gemälden und Fotografien bedeckt. „Madame Goll, ich war gestern Abend in der Oper. Es gab Melusine von Aribert Reimann.“ Ein entzücktes Lächeln erschien auf dem Gesicht der alten Dame. „Schön, nicht wahr? Eine sehr beeindruckende Oper. An dem Libretto habe ich selbst mitgearbeitet. Ich war ständig mit Herrn Reimann und seinem Librettisten, Herrn Henneberg, in Kontakt.“ „Mich interessiert vor allem das Schauspiel ihres Mannes, das dem Libretto zugrunde liegt“, fuhr M. fort. „Er hat es Anfang der 20er Jahre begonnen und kurz nach dem Brand des Schlosses in der Rue Jasmin im September 1932 noch einmal überarbeitet und fertig gestellt. Sie erinnern sich?“ “Natürlich erinnere ich mich. Diese entsetzliche Brandkatastrophe.“ „Sie waren damals verschwunden. Wir hatten Ihren Mann verhaftet und befürchteten, dass Sie die unbekannte Frau wären, die mit dem Grafen zusammen verbrannt war.“ Claire Goll lächelte wieder, aber diesmal eher verschmitzt als entzückt. Sie strich sich eine karottenrot gefärbte Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ich weiß, dass Goll das glaubte. Und so sollte es ja auch sein.“ „Ihr Mann hat sich damals sehr große Sorgen um Sie gemacht.“ „Dazu hatte er auch allen Grund. Schließlich hat er mich nach Strich und Faden betrogen.“ „Er hat Sie betrogen?“, fragte Janvier nach. „Ach“, Claire Goll machte eine wegwerfende Handbewegung. „Heute weiß es ja jedes Kind. Diese Putain konnte es nicht schnell genug nach Golls Tod ausplaudern, wie lange sie mit ihm liiert war.“

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„Sie sprechen von Paula Ludwig“, stellte M. fest. Auf Janviers überraschten Blick hin schüttelte er fast unmerklich den Kopf, was soviel bedeutete, wie: später, frag jetzt nicht. „Dieser Name wird in meinen Räumen nicht erwähnt. Auch Goll hat sich daran gehalten.“ Die alte Dame erhob sich, schwankte einen Moment auf unsicheren Beinen, griff dann nach ihrer Krücke und ließ sich langsam wieder in die Polster sinken. „Ich kann Frauen nicht ausstehen. Sie sind oberflächlich und dilettantisch. Pomadisierte und geschminkte Zirkustierchen. Selbst unter den Großen entgeht keine der allgemeinen Kleinlichkeit. Trotz aller feministischen Bewegungen bleibe ich bei meiner Meinung, dass die Frau ein minderes Wesen ist und dem Mann niemals ebenbürtig sein wird.“ 3 M. nickte bedächtig und Janvier stammelte: „Kannten Sie seinerzeit den Grafen von L. persönlich?“ „Ich habe viele große Männer gekannt, sogar Genies: James Joyce, André Malraux, Albert Einstein, Henry Miller, Picasso, Chagall, Majakowski, Rilke … Ihre vorherrschenden Charakterzüge waren meistens eisiger Fanatismus und Verschlossenheit. Ich habe einige Männer geliebt, und sehr viel mehr haben mich geliebt.“ „Hat der Graf Sie geliebt?“ „Wenn man so alt ist wie ich, Kommissar, hat man keine Lust mehr auf Geschichten. Die Zeit ist unerzählbar. Niemand, nicht einmal ich, könnte jetzt noch alle meine Freuden und Schmerzen verstehen.“ „Frau Goll, wo waren Sie in der Brandnacht vom 29. auf den 30. September 1932?“, fragte Janvier streng. „Das weiß ich doch jetzt nicht mehr.“ „Haben Sie eine Ahnung, wer die tote Frau an der Seite des Grafen war, die in dieser Nacht mit ihm gestorben ist?“ Claire Goll schüttelte müde den Kopf. „Ich muss Sie bitten, jetzt zu gehen.“ Kaum standen die Kommissare wieder vor der Tür, überfiel Janvier M. mit seinen Fragen. „Du hast von dieser Geliebten gewusst? Sie muss die unbekannte Tote gewesen sein. Dann ist die Goll dringend tatverdächtig – wir müssen Sie verhaften!“ M. stopfte sich seine Pfeife, während er langsam und bedächtig die Treppen hinunter stieg. „Paula Ludwig lebt heute noch munter und gesund in Deutschland. Für sie hat Yvan Goll die Malaiischen Liebeslieder geschrieben. Zumindest befanden sich die Originalhandschriften seiner berühmten Ge3 Dies und das Folgende zitiert nach: Claire Goll, Ich verzeihe keinem, Bern und München 1978. Die französische Originalausgabe erschien unter dem Titel La poursuite du vent 1977 in Paris.

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dichte den ganzen Krieg über im Keller ihres Hauses in Berlin. Auch Ludwig musste vor den Nazis fliehen, erhielt die Handschriften jedoch nach ihrer Rückkehr wieder – und veröffentlichte Golls Gedichte 1967 in Deutschland. Zum großen Ärger von Claire Goll, die sich als alleinige Nachlassverwalterin ihres verstorbenen Mannes betrachtet!“ „Das kann ich mir vorstellen.“ „Du kannst das alles nachlesen, ich habe die ganzen Bücher am Kai des Orfèvres für euch liegen gelassen. Bist du so nett, mich jetzt nach Hause zu fahren? Meine Frau macht sich sicher schon Sorgen.“ „Und was ist nun mit der Toten in der Rue Jasmin?“ „Ich fürchte, sie war wirklich ein Wassergeist, eine Melusine.“ Janvier schloss den Dienstwagen auf. „Die sich in einen Fisch verwandelt hat und im Löschwasser davongeschwommen ist?“ „Ja, vielleicht“, sagte M., nahm auf dem Beifahrersitz Platz und zündete sich genüsslich die Pfeife an. „Oder so ähnlich.“ Die Oper Melusine von Aribert Reimann, Libretto von Claus H. Henneberg, nach dem gleichnamigen Schauspiel von Yvan Goll – Inhaltsangabe Melusine, eine junge Frau aus kleinbürgerlichem Hause, ist von ihrer Mutter, Madame Lapérouse, mit deren ehemaligen Liebhaber Oleander verheiratet worden. Oleander, ein Immobilienmakler, wünscht sich eine anhängliche Frau, die sich allein um ihn und den gemeinsamen Haushalt kümmert. Melusine jedoch ist ein verträumtes Naturkind, das sich mehr in dem verwilderten Park neben ihrer Villa aufhält als bei ihrem Ehemann. Auch ihre Mutter kann daran nichts ändern. Ihre Ermahnungen fruchten nichts. Melusine verweigert Oleander auch die ehelichen Rechte. Eines Tages begegnet Melusine in ihrem Park einem Landvermesser. Sie erfährt, dass das Grundstück an den Grafen von Lusignan verkauft wurde, der darin ein Schloss bauen wolle. Melusine versucht, den Geometer davon zu überzeugen, dass der Park verzaubert sei und unmöglich vernichtet werden könne. Aber der Geometer lässt sich einzig von Melusines Liebenswürdigkeit überzeugen und verliebt sich in die junge Frau. Kurze Zeit später wird bekannt, dass der Mann von einer Parkmauer gestürzt sei. Er ist tot. In einem Weidenbaum in Melusines Park lebt Pythia, eine alte Fee, Kartenlegerin und Wahrsagerin. Zusammen mit ihrem Gefährten Oger versucht sie, die bedrohte Natur zu beschützen. Hierfür soll Melusine, die Pythia als ihre Muhme und wirkliche Ahnin betrachtet, Mittel zum Zweck sein. Sie be-

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kommt die Aufgabe, alle Männer, die die Natur bedrohen, in sich verliebt zu machen, damit sie den Kopf verlieren wie der Geometer. Dies kann ihr jedoch nur gelingen, solange sie selbst niemanden liebt. Sollte sie sich je verlieben, verlöre sie ihr Geheimnis. Melusine nimmt die Aufgabe an und bekommt von Pythia einen Fischschwanz verliehen, der sie schützen und heiligen soll. „Er verleiht Dir unwiderstehliche Anziehungskraft auf die Männer, und du bleibst rein inmitten aller Ausschweifungen“, erklärt Pythia das Geheimnis. Dank dieser Gabe verführt Melusine zuerst einen Maurer, der das Schloss bauen soll, dann den Architekten. Sie alle werden krank vor Liebe, verrückt, bringen ihre Familien um oder begehen Selbstmord. Nur Melusine geschieht nichts. Das Schloss jedoch wird trotzdem gebaut und Melusine wird mit ihrem Mann Oleander zur Einweihung eingeladen. Mit von der Partie sind auch Pythia und Oger, die nun ohne Park obdachlos geworden sind und sich am Grafen rächen wollen. Ihre letzte Chance ist Melusine. Sollte es ihr gelingen, den Grafen zu verführen, könnte die Natur noch gerettet werden. Aber der Graf ist stärker als Pythias Zauber und stärker als Melusines Widerstandskraft. Ihm gelingt es auf den ersten Blick, Melusine für sich zu gewinnen. Die beiden verlieben sich ineinander und Melusine verliert in seinem Schloss ihre jungfräuliche Unschuld. Als Pythia von dem Unglück erfährt, legt sie Feuer. Das Schloss, der Park, alle Tiere, sie selbst und schließlich auch der Graf und Melusine kommen im Feuer um. Zurück bleiben Oleander und Madame Lapérouse, das kleinbürgerliche Liebespaar, sowie Oger, der Landstreicher, der die Toten aus dem Feuer birgt.

Katharina Hottmann

Johanne Charlotte Unzer Eine weibliche Stimme der anakreontischen Aufklärung in Vertonungen von Christian Ernst Rosenbaum, Peter Paulsen und Carl Philipp Emanuel Bach Der Liedhistoriker Max Friedländer konnte in seinem dreibändigen Kompendium zum deutschen Lied des 18. Jahrhunderts,1 das nach wie vor das umfassendste Quellenverzeichnis zur Gattung in dieser Epoche bietet, nur wenige Komponistinnen anführen, darunter Juliane Reichardt, Corona Schröter und Maria Theresia Paradis, die in den 1770er und 1780er Jahren Lieder publizierten. In dem im Anhang befindlichen „Gesammt=Verzeichnis der Dichter“, das trotz dieser Überschrift explizit keine Vollständigkeit beansprucht,2 finden sich erwartungsgemäß deutlich mehr Frauennamen, auch wenn es sich immer noch um einen kleinen Teil aller Autoren handelt. Eine Tendenz lässt sich allerdings sowohl für den Bereich der Dichtung als auch für den der Komposition deutlich ablesen: Mit der starken Zunahme der Liedproduktion seit den 1770er Jahren steigt auch die Zahl der beteiligten Frauen. Ganz offensichtlich öffnete der Publikationsmarkt, der im Zuge der medien- und bildungsgeschichtlichen Fortschritte des mittleren 18. Jahrhunderts sprunghaft anwuchs, Frauen zunehmend konkrete Möglichkeiten zu publizieren, während zugleich der anthropologische Diskurs der „Polarisierung der Geschlechtscharaktere“ die weibliche Rolle auf die Funktionen der Reproduktion verengte.3 1 Max Friedlaender, Das deutsche Lied im 18. Jahrhundert: Quellen und Studien; mit 350 teils gestochenen, teils in den Text gedruckten Musikbeispielen, 3 Bde., Hildesheim u. a. 1962 (Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Stuttgart und Berlin 1902). 2 Ebd., Bd. 2, S. 485–520. Nicht nur wegen der unübersehbaren Menge an Liedern, sondern auch wegen der zeittypischen Gewohnheit, Dichternamen in den Lieddrucken nicht anzugeben, ist das Repertoire in Bezug auf die vertonten Texte nur sehr grob erschlossen. Dies für in Hamburg und Altona erschienene Lieddrucke detailliert zu dokumentieren, ist ein Ziel des aktuellen Forschungsprojekts der Verfasserin: Anakreontische Aufklärung: Zur Gattungs- und Kulturgeschichte des weltlichen Liedes in Hamburg von 1740–1770. 3 Karin Hausen, „Die Polarisierung der ‚Geschlechtercharaktere‘ – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben“, in: Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas: Neue Forschungen, hrsg. von Werner Conze, Stuttgart 1976 (Industrielle Welt 21), S. 363–393. Vgl. zur Differenzierung dieser Thesen Anne-Charlott Trepp,

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Zu den wenigen Dichterinnen, deren Texte in deutschen Lieddrucken vor 1770 vertont wurden, zählt Johanne Charlotte Unzer, geb. Ziegler. Sie hatte mit mehreren Lyrikbänden Beiträge zur Anakreontik geleistet, jenem um die Jahrhundertmitte modernen literarischen Modus, in dem aufgeklärte Lebensfreude und scherzhafte Sinnlichkeit ausgedrückt werden konnte. Friedländer führt tabellarisch acht Vertonungen zwischen 1767 und 1789 an, wobei er nur bei einem Lied den Komponisten angibt: Carl Philipp Emanuel Bach.4 Zusätzlich konnte ich drei frühere Vertonungen von Christian Ernst Rosenbaum (1762) und Peter Paulsen (1764) finden. Dass die Gedichte von einer Autorin stammten, schien den Komponisten offenbar nicht begründungsbedürftig; in den mir vorliegenden Musikalien, die Vertonungen von Unzer-Texten enthalten, wird die Frage der weiblichen Autorschaft jedenfalls nicht thematisiert. Demgegenüber ist der Geschlechterdiskurs in literarischen und publizistischen Zusammenhängen durchaus präsent, und in allen Texten, welche Unzer selbst veröffentlichte, positionierte sie sich in der aufklärerischen Debatte über die intellektuellen Fähigkeiten von Frauen. Bevor drei Lied-Kompositionen vorgestellt werden, soll daher der biografisch-soziale Kontext der Dichterin umrissen und in einem zweiten Teil der Geschlechterdiskurs speziell in den poetologischen Nebentexten lyrischer Publikationen verfolgt werden. War dieser ganz konkret in den Gedichtbänden greifbar, welche die Komponisten bei der Textsuche zur Hand nahmen, so kann man davon ausgehen, dass die darin ausgedrückten Überlegungen von ihnen wahrgenommen wurden, auch wenn sie selbst nicht in den Diskurs einstimmten. Lebens- und Schreibzusammenhänge: Halle und Altona Verglichen mit der Materiallage bei Künstlerinnen und Künstlern, die im 19. Jahrhundert lebten, ist die Quellenbasis für die Erforschung von Personen des 18. Jahrhunderts zumeist deutlich schmaler, demzufolge die Lücken, mit

„Diskurswandel und soziale Praxis. Zur These von der Polarisierung der Geschlechter seit dem 18. Jahrhundert“, in: Geschlechterpolaritäten in der Musikgeschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts, hrsg. von Rebecca Grotjahn und Freia Hoffmann, Herbolzheim 2002 (Beiträge zur Kultur- und Sozialgeschichte der Musik 3), S. 7–17. Die Diskursgeschichte des 18. Jahrhunderts mit sozial- und strukturgeschichtlichen Daten zu hinterlegen, wäre eine wichtige Aufgabe auch musikwissenschaftlicher Geschlechtergeschichtsschreibung, auf die hier nur hingewiesen werden kann. 4 Friedlaender, Das deutsche Lied im 18. Jahrhundert (wie Anm. 1), Bd. 2, S. 517.

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denen schreibend umzugehen ist,5 offensichtlicher. Im Fall Charlotte Unzers ist neben den Informationen aus ihren Publikationen kaum anderes Material ausgewertet worden. Die meisten Handschriften scheinen verloren zu sein, darunter der umfangreiche Briefwechsel mit ihrem späteren Ehemann.6 So setzt sich das Bild der Dichterin bisher primär aus öffentlichen, entsprechend stark auf Außenwahrnehmung abzielenden Dokumenten zusammen. In der älteren Forschung sind die Leerstellen der Überlieferung durch Projektionen gefüllt worden, in denen die allgegenwärtige „Denkfigur“ der Frauenbiografik zu finden ist, dass ein „Künstlerinnenleben ein verfehltes Frauenleben sei“,7 allerdings mit der gönnerhaften Einschätzung, dass es Unzer gerade noch gelungen wäre, ihre Weiblichkeit zu wahren. So schreibt 1927 Paul Hoffmann: „Die gute Johanne war sicher in Gefahr, ein arger Blaustrumpf zu werden. Daß sie diese Krise überwand, verdankt sie ihrer im Grunde warmherzigen Seele.“8 Und noch 1973 kommentiert Thomas Gehring die Aussage eines Unzer-Zeitgenossen, der Männern und Frauen gleiche Geisteskräfte attestiert: „Johanne Charlotte hätte dem sicher zugestimmt; ihr Verhalten war aber, zu ihrem Vorteil, natürlicher.“9 Dagegen beleuchten die in den 1990er Jahren erschienenen Arbeiten aus philosophie- und geschlechtergeschichtlicher Perspektive10 Unzers Texte mit der gebotenen Sachlichkeit im Kontext aufklärerischer Diskurse. Die Rezeption ihrer Lyrik durch Vertonungen war bislang noch kein Forschungsthema, was insofern nicht erstaunt, als die Liedproduktion der Aufklärung in weiten Teilen im toten Winkel der Musikgeschichtsschreibung liegt. 5 Vgl. zur methodischen Herausforderung der „Lücken“ in der biografischen Überlieferung Beatrix Borchard, „Lücken schreiben. Oder: Montage als biographisches Verfahren“, Biographie schreiben, hrsg. von Hans Erich Bödeker, Göttingen 2003 (Göttinger Gespräche zur Geschichtswissenschaft 18), S. 211–241. 6 Zwei Briefe Charlotte Unzers werden im Gleimhaus Halberstadt aufbewahrt (1762 an Anna Louisa Karsch, 1771 an Johann Benjamin Michaelis). 7 Borchard, Lücken schreiben (wie Anm. 5), S. 224. 8 Paul Th. Hoffmann, „Eine Altonaer Dichterin von Wein, Weib und Gesang: Johanne Charlotte Unzerin“, Altonaer Stadtkalender 1927, S. 31–35, hier S. 32. 9 Thomas Gehring, Johanne Charlotte Unzer-Ziegler: 1725–1782. Ein Ausschnitt aus dem literarischen Leben in Halle, Göttingen und Altona, Bern u. a. 1973 (Europäische Hochschulschriften: Reihe 1, Deutsche Literatur und Germanistik 78), S. 16. 10 Heidemarie Bennent-Vahle, „Einleitung“, in: Johanne Charlotte Unzer, Grundriss einer Weltweisheit für das Frauenzimmer, hrsg. von ders., Aachen 1995 (Philosophinnen 3), S. 9–24; Thurid Langer, Über die Gelehrsamkeit eines Frauenzimmers. Texte von und über Frauenzimmer von Johanna Charlotte Unzerin, Johann Gottlob Krüger, Georg Friedrich Meier, Johann Joachim Lange, Textauswahl und -bearbeitung nebst Einleitung von Thurid Langer, Halle 1996.

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Dabei stammte Johanne Charlotte Ziegler, 1725 in Halle geboren, sogar aus einer Musikerfamilie. Ihr Vater Johann Gotthilf Ziegler (1688–1747) war nach seiner Kindheit in Dresden, wo er am Hof als musikalisches Wunderkind reüssiert hatte, nach Halle gegangen. Fast drei Jahre lebte er dort als Zögling in August Hermann Franckes Pädagogium regium und betreute das Collegium musicum. Anschließend studierte er an der Hallenser Universität Jura und Theologie, nahm 1715 in Weimar Kompositionsunterricht bei Johann Sebastian Bach, kehrte dann aber zurück nach Halle und wirkte ab 1716 erst als Adjunkt, dann als Musikdirektor und Organist an St. Ulrich. Zusätzlich gab er privaten Musikunterricht, wozu Johann Gottfried Walther überliefert: „Hierbey hat er einen ungemein starcken Zugang von Scholaren, so, daß von früh 6 bis Abends 9 Uhr alle Stunden besetzt sind […]“.11 1717 heiratete er die Tochter eines Uhrmachers, Anna Elisabetha Krüger; über sie selbst sind leider keine weiteren Informationen überliefert. Ihr jüngerer Bruder Johann Gottlob Krüger, Professor für Naturforschung und Philosophie12, war nur wenig älter als Charlotte Ziegler und förderte ihre Publikationen nach Kräften. Ob Charlotte Ziegler selbst musizierte, wissen wir nicht. Da Halle in der Geschichte der musikalischen Lyrik des 18. Jahrhunderts eine zentrale Rolle spielte, ist jedoch anzunehmen, dass sie, auch falls sie nicht selbst musikalisch aktiv wurde, in ihrem Elternhaus Hörerfahrungen mit Liedkompositionen machen konnte. Als Zentrum des Pietismus wurde Halle seit dem Ende des 17. Jahrhunderts zu „dem Sammelpunkt im Prozeß der Herausbildung einer pietistischen Liedkultur in Deutschland“,13 vor allem durch die 1704 und 1714 erschienenen beiden Bände des Freylinghausenschen Gesangbuchs. Als Lehrer in Franckes Anstalt dürfte Charlotte Zieglers Vater mit der pietistischen Liedpraxis einschlägige Erfahrungen gemacht haben. Halle aber stand als prominenter Publikationsort auch am „Neuanfang“ der Geschichte des weltlichen Liedes nach der sogenannten „liederlosen Zeit“ zwischen ca. 1670 und 1730, in der der Druck selbständiger weltlicher Liedbü11 Johann Gottfried Walther, Musicalisches Lexicon oder Musicalische Bibliothec [Leipzig 1732]. Studienausgabe im Neusatz des Textes und der Noten, hrsg. von Friederike Ramm, Kassel u. a. 2001, S. 591. 12 1747 publizierte er in einer von Johann August Unzer herausgegebenen Wochenschrift auch einen Aufsatz über Musik. Johann Gottlob Krüger, „Anmerkungen aus der Naturlehre, über einige zur Musik gehörige Sachen“, in: Hamburgisches Magazin, Bd. I (1747), 4. Stück, S. 363–377. 13 Wolfgang Miersemann, „Auf dem Wege zu einer Hochburg ‚geist=reichen‘ Gesangs: Halle und die Ansätze einer pietistischen Liedkultur im Deutschland des ausgehenden 17. Jahrhunderts“, in: „Geist=reicher“ Gesang. Halle und das pietistische Lied, hrsg. von Gudrun Busch und Wolfgang Miersemann, Tübingen 1997, S. 11–80, hier S. 11.

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cher für über ein halbes Jahrhundert weitestgehend ausgesetzt hatte. Ab 1737 veröffentlichte Johann Friedrich Gräfe die vier Teile seiner Sammlung verschiedener und auserlesener Oden,14 die er als Gegenkonzept zu den kurz zuvor in Leipzig herausgekommenen Liedern der Singenden Muse an der Pleiße des Sperontes15 positionierte. Beide Sammlungen wendeten sich an ein bürgerliches, vor allem studentisches Publikum. Doch während Sperontes vorfindliche Instrumentalsätze betextete, was massive Kritik an dem häufig disparaten WortTon-Verhältnis provozierte, hatte Gräfe Originalkompositionen eingeworben und damit einen wichtigen Impuls für die Entwicklung des weltlichen Liedes gesetzt. Den ersten Teil von 1737 hatte Gräfe Christiane Mariane Ziegler16 gewidmet, den zweiten Teil von 1739 Luise Victorie Adelgunde Gottsched; von beiden Dichterinnen finden sich auch Vertonungen. Da Johann Gottfried Ziegler seine Musikschüler maßgeblich aus der Studentenschaft rekrutierte, kann man vermuten, dass Gräfes Sammlungen in seinem Hause bekannt waren und seiner Tochter somit Beispiele erfolgreicher Lyrikerinnen auch über das Medium von Musikalien vor Augen standen. War den Töchtern Ziegler der Weg zum Universitätsstudium verschlossen, so hatten sie doch durch die persönlichen Kontakte der Familie und die Musikschüler des Vaters Zugang zum akademischen Milieu. Als besonders begabter Schüler durfte der Medizinstudent Johann August Unzer den Lehrer zuweilen vertreten. Zwischen ihm und der zwei Jahre älteren Johanne Charlotte Ziegler entwickelte sich eine engere Freundschaft, die durch eine umfangreiche Korrespondenz über philosophische Fragen vertieft wurde, nachdem Unzer 1750 zunächst nach Hamburg, dann nach Altona gezogen war. Da sie aufgrund der beschränkten Möglichkeiten der Mädchenbildung weder Griechisch noch Latein lesen konnte, rezipierte Johanne Charlotte Ziegler die Baumgartensche Metaphysik aus Übersetzungen und Kommentierungen Unzers.17 Die Menge eng beschriebener Briefe, die sie sämtlich beantwortet 14 Johann Friedrich Gräfe, Sammlung verschiedener und auserlesener Oden zu welchen von den berühmtesten Meistern in der Musik eigene Melodeyen verfertiget worden besorgt und herausgegeben von einem Liebhaber der Music und Poesie, Halle 1737–1743. 15 Sperontes, Singende Muse an der Pleisse in 2.mahl 50 Oden, der neuesten und besten musicalischen Stücke mit den darzu gehörigen Melodien zu beliebter Clavier-Übung und GemüthsErgötzung Nebst einem Anhange aus F. C. Günthers Gedichten, Leipzig: auf Kosten der lustigen Gesellschaft 1736. 16 Von der mit Charlotte Ziegler nicht verwandten Dichterin vertonte Johann Sebastian Bach mehrere Kantatentexte. 17 „Es leistete mir zu der Zeit, als ich mich mit des Herrn B. [Baron] v. Wolfs Logik schon lange beschäftigt hatte, ein gewißer Freund den verbindlichen Dienst, mir die Baumgartische Metaphysik, welche ich zu lesen um so begieriger war, je beliebter sie

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habe, umfasste „vier sehr dicke Quartanten“.18 Nach der Lektüre einiger ihrer Briefe habe ihr Onkel Johann Gottlob Krüger sie angeregt, eine Philosophie für Frauen zu schreiben, und so erschien 1751 – im Jahr ihrer Eheschließung mit Unzer und unter dem neuen Ehenamen – der von Krüger mit einer Einleitung versehene Grundriß einer Weltweisheit für das Frauenzimmer und eine Fortsetzung Grundriß einer natürlichen Historie und eigentlichen Naturlehre für das Frauenzimmer. Mit ihren Büchern strebte sie an, der Frauenbildung in aufklärerischem Geist eine Grundlage anzubieten: Unser Geschlecht stehet schon lange genug in dem Verdachte, daß es von Natur ein wenig dumm sei. Meine Leserinnen können mir gewiß glauben, daß alle die Schmeicheleien, welche uns die Männer machen, wenn sie uns schön, artig, witzig, klug, verständig, scharfsinnig, usw. nennen, entweder gar nichts bedeuten; oder, wenn sie uns ein vernünftiger Mensch sagt, eben so viel sind, als die Lobeserhebungen, die man den Kindern giebt, wenn man sie artig und klug nennet, damit sie es werden sollen. Die schönen Engelchen, unter uns, wenn sie nicht vernünftig denken, sind in ihren Augen nichts anderes, als Puppen, oder Maschinen. Und ist es denn etwa nicht ausgemacht genug, daß wir unter die niedrigste Art von Seelen gehören, so lange wir nur vom Kochen und Nähen schwatzen können, und nicht im Stande sind, nur einen Satz zu verstehen, so bald eine Mannsperson mit uns anfängt vernünftig zu reden. So wohl unsere eigene Glückseligkeit, als auch unsere Ehre, erfordern also, daß wir uns bemühen, weislich denken zu lernen.19

Unzer argumentiert, dass erst die Bildung Frauen eine Perspektive eröffne, sich von einem seelenlosen Objekt – Puppe oder Maschine – zum Menschen im eigentlichen Sinne zu entfalten. Sie macht sich die männliche Wertung, Frauen ihrer intellektuellen Beschränkung wegen gering zu schätzen, durchaus zu eigen, möchte jedoch durch ihr Schreiben dazu beitragen, dass Frauen durch geistige Betätigung „erwachsen“ werden und dadurch ebenso Anerkennung einfordern wie aus dem Denken an sich persönliches Glück gewinnen könnten – auch wenn sie explizit nicht verlangt, dass ihre Leserinnen „Gelehrte von Profeßion werden sollen“.20

hier in Halle ist, aus dem Lateinischen ins Deutsche zu übersetzen und mit einigen Erläuterungen und Anmerkungen zu begleiten.“ Johanne Charlotte Unzer, Grundriß einer natürlichen Historie und eigentlichen Naturlehre für das Frauenzimmer, Halle 1751, zit. nach Matthias Reiber, Anatomie eines Bestsellers. Johann August Unzers Wochenschrift „Der Arzt“ (1759–1764), Göttingen 1999 (Das achtzehnte Jahrhundert. Supplementa  8), S. 62. 18 Unzer, Grundriss einer Weltweisheit für das Frauenzimmer (wie Anm. 10), S. 31. 19 Ebd., S. 41 f. 20 Ebd., S. 42.

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In ihrer Weltweisheit popularisierte Unzer Gedanken mehrerer Hallenser Gelehrter, mit denen sie in freundschaftlichem Kontakt stand. An erster Stelle ist hier Johann August Unzer zu nennen. Er hatte in seiner BaumgartenÜbersetzung eigene Schwerpunkte gesetzt, die im Buch Charlotte Unzers weiterwirken und Entwicklungstendenzen der zeitgenössischen Philosophie und Anthropologie abbilden: „Empirie statt metaphysischer Spekulation, Erfahrungsseelenkunde statt ontologischer Psychologie etc. im Dienste einer Philosophie von Menschen für Menschen über Menschen.“21 Nicht weniger wichtig war aber auch ihr Onkel, der ab 1750 in Helmstedt als Professor für Medizin und Philosophie wirkte und sich später als Konrektor der dortigen Universität dafür einsetzte, dass die Deutschen Gesellschaften zu Helmstedt und Göttingen Charlotte Unzer zum Ehrenmitglied ernannten. Außerdem betrieb Krüger, dass seine Nichte 1753 von der Universität Helmstedt mit dem Titel einer poeta laureata ausgezeichnet wurde. Krügers Laudatio anlässlich dieser Dichterkrönung bindet sich in einen Diskurs über Frauengelehrsamkeit ein, in dem seit dem 17. Jahrhundert vernehmliche Stimmen Frauen und Männern gleiche intellektuelle Fähigkeiten zusprachen.22 Er fragt, wieweit die Tradition, „Vorzüge des Geistes“ durch „äussere Kennzeichen der Ehre“ zu belohnen, auch Frauen angemessen sei: Lange Zeit hat man geglaubt, daß das schöne Geschlecht hiervon gänzlich auszuschliessen wäre. Eine rauhe Gemüthsart unserer Väter hat ihnen lauter Beschäftigungen mit Kleinigkeiten angewiesen; und die Grausamkeit gegen die Hälfte des menschlichen Geschlechts so weit getrieben, daß sie dem Frauenzimmer so gar das Vermögen abgesprochen es den Männern in Wercken des Verstandes und Witzes gleich zu thun. Unbilliges Urtheil, da man Richter und Parthey ist! Ungegründete Beschuldigung, die durch viele Beispiele gelehrter Frauenzimmer widerlegt wird!23

Auch er sah demnach in den Sozialisationsbedingungen den Hauptgrund für das vermeintliche geistige Unvermögen von Frauen, wirft den Männern einen subjektiv verzerrten Blick vor und verweist auf die Tatsache, dass es durchaus gelehrte Frauen gebe. Dieser Gedanke führt ihn zu Charlotte Unzer, deren Schriften bewiesen hätten, „daß das schöne Geschlecht uns Mannspersonen weder an Stärcke des Witzes noch des Verstandes etwas nachgebe, wenn es 21 Reiber, Anatomie eines Bestsellers (wie Anm. 17), S. 62. 22 Vgl. Cornelia Caroline Köhler, Frauengelehrsamkeit im Leipzig der Frühaufklärung. Möglichkeiten und Grenzen am Fallbeispiel des Schmähschriftenprozesses im Zusammenhang mit der Dichterkrönung Christiana Mariana von Zieglers, Leipzig 2007 (Literatur und Kultur. Leipziger Texte: Reihe B: Studien 2), S. 28–40. 23 Johann Gottlieb Krügers Dichterkranz ertheilet Frauen Johanne Charlotte Unzerin gebohrne Zieglerin nebst einer Ode von eben Derselben, Halle 1753 [unpaginiert].

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sich die Mühe nimmt die Kräfte des Geistes zu bearbeiten“.24 Krüger nimmt den Einwand vorweg, dass die Auszeichnung auf die nahe Verwandtschaft zu der Dichterin zurückzuführen sei, und tritt Gerüchten, er selbst habe das Buch geschrieben, entschieden entgegen: Allein Sie wollte auch zeigen, daß ein Frauenzimmer die ernsthaftesten Lehren der Weltweisheit zu begreiffen und zu beurtheilen fähig sey; sie wolte zeigen, daß es in Deutschland nicht nur Philosophen sondern auch Philosophinnen gebe; Sie schrieb also auf mein Anrathen eine Weltweisheit für das Frauenzimmer […]. Ich habe Anmerckungen zu diesem Buche gemacht, und dadurch sind einige auf die Gedancken gerathen, als wenn ich selbst der Verfasser davon wäre, ja sie haben so gar an dem Daseyn der Verfasserin gezweifelt. Ich bezeuge daher hiermit öffentlich das Gegentheil.25

Zusammengefasst lässt sich sagen, dass Unzers Weltweisheit für das Frauenzimmer im Kontext einer lebendigen intellektuellen Atmosphäre unter Gelehrten entstanden war, die sich der Popularisierung komplexer Gedanken verschrieben hatten und sich nicht nur im konkreten Fall für eine ihnen nahestehenden Autorin einsetzten, sondern generell für die intellektuelle Gleichberechtigung der Geschlechter eintraten.26 Ebenfalls 1751 hatte Charlotte Unzer ihren ersten Gedichtband publiziert, den Versuch in Scherzgedichten, der 1753 seine zweite Auflage erlebte. Mit ihrer Lyrik stand die Dichterin gleichermaßen in einer spezifischen regionalen Konstellation, denn Halle war nicht nur ein produktiver Ort für philosophische und medizinische Neukonzeptionen, sondern auch „die Wiege der Anakreontik“.27 Um 1739 hatte sich ein Freundeskreis literarisch ambitionierter Studenten zusammengefunden, darunter Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Johann Nikolaus Götz und Johann Peter Uz. Sie knüpften mit ihren Gedich-

24 Ebd. 25 Ebd. 26 Vgl. zur „Halleschen Konstellation“, die im interdisziplinären Zusammenwirken von Theologie, Philosophie und Medizin wesentliche Grundlagen sowohl der Ästhetik als auch der Anthropologie hervorgebracht hat, auch Carsten Zelle, „Erfahrung, Ästhetik und mittleres Maß: Die Stellung von Unzer, Krüger und E. A. Nicolai in der anthropologischen Wende um 1750 (mit einem Exkurs über ein Lehrgedichtfragment Moses Mendelssohns)“, in: Reiz – Imagination – Aufmerksamkeit. Erregung und Steuerung von Einbildungskraft im klassischen Zeitalter (1680–1830), hrsg. von Jörn Steigerwald und Daniela Watzke, Würzburg 2003, S. 203–224. 27 Vgl. dazu Herbert Zeman, Die deutsche anakreontische Dichtung. Ein Versuch zur Erfassung ihrer ästhetischen und literarhistorischen Erscheinungsformen im 18. Jahrhundert, Darmstadt 1984 (1Stuttgart 1972), S. 97 ff.

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ten28 an die Lyrik des Hamburger Ratsherrn Friedrich von Hagedorn, des „Dichters der fröhlichen Aufklärung“, an, wobei sie dessen satirische Schärfe mit einem eigenen Ton der Empfindsamkeit abmischten.29 Die literaturtheoretische Begründung der anakreontischen Dichtung hatte Georg Friedrich Meier, ein Schüler Alexander Gottlieb Baumgartens, mit seiner Schrift Gedanken von Scherzen (1744) geliefert. Sie erschien im Verlag Hemmerde, der später auch alle Publikationen Charlotte Unzers herausbringen würde. Meier wirkte seit 1748 als Professor der Philosophie an der Hallenser Universität, wo er bei seinen Studenten als Lehrer sehr beliebt war. In seinem gastlichen Haus verkehrten viele Intellektuelle und Dichter, darunter Götz, Gleim und Uz. Mit seinen deutschsprachigen Publikationen über die schönen Künste und Wissenschaften trug Meier zur Popularisierung der neuen Konzepte der Ästhetik bei, und auch er trat vernehmlich dafür ein, Frauen im Geistesleben nicht zu diskriminieren. Zeitgleich zu Unzers lyrischem Debüt schrieb er 1751 in der in Halle erscheinenden Moralischen Wochenschrift Der Mensch über die Geschlechterfrage in Bezug auf die Wissenschaften: Die […] Ursache der Verachtung des weiblichen Geschlechtes ist, wie mir deucht, das Vorurtheil, daß das Frauenzimmer von Natur dummer, und nur zu Kleinigkeiten und Tändeleien aufgelegt sei. Welch elendes Vorurtheil! Die Kräfte des Geistes sind nicht an die Gestalt des Körpers gebunden, und der Unterschied zwischen beiderlei Geschlecht gehet nicht bis auf die Seele.30

Die Dichte des Diskurses deutet auf die Allgegenwart und Durchsetzungskraft von Normen, die Frauen in enge Schranken geistiger Betätigung wiesen. Dennoch scheint in Mitteldeutschland und speziell in den gebildeten Kreisen von Halle die Atmosphäre für schreibende Frauen vergleichsweise offen gewesen zu sein. Mit dem Umzug nach Altona tauschte Charlotte Unzer ein geistig anregendes Umfeld gegen einen nicht minder interessanten Wirkungsort ein. Das zum Königreich Dänemark gehörende Altona war Mitte des 18. Jahrhunderts eine liberale und prosperierende Handelsmetropole, geprägt durch die Nähe und Konkurrenz zum weltoffenen Hamburg und wie dieses ein bedeutendes Zentrum der Aufklärung. Johann August Unzer konnte dort eine Praxis über-

28 Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Versuch in Scherzhaften Liedern, 2 Bde., Berlin 1744– 1745; ders., Lieder, Amsterdam und Zürich 1749; Johann Peter Zu, Lyrische Gedichte, Berlin 1749. 29 Alfred Anger, Literarisches Rokoko, Stuttgart 1968, S. 63. 30 Der Mensch, Halle 1751, Teil 1, S. 371, zit. nach Reiber, Anatomie eines Bestsellers (wie Anm. 17), S. 61.

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Abb. 1  Johanna Charlotte Unzerin, Kayserliche gecrönte Dichterin, der Königlich Großbritannischen, wie auch der Herzoglich braunschweigischen deutschen Gesellschaften zu Göttingen und Helmstedt Ehrenmitglied.

nehmen und schilderte in einem autobiografischen Text die guten Bedingungen auch für seine publizistischen Aktivitäten: Ich habe mich 1751 mit der damahligen Jungfer Johanne Charlotte Zieglerin, die sich der Welt durch Schriften bekant gemacht hat, verheirathet, und habe nunmehro angefangen, meine Arbeiten solchergestalt einzurichten, daß ich einen Theil meiner Zeit mit der medicinischen Praxi, einen andern Theil aber mit Lesung der besten Schriften der Ausländer, wozu mir hier verschiedene sehr kostbare Büchersammlungen offen stehen, und mit der Ausarbeitung derjenigen kleinen Artikel zubringe, die man im sechsten und denen folgenden Bänden des Hamburgischen Magazins mit meinem Nahmen bezeichnet antrift.31 31 Schreiben von Johann August Unzer, in: Nachrichten von den Lebensumständen und Schriften Jetztlebender berühmter Aerzte und Naturforscher in und um Deutschland, hrsg. von Friedrich Börner, Bd. 3, Wolfenbüttel 1753, S. 221–230, hier S. 229.

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Auch seine Frau publizierte weiter. Sie gehörte einem literarischen Zirkel an, von dem unten noch die Rede sein wird. Es ergaben sich rege Kontakte nach Hamburg, u. a. zu Hagedorn. Dieser vermittelte vermutlich auch die Bekanntschaft mit dem Dichter Johann Friedrich Löwen. Mit ihm und Johann Dietrich Leyding, der auch als Lyriker hervortrat, gab sie die von 1753 bis 1755 erschienenen Hamburgischen Beyträge zu den Werken des Witzes und der Sittenlehre heraus. Die Wochenschrift präsentierte ein breites Spektrum an Texten: Romane, Gedichte, religiöse Dichtungen, Traktate, Übersetzungen, Schauspielnachrichten, Comödien, Trauerspiele, Episteln und Fabeln. Das weibliche Lesepublikum wurde gezielt angesprochen: Wir schmeicheln uns, daß auch die Schönen unsre Blätter lesen werden. Ihr Beyfall würde uns sehr angenehm seyn, und wir gestehen gerne, daß wir uns um denselben, nicht zuletzt mit bemühen.32

1754 folgte der zweite Lyrikband Versuch in sittlichen und zärtlichen Gedichten, der neben weiteren anakreontischen Texten auch ernste Gedichte enthält. Zwei Jahre später wurden die Unzers Eltern von Zwillingen, die jedoch im Säuglingsalter starben. Trauer und gesundheitliche Probleme hatten zur Folge, dass Charlotte Unzer kaum noch schrieb und nichts mehr publizierte, bis 1766 die dritte, veränderte Auflage ihres ersten Gedichtbands sowie Fortgesetzte Versuche in sittlichen und zärtlichen Gedichten erschienen, in denen sie den Verlust ihrer Kinder und weitere biografische Erfahrungen zum Thema machte. 1782 starb sie in Altona, von ihrem Mann um mehr als fünfzehn Jahre überlebt. Zum Geschlechterdiskurs in poetologischen Texten zur anakreontischen Lyrik Gleim hatte 1749 in seinem Fragment eines Gesprächs das Bild der „Puppe“ gewählt, um die Wahrnehmung von Frauen aus männlicher Perspektive zu thematisieren: G. So sind die Mädchen, wie ihr meinet, Dann keine Menschen? W. Nein, mein Freund. G. 32 Hamburgische Beyträge zu den Werken des Witzes und der Sittenlehre, 1. Bd., 1. St., Hamburg 1753, Vorrede.

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Was sind sie denn, Herr Mädchenkenner? W. Lebendge Puppen für die Männer.33

Keineswegs fordert der fiktive Dialog zur „Geringschätzung der Mädchen“ auf,34 denn der Sprecher G. [Gleim selbst?] macht durch den Einschub „wie ihr meinet“ deutlich, dass es sich nicht um eine generelle Fragestellung handelt, sondern um die Reaktion auf eine persönliche Aussage des Gesprächspartners, von dem er sich durch die Anrede „Herr Mädchenkenner“ spürbar distanziert. Mit der ironischen Unschärfe des Gedichts hatten jedoch offenbar auch Zeitgenossen zuweilen Verständnisschwierigkeiten, sodass Charlotte Unzer unter dem Titel Nachricht dazu ein Statement aus weiblicher Autorenperspektive abgab: Nun, da es Gleim im Scherz geschrieben, Daß alle Mädchen Puppen wären; Hält mancher uns im Ernst für Puppen, Als wären wir für ihn gedrechselt. Doch wißt, ihr stolzen Mädchenkenner, Ihr kleinen Zwecke kleiner Puppen! Als die Natur uns euch bestimmte, Damit ihr mit uns spielen möchtet; sah sie euch an als kleine Kinder, Die noch nicht unterscheiden können.35

Charlotte Unzer kannte Gleim übrigens, zumindest zum Zeitpunkt dieser poetischen Bezugnahme, nicht persönlich, denn dieser schrieb 1750 an Karl Wilhelm Ramler: „Die Verfaßerin des hallischen Versuchs in Scherzgedichten heißt Zieglerin und soll eine Muhme des Professor Krüger seyn, eines Organisten Tochter, und Braut, des Professor Unzers.“36 Später allerdings gab es briefliche Kontakte zwischen Gleim und Johann August Unzer.37 Insgesamt öffnet die anakreontische Lyrik ein munteres Spielfeld für die scherzhafte, teilweise durchaus emanzipatorische Neuverhandlung der Geschlechterrollen. Doch auch in den beigegebenen Prosatexten wird ‚Gender‘ 33 Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Versuch in Scherzhaften Liedern und Lieder. Nach den Erstausgaben von 1744/45 und 1749 mit den Körteschen Fassungen im Anhang kritisch hrsg. von Alfred Anger, Tübingen 1964, S. 130. 34 Bennent-Vahle, „Einleitung“ (wie Anm. 10), S. 24. 35 Johanne Charlotte Unzer, Versuch in Scherzgedichten, Halle 1751, S. 48. 36 Gleim an Ramler, vom 28.11.1750, in: Briefwechsel zwischen Gleim und Ramler, hrsg. von Carl Schüddekopf, 2 Bde., Tübingen 1906/07 (Bibliothek des litterarischen Vereins in Stuttgart 244), Bd. 1, S. 275 f. 37 Vgl. Reiber, Anatomie eines Bestsellers (wie Anm. 17), S. 66.

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zum Thema gemacht. 1751 leitete Charlotte Unzer ihren ersten Gedichtband mit einer „Vorerinnerung“ ein, in der sie zur Geschlechterproblematik der Autorschaft Stellung bezog. Sie würde „wegen dieser Gedichte gar nichts zu erinnern haben“, wenn sie „nicht ein Frauenzimmer wäre“: „Eine Mannsperson hat die Freyheit, von Liebe und Wein zu scherzen, ohne befürchten zu dürfen, daß man es ihr übel auslegen werde. Unser Geschlecht ist hierinnen weit mehr eingeschränkt“.38 Die Poetik der scherzhaften Lyrik gebe als Thema Liebe und Wein vor. Diese Themen für Frauen als ungeeignet zu erachten, zeige mangelnde Einsicht in den Gattungscharakter anakreontischer Lieder, denn „kein vernünftiger Leser“ suche „in einer scherzhaften Ode die Sprache des Herzens“, angemessen sei hier vielmehr die Sprache „des Witzes und der Scharffsinnigkeit“.39 Auch Dichterinnen könnten sich dieser Sprache bedienen, wofür Unzer zwei Argumente vorträgt. Das erste bezieht sich auf die Stilhöhe. Nur wenige Autoren – und zwar Männer wie Frauen gleichermaßen – hätten die Fähigkeit, auf der erhabenen Stilebene zu schreiben. Es sei aber zuviel gefordert, wenn die anderen deshalb ganz auf das Dichten verzichten sollten, deshalb müsse es erlaubt sein, „Gedichte der niedern und mittlern Art zu verfertigen“. Das zweite Argument geht auf das Problem des Realitätsgehalts anakreontischer Poesie ein: Doch man könnte denken, es wäre unnatürlich, wenn ein Frauenzimmer vom Weine singet; weil es unter uns keine Trinker giebt, oder weil es eine Unartigkeit seyn würde, wenn ein Frauenzimmer zechen wollte; und eben so könne es nicht wohl angehen, daß sie die Liebe erhebet, weil es wider die Eingezogenheit unsers Geschlechtes ist, auch nur den Schein von sich zu geben, als wenn man viel Werk aus der Liebe machte. Allein ein anakreontischer Trinker, und ein anakreontischer Liebhaber, rühmt und räth bloß das Lieben und das Trinken, um einen Scherz zu machen, und ein Lachen zu erregen. Wer mehr bey einer anakreontischen Ode denkt, als dieses, wird sich ohne Zweifel betriegen.40

Wenn Männer daran Anstoß nähmen, sollten sie bedenken, dass sie als Autorin schließlich nur deren Dichtungsart nachgeahmt hätte. Doch sie sei „schon müde“, sich „zu entschuldigen“: „Der erste, der sich um solcher Ursachen willen über mich aufhält, und mich für verliebt und für eine Trinkerin ansehen wird, soll eine Elegie von mir haben, darinnen ich ihn und den Haß und das Wasser besingen will.“41 38 39 40 41

Unzer, Versuch in Scherzgedichten (wie Anm. 35), Vorerinnerung [unpaginiert]. Ebd. Ebd. Ebd.

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Zum Abschluss der Vorerinnerung wendet sie sich explizit an ihre Leserinnen. Diese sollten „einigen Grund in denen schönen Wissenschaften“ gelegt haben, bevor sie die Gedichte läsen, damit sie ihre Fehler bemerkten und nicht etwa nachahmten. Denn sie wünschte andere Frauen zum Publizieren von Lyrik zu ermutigen, die ihr für ihre Pionierleistung dankbar seien würden: Nicht ohne Furchtsamkeit wage ich es, mit Proben, die so verdächtig scheinen könnten, hervorzutreten. Allein da mich mein Gewissen sattsam rechtfertiget: so will ich die Art der Aufnahme dieser Arten Gedichten getrost erwarten, welche, wenn sie erträglich ist, ohne Zweifel Nachfolgerinnen erwecken wird, die mir für die Gefahr verbunden seyn werden, der ich mich, um ihrentwillen, ausgesetzt habe.42

Die Reflexion des Verhältnisses von poetischer Fiktion und persönlicher Lebenshaltung des Autors gehörte ebenso wie die Thematisierung spezifisch weiblicher Literaturrezeption zu typischen Bestandteilen der Paratexte anakreontischer Lyrikbände, die im Gefolge von Gleims Versuch in Scherzhaften Liedern, an den Unzer anschließt, publiziert wurden. Ein Vorreiter dieser neuen Dichtungsform war Hagedorn mit seiner dreiteiligen Sammlung neuer Lieder und Oden (1742–1752) gewesen.43 Sie war für die Geselligkeit bürgerlicher Kreise bestimmt, wobei der Geschlechterdiskurs in den Vorreden Hamburger Liedpublikationen – anders als etwa in Hamburger Wochenschriften wie dem Patrioten – noch nicht vorgeprägt ist. Zwar ist überliefert, dass Frauen Hagedorns Lieder in geselligem Kreise sangen, die poetologischen Nebentexte der Odenpublikation zielen jedoch durch ihren wissenschaftlichen Duktus eindeutig auf eine Rezeption innerhalb eines spezialisierten literaturästhetischen und -historischen Kontextes.44 Wurde dieser gelehrsame Kontext von Hagedorns Oden ausschließlich von männlichen Literaten konstituiert, so kündigt sich in Halle bei Gleim ein neuer Geist an. 1744 überschreibt er seine Einleitung zum Versuch in Scherzhaften Liedern mit „An + + + Mein Engel!“ In Briefform wendet er sich an eine „Freundin“, um in einem fiktiven Dialog über das Thema von „Dichtung und Wahrheit“ in anakreontischer Lyrik zu reflektieren: 42 Ebd. 43 Sammlung neuer Oden und Lieder, Hamburg 1742; Sammlung neuer Oden und Lieder. Zweyter Theil, Hamburg 1744; Sammlung Neuer Oden und Lieder, Dritter Theil, Hamburg 1752. Die Vertonungen stammen von Johann Valentin Goerner. 44 Vgl. dazu auch Katharina Hottmann, „Sociabilité, savoir et frivolité dans les odes de Friedrich von Hagedorn et de Johann Valentin Goerner“, in: Un siècle sans poésie? Le lyrisme des Lumières entre sociabilité, galanterie et savoir, hrsg. von Carolin Fischer und Brunhilde Wehinger, Paris 2010 (Druck in Vorbereitung).

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Ich habe ietzo nur dieienigen [Lieder] drukken lassen, die du nicht vor heilig hält’st. Deine Schwestern mögen von der Sittenlehre derselben auf das Herz des Verfassers schliessen, wenn sie keinen Scherz verstehen; weiß ich doch, daß du ihn verstehst. Sage mir nur, wie ich die Scherze, die du noch nicht beurtheilet hast, nach deinem Geschmackke verbessern soll. Die Scherzrichter werden alsdenn erst damit zufrieden sein.45

In der Frage der Adressierung von Lyrik zeigt sich – so der Literaturhistoriker Christoph Perels – eine „beachtenswerte Differenz zwischen der Lyrik Hagedorns und Gleims: in den Gedichten des Hamburger Autors werden die Damen, soweit sie nicht nur der Satire Stoff geben, als zärtliche Geliebte umworben, nicht jedoch auch direkt als Leserinnen.“46 Gleims anakreontische Dichtung ordne sich dagegen „in die Bemühungen Langes, Meiers, Sulzers und Ramlers [ein], die Damenwelt zu einem belletristisch interessierten Publikum zu bilden.“47 Zehn Jahre nach Hagedorns erstem Oden-Band waren aber auch in Hamburg Frauen als Leserinnen von Gedichten in den Blick geraten. Die Zärtlichen Lieder und Anakreontischen Scherze des mit den Unzers befreundeten Johann Friedrich Löwen wenden sich 1751 mit einem „Empfehlungs Schreiben an das schöne Geschlecht“ vorrangig an ein weibliches Lesepublikum: Schönen Kinder! Ein bischen Verwegenheit, und etwas Unbesonnenheit mögte vielleicht dazu gehören, Euch diese Scherze, diese losen Scherze zu empfehlen. Was deucht Euch? artigen Kinder! Sollt Ihr etwa gar durch diese muntern Gedichte zu Neigungen gewöhnet werden, die Euerm edlen Wesen eben so schimpflich als strafbar wären? Das sey ferne! Aber, sagt Ihr, man muß doch auch die Gelegenheit meiden, weichen Gemütern, in welchen alles einzudrücken ist, verführerische Bilder vorzulegen. Das Herz eines Frauenzimmers ist viel zu biegsam, es kann sich leicht auf eine Seite hinreissen lassen, und wer sagt uns armen Mädgen eben, welche Seite die beste ist? […] Das ist wahr. Aber daraus folgt noch nicht, daß ein Dichter gar nicht scherzen, gar nicht von Liebe reden, noch vielweniger seine zärtlichen Lieder dem schönen Geschlecht widmen und empfehlen sollte. Eine Mannsperson kann eben so leicht, und noch eher verführet werden, weil sie mehr Gelegenheit vor sich siehet. Und ein Frauenzimmer, welches Vernunft und Anständigkeit in den Sitten vereiniget, wird die Scherze der Dichter lesen, es wird sie gerne lesen, darüber lachen, aber

45 Gleim, Versuch in Scherzhaften Liedern und Lieder (wie Anm. 33), S. 3. 46 Christoph Perels, Studien zur Aufnahme und Kritik der Rokokolyrik zwischen 1740 und 1760, Göttingen 1974 (Palaestra 261), S. 109. 47 Ebd., S. 109 f.

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sich niemahls zu niederträchtigen Absichten dadurch verleiten lassen, von welchen überdem kein Dichter, kein vernünftiger und gesitteter Dichter, was sagen muß.48

In Form eines indirekten Dialogs entkräftet Löwen die Vorwürfe, die man ihm nicht so sehr wegen der Publikation scherzhafter Lieder, sondern wegen deren expliziter Adressierung an Frauen machen könnte. Dabei geht es vor allem um die Frage, welche Wirkkraft die Lektüre auf die moralische Integrität ausüben könnte und ob sich hierbei die Geschlechter unterschieden. Löwen legt den imaginierten Adressatinnen seiner Lieder die Vorstellung in den Mund, Frauen seien infolge ihres weicheren Gemüts in größerer Gefahr, zu unsittlichen Gedanken verführt zu werden. Diesen Einwand entkräftet er aber durch die Entgegnung, dass Männer ebenso verführbar seien, und bekennt sich zu der Überzeugung, dass „Vernunft und Anständigkeit in den Sitten“ vor falschen Reaktionen schützten. Zur Debatte steht in dem Text nicht, ob Frauen anderen sittlichen Maßstäben unterliegen als Männer, vielmehr geht es um vermeintlich unterschiedliche Reaktionsweisen, die auf Differenzen der seelischen Dispositionen zurückzuführen seien. Die These der Differenz wird jedoch nicht beglaubigt, da mit Vernunft und Anständigkeit Normen aufgerufen sind, an denen sich das Verhalten beider Geschlechter zu orientieren hatte. Auch als Mann musste sich ein Vefasser anakreontischer Lyrik zum „Realitätsgehalt“ seiner Dichtung stellen und mit Rekurs auf die Gattungspoetik deutlich machen, dass beides nicht in eins zu setzen sei. Löwen entledigt sich dieser Aufgabe durch die Wiedergabe von Charlotte Unzers Selbstreflexion: Eure vorzügliche Mitschwester, die jetzige Frau Doctorin Unzern, in Altona, (ich nenne sie, wenn sie mir auch tausend verliebte Schwüre, und Haß und Wasser wünschen würde) diese muntre Dichterin besingt die Liebe und den Wein, aber sie sagt es auch in ihrer Vorede, daß man sie deswegen keiner Neigung zum Trunk beschuldigen, und sie unter männliche Trinker setzen solle.49

Nach dieser Einschreibung in den Diskurs um Geschlechterdifferenz und Rezeption bzw. Produktion anakreontischer Lyrik folgt ein „Vorbericht“, in welchem Löwen aber poetologische Fragen lediglich anreißt, um sich ihrer Erörterung mit Hinweis auf Unzer weitgehend zu entziehen: „Die scherzhafte Dichterin, auf die ich mich berufe, hat in ihrem Vorberichte alles gesagt, was ich hier sonst sagen wollte.“50 48 Johann Friedrich Löwen, Zärtliche Lieder und Anakreontische Scherze, Hamburg 1751, „Empfehlungs Schreiben an das schöne Geschlecht“ [unpaginiert]. 49 Ebd. 50 Löwen, Zärtliche Lieder und Anakreontische Scherze (wie Anm. 48), Vorbericht [unpaginiert].

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Es überrascht nicht, dass der Geschlechterdiskurs auch in den Rezensionen geführt wird, was hier nur an einem späten Beispiel gezeigt werden soll. 1766 wird im Hamburgischen Correspondenten, einer der wichtigsten und überregional rezipierten Hamburger Tageszeitungen der Epoche, die Neuauflage von Unzers Fortgesetzten Versuchen in sittlichen und zärtlichen Gedichten besprochen. Der Rezensent bedauert die Ankündigung der Verfasserin, dass eine Nachlese ihrer scherzhaften Gedichte ihre letzte Publikation werden würde: Wir, und die Liebhaber ihrer Gedichte, vernehmen diesen Entschluß ungerne. Eine Frau, welche mit Männerstärke denkt, muß ein Muster der Nachahmung ihres Geschlechts seyn, und nicht so gleichgültig die Musen verlassen.51

Der Maßstab ist nach wie vor das männliche Denken, das den Frauen zum Vorbild gereicht; ihnen wird hier kein spezifisch „weibliches“ Denken verordnet. So schrieb und publizierte Johanne Charlotte Unzer – sowohl in Halle als auch in Hamburg bzw. Altona – im Kontext eines aufklärerischen Diskurses über das bei Männern und Frauen gleichermaßen vorhandene geistige Potenzial zur literarischen Produktion und „vernünftigen“ Rezeption von Literatur, das durch gezielte Bildungsanstrengungen zu entfalten sei.52 Rezeption durch Vertonung Unzers Gedichtbände zählen neben vielen weiteren anakreontischen Sammlungen zum Textreservoir der Liedkomponisten um 1750 und es gibt keinen Hinweis darauf, dass es für diese einen Unterschied machte, ob sie den Text 51 Staats= und Gelehrte Zeitung des Hamburgischen unpartheyischen Correspondenten, Jg. 1766, Nr. 64, Dienstag, den 22. April. 52 Helga Brandes datiert in ihren Studien über moralische Wochenschriften bereits zwischen 1740 und 1750 die Ablösung der frühaufklärerischen Vorstellung von der Gleichheit der geistig-seelischen Fähigkeiten beider Geschlechter, die nur durch mangelnde Bildungschancen verdeckt würde, durch ein ambivalentes Frauenbild, das über das Ideal der empfindsam-tugendhaften, passiven Frau zur Polarisierung der Geschlechtscharaktere führe. Für den Bereich der Lyrik wäre diese Datierung angesichts der oben zitierten Quellen zu modifizieren. Helga Brandes, „Der Wandel des Frauenbildes in den deutschen moralischen Wochenschriften. Vom aufgeklärten Frauenzimmer zur schönen Weiblichkeit“, in: Zwischen Aufklärung und Restauration. Sozialer Wandel in der deutschen Literatur (1700–1848): Festschrift für Wolfgang Martens zum 65. Geburtstag, unter Mitw. von Ernst Fischer und Klaus Heydemann hrsg. von Wolfgang Frühwald und Alberto Martino, Tübingen 1989 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 24), S. 49–64, hier S. 49.

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eines Mannes oder einer Frau zugrunde legten. Von den drei im Folgenden vorgestellten Vertonungen stammt nur eine aus dem persönlichen Umfeld der Dichterin. Anfang der 1760er Jahre wurden in Altona zwei Liederhefte publiziert.53 Über den dort ansässigen Komponisten Christian Ernst Rosenbaum ist wenig bekannt. Er war ein Schüler Telemanns gewesen, bei dem er nach eigenem Zeugnis „so wol im General Bass als auch in der Composition dasienige erlernet“ habe, mit dem er „bis hieher bey getreuen Privatinformationen“ seinen „Unterhalt [habe] verschaffen können“.54 Neben seiner Tätigkeit als Privatmusiklehrer übernahm er 1758–59 während einer Vakanz den Organistendienst an der Altonaer Hauptkirche. Während sein erstes Liederheft Scherzhafte Lieder mit Melodien (1760) ausschließlich Vertonungen von Texten Christian Felix Weisses enthält, sind in den zwei Jahre später veröffentlichten Liedern mit Melodien für das Clavier diverse Autoren vertreten, darunter mehrere Dichterinnen und Dichter aus Rosenbaums persönlichem Altonaer Umfeld.55 Neben dem Lieddruck dokumentieren mehrere Gedichtbände, dass sich hier ein literarischer Zirkel zusammengefunden hatte, in dem sicher auch musiziert wurde; in einem ihrer Gedichte beschreibt Charlotte Unzer das Klavierspiel ihres Mannes56. Die Freunde führten, wie es auch in Gleims Umfeld Mode war, Schäfernamen. Johann August Unzer etwa wird von seiner Frau unter dem Namen Damis besungen. Thyrsis nannte sich der mit den Unzers befreundete Arzt Michael Dietrich Blohm57, der 1753 Vermischte Gedichte pu53 Christian Ernst Rosenbaum, Scherzhafte Lieder mit Melodien, Altona und Lübeck 1760; Lieder mit Melodien für das Clavier, Altona und Lübeck 1762. 54 Bewerbungsschreiben von Rosenbaum an Christian VI., Altona, 9.3.1759, zit. nach Jürgen Neubacher, „Zur Musikgeschichte Altonas während der Zeit von Telemanns Wirken in Hamburg“, in: Hamburger Jahrbuch für Musikwissenschaft 18 (2001), S. 267–311, hier S. 281. 55 Vgl. Gehring, Johanne Charlotte Unzer-Ziegler 1725–1782 (wie Anm. 9), Kap. „Der Altonaer Freundeskreis um Michael Dietrich Blohm und die Dichterin Lesbia“, S. 112– 116. Gehring kennt Rosenbaums Liederheft offenbar nicht. 56 „Aufmunterung zum Clavierspielen. An Damis“, in: Versuch in sittlichen und zärtlichen Gedichten, Halle 1754, S. 139–140. 57 Blohm machte das Ehepaar Unzer vermutlich auch mit der Familie von Hermann Samuel Reimarus, einem Protagonisten der Hamburger Aufklärung, bekannt. In ihrer Studie über Elise Reimarus, die mit ihrem mit ihrer Schwägerin Sophie Reimarus gemeinsam unterhaltenen „Teetisch“ als eine der bedeutendsten Gesellschafterinnen des Hamburger Bürgertums gelten kann, vermutet Almut Spalding, dass sich Charlotte Unzers Werke im Bücherbesitz der weiblichen Familienmitglieder befunden haben. Almut Spalding, Elise Reimarus (1735–1805), the muse of Hamburg: a woman of the German Enlightenment, Würzburg 2005, S. 72 f.

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blizierte.58 Die Präsenz von Frauen in dem Zirkel spiegelt sich u. a. darin, dass Blohms Gedichtband mit einer Zuschrift an eine Mademoiselle Oesterreich beginnt und einen kleinen poetischen Dialog mit Charlotte Unzer enthält. Zu seiner 1752 erschienenen Übersetzung von Homers Ilias hatte diese ein Lobgedicht verfasst, auf das er seinerseits mit einem Gedicht An die Frau Doctorin Unzerin59 antwortete. In Rosenbaums Lieddruck ist Blohm mit dem Gedicht An Phillis vertreten. Zwei Texte (Empfindungen der Freundschaft, Die ländliche Einsamkeit) stammen von einer Autorin, die unter dem Pseudonym Lesbia 1754 in Altona ein Bändchen Lyrik hatte drucken lassen,60 es schließt mit einem Freundschaftsgedicht an eben jene Mademoiselle Oe,61 an die Blohm seine Zuschrift gerichtet hatte. Die Gedichte werden eingeleitet vom Brief eines Damon, der behauptet, die Gedichte ohne Lesbias Wissen und ihre Zustimmung gedruckt haben zu lassen, nicht zuletzt, weil es ein Wert an sich sei, mehr Werke aus weiblicher Feder zu kennen: Die Anzahl der Werke des schönen Geschlechts, die von dem Geschmacke gebilligt worden, ist noch nicht so groß, daß man ihr mit gutem Gewissen eine so artige Schriftstellerinn, wie Lesbia, verborgen lassen könnte. Sie muss es wissen, daß unser Altona, welches an so manchen Vorzügen täglich neuen Zuwachs bekommt, ausser einer würdig=berühmten Unzerinn, die ihm von dem Glücke zugeführet worden, auch unter seinen eigenen Töchtern eine Dichterinn aufzuweisen habe, die ihm Ehre machet.62

Auch in den Gedichten selbst findet sich eine Referenz an Charlotte Unzer, wenn Lesbia die Empfindungen der Freundschaft schildert: So angenehm fließt unser Leben, Wir widmen jeden Tag der Lust, Die Weisheit, Lieb, und Dichtkunst geben, Und weihn der Tugend unsre Brust. 63

Gleim, Hagedorn, und Haller führen Uns munter durch die Fluhren hin. Und, wenn die Lehrer schweigen, rühren Uns Wieland und die Unzerinn.63

58 Michael Dieterich Blohm, Vermischte Gedichte, Altona 1756. 59 Ebd., S. 25–28. Das Gedicht bezieht sich auf Unzers Gedicht An Herrn Blohm, in: Versuch in Scherzgedichten, 2Halle 1753, S. 71–73. 60 Die Dichterinn Lesbia, Altona 1754. 61 Ebd., S. 74–77. 62 Ebd., Vorrede. S. [3]–5. 63 Ebd. S. 67.

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Wie Lesbias ist auch Damons Pseudonym bisher nicht aufgelöst worden, Rosenbaum vertont sein als „Jugendwerk“ bezeichnetes Gedicht Ein Blick in die Landlust. Zwei weitere Gedichte schreibt Rosenbaum in der Vorrede einer Frau zu: „Die beyden kleinen Lieder: Der Liebesgott, und tiefsinnige Ueberlegungen sind […] Erfindungen einer jungen funfzehnjährigen Schöne […], die bald eine der angenehmsten unserer Musen seyn wird.“64 Insgesamt waren also fünf Dichterinnen und Dichter aus dem persönlichen Bekanntenkreis des Komponisten vertreten. Christian Ernst Rosenbaum: Unterschied im Antworten Das scherzhafte Lehrgedicht Unterschied im Antworten65 läuft, einem gängigen Modell aufklärerischer Lyrik entsprechend, mit einer Refraindramaturgie auf eine Pointe zu. Ein weibliches lyrisches Ich vermittelt mit didaktischer Attitüde, wie die angemessene Reaktion eines Mädchens auf männliche Annäherungsversuche auszufallen habe. Vier Strophen sprechen verschiedene Arten des Flirts an – Kuss, Blick und Tanz –, denen das Mädchen nur eine einzige Reaktion entgegenzusetzen hätte: „Nein“. In der Schlussstrophe folgt die Pointe: „Ja“, als richtige Antwort auf den Heiratsantrag. Das von den Anakreontikern häufig verwendete Muster, den Kehrreim als Kurzvers gegenüber den längeren Versen der Strophe abzusetzen, ist hier zugespitzt: Drei Versen im vierhebigen Trochäus folgt als vierter Vers jeweils eine einzige Silbe – Nein bzw. Ja –, die sich auf den ersten Vers reimt. Unterschied im Antworten 1. Mägdchen! wenn die Männer schreyn! Kommt und laßt euch zärtlich küssen! Wißt ihr, was wir sagen müssen? Nein!

2. Fiel es einem etwan ein, Einen Blick von uns zu wollen. Wißt ihr, was wir sagen sollen? Nein!

3. Sollt ein Mann so dreiste seyn, Und nach dem und dem gelüsten; Wißt ihr, was wir sagen müßten? Nein!

4. Käm ein Herr, voll Lieb und Wein, Einen Tanz uns vorzuschlagen; Wißt ihr, was wir müßten sagen? Nein!

64 Rosenbaum, Lieder mit Melodien für das Clavier (wie Anm. 53), Vorrede [unpaginiert]. 65 Unzer, Versuch in Scherzgedichten, 2., veränderte und vermehrte Auflage, Halle 1753, S. 108–109.

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5. Aber stünd ein Jüngling da, Gar die Eh uns anzutragen; Wißt ihr, was wir müßten sagen? Ja!

Notenbeispiel 1  Christian Ernst Rosenbaum, Lieder mit Melodien für das Clavier, Altona und Lübeck 1762, S. 24. Bayerische Staatsbibliothek München, Musikabteilung, Signatur: 2Liturg. 432a.

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Rosenbaums Vertonung66, die mit dem „mäßig geschwinden“ 6/8-Takt in GDur einen pastoralen Ton anschlägt, profiliert diese Strophendramaturgie. In der Regel ist die harmonische Disposition dieses Liedmodells so angelegt, dass der Refrain die Tonika bestätigt, d. h., entweder schließt der Vers davor dominantisch oder die Tonika ist bereits vorher erreicht und wird vom Refrain nur durch eine weitere Kadenz bekräftigt. In Rosenbaums Lied warten die Hörer zunächst vergeblich auf die im Lied typische Kadenzierung auf der fünften Stufe, die gerade bei kurzen Strophen meist in der Mitte zu finden ist. Der initiale Anruf „Mädchen!“ wird in eine aufsteigende Sexte gefasst, die dann in einer sanften Wiegebewegung zum Ausgangston zurückgeführt wird, harmonisch vom Clavier durch eine Kadenz grundiert. Der zweite Vers bleibt spannungssteigernd, statt zu modulieren, auf einem Dominant-Orgelpunkt, der beim letzten Wort wieder in die Tonika mündet. Der andrängende Gestus der männlichen Aufforderung, sich küssen zu lassen, wird durch einen Rhythmuswechsel in Singstimme und Begleitung vom geschmeidigen Tonfall der ersten Phrase abgesetzt. Dort schreitet die Melodie in gleichmäßigen Achteln fort, wobei der Bass durch Pausen auf der Takteins den Sext- und Quartsprung der Gesangsstimme hervortreten lässt. Hier bekommen die Hebungen ein stärkeres Gewicht durch Viertelnoten, die mit Vorschlägen noch einen zusätzlichen Anfangsimpuls erhalten. Auch der Bass betont die Takteins besonders, indem er nun auf drittem und sechstem Achtel pausiert. Im dritten Vers spricht das weibliche lyrische Ich wieder mit eigener Stimme und findet zur weicheren Achtelbewegung zurück. Als Signal der formtypischen Kadenzierung zur fünften Stufe erscheint die Doppeldominante, die aber bloßes Durchgangsphänomen bleibt, indem die zweite Vershälfte wiederum – wie die beiden vorigen Verse – nach G-Dur kadenziert. Die Melodie vollzieht die Frage durch den Terzanstieg nach. Bei der nun vom Kehrreim gegebenen Antwort „Nein“ setzt Rosenbaum prägnant den Subdominant-Akkord C-Dur in Szene. Melodisch folgt dieser konsequent dem Terzanstieg, ein besonderes Gewicht erhält der Klang durch die Vollstimmigkeit – vorher war der Satz maximal dreistimmig, wenn die Melodie durch Sexten oder Terzen der rechten Hand gefüllt wurde – und das Arpeggio, mit dem die insgesamt sieben Töne des Akkords den Raum von zwei Oktaven und einer Terz ausfüllen. Durch die unerwartete Harmonie leuchtet Rosenbaum den Hintersinn des Refrains musikalisch aus: Einerseits ist die Antwort ausreichend bestimmt, fast schroff, andererseits verlangt sie nach einer Weiterführung, es ist deutlich, dass dieser Bescheid kein abschließender sein kann. Die Gedanken, die diese Dramaturgie bei den Hörern auslöst, wel66 Rosenbaum, Lieder mit Melodien für das Clavier (wie Anm. 53), S. 24.

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che auf die gattungstypische Pointe warten, erhalten zeitlichen Raum durch das Cembalo-Nachspiel, das die Kadenz mit spitz-verspielten Dreiklangsbrechungen zu Ende bringt. Nicht ungewöhnlich ist dabei, dass der Normbruch der Strophenform, der in der Verskürzung liegt, durch einen zweiten Normbruch, diesmal in der Musik, ausbalanciert wird. Füllte vorher jeder der Verse eine zweitaktige Phrase, so umfasst der Schluss von Kehrvers und Nachspiel drei Takte, wobei der Bassverlauf – verlangsamt – die Linie des ersten Verses wortwörtlich rekapituliert. Diese Dramaturgie des subdominantischen Kehrverses verlangt eine andere Lösung für die letzte Strophe mit ihrer Pointe: Das, was als „Nein“ so plausibel klingt, kann für das „Ja“ nicht angemessen sein. In der Tat komponiert Rosenbaum das „Ja“ anders, was ungewöhnlich ist – normalerweise werden flüssige, d. h. veränderliche Kehrverse musikalisch gleich behandelt. Hier nun werden die vorigen ‚Regelverstöße‘ zurechtgerückt. Statt der Subdominante erscheint die zweimalige kadenzierende Akkordverbindung D7 – G. Die dafür nötige Silbenmenge gewinnt Rosenbaum, indem er das „Ja“ viermal wiederholt, was die freudige Bestimmtheit betont. So wird der letzte Vers zwar nicht auf die gleiche Länge gebracht wie die vorigen, aber doch an diese angenähert, sodass auch die Proportion der musikalischen Phrase ausgeglichener wirkt, da der Schluss anderthalb Takte umfasst. Die Pointe – harmonisch mit der regulären Kadenz eher unspektakulär – wirkt vor allem durch die Verzögerung der Antwort. Da Unzer in der letzten Strophe mit dem Anfangswort „Aber“ ein deutliches Signal für die scherzhafte Schlusswendung setzt, erwarten die Hörer hier die Pointe. Doch auf den ersten zwei Achteln des Taktes pausiert die Stimme, wobei der Clavierbass mit einer geschwinden Sechzehntelkette quintaufwärts das Dominant-d ansteuert: Dann erst setzt die Stimme mit dem „Ja“ ein. Peter Paulsen / Carl Philipp Emanuel Bach: Einladung zum Vergnügen Am Schluss dieses Beitrags steht ein Vergleich zweier Vertonungen desselben Textes, der mit damals allgegenwärtigen poetischen Topoi die freundschaftliche Geselligkeit in der freien Natur feiert. Die Einladung zum Vergnügen67 stellt in den ersten zwei Strophen den locus amoenus vor Augen und fordert dazu auf, Lust aus der Wahrnehmung der Schönheit und der Freude der belebten Natur, der Vögel, zu gewinnen. In der dritten Strophe ruft das lyrische Ich, dem poetischen Muster anakreontischer Geselligkeitslyrik entsprechend, dazu auf, von Liebe und Wein 67 Unzer, Versuch in Scherzgedichten (wie Anm. 35), Halle 1751, S. 38.

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zu singen. Der Gestus des Gedichts wird durch die Aufforderungen bestimmt, die sich zu Beginn jeder Strophe an die „Freunde“ richten: „kommt“, „eilet“ und „scherzet“. Auch die insgesamt fünf in dem Text vorkommenden Ausrufezeichen unterstreichen seinen appellativen Charakter.

Einladung zum Vergnügen 1. Freunde, kommt doch in die nahen Wälder, Und empfindet da des Frühlings Lust! Zephyr küßt die schön geschmückten Felder, Und entführt den Kummer aus der Brust. 2. Eilet! und verbannet aus dem Herzen Unlust, die des Winters Eigenthum! Seht der Vögel Heere munter scherzen! Bleibt doch nicht bey ihrer Freude stum. 3. Scherzet, singet feurig von der Liebe. Singt den alten, singt den jungen Wein, Singt der Jugend freudenvolle Triebe, Singt euch ewig, um vergnügt zu seyn.

Peter Paulsen68, Organist in Glückstadt und Verfasser mehrerer Lieddrucke, betont in seinem Lied den Kontrast zwischen dem Appell am Beginn jeder Strophe, der mit akzentuierten Vierteln im Quint- und Quartsprung die Oktave von e’ bis e’’ durchmisst, und der Vorstellung der lieblichen Natur, welche die gleiche Strecke in Form einer sanft punktierten und verzierten Tonleiter wieder zurückführt. Ein weiterer Kontrast schließt sich an: Zeigte der Clavierbass der ersten vier Takte eher kontrapunktischen Gestus, so weicht dieser im Nachsatz einem flächig pulsierenden Bass, der mit seinen dynamischen Akzenten (drei Achtel f, ein Achtel p) die Bewegung der Seele, von der im Text der ersten Strophe die Rede ist, zum Ausdruck bringt. In der zweiten Strophenhälfte malt Paulsen die Zärtlichkeit („Zephyr küßt die schöngeschmückten Felder“) mit aufwärtsführenden Sechzehnteltriolen, bevor der Schlussvers mit einem entspannten Abwärtsgang über den Ambitus einer None den Bogen schließt.

68 Peter Paulsen, Neue Odenmelodien zum Singen bey dem Clavier, Flensburg und Leipzig 1764, S. 13. In Paulsens Lieddruck ist eine zweite Unzer-Vertonung enthalten, Am Geburtstage ihres Ehegatten, S. 2 f.

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Notenbeispiel 2  Peter Paulsen, Neue Odenmelodien zum Singen bey dem Clavier, Flensburg und Leipzig 1764, S. 13. Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden, Signatur 8. Mus. 4.2114

25 Jahre nach Paulsen wurde eine Vertonung des Gedichts in Carl Philipp Emanuel Bachs posthum erschienenem Lieddruck Neue Lieder=Melodien69 publi69 Carl Philipp Emanuel Bach, Neue Lieder=Melodien nebst einer Kantate zum Singen beym Klavier, Lübeck 1789, S. 38.

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ziert. Darin sind deutlich früher entstandene Stücke enthalten, wann Bach aber die Einladung zum Vergnügen komponierte, lässt sich nicht rekonstruieren.70 Zur Zeit der Drucklegung war die Anakreontik jedenfalls schon seit über zwanzig Jahren aus der Mode gekommen; die Musiker vertonten lieber Dichter des Sturm und Drang oder der Empfindsamkeit, und mittlerweile waren der Unzerin verschiedene Autorinnen nachgefolgt, deren Lyrik vertont wurde, etwa in den Musenalmanachen. In Bachs Lieddruck sind neben anakreontischen Texten, etwa von Gleim und Haller, auch modernere Dichter wie Ludwig Christoph Heinrich Hölty sowie mit Elise von der Recke eine weitere Dichterin vertreten. Auch Bach fasst die beiden Textelemente – Aufforderung der Freunde und Evokation der Natur – in den Kontrast zwischen weiten Intervallen und melodischen Motiven in Sekundschritten. Er wiederholt das erste Wort, das in jeder Strophe semantisch und syntaktisch ein besonderes Gewicht hat. Dadurch kann er jedem Ton des aufsteigenden C-Dur-Dreiklangs eine betonte Silbe zuweisen, während die unbetonten Silben jeweils auf dem darunter liegenden Akkordton abgesprochen werden. Das profiliert nicht nur den deklamatorischen Gestus, sondern arbeitet auch dem geforderten Affekt ‚munter‘ durch schnelles Tempo und die Anstiegsenergie der großen Intervalle zwischen Senkung und Hebung wirkungsvoll entgegen. Hatte Paulsen den zweiten Vers, der der Empfindung gewidmet ist, durch dynamisch differenzierte Achtelpulse umgesetzt, so beginnt ihn Bach mit einer Synkope auf dem eigentlich wenig starken Wort „und“. Das im Bass auf der Takteins einsetzende fis macht das Synkopen-e als Vorhalt wahrnehmbar. Musikalisch liegt die Hauptbetonung dieses Verses allerdings auf der Mitte des Taktes bei dem Wort „da“: Es wird durch einen Oktavsprung aufwärts erreicht, zeigt durch die Punktierung eine Längenbetonung und wird zudem vom einzigen vierstimmigen Akkord der rechten Clavierhand unterstrichen, was die Bedeutsamkeit des Ortswechsels und die Distanz zwischen dem „Hier“ und dem „Da“ hörbar werden lässt. Anders als bei Paulsen wird die erste Liedhälfte nicht wiederholt. Bach beginnt den dritten Vers mit einem langen, zwei Viertel umfassenden Auftakt, sodass die größte Betonung auf die dritte Silbe „küßt“ fällt. Das poetische Bild erhält durch eine eher überraschende Wendung nach g-Moll, nach welcher eine unterterzte Achtelkette nach d-Moll kadenziert, eine intensive Tönung. Der Bass unterstreicht die Besonderheit dieser Wendung mit einer eigentümlich diskontinuierlichen Linienführung: Statt den Leit70 Vgl. dazu Gudrun Busch, Carl Philipp Emanuel Bach und seine Lieder [nebst Anhang], Regensburg 1957 (Kölner Beiträge zur Musikforschung 12), S. 190–195.

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Notenbeispiel 3  Carl Philipp Emanuel Bach, Neue Lieder=Melodien nebst einer Kantate zum Singen beym Klavier, Lübeck 1789, S. 38. Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Signatur: MA/469.

ton fis direkt auf der Takteins ins g münden zu lassen, setzt Bach eine Pause und springt dann das g mit einem Oktavsprung aus der Tiefe an. Im vierten Vers löst eine muntere Imitation zwischen Stimme und Bass, die durch den Quartsprung im Motivkopf den Bogen wieder zum Affekt des Anfangs zurückschlägt, die gefühlsmäßige Verdichtung des vorangegangenen Verses. Beim Vergleich zwischen Paulsen und Bach fällt vor allem die größere Individualität der Deklamation ins Auge, welche die Liedkomposition seit 1760 hinzugewonnen hatte, sowie die eigenständigere Führung der Clavierstimme, die typisch für den Liedkomponisten Bach ist. *** Ton und Sprachform der anakreontischen Lyrik sind wenig individuell, vielmehr geht es um das Spielen mit Modellen, die den Leserinnen und Lesern wohlvertraut waren. Auch Charlotte Unzers Gedichte zeigen keine personalstilistischen Besonderheiten, auf die Komponisten bei der Vertonung hätten

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reagieren können. Gemeinsamkeiten der drei Vertonungen, die über das Gattungstypische hinausgehen, sind demnach auch nicht auszumachen. Ein Ergebnis der Liedinterpretationen lässt sich jedoch festhalten: Die Komponisten versuchten, die rhetorische Form der Texte möglichst pointiert in musikalische Form zu übertragen. Im strophischen Generalbasslied ist das Repertoire der kompositorischen Mittel hierfür zwar im Vergleich zu den Möglichkeiten, die sich seit dem späten 18. Jahrhundert entwickelten, äußerst beschränkt, aber der Blick auf die Lieder zeigt, wie genau die Musiker ihre Texte lasen. Sei es, dass Rosenbaum die Pointe durch eine Umgestaltung des Kehrreims zur Geltung bringt, sei es, dass Paulsen und Bach den Gegensatz zwischen dem Appell zum Aufbruch und der Naturimagination im Kontrast der musikalischen Phrasen hörbar werden lassen. Durch die Variation der Menge von Akkordtönen in der Begleitung, durch dynamische Konturierung und durch die Unterstreichung des deklamatorischen Gestus mittels rhythmischer Individualisierung der Verse entstehen Vertonungen, in denen die Musik nicht nur im Sinne von Walther Dürrs „naiver Deklamation“71 ein Medium der Text-Vergegenwärtigung ist, sondern dem Text eine neue Präsentationsform verleiht. Die musikwissenschaftliche Forschung hat bislang keine überzeugenden Analyseansätze für das Liedrepertoire des mittleren 18. Jahrhunderts vorgelegt. Die ästhetischen Normen für das Lied im 18. Jahrhundert werden aus den Programmschriften und Vorreden der Berliner Liederschule gezogen, die das Ideal einer natürlich fließenden Melodie propagieren, die auch ohne Bass bzw. Clavierbegleitung gesungen werden kann.72 Diese Musizierpraxis wäre bei den hier vorgestellten Kompositionen wenig sinnvoll: Alle drei setzen Gesang und Bass in einen Beziehungszusammenhang, der den Textsinn erst hervortreten lässt. Die Tatsache, dass das Repertoire an Normen gemessen wird, die ganz offensichtlich für die Komponisten des aufklärerischen Liedes nicht oder jedenfalls nicht durchgängig gültig waren, erklärt die regelmäßig vernichtenden Bewertungen der älteren Forschungsliteratur. So urteilt Max Friedländer über Rosenbaums Lieddrucke: „Die Compositionen sind im höchsten Grade unbedeutend und verschroben.“73 Und Ernst Otto Lindner kritisiert

71 Vgl. Walther Dürr, Sprache und Musik. Geschichte. Gattungen. Analysemodelle, Kassel u. a. 2 2004, S. 29 f. 72 Vgl. hierzu Heinrich W. Schwab, „Musikalische Lyrik im 18. Jahrhundert“, in: Musikalische Lyrik. Teil 1: Von der Antike bis zum 18. Jahrhundert, hrsg. von Hermann Danuser, Laaber 2004 (Handbuch der musikalischen Gattungen 8/1), S. 349–407, hier S. 366 ff. 73 Friedlaender, Das deutsche Lied im 18. Jahrhundert (wie Anm. 1), Bd. 1, S. 163.

Johanne Charlotte Unzer

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Bachs Liedsammlung: Von wenigen interessanten harmonischen Wendungen abgesehen, seien „diese Compositionen trocken und reizlos“.74 Die Beschäftigung mit dem intellektuellen Kontext einer Dichterin und den poetologischen Diskursen im Umfeld der lyrischen Produktion kann hier exemplarisch für die Epoche deutlich machen, dass der Anspruch bis in die 1760er Jahre hinein ein aufklärerischer war. Weder die Innerlichkeit des Empfindsamen noch die artifizielle ‚Natürlichkeit’ der späteren Lieder im Volkston waren hier bestimmend, sondern die prägnant geformte Sprache, die – im Modus des Scherzhaften – lehrhaft sein wollte nach dem Horazischen Motto prodesse et delectare. Die Epoche öffnete auch literarisch tätigen Frauen einen erweiterten Sprach-Raum, auch wenn dieser durch intensives diskursives Engagement immer wieder neu begründet werden musste. Den Komponisten scheint es nicht wichtig gewesen zu sein, ob ein Liedtext von einer Frau oder einem Mann stammte, solange er ihnen nur gefiel.

74 Ernst Otto Lindner, Geschichte des deutschen Liedes im XVIII. Jahrhundert, hrsg. von Ludwig Erk, Leipzig 1871, S. 60.

Hans-Joachim Hinrichsen

Zwischen Terminologie und Metaphorik Zu Theodor W. Adornos frühen Essays über Franz Schubert Zu dem Gedenkjahr 1928, dem Jahr der hundertsten Wiederkehr von Franz Schuberts Todestag, steuerte der gerade fünfundzwanzigjährige Theodor W. Adorno einen umfangreichen Aufsatz bei, dem er den lapidaren Titel „Schubert“ gab. Er erschien in der weit verbreiteten, nicht nur von Spezialisten gelesenen Zeitschrift Die Musik. Viele Jahrzehnte später, 1964, hat Adorno diesen frühen Text in seine Aufsatzsammlung Moments musicaux aufgenommen und damit seine Jugendarbeit nachträglich nobilitiert – mit einem bezeichnenden Argument: Dieser Text sei überhaupt die „erste umfangreichere Arbeit des Autors zur Deutung von Musik“ gewesen und verdiene schon allein darum die Dokumentation durch den Wiederabdruck. Bemerkenswert ist allerdings die Selbstkritik, die Adorno diesem Wiederabdruck seiner „ersten umfangreicheren Arbeit zur Deutung von Musik“ beigefügt hat, denn sie zeigt in der Tat wie in einem Brennspiegel sowohl die Schwächen dieses frühen Textes als aber auch das von Adorno selbst in der Folgezeit entwickelte musikpublizistische Programm: Der Aufsatz über Schubert galt dem hundertsten Todestag. Als erste umfangreichere Arbeit des Autors zur Deutung von Musik ließ er ihn passieren trotz manchen Unbeholfenheiten, und obwohl die philosophische Interpretation allzu unmittelbar, unter Vernachlässigung der technisch-kompositorischen Tatbestände, sich vorwagt. Kraß ist das Mißverhältnis zwischen dem großen Anspruch, auch dem des Tons, und dem Erfüllten; vieles bleibt [...] schlecht abstrakt. Keine andere captatio benevolentiae hätte der Autor vorzubringen, als daß seine spätere Anstrengung zentriert war in der Korrektur solcher Mängel; insofern sind sie ein Moment des Denkens selber.1

In der Tat überwiegt bei der Lektüre des Aufsatzes zunächst der Eindruck, man habe es eher mit einem poetischen als mit einem musikanalytischen Text zu tun: Die Sprache ist blumig und bilderreich, der Bezug auf konkrete Bei1 Theodor W. Adorno, „Vorrede“, in: ders., Moments musicaux. Neu gedruckte Aufsätze 1928–1962, Frankfurt a. M. 1964, S. 8; wieder abgedruckt in ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann u. a., 20 Bde., Frankfurt a. M. 1970–1986 (im Folgenden GS), Bd. 17, S. 10.

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spiele ist eher selten und der Schluss wirkt geradezu wie ein Stilversuch in literarisch ambitionierter lyrischer Prosa. Nicht durch terminologische Distinktheit, wie man sie von musikwissenschaftlicher Analyse-Prosa erwarten würde, ist Adornos Stil gekennzeichnet, sondern durch einen Zugriff, den man nicht anders denn als planvoll metaphorisch bezeichnen kann. Von Schuberts „Landschaft“ ist in unablässig variierten Bildern so ausgiebig die Rede, dass man wohl die Landschaft überhaupt als die Zentralmetapher des gesamten Textes bezeichnen darf, vom „Wechsel des Lichtes“, vom „Zauberkreis der Natur“, von „kristallinischer Form“, von „verlorener Nähe“ und „unerreichbarer Ferne“, vom „Dialekt ohne Erde“ und so weiter.2 Schuberts Musik wird in diesem Aufsatz – und das ist der eigentliche Fokus der „philosophischen Interpretation“, die hier noch, in der Formulierung von Adornos Selbstbezichtigung, „allzu unmittelbar, unter Vernachlässigung der technisch-kompositorischen Tatbestände, sich vorwagt“ – als auskomponierter Einspruch gegen die Zerstörungskraft des geschichtlichen Fortschrittsoptimismus gedeutet: „So wenig Geschichte zwischen dem Eintreten eines Schubertschen Themas und einem zweiten konstitutiv waltet, so wenig ist Leben intentionales Objekt seiner Musik.“3 Schuberts Musik, so Adorno, vermittelt die Erfahrung einer gewollten Zeit- und Geschichtslosigkeit, sie verfügt über die Einsicht in die Nähe des menschlichen Lebens zum Tod, und sie hält im Menschen die utopische Sehnsucht nach einem von Fortschrittszwang wie von Todverfallenheit gleichermaßen befreiten Leben wach, ohne billigen Trost zu spenden – und ist dadurch abgrundtief traurig und beglückend zugleich.4 Auch wenn diese knappe Zusammenfassung dem wirklichen Perspektivenreichtum von Adornos Schubert-Deutung kaum gerecht wird, so wird an ihr doch der Grund für Adornos Selbstkritik nachvollziehbar: Mögen auch alle philosophisch gemeinten Aussagen des Essays aus der Analyse von Schuberts Musik gewonnen sein, so wird diese analytische Verankerung in Adornos Text doch kaum jemals wirklich deutlich. Die begrifflich erfassbaren „technischkompositorischen Tatbestände“, so Adornos kritischer Rückblick auf seine Ju2 Adorno, „Schubert“ [1928], in: ders., Moments musicaux (wie Anm. 1), S. 18–33. 3 Adorno, GS 17, S. 23. 4 In unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft zum Schubert-Aufsatz von 1928 heißt es in einem erstmals 1930 publizierten Aphorismus aus Quasi una fantasia, hier ebenfalls in „allzu unmittelbar“ sich vorwagender philosophischer Deutung: „Der Affekt der Rührung in Schuberts Musik ist Ergebung, nicht Resignation. Von Resignation werden Menschen gezeichnet vorm Tode gleichwie vom Trotz [...]. Schuberts Ergebung jedoch ist nicht naturverfallen; der Tod nicht ihr letztes Wort sondern ihr leisester Übergang: ich bin nicht wild, spricht seine Allegorie des Todes selber; mythisches Bild einer bereits unmythischen Wirklichkeit“, in: Adorno, GS 16, S. 270.

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gendarbeit, werden zugunsten metaphorischer Umschreibung übersprungen. Nur selten – und dann eher en passant – ruft der Autor ein konkretes Beispiel auf: Weder Anschaulichkeit noch die Bemühung um detaillierte Belege sind das Ziel von Adornos Text. Andererseits macht er seinen kontinuierlichen Bezug auf die Musik genügend deutlich, um eben nicht einfach „schlecht abstrakt“ zu wirken, wie Adorno in fast ungerechter Selbstkritik ja behauptet hat. Vielmehr macht es die Faszination des Aufsatzes aus, daß man ihm die mögliche analytische Begründbarkeit seiner weitreichenden philosophischen Schubert-Deutung durchaus glauben mag. Nur zeigt er sie weniger selbst im Sinne einer kohärenten und distinkten Terminologie vor, als dass vielmehr der Leser sie erst aus der Fülle der Metaphern rekonstruieren muss. Es gibt allerdings einen in zeitlicher Nähe entstandenen Text Adornos über Schubert, aus dem man im Rückblick eine erhellende Sichtweise auch auf den 1928er-Aufsatz gewinnen kann: einen für das Feuilleton der Berliner Vossischen Zeitung (6.1.1934) bestimmten kleinen Essay über Franz Schuberts großes Rondo für Klavier zu vier Händen in A-Dur (Op. 107, D  951) aus Schuberts letztem Lebensjahr.5 Dieser Text verwendet wie selbstverständlich die gleiche Metaphorik wie der Schubert-Aufsatz von 1928, ist also erkennbar auch derselben „philosophischen Interpretation“ Franz Schuberts verpflichtet. Er basiert aber im Unterschied zu diesem auf einer argumentativ ausgebreiteten Analyse des Stücks, deren genauere Betrachtung sich lohnt. Er erweist sich, wie gezeigt werden soll, als ein Schlüsseltext seines dreißigjährigen Autors, weil in ihm die musikalische Analyse und deren sprachliche Gestaltung, die philosophische Interpretation und die Andeutung zukünftiger kunstphilosophischer Programmatik zu einer prekären Balance finden (auch wenn, wie sich zeigen wird, die Tendenz der philosophischen Deutung gerade angesichts des Zeitpunkts und des Ortes der geplanten Publikation erstaunlich ist). *** Franz Schuberts großes Rondo für Klavier zu vier Händen in A-Dur (Op. 107, D  951) ist im Juni 1828 entstanden und gehört zusammen mit den beiden Klaviertrios, der f-Moll-Fantasie, dem Streichquintett und den drei letzten Klaviersonaten zu den herausragenden Meisterwerken aus Schuberts Spätund Reifezeit – in Adornos Worten „der große Glücksfall aller vierhändigen Musik“.6 Allerdings dürfte es von allen eben aufgezählten Werken aus Schu5 Adorno, „Franz Schubert: Großes Rondo A-Dur, für Klavier zu vier Händen, op. 107“, in: Adorno, GS 18, S. 189–194. 6 Ebd., S. 189.

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berts letztem Lebensjahr das unbekannteste sein. Eben dieser Umstand mag aber Adornos Entscheidung begründet haben, gerade dieses unbekannte Juwel zum Gegenstand einer werbenden Besprechung im Feuilleton einer viel gelesenen Zeitung zu machen. Die potentiellen Adressaten dieses Textes sind im deutschen Bildungsbürgertum zu suchen, in dem das vierhändige Klavierspiel – ebenso wie in Adornos eigener Familie – noch selbstverständlicher Teil der Hausmusikpflege war. (Nicht umsonst betont Adorno mehrfach die relativ geringen technischen Schwierigkeiten des Schubertschen Rondos.) Zu Beginn seines Textes knüpft Adorno, wie schon erwähnt, scheinbar poetisierend an die Bilderwelt seines Schubert-Aufsatzes von 1928 an. Seine Charakterisierung der Komposition entfaltet, getreu der zentralen „Landschafts“Metapher des früheren Aufsatzes, eine Natur-Szenerie: „weite Musiklandschaft, umgangen in wechselnden Perspektiven, auf wechselnder Höhe und Tiefe; umgangen vom Menschen, menschlich gespiegelt, doch selig objektives Bild wie Tal und Staffage des Planwagens und Quelle darin“.7 Im Unterschied zu dem älteren Text wird im vorliegenden nun aber, wie gleich zu zeigen ist, das poetische Bild Zug um Zug systematisch entfaltet und auf analytisch nachvollziehbare Details der Komposition selbst bezogen. Schon hier ist zu sehen, dass der so auffällig metaphorische Sprachstil für den jungen Adorno kaum einfach als Ornat der Rede, sondern als sehr planvoll eingesetztes Medium einer Vermittlung von musikalischer Analyse und philosophischer Deutung fungiert. Seine Metaphorik ist der Intention des Autors nach nicht akzidentiell, sondern substantiell. Was also fällt dem analysierenden Adorno 1934 an Schuberts Rondo auf ? Eine erste grundsätzliche analytische Einsicht formuliert er, wenn er die Komposition als „ein Sonatenrondo im Beethovenschen Verstande“8 bestimmt. Als Sonatenrondo – ein Begriff, den Adolf Bernhard Marx 1845 im dritten Band seiner Kompositionslehre in die Musikliteratur eingeführt hat – verbindet das Stück Wesenszüge der Rondoform mit solchen der Sonatenform (übernimmt also den Tonartenplan der Sonate mit einem dominantischen Seitenthema-Couplet in der Expositionspartie und der Auflösung dieser Tonartenspannung in der Reprise, funktioniert ferner das mittlere Couplet zu einer veritablen Durchführung um, disponiert aber am Ende der Exposition und damit vor dem Eintritt der Durchführung die tonikale Wiederkehr des Ritornell-Hauptthemas). Bemerkenswerterweise und mit großem Recht setzt Adorno dann aber Schuberts Stück umgehend von dem eben aufgerufenen Beethovenschen Modell wieder ab. Zwar könnte ihm, wie Adorno plausibel vermutet, der Finalsatz aus Beethovens e-Moll-Klaviersonate Op. 90 als Vor7 Ebd. 8 Ebd.

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bild zugrunde gelegen haben (für Adorno ist „dieser Sonatensatz der Schubertischeste vielleicht, der von Beethoven existiert“9) – aber wichtiger für seine Erkenntnis ist, wie er sich von diesem grundlegend unterscheidet. Hier nun beobachtet Adorno die für seine Musikphilosophie fundamentale Differenz zwischen Beethoven und Schubert: Schubert unterzieht seine Themen, anders als Beethoven, keiner motivisch-thematischen Entwicklung, er unterwirft sie nicht dem prozessualen klassischen Durchführungsprinzip. Vielmehr erfüllt sich Schuberts Satz darin, die Themen auszukosten und ihnen viel Raum zur Ausbreitung zuzugestehen und sie darüber hinaus auch unverändert (oder nur in anderer harmonischer Beleuchtung, das heißt in anderen Tonarten) wiederkehren zu lassen. Und deshalb kann Adorno eine prinzipielle Deutungsaussage des älteren Schubert-Aufsatzes auch hier wiederholen: Die thematische Arbeit läßt nicht, mit Ähnlichkeit und Widerspruch, eines aus dem anderen wachsen; sie steht nicht ein für Geschichte. Sie ist statisch; sie bindet die Kontraste und variiert die Gleichheiten, weil alle ruhen im gleichen angeschauten, gegenwärtigen Sein.10

Diese besondere Art der komponierten Geschichtsverweigerung wird im folgenden Teil des Aufsatzes von Adorno analytisch entfaltet. Es soll nun gar nicht darum gehen, Adornos analytische Durchquerung des Werks in allen Einzelheiten nachzuvollziehen. Vielmehr soll ein Hinweis auf einige Beobachtungen genügen, weil es dann schließlich auf die Art ihrer Vermittlung ankommt mit dem, was Adorno die philosophische „Deutung“ nennt. Adorno fixiert die übergeordnete „Einheit“ des Satzes, die ihn ja immerhin zu der eben zitierten Gesamtdeutung der in sich kreisenden Immer-Gleichheit inspiriert, zunächst, wie es sich streng analytisch vorgehend auch gehört, in einem „technischen“ Sachverhalt: „Technisch ist die Einheit gestiftet durch ein Kopfmotiv von drei diatonisch ansteigenden Noten, das den verschiedensten Themen gemeinsam ist.“11 In der Tat läßt sich dies, wie das Notenbeispiel zeigt, nachvollziehen – unter der Voraussetzung, dass man im dominantischen Seitensatzthema (T. 54 ff.; Notenbeispiel 1c) nicht dieses selbst, sondern seinen (im Primo-Part enthaltenen) Kontrapunkt in Betracht zieht. Nicht zuletzt deshalb gibt Adorno im zweiten Teil seines Aufsatzes einen bezeichnenden Interpretationshinweis für die Spieler des Stücks, der zugleich als eine der ersten gültigen Formulierungen des für Schubert so charakteristischen „romantischen“

9 Ebd., S. 190. 10 Ebd. 11 Ebd.

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Kontrapunkts gelten kann, und der um der Betonung der Themeneinheit willen gerade die Begleitstimme der Takte 54 ff. aufwerten muss: In den dreistimmigen Partien des Seitensatzes muß die Sechzehntelbegleitung durchaus zurücktreten; die ganze Stelle möglichst ohne Pedal; die beiden anderen Stimmen aber, die ruhigere und die mit den Sechzehnteltriolen, sind, wie sehr oft bei Schubert, gleichberechtigt; also nicht die eine bloßer Kontrapunkt zur anderen; sie müssen sich polyphonisch verschlingen, keine ist ‚Hauptstimme‘.12 1a

1b

1c

1d

Notenbeispiel 1  Franz Schubert, Rondo D 951, Hauptthemen (T.  1 ff., T.  33 ff., T. 54 ff., T. 69 ff.) 1a: Hauptthema (T. 1 ff.) 1b: Überleitung (T. 33 ff.) 1c: Seitenthema / Couplet (T. 54 ff.) 1d: Schlussgruppe (T. 69 ff.) 12 Ebd., S. 193.

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Tatsächlich sind, wie im Notenbeispiel 1 zu sehen, die an den wichtigsten Formstationen auftretenden thematischen Gestalten durch das von Adorno hervorgehobene Kopfmotiv, eine im Terzraum auftaktig steigende Dreitonfigur, untereinander verbunden. Indessen ist die innerhalb der Einheit waltende Differenz nicht weniger entscheidend, und hier hebt Adorno ein Moment hervor, das zugleich der Dynamisierung der Exposition zugute kommt: Nach dem achttaktigen Hauptthema (Notenbeispiel 1a), seinem sechzehntaktigen Mittelteil und der Wiederkehr des anfänglichen Achttakters setzt in der Paralleltonart fis-Moll ein Überleitungsthema (Notenbeispiel 1b) ein, das asymmetrisch aus zweimal 4+7 Takten gebaut ist; das eigentliche Seitensatzthema (Notenbeispiel 1c) in E-Dur erweist sich dann als kleinteilig aus mehreren Zweitaktern gebautes Gebilde. Adornos Kommentar dazu lautet: „immer mehr verjüngen sich die Modelle des Satzes!“13 – das heißt: Durch kontinuierliche Verkürzung der thematischen Gebilde gewinnt dieser Formteil des Sonatenrondos, die Exposition, einen spezifisch dynamischen Zug. Weitere Beobachtungen zur Syntax fügen sich hier an: zum Beispiel die schlusskräftige Dehnung des Seitenthemas auf zweimal drei Takte (T. 62 ff.). Das Schlussgruppenthema (Notenbeispiel 1d) schließlich ist – nach Adornos wichtigem, weil für die spätere Deutung des Satzes entscheidenden Hinweis – „eng verwandt dem Hauptthema, im Ton jedoch am weitesten von ihm entfernt“.14 Auf die besondere Deutungspointe, die Adorno aus dieser Beobachtung gewinnt, wird später zurückzukommen sein. Für Adorno ist das Schlussgruppenthema vielleicht das schönste Thema des Satzes, mit dem Ausdruck unbeschreiblich friedvoller Ergebung, choralhaft in sich verschlossen, plötzlich umschlagend wieder nach fis-Moll, wo ein neues Melos – der Seele der Klarinetten abgehört – sich loslöst.15

Ist die an der Beziehung von Haupt- und Schlussgruppenthema gemachte Beobachtung einer paradoxen Verschränkung von Nähe und Ferne wirklich zu verifizieren? Im Sinne einer am Notentext zeigbaren motivischen Verwandtschaft (Aspekt der Nähe) sicherlich unmittelbar, im Bezug auf den demgegenüber völlig veränderten „Ton“ (Aspekt der Ferne) wohl nur durch Berufung auf die Evidenz einer Hörerfahrung. Dennoch, und das ist im Vergleich zu dem früheren Essay von 1928 entscheidend, überwiegt der Verweis auf das Konkrete; der Beleg am Notentext fungiert als Basis der Interpretation. So auch an einer anderen Stelle der Exposition: Über das in fis-Moll einsetzende Überleitungsthema (Notenbeispiel 1b) macht Adorno eine Bemerkung, die 13 Ebd., S. 191. 14 Ebd. 15 Ebd.

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ebenfalls am konkreten Beispiel nachvollziehbar ist und dadurch ein erhellendes Licht auf verwandte, dort aber eher dunkle Äußerungen des früheren Schubert-Aufsatzes von 1928 wirft: Der gesamte Überleitungsteil gehört zu jenen ungemein charakteristischen Nebenthemen Schuberts, die sich nach Moll, gewissermaßen in den Schatten, wenden und dort, im Geheimen, Verborgenen, eine rätselhafte, es darf wohl gesagt sein: mythisch echte Folklore zitieren – so auch der Seitensatz der ersten Sätze der CDur-Sinfonie und des Oktetts. Hier ist eine ‚ungarische‘ Tönung unverkennbar; eine Zweiunddreißigstelquintole mahnt ans Zimbal; aber es ist ein Phantasieungarn, eine Traumsteppe, mehr unter der Erde gelegen, durch Schluchten zu betreten, als auf ihr.16 (Die „ungarische“ Zweiunddreißigstelquintole ist im letzten Takt des Notenbeispiels 1b zu sehen.)

In dem früheren Aufsatz, dem Schubert-Essay von 1928, hatte Adorno geradezu von einem „Dialekt ohne Erde“17 als einem für Schuberts Musiksprache wesentlichen Charakterzug gesprochen: Als nicht reales, sondern nur „erinnertes“ Heimweh ist sie, so muss man Adornos Formulierung wohl verstehen, voll sehnsüchtiger Schwermut, aber frei von jeder Art handfester Volkstümlichkeit. Volkssprachlich, österreichisch, ungarisch ist sie nicht wirklich, sondern nur im Status des ‚als ob‘. Indem Adorno nun dieses nicht reale, sondern bloß imaginierte Ungarn (das „Phantasieungarn“, die „Traumsteppe“) am Überleitungsthema des A-Dur-Rondos – präzis sogar an dem Motivelement der Zweiunddreißigstelquintole – an technischen Details sichtbar zu machen versucht, schafft er eine analytische Basis für eine Deutungsaussage von erheblicher philosophischer Reichweite. Dieser von ihm oft betonte uneigentlich folkloristische Zug Schuberts, den Adorno als Erinnerung an Verlorenes ohne das Akzeptieren billigen Trostes deutet, gilt ihm als ein utopisches Moment der Dialektik von erreichbarer und unerreichbarer Ferne, wie es schon in dem großen Schubert-Essay von 1928 hieß: „Keine Korrektur der verlorenen Nähe durch die unerreichbare Ferne hat Schubert unternommen: ihm wird die transzendente Ferne erreichbar in der nächsten Nähe“18 – soll heißen: Die Imago des Folkloristischen wird zum Bild der nicht real (oder nur ideologisch falsch) beschwörbaren Transzendenz. Drei Jahrzehnte später wird in Adornos Mahler-Buch nicht nur diese dialektische Integration der „niederen“ Musik in die „obere“ weiter reflektiert, sondern sie wird auch für eine analytisch-philosophische Methodik ausgewertet, die sich auf die, wie Adorno ausdrücklich sagt, Physiognomie musikalischer Gestalten richtet. Eine solche „Physiognomik“ 16 Ebd. 17 Adorno, GS 17, S. 33. 18 Ebd., S. 32.

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wird, ohne schon im Entferntesten so genannt zu werden, an dieser Stelle des Schubert-Aufsatzes zum ersten Mal in Umrissen greifbar. (Das 1960 erschienene Buch über Gustav Mahler ist bekanntlich im Untertitel ausdrücklich als eine „musikalische Physiognomik” ausgewiesen.) Zur weiteren Charakterisierung von Adornos Text genügt die Hervorhebung lediglich zweier weiterer Analysebefunde und ihrer Deutungskonsequenzen. Die erste Stelle betrifft den wohl spektakulärsten harmonischen Vorgang des Satzes, nämlich die enharmonische Umdeutung im Zentrum der Durchführung (Notenbeispiel 2).

Notenbeispiel 2  Schubert, Rondo D 951, Mitte der Durchführung (T. 157–163).

Adorno greift hier zu dem Vokabular, das er auch anderenorts benutzt, um Schuberts grandiose harmonische Funde zu charakterisieren: Regelmäßig ist an solchen Stellen vom Wechsel der Perspektive die Rede. Schon in dem Essay 1928 erfasste Adorno – dort aber ohne Nennung konkreter Beispiele – die typische Schubertsche Modulationstechnik metaphorisch als „perspektivischen Einbruch in die harmonische Tiefe“.19 Und genau als einen solchen Perspektivenwechsel umschreibt auch der Argumentationsgang des für die Vossische Zeitung bestimmten Schubert-Aufsatzes den plötzlichen „Einbruch“ des Mollbereichs beim Eintritt des fis-Moll-Überleitungsthemas (T. 33; siehe nochmals oben, Notenbeispiel 1b).20 An der im Notenbeispiel 2 gezeigten Stelle nun, in der Durchführung des Rondos, besteht der „Perspektivenwechsel“21 darin, dass Schubert aus der Region der tiefen B-Tonarten ebenso unmerklich wie in der Wirkung überraschend in den Bereich der hohen Kreuztonarten umschwenkt, um die Tonart der Reprise (A-Dur) zurückzugewinnen. In den Worten von Adornos Beschreibung der Takte 152 bis 163: „Es ist B-Dur erreicht, c-Moll angedeutet; da wird plötzlich die sechste Stufe von c-Moll (lax gesprochen: der As-Dur-Akkord) enharmonisch umgedeutet zur fünften Stufe von cis-Moll und von dort bruchlos nach H-Dur moduliert.“22 Bezeichnenderweise versieht 19 20 21 22

Adorno, GS 17, S. 30. Adorno, GS 18, S. 191 f. Ebd., S. 192. Ebd.

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Adorno diese eher technische Beschreibung umgehend mit einer poetischphilosophischen Deutung, und natürlich tritt hier wieder die für seine Schubert-Interpretation überhaupt zentrale Landschafts-Metapher hervor: „Das klingt, wie wenn man aus einem Tal in einen Wald tritt und, ihn verlassend, ein völlig neues, fremdes Tal gewahrt: ohne daß man es wußte, ist eine Schlucht durchschritten.“23 Für das interpretatorische Gesamtkonzept des Aufsatzes ist, wie noch zu zeigen sein wird, diese landschaftsästhetische Deutung der harmonischen Perspektivenwechsel Schuberts von erheblicher Konsequenz: trotz ihrer scheinbar nur poetischen Metaphorik tatsächlich von ernst gemeinter philosophischer Verbindlichkeit. Dies trifft auch für die zweite und letzte der beiden erwähnten Stellen zu. Es geht um die Coda des Satzes, in der es zu einem doppelt überwältigenden Ereignis kommt.

Notenbeispiel 3  Schubert, Rondo D 951, Schlusspartie 3a: Wiederkehr des Hauptthemas in der Secondo-Stimme (T. 267–280).

23 Ebd.

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Notenbeispiel 3  Schubert, Rondo D 951, Schlusspartie 3b: Schlussgruppenthema: Primo-Stimme, l. H., und Secondo (T. 293–298).

Am Ende der Reprise erklingt zum letzten Mal das Rondo-Hauptthema in A-Dur (T. 269 ff.), aber nun wie in dem von Adorno vermuteten Modell, dem Finale von Beethovens e-Moll-Sonate op. 90, in erstmals gänzlich verwandelter Klanggestalt, nämlich in der Tenorlage des Secondo-Parts (Notenbeispiel 3a). Bemerkenswert ist Adornos Versuch, das verbal nicht mehr Vermittelbare der Wirkung dieser Stelle durch ein rhetorisches Paradoxon eben doch mit Sprache einzukreisen: „Es ist“, so schreibt Adorno, „als ob das Thema bei seinem Namen gerufen würde: ein überwältigender Augenblick Musik, den Worte nicht erreichen.“24 Die Idee dieser Coda Schuberts ist es, auf das in klangschöner Tenorlage rekapitulierte Hauptthema nunmehr unmittelbar das choralhafte Schlussgruppenthema folgen zu lassen (Notenbeispiel 3b) – unter Überspringung aller Gestalten, die vorher stets zwischen Haupt- und Schlussthema erklungen waren – und dem Satz damit eine Abschlussgeste zu verleihen, die für Adorno zum Ansatzpunkt einer weit ausholenden Deutung wird. In auffälligem Unterschied zu der überwältigenden Wiederkehr des Hauptthemas, deren Wirkung er durch Worte „nicht erreichen“ kann, setzt Adorno die Schubertsche Idee einer unmittelbaren Anfügung des Schlussgruppenthemas so direkt, wie es bei ihm sonst nie begegnet, in Worte um – sicher nicht nur, um der Satzidee Schuberts gerecht zu werden, sondern auch um der Schlusspointe der eigenen Analyse willen: „Ebenbürtig der Schluß, der endlich das Schlußgruppenthema dem Hauptthema anfügt und aussagt: ihr beiden, verschiedenen, entlegenen, der bewegte Gesang und der verhaltene 24 Ebd.

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Choral, seid das gleiche: nun dürft ihr beieinander sein.“25 Hier scheint die für Adornos Philosophie zentrale Idee der Versöhnung, die schon den Schluss des Schubert-Aufsatzes von 1928 geprägt hatte, in geradezu ungebrochener Positivität auf – als von Adorno unterstellte und in Worte gefasste Aussage des Satzes selbst. Und Versöhnung ist auch der philosophische Sinn der poetischen Bilder, die Adorno für die allerletzten Takte des Stücks findet: „Noch einmal das Kopfmotiv, wie ein Entschluß: der Getröstete wendet sich vom seligen Bilde. Das Pianissimo der Endtakte zeigt ihm nicht mehr davon als das letzte helle Gewölk. Der Satz schließt nicht. Er verschwindet.“26 Eine solch emphatische, so ungebrochen positive Deutung von Musik ist bei Adorno sonst kaum jemals zu finden. Am Schluss des Schubertschen Rondos bemerkt Adorno freilich ein kompositorisches Detail, das ihm einen ausführlichen Hinweis wert ist, weil es seine positive Deutung nicht etwa in Frage stellt, sondern eher noch vertieft – und zwar in einer für Adorno charakteristischen Form durchaus dialektischer Argumentation. Es handelt sich um die von Schubert selbst durch Akzente hervorgehobenen dissonanten Klänge der Takte 294, 295 und 296 (siehe nochmals Notenbeispiel 3b): kleine Nonenakkorde, die nach Adornos ausdrücklichem Hinweis „zu den schmerzlichsten der Musik zählen: Dissonanzen dessen, der sich verlassen weiß, sobald die Musik verstummt“.27 Und als wollte Adorno konzedieren, dass seine fast ungetrübt positive Schubert-Deutung des Korrektivs durch diese dissonanten Schlussakkorde dringend bedürfe, hebt er sie in den für die Spieler des Satzes angefügten praktischen Interpretationshinweisen eigens noch einmal mit dem bei ihm überaus seltenen Ausrufezeichen hervor: „Dissonanzen gut betonen!“28 *** Bemerkenswert ist, dass Adorno selbst seinen Aufsatz gar nicht als analytisch bezeichnet wissen will. Er betont dies gleich zu Anfang, wo es um die melodische Verwandtschaft der Hauptthemen geht: Diese nachzuweisen, so darf man Adorno verstehen, wäre Aufgabe einer expliziten „Analyse“ gewesen, auf die er hier aber absichtsvoll verzichtet. „Unerschöpflich viele melodische Gestalten. Verwandt untereinander; doch mag hier, wo es nicht die ‚Analyse‘, sondern das Verständnis des unmittelbaren Verlaufs gilt, von jedem wesent-

25 26 27 28

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 194.

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lich nach seiner eigenen Erscheinungsweise die Rede sein.“29 Doch ist diese unnötige Minimierung des eigenen Anspruchs einem speziellen Verständnis von „Analyse“ geschuldet, das Adorno spätestens in seiner Wiener Lehrzeit bei Alban Berg entwickelt hat und das sich auf die akribische Freilegung der „subkutanen“ Werkschichten bezieht. Im Einzelnen kann das heißen – und Adornos Bemerkung deutet dies ja auch an –, dass kleinste intervallische Konstellationen zum Beweis von Themenverwandtschaften und Motivableitungen aus dem Tonsatz herausdestilliert werden. Dies tut Adorno, abgesehen von der einzigen (freilich wichtigen) Bemerkung über die Zusammenschließung aller Hauptthemen durch das diatonisch aufsteigende Drei-Noten-Kopfmotiv, im vorliegenden Aufsatz tatsächlich nicht. Dennoch besteht kein Grund, diesen Aufsatz nicht als einen durch und durch auf Analyse basierenden Text zu verstehen (wie sollte man auch allein die vielen treffenden Beobachtungen zur syntaktischen Struktur des Satzes anders nennen?), denn in Wirklichkeit bereitet sich in ihm schon vor, was in späteren Schriften wie vor allem dem Mahler-Buch als eine Analyse-Methodik ganz eigenen Rechts zur systematischen Entfaltung gefunden hat. Vor allem aber fällt im Vergleich zu dem poetisch-metaphorischen Schubert-Essay von 1928 die analytisch geradezu handfeste Grundlage des 1934er-Textes deutlich ins Auge. Es gibt allerdings einen auffallenden Unterschied dieses Schubert-Textes von 1934 gegenüber dem großen Aufsatz von 1928. Dieser Unterschied liegt nicht so sehr in seiner viel konkreteren Beispielfülle, sondern in der Tendenz der philosophischen Deutung. Auch der spätere Text zerlegt die für Adornos Schubert-Interpretation zentrale Landschaftsmetapher in ihre Einzelteile, und er ordnet sie darüber hinaus Zug um Zug den Details der Komposition zu, um diese am Ende dann wieder der Aussage des Gesamtbildes dienstbar zu machen. Dieses Gesamtbild der Schubertschen Landschaft war allerdings in dem 1928er-Text ein eher düster-pessimistisches: Als „Landschaft des Todes“30 erinnerte Schuberts Musik hier an die Verwüstungen der von Menschen verantworteten Geschichte und an die Gebrechlichkeit der mit der Natur zerfallenen und doch gerade darin naturverfallenen menschlichen Existenz. Die 1934 in dem Text für die Berliner Vossische Zeitung beschworene Landschaft des großen A-Dur-Rondos dagegen, und das ist angesichts des Publikationsjahrs und -ortes (Berlin, ein Jahr nach der nationalsozialistischen „Machtergreifung“) besonders bemerkenswert, hat gar nichts Bedrohliches, sondern erfüllt sich vielmehr in reiner makelloser Schönheit – und zwar in 29 Ebd., S. 190. 30 Adorno, GS 17, S. 23.

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einer Positivität, wie man sie in Adornos Schriften an keiner anderen Stelle so ungebrochen emphatisch beschworen wiederfindet: Wenn jener chinesische Maler der Legende in seinem Bilde verschwand, dessen Vollkommenheit zu erproben, dann darf der Hörer – nein, der Spieler des Großen Rondos darin spazieren gehen; beliebig lang, denn alles darin ist in Wahrheit gleichzeitig; beliebig tief, denn es ist unergründlich; doch ohne Furcht, sich im Grenzenlosen zu verlieren, denn die Natur, die hier laut wird und leise, ist versöhnt und gesegnet.31

Es gibt nicht einen einzigen weiteren Text Adornos, in dem das Positive, das Erfüllte, das Gesegnete und Versöhnte in solch ungebrochener Emphase beschworen wird. Der Artikel entstand zu Beginn des Jahres 1934, kurz vor Adornos Aufbruch in die Emigration. Für seinen ungewöhnlich (und untypisch) versöhnlichen Tenor gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten der Erklärung, die diametral auseinander weisen. Man kann ihn einerseits als Dokument einer Anpassung lesen, das dem Publizisten das Überwintern in einer damals noch als kurzfristig prognostizierten deutschen Diktatur ermöglichen sollte.32 Aber gerade in seiner so auffälligen Positivität ist der Text andererseits auch, so paradox es scheinen mag, ein Dokument der Verzweiflung – des verzweifelten Trotzes möglicherweise, mit dem hier erstmals und noch ganz unausdrücklich die Glückserfahrungen der eigenen Kindheit aufgeboten werden, um in ihnen den Wahrheitsgehalt der Musik selbst zu beschwören. Nicht zufällig geschieht dies an einer Komposition, die nachgerade zum unauslöschlichen Bodensatz von Adornos musikalischer Sozialisation gehört: Schuberts Rondo zählt zu den frühesten Kompositionen, die Adorno als Kind im Vierhändigspiel kennenlernte.33 In jedem Fall – in der böswilligen wie in der wohlwollenden Lesart – ist der kleine Text ein veritables biografisches Dokument, das mindestens so viel über seinen Gegenstand wie über seinen Autor verrät. Hier vielleicht am deutlichsten in Adornos gesamtem musikästhetischen Œuvre sieht man insofern der ästhetischen Erfahrung auf den biografischen Grund: Erinnerung an den frühesten Umgang mit Musik und zugleich Pro31 Adorno, GS 18, S. 189. 32 Vgl. dazu Rolf Wiggershaus, Die Frankfurter Schule. Geschichte, Theoretische Entwicklung, Poltische Bedeutung, Frankfurt a. M. 1988, S. 180: „Überzeugt, der Spuk werde bald vorüber sein, hoffte Adorno auf eine Anstellung als Musikkritiker der liberalen Vossischen Zeitung in Berlin. Diese wurde aber im April 1934 eingestellt.“ Vgl. ebd. die Passage über Adornos Rezension von Herbert Müntzels Chorliedern nach Texten Baldur von Schirachs als „ein Beispiel für politischen Opportunismus“. – Zu dem langen Schwanken Adornos gegenüber der Emigration vgl. auch Lorenz Jäger, Adorno. Eine politische Biographie, München 2003, S. 117–125. 33 Vgl. Adorno, „Vierhändig, noch einmal“, in: Adorno, GS 17, S. 303.

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jektion dieser Erinnerung in den Gehalt der ästhetischen Erfahrung selbst.34 Das macht aber auch den kleinen Schubert-Artikel von 1934, so leichtgewichtig er auf den ersten Blick erscheinen mag, zu einem Schlüsseltext für Adornos gesamte ästhetische Methodologie. Und gerade darum kann er auch eine metaphorische Charakteristik des Schubertschen Rondos enthalten, die in ihrer Positivität, wie schon gesagt, zu den untypischsten Formulierungen gehört, die Adorno je zu Papier gebracht hat. *** Der kleine, scheinbar so leichtgewichtige feuilletonistische Schubert-Text von 1934 sagt, so gesehen, nachträglich auch etwas über die analytische Stichhaltigkeit des viel bekannteren Schubert-Aufsatzes aus dem Zentenarjahr 1928 aus, die aber der junge Autor noch planvoll verborgen hatte. Erst von dem späteren Artikel aus lässt sich wirklich erkennen, dass schon dem leicht manieriert wirkenden Aufsatz über Schubert aus dem Jubiläumsjahr 1928 – trotz seiner metaphorischen Dunkelheit, trotz seiner prätentiösen Sprache und trotz seiner ungeschützten philosophischen Ambition – in Wirklichkeit fundamentale analytische Einsichten zugrunde liegen. So ist es denn auch kaum verwunderlich, dass dieser Text trotz seiner hochstilisierten Enigmatik schließlich doch eine nachhaltige Wirkung entfaltet hat: zwar nicht schon im Erstdruck von 1928, wohl aber beim Wiederabdruck von 1964 als Aufsatz aus der Feder eines inzwischen berühmt gewordenen Autors.35 Das Problem, das die beiden frühen Schubert-Texte Adornos, jeder für sich genommen, sehr einseitig lösen, können sie vielleicht erst wechselseitig erhellen. Als Antworten auf die bleibend schwierige Frage, wie über Musik zu denken, zu sprechen und zu schreiben sei, bleiben sie ambitionierte Versuche, ausgeführt an einem schwierigen Gegenstand, den Adorno später nicht mehr systematisch weiter verfolgte. Das frühe Interesse an Schubert ist in Adornos musikalischen Schriften bekanntlich der Befassung mit Beethoven, Mahler, Berg und Schönberg gewichen. Auf die Musik Schuberts kommt der Autor – in jenem Werk, an dem er ganz zuletzt noch arbeitete – erst spät, 34 Vgl. dazu insgesamt: Hans-Joachim Hinrichsen, „Der biographische Grund ästhetischer Erfahrung. Kindheitserinnerungen in Adornos Musikphilosophie“, in: Musik und Biographie. Festschrift für Rainer Cadenbach, hrsg. von Cordula Heymann-Wentzel und Johannes Laas, Würzburg 2004, S. 393–409. 35 Der Bericht über den Grazer Schubert-Kongress im Jubiläumsjahr 1997 (200. Geburtstag Schuberts) führt sogar einen der rätselhaftesten Ausdrücke aus Adornos frühem Schubert-Essay im Titel; vgl. „Dialekt ohne Erde“. Franz Schubert und das 20. Jahrhundert, hrsg. von Otto Kolleritsch, Graz 1998.

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dafür aber mit einer außergewöhnlich respektvollen Bemerkung zurück: In der Fragment gebliebenen Ästhetischen Theorie gilt Schuberts Musik schließlich als paradigmatischer Fall jener Schwierigkeit, die alle auf Fixierung gerichtete Sprache mit dem Phänomen des Schönen notwendig haben muss, und wird damit geradezu zum Inbegriff der Musik stilisiert. Ihre Natur lässt sich daher auch nicht mehr mit der Landschaftsmetaphorik der frühen Schubert-Texte vergegenständlichen: „Als Unbestimmtes, antithetisch zu den Bestimmungen, ist das Naturschöne unbestimmbar, darin der Musik verwandt, die aus solcher ungegenständlichen Ähnlichkeit mit Natur in Schubert die tiefsten Wirkungen zog.“36 Zwischen den frühen Texten und dieser letzten Formulierung steht nichts Geringeres als die lebenslange Erfahrung, dass die sprachliche Bestimmung des Unbestimmbaren als Aufgabe so irritierend und aporetisch ist, wie sie unabweisbar und zwingend bleibt.

36 Adorno, Ästhetische Theorie, in: GS 7, S. 113.

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Halbsätze, Nachsätze Zu Robert Schumanns Nussbaum op. 25/3 Leichter offenbarte kaum ein Lied Schumanns seinen Gehalt: Die Geschichte, die Julius Mosen in seinem Gedicht erzählt, benutzt so sinnenfällige Metaphern, dass es wenig Schwierigkeiten bereitet, sie als unmittelbare Botschaft des Komponisten an seine Braut zu verstehen. Geschildert wird die Idylle eines aufblühenden Nussbaums, dessen paarige Fruchtstände einem Mädchen in lauem Sommerwind jene Gedanken trauter Zweisamkeit soufflieren, die es sich selbst nicht einzugestehen getraut; ineins damit ist eine Perspektive von Hochzeit und Ehestand eröffnet. In den Rahmen eines Zyklus gefügt, dessen Titel bräutlichen Schmuck evoziert und der zudem der Geliebten gewidmet ist, kann kein Zweifel über die Intention der Vertonung bestehen. Zumal ein lichtes Klangvaleur nirgends gebrochen wird und der locker gefügte Tonsatz keine Spuren intensiver kompositorischer Arbeit verrät, der dem Verständnis größere Widerstände bereitete: eine heitere Miniatur, die, aus dem Augenblick heraus entworfen, in ihrer gelösten Faktur zugleich nachvollziehbar werden lässt, wie rasch ein Lied zu konzipieren war. Der Respekt vor Schumanns übergewaltig anmutender Schaffensintensität des Liederjahres 1840 erscheint relativiert durch den Blick auf eine Pragmatik kompositorischen Handwerks, das letztlich nur wenige Ideen bemühen muss, um binnen kurzem eine auch klanglich außerordentlich reizvolle Vertonung zu generieren. So sehr Schumanns Vertonung sich von der lichten Stimmung der Vorlage leiten ließ, so wenig verzichtete er auf die Ausformung jener Kontraste, die der Text nahelegt, wobei er allerdings die feinsinnige Struktur des Gedichts mit seinen virtuosen Binnenreimen, die den Literaten in ihm zweifellos anregte, musikalisch nicht aufgriff: Der Nussbaum1 Es grünet ein Nußbaum vor dem Haus, Duftig 1 Text hier nach Julius Mosen; zu den Änderungen Robert Schumanns vgl.: Literarische Vorlagen der ein- und mehrstimmigen Lieder, Gesänge und Deklamationen, hrsg. von Helmut Schanze und Krischan Schulte, Mainz 2002, S. 204 (= RSA VIII/2).

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Luftig Breitet er blättrig die Äste aus. Viel liebliche Blüten stehen dran; Linde Winde Kommen, sie herzlich zu umfahn. Es flüstern je zwei zu zwei gepaart, Neigend Beugend Zierlich zum Kusse die Häuptchen zart. Sie flüstern von einem Mägdlein, das Dächte Nächte Und Tage lang, wußte ach! selber nicht was. Sie flüstern, wer mag verstehn so gar Leise Weise? Flüstern vom Bräut’gam und nächstem Jahr. Das Mägdlein horchet; es rauscht im Baum, Sehnend, Wähnend Sinkt es lächelnd in Schlaf und Traum.

Auf die strophische Gliederung des Gedichts aber reagierte Schumann sehr genau. Die drei einleitenden Strophen, in denen der locus amoenus des aufblühenden Nussbaumes geschildert wird, sind kompositorisch analog gestaltet; dabei werden die Vierzeiler in je zwei musikalische Phrasen gefasst, die durch ein identisches Binnenzwischenspiel getrennt werden. Zugleich grenzt dieses iterative Moment die Narration der ersten Hälfte des Gedichts von jener vierten Strophe ab, in der die Figur des sinnenden Mädchens eingeführt wird. Hier – und nur hier – wechseln Tonart und -geschlecht: Episodisch klingt aMoll an, als zweite Stufe keine weite Entfernung vom Ausgang bezeichnend, doch eine Variante, die umso offener bleibt, als sie kadenziell nirgends bestätigt wird. Halbschlüsse markieren die Phrasenenden, und die Rückmodulation zur G-Dur-Tonika gelingt mittels Quintschritten (von e über a und d) binnen kürzestem. Und indem die fünfte Strophe als Reprise der ersten gestaltet wird, schließt sich nicht nur musikalisch ein Bogen, sondern erfährt die vorangehende jene Unterstreichung, die dem Komponisten wichtig schien: Die Ir-

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ritation, die sich beim lyrischen Subjekt des Gedichts einstellte, wird durch die nun gleich doppelt vertonte Verheißung von Hochzeit und Ehestand im nächsten Jahr aufgehoben. Die sechste Strophe ist musikalisch ein Epilog, sängerisch ganz in eine tiefe Lage zurückgenommen, aus deren Rezitation nur die Schlussphrase noch einmal herausragt, beziehungsreich jene kleine melodische Kadenz erinnernd, die zumal die instrumentalen Zwischentakte bestimmte. So unscharf das Ende des Stücks, das weniger schließt als lediglich aufhört, so bestimmt sein Anfang. Denn keineswegs wird die Tonika verschleiert oder indirekt eingeführt als vielmehr mit einer prägnanten Kadenz akzentuiert. Der spontane Eindruck eines kaum vermittelten, ungefähren Einsatzes resultiert nur mehr aus einer metrischen Pointe: Das Stück beginnt mit einem instrumentalen Nachsatz, der in den ersten drei Strophen fast stereotyp die Vokalphrasen fortsetzt, zumal nur in diesen Takten im Klaviersatz ein melodischer Gestus ausgeformt wird. Deutlicher wäre kaum herauszustellen, dass die Musik den Text allein strukturell umsetzt und zugleich dessen Gehalt in ein anderes Medium transponiert. Und mit diesem Mittel der Amalgamierung von sängerischem Melos und pianistischem Belcanto gelingt dann auch jene Akzentuierung der vierten Strophe, die mithin ins Zentrum der Vertonung rückt. Viel mehr brauchte es nicht, wollte ein Komponist der Widmungsträgerin eines Liedes seine Intention bewusst machen.

Notenbeispiel  Robert Schumann, Nussbaum op. 25/3, T 1–2.

Es war ein Nussbaum und keine Linde. Nicht der traditionsreiche Baum, unter dem sich Liebende fanden, wird aufgerufen, um der Braut den Gedanken einer Umsetzung ihrer Träume zu vermitteln, sondern eine Pflanze, deren Symbolik ungleich vielschichtiger – und hintergründiger – ist. Fruchtbarkeitsmetapher seit je, indem Nüsse vielfältigen Anlass zu erotischen Vergleichen und Allusionen geben, erhält der Nussbaum – als nördlich der Alpen ehedem ‚fremdes‘, nicht bodenständiges Gewächs – im Brauchtum apotropäische Funktion und wird nicht zuletzt auch zum Orakel: Setze man Nussschalen am Jahresende – zu Weihnachten oder am Silvesterabend – in eine Schale mit Wasser und dieses in Bewegung, so lasse sich aus dem Verhalten der Schalenhälften auf die Zukunft eines Paares schließen, dessen Beziehung sich in gleicher Weise

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entwickele. Und der Traum, den man unter einem Nussbaum von Glück oder Unglück habe, werde zum Vorzeichen künftigen Wohls oder Schadens:2 Perspektiven, die Julius Mosens Gedicht allem Anschein nach reflektiert. Solche Momente von Traum und Verheißung finden ihr kompositorisches Pendant in der Führung einer Singstimme, die bewusst nicht auf der Finalis kadenziert. Stets bleibt die Quinte der Zielton melodischer Führung, die nur im Klaviersatz den Grundton der Tonika erreicht. So offen der Gesang terminiert und so im wörtlichen Sinne enthoben ist, so gewiss weiß das Klavier den Traum zu erden: Der Perspektive, für die Träumende unter dem Nussbaum nur im Vexierbild zu ahnen, verleiht die Begleitung eine Chance auf Realisierung, die sie zumal durch eine Wiederholung jener Worte, die den Zeithorizont des „nächsten Jahres“ erläutern, unterstreicht. Und nach solcher Verdopplung sinkt die vokale Linie in ein Register, dessen dunkler Ton auf ein Unterbewusstsein zielt, das sich der Erfüllung des Traumes gewiss zeigt. Wo am Ende des Gedichts jenes Substantiv, das den Charakter der Illusion hervorhebt, markant hervorgehoben wurde, steht nun – endlich – der Zielton der G-Dur-Skala, die Intention des Dichters konterkarierend, da der originäre Impetus der Phantasmagorie nun musikalisch zum seiner selbst gewissen, nicht nur potentiellen Telos umgedeutet wird.

Gesetzt, es sei kein Zufall, dass Schumann lediglich an dieser einen Stelle in seinem Liedoeuvre auf einen Text von Julius Mosen zurückgriff, so wird noch die Wahl des Verfassers zum Signum, dessen Gehalt sich freilich nur dem mitteilt, der um die Person des Dichters und sein Werk weiß. Julius Mosen, 1803 im vogtländischen Marieney geboren, verband mit Schumann nicht nur die Herkunft aus dem westlichen Teil Sachsens. Dass er zur Mitarbeit bei der Neuen Zeitschrift für Musik eingeladen wurde, bezeichnet eine weitere Affinität; doch dürften es weniger solche persönlichen Verbindungen gewesen sein, die Schumann veranlassten, auf ein Gedicht des Gesinnungsgenossen früher 2 Marzell, „Walnuß“, in: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens 9, hrsg. von Hanns Bächtold-Stäubli und Eduard Hoffmann-Krayer, Berlin 1938, zit. nach Reprint, Berlin 1987, S. 78.

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Leipziger Tage zurückzugreifen, sondern eine geistig-politische Haltung, die mit dessen Namen unmittelbar verknüpft war. Mosen, schwärmerisch begeistert für das Selbstbestimmungsrecht auch kleinerer Volksgruppen, hatte in dem Tiroler Freiheitshelden Andreas Hofer ein Idol gefunden und ihm 1831 ein Lied gewidmet, das als das bekannteste seiner Gedichte gelten kann: Zu Mantua in Banden erzählt die Geschichte eines Freiheitskampfes, der mit einem Scheinprozess und der Hinrichtung Hofers endete. Solch singuläre Bezugnahme auf einen Dichter, dessen Name allein die Idee eines Kampfes gegen Fremdherrschaft und Unterdrückung signalisierte, im Kontext einer Liedersammlung, die Gedichte von Liebesfreud und -leid versammelte, wird – in einer subtilen Umkehrung der Prädikation – zum Indiz, dass jenseits der Idylle, die Der Nussbaum schildert, ein kämpferisches Pathos zu gewärtigen sei. Auf Mosen selbst dort zu rekurrieren, wo nichts Politisches intendiert war, konnte zur Chiffre werden, die den eigenen Habitus meint: Wo der revolutionäre Dichter zum poetischen Liebhaber mutiert, kann der schwärmerische Musiker Züge eines Kämpfers annehmen, als der er sich in der unmittelbar vor der Komposition dieses Liedes liegenden Zeit, in den langwierigen Auseinandersetzungen mit Friedrich Wieck, bereits erwiesen hatte.3 Vielleicht erschließt sich von hier aus auch die Folge aller Lieder und Gesänge, die Schumann in den Myrthen versammelte: Als autobiografisch motiviertes, unter dieser Voraussetzung notwendigerweise heterogenes Kompendium von Verhaltensweisen eines Liebhabers, dessen charakterliches Spektrum die Dichtungen unterschiedlichster Provenienz auffächern. Der Bräutigam chiffrierte mithin seine Situation und sein Selbst mit der Wahl von Texten Dritter – nicht aus Insuffizienz, seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen, und weniger noch aus Bildungsdünkel oder mit der Attitüde von Belesenheit als wegen einer Scheu, sich selbst mit Worten erklären zu sollen, gleichwohl voraussetzend, die Geliebte verstünde die Assoziationen, die er mit den literarischen Vorlagen verband, und die Anspielungen, die in ihnen verborgen waren. Seinen expliziten Kommentar aber würde er als Komponist liefern.

3 Vgl. Klaus Döge, „Myrthen. Liederkreis für Gesang und Klavier op. 25“, in: Helmut Loos, Robert Schumann. Interpretationen seiner Werke 1, Laaber 2005, S. 141–146.

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Umso beredter sind jene Nachsätze, die Schumann Mosens Versen anfügt. Denn die kadenzierende Wendung, die in der Mehrzahl der Strophen die vokalen Vordersätze ergänzt, ist nichts weniger als eine abschließende Floskel, da gerade die Gestalt des Dominantseptimakkords an zweiter Position ihrerseits Symbolwert hat. Den dominantischen Akkord so zu inszenieren, dass anstelle seiner vorenthaltenen Quinte zunächst die Sexte erklingt, ist ein Topos, der sich in der Musiktheorie mit dem Namen Frédéric Chopins verbindet, doch schon seinerzeit als sein kompositorisches Signum gelten konnte. Schumann intendiert indes keine Hommage an den Freund, noch wäre die Adaption ein Zitat. Vielmehr verweist der Akkord neuerlich auf jenes Moment des latent Revolutionären, das Schumann selbst dem polnischen Pianisten attestierte. Dass dessen Musik unter Blumen eingesenkten Kanonen gleiche,4 geriet zum Diktum, das verständlich macht, warum eine harmonische Wendung, die sofort Chopin evoziert, nicht nur beiläufige Formel in einer Vertonung ist, sondern zur musikalischen Substanz wird. Mehr als nachdrücklich wird sie wiederholt, und mehr noch als ihre ostinate Repetition am Ende zahlreicher Verse verdeutlicht die prominente Position, mit der sie das instrumentale Vorspiel ausbildet, welchen Stellenwert ihr Schumann zumessen wollte. Wechselseitig stützen sich mithin die Verweise auf Mosen und Chopin, die als Gewährsmänner einer subkutanen Intention Schumanns gerieren.

Solche Lektüre eines Lieds unterstellt eine mehr oder weniger bewusste Identifikation des lyrischen Subjekts mit dem kompositorischen Ich: Der Komponist ‚spricht‘ mit den Worten der Dichter. Ihre Vorlagen geben ihm die Möglichkeit, das zu sagen, was er nicht formulieren kann. Metaphern nicht nur unter den Bedingungen von Zensur, sondern auch als Sprache jemandes, der seine Zuneigung nicht öffentlich proklamieren will, doch auch nicht verheimlichen kann, den es drängt, sie explizit zu machen. Vermittels eines Codes, von dem zu hoffen war, dass ihn die Braut verstand. Für Schumann sind die Verse der Dichter nur mehr Halbsätze, die der musikalischen Nachsätze noch bedürfen. Zu sagen, was er meinte, reichten die Wörter ihm nicht. 4 Robert Schumann, Gesammelte Schriften über Musik und Musiker 3, Leipzig 1854, zit. nach Reprint, Wiesbaden 1985, S. 279.

Rebecca Grotjahn

Clara und Robert Schumann im Backfischroman „Heißer Backfisch“. Diese Bezeichnung für ein 2004 eingeführtes Produkt einer norddeutschen Fastfoodkette wäre wohl unmöglich, wenn nicht gründlich in Vergessenheit geraten wäre, wofür das Wort „Backfisch“ einst verwendet wurde: für Mädchen im Teenageralter. Allerdings war diese Art Backfisch in erster Linie ein literarisches Phänomen. Bücher für Mädchen zwischen zwölf und siebzehn Jahren wurden in der Zeit zwischen 1860 und 1930 gern mit entsprechenden Gattungsbezeichnungen (z. B. „Erzählung für Backfische“) versehen, sofern sie das Wort nicht gleich im Titel trugen – wie das gattungsprägende Backfischchens Leiden und Freuden von Clementine Helm.1 Sogenannte Backfischromane bieten reichhaltiges Quellenmaterial für die Alltagsgeschichte auch der Musik. Fast alle Romanheldinnen spielen Klavier, viele sind auch gute Sängerinnen. Dabei ist Musikalität in der Regel keine besondere Eigenschaft, die zur Charakterzeichnung einer Person verwendet wird, sondern eine Selbstverständlichkeit – wie etwa die Fähigkeit, lesen und schreiben oder sticken und nähen zu können. Lediglich einige besonders atypische Figuren2 – wie der Trotzkopf Ilse Macket oder Annemarie Braun, das Nesthäkchen Else Urys – unterscheiden sich von ihren braven Freundinnen oder Pensionsgenossinnen nicht nur durch ihre Unangepasstheit und ihre als unweiblich apostrophierte Wildheit, sondern auch durch ihre Unmusikalität. Dass das Genre ein hohes musikalisches Bildungsniveau bei ihren Leserinnen voraussetzt, zeigt sich an der häufigen Nennung von Komponistennamen: Beethoven, Chopin oder Robert Schumann stehen in den Romanen für seriöse Kunst. Beliebt sind darüber hinaus Anspielungen auf Kunstlieder. Ein in die Handlung integriertes Lied kann das Romangeschehen kommentieren und eine Szene zugleich imaginär-akustisch untermalen. Zu den – in der Backfischliteratur, aber wahrscheinlich auch in den realen Haushalten und Salons dieser Epoche – am meisten verbreiteten Liedern zählt der Liederzyklus Frauenliebe und Leben. Ihres künstlerischen Gehalts un1 Ein Verzeichnis der im Text erwähnten literarischen Quellen findet sich am Schluss des Beitrags. 2 Zu Begriff und Phänomen der atypischen Mädchenliteratur vgl. Mädchenliteratur der Kaiserzeit. Zwischen weiblicher Identifizierung und Grenzüberschreitung, in Verbindung mit Silke Kirch et al. hrsg. von Gisela Wilkending, Stuttgart und Weimar 2003.

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beschadet, fungierte Robert Schumanns als op. 42 publizierte Vertonung im 19. und frühen 20. Jahrhundert als Mittel der Popularisierung von Adelbert von Chamissos Gedichtzyklus, darin den aufwendig gestalteten Prachtausgaben der Gedichte vergleichbar, die in dieser Zeit mutmaßlich als Geschenk für Verlobungen und Hochzeiten besonders beliebt waren. (Das der Autorin vorliegende Exemplar einer Ausgabe mit Illustrationen von Friedrich Klein-Chevalier trägt die handschriftliche Widmung „Dem verlobten Paare zum Geleit auf dem Lebensweg. Chemnitz, am 2. Juli 1922. C. A. Fischer.“) Brautstand und Hochzeit sind auch das narrative Ziel vieler Backfischromane und liefern zugleich das wichtigste Motiv, auf das mit einem Zitat aus Frauenliebe und Leben angespielt wird. Ein typisches Beispiel ist Johanna Klemms Das kleine Klosterfräulein, eine ebenso sentimentale wie komplizierte, von zahlreichen musikalisch gebildeten Personen bevölkerte Geschichte, in der ein SchumannZitat die Hochzeit der Hauptperson Dita am Ende des Buches musikalisch und poetisch hervorhebt. Nach Tisch schwärmte die Jugend in den Garten und später wurde noch etwas Musik gewünscht. Ulli, die zuletzt in Ulfingen natürlich gar nicht an Musik gedacht hatte, ihrer Trauer wegen, hatte in letzter Zeit wieder angefangen zu singen und gestern schon die Gäste durch ihre weiche Altstimme überrascht. Nun bat das Brautpaar um Schumannsche Lieder. Ulli erfüllte den Wunsch, und wie das letzte der Lieder: „Du Ring an meinem Finger“ verklungen war, hieß es: „Der Wagen ist da – Dita muß sich umziehen.“ (S. 281)

Nicht alle Romane dieses Genres zielen indessen affirmativ auf die von Chamisso und Schumann konstruierte Ausrichtung des Frauenlebens auf die Liebe und den Mann. So ironisiert Bernhardine Schulze-Smidt in Mellas Studentenjahr nicht nur den „Herrlichsten von allen“, sondern auch die sprunghafte Seele des pubertierenden Mädchens, das zwischen Schulausbildung und Heirat kaum etwas Sinnvolles zu tun hat. Der Beginn des Buches schildert einen unausgefüllten Vormittag der fünfzehnjährigen Melanie, genannt Mella. Nachdem ihr Versuch, das eben zum Geburtstag erhaltene Tagebuch einzuweihen, an der unlösbaren Frage „Was schreibe ich jetzt?“ gescheitert ist (S. 2), schweifen die Gedanken ab zur kurz zurückliegenden Einsegnung, zur besten Freundin und dann zu Charlotte Brontës Jane Eyre, das sie unter der Nähkorbdecke hervorholt, obwohl sie nicht sicher ist, ob sie es lesen darf („Mama war ein bißchen eigen im Punkt der Lektüre“, S. 4). Konzentration hierfür fehlt aber ohnehin, sodass die Heldin schließlich über sich selbst und das Erwachsenwerden nachgrübelt: Weshalb mußte sie selbst ein großes robustes Geschöpf sein, mit rundem Gesichte und runden schwarzen Augen – und noch nicht einmal richtige, lange

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Abb. 1  Paul Thumann: Illustration zu „Du Ring an meinem Finger“.

Kleider, immer die Schulmädchenbluse und den halbkurzen Rock, immer die kindische Bretzelfrisur, und Mellas Sehnsucht war der griechische Knoten, von hohem Schildpattkamme gestützt. – Freilich – trotz all der unliebsamen ‚Kinderei‘

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schwärmte ein Kadett für sie und er hieß Kurt Ewald Freiherr von Neudorff. Der Name klang ideal, aber der Kadett reichte knapp bis zur Schulter seiner Angebeteten und war ein dicker, gutmütiger Stöpsel. Unmöglich konnte man von ihm singen und seufzen:

„Er der Herrlichste von allen, Wie so milde, wie so gut – –!“ Nein – der deutsche Adel genügte Mellas Ansprüchen nicht, sie schwankte neuerdings zwischen einem Prinzen von Geblüt und einem englischen Lord, möglichst düster und trotz enormen Reichtums sehr trostbedürftig. (S. 4 f.)

Später lernt Mella tatsächlich einen Prinzen kennen, in den sie sich sterblich verliebt. Dieser ist zwar sehr nett zu ihr und pflegt sie seinen „kleinen Schneck“ zu nennen, zieht aber nähere Beziehungen keineswegs in Betracht. Die Bewältigung dieser Enttäuschung gelingt Mella erst, als sie Monate später von ihrem Bruder August eine Fotografie erhält, die ihn und den mittlerweile mit ihm gemeinsam studierenden Prinzen auf einem Kommersabend zeigt. Da thronte Prinz Gennerl auf der bekannten Schloßterrasse in der Mitte der Studentenschar und sein bildschönes Gesicht lachte unter dem kecken Cerevis aus der Photographie heraus; den vollen Bierkrug erhob er gegen den Beschauer. Ihm zur Seite that August das nämliche. [...] Sie alle streckten, zutrinkend, die Bierseidel vor: „Prosit, kleine Maus! prosit, kleiner Schneck!“ hatte August groß und schwungvoll unter das Bild geschrieben. Was wußte der Dicke vom „kleinen Schneck“? Beim Betrachten dieser Gruppe vollzog sich plötzlich eine Wandlung in Mellas Herzen. Er, der Halbgott, der Herrlichste von allen, stieg ohne Sang und Klang vom Throne. Er verlor sich in der Menge jener lachenden Studenten und ward ihnen gleich; sein Glorienschein verblaßte und erlosch. (S. 271 f.)

Abb. 2  Friedrich KleinChevalier: Textauszug mit Buchschmuck zu „Er, der Herrlichste von allen“.

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Eine Anspielung auf Chamissos Text – ohne musikalischen Bezug – findet sich auch im zweiten Band des Trotzkopf. Die Romanheldin Ilse war zuvor im Mädchenpensionat stark diszipliniert worden, hat sich aber dennoch einen ausgeprägten eigenen Willen bewahrt – was eine Voraussetzung für das Funktionieren der Fortsetzungsbände ist. So beginnt Trotzkopfs Brautzeit mit einem Streit zwischen Ilse und ihrem Verlobten Leo. Ilse möchte sich nicht damit abfinden, dass von ihr als künftiger Beamtengattin verlangt wird, sich in die kleinstädtische Gesellschaft einzufügen und mit „langweiligen Tanten“ (S. 1) Kaffeekränzchen abzuhalten. Sie unterbrach ihn spöttisch. „Du bist ja sehr entzückt von unserem zukünftigen Bekanntenkreis; ich muß gestehen, mich verlangt es nicht nach Bekanntschaften, wenn wir erst verheiratet sind. Nur dir will ich leben, weiter niemand; du aber zählst mir jetzt schon vor, mit wem ich verkehren soll – dir liegt also nichts, gar nichts daran, mit mir allein zu sein.“ Sie sah hübsch aus in ihrer Erregung, Leo mochte sie gern so sehen, mit funkelnden Augen und geröteten Wangen. Zärtlich zog er sie zu sich heran und strich liebkosend über ihr Haar. „Kleiner Brausekopf,“ sagte er, „kannst du denn nicht ruhig denken, nicht ruhig mit mir über unsre Zukunft sprechen?“ Sein etwas überlegenes Lächeln bei diesen Worten brachte sie noch mehr aus der Fassung. „Ja, du natürlich fügst dich willig in alles, aber das kann und tue ich nicht! Denke nicht, daß ich eine unterwürfige Frau werde, so eine ‚Magd‘, wie sie Chamisso besingt.“ (S. 2)

Wenn Ilse auch die Maxime, nur für den Geliebten zu leben (eine Anspielung auf das dritte Lied von Chamissos Zyklus) noch akzeptiert, so schließt sie doch das Modell „niedre Magd“ für sich aus – und damit die völlige Unterordnung unter den im selben Lied (Nr. 2) besungenen „Herrlichsten von allen“, die in diesem Roman einer mehr partnerschaftlichen Beziehung weicht. Frauenliebe und Leben steht hier also für ein überkommenes, reformbedürftiges Verhältnis der Geschlechter – eine Sicht, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts in mehreren populären Büchern nachweisen lässt. Um 1910 etwa publizierte Anna Julia Wolff einen von Paul Haase illustrierten Band Frauenliebe und Leben im XX. Jahrhundert, der – „frei nach Chamisso“ – die Gedichte im Tonfall des Berliner Halbweltmilieus parodiert und ihre Aussage damit ins Gegenteil verkehrt. Aber nicht nur Robert, auch Clara Schumann spielt eine Rolle in der Backfischliteratur. Diese Tatsache belegt zunächst einmal die Popularität der 1896 verstorbenen Künstlerin, die nicht zuletzt durch Berthold Litzmanns ab

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Abb. 3  Anna Julia Wolff: Parodie auf „Er, der Herrlichste von Allen“.

1902 erschienene Biografie3 lange im Gedächtnis des Musikpublikums verblieb. Heutige Leserinnen und Leser mögen es als überraschend empfinden, dass Clara Schumann darüber hinaus für emanzipatorische Ziele einstand – zumal in der Backfischliteratur. Dass diese grundsätzlich stockkonservativen Mädchenerziehungszielen verpflichtet war, ist indessen ein Vorurteil. In vielen Romanen schlagen sich die damals aktuellen Forderungen der Frauenrechts-

3 Berthold Litzmann, Clara Schumann – Ein Künstlerleben. Nach Tagebüchern und Briefen, 3 Bde., Leipzig 11902–1908.

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bewegung nach dem Recht auf Bildung und erfüllte Berufstätigkeit nieder, wenn auch nur selten radikal. In Else Urys Erzählung Studierte Mädel wird das Lied „Er ist gekommen in Sturm und Regen“ mit der Romanfigur Daisy in Verbindung gebracht, die mit Günther eine gegenseitig uneingestandene Zuneigung verbindet. Eines Abends wünscht sich Günther, der am folgenden Tag eine lange Reise antreten wird, dass ihm die begabte Sängerin zum Abschied ein Lied vorsingt.

Abb. 4  Clara Schumann: „Er ist gekommen in Sturm und Regen“ (T. 1–9).

Günther Berndt war ihr zum Klavier gefolgt. Er blätterte in den Noten. „Bitte, singen Sie mir noch ein Lied – ja?“ bat er leise. So hatte er sie schon lange nicht mehr angesehen. Daisy nickte, sie sah wie gebannt in die tiefen grauen Augen. „Was soll ich singen?“ Ihre Stimme klang verschleiert. Er schlug das Liederbuch auf.

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‚„Hier, mein Lieblingslied, wollen Sie?“ Sie warf einen Blick auf das ausgewählte Lied, dann stieg glühendes Rot ihr bis zu dem weichen Blondhaar empor. Sie nahm auf dem Klavierstuhl Platz. „Aber bitte ,reingehen‘“, bat sie ängstlich, als er Miene machte, sich hinter ihren Stuhl zu stellen, „wenn Sie hier bleiben, kriege ich keinen Ton heraus.“ Er fügte sich ihrem Wunsche. Das laute Gespräch im Nebenzimmer verstummte plötzlich. „Er ist gekommen in Sturm und Regen, Er hat genommen mein Herz verwegen,“ tönte es in glockenreinen Tönen zu ihnen hinein. Ein klein wenig gepreßt klang die weiche Altstimme im Anfang, dann aber schien sie jede Fessel abzustreifen, jubelnd schwoll sie zum Schluß des Liedes an. Traumverloren ließ Daisy die Finger von den Tasten gleiten, der Morgen stand wieder deutlich vor ihren Blicken, wo er in Sturm und Regen gekommen war, und wo sie auf seine lieben Worte nur eine schroffe Zurückweisung gehabt. (S. 89 f.)

Keineswegs allerdings handelt es sich hier um einen konventionellen, mit romantischen Liedern garnierten Liebesroman. Vielmehr bezieht die Erzählung ihren Antrieb aus dem Konflikt, der dadurch entsteht, dass Daisy vehement – namentlich gegen die konservativen Vorstellungen Günthers – ihr Recht auf ein Medizinstudium und auf Ausübung des Ärztinnenberufes verteidigt. Erzählt wird die Geschichte zweier Freundinnen, die gegen den Widerstand ihrer Umwelt Abitur machen und studieren, dafür aber nicht – wie es das in vielen anderen Backfischromanen propagierte Modell ist – der Liebe entsagen müssen. Vielmehr werden zwei Optionen als gleichwertig vorgeführt: das Hausfrauendasein, für das sich Daisys Freundin Hilde trotz ihres Studiums entscheidet, und das von Daisy gewählte Leben als erwerbstätige Frau, die ihrem Mann – ebenfalls Arzt – „eine treue Gefährtin im Beruf“ sein will (S. 225). Ähnlichkeiten mit realen Personen – in diesem Fall zu Clara Wieck und Robert Schumann, die sich in ihren Verlobungsbriefen über das Recht der Ehefrau zu professioneller künstlerischer Tätigkeit stritten – mögen zufällig sein; denn von wem das am Klavier vorgetragene Lied stammt, wird in dem Buch nicht erwähnt: Neben der Vertonung des Rückert-Gedichts von Clara Schumann, die nicht zuletzt durch die Komponistin in ihren eigenen Konzerten populär gemacht worden war, kämen auch eine von Robert Franz und eine von Wilhelm Kienzl in Betracht.4 In jedem Fall jedoch erinnert die am 4 Clara Schumanns Vertonung ist die Nr. 2 des von Clara und Robert Schumann 1841 gemeinsam komponierten Liebesfrühlings nach Texten von Friedrich Rückert (op. 37/12). Ist noch in der Erstausgabe des Zyklus nicht ersichtlich, welche Lieder von Clara und welche von Robert Schumann geschrieben wurden, war die Autorschaft seit 1851 öffentlich bekannt, und seit den 1850er Jahren waren Einzelausgaben mit Au-

Clara und Robert Schumann im Backfischroman

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Ende der Erzählung gefundene Einigung des Paares, ihre Ehe als Liebes- und Berufsgemeinschaft führen zu wollen, an das Konzept der Ehe als Liebes-, Wirtschafts- und Künstlergemeinschaft, wie es Beatrix Borchard für Clara und Robert Schumann so beeindruckend herausgearbeitet hat.5 In einem anderen Mädchenroman, Schwesterseelen, der unter dem Pseudonym Hans Berthal publizierenden Schriftstellerin Emily Albert, wird Clara Schumann explizit als Vorbild für eine junge Frau herangezogen, die als Musikerin und Komponistin ihren Weg geht. Xandra ist eine hochbegabte Musikerin, deren Vater sie für eine musikalische Laufbahn erzieht. Dabei basiert die Konstruktion der Romanfigur offensichtlich auf dem Modell Clara WieckSchumann, auch wenn dies in manchen Aspekten – nicht nur im Hinblick auf das Hauptinstrument (Xandra spielt Geige) – verändert wird. Die Bedeutung des Vorbildes wird durch das damals mit Clara Schumann verbundene Attribut „Hohepriesterin der Kunst“ angedeutet, das der Vater bei der Formulierung seines Erziehungsziels für die Tochter verwendet (S. 154), vor allem aber durch einen Rekurs auf Litzmanns Clara-Schumann-Biografie, die aktuelle Lektüre von Xandras bester Freundin Gerda: Erich war fort, und Gerda vertiefte sich in ihr Buch: ‚Klara Schumann, von Professor Litzmann‘. Xandra hatte es ihr geliehen. Eine neue, ungeahnte Welt stieg vor dem lesenden Mädchen auf. Welch eine ungeheure Summe von Fleiß hatte in dem Studium und Erdenwallen dieser hochbegabten Künstlerin gesteckt! Wie freimütig erkannte sie, wo es ihr noch an der Vollendung mangelte, und in ihrer Selbstkritik ließ sie sich durch den lautesten Beifall nicht beirren. Und mit welcher Feuerkraft, mit welcher ausdauernden Geduld hatte sie für ihre Liebe zu Robert Schumann gekämpft. Trotz des Vaters heftigem Widerstande hielt sie standhaft zu dem Geliebten, sie glaubte an ihn und wies stolz alle hämischen Einflüsterungen zurück, die ihn ihr entfremden wollten. Und sie hatte sich ihr Glück endlich erkämpft. Ein volles, reiches – wenn auch kurzes Glück. Wie hatte Xandra heute gesagt: „Wer fragt ‚wie lange‘? wird stets das Glück versäumen. Nur eine solche Künstlerin wie Klara Schumann es war, kann sich als Künstlerin durchsetzen.“ Und dabei hatten Xandras Augen gestrahlt. Und Gerda las und bekam glühende Wangen und blanke Augen, sie blickte erst wieder auf, als die Uhr acht schlug und Luise mit dem Teegeschirr ins Zimmer kam, um zu decken. (S. 55) torangabe auf dem Markt. Clara Schumann führte die von ihr komponierten Lieder oft in ihren eigenen Konzerten und unter ihrem eigenen Namen auf. (Für diese Informationen danke ich Herrn Dr. Thomas Synofzik, Zwickau.) Robert Franz’ Vertonung erschien 1845 als Nr. 7 der Zwölf Gesänge op. 4, Wilhelm Kienzls Liebesfrühling op. 11 – mit „Er ist gekommen“ als Nr. 3 – in den 1870er Jahren. 5 Beatrix Borchard, Clara Wieck und Robert Schumann. Bedingungen künstlerischer Arbeit in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Kassel 21992.

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Wie Clara Schumann tritt auch Xandra als Komponistin hervor. Dieses Motiv wird nebenbei eingeführt, und Xandra zeigt auf diesem Gebiet zunächst nicht viel Ehrgeiz. Höhepunkt und Schluss des Romans indessen ist die Auszeichnung bei einem Kompositionswettbewerb, für den Gerda heimlich einige Werke ihrer Freundin eingereicht hat. Gerda nahm das blaugraue Kuvert in die Hand und drehte es unschlüssig hin und her. Dann fiel ihr Blick auf die Kopfleiste des Umschlags; da stand: ‚Redaktion der Musikzeitung‘. Ganz entgeistert sank Gerda auf den nächsten Stuhl. Xandra wurde ängstlich: „Aber was ist denn? Du bist so aufgeregt, deine Finger zittern ja.“ Gerda konnte nicht antworten, ihre Finger zitterten wirklich, als sie den Brief öffneten. Eilig überflog sie den Inhalt des Schreibens. Dann fiel sie mit einem Jubelschrei Xandra um den Hals, und das Briefblatt über dem Kopfe schwenkend, rief sie unter Lachen und Weinen: „Schwesterseelchen, nun bist du preisgekrönt!“ Xandra machte sich rasch los von den kräftigen Armen, die ihren zarten Körper wie Schraubstöcke umklammerten und meinte: „Ehe du mich ganz totdrückst, Walküre, erkläre mir lieber dies Rätsel.“ Und sie nötigte ihre stürmische Freundin sanft, aber bestimmt auf das Sofa. „Lies selbst,“ lachte Gerda. Und Xandra las und wollte ihren Augen kaum trauen. Die Redaktion benachrichtigte Fräulein Reimers, daß Fräulein Xandra ter Meulen aus dem Wettbewerbe der Musikzeitung für vier kurze Charakterstücke für Violine und Klavier mit dem zweiten Preise hervorgegangen sei. „Aber ich verstehe von alledem kein Wort,“ sagte Xandra und sah Gerda ratlos an, „ich habe nichts zum Wettbewerb eingeschickt, nicht einmal davon gewußt.“ „Nun denn! Xandra, ich habe es statt deiner getan!“ (S. 186)

In einer Zeit, in der männliche Schriftsteller, Wissenschaftler und Philosophen darin wetteiferten, die angebliche Unfähigkeit von Frauen zu Genialität und Kreativität – gerade in der Musik – zu beweisen,6 ist ein Backfischroman, der statt auf die Verlobung auf einen künstlerischen Erfolg der Heldin zielt, durchaus als Plädoyer für die Frauenemanzipation zu betrachten. Und Clara Schumann hat hier ihren Anteil daran, dass „Frauenleben“ nicht mehr auf „Frauenliebe“ reduziert wird.

6 Vgl. Rebecca Grotjahn: „Das Komponistinnenparadox. Ethel Smyth und der musikalische Geschlechterdiskurs um 1900“, in: Felsensprengerin, Brückenbauerin, Wegbereiterin: Die Komponistin Ethel Smyth. Rock Blaster, Bridge Builder, Road Paver: The Composer Ethel Smyth, hrsg. von Cornelia Bartsch, Rebecca Grotjahn und Melanie Unseld, München 2010 (Beiträge zur Kulturgeschichte der Musik 2), S. 39–54.

Clara und Robert Schumann im Backfischroman

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Im Text genannte, zitierte bzw. reproduzierte Quellen: Hans Berthal [= Emily Albert], Schwesterseelen. Eine Erzählung für junge Mädchen, Reutlingen 1o. J. [1906]. A[delbert] von Chamisso, Frauenliebe und Leben. Illustriert von Prof. Friedrich Klein-Chevalier, Berlin o. J. [1910]. Adelbert von Chamisso, Frauen-Liebe und Leben. Lieder-Cyclus. Illustrirt von P[aul] Thumann, Leipzig 101879 [11879]. Clementine Helm, Backfischchen’s Leiden und Freuden. Eine Erzählung für junge Mädchen, Leipzig 11863. Johanna Klemm, Das kleine Klosterfräulein. Erzählung für junge Mädchen und solche, die in der Jugend fortleben, Stuttgart, Berlin und Leipzig 2o. J. [1911; 11898]. Emmy von Rhoden, Der Trotzkopf. Eine Pensionsgeschichte für erwachsene Mädchen, Stuttgart 11885. Fortsetzungen von Else Wildhagen (siehe dort) und weiteren Autorinnen. Bernhardine Schulze-Smidt, Mellas Studentenjahr. Eine Backfischgeschichte, Bielefeld und Leipzig 11893. Clara Schumann, „Er ist gekommen in Sturm und Regen“, aus: Clara und Robert Schumann, Zwölf Gedichte aus F. Rückert’s Liebesfrühling für Pianoforte mit Gesang, in: Robert Schumann’s Werke, hrsg. von Clara Schumann, Serie XIII, 2. Bd., S. 4–6. Else Ury, Nesthäkchen. 10 Bände, 11918–1925. Else Ury, Studierte Mädel. Eine Erzählung für junge Mädchen, Stuttgart, Berlin und Leipzig 22o. J. [um 1925; 11906]. Else Wildhagen, Trotzkopf ’s Brautzeit. Zweiter Band zum „Trotzkopf“ von Emmy v. Rhoden, Stuttgart 49o. J. [um 1914, 11892]. Anna Julia Wolff, Frauen-Liebe und Leben im 20. Jahrhundert. Illustriert von Paul Haase, Frei nach Chamisso, Berlin o. J. [um 1910?].

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Pauline Viardot und „Le savon du Congo“ Ein Beispiel musikalischer Reklame 1895–1897 Am Ende des 19. Jahrhunderts galt Produktwerbung neben Elektrizität und dichtem Straßenverkehr als Inbegriff des ‚modernen‘ Großstadtlebens. Ausgehend von Paris verbreitete sich ab 1895 die sogenannte ‚Reklame‘ innerhalb kürzester Zeit in nahezu alle europäischen Metropole, und bereits 1896 erschienen erste Lichtreklamen und der erste Reklamefilm. Die Formen von Werbung und ihre Wirkung waren ein gesellschaftliches Thema, das in Tageszeitungen, Familienillustrierten und auf Abendveranstaltungen hitzig diskutiert wurde. Wie sehr dabei die Bewertung von Produktwerbung in den ersten Jahren von unserer heutigen, aufgeklärten Sicht abwich, zeigt u. a. die Tatsache, dass Kinobetreiber noch bis 1910 Reklamefilme einkauften, um sie abspielen zu dürfen. In Paris galt das Reklameplakat sogar als Art democratisé, als Realisierung einer demokratisierten Kunst.1 Während in der Kunstgeschichte die Einbindung von Malerinnen und Malern in den Reklame-Hype der Jahrhundertwende bereits auf breiter Ebene untersucht wurde, ist dies in den Musik- und Literaturwissenschaften bislang nur in Einzelfällen geschehen. Dabei gab es auch zu diesen Bereichen zahlreiche Verbindungslinien. So wurden z. B. in den Pausen von Theatern und Varietés kurze Werbegedichte mit der Laterna magica auf den Vorhang projiziert, Tageszeitungen veröffentlichten kleine Geschichten, in denen für die Verwendung eines bestimmten Produkts geworben wurde, und die gesamten Werbefilme wurden selbstverständlich mit Musik begleitet. In der Saison 1889/1890 setzte das Leipziger Stadttheater sogar ein Ballett mit dem Titel Meissner Porzellan als eigene Produktion auf den Spielplan,2 und Giacomo

1 Vgl. hierzu allgemein: Christiane Lamberty, Reklame in Deutschland 1890–1914. Wahrnehmung, Professionalisierung und Kritik der Wirtschaftswerbung, Berlin 2000. 2 Vgl. Ernst Resius, „Meissner Porzellan“. Eine inoffizielle Erläuterung durch das Neue Leipziger Puppentheater, Leipzig 1890, Beilage zum Musikalischen Wochenblatt Jg. 21 (1890) vom 6.2.1890.

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Puccini verfasste Anfang des 20. Jahrhunderts für seinen Freund, den Dresdner Odol-Hersteller Karl August Lingner, ein „Lode all’Odol“.3 Zu jenen Musikerinnen und Musikern, die sich in diesen ersten Jahren mit Reklamemusik befassten, gehörte auch die Sängerin und Komponistin Pauline Viardot (1821–1910), die zwischen 1838 und 1863 als Opernsängerin die europäischen Bühnen erobert und dabei Rollen wie Giacomo Meyerbeers Fidès (aus Le Prophète) kreiert hatte. Ende des 19. Jahrhunderts galt sie außerdem als herausragende Gesangspädagogin. In ihrer Wohnung am Pariser Boulevard St. Germain unterrichtete sie einen internationalen Schülerkreis und führte einen Salon, in dem u. a. Gabriel Fauré und Camille Saint-Saëns verkehrten; zudem veröffentlichte sie nach wie vor Kompositionen und Bearbeitungen.4 In einem Teilnachlass Pauline Viardots, der in der Houghton Library in Harvard aufbewahrt wird, befinden sich die Autografe von acht Reklameliedern für eine Parfumseife „Savon du Congo“, die Pauline Viardot zwischen 1895 und 1897 komponierte.5 Im Hinblick auf eine Geschichte von Musik in der Werbung ist an diesen Liedern für eine Singstimme und Klavier mehreres bemerkenswert. Zum einen zeigen sie, dass sich der Reklamehype der Jahrhundertwende auch in Kompositionen manifestierte. Zweitens lässt sich an ihrer musikalischen Struktur ablesen, dass bereits zu dieser Zeit Werbemu3 Giacomo Puccinis „Lode all’Odol“ spielt u. a. auf La Bohème an: „Lode all’Odol! // Lodo l’Odol, lo dolce licor / Che lo dolor del dente / Scaccia di sovente. / Io lodol la sera / E la mattina in acqua / E il dente mio dolente / Va stritolando allodole / Ch’odo lanciar per l’aria / Mimi, Rodolfi tutti / Che avete denti brutti / Adoperate l’Odol / E ma modo li terrete / O dollari piovete!“ Vgl. Henriette Väth-Hinz, Odol. Reklame-Kunst um 1900 (Werkbund-Archiv 14), Gießen 1985, S. 98. 4 Der vorliegende Aufsatz steht in Zusammenhang mit einem DFG-Forschungsprojekt über „Orte und Wege europäischer Kulturvermittlung durch Musik. Die Sängerin und Komponistin Pauline Viardot“, das von Beatrix Borchard geleitet und seit 2007 von der DFG gefördert wird. Eine Website zum Forschungsprojekt ist online verfügbar unter: http://www.viardot.de. Zu Pauline Viardot allgemein vgl. u. a.: Yvette Sieffert-Rigaud, Pauline Viardot, mythe et réalité, Diss. Univ. Rouen 1991 (Microfiche-Ausgabe); Beatrix Borchard, „Pauline Viardot-Garcia – Die letzte Zauberin“, in: Annäherung an 7 Komponistinnen Bd. XI, hrsg. von Clara Mayer, Kassel 2000, S. 107–132; Beatrix Borchard, Artikel „Viardot-Garcia, Pauline“ in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart (MGG), 2. neubearb. Ausgabe, hrsg. von Ludwig Finscher, Personenteil Bd. 16, Kassel, Stuttgart 2006, Sp. 1537–1539; Beatrix Borchard, Artikel „Viardot, Pauline“, in: Musik und Gender im Internet, hrsg. von Beatrix Borchard, http://mugi.hfmt-hamburg.de/A_lexartikel/lexartikel.php?id=viar1821, 17.4.2010; Michael Steen, Enchantress of nations, Pauline Viardot: soprano, muse and lover, Thriplow 2007; Patrick Barbier, Pauline Viardot, Paris 2009. 5 Houghton Library Harvard (im Folgenden: US-CAh), Signatur: bMs Mus 232 (48). Das Konvolut umfasst zahlreiche weitere Liedautografe Pauline Viardots.

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sik auf altbekannte und vertraute Idiome zurückgriff und gleichzeitig einer ‚Attraktion des Neuen‘ verpflichtet war. Schließlich wird an diesen Liedern deutlich, dass die Idee eines akustischen Markenzeichens keine Erfindung des 20. Jahrhunderts ist, sondern von Beginn an ein wesentlicher Bestandteil von Musik in der Werbung war.

Abb. 1  Pauline Viardot: Conseil. Autograf, Houghton Library, Harvard University (im Folgenden: US-CAh), bMs Mus 232 (48). Mit freundlicher Genehmigung der Houghton Library, Harvard University.

Das früheste datierte Lied der Werkgruppe mit dem Titel Conseil wurde am 30. Juni 1895 niedergeschrieben und enthält den Ratschlag, Gesicht und Hände mit der „unglaublichen und feinen“ „Savon du Congo“ zu bleichen: „Si tu tiens à blanchir ta peau. / Lave tes mains, Lave ta face / A l’incroyable et fin Congo, / Savon que nul autre n’éfface.“ Es folgen die Lieder Budget, „Allumeur de désir ...“ und L’Aimable Messagère, die alle drei auf dem gleichen Bogen mit gleicher Schrift notiert sind, sowie vier weitere Lieder mit den Titeln bzw. Textincipits Le Chagrin des Fleurs, „Après avoir tout fait ...“, Toujours le Congo und schließlich „On ne peut s’en lasser ...“; die letzten beiden Lieder stammen aus dem Jahr 1897.

250 Titel Conseil

Text Si tu tiens à blanchir ta peau. Lave tes mains, Lave ta face A l’incroyable et fin Congo, Savon que nul autre n’éfface. Budget J’ai fixé ton budget chère pour l’an qui vient tant par an pour chapeau, robes, rubans, manteaux, autant pour les raouts, thés, gâteaux et festins, Et comme supplément à la parfumerie tant pour toi cher Congo, qui te rend si jolie! [ohne Titel] Allumeur de désir dans les cœurs presque éteints Restaurateur des frais visages de satin Habile entremetteur des galants tête à tête Congo, je te salue et proclame parfaite La senteur de ta blonde et pure savonnette. L’Aimable On veut utiliser l’hirondelle à la guerre! Messagère Combien j’aimerais mieux voir ces gentils oiseaux Emporter de Roubaix jusqu’au bout de la terre Le parfum et le nom si doux, si doux, si doux du doux du doux du doux Congo! Le chagrin des L’arôme de la fleur a perdu son mérite fleurs Depuis que le Congo, Le doux parfum Vaissier Exhale ses parfums, Qu’aucun baume n’imite La rose de dépit ne cesse de pleurer. [ohne Titel] Après avoir tout fait pour paraître moins laide, Claire ayant essayé les fards les plus nouveaux Appela les savons de Vaissier à son aide Et la voilà jolie, grâce au savon du Congo. Toujours le Le jeu conduit au vol, l’or à l’indépendance, Congo La faim à la cuisine et la soif au tonneau, La douleur à la mort, Le plaisir à la danse. Et l’amour des parfums au savon du Congo. [ohne Titel] On ne peut s’en lasser, car depuis quinze années Petit Noël vient toujours par les cheminées Offrir à ceux qu’il aime céleste cadeau Les ravissants parfums du savon du Congo.

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Datierung Chaville. 30 Juin.95 Chaville 30 8bre [octobre, ohne Jahr] [ohne Datum]

[ohne Datum]

samedi soir 2 mars [ohne Jahr] [ohne Datum] 30 9bre [novembre] 1897 26 X [décembre] 97

Pauline Viardot: Reklamelieder für die „Savon du Congo“. Übersicht über den Bestand der Houghton Library, Harvard University, Signatur bMs Mus 232 (48).

Alle acht Lieder Pauline Viardots stehen in Zusammenhang mit einer großen Werbekampagne, die der Pariser Parfumeur Victor Vaissier um 1885 entwickelt hatte. Victor Vaissier hatte die Bevölkerung dazu aufgerufen, kleine

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Werbereime für die von ihm produzierte „Savon du Congo“ einzusenden und veröffentlichte die Ergebnisse regelmäßig in Pariser Tageszeitungen und Illustrierten. Unauffällig versteckt zwischen Polizeiberichten, Theaterveranstaltungen und politischen Artikeln erschienen auf diese Weise zwischen 1885 und 1900 mehr als 6000 solcher Gedichte in Zeitungen wie La Lanterne, Gil-Blas, Le Gaulois oder Le Petit Parisien, teils namentlich gezeichnet, teils anonym, teils pseudonym.6 Die von Pauline Viardot vertonten Texte sind entweder diesem Bestand entnommen oder wurden mit Blick auf die Werbekampagne gedichtet. Bislang lässt sich bei zweien ihrer Liedtexte die Herkunft bestimmen: Das Gedicht „Après avoir tout fait ...“ erschien unter dem Titel La dernière Cartouche am 9. Januar 1898 in den Zeitungen Le Gaulois und Le Petit Parisien und am 27. Februar 1898 in leicht veränderter Form in L’Eclaireur de Nice; als Autor unterzeichnete ein G. Corriez7 (vgl. Abb. 2). Der Liedtext „On ne peut s’en lasser ...“, ein Weihnachtstext, erschien in zwei verschiedenen Varianten am 19. Dezember 1897 in Le Gaulois (unter dem Titel Cadeau céleste) und am gleichen Tag in Le Petit Parisien (unter dem Titel C’est toujours lui), beide Male mit der Autorenangabe „E. Dauriac“; Pauline Viardot schrieb das Lied am 26. Dezember 1897.8 Innerhalb kürzester Zeit avancierte „le Savon du Congo“, u. a. dank dieser Werbekampagne, zu einem Symbol der Pariser Gesellschaft am Ende des 19.  Jahrhunderts und ihrem Faible für Vergnügungen, Mode und Erscheinungsbild.9 So lautete z. B. eines der veröffentlichten Gedichte: „Casino-de-Paris, Moulin-Rouge, Opéra, / que de bals, de soupers, de redoutes joyeuses, / Où, sur le

6 Die Werbegedichte für die „Savon du Congo“ wurden mittlerweile mehrfach von literaturwissenschaftlicher Seite beachtet und untersucht. Vgl. hierzu bes.: Marc Angenot, L’Œuvre poétique du Savon du Congo, Paris 1992. Die Frage, wie viele dieser Gedichte namhaften Literaten zuzuschreiben ist, beschäftigt dabei nach wie vor die Literaturwissenschaft. Vgl. hierzu z. B. Gregory Haleux, „Les Quatrains pour les Princes du Savon du Congo“, Internetbeitrag vom 23.11.2009 im Blog des französischen Verlages Cynthia 3000: http://www.cynthia3000.info/blog/cat,10, 17.4.2010. 7 Siehe z. B. Le Petit Parisien vom 9.1.1898, S. 3. Vgl. Gregory Haleux, Quatrains pour les Princes du Savon du Congo 1898, online verfügbar unter: http://www.cynthia3000.info/images/pdf/Savon_du_Congo_1898.pdf, 17.4.2010. 8 Siehe z. B. Le Petit Parisien vom 19.12.1897, S. 3. Vgl. Gregory Haleux, Quatrains pour les Princes du Savon du Congo 1897, online verfügbar unter: http://www.cynthia3000. info/images/pdf/Savon_du_Congo_1897.pdf, 17.4.2010. 9 „Le Savon du Congo“ erreichte eine Popularität, deren Abglanz bis heute andauert: So lassen sich z. B. bei Ebay Frankreich, Deutschland und den USA für diese Marke Seifenschachteln, -etiketten und -schalen ebenso ersteigern wie Handtuchhalter mit einem entsprechenden Logo.

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Abb. 2  „La dernière cartouche“. Le Petit Parisien vom 9. Januar 1898, S. 3. Quelle: Bibliothèque numérique Gallica, http://gallica.bnf.fr, 30. April 2010.

Abb. 3  Palace du Prince de Congo – zeitgenössische Werbepostkarte. Quelle: http://chateauvaissier. blogspot.com, 3.5.2010.

blanc satin des gorges savoureuses / L’arôme du Congo – doux encens – flottera“.10 Im Zentrum des Artikels – wie auch seines Erfinders – stand der Exotismus der Troisième République bzw. der Belle Époque: nicht nur wurden auf den Seifenschachteln ‚exotische‘ Menschen mit Turban und anderen Accessoires abgebildet, auch Victor Vaissier selbst stilisierte sich inoffiziell zum „Prince de Congo“, ließ sich in Tourcoing, in der Nähe der Herstellungsfabrik in Roubaix im Norden Frankreichs, einen Palast „De Congo“ bauen und belieferte mit seiner Parfumseife die Höfe von Belgien, Rumänien und Tunis.11 Name wie Produkt standen schließlich – selbstverständlich ungeachtet aller 10 Zit. nach: Angenot, L’Œuvre poétique du Savon du Congo (wie Anm. 6), S. 14. 11 Dem „Palace du Congo“ und seiner Geschichte ist ein eigener Blog gewidmet, in dem zahlreiche Dokumente veröffentlicht sind: http://chateauvaissier.blogspot.com, 3.5.2010.

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Kongo-Verbrechen – für Kolonialisierung und wirtschaftliche Expansion. So heißt es in weiteren Gedichten z. B.: „Victor Vaissier, Napoléon / Sont deux hommes d’égale taille, / L’un s’illustra par son savon / L’autre sur le champ de bataille.“12 oder auch „Si Marchand doit quitter Fachoda, sa conquête, / Vaissier y restera, solide, sans céder, / Car déjà ses comptoirs du haut et bas Niger / Débitent le Congo ses pures savonnettes.“13 Pauline Viardots Werbelieder bewegen sich zwischen ironischer Distanz und spielerischem Vergnügen. Musikalisch verwendete sie dabei mehrere, deutlich voneinander zu unterscheidende Idiome, darunter Volks- bzw. Weihnachtslied, Salonromanze und szenische Musik, die fast an Filmmusik erinnert. So wählte sie z. B. für das Lied „Allumeur de désir ...“, in dessen Text die Parfumseife als „Entzünder von Wünschen in fast erloschenen Herzen“ gepriesen wird, die Form einer Romance du salon aus den 1840er Jahren, und beschwor auf diese Weise in Text und Musik den Gedanken an längst vergangene Zeiten herauf. In sanft dahinfließenden Wechseln zwischen Tonika

Abb. 4  Pauline Viardot: „Allumeur de désir“, Takte 1–16. Vorlage: US-CAh, bMs Mus 232 (48). 12 Ebd., S. 13. 13 „Au Centre Afrique“, veröffentlicht in La Croix vom 23.10.1898, zit. nach: Haleux, Quatrains pour les Princes du Savon du Congo 1898 (wie Anm. 7), S. 115. Fachoda stand in der zweiten Jahreshälfte 1898 im Fadenkreuz der Kolonialisierung, da sowohl England als auch Frankreich die koloniale Vorherrschaft beanspruchten. Die französischen Truppen wurden dabei von dem Kommandanten Jean-Baptiste Marchand geführt, der bereits zuvor bei der Kolonialisierung des Französisch-Kongo eine wesentliche Rolle gespielt hatte.

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und Dominante heißt es: „Allumeur de désir dans les cœurs presque éteints / Restaurateur des frais visages de satin / Habile entremetteur des galants tête à tête / Congo, je te salue et proclame parfaite / La senteur de ta blonde et pure savonnette.“ Im Lied „Après avoir tout fait ...“ wird eine kurze Geschichte über die Verwandlung von Claire erzählt, die, nur um weniger hässlich zu erscheinen, die neueste Schminke ausprobiert und dennoch verzweifelt. Letztlich entschließt sie sich den Parfumeur Victor Vaissier zu Hilfe zu rufen, und – sieh an: Claire wird hübsch – dank der Savon du Congo: „Après avoir tout fait pour paraître moins laide, / Claire ayant essayé les fards les plus nouveaux / Appela les savons de Vaissier à son aide / Et là voilà jolie / Grâce au savon du Congo.“ In der Vertonung Pauline Viardots wird aus dem Vierzeiler eine kleine Szene, deren Musik bereits die kommende Filmmusik erahnen lässt. Einer vergleichsweise distanzierten Erzählung der ersten beiden Verse folgt ein instrumentales Intermezzo des Klaviers, in dem die Steigerung der Verzweiflung Claires bildlich und musikalisch durch eine stete rhythmische und harmonische Verdichtung der inneren Bewegung nachvollziehbar wird. Dies ist der Moment, in dem die epische Erzählhaltung der Singstimme in dramatisches Erleben umschlägt: mit dem Alarmsignal einer mehrfachen kleinen Terz ruft Claire den Parfumeur Victor Vaissier zu Hilfe. Nach einem Takt bangen Wartens eilt Vaissier mit einem schnellen, nach oben gerichteten Lauf herbei – der Klavierpart stockt – und kippt zunächst zögernd, dann immer entschlossener nach C-Dur: Claire besingt strahlend ihre neugewonnene Schönheit. Es wäre möglich, dass Pauline Viardot in diesem Fall tatsächlich bereits an einen Reklamefilm gedacht hatte. Denn bereits am 28. Dezember 1895 hatten die Brüder Louis und Auguste Lumière im Pariser Grand Café auf dem Boulevard des Capucines die ersten Filmvorführungen präsentiert. Von dort aus breitete sich der Film mit einer unglaublichen Geschwindigkeit aus und galt als die große Attraktion auf Jahrmärkten und in Varietés. Bereits im darauffolgenden Jahr, 1896, entstanden die ersten Werbefilme, die von Beginn an mit Musik begleitet wurden; teilweise erläuterte auch ein Rezitator das jeweilige Geschehen.14 Die Reklamefilme wurden zwischen anderen Filmen gezeigt und gehörten selbstverständlich zur Vorführung dazu. Daher sollte die Werbegeschichte so angelegt sein, dass die Zuschauer zunächst nicht zwischen unterhaltenden

14 Vgl. z. B.: Harald Pulch, „Werbefilm im Wandel. Zur Geschichte des deutschen Werbefilms“, in: Die Kunst zu werben. Das Jahrhundert der Reklame, hrsg. von Susanne Bäumler, Köln 1996, S. 371 ff.

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Abb. 5  Pauline Viardot: „Après avoir tout fait ...“, Takte 1–41. Vorlage: US-CAh, bMs Mus 232 (48).

Geschichten und Werbefilmen unterscheiden konnten. William Besel schrieb 1912 in den Mitteilungen des „Vereins deutscher Reklamefachleute“:

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Das Prinzip einer Filmreklame läuft darauf hinaus, dem Publikum möglichst lange zu verbergen, daß es sich um Propaganda handelt. Weiß das Publikum also schon aus den ersten Worten oder in der Mitte, daß sie eine Reklame vor sich haben, dann ist es um sein Interesse geschehen. Man muß daher den Effekt möglichst weit an das Ende verlegen, und das kann nur durch Bilderfilme [im Gegensatz zu Textfilmen] erreicht werden.15

Nicht anders wurde mit Liedern und Chansons verfahren. Auch sie wurden als Programmpunkte in den Konzertablauf eingefügt, so z. B. in den zahlreichen Café-Concerts auf Montmartre. So erstaunt es wenig, dass auch in den anderen Werbeliedern Pauline Viardots die eigentliche Reklame an das Ende des Liedes gesetzt ist. Deutlich wird dies z. B. an dem Lied Toujours le Congo, das sich im Tonfall der leichten Musik Montmartres der „Savon du Congo“ in Analogien annähert. Demnach führe u. a. das Spiel zum Fliegen, der Hunger in die Küche, der Schmerz zum Tod und die Liebe zum Parfum – zur „Savon du Congo“ : „Le jeu conduit au vol, l’or à l’indépendance, / La faim à la cuisine et la soif au tonneau, / La douleur à la mort, Le plaisir à la danse. /Et l’amour des parfums au savon du Congo.“

Abb. 6  Pauline Viardot: „Toujours le Congo“, Takte 1–12. Vorlage: US-CAh, bMs Mus 232 (48).

In einem weiteren Lied Le Chagrin des Fleurs stellt Pauline Viardot inhaltlich und musikalisch alte und neue Welt einander gegenüber: der Duft der 15 Zit. nach Lamberty, Reklame in Deutschland 1890–1914 (wie Anm. 1), S. 220.

Pauline Viardot und „Le savon du Congo“

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Blume wurde von der „Savon du Congo“ abgelöst, und daher hört „die gekränkte Rose“ nicht auf zu weinen. Dabei wird die alte Welt mit einem Idiom zwischen Salonromanze und Mélodie charakterisiert, die neue Welt mit Anklängen an einen Genre-Ragtime, dessen Idiom in den 1890er-Jahren in Europa populär wurde, und der sich dort innerhalb kürzester Zeit als sogenannter Cakewalk, später auch Ragtime, in den Varités und Café Concerts etablieren konnte.16 Als Merkmale dieser Musik, die u. a. von Tanzkapellen und Salonorchestern verbreitet wurde, galten u. a. ein 2/4-Takt in mäßigem Marschtempo, eine Synkopenmelodik sowie ein regelmäßig akzentuierter Bass in Achtelwerten mit einer harmonischen Gerüstfunktion. Der Text des Liedes lautet: „L’arôme de la fleur a perdu son mérite / Depuis que le Congo Le doux parfum Vaissier / Exhale ses parfums Qu’aucun baume n’imite / La rose de dépit ne cesse de pleurer.“

Abb. 7  Pauline Viardot: „Le Chagrin des fleurs“, Takte 1–17. Vorlage: US-CAh, bMs Mus 232 (48).

16 Auch wenn der Begriff Cakewalk sich erst um 1900 etablierte, so war das musikalische Phänomen des Genre-Ragtime sehr viel früher bekannt und wurde bereits in den 1890er Jahren in Schulwerken verbreitet. Seine Verbindung mit der sogenannten klassischen Musik fand sich u. a. im Verfahren des Ragging, „bei dem in synkopierter Umwandlung Kompositionen von Liszt bis Lehár, von Mozart bis Mendelssohn Bartholdy, von Rossini bis Rachmaninov ‚modernisiert‘ wurden.“ Vgl. Jürgen Hunkemüller, Artikel „Ragtime“, in: MGG (wie Anm. 4), Sachteil Bd. 8, Kassel u. a., 1998, Sp. 58–67, hier: Sp. 64.

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Silke Wenzel

Betrachtet man von hier aus nochmals die Werkgruppe als Ganzes, so wird deutlich, dass Pauline Viardot von Beginn an den Gestus des Genre-Ragtime als eine Art musikalisches Signum für die „Savon du Congo“ einsetzte: gleichmäßige, akzentuierte Achtel im Bass, die in der Oberstimme jeweils von einer aufstrebenden Figur von zwei Sechzehnteln mit einer Achtel angeschoben werden. Sobald im Text die Parfumseife angesprochen wird, erklingt auch die entsprechende musikalische Struktur (Abb. 8a–8f ). So wird bereits das erste Lied Conseil musikalisch von diesem Signum ein- und wieder ausgeleitet, in „Allumeur de désir ...“ durchbricht das musikalische Zeichen die Romanzenstruktur mit dem Auftauchen des Wortes „Congo“ in Takt 23, gekennzeichnet mit einem „Forte“, schwankt zurück zum Romanzenton, um dann um so nachdrücklicher ein weiteres Mal auf das Wort „Savonette“ hervorzubrechen. Die Szene von Claire wird mit dem akustischen Markenzeichen eröffnet, und auch in Toujours le Congo führt „die Liebe zum Parfum“ direkt zur entsprechenden musikalischen Struktur. Das gleiche gilt für die hier nicht näher betrachteten Lieder Budget und Aimable Messagère:

Abb. 8a  Pauline Viardot: „Conseil“, Takte 1–3 und 12–15.

Pauline Viardot und „Le savon du Congo“

Abb. 8b  Pauline Viardot: „Allumeur de désir ...“, Takte 22–36.

Abb. 8c  Pauline Viardot: „Après avoir tout fait ...“, Takte 58–63.

Abb. 8d  Pauline Viardot: „Toujours le Congo“, Takte 25–30.

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Abb. 8e  Pauline Viardot: „Budget“, Takte 26–32.

Abb. 8f  Pauline Viardot: „Aimable Messagére“,Takte 21–26. Abb. 8  Pauline Viardot: Werbelieder für eine Parfumseife. Übersicht über das musikalische Signum. Vorlagen: US-CAh, bMs Mus 232 (48).

In den acht in der Houghton Library in Harvard erhaltenen Liedern entwickelte Pauline Viardot mit der Gegenüberstellung von Romanze und Genre-Ragtime eine Art musikalisches Markenzeichen der modernen Großstadtwelt, das sich bewusst – und ein wenig wehmütig – von der alten Welt absetzte. Dabei griff sie an Anregungen alles auf, was um 1895 in der Pariser Luft lag: Reklame-Boom, Filmmusik, Salonromantik, Café Concert und Varieté. Da sie sich – wie erwähnt – über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahren mit der „Savon du Congo“ auseinandersetzte, wäre zu vermuten, dass sie hierin eine inhaltliche Vorlage fand, um dem zu dieser Zeit nach wie vor aktuellen Salonexotismus ein weiteres musikalisches Idiom hinzuzufügen: das des Genrebildes einer afro-amerikanischen Unterhaltungsmusik. Die Lieder über die „Savon du Congo“ markieren somit eine qualitative Wendung: Denn der Genre-Ragtime war nicht nur eine musikalische Struktur, die den Exotismus, die Faszination am Fremden ausdrückte, sondern er verwies zugleich auf die populare Musik der Varietés und Café Concerts. Pauline Viardots Lieder für die „Savon du Congo“ stehen am Schnittpunkt zwischen einer im Vergehen begriffenen, elitären Salonkultur, von der der so genannte Salon-

Pauline Viardot und „Le savon du Congo“

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exotismus ein wesentlicher Teil war, und einer ‚modernen‘ Vergnügungswelt, die – aus damaliger Sicht – für alle offen war. Dass es sich dabei aus heutiger Sicht weitaus eher um eine Verschiebung von politischer Monarchie zu wirtschaftlicher Oligarchie handelte, versteht sich (fast) von selbst.

Cornelia Bartsch

Spaziergänge im Garten von Freuden und Traurigkeiten Hörwege in eine Musik Sofia Gubaidulinas Erster Spaziergang

5

Ein Ton wächst von innen in die Höhe und Tiefe. Ein Tropfen umfängt ihn und führt zu einem feinen Licht, in dem alles verstummt. Aus der Stille bringt das Licht den Klang zurück.



Im Garten sucht der Klang das Licht und Licht verwandelt sich in Klang. Spaltet in Hell und Dunkel. 10 Dunkles Licht weckt



Angst an der Grenze – ob da ein Verstehen ist? Klangtropfen schimmern hell-dunkel, klingen in Unendlichkeit.

15 Was erzählt die Bratsche plötzlich? Der Streit mit der Harfe wird durch den Flötenton geschlichtet. Dagegen Saitenspiel. Eine Märchenmelodie wächst über Saitendunkel. An der Grenze übernimmt das Dunkel den Klang 20 und verwandelt Lieder in Metall.

Doch der Flötenton wächst und wächst über den Gartenzaun hinaus. Erzählt der Wildnis von Rosen und Vögeln. Zaunkönige fliegen weit 25 und träumen im Schlaf von blühenden Klängen.

Flötenklang träumt ins Saitenspiel, Saitenspiel träumt sich die Flöte, Flöte spielt Bratsche und verliert die Fassung, aber nicht die Melodie.

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Wildheit wächst in Klängen über Zäune und Gärten ins gleißende Licht hinein. Sternenfunkeln über alle Grenzen wird zum Harfenschweif in der Nacht.

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Eine Melodie wankt auf nächtlichen Wegen. Ein Bratschenklang schwindet an der Flötengrenze und findet zurück zum Anfang – ein Kreis. Wo wird der Wassertropfen zu Saitenspiel? Welcher Zaun begrenzt das Licht? Ein Regenbogen klingt über dem Zaubergarten. Wo fängt er an? Wo endet er?1



Ad libitum: Wann ist es wirklich aus? Was ist das wahre Ende? Alle Grenzen sind wie mit einem Stück Holz oder einem Schuhabsatz in die Erde gezogen.



Bis dahin…, hier ist die Grenze. Alles ist künstlich. Morgen spielen wir ein anderes Spiel.

Cornelia Bartsch

Überlegungen auf der Gartenbank Wohin führt ein zur Musik geschriebenes Gedicht? In Erinnerung an meine letzte Lehrveranstaltung bei Beatrix Borchard, bei der wir uns dem Stück Hörfenster für Franz Liszt von Adriana Hölszky näherten, indem wir dazu beim

1 Bis hierher handelt es sich bei dem Gedicht um die leicht überarbeitete Version eines beim Hören von Garten von Freuden und Traurigkeiten von mir niedergeschriebenen Textes. Die folgenden Verse unter „ad libitum“ stammen von Francisco Tanzer und sind Teil des Stückes. Sie stehen am Ende der Partitur und können von den Interpreten – ad libitum – rezitiert werden.

Spaziergänge im Garten von Freuden und Traurigkeiten

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Hören eigene Texte schrieben,2 gehen die folgenden ‚Spaziergänge‘ auch dieser Frage nach. Bis zur Vortragsanweisung „ad libitum“ dokumentiert das oben abgedruckte Gedicht als leicht überarbeitete Version des beim Hören niedergeschriebenen Textes meinen ersten Erkundungsgang in Sofia Gubaidulinas Komposition. Die letzten beiden Verse sind Teil der Komposition und können von einem Sprecher oder den Ausführenden ad libitum rezitiert werden. Sie stammen von dem österreichischen Dichter Franzisco Tanzer (1921–2003), mit dem Sofia Gubaidulina befreundet war und dem das Stück auch gewidmet ist. Dass mein Text sich mit Tanzers Versen nahezu nahtlos fortsetzen lässt, war die Überraschung, die eine kleine Pause nach meiner Ersterkundung mit sich brachte: Die von mir verwendete Aufnahme3 erhielt die Rezitation nicht, und da der zu rezitierende Text nach einem Doppelstrich auf der letzten rückwärtigen Seite der Partitur abgedruckt ist, fiel mir die Übereinstimmung erst nachträglich auf. Zugleich beschäftigten mich während meiner Denkpause aber auch Zweifel an der Authentizität des von mir niedergeschriebenen Textes als Ergebnis eines spontan in Worte gefassten Klangerlebnisses. Schließlich waren mir viele Eigenaussagen Sofia Gubaidulinas zu ihrer Ästhetik vertraut und es war wohl davon auszugehen, dass meine Assoziationen zur Musik nicht nur von dieser, sondern auch von meinen Vorkenntnissen beeinflusst waren.4 Diese Zweifel, mit denen der zweite Spaziergang beginnt, weisen auf andere Art auf die Verflechtung verschiedener Texte hin: meines zum Hören niedergeschriebenen Gedichts nicht nur mit dem ‚Text‘ der Musik, sondern auch mit Texten von Sofia Gubaidulina bzw. mit meiner Erinnerung daran. Die Vervielfältigung mit der Musik sowie miteinander korrespondierenden Texte setzte sich bei den weiteren Spaziergängen durch die Musik fort: Unter zunehmender Einbeziehung der Ästhetik Gubaidulinas verlaufen der zweite und dritte Spaziergang weitgehend entlang der Bezüge zwischen dem beim Hören niedergeschriebenen Text und der Musik. Der vierte Spaziergang bezieht neben dem Text Franzisco Tanzers noch ein weiteres Gedicht ein, das 2 Das Ergebnis des Seminars war ein Programmheft für die Reihe Klangportraits: Adriana Hölszky, hrsg. von Beatrix Borchard (Klangportraits 1), Berlin 1991. Ein Hörprotokoll von Katrin Plümer ist abgedruckt auf S. 33. 3 Mit Irena Grafenauer, Flöte, Maria Graf, Harfe und Vladimir Mendelssohn, Viola, in: Sofia A. Gubaidulina, Chamber Music, Philipps Classics 1992 (Lockenhaus Collection 10). Meine Ersterkundung ging ausschließlich vom Hören aus, sodass mir die Diskrepanz zur auf dem Titelblatt genannten Besetzung „Flöte, Viola, Harfe und Sprecher“ nicht auffiel. 4 Zu Sofia Gubaidulina siehe auch den Artikel von Gabriele Jonté bei MUGI – Musikvermittlung und Genderforschung im Internet, online verfügbar unter: http://mugi.hfmthamburg.de/A_lexartikel/lexartikel.php?id=guba1931, 11.5.2010.

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Cornelia Bartsch

sich hinter der Komposition verbirgt; der fünfte schließlich nimmt noch zwei weitere Kompositionen in den Kreis der Korrespondenzen auf, die ebenfalls mit Texten von Franzisco Tanzer in Beziehung stehen. Mein beim Hören geschriebenes Gedicht liegt allen folgenden Spaziergängen durch die Musik wie eine Wanderkarte zu Grunde.5 Zweiter Spaziergang: „Im Garten sucht der Klang das Licht“ Wohin also führt ein zur Musik geschriebenes Gedicht? Sicher sind die beim Hören des Stücks notierten Assoziationen nicht allein von der momentanen Wahrnehmung der Klänge und musikalischen Strukturen, sondern auch vom Wissen um Gubaidulinas Ästhetik sowie von den Bildern beeinflusst, die sich aus dem Titel ergeben: Garten von Freuden und Traurigkeiten legt eine Metaphorik nahe, die Klänge „wachsen“ „blühen“ und „verfallen“ lässt, zugleich bezeichnet der Titel einen Gegensatz, der sich ebenfalls in den Assoziationen des zur Musik geschriebenen Textes niederschlägt. Das Bild des Gartens ist weiterhin mit der Vorstellung von einer Begrenzung verbunden, dem Zaun, der den Übergang zur Wildnis markiert. Es lenkt das Hören auf Grenzereignisse und Übergänge. Die zum Garten gehörige Metaphorik, die mir also beim Hören in den Sinn kam, korreliert wiederum mit Sätzen, mit denen Gubaidulina ihr Komponieren charakterisiert, etwa wenn sie, bezogen auf die Form ihres Violinkonzertes Offertorium, schreibt: In dieser Hinsicht erinnert mein Werk eher an einen Baum als ein Bauwerk. Denn die Form des Baumes enthält in sich das Prinzip der Symmetrie auch nur in einem symbolischen Sinne. So kann man sich kaum aufgrund seiner äußeren Erscheinung, sondern allein innerlich vorstellen, dass die Äste des Baumes die Wurzeln sind, die in den Himmel wachsen.6

Obwohl sich also Zweifel daran anmelden lassen, dass das Gedicht das Ergebnis eines spontan in Worte gefassten Klangerlebnisses ist, führt es zusammen mit der anschließenden Reflexion darüber mitten in die Musik hinein, wie schon der Rückbezug der Eingangsverse zum Beginn der Musik zeigt. 5 Zur Vorgehensweise: Nach der ersten Niederschrift beim Hören der Musik und einer anschließenden leichten Überarbeitung habe ich die Verse bei einem zweiten, unmittelbar darauf folgenden Hören – nun unter Hinzuziehung der Noten – aus der Erinnerung mit den Bezifferungen aus der Partitur versehen. Diese ‚bezifferte‘ Fassung meines Textes war der Ausgangspunkt für die folgenden Reflexionen. 6 Sofia Gubaidulina, „Zu meinem Violinkonzert Offertorium“, aus einem Brief der Komponistin an Gabriele Emde vom 5.10.1982, Sikorski-Archiv, Hamburg, S. 2.

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So entstehen die melodischen Gesten der Flöte, indem der Klangraum vom Ton a ausgehend symmetrisch nach oben und unten erweitert wird, und dieses „Wachsen“ um die Spiegelachse a herum lässt sich als thematisch bezeichnen.7 Das mit dem Stimmschlüssel produzierte Harfenglissando – von mir wegen des Anreißens des Tons zu Beginn mit einem Tropfen assoziiert – folgt dem Tonhöhenverlauf der Flöte, wirkt als Glissando jedoch vergleichsweise amorph, wie von anderer, flüssiger Substanz. Der Einsatz der Bratsche schließlich bringt mit dem dreigestrichenen fis in doppelter Hinsicht einen Gegensatz ins Spiel: den Klang eines anderen Instrumentes, der zwar durch die hohe Lage und die Naturton-Flageoletts wie der der Harfe verfremdet erscheint, sich aber anders als der Harfenklang nicht mit dem bisherigen vereint, sondern diesem gegenüber eine Grenze durchbricht. Denn das im p ausgehaltene Flageolett fis überschreitet den bisherigen und sehr präsenten Spitzenton f um einen Halbton. Die anschließenden sphärisch anmutenden Flageolett-Ketten wirken kaum wie eine in der Zeit sich entfaltende Melodie, sondern bringen vielmehr das fis, das ihre obere Grenze bildet, innerlich zum Schillern, sodass es naheliegt, den Klang als „Licht“ zu beschreiben. Dies entspricht zugleich dem Eindruck, dass sich mit dem klanglichen Gegensatz eine Verwandlung in ein anderes Medium vollzieht. Im Anschluss an die solistisch vorgetragenen Flageoletts kehren die Bratsche zu ihrem Halteton, die anderen beiden Instrumente mit ihren Themen ins Spiel zurück, in meiner Wahrnehmung nun vom „Licht“ des Bratschenklangs getragen bzw. „aus der Stille zurückgebracht“ (vgl. Notenbeispiel 1 und Verse 4–6). Was danach geschieht, beschreibt mein Gedicht als Suche nach einem Übergang – vom Klang zum Licht und umgekehrt – innerhalb des geschützten Raums „Garten“ bis hin zu einer beunruhigenden Veränderung. Als „dunkles Licht“ habe ich die Verwandlung der Flageoletts in einen erstmals kurzzeitig nicht verfremdeten und schließlich in ein Tremolo übergehenden Bratschenklang in tiefer Lage wahrgenommen (vgl. Notenbeispiel 2 und Vers 10). Die Bratschen-Passage bei Ziffer 8, in der dies geschieht, markiert, wie eine Strukturanalyse des Stücks ergibt, den Übergang zum nächsten großen Formteil. Fay Neary spricht von einer Brücke zwischen Exposition und Durchführung.8 Mit einer Exposition hat der Abschnitt von Ziffer 1–7 zwar gemein, dass hier das wichtigste klangliche und thematische Material vorgestellt wird, in seiner engen 7 Vgl. hierzu die Analyse von Fay Neary, Structural Symbolism in the Music of Sofia Gubaidulina (Auszüge aus der Dissertation der Autorin), online verfügbar unter: http://web.ukonline.co.uk/fay.neary/gubaidulina/, darin Kapitel 2: „Analysis of ‚Garten von Freuden und Traurigkeiten’“: http://web.ukonline.co.uk/fay.neary/gubaidulina/garten.html, 28.2.2010. 8 Ebd.

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Cornelia Bartsch

Notenbeispiel 1 (Ziffer 3 mit Übergang):  „Aus der Stille bringt das Licht den Klang zurück“. Alle folgenden Notenbeispiele: © Mit freundlicher Genehmigung des Musikverlags Hans Sikorski GmbH & Co. KG.

Verknüpfung mit der Sonatenhauptsatzform ist der Terminus allerdings irreführend, erklärt er doch ein wichtiges Merkmal des Stücks gewissermaßen zur Abweichung von einer Norm. Denn die Themen bzw. das als thematisch zu bezeichnende Klangmaterial werden nicht gesetzt, sondern präsentieren sich vielmehr gleich zu Beginn mit den ihnen innewohnenden Verwandlungstendenzen. Von Anfang an erweisen sie sich als Grenzgänger. Dies gilt für Flöte und Harfe, deren Tonhöhen bei sehr gegensätzlichen Klangspektren (unverfremdeter Flötenton und Harfenglissando mit dem Stimmschlüssel) fast imitatorisch verlaufen und miteinander zu verschmelzen scheinen. Es gilt aber auch für die Bratsche. Zwar tritt diese zunächst als neues und irritierendes

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Element hinzu, sodass das Verstummen der anderen Instrumente bei ihrem Einsatz auch dramaturgisch plausibel erscheint, aber schon die annähernd spiegelbildliche Umkehrung dieses Prozesses bei Ziffer 4, in dem das Andere der Bratsche die bekannten Klänge neu anstößt und dabei verwandelt, lässt auch diese selbst nicht unberührt. Vor Ziffer 6 nähert sie sich durch Glissandi der Harfe an und in Ziffer 8 schließlich erklingt, wie bereits erwähnt, erstmals ein Bratschenton ohne Flageolett (vgl. Notenbeispiel 2).

Notenbeispiel 2 (Ziffer 6 Mitte bis Ziffer 8):  „Und Licht verwandelt sich in Klang.“

„Dunkles Licht weckt Angst an der Grenze –“

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Dritter Spaziergang: „An der Grenze“ Schon der Eingangsabschnitt des Stückes ist von klanglichen Übergängen, dem Spiel zwischen Ähnlichkeit und Differenz der Klänge und des thematischen Materials bestimmt und verweist damit nicht nur allgemein auf ein Prinzip der Komposition, sondern auch auf Grundzüge von Sofia Gubaidulinas ästhetischem Denken, das vor allem in den 1980er Jahren stark von Naturanalogien geprägt war. Insbesondere proportionale Verhältnisse etwa der Teile zu ihrem Ganzen und umgekehrt spielten in der für diese Schaffensphase der Komponistin besonders bedeutsamen Technik der „Raum-ZeitProportionen“ eine wichtige Rolle.9 Wie auch in der Ästhetik Weberns waren Beobachtungen von der Wiederkehr derselben Muster und Proportionen auf verschiedenen Ebenen des Raums bzw. der Zeit dabei entscheidend.10 Sowohl hinsichtlich des Verhältnisses der Teile zum Ganzen als auch des spezifischen Umgangs mit Gegensätzen scheint das Gedicht nun geeignet, gerade auch strukturell Bedeutsames in den Fokus zu rücken. So weist es darauf hin, dass ein der Verwandlung (V. 4–6) im ersten, den Partiturabschnitt bis Ziffer 8 beschreibenden Teil (V. 1–10) ähnliches Ereignis auch die Mitte der Komposition markiert: Der „Stille“ in Vers 5, aus der das Licht den Klang zurückbringt, entspricht der Übergang von der vierten zur fünften Strophe. Auch hier verstummt ein Klang, indem die mit der „Märchenmelodie“ aus Vers 18 assoziierten „Lieder in Metall“ verwandelt werden, bevor anschließend der Flötenton erneut zu wachsen beginnt (V. 19–21). Dabei kommt es zu einer Überlagerung von Ähnlichem und Gegensätzlichem. Denn während sich die Verwandlung in den ersten beiden Strophen in einer hellen Sphäre vollzieht (dem feinen Licht), geschieht sie in der Mitte des Gedichts – der tiefen Lage der Harfe bei Ziffer 23 und 25 entsprechend – im Dunkel, sodass das Gedicht zugleich auf eine Verwandtschaft dieser Passage mit dem Ende des ersten Teils (V. 10) und damit dem ersten strukturell bedeutsamen Übergang der Komposition (bei Ziffer 8) hinweist. Als Gemeinsamkeit der im Gedicht mit den Versen 4–6 bzw. 19–21 beschriebenen Partien erweist sich die markante Solopartie eines Instruments (Ziffer 3 bzw. Ziffer 26 ff.). Allerdings wird das Flageolett-Solo der Bratsche im Gedicht mit Stille assoziiert, aus der der Klang verwandelt zurückkehrt, das 9 Vgl. „Sofia Gubaidulina“ (Komponistenbiografie), in: Sowjetische Musik im Licht der Perestroika, hrsg. von Herrmann Danuser, Hannelore Gerlach und Jürgen Köchel, Laaber 1990, S. 345–347, hier S. 347. 10 Auch Goethes Metamorphose der Pflanzen, auf die Webern sich bezieht, ist hierfür bedeutsam.

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Flötensolo dagegen mit der Wiederkehr des Klangs nach der Verwandlung. Diese im Rahmen der Gesamtdramaturgie gegensätzliche Wahrnehmung eines ähnlichen Klangereignisses lässt sich ebenfalls als Hinweis auf die Überlagerung von Gleichem und Anderem deuten. Wie sich bei näherer Betrachtung erweist, folgt sie aus der Gegensätzlichkeit der umgebenden Entwicklungen. Denn der Solopartie der Flöte ab Ziffer 26 geht ein klanglicher Zusammenbruch voraus, der die wohl dramatischste Passage des Stückes (Ziffer 20–25) beschließt. Während sich die Klänge zu Beginn des Stücks von innen heraus zu entwickeln scheinen und trotz ihrer melodischen Bewegungen statisch oder zeitlos wirken, steht ab Ziffer 20 eine in den Zeitverlauf eingebundene dynamische Entwicklung im Vordergrund, die zweimal in ein absturzartiges Motiv von Flöte bzw. Harfe einmündet (Ziffer 20–22 und 23–25). Im Rahmen dieser Dynamik erweist sich vermeintlich Verschiedenes in verblüffender Weise als Ähnliches – und umgekehrt. Denn das Ausgangsmaterial aller drei Instrumente ist ab Ziffer 20 weitgehend dasselbe: Sowohl die Melodie der Flöte als auch die Arpeggien bzw. Akkorde von Harfe und Bratsche basieren auf den Naturton-Flageoletts der Bratsche vom Beginn. Diese aber sind sich selbst denkbar unähnlich: Während sie sich bei Ziffer 4 in den Raum entfalteten, wirken sie hier wie der Antrieb einer horizontalen Entwicklung. Von Anfang an spielt die Flöte dabei eine Sonderrolle. Sie setzt zunächst solistisch ein, bei Ziffer 21 versucht sie ihre Melodie gegen die in die Tiefe rutschenden und rubato vorgetragenen Arpeggien von Harfe und Bratsche zu behaupten und im zweiten Teil kehrt sie über den Klängen der Saiteninstrumente ansatzweise zu ihrem eigenen Material vom Beginn des Stücks zurück. Bei Ziffer 24 führt die Harfe den Auftakt der Flöte mit einem, von den Spitzentönen her betrachtet, chromatisch abwärts gerichteten Gang fort. Dieser mündet in einen gehaltenen, durch Manipulation mit dem Stimmschlüssel metallisch verfremdeten Klang, der meine Assoziation einer Verwandlung von „Lieder[n] in Metall“ ausgelöst hat (vgl. Notenbeispiel 3).11 Aus der Verwandlung am Ende der dynamischen Entwicklung ab Ziffer 20 kehrt die Flöte als Alte und Neue zugleich zurück. Ihre große Solokadenz (Ziffer 26–28) greift einerseits Melodiefloskeln ihres symmetrisch entwickelten Ausgangsmaterials auf und bleibt diesem durch die permanente Rückkehr zu bereits erreichten Tönen oder Tonachsen auch charakterlich verbunden, 11 Ein Vergleich der Harfe bei Ziffer 25 mit der überleitenden Bratschenpassage bei Ziffer 8 zeigt, dass die Parallele, die das Gedicht durch die Verortung dieser beiden Passagen im „Dunkeln“ herstellt (V. 10–11 und V. 19–20), de facto auf eine Ähnlichkeit der klanglichen Ereignisse zurückzuführen ist. In beiden Fällen sind klanglich verfremdete Ton- bzw. Akkordrepetitionen in tiefer Lage bestimmendes Element.

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Notenbeispiel 3 (Ziffer 24 und 25):  „Und verwandelt Lieder in Metall“.

Notenbeispiel 4 (Anfang des Solos Ziffer 26 ff.): „Doch der Flötenton wächst … … über den Gartenzaun hinaus.“

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übernimmt andererseits aber dynamische Elemente aus der dem Solo vorausgehenden Passage (ab Ziffer 23). Zunächst kaum merklich bewegt sie sich chromatisch aufwärts und wächst dabei in doppelter Hinsicht über ihre eigenen Grenzen hinaus: Sie überschreitet nicht nur ihren ursprünglichen Tonraum, sondern entwickelt aus vorherigen, durch Pausen unterbrochenen Melodiesegmenten nun eine unendlich sich fortspinnende Melodie (vgl. Notenbeispiel 4). Vierter Spaziergang: “The white garden began to ring again with diamond borders”12 Die Frage nach der Bedeutung von – klanglichen wie strukturellen – Grenzgängen spiegelt sich auch in den beiden Texten, mit denen Sofia Gubaidulinas Stück Garten von Freuden und Traurigkeiten kommuniziert, – obwohl beide gewissermaßen stumm bleiben. Der erste – das oben im Anschluss an meinen eigenen, zum Hören geschriebenen Text abgedruckte kurze Gedicht aus dem Tagebuch von Franzisco Tanzer – beschließt das Stück bei Ziffer 47 mit der Angabe: „Recitatore (ad lib.) kann auch von einem oder allen drei Spielern gesprochen werden“13. Die von mir verwendete Aufnahme enthielt diese Rezitation wie erwähnt nicht, und in der Partitur steht auf Seite 31 nach Ziffer 46 ein Doppelstrich, sodass das Gedicht auf der Rückseite des Blattes auch bei der Partiturlektüre leicht zu übersehen ist. Der zweite Text ist im Titel versteckt. Es handelt sich um das Prosa-Gedicht Sayat-Nova des russischen Dichters Iv Oganov über den armenischen Volkssänger Aruthin Sayadian (1712–1795), der unter dem Pseudonym Sayat Nova als „König der Sänger“ gefeiert wurde. Der Text des Prosa-Gedichtes von Oganov war mir nicht zugänglich,14 einzelne Zeilen werden von Fay Neary ohne Quellenangabe in englischer Übersetzung zitiert: The revelation of the rose The ordeal of a flower‘s pain The peal of the singing garden grew The lotus was set aflame by music The white garden began to ring again with diamond borders.15 12 Iv Oganov, Sayat Nova, zit. nach Neary, Structural Symbolism (wie Anm. 7). 13 Sofia Gubaidulina, Garten von Freuden und Traurigkeiten für Flöte, Viola, Harfe und Sprecher (ad lib.), Hamburg: Sikorski 1981, S. 31. 14 Der Recherche in verschiedenen Bibliotheken in Deutschland und einigen westeuropäischen Ländern zufolge, scheint der Text sich nicht im Bestand westlicher Bibliotheken zu befinden. 15 Neary, Structural Symbolism (wie Anm 7).

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Dazu zitiert Neary die russische Musikwissenschaftlerin Valentina Cholopova, die auf die in islamischer Mystik verankerte Symbolik dieser Verse sowie insgesamt auf die „unerwartete spirituelle Korrespondenz“ sowohl der Verse Oganovs als auch derjenigen Tanzers in der „Seele Gubaidulinas“ hinweist.16 Auf die Verankerung der Verse in östlicher Philosophie deuten die genannten Blumen Rose und Lotus hin. Während Letztere vor allem im Buddhismus symbolische Bedeutung hat, spielt Erstere als hundertblättrige Rose in der mystisch gefärbten persischen Lyrik eine Rolle. Dort steht sie für die Schönheit des geliebten Wesens ebenso wie für die Sehnsucht der Seele – sowohl nach der Vereinigung mit dem Göttlichen als auch nach irdischer Liebe.17 Vor allem die Kontexte, in denen das Bild der Rose in Oganovs Versen erscheint (relevation – Offenbarung, ordeal – Prüfung/Gottesurteil) verweisen auf seine Verbindung mit östlicher, insbesondere islamischer Tradition. Das Bild des Gartens dagegen weist in zahlreichen Kulturen symbolisch über sich selbst hinaus: als geschützter, durch eine Einfriedung von der umgebenden Wildnis abgegrenzter Raum, als Sehnsuchtsort und (verlorenes) Paradies. Der Koran beschreibt einen paradiesischen Garten, der als Gegensatz zur Hölle fungiert und für die Gläubigen im Jenseits bestimmt ist.18 Als Lustort ist der Garten in islamischer wie christlicher Tradition insbesondere auch ein Ort der Musik.19 Die Bilder vom singenden und läutenden Garten in den zitierten Versen verweisen im Zusammenhang mit dem Bild der Rose und ihrer Offenbarung wiederum auf die Verankerung in der islamischen Mystik.20 Insbesondere in der dem Sufismus nahestehenden persischen Lyrik entspricht dem Bild der hundertblättrigen Rose auch ein Klang: der Gesang der Nachtigall, die im Persischen ‚hazard‘, ‚tausend‘, genannt wird. In ihrer ‚Hundert- bzw. Tausend16 Ebd. Es ist anzunehmen, dass die Zitate Cholopowas sowie der Verse Oganovs aus dem Buch von Enzo Restagno, Gubajdulina, Turin 1991 (bzw. unter Mitarbeit von Valentina Cholopova auf russisch erschienen in Moskau 1996) stammen, da Feary für das erste Zitat Cholopovas diese Quelle (in der Ausgabe von 1991) angibt und alle folgenden Zitate Cholopovas anschließend nicht mehr nachweist. 17 Im Westen ist diese Symbolik in den Nachdichtungen der Lyrik Hafis und Rumis durch Dichter wie Friedrich Rückert (insbesondere Östliche Rosen) und natürlich in der Übernahme entsprechender Bilder in Goethes Westöstlichem Divan zugänglich. 18 Vgl. Walter Salmen, Gartenmmusik. Musik, Tanz und Konversation im Freien, Hildesheim 2006, S. 18 ff. 19 Vgl. hierzu ebd. S. 20 ff. 20 Zur eher kritisch betrachteten Rolle der Musik im „offiziellen Islam“ und ihrer dagegen großen Bedeutung in der islamischen Mystik, insbesondere im Sufismus, der die ekstatische Vereinigung mit dem Göttlichen in Tanz und Musik feiert, vgl. z. B. Christian Kaden, Das Unerhörte und das Unhörbare. Was Musik ist, was Musik sein kann, Kassel und Stuttgart 2004, S. 59 ff.

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fältigkeit‘ verweisen Rose und Nachtigall auf die Figur des Kreises als Sinnbild sowohl für Wiederkehr und Verwandlung als auch für die Vereinigung der Gegensätze. Der „Zauberkreis“, der sich um die Wechselbeziehung von Schönheit und Liebe – in irdischer wie göttlicher Hinsicht – dreht,21 bildet ein zentrales Motiv der persischen Lyrik und spiegelt sich auch im charakteristischen Kreisen der immer wieder verwandelt wiederkehrenden Thematik wider. Noch deutlicher als mein Gedicht lassen die beiden mit der Komposition verbundenen Texte Leerstellen offen, und zwar nicht allein, weil von Oganovs Gedicht nur wenige Zeilen in ungesicherter Form bekannt sind, sondern vor allem, weil die Beziehung zwischen den Texten und der Musik nicht festzulegen ist. Gerade diese Leerstellen laden aber zur Beschäftigung mit Besonderheiten der Musik ein. Untersucht man die beiden Texte zunächst hinsichtlich ihrer Gegensätzlichkeit, so fällt auf, dass der Text Tanzers zumindest in den ersten beiden Versen jeder Strophe mit der Frage nach dem „wahren Ende“ und dem Konstatieren einer Grenze einem neuzeitlich westlichen Denken verhaftet ist, das von einer dynamischen und zielgerichteten Zeitvorstellung bestimmt ist und – so wäre hinzuzufügen – einen dialektischen Umgang mit Gegensätzen pflegt, der auf deren Analyse und schließlich Synthese auf einer höheren Ebene zielt. In den jeweils folgenden Versen wird eben dieses Denken zwar in Frage gestellt, indem auf die Vergänglichkeit bzw. Künstlichkeit und Beliebigkeit aller Grenzen hingewiesen wird, aber in dieser Dialektik bleibt das Gedicht wiederum „westlich“. Die Verse Oganovs dagegen sind – soweit hier bekannt – von rätselhaften und paradox anmutenden Bildern bestimmt, die – nach der Art der Kōans im Zen-Buddhismus – dazu anregen, Gegensätzliches sein zu lassen und vermeintliche Widersprüche als Erkenntnisweg zu nutzen. Die Kenntnis der beiden Texte und die Reflexion über ihre Hintergründe schärfen nun die Ohren weiter für die klanglichen Grenzgänge des Stücks, wie drei weitere kurze Hörwege zeigen: Der erste führt erneut zum ersten Abschnitt und zum Einsatz der Bratsche als nur einem von vielen Beispielen, an denen das Ohr beim Hineinhorchen in die Musik dasselbe immer wieder neu wahrnimmt und auch das Phänomen ‚Grenze‘ umzudefinieren beginnt. Denn während beim ersten, zweiten und vielleicht noch dritten Hören der Flageolett-Einsatz der Bratsche als das Andere von Flöte und Harfe erscheint, das deren Begrenzung durchbricht und vor dem Flöte und Harfe 21 Vgl. hierzu die Nachdichtung Zauberkreis von Friedrich Rückert sowie die Kommentare zu Rückerts Gedichten aus dem Zyklus Östliche Rosen, in: Gedichte Friedrich Rückerts, Frankfurt a. M. 1879.

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de facto verstummen, verwandelt er sich bald in eine Steigerung des Vorausgehenden. Die Musik, deren Entwicklung bereits vorher eher räumlich als zeitbezogen wirkt, kippt, so scheint es, mit dem Flageolett-Solo der Bratsche endgültig in die Vertikale – in die Tiefe des Raums – um, sodass aus dem Gegensatz des Bratscheneinsatzes nun ein sukzessiver Schritt in eine andere Dimension wird. Der zweite Weg hin zu ‚Begegnungen an der Grenze‘, auf die die Hintergrundtexte die Ohren lenken, führt zu der Passage nach der Solokadenz der Flöte (Ziffer 29 ff.) und betrifft erneut das Verhältnis der Instrumente zueinander, die – wie oft in Sofia Gubaidulinas Musik – als Charaktere, Gestalten oder gar Personen agieren. Nicht von ungefähr ist diese Passage in meinem Gedicht von Grenzüberschreitungen und gegenseitigen Anverwandlungen aller bislang angesprochenen Topoi bestimmt (V. 26–34), denn die Instrumente loten hier ihre Grenzen zueinander besonders eindrücklich aus, wobei sich Ähnliches und Gegensätzliches wiederum überlagern. Einerseits führt die Passage ab Ziffer 29 an den Anfang des Stücks zurück; wie dort begegnen einander auch hier eine festere und eine durch Glissando und Improvisation aufgelöste Klanggestalt, wenngleich das Ohr irgendwann wahrnimmt, dass aus Flöte und Harfe nun Bratsche und Harfe geworden sind und es die Flöte ist, die später (Ziffer 30) mit verfremdeten Klängen als anderes Element hinzutritt. Andererseits ist hier von Anfang an der Eindruck eines Klangraums präsent, dem eine kontinuierlich wachsende innere Dynamik eigen ist, sodass die Kreuzung zwischen Raum und Zeit sich im Verhältnis zum Anfang gewissermaßen andersherum vollzieht: Nicht die Zeit, die sich zusehends verräumlicht, kippt an einem Kulminationspunkt vollends in die Vertikale, sondern der von Anfang an bestehende Klangraum wird von einer wachsenden inneren Dynamik bestimmt. Eine dritte Passage schließlich, für die die Kenntnis der Texte von Tanzer und Oganov besondere Aufmerksamkeit wecken, ist das Ende des Stücks. Auf den Übergang zum letzten Teil weist wiederum das Gedicht hin: Zum dritten Mal ist hier vom Verschwinden eines Klangs die Rede – und die Rückkehr zu den Klängen des Beginns wird explizit mit dem Kreis assoziiert. Die Brückenpassage (Ziffer 40), an der der Klang verschwindet, übernimmt hier die Flöte, die sich mit einer klanglich verfremdeten Tonrepetition in tiefer Lage der Bratsche bei Ziffer 8 und der Harfe bei Ziffer 25 anverwandelt (vgl. Notenbeispiel 2 und 3). Mit dem Beginn des letzten Abschnittes (Ziffer 41–46) setzt sich der Flötenton in die Bratsche fort, die, nachdem sie zunächst charakteristische Melodiebewegungen der Flöte aus früheren Passagen übernimmt, bei Ziffer 42 zu ihrem eigenen Anfang zurückfindet (Notenbeispiel 5).

Notenbeispiel 5 (Ziffer 41):  „Zurück zum Anfang. Ein Kreis.“

Die darauf folgende, fast wortgetreue Reprise in Flöte und Harfe wird nun mit den Naturton-Flageoletts der Bratsche enggeführt und in dieser Dichte verlieren sich die Klänge zusehends, bis sie nur noch Fragmente ihrer selbst sind. Kaum zufällig klingt am Ende der Grenzklang fis der Bratsche – das „feine Licht“ der Anfangspassage. Aber nun reicht ein kleiner Funke, um in die „Stille“ überzuleiten, in der der Text von Franzisco Tanzer stumm bleibt. Oder auch klingt. Ad libitum.

Notenbeispiel 6 (Ziffer 46):  „Wo fängt er an? Wo endet er?“

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Fünfter Spaziergang: „Nachts… immer wieder nachts“ Das Gedicht Francisco Tanzers verbindet das Stück Garten von Freuden und Traurigkeiten mit zwei weiteren, eng miteinander verknüpften Kompositionen Gubaidulinas, die ebenfalls auf Texte von Tanzer zurückgehen: Perception für Sopran, Bariton und sieben Streicher und die zwölfsätzige Sinfonie Stimmen… verstummen. Insbesondere die Entstehungsgeschichte von Perception, das zwei Jahre später entstand als die letzte überarbeitete Fassung von Garten von Freuden und Traurigkeiten, ist bemerkenswert: Dem Stück liegt eine mehrjährige Korrespondenz der Komponistin mit dem Dichter über die verschiedenen Rollen von Künstlerin und Künstler in der Welt zugrunde.22 Eine Collage aus Gedichten und Tagebuchaufzeichnungen Tanzers, Brieffragmenten, Psalmtexten und Lautgedichten der Komponistin selbst bildet den Text der Komposition, der inhaltlich um Fragen des Schöpfertums im religiösen wie im künstlerischen Sinne kreist.23 Der Titel der Sinfonie Stimmen…verstummen zitiert nicht nur Textsegmente aus Perception, sondern weist auch auf die Umsetzung einer inneren Dramaturgie der in Perception von Sopran und Bariton vertretenen Klangsphären hin: Während der Bariton tendenziell einer hellen und zugleich dynamischen Klangwelt verbunden ist, sind dem Sopran eher Klangräume, dunkle Klänge – und Stille zugeordnet, die wiederum mit entsprechenden Textbausteinen („nachts…immer wieder nachts“, „verstummen“) kombiniert werden. Stimmen…verstummen besteht nun aus zwölf Sätzen, von denen die ungeraden jeweils einen innerlich klingenden Klangraum repräsentieren. Die geraden Sätze repräsentieren dagegen eine zielgerichtete dynamische Entwicklung in der Zeit. Während die geraden Sätze wachsen, verkürzen sich die ungeraden bis hin zum neunten Satz, in dem der Dirigent die Stille dirigiert. Dieses Verstummen wirkt als Kulminationspunkt, durch den sich das Verhältnis von räumlichen und dynamischen Elementen in den folgenden drei Sätzen verwandelt. Die Nähe, die Garten von Freuden und Traurigkeiten sowohl auf Grund der Widmung als auch durch den am Ende (ad libitum) zu zitierenden Text mit Perception und Stimmen…verstummen verbindet, bringt im Hinblick auf die im Gedicht als „Verwandlung“ oder „Stille“ beschriebenen Momente die religiös-spirituelle Ebene der Ästhetik Gubaidulinas als weitere Interpretationsebene ins Spiel. Die musikalische Zeitgestaltung, die Begegnung zwi22 Auf dem von Sofia Gubaidulina handgeschriebenen Titelblatt von Perception ist Tanzer als Mitautor aufgeführt. Vgl. hierzu die Reinschrift der Partitur in der Paul Sacher Stiftung, Basel. 23 Die Tagebuchaufzeichnungen und Gedichte Tanzers sind teilweise entnommen aus: Francisco Tanzer, Stimmen. Tagebuch, Novellen, Gedichte, Köln 1979.

Spaziergänge im Garten von Freuden und Traurigkeiten

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schen „menschlicher“ und „göttlicher Zeit“, die Gubaidulina als „horizontale“ und „vertikale“ Zeit versteht, ist hierfür zentral. Sowohl allgemein als auch bezogen auf bestimmte Werke hat sie diese „Kreuzung“ von horizontaler Zeit und einer vertikalen Dimension des Göttlichen immer wieder beschrieben: als Ziel des musikalischen Kunstwerks, das mittels der Verwandlung der Zeit ein Verweilen im Geistigen ermögliche,24 bezogen auf die Rückkehr des Themas nach dem thematisch freien Mittelteil in ihrem Violinkonzert Offertorium als geistige Wiedergeburt im Sinne des nächtlichen Gesprächs von Jesus mit Nikodemus im Johannes-Evangelium25 oder abstrakt als symbolisches Prinzip der musikalischen Form: Für mich ist die musikalische Form etwas Geistiges, denn in ihr vollzieht sich die Verwandlung der musikalischen Materie in ein Symbol. Das Symbol wiederum ist die Offenbarung einer höheren Realität: die Projektion von großer Vieldeutigkeit in einem Raum mit einer geringeren Anzahl von Dimensionen. Die Vielzahl wird zur Einzahl. Um das zu erreichen, muß die Vertikale des multidimensionalen göttlichen Sinns die Horizontale der Zeit kreuzen.26

Man kann dieser Symbolik auch im Garten von Freuden und Traurigkeiten folgen, andere Interpretationsmöglichkeiten bleiben aber offen. Wie sowohl Gedicht als auch die Reflexion von Text(en) zu Musik und zurück zeigen, geht es zweifellos auch in diesem Stück, gerade bezogen auf die musikalische Zeit, um Verwandlung, denn die Wahrnehmung wird immer wieder zu dem Übergang bewegt, an dem Zeit und Raum einander begegnen. Es mag am Garten als Ort des Spiels liegen, dass auch die individuellen Gedanken und Symbole dabei über Zäune wachsen dürfen. Reflexionen an der Kreuzung Ein Gedicht zu einer Musik zu schreiben ist keine musikwissenschaftlich verbürgte Methode. Gerade vor dem Hintergrund der Kritik, die Rainer Nonnenmann an der vorherrschenden Rezeption der Musik Sofia Gubaidulinas 24 Vgl. „Sofia Gubaidulina“, in: Sowjetische Musik (wie Anm. 8), hier S. 347. 25 Vgl. Sofia Gubaidulina im Brief an Gabriele Emde (wie Anm. 5) und Habakuk Traber, „Musikalisches Opfer, Sofia Gubaidulinas Violinkonzert“, in: Programmheft zum Konzert am 12.9.1991 im Berliner Schauspielhaus (41. Berliner Festwochen), Redaktion Bernd Krüger, 6. unnummerierte Seite. 26 Zit. nach Swetlana Sarkisjan, „Die Streichquartette Sofia Gubaidulinas als Versuch der Erschließung des sonoristischen Raums“, in: Schostakowitsch und die Folgen. Russische Musik zwischen Anpassung und Protest (Schostakowitsch-Studien 6), hrsg. von Ernst Kuhn, Maria-Luise Bott und Sigrid Neef, Berlin 2003, S. 273–286, hier S. 274.

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übt,27 dürfte diese Herangehensweise an eine Musik, die „einen komplexen symbolistischen Kosmos [bilde], der […] aus dem Blickwinkel der europäischen Aufklärung und Moderne“ kaum zu erfassen sei,28 ungenügend erscheinen. Oder vielleicht gerade nicht? Liegt darin vielleicht eine Chance, einer Musik zu begegnen, die in verschiedener Hinsicht mit – aus westeuropäischer Sicht – ‚fremden‘ Traditionen verbunden ist? Meine Methode fragt danach, was mein eigener Text – und darüber hinaus auch, was andere Texte – mit der Musik zu tun haben, die ich höre. Sie beharrt so auf einer Differenz zwischen den Texten: dem ‚Text’ der Musik, den Texten mit denen diese korrespondiert, sowie den Kontexten. Diese können dazu dienen, einander zu erklären, solange nicht der eine beansprucht, die Wahrheit über den anderen zu sagen. Der kommunikative Aspekt, der dabei im Vordergrund steht, beruht also auf dem Anerkennen eines Anderen. Mit dem Anderen im Gespräch zu bleiben entspricht aber dem Gedanken der europäischen Aufklärung womöglich eher als Expertisen über byzantinische, osteuropäische, islamische, oder andere Kulturen aus westlicher Sicht. So mag die ungewöhnliche Methode nicht wissenschaftlich, aber vielleicht geeignet sein, wenn das analytische Handwerkszeug wegen der Differenz einer Musik zu den Kriterien, an denen es entwickelt wurde, nicht hinreicht. In diesem Sinne ist dies ein Experiment.

27 Nonnenmann wirft Gubaidulina vor, mit einer Beschreibung ihrer Musik, die in Gestalt einer „wiederholt postulierten, aber nie eingehender spezifizierten Form ausgesprochen weiblich inspirierter Inspiration, Religiosität und Mystik“ auf deren spirituellen Gehalt abziele, die Klischeebildung zu befördern. Im entzauberten Westen diene ihre von ihrer klangsinnlichen Außenseite rezipierte Musik als Projektionsfläche für exotistische Phantasien von russischer Seele, archaischer Leidenschaft und ursprünglicher Spiritualität. Rainer Nonnemann, „Musica contemplativa. Eine Portraitskizze von Sofia Gubaidulina“, in: MusikTexte 93 (2002), S. 19–23, Zitat S. 23. 28 Ebd., S. 19.

Kirsten Reese

Ganna Walska – Lotusland – Lotussound Eine (Ex-)Sängerin, ein Garten, eine Klanginstallation My dearest Sister Alma! On this day of your anniversary, I want to thank you for the great inspiration that has been mine through meeting a woman of your caliber in my searching-for-perfection path. I am always immensely flattered when you call me your ‘sister’ even though its origin derives only from our physical resemblance. You have been an incentive not only to the greatest of our contemporary artists in music, painting, sculpture and literature but also an inspiration to all women to emulate you in mind and beauty of every form. That destiny may bring you infinite and happy returns of this day, is the wish of your affectionate and faithful Ganna. Ganna Walska, Geburtstagsbuch für Alma Mahler-Werfel zum 70. Geburtstag (1949)1

Seit etwa ihrem 17. Lebensjahr nahm die um 1890 in Polen geborene Ganna Walska fast 40 Jahre lang täglich Gesangsunterricht, übte und studierte Partituren und besuchte Konzerte und Opernaufführungen, in dem sehnlichen Bestreben, als Sängerin und Künstlerin anerkannt zu werden. In den 1910er Jahren trat sie zuerst in Cabarets und kleineren Theatern in Europa und in den USA auf. Später erwarb sie durch die Heirat mit reichen Männern (vier von insgesamt sechs Ehemännern waren äußerst wohlhabend) ein beachtliches Vermögen, welches sie nicht zuletzt für die Finanzierung von Orchestergastspielen und Opernaufführungen einsetzte, um sich Gelegenheiten für Auftritte zu schaffen. Der Durchbruch kam jedoch nicht, die Kritiken waren und blieben überwiegend sehr schlecht, ihre Intonation sei nicht stabil, die Stimme nicht tragfähig. Ganna Walska selbst berichtete davon in ihren Memoiren Always Room at the Top2 – auch wenn sie sich von den Kritikern ungerecht 1 Das Geburtstagsbuch für Alma Mahler-Werfel befindet sich im Besitz der Pennsylvania State University Libraries. Siehe: http://www.libraries.psu.edu/speccolls/FindingAids/ mahlerwerfel/Gratulanten/walska.htm, 22.1.2010. Hier wird behauptet (nach Karen Monson), Alma Mahler-Werfel und Ganna Walska hätten sich in Wien kennengelernt, während Henry-Louis de La Grange behauptet, die beiden wären sich um 1920 in Venedig begegnet, siehe: Henry-Louis de La Grange, Gustav Mahler, Volume 4: A New Life Cut Short (1907–1911), New York 2008, S. 100. 2 Ganna Walska, Always Room at the Top, New York 1943.

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behandelt fühlte, leugnete sie nicht, dass sie stets mit ihrer Stimme gekämpft hatte. Gegen Ende der 500 Seiten langen Aufzeichnungen ist zunehmend zu spüren, dass es ihr um mehr und anderes ging als den Gesang, aber die Entschlossenheit, es eines Tages doch noch allen – und vor allem sich selbst – zu zeigen, ist geblieben. Im selben Jahr, in dem sie ihre Autobiografie zu Ende schrieb, 1941 – Ganna Walska war 54 Jahre alt – kaufte sie auf Anraten ihres letzten Mannes, des Yogagelehrten Theos Bernard, ein 37 Hektar großes Anwesen in Santa Barbara, Kalifornien, nannte es zunächst „Tibetland“, dann „Lotusland“, und praktisch von einem Tag zum anderen verwendete sie all ihre Energie und ihr Vermögen darauf, die restlichen 43 Jahre ihres Lebens zu: gärtnern. Hinter den dunkelrosafarbenen Mauern von Lotusland verbergen sich heute an die 15 Themengärten, die bestimmten Pflanzenarten (z.B. „Bromeliad Garden“, „Aloe Garden“, „Cycad Garden“, „Fern Garden“, „Succulent Garden“) oder Topoi (z.B. „Blue Garden“, „Japanese Garden“, „Topiary Garden“ – ein Formschnittgarten mit aus Heckenpflanzen beschnittenen Tieren, „Theatre Garden“) gewidmet sind. Auf dem Gelände befindet sich auch eine große Pflanzenuhr mit kupfernen Sternzeichen, ein Schwimmbad gesäumt von riesigen südpazifischen Muscheln, eine alte Olivenbaumallee sowie kleine Obstgärten mit Zitronen- und Orangenbäumen, zahlreiche Brunnen und Wasserläufe, Steinstatuen und Steinmosaike, und in vielen Beeten Edelsteine sowie andere ungewöhnliche – z. B. magnetische – Steine. Lotusland ist ein besonderer, ein außergewöhnlicher Garten.3 Er simuliert nicht eine idealisierte Natürlichkeit, sondern wirkt wie ein Zaubergarten. Auf dichtem Raum sind ungewöhnliche, spektakulär aussehende Pflanzen zusammengestellt, oft ragen einzelne Exemplare wie Skulpturen heraus. Haben andere Gärten häufig etwas Liebliches und Pittoreskes, so kann Lotusland mit seinen Kakteen, Palmfarnen, Drachenbäumen, Euphorbien usw. als schroff und herb beschrieben werden. Viele Gewächse sind in Massenpflanzungen einer Spezies zusammengestellt. Die Wege durch die Gärten und ihre Abfolge scheinen einer Dramaturgie zu folgen. Alles ist inszeniert, auf Effekt angelegt. Mit Lotusland hat Ganna Walska einen Garten als Kunstwerk gestaltet. Ebenso erstaunlich und schillernd wie ihr Garten ist Ganna Walskas Lebensgeschichte. Sie wurde als Hanna Puacz wahrscheinlich 1887 (in ihrer Autobiografie verschleiert sie ihr genaues Geburtsjahr) in großbürgerliche Verhältnisse in Brest-Litovsk, Polen, geboren. Mit 19 heiratete sie den russischen 3 Heute wird Lotusland von der Ganna Walska Lotusland Foundation verwaltet. Der Garten ist nach Anmeldung öffentlich zugänglich, siehe: http://www.lotusland.org, 30.3.2010.

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Abb. 1  Das mit Abalone-Muscheln gesäumte Becken im „Aloe Garden“, Foto: Kirsten Reese.

Baron Arcadie d’Einghorn und reiste mit ihm durch Europa. Sie begann Gesangsunterricht zu nehmen, und gab sich den Bühnennamen Madame Ganna Walska, Walska abgeleitet von Walzer. Vor dem ersten Weltkrieg trat sie in Paris und New York mit Operetten in Theatern und Cabarets auf. 1915 ließ sie sich scheiden und heiratete 1916 den in New York ansässigen Neurologen Joseph Fraenkel. Dieser hielt bereits bei ihrer zweiten Begegnung in seiner Praxis um ihre Hand an, angeblich, weil sie ihn an Alma Mahler-Werfel erinnerte (die er nach Mahlers Tod ebenfalls hatte heiraten wollen).4 Walska willigte ein, sie erwarb die amerikanische Staatsbürgerschaft und als Fraenkel 1920 starb, erbte sie sein Vermögen. Ehemänner Nummer drei (Alexander Cochran) und vier (Harold McCormick) waren Multimillionäre, sie zählten in den 1920er und 1930er Jahren zu den reichsten Männern der Vereinigten Staaten.5 Ganna Walska gehörte nun der amerikanischen High Society an, ihre Ehen und Scheidungen, ihre wertvollen Juwelen, ihre zum Teil skandalumwitterten Auftritte machten Schlagzeilen. Die Auftritte Ganna Walkskas sind bisher nicht wissenschaftlich recherchiert. Aus ihrer Autobiografie, ihrem in Lotusland lagernden Archiv und anderen Quellen weiß man über Auftritte in den 1910er bis 1930er Jahren

4 De La Grange, Gustav Mahler, (wie Anm. 1), S. 100. 5 Ehemänner fünf (der englische Erfinder Harry Grindell-Matthews) und sechs (der erwähnte Yogi Bernard) waren eher arm, Walska unterstützte sie während der Ehe. Beide Ehen waren allerdings an einen Ehevertrag gebunden, der einen Verzicht auf das Vermögen des anderen bei Scheidung beinhaltete.

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Abb. 2  Ganna Walska in den 1920er Jahren. Mit freundlicher Genehmigung der Ganna Walska Lotusland Foundation.

in Havanna, Europa und den USA.6 Walska ließ sich von berühmten Designern wie Erté (Romain de Tirtoff ) Kostüme entwerfen, für Opernrollen, aber auch für andere gesellschaftliche Auftritte – einen Opernball in Paris besuchte sie ca. 1924 als ‚Königin Barbara von Polen‘, die ausufernde Schleppe

6 Nachgewiesen bzw. sehr wahrscheinlich sind Auftritte zwischen 1917 und 1931 in Paris, Havanna, Nizza, Bratislava, Chicago in folgenden Rollen: Fedora (Fedora, Umberto Giordano), Floria (Tosca, Guiseppe Verdi) und Cio-Cio-San (Madame Butterfly, Giacomo Puccini), Manon Lescaut (Manon, Jules Massenet), Marguerite (Faust, Charles Gounod), Zaza (Zaza, Ruggiero Leoncavallo), Gräfin (Figaros Hochzeit, W.A. Mozart), Donna Elvira (Don Giovanni, W.A. Mozart), Gilda (Rigoletto, Guiseppe Verdi), Violetta (La Traviata, Guiseppe Verdi), Mélisande (Pelleas et Mélisande, Claude Debussy). Wahrscheinlich wirkte sie 1921 in Monte Carlo in der Uraufführung von Les Desmoiselles de Saint-Cyr von Auguste Chapius mit.

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des Kostüms wurde von zwei Pagen getragen.7 Man kann aber nicht davon ausgehen, dass jedes für sie angefertigte Kostüm für eine Opernrolle auch mit einer tatsächlichen Aufführung verknüpft ist. Einige Aufführungen waren nur halböffentlich bzw. wurden vor der Premiere abgesagt (etwa die mit der Chicago Opera Company 1925). Offenkundig war für Ganna Walska, die in den 1920er Jahren auch eine eigene Parfümserie lancierte, jeder Auftritt ein ‚großer Auftritt‘. 1934 z. B. gab sie einen Liederabend, von dem der Programmzettel des Konzerts in der Carnegie Hall in New York sowie ein Zeitungsbericht zur Aufführung in Philadelphia erhalten sind.

Abb. 3  Konzertprogramm. Mit freundlicher Genehmigung der Ganna Walska Lotusland Foundation. 7 2004 zeigte das Los Angeles County Museum of Art die große Ausstellung Ballets Russes and Erté mit Kostümen aus Walskas Nachlass. Sie sind teilweise online abgebildet: http://collectionsonline.lacma.org, 21.1.2010. In der LACMA-Sammlung befinden sich auch 1939 von Erté entworfene Kostüme (Aphrodite, L’Institutrice, Les Orientals, Le Magicien), die möglicherweise für Auftritte im Scala Theater in Berlin gefertigt wurden.

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Dort heißt es: For four groups of German Lieder Madame Walska had four sets of eye-filling costumes. For Beethoven and Mozart: Billowy black taffeta covered with net, coral jewels, a tiara transformation. For Schubert: Bouffant brown taffeta, tight sequin bodice, white-plumed hat. For Brahms: White satin court dress trimmed with big bunches of grapes, a necklace of diamonds the size of malagas, vine-leaves in the hair. For Hugo Wolf: Madame Walska was her own sleek self in ropes of pearls and tight black velvet, cut to the waist behind. It was Ganna Walska whom Philadelphians turned out to see, regardless of her Second-Empire costumes. For them it was enough that she had overcome her stage-fright sufficiently to sing at all.8

Von 1920 bis Anfang der 1940er Jahre, in der Zeit während ihrer Ehen mit Cochran und McCormick, lebte Walska meist getrennt von ihren Männern in Paris und in ihrem Schloss in Galluis (etwa 50 km von Paris entfernt). Besonders in diesen Jahren tat sie sich auch als Förderin hervor. Harold McCormick kaufte ihr 1923 das Théâtre des Champs-Élysées, in dem 1913 die legendäre Uraufführung von Strawinskys Sacre du Printemps stattgefunden hatte. Sie veranstaltete darin Festivals und Aufführungen in der Zusammenarbeit mit dem Dirigenten Walther Straram, der das Theater 1928–1933 leitete und setzte sich besonders für die Musik und Kunst ihrer Zeit ein. Erst 1973 verkaufte sie das Théâtre des Champs-Élysées wieder. Spätestens mit der Ansiedlung in Kalifornien verfolgte Ganna Walska ihre Gesangkarriere endgültig nicht weiter. Von Santa Barbara aus reiste sie aber bis in die Fünfzigerjahre während des Winters nach New York, um dort die Opernsaison mitzuerleben. Auf dem Lotusland-Gelände ließ sie sich ein kleines Gebäude als Überaum einrichten und Nachbarn berichten, dass sie noch lange täglich sang. Sie unterstütze das Musikleben in Santa Barbara, besonders die von Lotte Lehmann gegründete „Music Academy of the West“. Lotte Lehmann und Ganna Walska kannten und besuchten sich, 1954 waren beide Gastgeberinnen eines Events in Lotusland, wo sie einen Teil ihrer Opernkostüme versteigerten.9 Bis ins hohe Alter besuchte Walska Konzerte in Santa Barbara und Umgebung. Ganna Walskas Autobiografie kann man entnehmen, wie sie den früheren täglichen Gesangsunterricht und das disziplinierte Üben mehr und mehr als einen inneren Weg zu geistiger Erfüllung zu verstehen lernte. Always Room at the Top schildert die Stationen ihrer Gesangskarriere nur lückenhaft und 8 „Music: Countess Reincarnate“, in: Time Magazine, 29.1.1934, online verfügbar unter: http://www.time.com/time/magazine/article/0,9171,787782,00.html, 21.1.2010. 9 Sharon Crawford, „Excerpts from Music Academy of the West Santa Barbara“, 1997, online verfügbar auf der Website der Lotte Lehmann Foundation: http://voxnovamedia.com/lehmann/biography/009.html, 21.1.2010.

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unstrukturiert. Neben der Darstellung von Walskas Ehen und Trennungen nehmen die Schilderungen von Erfahrungen mit Astrologie, Hypnose, Numerologie, Telepathie, Yoga und den Einflüssen spiritueller Lehren und Lehrer im Allgemeinen, von Begegnungen mit berühmten Zeitgenossen (u. a. Benito Mussolini), Ausführungen über die Rolle und Rechte von Frauen (Walska war Mitglied der „National Women’s Party“ und setzte sich für das Recht von Frauen ein, einen anderen Wohnsitz als den des Ehemanns zu haben) einen breiten Raum ein, und werden unterbrochen von Gedanken zu ästhetischen und philosophischen Fragestellungen und tagesaktuellen Geschehnissen, sowie von seitenlangen appellativ formulierten Beschreibungen ihrer Sehnsüchte und inneren Krisen. Das Buch bekommt dadurch den Charakter eines nachträglichen Tagebuchs, einer Zwiesprache mit sich selbst. Die Autobiografie wurde veröffentlicht, als Walska knapp zwei Jahre in Santa Barbara lebte, Lotusland wird zwar erwähnt (noch als „Tibetland“), aber nichts deutet auf die Bedeutung hin, die die Gestaltung der Gärten in der zweite Hälfte ihres Lebens haben wird. Es liegt nahe, anzunehmen, dass sie es nicht mehr nötig hatte, sich zu rechtfertigen, weil sie Frieden mit ihren Zielen und Ambitionen geschlossen hatte.10 Abb. 4  Ganna Walska. Mit freundlicher Genehmigung der Ganna Walska Foundation. 10 Die Zeit von 1941–1984, vom Kauf des Lotusland-Geländes bis zu ihrem Tod, ist durch Erzählungen und Anekdoten von Nachbarn, Gärtnern, befreundeten Pflanzensammlern usw. überliefert, die u. a. in folgende Publikationen eingegangen sind: Theodore Roosevelt Gardner, Lotusland: A Photographic Odyssey, Santa Barbara 2005; Sharon Crawford, Ganna Walska Lotusland. The Garden and ist Creators, Bishop 1996/2006; Virginia Hayes und Steven Timbrook, Ganna Walska Lotusland. Collections & Horticulture, Bishop 2007.

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Ganna Walska hatte weder eine Ausbildung als Gärtnerin noch ein ausgeprägtes botanisches Wissen. Lotusland entstand in Kooperation mit wechselnden Gärtnern und mit teilweise über Santa Barbara hinaus bekannten Landschaftsgestaltern. Dennoch legte sie bis ins hohe Alter selbst Hand an und behielt in allen gestalterischen Entscheidungen das letzte Wort. Sie musste sehen, was sie schuf, nicht selten ließ sie Pflanzen, Bäume, aber auch tonnenschwere Steine an andere Stellen im Garten verpflanzen, und gegebenenfalls auch wieder zurückschaffen, wenn ihr das Ergebnis nicht gefiel. Es heißt, sie entschied ‚aus dem Bauch‘ heraus – ich würde sagen nach künstlerischen Gesichtspunkten. Um immer wieder außergewöhnliche Pflanzen für ihren Garten kaufen zu können, verkaufte sie wertvolle Schmuckstücke aus ihrem Besitz. Insgesamt wachsen in Lotusland mehr als 3200 verschiedene Pflanzenarten aus allen Erdteilen, vor allem aus Afrika, Südamerika, Australien, Asien – auffallend aber ist, dass Pflanzen aus Mitteleuropa (‚Blumen‘) fast ganz fehlen. Man denkt an John Cage, der sagte, dass an der Westküste der USA Europa zu Ende gehe. Die Dominanz ‚nichtwestlicher‘ Pflanzen in Ganna Walskas Gärten könnte man als Gleichnis ihres Ringens um künstlerischen Ausdruck interpretieren: Sie bemühte sich jahrzehntelang um eine erfolgreiche Karriere als Sängerin von Opern – der distinguiertesten Kunstform westlicher Kultur – hatte damit aber keinen Erfolg. Als sie nach Kalifornien kam, fand sie am Rande der alten Welt eine neue vor, der sie sich fortan ganz widmete. In Lotusland übertrug sie Aspekte dessen, was Oper ausmacht – Inszenierung, Dramatik, Schönheit – in die Gartenkunst.11 Ohne Ausbildung auf diesem Gebiet, ohne Vorprägungen schuf sie ein ganz anderes, eigenes Werk und realisierte darin ihr Potential als Künstlerin. An den Eingang ihres Estates brachte sie ein Schild an mit der Aufschrift: „Ganna Walska. Lotusland“ – eine Autorin, ein Werk, wie die Titelseite einer Opernpartitur. Lotussound Vom 17. bis 20.3.2010 realisierte ich in sieben Gärten bzw. Arealen in Lotusland die Klanginstallation Lotussound.12 Ausgangspunkte für die klangliche 11 Lori Meschler, die als ehrenamtliche Dozentin seit 20 Jahren in Lotusland Führungen leitet, erklärte mir, wie man jeden Garten als ein Bühnenbild für eine bekannte Oper interpretieren kann. 12 Lotussound ist Beatrix Borchard zu ihrem 60. Geburtstag gewidmet. Eine Dokumentation der Installation ist online verfügbar unter: http://www.kirstenreese.de/lotussound. html, 12.5.2010.

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und strukturelle Gestaltung der Installation waren die Geschichte von Lotusland und seiner Schöpferin, die unterschiedlichen Charaktere der Gärten und Pflanzen, ihre Taxonomie und der mit den Massenpflanzungen einer Spezies verbundene ästhetische Ansatz – das Unterschiedliche im Gleichen. Thematisiert wird das Zusammentreffen von Natur und Kunst, von inszenierter Natur. Technisch wurde Lotussound über 60 kleine Lautsprecher ohne Chassis, batteriebetriebene modulare Verstärker und mp-3-Player realisiert. Für jeden Garten wurden spezifische räumliche Situationen mit unterschiedlichen Lautsprechertypen und einer unterschiedlichen Anzahl von Lautsprechern und Kanalzuordnungen geschaffen. Die Klänge der Installation beruhen auf ‚field recordings‘ und Objektklängen, die vor Ort aufgenommen und größtenteils elektronisch bearbeitet wurden. Die Klänge und kompositorischen Strukturen beziehen sich auf die Besonderheiten der sieben Gärten. Im „Parterre“ werden elektronisch transformierte Klänge fließenden Wassers so positioniert, dass sie sich mit dem realen Plätschern der im „Parterre“Areal vorhandenen fünf Brunnen verbinden. Es gibt vier getrennte StereoSituationen – in den Ecken einer gekachelten Sitzbank, an einer Stufe bei einem in den Boden eingelassenen Brunnen, versteckt in zwei gegenüberliegenden Hecken, in einer Vase (in Mono). Es werden Aufnahmen von allen fast 15 Brunnen und Wasserläufen in Lotusland verwendet. Hört man diese Wasserklänge hintereinander, ist auffallend wie unterschiedlich, wie spezifisch sie klingen. Die realen Brunnen plätschern kontinuierlich vor sich hin, monoton und doch mit unendlichen minimalen Varianzen. Die komponierten medialen Wassersituationen blenden nun verschiedenes Brunnenplätschern ineinander und sie verstummen auch gelegentlich. Einige Wasseraufnahmen wurden über einen Sampler manipuliert, was die Tonhöhenspanne gegenüber der des natürlichen Wassers erweitert. Auch ist die Klangausbreitung über die Lautsprecher anders, nämlich wesentlich gerichteter, wodurch virtuelle Hörbilder entstehen, die an den Kacheln und Mauern reflektiert werden und sich mit der Entfernung der Hörerin/des Hörers und teilweise durch nur kleine Veränderungen der Hörpositionen – Drehen des Kopfes – verändern. Diese oft kaum merklichen Verschiebungen zwischen Realität und medial aufgenommenen und wiedergegebenen Klängen konstituieren ein Spiel mit Ähnlichkeit und Verfremdung. In der Umwelt vorhandenen Klängen wird plötzlich eine besondere Aufmerksamkeit zuteil. Der Blue Garden, in dem von einer bläulichen äußeren Schutzschicht umhüllte Pflanzen versammelt sind, macht besonders deutlich, dass es Walska nicht um die Ausstellung einzelner Pflanzen geht, sondern dass sie (in diesem Fall ein an die Farbgebung angelehntes) Konzept verwirklicht und einen Raum strukturiert. Das Areal ist relativ klein, der Boden ist mit niedrigen

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Pflanzen bedeckt, und der Raum wird durch einige hohe Palmen gegliedert. Die entsprechende abstraktere Klangwelt der Installation für diesen Garten ist aus Sinustönen generiert, die sich wie ‚bläuliche‘ Klangschwaden am Boden entlang bewegen. Gelegentlich intervenierende, sehr hohe elektronische Töne erinnern an Insektenzirpen oder Vogelstimmen, es lässt sich nicht klar unterscheiden, ob es sich um natürliche oder künstliche Klänge handelt. Die einzige Aufnahme, die erklingt, ist ein feines ‚Plop‘, ein Geräusch von von Vögeln ausgespuckten Samenschalen, die auf niedrigen Palmengewächsen landen. Wie im Parterre und in anderen Gärten wird die Wahrnehmung von Klängen, die in der Umgebung vorhanden sind, verstärkt.13 Im „Aloe Garden“ befinden sich die Lautsprecher in den Abalone-Muscheln um den Teich, der in Form und Textur an eine Porzellantasse erinnert. Die Klänge beruhen auf Aufnahmen von Vasen und Lampen aus Walskas Besitz im Hauptgebäude, elektronisch transformiert bekommen sie eine glockenähnliche und transparente Qualität. Im „Dracaena Circle“ erklingen die Lautsprecher aus den Drachenbäumen, der Assoziation ‚Drache‘ entsprechend werden metallische, zischende und fauchende Klänge verwendet. Zwei Zitate aus Walskas Always Room at the Top, die von dem Streben nach Schönheit14 und von Scheitern und von nicht mehr hinnehmbaren Abstürzen handeln, sind integriert. Eines der eindruckvollsten Beispiele dafür, wie Walska Pflanzen einer Art in großer Anzahl zusammenstellt, sind die Kakteen entlang des „Main Drive“ (denen auf der anderen Seite der langen Auffahrt die im Aussehen ähnlichen, botanisch-evolutionsgeschichtlich aber sehr verschiedenen Euphorbien gegenübergestellt sind). In der Installation erklingen aus dem Kakteen-‚Chor‘ geflüsterte botanische und umgangssprachliche Namen der hier gepflanzten Kakteenarten sowie ‚gezupfte Kakteenklänge‘. 13 Wie auch in anderen Klangarbeiten in der Natur gab es bei Lotussound das Phänomen, dass die Natur elektronischer klingt als die komponierten, ‚ausgesetzten‘ Töne: Im Teich des „Japanese Garden“ machten fressende, nach Luft schnappende Karpfen ein Geräusch, das klang, als sei die elektronische Wiedergabe plötzlich unterbrochen worden. 14 „What glory in beauty! Not even the sky was my limit for there could be no limit to my ecstasy. I wanted bigger, higher, limitless altitudes. You can touch the sky with your eyes, you can admit its immensity and try to count its stars. But the state of my mind reached where Beauty blinds, where only four-dimensional power reigns, where the physical eye cannot see or touch, where only the possibilities of eternal wandering exists, where ugliness is powerless to stop one’s inspiration, where the conceptions of the body are lost, and we melt into one with the universal immensity…“, in: Walska, Always Room at the Top (wie Anm. 2), S. 219.

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9 Abb. 5–10  Lotussound. Klanginstallation für 60 Lautsprecher in sieben Gärten in Lotusland, Santa Barbara, Kalifornien, 17.–20. März 2010 von Kirsten Reese, Abb. 5: „Aloe Garden“, Abb. 6: „Blue Garden“, Abb. 7: „Kakteen am Main Drive“, Abb. 8: „Theatre Garden“, Abb. 9: „Japanese Garden“, Abb. 10: „Dracaena Circle“.

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Kirsten Reese

In zwei Gärten besteht das Ausgangsmaterial auch aus Musiksamples. Im „Theatre Garden“ sind dies die Lieder des erwähnten Liederabends, den Ganna Walska 1934 in der Carnegie Hall gab. Die Lautsprecher sind den auf der ‚Rasen-Bühne‘ angeordneten, aus dem 16. Jahrhundert stammenden und Figuren aus der commedia dell’arte darstellenden grotesken Steinfiguren zugeordnet, die Walska von ihrem Anwesen in Galluis mitbrachte. Es erklingen Takte, Akkorde, Arpeggien, kurze Passagen aus den Klavierstimmen der Lieder. Sie wurden zusammengeschoben und ‚geloopt‘, wiederholen sich also in sich. Außerdem ebenso werden die Lied-Fragmente der drei Stereo-Kanäle in einer Zufallsabfolge wiederholt. Im „Japanese Garden“ sind die Lautsprecher in den entlang der Wege stehenden Steinlaternen untergebracht. Das Klangmaterial besteht aus Fragmenten der Oper Madame Butterfly, angeblich einer der Lieblingsopern Walskas,15 und aus Aufnahmen des Anschlagens von Metallstäben eines elektrischen Carillons. Walska setzte dieses ungewöhnliche Instrument in den 1970er Jahren bei Gartenpartys ein, heute lagert es funktionsuntüchtig in einem Container auf dem Lotusland-Gelände. Die Klanginstallation Lotussound korrespondiert mit der räumlichen Strukturierung der Gärten von Lotusland, ihrer inszenierten und stilisierten Anlage und den visuellen und atmosphärischen Schönheiten der Szenerie. Die Wahrnehmung der Klänge ist bestimmt durch ihre Verräumlichung über viele Lautsprecher und ihre freie Ausbreitung im Außenraum. Die Zuhörer/ Zuschauer tauchen in eine artifizielle Klangwelt ein, die zur Realität der Umgebungsklänge hinzutritt. Elektronisch bearbeitete Klänge, die im Innenraum künstlich klingen, wirken anders, wenn sie aus kleinen Lautsprechern unter freiem Himmel tönen. Die verfremdeten Klänge bekommen in dem natürlichen Umfeld ein Eigenleben, eine eigene Stimme, werden anthropomorph. Ihre Artifizialität stellt eine Diskrepanz her, die aber durch das für elektronische Musik ungewöhnliche Terrain und durch die Korrespondenz und das Wechselspiel mit den Elementen von Natur – Wind-, Wasser- und Vogelgeräuschen16 und der besonderen Akustik unter freiem Himmel – auch wieder aufgehoben wird. 15 In ihrer Autobiografie schreibt Walska, dass sie sich in Vorbereitung der Rolle der CioCio-San ein Jahr lang mit allem beschäftigte, was sie über japanischer Lebensart und Kultur erfahren konnte, vgl. Walska, Always Room at the Top (wie Anm. 2), S. 128–129. Andererseits kritisieren Experten für japanische Gärten heute, dass es sich bei Walskas Garten nicht um einen ‚echten‘ japanischen Garten handele – was nicht verwundert, da es Walska ja nie um Authentizität ging. 16 Den Gärtnern und Angestellten war während der vier Tage der Installation aufgefallen, dass sich mehr Vögel in den Gärten aufhielten und zwitscherten als üblich.

Ganna Walska – Lotusland – Lotussound

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Die Idee und der Wunsch, eine Klanginstallation für Lotusland zu entwickeln, kam mir spontan bei meinem ersten Besuch in den Gärten (2005). Die Frage, warum und ob überhaupt man einem solch vollkommenen Kunstwerk noch etwas hinzufügen sollte, stellte sich mir nicht, sie wurde erst später von außen an mich herangetragen. Es stimmt, Lotusland braucht keinen Klang – aber da Klang eine temporale Ausprägung hat, laden die Installationen über das Hören ein zum längeren Verweilen, zur Konzentration auf eine Wahrnehmung mit allen Sinnen. Dies bestätigten die Besucher, die Lotusland in den Tagen der Installation erlebten, und diejenigen, die dort arbeiten und die Gärten seit vielen Jahren kennen (Management, Verwaltungsangestellte, Gärtner, die die Führungen leitenden ‚docents‘) berichteten, dass über die Ebene des Klangerlebens ungewohnte Perspektiven auf Lotusland und eine Erweiterung und Erneuerung ihrer Wahrnehmung der Gärten eröffnet wurde. Lotussound vertieft eine besondere ästhetische Erfahrung – und ist eine Hommage an ein großes Kunstwerk einer großen Künstlerin.

Richard Sorg

Zum „Inhalt“ der Musik in Hegels Musikphilosophie und zu deren Kritik durch Eduard Krüger (1842) Beatrix Borchard geht gerne spazieren. Denkt man an das Umherwandeln (peripathein), das als Bewegungsform für das Nachdenken in der Philosophenschule des Aristoteles gepflegt wurde, dann können Spaziergänge Denkwerkstätten sein. Die im Bearbeiten des Gedankenmaterials abfallenden Splitter können sich als Vorprodukte für weitere Arbeiten erweisen. Einige solche Gedankensplitter sind auch in die nachfolgenden Überlegungen eingegangen, entstanden u. a. bei Spaziergängen entlang der niedrigen Steilküste mit ihren Schwalbennestern an der Ostsee, bei Nacht in der Allee von Linden im ostholsteinischen Dörfchen Siggen, in klaren Sommernächten begleitet vom Planeten Jupiter, im Winter vom Sternbild des Orion. In Denkwerkstätten geht es auch um die Frage nach geeigneten methodischen Werkzeugen. Inwiefern dazu auch das dialektische Denken1 taugt, gehörte zu unseren bevorzugten Fragen. Dass auch im Feld der Musik Dialektik2 eine Rolle spielt, zeigt nicht zuletzt die Musikästhetik von Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831). Um letztere ging es beim vierten Mendelssohn-Salon, den Beatrix Borchard im Sommersemester 2009 an der Hamburger Musikhochschule organisiert hatte und an dem ich, musikalischer Laie, mit einem Beitrag zur Musikphilosophie Hegels mitwirkte. Eingebettet in Musik ging es in diesem vierten Mendelssohn-Salon um Fragen wie: Warum bewegt uns Musik? Was vermittelt, was ‚sagt‘ sie – im Unterschied etwa zur Wortsprache? Was ist ihr Sinn, ihre Bedeutung, ihr ‚Inhalt‘? 1 Vgl. dazu Richard Sorg, „Dialektisch denken – auch in der Sozialen Arbeit?“ In: standpunkt: sozial. Hamburger Forum für Soziale Arbeit, 1/2009, S. 95–101. 2 „Der Ausdruck Dialektik bedeutet, wenn er im Sinne Hegels verstanden wird, dass eine Sache, um zu sich selbst zu kommen oder als das erkennbar zu werden, was sie ist, in Gegensätze auseinandergelegt werden muss; in ihrer ersten, unmittelbaren Gestalt ist ihr Wesen noch verschlossen, und erst eine Entwicklung durch Antithesen hindurch lässt es hervortreten. Eine so begriffene Dialektik ist unverkennbar ein Analogon zur Struktur des Sonatensatzes, dessen Themen in der Durchführung auseinandergelegt werden, um in der Reprise reicher an unterscheidbaren Motiven und an inneren Beziehungen zu erscheinen als in der Exposition.“, in: Carl Dahlhaus, Musikästhetik, Köln 3 1976, S. 102.

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In seiner Musikästhetik thematisiert Hegel explizit die Frage nach dem Inhalt der Musik, etwa wenn er ihre Unbestimmtheit (z. B. im Vergleich zur Poesie) betont oder wenn es heißt: Ihr Inhalt ist das an sich selbst Subjektive, und die Äusserung bringt es gleichfalls nicht zu einer räumlich bleibenden Objektivität, sondern zeigt durch ihr haltungsloses freies Verschweben, dass sie eine Mitteilung ist, die, statt für sich selbst einen Bestand zu haben, nur vom Inneren und Subjektiven getragen und nur für das subjektive Innere dasein soll.“ (Hegel, Ästhetik III, 135)3

Zum Stellenwert der Musikästhetik im System der Hegelschen Philosophie In seinen Ästhetik-Vorlesungen, die bekanntlich nicht von Hegel selbst publiziert, sondern posthum von seinem Schüler Heinrich Gustav Hotho erstmals 1835 und 1842 in zweiter Auflage aus verschiedenen Kolleg-Mitschriften zusammengefügt und herausgegeben wurden, stellt Hegel die Künste in einer Entwicklungsreihe dar, wobei er eine historische mit einer systematischen Betrachtungsweise verbindet (weshalb es zu einigen Problemen bei der historischen Zuordnung der einzelnen Künste kommt). Die Reihe beginnt mit der Architektur, setzt sich dann fort über die Skulptur, die Malerei, die Musik und kulminiert in der Poesie. Malerei, Musik und Poesie zählt Hegel zu den „romantischen Künsten“, die, nach der klassischen griechischen Antike mit ihrem Höhepunkt in der Skulptur, vom christlichen Mittelalter an eine besondere Bedeutung gewinnen.4 Die Entwicklung der Kunst und Künste verläuft für Hegel vom Äußeren zum Inneren: beginnend mit denjenigen Stufen bzw. Kunstformen, bei denen das sinnliche Material (die Materie), worin sich die künstlerische Idee verkörpert, der ideelle Gehalt zur Erscheinung kommt, noch ein stärkeres Gewicht besitzt (wie Stein und Erz in der Architektur bzw. 3 Zugrunde gelegt wird hier die Ausgabe: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke in 20 Bänden mit Registerband, hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a. M. 1986. Hegels Musikästhetik findet sich, von Bemerkungen in anderen Werken und in Briefen abgesehen, vor allem in: Vorlesungen über die Ästhetik, Bd. III, 2. Kapitel: „Die Musik“, Werke 15, Frankfurt a. M. 1986, S. 131–222 (im Folgenden: Hegel, Ästhetik III). Hervorhebungen im Original sind kursiv gesetzt. 4 „Romantisch“ meint hier nicht die mit dem Ende des 18. Jahrhunderts beginnende kulturgeschichtliche Epoche, sondern die (im Unterschied zur klassischen Antike) neue Bedeutung der Innerlichkeit, des „subjektiven Geistes“, die Entdeckung des Individuums (in Renaissance und Reformation), vorbereitet durch das Christentum, dann besonders durch den Protestantismus.

Zum ,Inhalt‘ der Musik in Hegels Musikphilosophie

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der Skulptur), hin zu Kunstformen mit zunehmender Verflüchtigung des Materiellen (so in der Malerei die Reduktion auf Farbe und Linie) und wachsender Dominanz der Subjektivität (in der Musik) und des Geistigen (in der Poesie). Diese Entwicklungsrichtung entspricht Hegels philosophischem System, in dem der „Geist“ die höchste Kategorie, den obersten Begriff darstellt. Der Aufbau seines Systems, eines Systems des sogenannten „objektiven Idealismus“, so wie er es auch in seiner dreiteiligen Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (Hegel, Werke 8–10) gelehrt und publiziert hat, besteht aus 1. der Logik5: Gegenstand ist hier der Geist in seinem „An-sich-sein“, vor seiner „Entäusserung“ und konkreten Vergegenständlichung in Natur und Geschichte, also die „logische“ Entwicklung der allgemeinsten und grundlegendsten Kategorien oder Denkformen sowie der Methode, die der Erkenntnis der wirklichen Entwicklung gemäß ist, der „Dialektik“; 2. der Naturphilosophie (Hegel, Werke 9): hier wird der Geist in seinem „Anders-sein“, seiner Entäußerung in der Natur thematisiert; 3. der Geistphilosophie (Hegel, Werke 10): betrachtet wird hier der Geist in seinen Erscheinungsformen als „subjektiver Geist“ (vor allem die menschliche Denkfähigkeit) und als „objektiver Geist“6 in seinen vielfältigen, konkreten Verwirklichungen in Geschichte, Gesellschaft und Kultur7, wozu auch die Kunst gehört, die zusammen mit Religion und 5 Die Logik der Enzyklopädie (Hegel, Werke 8) unterscheidet sich von der Wissenschaft der Logik, der sog. großen Logik (Hegel, Werke 5 und 6), durch ihre kompaktere, für didaktische Zwecke (Vorlesungen) konzipierte Gestalt. 6 Den „objektiven Geist“ in Natur und Gesellschaft könnte man, übersetzt in die heutige Wissenschaftssprache, verstehen als das „Gesetzmäßige“ in allem (analog dem griechischen logos), was auch Chaos und Zufall einschließt! Das Gesetzmäßige ist definierbar durch die relativ stabilen Beziehungen, die zwischen den Eigenschaften der Dinge bestehen. Gesetze wirken stets unter bestimmten Bedingungen (den sog. ‚Randbedingungen’), die ihrerseits die Wirkungen der Gesetze bestimmen und modifizieren (und so den Schein der Gesetzlosigkeit erzeugen können, so als ob der individuelle Fall nicht allgemeinen Gesetzen unterliege, weil man die modifizierenden Bedingungen nicht bedacht oder nicht hinreichend erkannt hat). Die modifizierenden Bedingungen sind eine bestimmte Konstellation von Dingen, die mit anderen Dingen in Wechselwirkung stehen. Diese Wechselwirkungen führen zur Modifikation der Wirkung des einen Gesetzes zugunsten des anderen, abhängig jeweils von der Stärke der jeweiligen Beziehungen oder Bindungen zwischen den betrachteten Komponenten. 7 Herbert Schnädelbach hat „Geist“ mit „Kultur“ übersetzt, wissend freilich, dass dies eine Verkürzung des Hegelschen Geist-Begriffs darstellt. Siehe: Herbert Schnädelbach, „Hegel“, in: Musik in der deutschen Philosophie. Eine Einführung, hrsg. von Stefan Lorenz Sorgner und Oliver Fürbeth, Stuttgart 2003, S. 55–75. Er schätzt Hegels Kunstauffassung, wohl nicht zu Unrecht, als „klassizistisch-harmonistisch“ ein (ebd. S. 71) und befindet, dass dessen Philosophie der Musik „wesentlich eine der guten, d. h. schönen

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Richard Sorg

Philosophie (die Hegel auch „Wissenschaft“ nennt) zu den Gestalten des „absoluten Geistes“ gezählt wird; „absolut“, weil der Geist hier ‚los-gelöst‘ ist von den partikularen Interessen und Beschränkungen, vielmehr das ‚Ganze der Welt‘ zu thematisieren und zu erfassen versucht, weshalb es sowohl der Kunst wie auch der Religion und der Philosophie, wenn auch auf je unterschiedliche Weise, um die ‚Welt im Ganzen‘, um eine Weltsicht geht, sei es mittels der (sinnlichen) Anschauung (Kunst), der Vorstellung (Religion) oder des Begriffs (Philosophie oder Wissenschaft). Die Musik – als die nach der Malerei zweite „romantische“ Kunst, der dann als dritte, dem Geist gemäße, weil an kein äußeres, sinnliches Material mehr, sondern nur noch ans Wort, an die Sprache gebundene, die Poesie folgt – geht in der Äußerung der „subjektiven Innerlichkeit“ (eben um diese geht es den „romantischen“ Künsten) über die Malerei hinaus, indem sie nicht nur wie diese die Raumdimensionen zur Fläche reduziert und zweidimensional wird, sondern aus der Räumlichkeit überhaupt sich zurückzieht ins Innere der Subjektivität, in den inneren Sinn, die Zeit. Die Musik bildet den Mittelpunkt derjenigen Darstellungsweise, „die sich das Subjektive als solches sowohl zum Inhalte als auch zur Form nimmt, indem sie als Kunst zwar das Innere zur Mitteilung bringt, doch in ihrer Objektivität selber subjektiv bleibt“ (Hegel, Ästhetik III, 133). Die in Tönen, im Klang vergegenständlichte „Objektivität“ des Musikwerks bleibt selbst „subjektiv“, d. h. sie ist sowohl ein Ausdruck des Inneren eines Subjekts (Komponist, Musiker) als auch eine Mitteilung an ein anderes, an das hörende Subjekt mit einer Wirkung aufs Innere dieses Rezipienten. Hegels Ästhetik fand ebenso Zustimmung, wie sie auch zur Kritik provozierte. Zu den frühen, fast noch zeitgenössischen Kritikern gehörte auch der heute kaum noch bekannte Eduard Krüger (1807–1885). Von diesem publizierte 1842 die von Robert Schumann als verantwortlichem Redakteur betreute Neue Zeitschrift für Musik in mehreren Folgen einen umfangreichen Aufsatz mit dem Titel „Hegel’s Philosophie der Musik“.8 Dieser vor über 150 Jahren geschriebene Text, mit dem ich mich bei der Vorbereitung auf den oben erwähnten vierten Mendelssohn-Salon eingehend befasst hatte, enthält, unbeschadet mancher uns heute befremdlich anmutenden Auffassungen und Musik [ist], und philosophische Grundbestimmungen bilden dabei den normativen Hintergrund dafür, was als schönes musikalisches Kunstwerk gelten kann.“ (ebd.) Zu Hegels Musikästhetik gibt es bekanntlich eine Fülle von Literatur, vgl. z. B. Adolf Nowak, Hegels Musikästhetik, Regensburg 1971; Veit-Justus Rollmann, Das Kunstschöne in Hegels Ästhetik am Beispiel der Musik, Marburg 2005; Annemarie Gethmann-Siefert, Einführung in Hegels Ästhetik, München 2005. 8 Eduard Krüger, „Hegel’s Philosophie der Musik“, in: Neue Zeitschrift für Musik, Bd. 17, Nr. 7, 22.7.1842 – Nr. 16, 23.8.1842, S. 25–69.

Zum ,Inhalt‘ der Musik in Hegels Musikphilosophie

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Formulierungen doch so viel Anregendes, dass mir eine eingehende Lektüre lohnend erscheint. Er soll daraufhin befragt werden, wie in ihm das Problem des Inhalts der Musik im Kontext der Hegelschen Musikphilosophie behandelt wird. Was meine Vorgehensweise betrifft, so referiere und kommentiere ich Krügers Text, und spinne zugleich, anknüpfend an seine Gedanken, den Faden der angesprochenen inhaltlichen Fragen weiter. Dem Verfahren Hegels folgend, das er z. B. in seiner Geschichte der Philosophie bei der Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen philosophischen Positionen und Systemen zu Grunde legte, wird gefragt nach dem ‚rationellen‘, vernünftigen Gehalt, der u. U. eingehüllt ist in zeitbedingte oder auch sonstwie befremdliche Auffassungen (ob nationalistische oder auch religiöse). Eine solche Vorgehensweise entspricht im Rahmen der dialektischen Methode Hegels dessen zentraler Figur der ‚Aufhebung‘ (in der bekannten dreifachen Wortbedeutung): Danach wird der referierte Text in seinen problematischen, ggf. auch überholten Seiten kritisiert und in diesem Sinn ‚negiert‘ (1); zugleich wird das Bedenkenswerte (‚Rationelle‘) aus seiner zu kritisierenden Einseitigkeit, seiner fragwürdigen Einkleidung herausgelöst und ‚aufbewahrt‘ (2); dieses Resultat wird schließlich zum Ausgangspunkt genommen für eine gedankliche Weiterführung, um das ‚Vernünftige‘ darin auf eine (historisch und sachlich) fortentwickelte, insofern ‚höhere‘ Ebene hinaufzuheben, auf der das in Frage stehende Problem auf einer reicheren Komplexitätsstufe weiter bearbeitet werden kann (3). Einige knappe Hinweise zur Person und zum Werk Krügers seien vorausgeschickt, wobei ich mich auf die einschlägige Arbeit von Kurt Hoppenrath stütze.9 Eduard Krüger, aus einem lutherischen Elternhaus in Lüneburg stammend, hatte sein Altphilologie-Studium in Göttingen mit einer philologischmusikgeschichtlichen Dissertation über die altgriechische Instrumenten-Praxis zur Zeit Pindars abgeschlossen. 1830 hörte er an der Berliner Universität Hegels Ästhetik-Vorlesungen. In seiner ab 1832 beginnenden beruflichen Arbeit als Gymnasiallehrer und später als Schulrat in Emden und Aurich in Ostfriesland war er engagiert musikpädagogisch tätig, setzte sich als Organist und Chorleiter für das Musikleben in der Region ein, führte Werke von Haydn, Händel und Bach auf, und entfaltete neben seiner beruflichen Arbeit auch 9 Kurt Hoppenrath, Eduard Krüger (1807–1885). Leben und Wirken eines Musikgelehrten zwischen Schumannscher Tradition und Neudeutscher Schule, Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Hohen Philosophischen Fakultät der Georg-AugustUniversität zu Göttingen, Manuskript, Göttingen, Juni 1964. Vgl. auch den Artikel zu Krüger von Wolfgang Boetticher, der die Dissertation von Hoppenrath betreute, in: Biographisches Lexikon für Ostfriesland, hrsg. von Martin Tielke, Aurich 1993 ff.

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eine rege musiktheoretische und musikschriftstellerische Tätigkeit, vor allem in Schumanns Neuer Zeitschrift für Musik und in der Allgemeinen musikalischen Zeitung. Seine 1838 begonnene Freundschaft mit Schumann endete 1851, nachdem er dessen Oper Genoveva kritisch besprochen hatte. 1862 erhielt er an der Göttinger Universität eine außerordentliche Professur für Musikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Kirchenmusik, wo er u. a. für die Göttingische Gelehrte Anzeigen Aufsätze über Neuerscheinungen schrieb. Sein wichtigstes Werk, das System der Tonkunst, erschien 1866. Seinen Kompositionen (vor allem Lieder und Orgelwerke) spricht Hoppenrath keine größere Bedeutung zu. Resümierend bescheinigt dieser Krüger eine gewisse „Tragik“ (Hoppenrath, 363 ff.), der in der Epoche 1800–1850 als ein Unzeitgemäßer und Einsamer in einer „Grenzsituation des Übergangs zwischen romantischem und realistischem Zeitalter“ gestanden habe. Zu den bestimmenden Motiven für Krügers Wirken gehörten, so Hoppenrath, sein „ausgeprägtes Nationalempfinden“, gepaart mit einer protestantisch-kirchlichen Orientierung, die sich gegen den modernen Zeitgeist stemmte, in welchem Krüger nicht nur einen Abfall von der Religion, sondern auch von den Klassikern der musikalischen Tradition diagnostizierte. Krügers kritischer Kommentar zu Hegels Auffassung vom Inhalt der Musik Etwas umständlich beginnt Eduard Krüger10 seine Auseinandersetzung mit Hegel, indem er, bezogen auf die „Ästhetik des großen Denkers“, seinem „Bedürfnis“ Ausdruck verleiht, diesen Damm unbezwinglicher Ideenbollwerke zu durchbrechen, um, da sie sich vermöge ihrer Consequenz bei der strebenden Jugend solche Geltung verschafft haben, dass ein großer Theil derselben in den Gedanken dieses Einzigen wie gebannt verharrt, das Unrecht abzuwehren, das Hegel unserer Kunst angethan; und die wahre Gedankentiefe der Musik auch der Wissenschaft näher zu bringen, sie auf wissenschaftliche Weise zu entwickeln. (Krüger, 25)

10 Bei Zitaten von Krüger wird seine altertümliche Schreibweise, inkl. Orthografie und Interpunktion, beibehalten; seine Hervorhebungen sind kursiv gesetzt. Die von ihm angeführten Belegstellen zu Hegels Ästhetik wurden transformiert in die Paginierung der Suhrkamp-Ausgabe. – Meine eigenen Kommentare werden bei kürzeren Erläuterungen durch Gedankenstriche oder auch durch runde Klammern abgesetzt von meinem Referat der Krügerschen Positionen.

Zum ,Inhalt‘ der Musik in Hegels Musikphilosophie

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Er würdigt die Bedeutung der Hegelschen Musikphilosophie; obwohl sie im Einzelnen Irrtümer und Fehlerhaftes enthalte, gelte es, an seinem Werk weiter zu bauen. Ein „flüchtige[r] Leser“ freilich, der sich seinem „ersten Eindrucke hingiebt“, werde Äußerungen finden, die an eine „Verachtung der Musik“ grenzen, so wenn Hegel von der ‚Gedankenleere‘, von der ‚allgemeinen Unbestimmtheit des Inhalts‘, von der Darstellung des ‚leeren Ich‘, des ‚Selbst ohne weiteren Inhalt‘ spreche (mit Verweis z. B. auf Hegel, Ästhetik III, 135 oder 186). Hegels infolge seiner mangelnden Kenntnis unzulängliche Darstellung müsse daher ergänzt und berichtigt werden (Krüger, 28). Den allgemeinen Charakter der Musik, wie ihn Hegel in seiner Ästhetik dargestellt habe, fasst Krüger so: Die Sphäre der subjektiven Innerlichkeit, das eingehüllte Leben und Weben in seinem eigensten Element, dem flüssigen Wechsel des Tones wiederklingen zu lassen, dem Schrei11 der Empfindung Seele, Schönheit, wahre lebensvolle Form zu geben, die Selbstproduction dieser Empfindungen, Kampf, Fortschritt, Auflösung, Verschwinden künstlerisch darzustellen und dem Mitempfindenden verwandte Vorstellungen zu wecken, ist die eigenthümliche Aufgabe der Tonkunst. (Ebd.; vgl. Hegel, Ästhetik III, 148–152)

Auffallend sei aber, dass der bestimmte Inhalt der Tongebilde oder überhaupt die „Fähigkeit der Musik, einen Inhalt auszudrücken“, von Hegel umgangen oder nur angedeutet werde. Bei ihm gewinne dieser Umstand „die Form einer Anklage gegen die Inhaltsleere der Musik“, wogegen Krüger argumentiert. Hier, in der Frage des Inhalts der Musik, liege die „Schwäche des Systems“ (Krüger, 28) Hegels. Die Quelle der Tonkunst sei der subjektive Geist mit einer Mannigfaltigkeit von Unterschieden: Sinnlichkeit, Gefühl, Empfindung, Anschauung, Verstand etc., die, jedes für sich in einseitigem Zwiespalte begriffen, dennoch im Ganzen verträglich bei einander wohnen müssen; ihre Totalität, die Vernunft, begreift sie insgesammt und bedient sich ihrer als gegliederter Arme, um in die Welt hinaus und in sich zurückkehrend hineinwärts zu wirken und sich zu offenbaren. (Krüger, 30)

Zwar geschieht „die letzte Offenbarung des Gedankens“ im Wort, in der vernünftigen Rede, und alles, was wirklich gedacht ist, kann im Prinzip im Wort gefasst werden, wobei aber Wort und Idee (der Gedanke) nicht zusammenfal11 Hier klingt Hegels Ausdruck von der Musik als der „kadenzierten Interjektion“ (Hegel, Ästhetik III, 151) an. Vgl. dazu Hanns-Werner Heister, „,Kadenzierte Interjektion‘. Taugt Hegels Formel als Allgemeinbegriff für Musik?“, in: Zwischen Aufklärung & Kulturindustrie. Festschrift für Georg Knepler zum 85. Geburtstag, hrsg. von Hanns-Werner Heister, Karin Heister-Grech und Gerhard Scheit, Bd. III, Hamburg 1993, S. 11–19.

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len. – Diese Unterscheidung erfolgt zu Recht, denn der Inhalt, die Idee ist vom Wort als Symbol und Zeichen zu unterscheiden. Das Wort ist die Gestalt und Erscheinungsform der Idee (des Gedankens).12 – Durch das Wort, als Zeichen, geht immer ein Theil des Inhaltes verloren. [...] Immer bleibt ein unendlicher Ueberschuß auch neben der reichsten Fülle gesprochener Worte im Subjecte zurück. Das Subject selbst ist ein Unendliches, Unfassbares, dem Worte ewig Unerreichtes. Dies ist das Unsägliche.

Über dieses „Unsägliche“ doch etwas zu sagen, ist ein zentraler Teil der Bemühungen Krügers. Das Unsägliche habe durch die Phänomenologie des Geistes von Hegel (vgl. das erste Kapitel über die „sinnliche Gewissheit“, Hegel, Werke 3) einen schlechten Ruf erhalten: das nur sinnlich Gewisse, das innere individuelle Erleben sei unsagbar, weil jedes Sagbare Begriffe, also Allgemeines, voraussetzt. Krüger wendet dagegen ein: Das unnennbare Sieden und Brausen der Gefühle, so wie die sanfte wallende Empfindung befriedigter Thatlust und sinnender Schwärmerei lässt sich nicht ohne Weiteres als nichtig und gedankenleer wegdisputiren, vielmehr ist diese subjective Innerlichkeit Anfang und Ende selbst der tiefsinnigsten Gedankenentwickelungen, so wie der Gedanke von dem punctuellen Impulse subjectiven Willens seinen Ausgang nimmt, so kehrt er auch ewig zu dem stillen verschlossenen Gemüthsleben zurück, dort seine uranfängliche Heimath findend und erkennend, und umso mehr, je weiter von diesem ersten Seelenleben die thätige Kraft sich in entlegene Bahnen entfernt hat. (Krüger, 30)

Zwischen „tief“ und „deutsch“ gibt es für Krüger eine enge Verbindung: Die tiefsinnigsten Denker seien auch im Gemütsleben die reichsten; und das deutsche Volk [...] hat von jeher in schwärmerischer Empfindung und jenseitigem Sehnen alle anderen übertroffen. Und eben darum ist bei ihm die Musik einheimisch und nirgend die wahre Tiefe dieser unsäglichen Kunst so ausgekostet, wie bei dem deutschen Volke. (ebd.)

Exkurs über das „Unsägliche“ und über die Perspektivik der Erkenntnis Was hat es mit diesem „Unsäglichen“ auf sich? „Unsäglich“, unsagbar ist zunächst, was sich in einem anderen Element befindet als das Wort, z.  B. im 12 „Proposition“ ist in der formalen Logik die inhaltlich präzis bestimmte Aussage, der Gedanke; ihre sprachliche Fassung in einem Satz ist dagegen in zahllosen Varianten formulierbar (in verschiedenen Sprachen, Ausdrucksweisen etc.).

Zum ,Inhalt‘ der Musik in Hegels Musikphilosophie

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Gefühl. Dies, auch z. B. seinen gestischen Ausdruck, sprachlich zu artikulieren, verlangt einen Übergang in eine andere Sphäre, ein anderes Medium. Das gilt aber für die gesamte Wirklichkeit, weil das Zeichen (die Sprache) immer nur bestimmte Seiten zu fassen vermag, während der Rest ungesagt bleibt; daher die immer erneuten Versuche z. B. der Poeten, dies auszudrücken. Diese Schwierigkeit besteht für die Beschreibung ‚äußerer‘ Dinge und Prozesse wie auch für die ‚inneren‘ Vorgänge, die „subjektive Innerlichkeit“. Man könnte in letzterer auch das „Quale“ sehen, wie es u. a. in der Debatte zwischen Hirnforschern und Philosophen bisweilen genannt wird, die Innensicht des Subjekts, die auch in der Musik versuchsweise zum Ausdruck gebracht wird. Der formulierte, in Wortform gegossene, wahrnehmbar werdende, daher bestimmte Gedanke ist eine (bestimmende und damit begrenzende) Verwirklichung des werdenden, dunklen, noch unfertigen, aber reichen Möglichkeitsraum des Denkens oder „Geistes“, der das Reich auch des Unsagbaren darstellt, des in bestimmten, engen, sprachlich geformten Worten nicht oder nur unzureichend Ausdrückbaren. Dieser ‚wogend-webende‘ Bereich des Voroder Außer-Sprachlichen, des Gefühlten, nur dunkel Gewussten ist eine der Quellen, der ‚Küchen‘, der Produktionsstätten der Kunst, auch der Musik, deren gestaltete, wahrnehmbare Form ein spezifisches Medium ist, Kunde zu geben von diesem schöpferischen Reich der Affekte, Erfahrungen, Bestrebungen etc. Die bewusste, gar sprachlich formulierte innere Welt ist gleichsam nur die ‚Spitze des Eisbergs‘ oder die ausgeflossene ‚Lava‘ aus dem unendlich größeren ‚Erdinneren‘, der Welt der Gefühle, des Unbewussten, des ‚Es‘.13 Die Grenzen des Sagbaren sind einerseits dessen Inhalt geschuldet (z. B. Emotionen), andererseits den jeweils geschichtlich, gesellschaftlich, kulturell tradierten, verfügbaren Mustern und Medien der Artikulation. Daher kann eine andere Kultur auch Anderes, für uns Neues zur Sprache bringen. Man kann das verknüpfen mit der Hypothese einer prinzipiellen Perspektivik der menschlichen Erkenntnis. Diese Auffassung geht von der Annahme aus, dass eine (nach Möglichkeit) empirisch geprüfte und erprobte, in sich stimmige Theorie oder Denkmethode in der Regel ein gewisses Maß an zutreffender, ‚wahrer‘ Erkenntnis enthält bezüglich der in Frage stehenden Problematik, also etwas Richtiges von der Wirklichkeit und ihren gesetzmäßigen Zusammenhängen erfasst hat. Dies Richtige ist freilich immer nur partiell, 13 Hier mag auch einer der Anstöße der Philosophie Schopenhauers liegen mit seinem ‚dunklen Willen‘, den dieser dann freilich metaphysisch zum inneren Bewegungsprinzip der Welt (im Unterschied zur bloßen ‚Vorstellung‘) aufbläht. Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung. Zürcher Ausgabe. Werke in zehn Bänden, Bd. 1–4, Zürich 1977.

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approximativ, relativ – abhängig vom Stand des Wissens, vom Betrachtungsstandpunkt oder -winkel aus, von der Perspektive und Sichtweise auf die Welt. Die angemessene Folgerung wäre dann nicht ein vollständiger Relativismus, wie manche postmoderne Auffassungen nahelegen, sondern das Bemühen, die jeweiligen Ansätze oder Paradigmen (inkl. des eigenen) daraufhin zu befragen, was ihr jeweiliger, spezifischer Beitrag zu einer umfassenden (von keinem einzelnen Ansatz allein zu erreichenden) Erkenntnis des Ganzen des Problems ist (ihr ‚rationelles Element‘). So etwa hat Hegel die Ideengeschichte und die sich abwechselnden, bekämpfenden und ergänzenden philosophischen Systeme betrachtet. Ein solches Vorgehen schließt nichts vollständig aus, ignoriert nichts, schottet sich nicht ab, um unangefochten die eigenen Gewissheiten weiter pflegen zu können, sondern versucht, die verschiedenen Ansätze als Momente des Ganzen in ihren jeweils berechtigten Anteilen und Beiträgen zum Gesamtbild zu sehen und zu erfassen. Jedes Paradigma hat durch die Akzentuierung eines bestimmten Gedankens oder Aspekts notwendigerweise als komplementäres Pendant dazu die relative Vernachlässigung eines anderen Gedankens bzw. Teils des Problems zur Folge, weil wir als endliche Menschen, stets abhängig vom historischen Stand des Wissens, von der gesellschaftlichen oder auch individuellen Interessenposition, von der begrifflich-sprachlichen, kulturellen Wahrnehmungs- und Artikulationsfähigkeit nie das vollständige Ganze in all seinen Aspekten und angemessenen Akzentuierungen erfassen und formulieren können, sondern unabdingbar immer bestimmte (daher einseitige) Hervorhebungen, Grenzsetzungen, Abgrenzungen, somit auch Ausgrenzungen, Unterbelichtungen in Kauf nehmen müssen. Auch hier kann die Dialektik Hegels, für den nur das ‚Ganze das Wahre‘ ist14, als ein wichtiges denkmethodisches Programm dienen. Krüger über das „Unsägliche“, „Natürliche“, „Schöne“ und „Mystische“ Ein wichtiger Grund für die Geringschätzung des Unsäglichen durch Hegel sei dessen durchgehende „Vernachlässigung des natürlichen Elements.“ (Krüger, 31) – Zu Recht besteht hier Krüger auf der Priorität der Natur; freilich meint er damit nicht Materialität im Sinn einer materialistischen Ontologie, da er Natur ja als ‚Schöpfung Gottes‘ versteht, im Natürlichen das ‚Göttliche‘ walten

14 „Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen. Es ist [...] wesentlich Resultat“. (Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke 3, S. 24)

Zum ,Inhalt‘ der Musik in Hegels Musikphilosophie

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sieht. Auch wenn man diese religiöse Deutung weglässt, bleibt der Hinweis auf die Natur doch ein berechtigter Punkt. Hegel spreche im Wesentlichen immer nur vom Gedanken, von der innersten subjektiven Seele des Künstlers; aber „der zauberischen Wirkung des materiellen natürlichen Elementes“ wird entweder gar nicht gedacht oder es wird als fremdes, zu überwindendes betrachtet, was erst abgezogen werden müsse, ehe der Geist zu sich selbst käme. So bleibt der Gedanke die abgezogene [d. h. abstrakte, R. S.] Quintessenz des Kunstwerkes, [...] weit genug vom Leben und Genuß der Gegenwart entfernt, um zu zeigen, wie alles Denken, Sinnen und Sprechen doch menschlicher Weise immer approximativ bleibt. (ebd.)

– Was das Verhältnis des (zweifellos idealistischen) Philosophen Hegel zur Natur und Materialität angeht, so ist das freilich eine verwickeltere Angelegenheit, als es bei Krügers Kritik erscheinen mag, worauf hier aber nicht näher eingegangen werden kann. Man beachte immerhin, wie sehr Hegel die physikalische Seite des Tons als etwas Materielles für seine Musikphilosophie betont (Hegel, Ästhetik III, 154). Zutreffend fährt Krüger fort: Die „äußere Materiatur“ als Darstellungsmedium des Gedankens in der Kunst sei unverzichtbar. Damit werde aber gezeigt, dass das „Unsägliche“ den Gedanken begleitet, ihn lebendig durchschlingt und durchweht, „was mit keinem anderen Maaße zu fassen ist, als an und mit sich selbst.“ (Krüger, 31) Unbefriedigend bleibe Hegels Antwort auf den Zwiespalt zwischen reinem Gedanken und konkreter Realität, wo das Unendliche zur Endlichkeit komme. Das „Schöne“ sei „unfassbar“ (ebd.). Denn: „Das natürliche Element der Schönheit ist das Mystische, das ewige dem Verstand unlösbare Räthsel“. „Aber nicht allein dem berechnenden Verstande, der einseitigen Abstraction sind diese Tiefen unzugänglich; auch die speculative Philosophie erfaßt nicht die ganze Totalität der Kunst oder des Kunstwerkes selbst; sie fasst nur die Form ihrer Entwickelung. Das Geheimniß der subjectiven Kunstseele, sei es von der Seite der Activität, als im productiven Künstler gefasst, oder von der entgegengesetzten passiven Seite, als in Kunstwirkung, Auffassung und Genuß der Empfangenden: es bleibt ewig ein Geheimniß“. (ebd.) „So wie uns das Individuelle immer ein Abgrund bleibt, den zu erforschen kein fremder Gedanke ausreichende Kraft besitzt, so auch alles Uebrige, was der gewöhnliche Menschensinn heilig, schön, selig, unendlich nennt. Das sind die dunklen Gewalten, die das Wort durch keinen Zauber zu beschwören vermag.“ (Krüger, 32)

Was sich dem Wort entzieht, muss deshalb nicht schlechter sein. Vielleicht ist das umgekehrt seine eigene Kraft,

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von keinem Begriffe begriffen zu werden [...] Diesem Natürlich-Mystischen gehört Liebe und Schönheit an. Alle philosophischen Formeln und Gedankenentwickelungen geben von ihnen immer nur Merkmale, nicht das Wesen selbst. (ebd.)

Es gibt nach Krüger „ein Bereich des Natürlichen, Individuellen [...], wohin keine Philosophie dringt. Und dies ist nicht der schlechteste Theil dieser schönen Welt.“ (ebd.) Die unsägliche, naturhafte, nicht vom philosophierenden Geist erfasste Schönheit sei es, die uns verzaubere und die künstlerische Wirkung hervorbringe. Schönheit als wesentliches Naturelement zu betonen, heiße aber nicht rohe Naturnachahmung. Dies Schöne sei das Erste und das Letzte, die Grenze der Empfindung, des Gemüts, des Künstlers: die „Commensurabilität des Kunstwerks“ (Krüger, 39). Dieses natürlich Schöne15 mitsamt seiner Wirkung auf unser Ohr sei „das Ewig-Unerwiesene, das Ewig-Weibliche in dieser Kunst“; Ausgangs- und Endpunkt aller Musik, „das Grundgesetz, in welchem alle Freiheit beschlossen ist.“ (Krüger, 40) „Die Musik nun hat jene unnennbare Schönheit zum Gegenstande: das dunkle Weben und Wallen des Gefühles, die Ausströmung der ersten Natur ist ihr Inhalt.“ Krüger stimmt Hegel zu, der den Ausgangspunkt der Musik in der Tilgung aller Räumlichkeit gesehen habe, die „Wurzel der Musik“ im Tönen, in der Äußerungsweise des „rein Innerlichen“, im „völligen Insichgehen der Subjectivität“ (vgl. Hegel, Ästhetik III, 134). Aber unerledigt bleibe die zweite Frage: welcher Art das Innere sein müsse, um sich dem Tönen adäquat zu erweisen (Hegel, Ästhetik III, 135). Zum Was des Inhalts der Musik als „Bewegung des Lebendigen“ und zum Wie der Gestaltung dieses Inhalts als „vergeistigte Nachahmung“ Die Antwort auf die Frage nach dem Inhalt der Musik werde (vom Philosophen im Unterschied zum Künstler) in der Sprache gesucht als dem „geistigsten Mittel der Gedankenäußerung“ (Krüger, 48). Wie für die räumlichen Künste (Architektur oder Skulptur) die ganze räumliche Welt den Inhalt biete, so für das „Gehör die ganze Bewegung der Welt“, dieser Inhalt, „von dem Tonsinne empfangen, wird aus der Seele des Künstlers wiedergeboren als musikalisches Kunstwerk“. Musik als die Zeit-Kunst hat demnach die Bewegung zum Gegenstand, sowohl die äußere (Handlung) wie die innere (Motive und Emotionen). 15 Die Unterscheidung des Naturschönen und des Kunstschönen findet sich bekanntlich sowohl in der Ästhetik Kants wie Hegels.

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Der Inhalt, das Was, so Krüger, sei das Menschliche in all seinen Facetten, aber auch die außermenschliche Natur. Das Wie der künstlerischen Gestaltung dieser Inhalte werde im Allgemeinen gewöhnlich mit dem Begriff der Nachahmung (Mimesis) beantwortet, wobei es sich nicht um ein bloßes „Abschreiben der Natur“ handelt, sondern um ihre „belebte Wiederbringung“. Die Idee der Schönheit wurzle im Unmittelbaren des Gefühlslebens, im Natürlichen, d. h. im Unaussprechlichen. Das Natürliche und somit auch die Nachahmung sei Lebenselement der Kunst, aber nur die eine Seite: Nachahmung als eine Weise der „verklärten Wiederbringung und schöpferischen Umgestaltung endlicher Gebilde“ (Krüger, 49). Wir erwarten von der Kunst, dass sie ihren Gegenstand „nachahme, d. h. darstellend in erhöhtem Leben wieder erzeuge.“ Wie dies alles in die Musik eingeht und aus ihr heraus geboren wird, dies sei den Philosophen ein Rätsel geblieben. Denn hier gilt es, „sich mit dem Technischen, dem eigenen Boden der Kunst vertraut zu machen“, wenn man die Entwicklungen des Geistes in der Tonkunst begreifen will.16 Dazu zählen die harmonischen Grundlagen, die Beziehungen der Intervalle etc. All dies, wurzelnd in Naturgesetzen, spiegele sich wider im empfangenden Ohr. Es sei also keine, wie Hegel sagt, ‚gegenstandslose Innerlichkeit‘, vielmehr „eine reiche vielgestaltige Welt der Gegenstände ihrem wirklichen Dasein nach. Die Töne vermögen es, diese Mannigfaltigkeit des Lebens nachzubilden, aber nach einer andern Seite als Stein, Bild und Wort.“ (Krüger, 50) Die Musik habe die „bewegte Innerlichkeit“ darzustellen. Unter Berufung auf Adolf Bernhard Marx, den Krüger immer wieder als Referenz heranzieht: „Die Kunst darf, was sie kann; sie stellt dar, was in ihrem Bereich liegt, und nimmt von der Natur, nachahmend, verkürzend oder erweiternd, was ihrem Zwecke dient“ (z.  B. das Gewitter oder die Nachtigall in Beethovens Pastorale). Die Kunst gehe, statt eine reine Kopie der Natur zu sein, immer über die erste Natur hinaus, gebe „immer etwas mehr (und dies Etwas ist ein unendlich Großes!), als die blos daseiende Wirklichkeit giebt.“ (Krüger, 51) Das Mehr, so ließe sich dieser Gedanke explizieren, ist das Sichtbarmachen eines an der wahrgenommenen Oberfläche oft nicht sichtbaren Wesentlichen, eines größeren, sinnhaften Zusammenhangs. In diesem Sinn die naturpoetischen Erscheinungen (z. B. Rauschen des Waldes) als „nachzuahmende Grundlagen der Musik aufzufassen [...,] ist der Urquell wahrer Musik“. (ebd.)

16 Das „Technische“ entspricht der aristotelischen techné, in der Kunst und Handwerk zusammengefasst sind. Auf die bei Krüger angedeutete Kunsttheorie im Sinne der Nachahmungsästhetik, die den Begriff der Mimesis ins Zentrum stellt, kann hier nicht eingegangen werden.

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Die Gestaltung des Inneren durch das Äußere: quantitative und mathematische Verhältnisse Wie geht nun diese Naturgrundlage „in die künstliche Musik ein? Mathematische Verhältnisse bilden den Uebergang des Was in das Wie der Kunst.“ Die Innigkeit ist am Äußerlichsten (am Materiellen mit seinen, z. B. physikalischen, Gesetzen) zu haften gebunden, „an ein äußeres Gesetz“ – das gelte hier nicht weniger als in der Malerei mit ihren Gesetzen der Farbgebung, der Perspektive etc., in der Poesie mit der Grammatik und Syntax. „Jede Kunst enthält in sich ein Begrenztes und ein Unbegrenztes.“ In der Kunst ist Endliches und Unendliches, Äußeres und Inneres, Daseiendes und Nichtdaseiendes, auf das verwiesen wird, Einzelnes und Allgemeines vereint. Diese erscheinen der ersten Reflexion als unvereinbare Gegensatzpaare: die unbegrenzte Idee zusammen mit dem beschränkten Äußerlichen. Aber näher besehen „zeigt es sich, dass die Grenze, d. h. das Sinnliche [...] das eigentliche Mittel ist, durch welches jenes Unbegrenzte, der geistige Inhalt, hindurchleuchtet.“ (Krüger, 51) Hier klingt der für Hegels Dialektik zentrale Gedanke der Grenze an, der in der Logik (Hegel, Logik I, Werke 5, 131–139) ausgeführt wird: Die Grenze als Mittel, Vermittlung zwischen den Gegensätzen, als Schranke, als Begrenzung, als das Ende von diesem Etwas, aber eine gleichsam transparente Trennwand, durch die das Andere, alles Andere, das Unbegrenzte und zugleich der gesamte Möglichkeitsraum (Räumliches und Zeitliches) hindurch scheint. Beide Seiten oder Momente sind unentbehrlich: Das Begrenzte ist der todte Leib, wenn ihn nicht der Blitz der Seele durchleuchtend bewegt; das Unbegrenzte ist das Unfassbare und nichts besser als ein geistiges Nichts, sobald ihm die organische Gestalt fehlt, sich zu bethätigen und zu offenbaren.17 Die Aufgabe der Kunst ist, Leib und Seele, Begrenztes und Unbegrenztes dergestalt zu verschmelzen, dass Eines nur um des Anderen willen da ist, Eines nur im Anderen und durch das Andere lebt und wirkt. (Krüger, 51)

Auch hier wird wieder die Funktion der Grenze zwischen dem Etwas und dem (seinem!) Anderen deutlich: Die Grenze ist das Negative, das Ende aus Sicht des Etwas, und zugleich das Positive, der Anfang aus Sicht des Anderen. Sie ist der Umschlagpunkt, der Unruheherd, die „Front“ (Ernst Bloch), das

17 Das Wesen muss erscheinen (Hegel, Logik I, 2. Buch: Die Lehre vom Wesen, Werke 6), sich verkörpern.

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Bewegende, das weiter Weisende, Verweisende, die Tür zum Unabgeschlossenen, noch Ausstehenden, Künftigen.18 Indem, so Krüger, die Musik „das Räumliche selbst auflöst, indem sie es in bewegtes Zittern versetzt [, hat sie] ihre Unbestimmtheit ausgesprochen.“ Sie scheint aller körperlichen Beschwerde enthoben und hierdurch „in das Grenzenlose, Unbestimmt-unfaßbare zu verlaufen. Die Bestimmtheit in ihr ist nun eben jenes mathematische Verhältniß, das die Begrenztheit der schönen Künste in sie hineinbringt.“ (ebd.) Musik als die Kunst des verschwindenden Tons sei die flüssigste aller Künste. Sie bediene sich des allgemeinsten Organs oder Mittels zu ihrer Darstellung: der Mathematik19 (Krüger, 53). Der Musiker setze bestimmte Erfahrungen voraus (z. B. des Naturlebens), die er in seine Sprache übersetzt. Musik habe Elemente des Architektonischen, z.  B. die Form der regelmäßigen Symmetrie. So wie die Architektur „gefrorene Musik“20 genannt wurde, könne man auch Musik als „flüssig gewordenes Gebäude“ (Krüger, 54) bezeichnen. Überall walte in der Musik das quantitative Verhältnis, bei Tönen, im Rhythmus und Takt.21 Die Zeitlichkeit der Bewegung rufe das Bedürfnis nach einem Angelpunkt hervor: die Gleichförmigkeit in der Wiederholung derselben Zeiteinheit, das Prinzip von Takt und Rhythmus. (Das Fließende verlangt nach etwas ‚Festem‘, nach Regelmäßigkeiten.) Das Lebendige aber habe immer einen Überschuss; es lasse sich nicht in mechanischen Formeln „mensurieren“ (maßregeln): daher gebe es immer auch Abweichungen von der Norm. „Die Idee des Rhythmus ist das sinnlich angeschaute Gleichgewicht [...], die Wechselbeziehung der Teile“. Ein Grundgesetz des bewegten Rhythmus (z. B. der Wellenschlag) sei die Zweizahl als Ausgangspunkt wie Licht und Schatten, Arsis und Thesis (betont-unbetont). Die Zwei als Urverhältnis gebäre aus sich die Erweiterung, den erfüllten Ge18 Systemtheoretisch betrachtet: Eine Grenze, Umgrenzung hält Bestimmtes (z. B. eine Zelle oder eine Familie) als System zusammen, ist aber zugleich die Verbindung zur Umwelt, mit der das jeweilige System notwendig im Austausch steht, z. B. in einem Stoffwechselprozess (etwa über die Membran einer Zelle), letztlich also zur übrigen Welt, zum Universum, das hier als das Unbegrenzte ‚erscheint’. 19 Die Notation einer musikalischen Komposition kann man vielleicht vergleichen mit einer komplexen mathematischen Formel, einem Beweisgang, einer geometrischen Zeichnung oder mit dem Bauplan eines Architekten. 20 Zur Begriffsgeschichte der Metapher und ihre Verwendung u. a. bei Friedrich Schlegel, Goethe oder Schopenhauer siehe: Khaled Saleh Pascha, Gefrorene Musik. Das Verhältnis von Architektur und Musik in der ästhetischen Theorie. Dissertation. Technische Universität Berlin 2004. 21 Vgl. bei Hegel die Einheit von Quantität und Qualität in der Kategorie des Maßes, das Maß als quantifizierte Qualität oder qualifizierte Quantität, eine dialektische Grundform (Hegel, Logik I, Werke 5, 387 ff.).

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gensatz, die Drei (Tripel-Rhythmus) etc. Aus dieser Regelmäßigkeit folge ein großer Teil der Kunstgesetze, was Krüger am Beispiel der Fuge veranschaulicht (Krüger, 54 f.). Was Hegel mitunter als das bloß Technische abtue, sei konstitutiv für das Kunstwerk, weil es eben um das Wie der Übersetzung eines Inhalts in die künstlerische Form gehe. – Der Inhalt, z.  B. in Gestalt eines Themas, wird in vielfachen Ansichten, Perspektiven, Gestalten gezeigt und dadurch erst in seiner reichen Wirklichkeit, einschließlich seiner ihm innewohnenden Möglichkeiten.22 Dem technischen Wiederholungs-Rhythmus entspreche in der Poesie Reim, Vers, Strophe. Dies architektonische Prinzip sei die „Hülle des Geistes, aber des tönend bewegten, welcher in der Musik erst seine ganze Erfüllung findet.“ Der Rhythmus als „energisch waltendes Lebensgesetz“ gehöre überall den vollkommeneren Erscheinungen an. (Man kann dabei etwa an den Pulsschlag, an Ein- und Ausatmen denken.) In der Musik sei das Rhythmische am vollständigsten ausgebildet; seine Quelle sei die Naturnotwendigkeit. Schon der Ton an sich als „Urphänomen der akustischen Reihe“ werde rhythmisch hervorgebracht: durch die zitternde Saite, die Vibration (Krüger, 57). Krügers Resümee: Musik symbolisiert das „tönend bewegte Leben“ Genuss und Erkenntnis sei in der Tonkunst mehr als in anderen Künsten eins, „in sofern sie ihrem Wesen nach zeitlich hinströmendes Leben ist.“ (ebd.) Aber die genauere Einsicht erfordere ruhige Wiederbetrachtung. Dies könne der Erfahrene durch das Lesen der Noten erreichen, während der Nichttechniker auf die stetige Reproduktion angewiesen sei. Die Reproduktion sei „niemals frei vom erneuerten mitempfindenden Genusse, von der erregenden Gewalt des gegenwärtigen Lebens.“ Die Musik sei „ohne lebendige Gegenwart, ohne nächstes jetziges Wirken auf das Ich, durchaus unfassbar.“ (Krüger, 57 f.) Krüger resümiert, indem er, seiner religiösen Grundeinstellung entsprechend, das Naturhafte mit dem Göttlichen verknüpft: Die „Welt der bewegten 22 Wie z. B. eine Lektüre der Logik zeigt, analysiert Hegel ein Problem, ein Verhältnis tendenziell in allen seinen Aspekten und Facetten, spielt es durch – vergleichbar einem Komponisten, so wie z. B. Beethoven in seiner Klaviersonate op. 111 ein Motiv durchspielt, verwandelt, alle in ihm liegenden Möglichkeiten sichtbar macht. Vgl. dazu die auf eine Anregung von Theodor Wiesengrund Adorno zurückgehende Passage in Thomas Manns Roman Doktor Faustus, wo Wendell Kretzschmar dies am Arietta-Thema der Sonate op. 111 beschreibt. Thomas Mann, Doktor Faustus, Frankfurt a. M. 1986, S. 53–59.  

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Seele und das geheime Walten des göttlichen Naturlebens, ist der Inhalt der Tonkunst.“ (Krüger, 58) Und weiter: Die Musik erfüllt ihr eigenes Gesetz, wenn sie die bewegte Welt symbolisch in ihre rhythmischen und harmonischen Formen übersetzt. [...] So ist die Musik das symbolisierte Tönen, das Symbol des tönend bewegten Lebens und ihr Ziel ist, diese Symbolik zu möglichster Klarheit und Mannigfaltigkeit darzustellen. (ebd.)

– Das Wie der Übersetzung des Inhalts (das Innere des Ichs und das Äußere der Welt) in Kunst geschieht in den Spezifika (als des Mediums) der jeweiligen Kunstform, z. B. im Falle der Musik in Rhythmus, Harmonie, Melodie. In den Spezifika der Kunstgattungen erscheint der Inhalt, in ihnen wird er repräsentiert, symbolisiert. Die Künste sind nur verschiedene Weisen der Darstellung der Wirklichkeit, nicht das Ganze; sie zeigen jeweils verschiedene Seiten von ihr, unvermeidbar in perspektivischer Sicht. – So habe die Musik ihre Stärke z. B. darin, die subjektive Regung anzuzeigen, die „lachende Träne“, kurz alles, „was das Wort nur andeuten, nicht beenden kann, weil es wieder in das Nebelreich der unendlichen Subjectivität hinüberschimmert: dieses zu ergänzen ist die Tonkunst nicht blos fähig, sondern in gewissem Sinne allein im Stande.“ (Krüger, 58) Dieses Unsägliche sei eher ein Gegenstand der „Ahnung“, als der klaren Erkenntnis. Hier weiter zu kommen, so Krüger, wäre die Aufgabe einer angewandten empirischen Psychologie. An dem Wie der Kunst gelte es, weiter zu arbeiten – über Hegel hinaus. (Krüger, 59) Für Hegel wie für Krüger vereint Musik die innerste Subjektivität zugleich mit ihrer Sozialität: Die subjective Erregung, welche die unterscheidende Wirkung der Tonkunst ausmacht, weckt sodann das Bedürfnis der Theilnahme, des Mitlebens und Mitsingens, die Musik ist geselliger als die Plastik, von allen die menschlich geselligste Kunst. (Krüger, 67; vgl. Hegel, Ästhetik III, 155)

– Weil Musik vielleicht die am meisten soziale Kunstform darstellt, ist ihre gesellschaftliche Bedeutung nicht zu unterschätzen – für die Sozialisation der Individuen wie für die Ideologiebildung einer Gemeinschaft. Nicht umsonst wird das harmonierende Musizieren (z. B. eines Orchesters) mit der Vielzahl verschiedener Stimmen und Instrumente mit unterschiedlichen Funktionen im Ganzen auch als Metapher benutzt für das arbeitsteilige Zusammenwirken der Mitglieder einer Gesellschaft im Zusammenspiel von Konsonanz und Dissonanz, Kooperation und Konflikt. Für Krüger ist Inhalt der Musik der

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Spiegel des ringsum kreisenden Lebens, wie es die Menschenseele reflectiert und in seliger Schönheit wiederbringt. Alle die Empfindungen und Wirkungen, welche den übrigen einseitigen Künsten zukommen, finden sich auch im Gebiete der Musik wieder [...], alle diese giebt die Tonkunst in ihrer Weise, nach der Kraft des bewegten flüssigen Luftelementes dem menschlichen Ohre zum Genuß. (Krüger, 69)

Von ihr sei nicht zu erwarten, dass sie sittliche oder philosophische Wirkungen hervorbringe, sondern sie erfüllt ihren Beruf, wenn sie die Bewegung des innersten Lebens darstellt [...]. Das Ziel der Tonkunst ist der Ausdruck seliger Versöhntheit, seliger Schönheit, und selbst in den Kunstwerken schmerzlichen oder negativen Inhalts die selige Erfüllung des Ich, das die tieffsten Schmerzen in seinem innersten Wesen nachlebt und im fortwallenden Strome der Töne sich selbst wiederfindet, indem es mitthätig, nachklingend den Hauch des luftigen Gebildes nachhaucht. (Ebd.; vgl. Hegel, Ästhetik III, 151 f., 193, 198 f., etc.)

Die Kunst offenbare sich nur dem Liebenden, wie sich der Gedanke nur dem Denkenwollenden eröffne, „so ist das Reich der Töne nur dem zugänglich, der seine Empfindung mit Willen und Bewusstsein hinzubringt.“ (Krüger, 69) Schluss Für Hegel besitzt die Musik als eine der ‚romantischen‘ Kunstgattungen ihr Spezifikum darin, dass sie das ‚subjektive Innere‘ zum Gegenstand hat und in ihrer Äußerung des ‚bewegten Inneren‘ als zeitliches Verklingen und Vergehen keine ‚räumlich bleibende Objektivität‘ hervorbringt. Da für ihn der Geist hingegen sich nicht nur im ‚Subjektiven‘, sondern auch im ‚Objektiven‘ zu manifestieren bestrebt ist, kann Hegel in der Begrenzung der Musik auf die Innerlichkeit des geistigen Subjekts einen Mangel sehen, eine gewisse Inhaltsleere bzw. eine Unbestimmtheit des Inhalts. Hier hakt Krüger mit seiner Kritik ein. Für ihn ist der Inhalt der Musik nicht unbestimmt und leer, sondern vielmehr erfüllt vom Reichtum des ‚tönend bewegten Lebens‘ in seiner ganzen Mannigfaltigkeit, vom ‚Menschlichen‘ bis zur ‚außermenschlichen Natur‘. Er schreibt, dass Hegel die Frage nach der Fähigkeit der Musik, einen Inhalt auszudrücken, im Grunde umgangen oder nur angedeutet habe. Dies führt er darauf zurück, dass es Hegel an der fachlichen, nicht zuletzt handwerklich-technischen Kompetenz eines Musik Praktizierenden mangelte (was Hegel in der Tat selbst immer wieder als seine Grenzen auf diesem Gebiet betont hatte), dass er es von daher nicht vermochte, den Weg von einem inhaltlichen Was (wozu Hegel im Übrigen,

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entgegen seiner These von der Unbestimmtheit der Musik, doch selbst einiges zusammengetragen hatte) zu dem Wie der musikalischen Gestaltung dieses Inhalts konkret nachzuvollziehen. Folgt man diesem Argument, dann ließe sich trotz mancher Differenzen die Krügersche Kritik in Teilen auch als Versuch einer Konkretisierung der Hegelschen Musikphilosophie lesen. Zwar würde Hegel sich sicher nicht mit dem Konstatieren des ‚Unsäglichen‘ zufrieden geben, weil für ihn der Geist prinzipiell imstande ist, alles zu durchdringen und auf den Begriff zu bringen, wenn auch nicht ohne angestrengteste, ‚saure Arbeit‘. Aber dort, wo Hegel (vielleicht z. T. mangels hinreichender musikalischer Fachkompetenz) bei der Feststellung der ‚Inhaltsleere‘ der Musik stehen blieb, mochte ein intimer Kenner auch des praktischen Musizierens durchaus nicht innehalten, sondern seinerseits einige erfahrungsgesättigte Gedanken beizusteuern imstande sein zur wenigstens teilweisen Ausfüllung jener Leerstelle. Und so könnten dessen Überlegungen eventuell auch zum besseren Verständnis des Diktums beitragen, das am Beginn und im Zentrum des oben erwähnten vierten Mendelssohn-Salons gestanden hatte: „Das, was mir eine Musik ausspricht, die ich liebe, sind mir nicht zu unbestimmte Gedanken, um sie in Worte zu fassen, sondern zu bestimmte [...]“23 Damit ließe sich Krügers Kritik als ein Beitrag zur weiteren Klärung der Frage begreifen, was der Inhalt der Musik ist. Krüger, der im 19. Jahrhundert für die klassischen Formen mit ihren ‚ewigen Prinzipien‘ kämpfte, wurde, so in Hoppenraths Arbeit, als Vertreter eines Musikverständnisses „zwischen Schumannscher Tradition und Neudeutscher Schule“ charakterisiert. Unbeschadet aller Kritik an Hegel teilte er aber mit diesem eine Musikästhetik, wie sie durch die klassisch-harmonische Tradition damals als selbstverständlicher zeitgeschichtlicher Kontext vorausgesetzt  wurde. Vor dem Hintergrund der weiteren Entwicklung in der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts ist die Frage nach dem „Inhalt“ der Musik neu zu stellen.24

23 Aus dem Brief Felix Mendelssohns vom 15.10.1842 aus Berlin an Marc André Souchay in Lübeck auf die Frage von Herrn Souchay, was seine Lieder ohne Worte bedeuten, in: Briefe aus den Jahren 1830–47, hrsg. von Paul und Carl Mendelssohn Bartholdy, Leipzig 1863, Bd. II, S. 346 ff. 24 Zu einem aktuellen musikphilosophischen Deutungsversuch auch der neueren Musik, exemplifiziert besonders an John Cage und Helmut Lachenmann, vgl. Albrecht Wellmer, Versuch über Musik und Sprache, München 2009.

Bettina Knauer

Kunst – Geselligkeit – Räume Die Novelle als Experimentierfeld Wir sind gewohnt, die ‚eigentliche‘ Musik in der Partitur zu suchen, die ‚eigentliche‘ Dichtung im Druckwerk. „Der konkrete und geistige Raum“, so Beatrix Borchard, „in dem Musik und für den Musik entstanden ist, die Menschen, die mit einem solchen Raum verbunden sind, werden bei einer solchen Betrachtungsweise außer Acht gelassen – für mich aber ist der Raum, sind die Menschen Teil der Musik und der Dichtung selber.“1 Ich nehme Beatrix Borchards Perspektive zum Ausgangspunkt, um Geselligkeitskonzepte des 18. und 19. Jahrhunderts daraufhin zu untersuchen, wie sich allgemein in diesen Raum, dessen Wahrnehmung und, davon beeinflusst, das Miteinander der Menschen manifestiert und welchen Stellenwert der Raum neben der Präsentation und Diskussion von Kunstwerken hat. Ziel ist, Umbrüche von der Goethezeit bis zum Frührealismus zu skizzieren, von einer eher raumlosen, idealistischen Konzeption hin zu Geselligkeitsentwürfen, bei denen die Ästhetik verschiedener Räume, Interieurs, soziale und kulturelle Prägungen, Milieus, Parteiungen und Vorlieben die Bedingungen des Miteinanders wesentlich mitbestimmen. Meine Textgrundlage wird die Novellistik bilden. Neben den wenigen einschlägigen Theoretisierungen wie Friedrich Daniel Schleiermachers Versuch einer Theorie des geselligen Betragens von 1799, den publizierten Gesprächen wie Friedrich Schlegels Gespräch über die Poesie (1800) und natürlich den Zeugnissen, die uns Einblick in die konkrete Geselligkeitspraxis in den romantischen Salons geben, muss die Novellistik der Goethezeit in die Erforschung der Geselligkeitskonzepte einbezogen werden.2 Dabei beschränke ich mich nicht auf die dezidiert ausgeführten Rahmenhandlungen wie z. B. Ludwig Tiecks 1 Beatrix Borchard, Einleitung, in: Mendelssohn-Salons, Programmheft zur Veranstaltungsreihe anlässlich des 200. Geburtstags von Felix Mendelssohn Bartholdy an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg, April–Juli 2009, Leitung: Beatrix Borchard, S. 7. 2 Zur Einbeziehung der Novellistik und der fiktiven Gespräche in eine Theorie und Geschichte des Salons siehe den Sammelband: Salons der Romantik. Beiträge eines Wiepersdorfer Kolloquiums zu Theorie und Geschichte des Salons, hrsg. von Hartwig Schultz, Berlin, New York 1997.

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Phantasus (1812–1816), in der „redende Personen“ auftreten, um die vorgelesene Literatur „zu beleben“ und „in Gesprächen mancherlei [zu] entwickeln“3, sondern beziehe mit Clemens Brentanos Die mehreren Wehmüller und ungarischen Nationalgesichter (1817) und Eduard Mörikes Mozart auf der Reise nach Prag (1855) Werke ein, bei denen die ehemaligen Rahmenfunktionen in das Binnengeschehen der Novellen transformiert sind.4 Hier gibt es keine formal eindeutig definierte Trennung mehr zwischen Rahmen- und Binnenhandlung, vielmehr werden die ursprünglichen Rahmenfunktionen, Gespräche und Geselligkeit als situative Bedingungen novellistischen Erzählens von innen heraus problematisiert und neu konstituiert. Topografische Zentren bilden dabei unterschiedliche Häuser. Diese sind durch literarische Topoi besetzt oder produziert, aber zugleich auch als soziale Räume kodiert. Zunächst in Anknüpfung an Giovanni Boccaccios Decamerone sind dies vorrangig Landhäuser (Goethe, Arnim), dann, die veränderte Problemlage novellistischen Erzählens in der bürgerlichen Gesellschaft reflektierend, Privathäuser, Stadthäuser, Zimmer, Dachstuben (Tieck), und schließlich auch Wirtshäuser, Festsäle, Gärten, die freie Natur (Arnim, Brentano, Mörike). Es wird zu zeigen sein, wie mit dem Bewusstsein für die Ästhetik von Räumen ein neues, transgressives Zusammenspiel von Kunst und Geselligkeit entsteht. Die bürgerliche Novellistik beginnt mit Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1795), in denen zwei Geselligkeitskonzepte nebeneinander stehen. Ein Konzept, das in Analogie zur Ästhetik des „interesselosen Wohlgefallens“ entworfen ist und ein Konzept, in dem die Kategorie des Interessanten vorherrscht und in dem Privatinteressen und Umgebung dem Miteinander eine andere Lebendigkeit geben. Goethe formiert nach dem Archetypus der Novellistik, Boccaccios Decamerone,5 eine Rahmengesellschaft, die mit dem Zusammenleben auf dem Land sich vor dem Andrängen der politischen Tagesereignisse – man befindet sich auf der Flucht vor der französischen Revolutionsarmee – zu schützen sucht. Die Baronesse, Gesetzgeberin der kleinen Gruppe, setzt den Zeitläufen ihr Programm der geselligen Bildung entgegen: 3 Ludwig Tieck über die Rahmenerzählung im Vorbericht zu seiner ersten Lieferung des Phantasus. Zit. nach: Ludwig Tieck, Dichter über ihre Dichtungen, hrsg. von Uwe Schweikert, München 1971, S. 269. 4 Zum Inversionsprozess der ursprünglichen Rahmenfunktionen in das Binnengeschehen der Novellen siehe Bettina Knauer, „Im Rahmen des Hauses. Poetologische Novellistik zwischen Revolution und Restauration“, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft XLI, Stuttgart 1997, S. 140–169. 5 Zur Nachahmung des Archetypus – Boccaccios Decamerone – in der bürgerlichen Novellistik vgl. Hannelore Schlaffer, Poetik der Novelle, Stuttgart 1993.

Kunst – Geselligkeit – Räume

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[V]ielleicht haben wir nie nötiger gehabt, uns aneinander zu schließen und, wäre es auch nur wenige Stunden des Tages, uns zu zerstreuen. Laßt uns dahin übereinkommen, daß wir, wenn wir beieinander sind, gänzlich alle Unterhaltung über das Interesse des Tages verbannen!6

Die oberste Maxime heißt „Schonung“.7 Die Baronesse verlangt die Anerkennung eines gemeinsamen Sinnes, dass „Gleichgesinnte sich im stillen zueinander fügen und sich angenehm unterhalten, indem der eine dasjenige sagt, was der andere schon denkt.“8 Sie fordert: „Bietet alle eure Kräfte auf, lehrreich, nützlich und besonders gesellig zu sein! Und das alles werden wir – und noch weit mehr als jetzt – benötigt sein, wenn auch alles völlig drunter und drüber gehen sollte.“9 Sich „angenehm unterhalten“ meint hier ein Gesprächskunstwerk, in dem Geselligkeit, Sittlichkeit und Schönheit zusammenspielen.10 Schiller hat das Nämliche in der Ästhetischen Erziehung (1795) als „schöne Mitteilung“ bezeichnet: Alle anderen Formen der Mitteilung trennen die Gesellschaft, weil sie sich ausschließend entweder auf die Privatempfänglichkeit oder auf die Privatfertigkeit der einzelnen Glieder, also auf das Unterscheidende zwischen Menschen und Menschen beziehen; nur die schöne Mitteilung vereinigt die Gesellschaft, weil sie sich auf das Gemeinsame aller bezieht.11

Auf die Frage, wo der Ort dieser „schönen Mitteilung“ denkbar sei, nennt Schiller „die reine Kirche“, „die reine Republik“, auch „in einigen wenigen auserlesenen Zirkeln“ wäre er zu finden;12 Goethes Landhausgesellschaft der Ausgewanderten kann dazu gezählt werden. Sie sind zusammengerufen, einen 6 Johann Wolfgang von Goethe, Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, in: Goethe Werke – Hamburger Ausgabe, 14 Bde., hrsg. von Erich Trunz, München 1993, Bd. 6, S. 139. 7 Ebd., S. 138. Das Schonungstheorem findet sich auch in Friedrich Schleiermachers „Versuch einer Theorie des geselligen Betragens“, auch dort als Gesetz ausgegeben, nahezu analog zur Formulierung der Goetheschen Baronesse. Damit „alle Mitglieder einander gegenseitig aufregen und belehren“, ist eine Vereinbarung zu treffen, die „besagt, daß nichts angeregt werden soll, was nicht in die gemeinschaftliche Sphäre Aller gehört.“ Friedrich Daniel Schleiermacher, „Versuch einer Theorie geselligen Betragens“, in: ders., Werke. Auswahl in vier Bänden, hrsg. von Otto Braun und Johannes Bauer, 2. Neudruck der 2. Aufl. von 1927, Aalen 1981, Bd. 2, S. 10 und 12. 8 Goethe, Unterhaltungen (vgl. Anm. 6), S. 137. 9 Ebd., S. 139. 10 Vgl. Gert Ueding, „Gesprächsgesellschaft in Utopia. Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“, in: Johann Wolfgang von Goethe, Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, Frankfurt a. M. 1987, S. 169–192, hier S. 179. 11 Friedrich Schiller, Sämtliche Werke, hrsg. von Gerhard Fricke und Herbert G. Göpfert, München 1984, Bd. 5, S. 667. 12 Ebd., S. 669.

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idealischen Kunstraum zu stellen und dieser ist ,rein‘, absolut, zeit- und ortlos konzipiert, sodass die Geselligkeit selbst den Charakter von Kunst annimmt. Auf Schilderung von Landschaft, Architektur oder des Interieurs in diesem Landhaus wird verzichtet – mit einer Ausnahme, auf die ich noch zu sprechen komme. Selbstbeschränkung wird dem Kreis auferlegt, die „Anerkennung eines gemeinsamen Sinns“ verlangt, die Ausblendung von Privatinteressen, Neuigkeiten und Leidenschaften ist Gesetz, ein distanzierendes Urteil wird unterstützt, emotionale Parteilichkeit restringiert. Noch einmal in den Worten der Baronesse: Wir wollen uns angenehm unterhalten, indem der eine dasjenige sagt, was der andere schon denkt. Auf euren Zimmern, auf Spaziergängen, [….] eröffne man seinen Busen nach Lust, man lehne sich auf diese oder jene Meinung, ja man genieße recht lebhaft die Freude einer leidenschaftlichen Überzeugung13

– aber dies, so lässt sich folgern, bitte nicht, wenn mehr als zwei beieinander sind. Dieses Geselligkeitskonzept ist in Analogie zum Autonomiekonzept der Kunst entworfen, in dem das „schöne Gespräch“ im Wesentlichen auf der Urteilsästhetik fußt, dem freien Spiel der Einbildungskraft mit dem Ziel „interesselosen Wohlgefallens“ (Kant). Alles was Privatinteresse, Leidenschaft, Empfänglichkeit ist, macht nach Kant das ästhetische Urteil unmöglich. Mit dem „schönen Gespräch“ aber ist ein „Ethos frei gewählter Distanz zu den Zwängen und Nöten der natürlichen wie sozialen Umwelt“ gegeben, das letztlich freilich elitär und nur von einer dominierenden Klasse gehalten werden kann, wie Pierre Bourdieu bilanzierte.14 Heinrich Heine hat eine so definierte elitäre Klasse als Kunst- und Bildungsbeflissene am Teetisch karikiert: Sie saßen und tranken am Teetisch. Und sprachen von Liebe viel. Die Herren waren ästhetisch, Die Damen von zartem Gefühl. […] Am Tische war noch ein Plätzchen; Mein Liebchen, da hast du gefehlt. Du hättest so hübsch, mein Schätzchen, Von deiner Liebe erzählt.15 13 Goethe, Unterhaltungen (wie Anm. 6), S. 137. 14 Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a. M. 1982, S. 24. 15 Heinrich Heine, Buch der Lieder, in: Düsseldorfer Ausgabe, Bd. 1/1, bearbeitet von Pierre Grappin, Hamburg 1975, S. 182 f.

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Aufgrund von Standesdünkel ist das „Schätzchen“ in diesem Salon nicht erwünscht; zudem hätte seine Sprache und Liebeserfahrung das „schöne Gespräch“ über die Liebe empfindlich gestört. Auch der Kontext für Goethes Unterhaltungen ist elitär, ist doch das Werk für das Programm der mit Schiller herausgegebenen Horen gedacht, und diese sind – wie Wulf Segebrecht resümiert – „gleichsam das Landgut, auf das sich die exklusive Gesellschaft der Klassiker zurückziehen kann“.16 Exklusiv heißt, die Gruppe aus bestimmten Funktionen der Gesellschaft zu entlassen und als „reine Republik“ von Künstlern und Kunstverständigen zu verselbständigen.17 Doch nun zum zweiten Geselligkeitskonzept in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten: Während draußen Zeit und Raum entfesselt sind, die Welt sich im Umbruch befindet, wird im Landhaus selbst bei geringfügigem ‚Hin- und Wider‘ „wo nicht […] Frieden, doch wenigstens […] Stillstand“ verordnet.18 Das für die Einhaltung des Gesetzes zuständige Personal, die Baronesse von C. und der Alte, ein Geistlicher, der als Haupterzähler fungiert und mit „alten Büchern und Traditionen“19 das Kunstprogramm wesentlich bestreitet – dezidiert ohne einen „Reiz der Neuheit“20 – ist nicht nur namenlos, sondern erscheint auch seltsam körper- und bewegungslos und gegen Wahrnehmungen wie abgedichtet. Bei den jüngeren Ausgewanderten, Luise, die ihren Bräutigam im Gefecht vermutet, und ihrem Vetter Karl, der mit den Franzosen sympathisiert, stößt das verordnete Desinteresse an den Weltbegebenheiten auf wenig Resonanz. Schnippisch, ironisch, scherzend, ernst und auch vorwurfsvoll versuchen sie, Einspruch zu erheben, mit wenig Erfolg, bis ihnen ein Zufall zur Hilfe kommt. Auf die Erzählung von einem unheimlichen Pochgeräusch, das die Schritte eines Mädchens begleitete, lässt auf ein16 Wulf Segebrecht, „Geselligkeit und Gesellschaft. Überlegungen zur Situation des Erzählens im geselligen Rahmen“, in: Germanisch-Romanische Monatsschrift, NF 25, 1975, S. 306–322, hier S. 310. 17 Auf die Interdependenzen zwischen fiktionalen Entwürfen von Geselligkeit, den Theorien der Geselligkeit und den realen Salons insbesondere in Berlin kann hier nicht ausführlich eingegangen werden. Angemerkt sei, dass auch Schleiermacher sich an der exklusiven Gesellschaft der Weimarer orientiert, sie ist eine Form ästhetisch-moralischer „Vergesellschaftung […], die neben einer Welt des instrumentellen Handelns, der äußeren Zwecke“ steht, und der „gegenüber sie die wahre Gesellschaft ist.“ Vgl. Andreas Arndt, „Geselligkeit und Gesellschaft. Die Geburt der Dialektik aus dem Geist der Konversation in Schleiermachers Versuch einer Theorie des geselligen Betragens“, in: Schultz, Salons der Romantik (wie Anm. 2), S. 45–61, hier S. 58. 18 Goethe, Unterhaltungen (wie Anm. 6), S. 133. 19 Ebd., S. 145. 20 Ebd., S. 142 f.

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mal ein „sehr starker Knall sich hören“.21 Ein Schreibtisch, bisher „als Muster einer vortrefflichen und dauerhaften Tischlerarbeit gerühmt und vorgezeigt“,22 ist plötzlich durch einen tiefgehenden Riss gezeichnet. Bemühungen, einen rationalen Grund zu finden, bringen keine Erklärung. In die Gruppe kommt Bewegung, Türen öffnen sich, durch die ein Diener „mit Hast“23 hereinkommt und von einem Feuer berichtet, Fritz eilt „auf das Belvedere des Hauses“24 und erspäht, dass das nahe gelegen Gut der Tante vom Feuer vernichtet worden ist. Man erinnert sich, dass in ihrem Gut ein „gleiche[r] Schreibtisch stand, „zu Einer Zeit, aus Einem Holze mit der größten Sorgfalt von Einem Meister verfertigt“.25 Und man versteigt sich zu der Annahme – auch dies eine Abwehrhaltung, um sich der Kontingenz nicht ausgesetzt zu sehen – dass hier nicht ein Zufall am Werke war, sondern eine „unleugbare Sympathie zwischen Hölzern“26 sich manifestiere. Karl bringt die Diskussionen schließlich zum Abschluss: Überhaupt […] scheint mir, daß jedes Phänomen so wie jedes Faktum an sich eigentlich das Interessante sei. […] eine einzelne Handlung oder Begebenheit ist interessant, nicht weil sie erklärbar oder wahrscheinlich, sondern weil sie wahr ist. Wenn gegen Mitternacht die Flamme den Schreibtisch der Tante verzehrt hat, so ist das sonderbare Reißen des unsern zur gleichen Zeit für uns eine wahre Begebenheit, sie mag übrigens erklärbar sein und zusammenhängen mit was sie will.27

Ich habe diesen Zwischenfall so ausführlich rekapituliert, da hier Goethe mit Karls Resümee ein zweites Geselligkeits- und Kunstkonzept einführt, das nicht auf dem Prinzip der „Schonung“ beruht respektive nach dem „interesselosen Wohlgefallen“ strukturiert ist, sondern nach dem Prinzip des Interessanten.28 Ein Geselligkeitskonzept, in dem nun dem „reinen“, absoluten 21 22 23 24 25 26 27 28

Ebd., S. 159. Ebd. Ebd., S. 160. Ebd. Ebd., S. 160 f. Ebd., S. 161. Ebd. Es läge nahe, in diesem Zusammenhang Friedrich Schlegels Begriff des Interessanten, wie er ihn fast zeitgleich zu Goethes Unterhaltungen im Aufsatz „Über das Studium der griechischen Poesie“ (1795/96) diskutiert, einzubeziehen. Interessantheit meint bei Schlegel die „rigorose Freisetzung der sinnlichen, imaginativen […] Impulse im Medium der Kunst“, wodurch zerrissene, disharmonische Formen entstehen. Eberhard Ostermann erläutert: „War die Überwindung der Wirkungsästhetik und damit die Abkoppelung des Ästhetischen vom Rhetorischen auf den Begriff der Interesselosigkeit gegründet, so deutet sich darin die Möglichkeit der Entbindung eines ursprünglichen

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Kunstraum ein Raum gegenübergestellt ist, in dem Zufall, Präsenz, sinnlich konkrete menschliche Berührungen, Bewegung, Empfänglichkeit und auch Empfindlichkeiten das Miteinandersein bestimmen und in dem sich „Schonung“ nicht mehr als oberstes Gesetz halten lässt. So unterläuft zum Beispiel Karl, unmittelbar nachdem der „stark[e] Knall“ vernommen wurde, ein faux pax, indem er scherzend-schonungslos bemerkt: „,Es wird sich doch kein sterbender Liebhaber hören lassen?‘ Er hätte gewünscht, seine Worte wieder zurückzunehmen, denn Luise ward bleich und gestand, dass sie für das Leben ihres Bräutigams zitterte.“29 Mit dem Riss im Schreibtisch wird die Gesellschaft zu einer Erlebnisgemeinschaft; der Schutzraum bricht auf, man sieht sich verpflichtet, das zu verarbeiten, „was wirklich geschehen ist“.30 Zerrissenheit – man darf den Riss im Schreibtisch durchaus als Metapher verstehen – und Verwirrung machen sich breit. Zugleich aber tritt die gesellige Runde in ein Wahrheits- und Wirklichkeitsgeschehen ein. Das Landhaus wird ihnen plötzlich als eine räumliche und sozial relevante Realität bewusst. Gernot Böhme hat solche Raum- und Wirklichkeitserfahrungen in seiner Ästhetik der Atmosphäre skizziert und diese der Urteilsästhetik seit Kant entgegenstellt. Eine Ästhetik der Atmosphäre rückt die Wahrnehmung ins Zentrum. „Wahrnehmung ist ein Anregungszustand, eine Energeia, ein Wirklich-Sein: wahrnehmend wird man sich seiner selbst als anwesend in einer Umgebung inne. Wahrnehmung ist geteilte Wirklichkeit.“31

ästhetischen Wirkungsvermögens an“. Eberhard Ostermann, „Das Interessante als Element ästhetischer Authentizität“ (5.2.2004), in: Goethezeitportal http://www.goethezeit portal.de/db/wiss/epoche/ostermann_interessante.pdf, 26.1.2010. S.  15. Zur Zeit des Studium-Aufsatzes schwankt Schlegel in der Bewertung des Interessanten, sieht darin eher ein Krisensymptom in der Kunst und präferiert die organisch geschlossene Ganzheit der Goetheschen Ästhetik. Mit der Witz-Theorie des Athenäums wird er das Interessante wieder aufnehmen und im Vermögen des Witzes die Vermittlung des Systemlosen und Zerrissenen mit dem Systematischen und der Ordnung identifizieren. Der Witz „muß ordentlich systematisch sein, und doch auch wieder nicht; bei aller Vollständigkeit muß dennoch etwas zu fehlen scheinen, wie abgerissen“. Schlegel spricht auch von einem „architektonischen“ Vermögen des Witzes, dem es gelinge auf Basis radikaler Heterogenität ein neues Allgemeines, kurz: Geselligkeit zu begründen. In: Friedrich Schlegel, Athenäums-Fragment 383, Kritische-Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hrsg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner, München, Paderborn, Wien 1958 ff., Bd. 2, S. 112. 29 Goethe, Unterhaltungen (wie Anm. 6), S. 159. 30 Ebd., S. 208. 31 Gernot Böhme, Atmosphären. Essays zur neuen Ästhetik, Frankfurt a. M. 1995, S. 177.

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Schonung, Schönheit und „interesseloses Wohlgefallen“ sind die Leitkategorien, die das Geselligkeitskonzept der Baronesse zusammenfassen: Präsenz, Unmittelbarkeit, Neuigkeit, Wahrheit und das Interessante die Kategorien, die Karls und Luisens ‚Gegenkultur’ umschreiben könnten. Goethe stellt in den Unterhaltungen beide Konzepte nebeneinander ohne sie zu vermitteln. Vielmehr – und das ist eine „literaturgeschichtliche Innovation“ 32 – wechselt er die Gattung und beendet das novellistische Erzählen mit einem Märchen, einem Werk, so der Alte, das „wir ohne Forderungen genießen“ können.33 Geselligkeit und Kunst werden nach dem Zwischenfall nun mit rigoroser Geste ganz und wie für immer aus der sozialen Welt in die Einbildungskraft verlagert. Denn diese muß sich […] an keinen Gegenstand hängen, sie muß uns keinen Gegenstand aufdringen wollen, sie soll, wenn sie Kunstwerke hervorbringt, nur wie eine Musik auf uns selbst spielen, uns in uns selbst bewegen, und zwar so, daß wir vergessen, dass etwas außer uns sei, das diese Bewegung hervorbringt.34

Nur ohne Leidenschaften und Privatinteressen, nur ohne räumlich-gegenständliche Fixierung ist das freie Spiel der Einbildungskraft möglich, kann Kunst im klassischen Sinne sich als autonom bestimmen. Freilich wird sich dieses Konzept fortan der Kritik des Eskapismus und Illusionismus stellen müssen. Ich will dies an zwei Beispielen verdeutlichen. Sowohl Achim von Arnims Novellenzyklus Der Wintergarten (1809) als auch Ludwig Tiecks Novelle Des Lebens Überfluß (1838) beziehen sich explizit auf Goethes Unterhaltungen und legen dabei den Illusionismus eines Kunst- und Geselligkeitsmodells bloß, das in der Unterhaltung über das Schöne, im freien Spiel der Einbildungskraft, die alleinigen Bedingungen für Geselligkeit sehen will. Arnim findet hierfür die Bezeichnung „Zustand ohne Gegenwart“.35 Seine im Wintergarten in einem schneebedeckten Landhaus versammelte Gesellschaft fröstelt nicht nur aufgrund des Wetters. „Unzufrieden mit der ganzen Welt“36 hat man sich ein Unterhaltungsprogramm auferlegt, bei dem allein „vorgetragen oder abgelesen“

32 Vgl. Ingrid Oesterle, „Arabeske Umschrift, poetische Polemik und Mythos der Kunst“, in: Romantisches Erzählen, hrsg. von Gerhard Neumann, Würzburg 1995, S. 167–194, hier S. 172 f. 33 Goethe, Unterhaltungen (wie Anm. 6), S. 209. 34 Ebd. 35 Achim von Arnim, Werke in sechs Bänden. Sämtliche Erzählungen 1802–1817, Bd. 3, hrsg. von Renate Moering, Frankfurt a. M. 1990, S. 271. 36 Ebd., S. 74.

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werden darf, was „bloß erzählt und nicht geschehen“ ist.37 In der „allegorische[n] Person“ des Winters38, auch als der „gräuliche Alte“39 bezeichnet und sofort an den Alten aus den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten erinnernd, wird das Programm reflektiert. Einschließlich eines genialischen Kobolds hält der Winter all seine „Habseligkeiten“ misstrauisch in einem „Kasten“40 verschlossen, ist bereit, diese lieber zu „verpümpeln“41, als mit den anderen zu teilen. Entsprechend leblos, uninspiriert, fast geisterhaft erscheinen im künstlichen Klima des Wintergartens die Mitglieder der Gruppe; die exotischen Blumen und Tiere, die man um sich versammelt hat, sind nur mehr trauriges Dekor. Von der Hausherrin selbst, eine Widergängerin der Goetheschen Baronesse, heißt es: „Sie hatte in ihrem Wesen viel Güte bei etwas verlebt Heroischem“.42 Doch am Ende des Wintergartens wird die Enklave gesprengt, und zwar mit einem Buch, das nun konträr zur bisherigen Fixierung auf Schrift und Literatur angelegt ist, ein gleichsam kunst- und naturpoetisches Ereignis darstellt und die Initiale für eine neue, energetische und offene Form der Geselligkeit abgibt. Zunächst heißt es: Das Buch „sah uns an wie ein Werk von heute, was alle Kunstforderungen unserer Zeit erfüllte und tief verschlossen in sich ganz die Tiefe und Würde und Wahrheit alter Kunst trägt.“43 Daraufhin schult der Erzähler die Versammelten in der Rezeptionshaltung. Er lenkt den Blick von den Darstellungen im Vordergrund ab und bittet ihn verweilen zu lassen „auf der fernen, zwischen dem Schloß und dem Walde weit eröffneten, Welt“: [A]lles Glück dieser Welt ist da mit uns verbunden, auch wir, auch wir können dahin, auch zu uns strömt Leben aus dem zackigen Urfesten der Erde, die das Ende der Welt begrenzen; daher strömt unsere Luft, daher schmilzt der Felsensaft aus den ewigen, rötlichen Eisbehältern des Lebens, kühlend stürzt er in die glühenden Adern der Erde.44

Die Perspektive öffnet sich, bricht sich im gegenwärtigen Zustand von Ich und Welt und hebt die Erstarrung des Kunstraums Wintergarten auf. Hinzu 37 38 39 40 41 42

Ebd., S. 80. Ebd., S. 77. Ebd., S. 75. Ebd. Ebd., S. 76. Ebd., S. 79. Neben der Kunstthematik, die hier vor allem interessieren soll, ist die Einschließung in der Enklave des Wintergartens auch historisch-politisch motiviert. Nach dem Frieden von Tilsit (1807), durch die französische Besetzung Preußens und die Vertreibung des Königs scheint die Gesellschaft insgesamt zur politischen Passivität verdammt. 43 Arnim, Werke (wie Anm. 35), S. 413. 44 Ebd., S. 414 f.

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kommt das ungeheure Geschehen des Eisgangs, szenisch-fordernd präsentiert, Handeln, Hilfsbereitschaft abverlangend, Lebenskunst statt Kunst. Das Sinnliche, Affektive, das mit dem Naturereignis verbunden ist, macht aus den „hypochondrischen Leute[n]“45 Menschen. Und in einem natur-, respektive autopoetischen, von keiner Figur, keinem konventionellem Gesetz mehr zu steuernden Akt ereignet sich die Bildung einer neuen Geselligkeit, in der nun jeder die Welt des anderen mittragen kann. Zentrales Symbol ist benanntes Buch, das Arnims transgressive Poetik und sein Geselligkeits-, respektive Gesellschaftskonzept zusammenfasst. Von ihm heißt es dann auch zum Schluss anspielungsreich, dass in ihm „so viel Leben sei, daß man ihm ein eigenes Haus bauen möchte, wie viel lieben Besuch würde es bekommen, welche Auswahl der Gesellschaft um sich sammeln“.46 Das Buch ist eben nicht nur sprachlich-künstlerisches Gebilde, sondern es ist atmosphärischer Raum, als ein neues „Haus“ für die Geselligkeit entworfen. In Arnims Wintergarten zeichnet sich damit ein Paradigmenwechsel in den Geselligkeitskonzepten der bürgerlichen Novellistik ab. Der performative Akt, in dem das Buch mit gleichzeitiger Öffnung der Räume präsentiert wird, generiert eine Ästhetik, die sich nicht auf distinkte Kunstwerke allein bezieht, also Urteilsästhetik wäre, sondern stellt sich der Frage des „Wirklich-Seins“ der Kunst im Miteinander der Menschen. Zu einem weiteren Text, in dem die Kritik am Goetheschen Kunst- und Geselligkeitsmodell vollzogen wird, Ludwig Tiecks Novelle Des Lebens Überfluß. Auch diese Novelle spielt im Winter, vor dem Haus herrscht Revolutionsstimmung, im städtischen Milieu versammeln sich unterschiedlichste Parteien, im Haus aber hat sich ein Liebespaar zwar nicht wohnlich, aber doch gesellig eingerichtet, man hat literarische Bildung und damit Stoff für die Unterhaltung, zudem ein Tagebuch, das rückwärts gelesen wird und als Dekor Eisblumen – sonst nichts. Tieck macht in Zeiten des Vormärz noch einmal die Probe auf Goethes Kunst- und Unterhaltungsmodell. Während Arnim den Kunstraum auf Natur und Welt hin aufreißt, verengt Tieck den Kunstraum zum anderen Extrem, dem intimen Privatraum einer Dachstube. In dieser Dachstube lässt Tieck seine Protagonisten Heinrich und Clara nun gleichsam ein letztes Mal Goethes Geselligkeitsmodell durchspielen. Das Programm ist bekannt, es gilt auch hier das Gesetz der Schonung, mit Heinrichs Worten formuliert:

45 Ebd., S. 408. 46 Ebd., S. 413.

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Alles, was unser Leben schön machen soll, beruht auf einer Schonung, daß wir die liebliche Dämmerung, vermöge welcher alles Edle in sanfter Befriedigung schwebt, nicht zu grell erleuchten. […] Zerquetsche die leuchtende, süßduftende Blume, und der Schleim in deiner Hand ist weder Blume noch Natur. Aus der göttlichen Schlafbetäubung, in welcher Natur und Dasein uns einwiegen, aus diesem Poesieschlummer sollen wir nicht erwachsen wollen, im Wahn, jenseits die Wahrheit zu finden.47

Damit das Gesetz funktioniert und der „Poesieschlummer“ nicht gestört wird, werden wirklicher Raum und Wahrnehmung aufs Äußerste eingeschränkt. Die Dachstube nähert sich gleichsam dem luftleeren Raum, indem das liebende Paar nach und nach die Treppe, einzige Verbindung zur Außenwelt, abträgt – Heinrich rechnet die Treppe schlicht zu den „unnützen Überflüssigkeiten“48 des Lebens. So wie das Gesetz der Schonung sich nicht auf Gegenstände bezieht, so wenig bezieht es sich auf andere Personen. Das Verhalten der beiden gegenüber ihrer Dienerin Christine macht das deutlich. Eine „alte, runzelvolle, halbkranke, von elenden Kleidern bedeckte“ Frau49 sorgt dafür, dass die Liebenden nicht des Hungers sterben. Das Paar weiß keinen besseren Dank, als „Treue“, „Aufopferung“ und die „ungefälscht[e] Liebe“ der Dienerin zu loben, als ein Verhältnis „wie in alten poetischen Zeiten“50 zu beschönigen. Das Gesetz der Schonung impliziert bei Tieck nun definitiv Wahrnehmungsabwehr, Eskapismus und Asozialität. Was Heinrich und Clara zur Sicherung ihrer kleinen geselligen Runde durchspielen, ist Illusion. Am Schluss der Novelle referiert Tieck noch einmal auf die Landhausgesellschaften, die mit Goethes Unterhaltungen bisher ein wesentlicher Bezugspunkt der Geselligkeitskonzepte in der bürgerlichen Novellistik waren. Ohne sich selbst zu bemühen – das Geselligkeitskonzept ist mit Goethe als handlungsentlastend etabliert – wird schließlich das Paar aus seiner Dachstube befreit und darf fortan im Landhaus des Vaters der Braut ein lebenslanges Auskommen genießen. Tieck führt das klassische novellistische Geselligkeits- und Kunstmodell ad absurdum. Im städtischen Milieu – so die Schlussfolgerung – in der „Prosa der Verhältnisse“ (Hegel), im bürgerlichen Haus, hat es keinen Ort, hat ausgespielt, ist es als Illusion des Schönen enttarnt. Ich will nun auf zwei kontrastierende Geselligkeitskonzepte zu sprechen kommen, die den Aporien des bisher skizzierten Modells begegnen, insofern sie gleichsam umgekehrt, von ‚unten‘, von den konkreten Räumen und Mi47 48 49 50

Ludwig Tieck, Der Lebens Überfluß, Stuttgart 1983, S. 41. Ebd., S. 25. Ebd., S. 23. Ebd., S. 21.

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lieus, von sinnlichen, individuellen Bedürfnissen, von Mannigfaltigkeit und Vielstimmigkeit, Privatinteressen und Leidenschaften ausgehen. In Arnims Wintergarten wurde bereits ein solches Gegenmodell deutlich. Clemens Brentano und Eduard Mörike entwerfen in ihren Novellen gesellige Szenarien, in denen nun orale, szenisch-dialogische und performative Aspekte vorherrschen. Beide Novellen sind bestimmt durch die Bewegungsmetapher der Reise; in den Mehreren Wehmüllern sucht eine diffuse Gruppe einen Pestkordon zu überwinden, in Mozart auf der Reise nach Prag ist Bewegung bereits im Titel angezeigt. Clemens Brentano war ein großer Unterhalter, in geselligen Kreisen geschätzt für sein Talent, Disparates zu verbinden. Vor allem die Berliner Salons galten ihm selbst vorbildlich. Allein die Existenz dieser Salons sollte z. B. den Schwager Savigny bewegen, nach Berlin umzuziehen. Brentano schreibt ihm Ende Januar 1810: Zudem must du bedencken, dass du hier mit allen den Menschen, die anderwärts Mongelos und Zenntner heißen, in der genauesten Verbindung stehen würdest, da hier die Stände gar nicht so getrennt sind, in dem sie eine allgemeine Berührung haben entweder in einem wahren oder Modeinteresse an der Kunst, oder durch das allgemeine Unglück des Landes, das Sie auf der Flucht, oder in fremden Städten zußammengedrängt und vertraut gemacht hat, und es ist vielleicht nirgends so leicht, sich einen offnen Zirkel Abends täglich oder an bestimmten Tagen zu bilden, wo alles durcheinander ein und austritt und sich ernsthaft oder Scherzend unterhält, dazu gehört nichts, als dass der Diener Thee herumträgt der im Vorzimmer gemacht wird.51

Für Brentanos Geselligkeitsentwurf ist das ‚Durcheinander‘, die Verbindung von Scherz und Ernst konstitutiv, auch gegenüber bloßem „Modeinteresse“ äußert er sich keineswegs abfällig, sondern sieht es als Bestandteil in einer „allgemeinen Berührung“. So schreibt er im gleichen Brief über Salons, in denen vorrangig dem Dekor und den Speisen Aufmerksamkeit geschenkt wird, u. a. von einem Gericht guter Fische, die hier delickat sind, mit den köstlichsten Kartofflen [….], dazu trinckt man Bier, welches vielleicht nirgends so mancherlei und gut gebraut wird, und ein Gläßchen Likeur, der Tisch ist mit feinem Linnen schönem Porzellain und zierlichem Gläßern geziert und man ist sehr witzig frei und lustig, um einen irgend aus gezeichneten Menschen ist ein recht gefälliges Bestreben, und 51 Clemens Brentano, Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 32 (Briefe IV), hrsg. von Sabine Oehring, Historisch-kritische Ausgabe veranstaltet vom Freien Deutschen Hochstift, hrsg. von Jürgen Behrens, Konrad Feilchenfeldt, Wolfgang Frühwald, Christoph Perels, Hartwig Schultz, Stuttgart, Berlin, Köln 1996, S. 217.

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noch kein Scherz keine Laune ist mir unverstanden vor die Ohren oder von den Lippen gekommen.52

Brentano hierarchisiert nicht: Triviales, sinnliche Genüsse, ‚eigentliche’ Kunstwerke, drängende politische Themen sind gleichwertiger Bestandteil von Geselligkeit. Hinzu kommt sein Gespür für die Vielfalt soziokultureller Diskurse und das lässt sich insbesondere auch an seiner Novelle Die Mehreren Wehmüllern (1817) studieren. Die Person und Geschichte des Kunstmalers Wehmüller, Personen und Geschichten eines Franzosen namens Devillier und die Baciochis, eines italienischen Feuerkünstlers, die des Hofmeisters und Poeten Lindpeindler, weiterhin die geheimnisumwitterte Präsenz eines genialischen Zigeunerpaars, Michaly und Mitidika, sowie die Geschichten vieler Nebenpersonen repräsentieren historisch-politisch, ständisch-gesellschaftlich und weltanschaulich bedingte Diskurse aus der zeitgenössischen Gegenwart Brentanos. Und diese Personen sind nun in den Wehmüllern zusammengedrängt, um ein Exempel auf Geselligkeit zu statuieren. Die Novelle erscheint übervoll gepackt mit Menschen, Ereignissen, Handlungen. Konträr zu Goethes nahezu aseptischem Raum der Landhausgesellschaft oder Tiecks ausgeräumter Dachstube versammelt Brentano das Personal der Novelle in einem Wirtshaus.53 Hinsichtlich Stil und Sprache orientiert sich Brentano am mündlichen Sprachmilieu und erprobt damit die kommunikativen, geselligkeitsstiftenden 52 Ebd., S. 218. Vgl. zu Brentanos Wahrnehmung der sinnlich, konkreten Elemente auch den Hinweis Ingrid Leitners, die im Zusammenhang ihrer Untersuchung zu Bettine von Arnims Salon auf ein Desiderat in der Forschung hinwies. Demnach wäre es durchaus lohnenswert sich einmal mit den „bevorzugten Inhalten der Salongespräche zu befassen. Es würde sich dabei erweisen, dass im Salon nicht ausschließlich der gehobene Dialog oder der schöne Schein anmutig hingeplauderter Sprachkunststücke unter den Vorzeichen von Demokratie und Emanzipation stattfanden, sondern auch Modethemen und gesellschaftliche Nichtigkeiten transportiert wurden, was eine idealisierende Betrachtung der Salonkultur gerne verschweigt.“ Ingrid Leitner, „Liebe und Erkenntnis. Kommunikationsstrukturen bei Bettine von Arnim. Ein Vergleich fiktiven Sprechens mit Gesprächen im Salon“, in: Schultz, Salons der Romantik (wie Anm. 2), S. 235–250, hier. S. 248 f. 53 Zum Raum als „eine eigens gestaltete Sinndimension romantischer Texte“ vgl. David E. Wellbery, „Sinnraum und Raumsinn. Eine Anmerkung zur Erzählkunst von Brentano und Eichendorff“, in: Räume der Romantik, hrsg. von Inka Mülder-Bach und Gerhard Neumann, Würzburg 2007, S. 103–116. Wellbery untersucht hier jedoch ausschließlich Brentanos Godwi, den er eher zu den „raumlosen“ Texten der Romantik zählt. Als Gegenmodell führt Wellbery Eichendorffs Ahnung und Gegenwart an. Durch Einbeziehung von Brentanos Wehmüllern, aber auch der Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl, wäre ein differenzierteres Bild der Raumgestaltung bei Brentano zu gewinnen gewesen.

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Fähigkeiten der Poesie in lebensweltlich vielstimmigen und sozial konkurrierenden Bereichen. Agent der Poesie innerhalb der Novelle ist Michaly, auch als „ein zweiter Orpheus“54 benannt, der folgendermaßen eingeführt wird: Die berühmteste Person von Allen war aber der Violinspieler Michaly, ein Zigeuner von etwa 30 Jahren, von eigenthümlicher Schönheit und Kühnheit, der wegen seinem großen Talent, alle möglichen Tänze ununterbrochen auf seiner Violine zu erfinden und zu variieren, bei allen großen Hochzeiten im Lande allein spielen musste.55

Michalys Lieder sind nicht reproduzierbar, er verweigert die Fixierung in Schrift und kontert auf eine Anfrage hin: „Nimmermehr! […] so was diktirt sich nicht, ich wüsste es auch jetzt nicht mehr und wenn sie mir den Hals abschnitten“.56 Seine künstlerisch-gesellige Interventionen, „denen Niemand widerstehen konnte“,57 haben eine doppelte Funktion: sie leiten Chaos ein und lösen dieses auch wieder auf, sie rufen Trauer, aber auch Fröhlichkeit hervor und sie befriedigen zugleich sinnliche, trivial-komische wie geistige Bedürfnisse und legen so die Grundlagen, damit die disparate Gruppe zu einem geselligen Miteinander finden kann. Entscheidend wird dabei der Raum, der durch Michalys Kunst zum gemeinsamen Objekt der Wahrnehmung, zum Erfahrungsraum des Miteinanders wird. Michaly nutzt die sozialen und psychischen Abläufe im Raum wie eine Klaviatur, setzt durch Stimme, Tanz, Musik und Effekte einen Rhythmus hinzu, sodass der auf diese Weise mitgeteilte, vermittelte Raum zu einem gemeinsamen ästhetisch-sinnlichen Erlebnisraum wird. Michalys Kunst erscheint daher auch nie als distinktes, abgeschlossenes Kunstwerk, sondern erfüllt sich unmittelbar in der Intensivierung der gemeinsamen Erfahrung im Hier und Jetzt. Eine Stimmigkeit stellt sich schließlich unter den Versammelten ein, die quasi-religiöse Qualität hat, aber auch heiterer, ironischer Elemente nicht entbehrt. Dazu will ich das Schlusstableau der Novelle zitieren, es ist Michalys kongenialer Schwester Mitidika vorbehalten. Mitidika tritt vor die Gruppe wie eine Zauberin […], der Tiroler breitete seine Teppiche aus, und das reizende Geschöpf tanzte, schlug das Tambourin und sang – wozu Michaly sie begleitete – so ganz wunderbar hinreißend, dass Alles vor Erstaunen versteinert war. Sie schloß ihren Tanz damit, dass sie den Teppich plötzlich erfasste, sich schnell in ihn einpuppte und an die Erde niederstreckte.

54 55 56 57

Brentano, Sämtliche Werke und Briefe (wie Anm. 51), Bd. 19 (Prosa IV), S. 276. Ebd., S. 262. Ebd., S. 276. Ebd.

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Das Publikum reagiert einstimmig mit „lebhafte[m] Beifallklatschen“ und Devillier „kniete vor“ Mitidika, „weinte wie ein Kind und wurde ausgelacht.“58 Das fundamentale Ausdrucksmittel Michalys ist die Musik, seine Kunst aber ist vor allem ‚Beziehungskunst‘ und damit unhintergehbar an Räume, deren Wahrnehmung, an Stimmungen und Sinnlichkeit gebunden. Ich will damit direkt auf die letzte hier zu behandelnde Novelle zu sprechen kommen, Eduard Mörikes Mozart auf der Reise nach Prag. Mit dieser Novelle ist der Mythos Mozart als sinnliches und musikalisches Genie festgeschrieben. Mörike fokussiert darin aber nicht das musikalische Werk, sondern vielmehr ein Kunstwerk der Geselligkeit, dessen Inszenierung Mozart gleichermaßen wie die Musik versteht und das produktionsästhetische Voraussetzung für das ‚eigentliche‘ Werk ist. Auf dem „Gipfel geselliger Lust“59 gelingt es dem sinnlichen Genie dann u. a. auch solche Erlebnisse zu stiften, die eine adlige Familie in ihrem geordneten Landhausleben ziemlich aus den Fugen geraten lässt: Unter diesen und ähnlichen Scherzen [Mozarts] stieg Lustigkeit und Mutwillen immer mehr. Die Männer spürten nach und nach den Wein, es wurde eine Menge Gesundheiten getrunken, und Mozart kam in den Zug, nach seiner Gewohnheit in Versen zu sprechen, wobei ihm der Leutnant das Gleichgewicht hielt und auch der Papa nicht zurückbleiben wollte; es glückte ihm ein paar Mal zum Verwundern. Doch solche Dinge lassen sich für die Erzählung kaum festhalten, sie wollen eigentlich nicht wiederholt sein, weil eben das, was sie an ihrem Ort unwiderstehlich macht, die allgemein erhöhte Stimmung, der Glanz, die Jovialität des persönlichen Ausdrucks in Wort und Blick fehlt.60

Eine Erlebnisgemeinschaft ist hergestellt, die – so zeigt sich wenig später – die Voraussetzung für die Vollendung des Don Giovanni liefert. Es ist synästhetisches Wahrnehmen, ein gesellig-sympathetisches Miteinander, was Mozarts schöpferische Phantasie in Gang setzt, und es sind vor allem auch Zufälle. Gleich zu Beginn wird berichtet, wie in der Reisekutsche durch Mozarts „Achtlosigkeit […] ein Flacon mit kostbaren Riechwasser aufgegangen“ ist und „seinen Inhalt unvermerkt in die Kleider und Polster ergossen“ hat.61 Auf Constanzens Klage über diese Verschwendung entgegnet Mozart: Begreife doch, auf solche Weise ganz allein war uns dein Götter-Riechschnaps etwas nütze. Erst saß man in einem Backofen, und all dein Gefächel half nichts, bald aber schien der Wagen gleichsam ausgekühlt; […] wir waren neu belebt, und 58 Ebd., S. 310 f. 59 Eduard Mörike, Sämtliche Werke in vier Bänden, hrsg. von Herbert G. Göpfert, Bd. 3, München, Wien 51981, S. 1060. 60 Ebd., S. 1059. 61 Ebd., S. 1025.

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das Gespräch floß munter fort, statt dass wir sonst die Köpfe hätten hängen lassen wie die Hämmel auf des Fleischers Karren.62

Gabriele Brandstetter und Gerhard Neumann haben mit Bezug auf die Initialszene der Novelle – der Mundraub der Pomeranze im Garten der Landhausgesellschaft, den Mozart ebenfalls so ganz ‚zufällig‘ begeht – interpretiert: „[A]us der Unmittelbarkeit seiner sinnlichen Präsenz, aus der Gegenwart des Körpers und seiner in die organische Welt eingebetteten Selbsterfahrung: durch Gehör, Gesicht, Gefühl, Geruch und Geschmack“ wird das schöpferische Genie63 und – so darf ergänzt werden – werden Kunst und Geselligkeit gleichermaßen begründet. Heißt es doch schon im Zusammenhang des ersten Zufalls: „das Gespräch floß munter fort“. Neben Reisekutsche, Gasthaus, Garten werden auch Festsaal und Privatzimmer von Mozart als konkreter, sinnlicher Raum wahrgenommen, gespürt, erfahren; anders gesagt: aus einem umfassenden sinnlich-ästhetischen Wahrnehmungsprozess entsteht erst das ‚eigentliche‘ Werk.

Ich kann hier nur einige wenige Aspekte dieser Novelle ansprechen, wichtig erscheint mir, dass Mörike auch die Rezeption, die Empfindung Mozartscher Musik in einem Wahrnehmungsprozess begründet, bei dem „zwischen Aug und Ohr“, „unwillkürlicher Beobachtung“ und „gespannteste[r] Aufmerksamkeit“64 gewechselt wird und bei dem auch vom Aussehen Mozarts, der Physiognomie des „piccolo grifo raso“65 mitunter nicht abstrahiert werden kann, auch nicht soll. Zweifellos eine Herabstimmung des Genies aufs Menschliche, die andererseits aber auch „unendliche Befriedigung“ gewährt. So heißt es bei Mozarts Vortrag einer Komposition: Die Wirkung eines solches Vortrags in einem kleinen Kreis […] unterscheidet sich natürlicherweise von jedem ähnlichen an einem öffentlichen Orte durch die unendliche Befriedigung, die in der unmittelbaren Berührung mit der Person des Künstlers und seinem Genius innerhalb der häuslichen bekannten Wände liegt.66

Mörike zeichnet Mozart als Mensch in einem konkreten Raum, mit Menschen verbunden, sodass jeder/jede an dem Werk teilhaben kann. Auch Mo-

62 Ebd. 63 Gabriele Brandstetter und Gerhard Neumann, „Biedermeier und Postmoderne. Zur Melancholie des schöpferischen Augenblicks: Mörikes Novelle‚ Mozart auf der Reise nach Prag und Shaffers ‚Amadeus’“, in: Studien zur Literatur des Frührealismus, hrsg. von Günter Blamberger, Manfred Engel und Monika Ritzer, Frankfurt a. M., Bern, New York, Paris 1991, S. 307–337, hier S. 318. 64 Mörike, Sämtliche Werke (wie Anm. 59), S. 1044 f. 65 Ebd., S. 1063. 66 Ebd., S. 1044.

Kunst – Geselligkeit – Räume

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zarts Genie ist damit vor allem eingebettet in und entwickelt aus einer ‚Beziehungskunst‘. Die Novelle ist im 19. Jahrhundert Experimentierfeld, um das Zusammenspiel von Geselligkeit und Kunst in konkreten Räumen auszuloten. E.T.A. Hoffmanns Novellen wären diesbezüglich noch zu untersuchen, Achim von Arnims Majoratsherren und auch Franz Grillparzers Der arme Spielmann, um nur einige zu nennen. Ich meine aber auch, dass aus dem Kontext der Verbindung von Kunst, Geselligkeit und Räumen in der Novellistik sich Fragestellungen entwickeln lassen, die für die Praxis heutiger Literatur- und Musikvermittlung interessant wären. Sie wären unbedingt mit Beatrix Borchard zu diskutieren, die unter anderem mit ihrer Salon-Reihe an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg innovative Wege der Vermittlung geht.

Regina Back

„Sonnenhelle Tage“ in Boulogne-sur-Mer Das Wiedersehen von Fanny Hensel und Carl Klingemann im Spiegel ihrer Korrespondenz In meinem Leben u seit jenem betrübten Sept 1827, wo ich Euch u Eurem Haus u Garten u Sonn- und Fest- u Wochentagen wehmüthig den Rücken drehte, ist die Correspondenz mit Eurer werthen Familie nicht so blühend gewesen wie grade jetzt – ich niste mich ordentlich ein in Mendelssohnsche Briefe die mir von allen Weltenden her zukommen. Deiner mit der jüngeren Schwester u Freundin überreizendem Anfange1 kam erst; dann erhielt ich von Deiner Schwester Hensel einen Aufruf nach Boulogne aus Paris2, u gestern überraschte mich ein ausführlicher freundlicher Brief von Paul3, für den hier gleich auf dem Flecke mein vorläufiger herzlichster Dank steht, bis er des Weitern beantwortet wird. Deine Schwester kündigt mir Hensels Besuch hier an, ein weiser Gedanke! Ich habe zugeredet, u. keineswegs Willens meinen Besuch in Boulogne aufzugeben, wird es sich, denk ich, so machen, daß ich mit Hensel in Sturmesschritten durch die Curiositäten von London sause u dann mit ihm nach B. ziehe, auf 24. Stunden oder so was, – eine wahre StipVisite, wies in der Welt zugehen muß u zuzugehen pflegt. Zur completten Ausfüllung aller dieser Mendelssohniana fehlt nichts als eine nagelneue unbekannte Composition von Dir auf meinem Piano. Schicke mir eine für den leeren Herbst – sonst muß ich Galisch lernen oder Sticken.4

In seinem Brief vom 4. August 1835 an Felix Mendelssohn Bartholdy ließ Carl Klingemann die Erinnerung an die gemeinsam mit den Mendelssohnschen Geschwistern verlebten Berliner Jahre aufleben und gab seiner Freude über die intensive Korrespondenz und über die Aussicht auf ein baldiges Wiedersehen beredten Ausdruck. 1 Brief von Felix Mendelssohn Bartholdy und Rebecka Dirichlet an Carl Klingemann, 17.7.1835, zit. nach Felix Mendelssohn Bartholdys Briefwechsel mit Legationsrat Karl Klingemann in London, hrsg. von Karl Klingemann jun., Essen 1909, S. 185–187. 2 Brief von Fanny Hensel an Carl Klingemann, 23.8.1835, Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz (im Folgenden D-B2), Handschriftenabteilung, Autogr. I/244/3. 3 Vermutlich der Brief von Paul Mendelssohn Bartholdy an Carl Klingemann vom 28.7.1835, D-B2, Handschriftenabteilung, Autogr. I/249/7. 4 Brief von Carl Klingemann an Felix Mendelssohn Bartholdy, 4.8.1835, Oxford, Bodleian Library (im Folgenden GB-Ob), MS. M.D.M. d. 30/66.

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Regina Back

Der Diplomat Ernst Georg Carl Christoph Konrad Klingemann (1798– 1862), der seit 1827 seiner Tätigkeit als Sekretär der Königlich Deutschen Kanzlei in London nachging, war 1818 – damals als Kanzlist der Königlich Hannoverschen Gesandtschaft – nach Berlin gekommen und hatte vermutlich 18245 die Bekanntschaft der Familie Mendelssohn gemacht. 1825 mietete die Hannoversche Gesandtschaft mehrere Zimmer in den oberen Stockwerken des Mendelssohnschen Hauses in der Leipziger Straße 3, wo Klingemann von 1825 bis zu seinem Umzug nach London im Herbst 1827 auch wohnte. Er verkehrte nun täglich im Hause Mendelssohn, und eine enge Freundschaft verband ihn bald mit den vier Geschwistern Fanny (1805–1847), Felix (1809– 1847), Rebecka (1811–1858) und Paul (1812–1874). Später beschrieb Fanny Hensels Sohn Sebastian Hensel (1830–1898) in seiner Familienchronik Die Familie Mendelssohn6 den belesenen, musikinteressierten und humorvollen Jugendfreund der Geschwister, als „eine sehr fein poetische Natur“ und als „einen der Bedeutendsten und Treuesten aus diesem Kreise“.7 Nachdem Klingemann im Herbst 1827 an die Königlich Deutsche Kanzlei nach London versetzt worden war, hielt er regelmäßigen brieflichen Kontakt mit der Mendelssohnschen Familie. Ein besonders intensiver schriftlicher Austausch entwickelte sich mit Felix Mendelssohn Bartholdy und mit Fanny Hensel, der bis zu beider Tod 1847 aufrechterhalten wurde. Während der Briefwechsel von Carl Klingemann und Felix Mendelssohn Bartholdy nahezu vollständig erhalten8 und in Teilen auch gedruckt ist,9 sind aus der Korrespondenz mit Fanny Hensel heute nur einige wenige Briefe bekannt. Ihr Sohn Sebastian Hensel konnte sich beim Verfassen seiner 1879 veröffentlichten Familienchronik noch auf den umfangreichen, vollständigen Briefwechsel seiner Mutter mit Klingemann als Hauptquelle stützen, und er berichtete, dass dieser „gerade für die Zeiten, aus denen andere schriftliche Aufzeichnungen nicht vorliegen, oft 5 In der Korrespondenz Felix Mendelssohn Bartholdys fällt Carl Klingemanns Name erstmals am 6.5.1824 im Brief an Friedrich Voigts, vgl. Felix Mendelssohn Bartholdy. Sämtliche Briefe, Bd. 1, hrsg. von Juliette Appold und Regina Back, Kassel u. a. 2008, S. 116. 6 Sebastian Hensel, Die Familie Mendelssohn 1729–1847, 3 Bde., Berlin 1879, Reprint Frankfurt a. M. 1995. 7 Ebd., S. 178. 8 Vgl. Regina Back, „,A. Historisches. B. Geschäftliches, und C. Sonstiges‘. Publikationsgeschichte und kritische Würdigung von ,Felix Mendelssohn-Bartholdys Briefwechsel mit Karl Klingemann‘ (1909)“, in: MusikTheorie, 24. Jg., H. 1, 2009, S. 59. 9 Klingemann jun., Felix Mendelssohn Bartholdys Briefwechsel (wie Anm. 1). Die 13 Briefe, die Felix Mendelssohn Bartholdy bis Juni 1830 an Carl Klingemann schrieb, sind neu transkribiert und herausgegeben in: Felix Mendelssohn Bartholdy. Sämtliche Briefe, Bd. 1, hrsg. von Juliette Appold und Regina Back, Kassel u. a. 2008.

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das einzige Material bietet und Fanny mit keinem, nicht der Familie Angehörigen so ausführlich korrespondiert hat“10. Wie viele Briefe diese Korrespondenz tatsächlich umfasste, lässt sich heute nicht eruieren; überliefert sind durch Sebastian Hensels Publikation knapp 30 Briefe – zumindest in Ausschnitten –, einige weitere sind in der Staatsbibliothek zu Berlin zugänglich. Die Briefe, die vor, während und nach der Begegnung von Fanny Hensel und Carl Klingemann 1835 in Boulogne-sur-Mer von verschiedenen Schreiberinnen und Schreibern aus dem Kreis der Familie Mendelssohn geschrieben wurden, geben Auskunft über die Pläne, Aktivitäten und Reisen der Familien Mendelssohn, Hensel und Dirichlet sowie Carl Klingemanns in diesen Monaten, doch nicht nur das, sie besagen auch vieles über die emotionalen Befindlichkeiten und den vertrauten Umgang der Beteiligten miteinander. Die meisten dieser Briefe, die der folgenden Darstellung als Quellengrundlage dienen, sind bislang nicht veröffentlicht. *** Die Korrespondenz zwischen Carl Klingemann und den Mendelssohnschen Geschwistern lebte im Sommer 1835 in ungewöhnlicher Intensität wieder auf. Felix Mendelssohn Bartholdy, zu jener Zeit Städtischer Musikdirektor in Düsseldorf, war in diesem Jahr mit der Leitung des „Niederrheinischen Musikfestes“ betraut, das am 7. und 8. Juni 1835 in Köln stattfand. Mendelssohn hatte Georg Friedrich Händels Oratorium Salomon auf das Programm gesetzt, das er nach der Originalpartitur und mit Händels originaler Orgelbegleitung zur Aufführung brachte. Carl Klingemann und Fanny Hensel waren in die Vorbereitungen zu dieser Aufführung eingebunden: Carl Klingemann hatte die deutsche Übersetzung des Librettos angefertigt, und Fanny Hensel studierte als Chorleiterin die Chöre ein. Um diesem besonderen Ereignis beizuwohnen, war die Mendelssohnsche Familie nahezu vollzählig – bis auf den zu Hause gebliebenen Paul Mendelssohn Bartholdy – von Berlin ins Rheinland gereist: die Eltern Lea (1777–1842) und Abraham Mendelssohn (1776–1835), Fanny Hensel mit ihrem Mann Wilhelm Hensel (1794–1861) und Sohn Sebastian sowie Rebecka Dirichlet mit ihrem Mann Gustav Lejeune Dirichlet (1805–1859) und Sohn Walter. Carl Klingemann war wegen dienstlicher Verpflichtungen in der Londoner Kanzlei nicht abkömmlich, doch wurde er von verschiedenen Seiten in Briefen über den Gang der Ereignisse unterrichtet. Im Anschluss an das Musikfest begleitete Felix Mendelssohn Bartholdy seine 10 Sebastian Hensel, Die Familie Mendelssohn 1729–1847, 3 Bde., Berlin 1879, Reprint Frankfurt a. M. 1995, S. 200.

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Eltern zurück nach Berlin, während seine Schwestern gemeinsam mit ihren jeweiligen Familien ihre Reisen fortsetzten: Die Henselsche Familie machte zunächst Station in Paris und fuhr dann für einen längeren Sommeraufenthalt nach Boulogne-sur-Mer, und die Familie Dirichlet reiste weiter nach Ostende. Da das Rheinland nur zwei Tagesreisen und beide Seebäder jeweils nur eine Tagesreise von London entfernt waren, wurde die Idee eines möglichen Wiedersehens mit dem alten Jugendfreund Carl Klingemann immer wieder in Briefen thematisiert und ausführlich erörtert. Felix Mendelssohn Bartholdy war der erste, der Carl Klingemann ein Wiedersehen am Rhein vorgeschlagen hatte. Am 26. März 1835 fragte er ihn: Könntest Du gerade zum Musikfest ankommen, und auch meine Schwester Fanny wieder einmal sehen? — Wir hätten dann freilich die ersten Paar Tage wenig von einander, indessen würde Dich das Fest, das einem Volksfest ähnlich sieht, interessiren, und wenige Tage nachher könnten wie uns auf die Reise machen — vielleicht gar wirklich nach der Schweiz, was in 6 Wochen abgemacht wäre.11 – Es ist wohl schlimm, daß ich mein Versprechen Dich zu besuchen, nicht halten kann, und Dich zugleich um Deinen Besuch bitte, aber die Hauptsache wäre doch, daß wir uns sehen könnten.12

Klingemann konnte der Einladung zum Musikfest – wie schon erwähnt – aus beruflichen Gründen nicht folgen. Da ein Wiedersehen am Rhein also nicht stattfinden konnte, richteten sich Klingemanns Hoffnungen nun auf den Besuch in Boulogne-sur-Mer, wo Fanny Hensel und ihre Familie die Sommermonate verbringen würden. In seinem Antwortschreiben vom 30. Mai 1835 bat er den Freund also um ausführliche Berichterstattung und Weiterleitung seines Vorschlags: Wer wird denn so barmherzig seyn u mir zusammenstellen, was über das Fest gesagt u gesungen, auch gedruckt wird, u was drinn selber vorgeht? O sey ausführlich u episch. Wüßte ich, daß Deine Mutter da wäre, so wendete ich mich mit der ganzen Wucht meiner Rede an Sie, u bäte sie sehr. Sie beschreibt mehr wie Papier, nämlich die Dinge selber. – Grüße die Deinigen freundlichst, – wie leid thut es mir, Hensels dort nicht zu begegnen! Lege ihnen aber den Vorschlag wegen Boulogne ans Herz; ich rechne darauf.13 11 Die geplante Schweizreise wurde nicht realisiert. 12 Brief von Felix Mendelssohn Bartholdy an Carl Klingemann, 26.3.1835, Düsseldorf, Goethe-Museum, zit. nach Klingemann jun., Felix Mendelssohn Bartholdys Briefwechsel (wie Anm. 1), S. 173 f. 13 Brief von Carl Klingemann an Felix Mendelssohn Bartholdy, 30.5.1835, GB-Ob, MS. M.D.M. d. 30/46.

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Nachdem das Musikfest mit großem Erfolg über die Bühne gegangen war, fand Felix Mendelssohn Bartholdy wieder die Muße zum Schreiben. Aus Düsseldorf berichtete er Klingemann am 26. Juni 1835 ausführlich über die Konzerte und das Familientreffen und beschrieb – inzwischen aus der Perspektive eines ‚Fremdgewordenen‘ – die über die Jahre veränderten Lebensverhältnisse, Charakterzüge und Wesenseigenschaften seiner Schwestern und Eltern: So eben komme ich von einer Visite bei meinen Eltern und Beckchen14 zurück, die im Breidenbacher Hofe wohnen, und mit denen ich seit dem Musikfeste ein sehr frohes stilles Leben hier führe. Fanny ist schon vorigen Sonntag nach Paris abgereist, denkt dort bis zum Ende des nächsten Monats zu bleiben, dann ins Seebad nach Boulogne zu gehen, und Dich dort zu sehen. Auch Beckchen wird in ein Paar Tagen wieder fort und in einigen Wochen ins Seebad, wahrscheinlich nach Ostende gehen, ob die Eltern noch länger hier bleiben, eine weitre Reise machen, gleich zurück nach Berlin gehen werden, wissen sie noch nicht. So treibt und drängt sich Alles zu und von einander, trifft sich und trennt sich wieder, was man Leben nennt. […] die Eltern sind ganz wie Du sie kennst, unverändert, und das Aeußerliche was die Jahre verändern müssen hat ihr Innres nicht angerührt; Beckchen ist vielleicht noch ein bischen netter, liebenswürdiger geworden, sonst auch ganz dieselbe; Fanny hat sich am meisten geändert, ich glaube zu ihrem Vortheile und Glück, aber jede Veränderung bei so nahe Stehenden will im Anfang nicht in die alten Ideen passen; sie ist behaglicher, ruhiger, auch milder geworden, wie gesagt, ich glaube auch glücklicher und harmonischer, und ich bin überzeugt, daß ich die ganze Veränderung bei längerem Zusammensein vergessen haben würde, aber da wir bald wieder aus einander mußten, war mir es als hätte sie sich am meisten in den vergangnen Jahren verändert; ich bin neugierig, ob Dir es denselben Eindruck machen wird, wenn Du sie in Boulogne triffst. Laß Dir nur ja etwas dann von ihr vorspielen; das macht sie prächtig nach wie vor; freilich auch ein klein wenig zu behaglich, aber doch so schön musikalisch, wie gar keine andre.15

Die Veränderungen, die Felix Mendelssohn Bartholdy an seiner älteren Schwester Fanny Hensel beobachtete, berührten existentielle Ereignisse in ihrem Leben und damit zusammenhängende Konflikte und Kompromisse zwischen ihrem Bedürfnis nach Kreativität und ernsthafter musikalischer Arbeit und ihren familiären Pflichten. Die Heirat mit Wilhelm Hensel im Herbst 1829, die anschließende Schwangerschaft und die Geburt des Sohnes Sebastian im Juni 1830 hatten dazu geführt, dass Fanny Hensel viele Monate lang kaum noch komponiert oder Klavier gespielt hatte. Erst seit dem Frühjahr 14 Kosename von Rebecka Dirichlet. 15 Brief von Felix Mendelssohn Bartholdy an Carl Klingemann, 26.6.1835, zit. n. Klingemann jun., Felix Mendelssohn Bartholdys Briefwechsel (wie Anm. 1), S. 181 f.

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1831 hatte sie Zeit und Muße dafür gefunden und wieder begonnen zu komponieren – u.  a. die Kantate Hiob und den ihrem Sohn Sebastian und Carl Klingemann gewidmeten Lobgesang16. Zudem ließ sie die ursprünglich von ihrer Mutter Lea Mendelssohn eingeführte Tradition der „Sonntagsmusiken“ wieder aufleben und brachte im Rahmen der von ihr veranstalteten häuslichen Geselligkeiten gemeinsam mit befreundeten Musikerinnen und Musikern Oratorien und Orchesterwerke, Lieder, Klavier- und Kammermusik von Bach bis Mendelssohn zur Aufführung.17 Diese „Sonntagsmusiken“, die sie als Veranstalterin, Pianistin und Dirigentin prägte, wurden gelegentlich auch zum Forum für ihre eigene Musik und verhalfen damit nicht nur ihr zu Zufriedenheit und Selbstbestätigung, sondern fanden bald auch über Berlin hinaus Beachtung und hohe Wertschätzung. Wenige Tage, nachdem Felix Mendelssohn Bartholdy seinen Bericht an Carl Klingemann abgeschickt hatte, erlitt Lea Mendelssohn bei einem Ausflug einen leichten Schlaganfall, was die in seinem Brief erwähnten Pläne der Eltern vorerst vereitelte. Er und seine Schwester Rebecka Dirichlet blieben bei ihrer Mutter und kümmerten sich um sie, bis sie wieder reisefähig war und in Begleitung ihres Mannes und Sohnes zurück nach Berlin reisen konnte. Damit konkretisierte sich dann auch die dadurch verzögerte Weiterreise Rebecka Dirichlets nach Ostende, und am 6. Juli 1835 teilte sie Carl Klingemann ihre Pläne mit: Ihr letzter Brief für mich nach Berlin hatte keine weite Reise zu machen, als er ankam, saß Felix neben mir am Frühstückstisch, und reichte ihn mir. Seitdem haben wir allerlei erlebt, sehr bewegte, brillante Tage in Köln, nachher hier wieder lustige, dann sorgenvolle Zeit, und nun sind wir wieder ruhig, die Eltern werden hoffentlich bald anfangen, an ihre Rückreise mit Felix zu denken, und ich erwarte morgen Dirichlet18, mit dem ich Ende des Monats ins Seebad nach Ostende zu gehen denke; sollte dort, oder irgendwo in der Gegend, oder am Rhein, nicht bis zum Oktober ein Ort auszufinden seyn, wo wir uns treffen können? So nahe kommen 16 Siehe zum Lobgesang auch die multimediale Präsentation Fanny Hensel – Korrespondenzen in Musik von Cornelia Bartsch, in: MUGI – Musikvermittlung und Genderforschung im Internet, bes. die Seite: „An Sebastian Hensel“, online verfügbar unter: http://mugi. hfmt-hamburg.de/Hensel_Korrespondenzen/geschrieben/7sebastianhensel.html, 29.4.2010. 17 Vgl. Beatrix Borchard, „,Mein Singen ist ein Rufen nur aus Träumen.‘ Berlin, Leipziger Straße Nr. 3“, in: Fanny Hensel, geborene Mendelssohn Bartholdy: Das Werk, hrsg. von Martina Helmig, München 1997, S. 13 f., und Beatrix Borchard, „Opferaltäre der Musik“, in: Fanny Hensel geb. Mendelssohn Bartholdy: Komponieren zwischen Geselligkeitsideal und romantischer Musikästhetik, hrsg. von Beatrix Borchard und Monika SchwarzDanuser, Stuttgart u. a., 1999, S. 30–32. 18 Gustav Lejeune Dirichlet.

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wir uns schwerlich in der ersten Zeit wieder, und Sie können nicht leugnen, wir haben die ersten Schritte gethan, von Berlin bis Ostende, thun Sie den 2ten. Können wir uns nicht etwa auf dem Meere treffen? Das ist aber nur ein Vorschlag.19

Klingemann reagierte nicht auf diese Anfrage.20 Und so brachte Rebecka Dirichlet wenige Tage später, am 17. Juli 1835 und noch von Düsseldorf aus, wiederholt und sehr beredt ihr Anliegen zum Ausdruck, Klingemann möge sich doch noch zu einer Reise nach Ostende entschließen, auch wenn die erwartete Enttäuschung hinter dem vordergründig heiteren Ton bereits herauszuhören ist. Ich werde Ihnen niemals verzeihen, daß Sie nicht zum Musikfest gekommen sind, bestimmen Sie mir nun kein rendez vous und besuchen uns nicht in Holland oder Belgien, so verzeihe ich es Ihnen am Niemalsten. Ich war ja eigentlich noch ein Kind, als Sie weggingen, Sie haben mich mit erzogen, wollen Sie denn nicht einmal sehen was aus Ihrer Erziehung geworden ist? Leider nicht viel Vernünftiges, oder zum Glück; ich fühle mich gar nicht wie eine Frau von 24 Jahren; je toller es auf dieser Reise herging, mit Klettern, Laufen oder (Felixens Passion) Sand und Steine in die Haare und Taschen stecken, um desto lieber war es mir, die erste Zeit hier ist ein ansehnlicher Haufen Unsinn verarbeitet worden. […] Auf Wiedersehn auf dieser Reise, schließ ich, bis ich wieder aus Berlin schreibe und Sie nicht gesehn habe, aber dann nehmen Sie sich in Acht vor Ihrer Freundin Rebecka Dirichlet.21

Diesen Briefpassus Rebecka Dirichlets kommentierte Klingemann in seinem eingangs bereits zitierten Brief an Felix Mendelssohn Bartholdy vom 4. August 1835 als „der jüngeren Schwester u Freundin überreizenden Anfange“22. Die Reise nach Ostende realisierte er indes nicht, und weitere Korrespondenz darüber mit Rebecka Dirichlet ist nicht bekannt. Nur eine Bemerkung in einem Brief vom 1. Dezember 1835 an Felix Mendelssohn Bartholdy gibt darüber Auskunft, dass Klingemann bedauerte, weder seinen Freund Felix Mendelssohn Bartholdy noch dessen Schwester Rebecka Dirichlet und ihre Familie im Sommer gesehen zu haben:

19 Brief von Felix Mendelssohn Bartholdy und Rebecka Dirichlet an Carl Klingemann, zit. nach Klingemann jun., Felix Mendelssohn Bartholdys Briefwechsel (wie Anm.  1), S. 184. 20 Vgl. unten den Brief von Rebecka Dirichlet an Carl Klingemann, 15.9.1835. 21 Brief von Felix Mendelssohn Bartholdy und Rebecka Dirichlet an Carl Klingemann, 17.7.1835, vgl. Klingemann jun., Felix Mendelssohn Bartholdys Briefwechsel (wie Anm. 1), S. 186 f. 22 Brief von Carl Klingemann an Felix Mendelssohn Bartholdy, 4.8.1835, GB-Ob, MS. M.D.M. d. 30/66.

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Beinah wär ich zu Dir gekommen, wenigstens hatte ich schon Urlaub der so abgepaßt war, daß ich Dirichlets am Rhein getroffen hätte, – und konnten sie Dich u Moscheles nach Berlin ziehen23, hätten sie mich wohl mit nach Leipzig gezogen. – Ein widerwärtiger Canzleiwirrwarr hintertriebs.24

Fanny Hensel indessen war nach einem Zwischenaufenthalt in Paris am 9. August 1835 in Boulogne-sur-Mer eingetroffen. Sie berichtete Felix Mendelssohn Bartholdy am 15. August 1835 ausführlich über ihre dortigen Verhältnisse und schilderte ihm ihren Tagesablauf im Seebad: Obwohl wir uns einige Tage lang sehr haben herumquälen müssen, bin ich doch froh, daß wir uns selbst die Wohnung ausgesucht haben, schwerlich hätte Jemand anders die Lage so unsern Wünschen gemäß aufgefunden. Wir haben Hafen und Meer dicht vor der Thür, alle aus- und einlaufenden Dampfschiffe und zahlreiche Fahrzeuge aller Art müssen bei uns vorüber, die englische weiße Küste, und die schwarzen Thürme von Dover können wir mit bloßen Augen von unsern Fenstern aus sehn, und unmittelbar hinter dem Hause erhebt sich ein Berg, an dem die Stadt terrassenförmig aufsteigt, und von wo aus man eine der schönsten Aussichten hat, die ich je sah. […] Wir führen ganz im Gegentheil von Paris hier ein sehr ruhiges aber sehr gesundes einförmiges Leben. Baden, Spazierengehn, Essen (ich vertilge viel engl. Käse) früh Schlafengehn, das sind unsre Beschäftigungen, wozu Du noch viel aus dem Fenster sehn, und vor der Thür sitzen rechnen mußt. Zu der Thätigkeit, in den Salon zu gehn, und dort nach einer Zeitung zu angeln, erheben wir uns selten, dazu muß man sich erst putzen.25

Kurze Zeit später muss Fanny Hensel einen (nicht bekannten) Brief von Carl Klingemann erhalten haben, in dem er – allen guten Vorsätzen zum Trotz – das geplante Treffen in Boulogne-sur-Mer absagte, weil sein beurlaubter Kollege und dessen Frau die Geburt ihres Kindes erwarteten und er daher nicht ebenfalls Urlaub nehmen konnte. Fanny Hensel hielt diese Begründung nicht unbedingt für glaubwürdig und schon gar nicht für akzeptabel – sie fühlte sich um ihre Hoffnung auf ein Wiedersehen betrogen. Ihr Antwortbrief an ihn vom 23. August 1835 stellt das seltene Exemplar eines Zornesbriefs von ihr dar, in dem sie in aller Offenheit und Unmittelbarkeit der Emotionen ihre Enttäuschung verbalisierte: 23 Felix Mendelssohn Bartholdy hatte seine Eltern nach Berlin begleitet, und Ignaz Moscheles war im Herbst 1835 von London aus über Hamburg und Berlin nach Leipzig gereist, wo er gemeinsam mit Felix Mendelssohn Bartholdy im Gewandhaus Konzerte gab. 24 Brief von Carl Klingemann an Felix Mendelssohn Bartholdy, 1.12.1835, GB-Ob, MS. M.D.M. d. 30/196 (unter dem Datum 31.12.1835). 25 Brief von Fanny Hensel an Felix Mendelssohn Bartholdy, 15.8.1835, GB-Ob, MS. M.D.M. d. 30/71.

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Nie in der Welt ist man schmählicher durch falsche Versprechungen treuloser Freunde von Berlin nach Boulogne gelockt, u. nie mit einer kühleren, schlechteren Entschuldigung abgefunden worden. Glauben Sie nicht, dass ich spaße, ich bin wüthend. Ein Mann, und ein lediger schützt eine Niederkunft vor, wegen einer Tagereise ein Wochenbett! Da Sie weder der Gemal noch der accoucheur26 sind, so kann Sie das unmöglich was angehn. Was nun Ihr schönes Anerbieten betrifft, uns in Berlin zu besuchen, so müßt ich wenigstens 12 oder 14 Jahre jünger seyn, um es zu glauben, es wäre wirklich unerhört, wenn Sie die Gelegenheit vorübergehen ließen, uns zu sehn, da Sie den andern Tag hier seyn können, nach Berlin kommen Sie nicht deshalb, das glauben Sie mir nur. Ich will meinen Zorn in soweit besänftigen, Ihnen klar und deutlich zu sagen, dass wir bis zum 6ten September hier bleiben werden – spätestens, – und mein wohlgemeinter Vorschlag geht nun dahin, dass Sie sich mit Ihrem niederkommenden Collegen über einen letzten Termin etwa den 30sten August, einigen, an dem er sie reisen lasse, die Sachen stehen, wie sie wollen, das scheint mir billig u natürlich. Geht das nicht, so müssen wir es uns auch gefallen lassen. Was nun Ihren Vorschlag betrifft, über London zurückzureisen, so ist es sehr schade, dass er für uns nicht annehmbar ist. Wenn wir Geld und Zeit genug hätten, würden wir nach London reisen. Den Ort aber als Station zu betrachten, wo man die Pferde oder die Dampfbote wechselt, schiene mir eine Thierquälerei. Bereuen Sie nur, nicht nach Cölln gekommen zu seyn, denn außer so vielen liebenswürdigen Fliegen, die Sie da mit einer Klappe getroffen hätten, war das Musikfest auch schon der Mühe werth! Ich sah wenig dergleichen. […] Wirklich diese weißen englischen Küsten, so nah uns vor Augen, u. dies bequeme Dampfboot, täglich hinüber u herüber rauchend lassen mich einigermaßen schmerzlich bedauern, dass wir nicht reiche unabhängige Männer sind, u. dass mir dies in mancher Beziehung so theure England wol ein Buch mit sieben Siegeln bleiben wird. […] Madame Austin27, die mich diesen Morgen besuchte, lässt Sie bestens grüßen, und war mit mir der Meinung, dass nie eine schlechtere Entschuldigung gemacht wäre. Darauf meinte sie aber, Sie hätten doch ernstlich [schon zur] Reise entschlossen geschienen, worauf ich ihr sagte, das glaube ich auch, indessen, da nun die Zeit wirklich heranrücke, sey Ihrer Bequemlichkeit jeder plausible oder unplausible Vorwand recht gewesen. So sprach man von Ihnen! Verbessern Sie diese Meinung, vor Allem aber lassen Sie uns nicht wieder, selbst wie Sie ganz richtig sagten, den guten Sebastian, 14 Tage lang oftmals vergeblich nach dem Hafen laufen, u. alle aussteigenden Engländer messen und mustern, u. neugierig ankucken, u. dann disappointed28 nach Hause gehn. Wenn Sie aber kommen, sind Sie ohne rancune29 bei uns zu Frühstück, Mittagessen u Thee eingeladen, Alles mit delicater Seeaussicht.30 26 27 28 29 30

Frz., Geburtshelfer, Hebamme. Sarah Austin, engl. Schriftstellerin, mit der Klingemann ebenfalls bekannt war. Engl., enttäuscht. Frz., Groll, Ressentiment. Brief von Fanny Hensel an Carl Klingemann, 23.8.1835, D-B2, Handschriftenabteilung, Autogr. I/244/3.

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Es kam nicht zum ersten Mal vor, dass Klingemann Versprechungen nicht einhielt, sei es Briefe zügig zu beantworten, Gedichte für Liedvertonungen zu schreiben oder auch lang geplante Reisevorhaben in die Tat umzusetzen. Mehrfach hatte er sich mit Begründungen, die auf sein Gegenüber fadenscheinig wirkten, im letzten Moment aus der Affäre gezogen und damit Geduld, Verständnis und Wohlwollen seiner Korrespondentinnen und Korrespondenten überstrapaziert. Klingemann war sich der Schreibblockaden und „wunderlichen Faulheits-Verstockungen“31, die das Verhältnis zu seinen Freunden immer wieder auf die Probe stellten, wohl bewusst. Es erleichterte ihn daher – wie er im Februar 1839 an Felix Mendelssohn Bartholdy schrieb – ungemein, dass „Du mit mir vorlieb nehmen willst wie ich bin, verdrießlich und faul, nicht wie ich sein sollte“32. Fanny Hensels schriftlich vorgebrachter Wutausbruch jedoch zeitigte Wirkung: Carl Klingemann machte sich auf den Weg und traf am 3. September 1835 in Boulogne-sur-Mer ein; Fanny Hensel zeigte sich versöhnt. Dieses Wiedersehen in Boulogne-sur-Mer 1835 war das erste, seit Klingemann 1827 Berlin verlassen hatte, und es blieb auch das einzige. Zufrieden teilte Fanny Hensel am 6. September 1835 ihrem Bruder Felix Mendelssohn Bartholdy mit: Klingemann ist seit Donnerstag Nachmittag hier, zu meiner großen Freude, wir haben Alles und noch einiges durchgesprochen. Er ist seit den 8 Jahren gänzlich unverändert, und wir haben uns die Paar Tage prächtig amüsiert. Morgen fährt er mit dem Dampfboot wieder ab. Diesen Besuch kann ich wohl zu den größten Annehmlichkeiten unsrer Reise rechnen. Es war aber auch fast das einzige Angenehme, was wir in Boulogne erlebt haben, 6 Tage lang habe ich an einer Augenentzündung gelitten, von der ich eben erst hergestellt war, als Klingemann kam, und die sehr langweilig zu werden drohte. […] Lebe wohl, ich freue mich nicht wenig drauf, erst Dich noch zu sehn, und dann zu Hause zu kommen. Wenn Kl. vom 3ten Spaziergang am heutigen Tage (den ersten den ich nicht mitmache) zurückkommt, wird er sich wahrscheinlich noch anhängen.33

31 Brief von Carl Klingemann an Felix Mendelssohn Bartholdy, 1.7.1841, GB-Ob, MS. M.D.M. d.40/284, zitiert nach: Regina Back, „A Friendship in Letters. The Correspondence of Felix Mendelssohn and Carl Klingemann“, in: Mendelssohn in the Long Nineteenth Century, International Conference Dublin 2005, hrsg. von Nicole Grimes und Angela Mace, London 2010 (im Druck). 32 Brief von Carl Klingemann an Felix Mendelssohn Bartholdy, 26.2.1839, GB-Ob, MS. M.D.M. d. 35/72. 33 Brief von Fanny Hensel an Felix Mendelssohn Bartholdy, 6./7.9.1835, GB-Ob, MS. M.D.M. d. 30/83.

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Einen Tag später – Klingemann war inzwischen abgereist – setzte sie ihren Brief an Felix Mendelssohn Bartholdy fort: Klingemann grüßt herzlich, er hat nicht mehr schreiben können, und bittet dich auch, dieser kleinen Reise wegen das Ausbleiben seines Monatsbriefes zu entschuldigen. Vor einer Stunde (10 Uhr) haben wir ihn auf das Dampfboot begleitet, bei herrlichem Wetter und ruhiger See, klarsten Sonnenschein auf der herrlichen Fluth. Wir haben ihm ein Paar der angenehmsten Tage zu verdanken, und ich glaube, er hat auch Ursache mit uns zufrieden zu seyn. Von Dir war einige Mal die Rede. So bringen und brachten wir die letzte Woche in Boulogne noch angenehm zu, und das ist eigentlich besser, als das Umgekehrte, man nimmt doch einen günstigen Eindruck mit.34

Auch aus der Reihe von Briefen, die in der Folge zwischen Carl Klingemann, den Mitgliedern der Familie Mendelssohn und weiteren gemeinsamen Freunden gewechselt wurden, lässt sich ein ganzes Mosaik aus Eindrücken, Erlebnissen und Erinnerungen anlässlich dieser Begegnung in Boulogne-sur-Mer zusammentragen. So schrieb auch die inzwischen resignierte Rebecka Dirichlet am 15. September 1835 aus Aachen an den nach London zurückgekehrten Carl Klingemann: Mitten im Packen, u. am Abend vor der Abreise, schreibe ich Ihnen noch, obgleich ich fest überzeugt bin, Sie rücken nicht mehr von 37 Bury Street, ich weiß Sie waren drei Tage bei Hensels, u. finde Sie hätten wohl Ihr Wochenbett35 etwas früher einrichten können. Ich will aber alles dazu thun, was ich kann, Sie, lieber Freund einmal wiederzusehen, da ich schwerlich fürs Erste wieder so in Ihre Nähe komme, und zeige Ihnen daher eiligst an, dass wir jetzt zu der Philisterei der Naturforscherei nach Bonn36 gehen, u. bis in die ersten 8 Tage des October zwischen Koblenz u. Düsseld. anzutreffen seyn werden. Meine Gutmüthigkeit, dies alles zu schreiben, rührt mich selber denn ich würde gleich meinen Kopf gegen einen Kürbis wetten, dass Sie nicht kommen, riskirte mir irgend jemand den Kürbis. […] Alle diese Vorsichtsmaßregeln zu einem rendez vous werden wohl daran scheitern, dass die eine betreffende Partei sich nicht vom Fleck rührt, u. somit wird dieser Brief ein bedeutendes Interesse haben! Fanny schreibt mir, die einzigen angenehmen Tage hätte sie in Boulogne durch Sie gehabt; ich habe auch in Ostende, so oft das Dampfboot kam, bestimmt geglaubt, Sie würden aussteigen, besonders weil kein Brief auf all die Meinigen kam, aber unsre Langeweile dort, die sich nur dadurch vortheilhaft von Fannys unterschied, dass wir sie nicht so theuer bezahlen mussten – wurde durch keinen Freundesbe34 Ebd. 35 Gemeint ist die Niederkunft der Frau eines Londoner Kollegen von Klingemann, siehe oben Fanny Hensels Brief an Carl Klingemann, 23.8.1835. 36 Gustav Lejeune Dirichlet war Mathematiker und besuchte 1835 die Versammlung der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte in Bonn.

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such unterbrochen. Wenigstens hat Sie nun Fanny gesehn, und obgleich ich wüthend auf Sie bin, werde ich mir doch sehr viel von Ihnen erzählen lassen.37

Der Nachhall der Begegnung von Carl Klingemann und Fanny Hensel war groß und wurde – wie Rebecka Dirichlets Schlussbemerkung besagt – im Kreis der Mendelssohnschen Familie ausgiebig erörtert. Klingemann seinerseits erstattete dem damals in London wohnhaften befreundeten Komponisten Ignaz Moscheles, der auch mit den Mendelssohns gut bekannt war, Bericht über die Reise.38 Am ausführlichsten schilderte er seine Eindrücke aus Boulogne-surMer indes in seinem Brief vom 22. September 1835 an Felix Mendelssohn Bartholdy: Du weißt schon, daß ich drei Tage in Boulogne bei Hensels verbracht habe, und vernimmsts bei der Ankunft des Briefs sogar mündlich.39 Das waren die drei angenehmsten vollsten u wohlthuendsten Tage, die ich seit langer Zeit verlebt habe, – meine Festtage für’s Jahr, ich denke immer mit Vergnügen daran zurück. Ich weiß nicht ob ich hier mit zu Deiner Schwester oder von ihr reden soll, es ist aber auf alle Fälle dasselbe, ich kann sie nur preisen daß sie so liebenswürdig war, u kann ihr nur danken daß sie sich mir so herzlich u freundlich erwiesen. Ich mag auch artig gewesen seyn, das ist aber geringe Kunst wenn man von solchen Leuten, wie Hensel u seine Frau, wohl aufgenommen u in jedem Sinne gepflegt wird. Seit der Zeit daß ich Henseln40 nicht gesehen, habe ich selbst erst was gelernt, u habe darum jetzt erst recht seine Tüchtigkeit u seinen Reichthum schätzen lernen, – das hab ich als einen baaren Gewinn heimgebracht. Es sind liebe Personen beide, u daß Sebastian gedeiht u klug aussieht, ist in so guter Gesellschaft kein Wunder. Unser complettes Beisammenseyn war so höchst angenehm, daß sich der Tag so vom Frühstück bis spätem Thee zwischen Meerwasser u Umherlaufen im steten Wiederfinden u im steten Wiederanknüpfen unserer Themata hinzog, machte es behaglich u warm, – die See u Sonne u blauer Himmel, gelt, Du hättest bei uns seyn mögen. Und die Zeiteile! wir hatten so viel zu besprechen u haben uns so viel gefürchtet so viel zu vergessen, daß es auch richtig so gekommen ist, mir fielen schon auf dem Meer beim Wegreisen eine Menge vergessener Dinge ein. – […] Schön spielt Deine Schwester! Daß wir kein Piano zu Haus hatten, war ein Jammer. Es war mir ganz eigen, Deine Compositionen von ihr spielen zu hören, Niemand kanns sonst, – sie kann zwar auch nicht fliegen wie Du, aber alles ist da, u so rund u weich, – obendrein herzlich. Ihre neusten Lieder haben mich gefangen 37 Brief von Rebecka Dirichlet an Carl Klingemann, 15.9.1835, D-B2, Handschriftenabteilung, Autogr. I/248/9. 38 Brief von Ignaz Moscheles an Felix Mendelssohn Bartholdy, 18.9.1835: „Von Klingemann haben wir einen herrlichen Brief, in welchem er seine angenehme Reise nach Boulogne, sein Zusammentreffen mit Deiner Schwester Hensel und ihr überaus interessantes Wesen beschreibt.“ GB-Ob, MS. M.D.M. d. 30/92. 39 Fanny Hensel besuchte ihren Bruder Felix auf der Rückreise in Leipzig. 40 Wilhelm Hensel.

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genommen, Wohlklang u Frappantes u s. w. das können Andre auch, aber die Stetigkeit, das Schreiten in ihnen war mir curios. Gefällt Dir denn Carl V.41 auch so? Ich gäbe viel darum, wenn ich das gemacht hätte. Sie will mirs schicken, unter andrem, – erinnre sie noch daran. – […] Von Deiner Schwester Rebekka habe ich gestern morgen einen Brief erhalten. Sie hätte gar keine Achtung mehr vor mir behalten wenn ich nicht in Boulogne gewesen wäre, – aber so wiederfuhr mir noch einmal Gnade, u sie zeigt mir an, wie sie bis zum 8ten Oct am Rhein sey, u entweder in Aachen oder in Düsseldorf zu erfragen. Neckisch genug, aber auch reizend genug. Bei Gott, ich verdiene das, daß ich alle Mendelssohnschen, die ich mit einem Schlage hätte haben können, in allen Weltgegenden u Königreichen einzeln aufsuchen muß! Daß ich sie [treffe] glaub ich kaum, – ich habe nur noch 8 Tage Besinnung dazu.42

Die Unterhaltungen über Kunst, Musik und Literatur – nicht zuletzt angeregt durch Wilhelm Hensel und seine Malerei – sowie die gemeinsamen musikalischen Aktivitäten, die schon das frühere Beisammensein in Berlin wesentlich geprägt hatten, lebten in Boulogne-sur-Mer wieder auf. Im Nachhinein hoben beide Briefschreiber diese Unterhaltungen besonders hervor – Fanny Hensel in ihrem Tagebuch als „die belebteste Conversation über die mannigfaltigsten Dinge“43, und Carl Klingemann in seiner Mitteilung an Felix Mendelssohn Bartholdy als das „stete Wiederfinden u stete Wiederanknüpfen unserer Themata“, das mit der Befürchtung verbunden war, „so viel zu vergessen“44. An diesen Äußerungen wird deutlich, wie wichtig dieser Austausch für beide Gesprächspartner war, wie wenig er im Lauf der Jahre an Intensität eingebüßt hatte und wie groß das Bedürfnis danach immer noch war. Das gemeinsame Musizieren am Klavier und das Spiel der Werke Fanny Hensels und Felix Mendelssohn Bartholdys waren dabei Vergnügen und Gesprächsthema zugleich. Klingemann hob in seinem Bericht an Felix Mendelssohn Bartholdy vor allem das „fliegende“ Klavierspiel hervor und bezog sich dabei auf die charakteristischen raschen und virtuosen Läufe und Figurationen in dessen Klavierwerken, die von den Geschwistern mit einem besonders perlenden, leichten Anschlag bewältigt wurden. Das mit „Carl V.“ bezeichnete Lied Fanny Hensels, das Klingemann so besonders schätzte, war im Vorjahr, am 18. Mai 1834, unter dem Titel Der 41 Fanny Hensels Lied Der Pilgrim vor St. Just, H 275. 42 Brief von Carl Klingemann an Felix Mendelssohn Bartholdy, 22.9.1835, GB-Ob, MS. M.D.M. d. 30/96 und d. 30/199. 43 Fanny Hensel. Tagebücher, hrsg. von Hans-Günter Klein und Rudolf Elvers, Wiesbaden 2002, S. 68. 44 Brief von Carl Klingemann an Felix Mendelssohn Bartholdy, 22.9.1835, GB-Ob, MS. M.D.M. d. 30/96 und d. 30/199.

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Pilgrim vor St. Just45 entstanden. Das darin vertonte Gedicht August von Platens (1796–1835) stellt einen fiktiven Monolog Kaiser Karls V. (1500–1588) vor den Toren des Hieronymiten-Klosters San Jerónimo in Yuste dar: Der letzte vom Papst gekrönte Kaiser des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation hatte im Alter von 55 Jahren abgedankt und zog sich für seine letzten Lebensjahre in die spanische Extremadura zurück. Zu dem in den letzten Zeilen angesprochenen Treffen Carl Klingemanns und Rebecka Dirichlets sollte es – wie schon erwähnt – nicht mehr kommen, nicht 1835 am Rhein, und auch nicht in späteren Jahren. Noch im Herbst 1848 beklagte Klingemann diesen Umstand in einem Brief an sie, in dem er – seit 1845 verheiratet mit Sophie Rosen (1821–1901) – die Geburt seines ersten Sohnes anzeigte: „Daß wir uns niemals sahen, davon ist die Schuld doch nur halb mein!“46 ***

Auch wenn das Wiedersehen von Fanny Hensel und Carl Klingemann in Boulogne-sur-Mer 1835 das einzige und letzte der beiden Jugendfreunde blieb, bestand der briefliche Kontakt zwischen ihnen bis zu Fanny Hensels Tod 1847 fort. Die zahlreichen, hier erstmals veröffentlichten Briefe lassen erkennen, mit welch erstaunlicher Begeisterung die Möglichkeit eines sol45 Fanny Hensel, Der Pilgrim vor St. Just, H 275, Text: August Graf von Platen, Entstehung: 18.5.1834, vgl. Renate Hellwig-Unruh, Fanny Hensel geb. Mendelssohn Bartholdy. Thematisches Verzeichnis der Kompositionen, Adliswil 2000, S. 252. Der Pilgrim vor St. Just Nacht ist’s und Stürme sausen für und für, Hispanische Mönche, schließt mir auf die Tür! Laßt hier mich ruhn, bis Glockenton mich weckt, Der zum Gebet euch in die Kirche schreckt! Bereitet mir was euer Haus vermag, Ein Ordenskleid und einen Sarkophag! Gönnt mir die kleine Zelle, weiht mich ein, Mehr als die Hälfte dieser Welt war mein. Das Haupt, das nun der Schere sich bequemt, Mit mancher Krone ward’s bediademt. Die Schulter, die der Kutte nun sich bückt, Hat kaiserlicher Hermelin geschmückt. Nun bin ich vor dem Tod den Toten gleich, Und fall in Trümmer, wie das alte Reich. 46 Brief von Carl Klingemann an Rebecka Dirichlet, 19.9.1848, D-B2, Handschriftenabteilung, Autogr. I/265/3.

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chen Treffens im Vorfeld nicht nur von Fanny Hensel, sondern auch von ihrer jüngeren Schwester Rebecka Dirichlet ins Auge gefasst wurde, wieviel Engagement und freudige Erwartung dies freisetzte und mit welcher Anteilnahme und Aufmerksamkeit es von den Außenstehenden begleitet wurde. Es ist sicherlich als Indiz für die Intensität der freundschaftlichen, ja familiären Bindung zu werten, die zwischen Klingemann und der Familie Mendelssohn während der gemeinsam verlebten Zeit in Berlin entstanden war und im fortgesetzten schriftlichen Austausch fortbestand. Die Briefe, die im Sommer 1835 im Umfeld des Musikfestes in Düsseldorf und der dadurch veranlassten Reisen der Eltern Mendelssohn, der Familien Hensel und Dirichlet sowie Carl Klingemanns geschrieben wurden, stellen einzigartige Zeugnisse einer Familien- und Freundschaftskorrespondenz dar, denn sie reflektieren ein vielfältig verzweigtes Beziehungsgeflecht. Weder vorher noch nachher zirkulieren zwischen den Mitgliedern der Familie Mendelssohn und Carl Klingemann in London Briefe in solcher Häufigkeit und emotionalen Intensität. Sie spiegeln die Sehnsucht nach der einst gemeinsam verlebten Zeit in Berlin und knüpfen an dieses unwiederbringlich Verlorene in vielen Ausdrucksformen wieder an. Der Tonfall und die Themen der Briefe lassen dabei die unterschiedlichen Verhaltensweisen, Interessen, Charaktere und Eigenarten der einzelnen Beteiligten ebenso fühlbar werden wie die familiären Beziehungen und vertrauensvollen, freundschaftlichen Bindungen. Wenige Wochen nach dieser bewegten Reisezeit, am 19. November 1835, starb – gänzlich unerwartet – Abraham Mendelssohn. Von dieser Nachricht war auch Carl Klingemann sehr betroffen und schrieb postwendend sowohl Felix Mendelssohn Bartholdy47 als auch Fanny Hensel einen Kondolenzbrief. In seinem Schreiben vom 4. Dezember 1835 an die Freundin klangen die gemeinsam verlebten Septembertage in Boulogne-sur-Mer noch einmal als Reminiszenz an, als eine durch die jüngsten Ereignisse schon in weite Ferne gerückte schöne Zeit. Gleichzeitig versuchte Klingemann, tröstliche Worte zu finden, und beschwor die in seinen Augen so charakteristische und unverbrüchliche Wesensart der Mendelssohns, die er – sich selbst oft genug als „jämmerlich melancholisch“48 beklagend, – besonders bewunderte:

47 Brief von Carl Klingemann an Felix Mendelssohn Bartholdy, 1.12.1835, GB-Ob, MS. M.D.M. d. 30/196 (unter dem Datum 31.12.1835). 48 Brief von Carl Klingemann an Felix Mendelssohn Bartholdy, 11.3.1834, GB-Ob, MS. M.D.M. d. 29/65.

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Sie haben würklich harte herbe Zeit gehabt seit den sonnenhellen Tagen, wo wir uns in Boulogne verließen! Sie sind aber ein starkes Geschlecht, Sie sämmtliche Mendelssohns, wo die physische Kraft nicht ausreicht, hilft eine geistige Macht reichlich aus, u Sie werden es der festen Mutter schon nachthun.49

49 Brief von Carl Klingemann an Fanny Hensel, 4.12.1835, D-B2, Handschriftenabteilung, Autogr. I/265/1.

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Die Macht der Gespräche Gespräche verfliegen im Moment ihres Entstehens. Sie sind ganz der Gegenwart und dem Hin und Her der Gedanken verfallen. Doch hinterlassen sie Spuren: In Briefen und Billets, in Essays und Romanen. Diese dokumentieren jedoch nicht die Momente des Zwiegesprächs oder der Geselligkeit, sondern der Einsamkeit. Die Rede setzt Anwesenheit von anderen voraus, das Schreiben dagegen deren Abwesenheit. Was also wissen wir von den Gesprächen, die die Geselligkeit in Berlin, der Hauptstadt Preußens am Anfang des 19. Jahrhunderts, belebten? In der folgenden Montage aus Briefen und Billets werden ein berühmtes Haus und eine Frau, die mehrfach den Namen wechselte, im Mittelpunkt stehen. Das Haus wird von der Familie Mendelssohn bewohnt. Wir lesen, was der Bankier Abraham Mendelssohn seiner Tochter Fanny schreibt. Wir hören die Stimmen von Fanny Hensels Geschwistern Felix Mendelssohn und Rebekka, der jüngeren Schwester, die später den Mathematiker Peter Gustav Dirichlet heiratete. Die Kunst des Gesprächs war keine Angelegenheit, die sich auf den Familienkreis beschränkte. Geselligkeit entfaltet sich erst, wenn Freunde sich der Familie zugesellen. Als Felix Mendelssohn 1829 nach England reiste, wurde er von Karl Klingemann begleitet – einem Freund der Familie. An ihn richten sich viele Briefe, die zwischen Berlin und London hin- und herwandern. Eltern, die Geschwister Mendelssohn, Freunde. Ein harmonischer Kreis, von dem wir nicht nur wissen, weil Briefe und Biletts die Abwesenden mit den Daheimgebliebenen verbanden. In diesem Kreis wurde geschrieben – und komponiert. Der zweite Ort der Geselligkeit ist viel schwieriger zu beschreiben. Wir lesen Auszüge aus Tagebüchern, Briefen und Billets, die im Umkreis von Rahel Levin entstanden. In die Geschichte eingegangen ist sie unter dem Namen Rahel Varnhagen. Sie gehörte zur Generation von Abraham Mendelssohn, war mit dessen Schwestern Dorothea Schlegel und Henriette Mendelssohn eng befreundet. Als sie um 1790 das Haus ihrer Familie öffnete, war sie eine unverheiratete junge Frau, die ihre Freunde an einem unsicheren Ort versammelte. In einem Billet Wilhelm von Humboldts an den schwedischen Diplomaten Karl Gustav Brinckmann wird deutlich, daß man auch im vergleichsweise liberalen Berlin damals nicht vergaß, wie sehr Juden nicht zur guten Gesellschaft gehörten. David Veit, ein Jugendfreund Rahel Levins und ein Neffe von Dorothea Schlegels erstem Mann Simon Veit, merkte das erst dann genau, als er Berlin

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verlassen hatte und zum Studium in die Welt zog. Seine Briefe an Rahel Levin, die zu Hause in Berlin bleiben mußte, zeigen das in aller Schärfe. Wer diskriminiert wird, sieht oft viel deutlicher, woran eine Gesellschaft krankt. Rahel Levin, eine Künstlerin des Geselligen, hat in ihren Briefen und Aufzeichnungen sehr genau darüber nachgedacht, wie Menschen zusammenkommen können. In den ersten beiden Teilen der folgenden Montage wird sie daher ausführlich zu Wort kommen. Sie erläutert ihren Freundinnen und Bekannten, was geschehen muß, damit Gespräche nicht unverbindliche Plaudereien bleiben. Sie erzieht zum Gespräch und lehrt geselliges Betragen, vor allem in Briefen, die sie an jüdische Jugendfreundinnen richtet. Aufgewachsen waren diese wie sie in wohlhabenden Berliner Familien: Regina Frohberg, die Romanschriftstellerin wurde, Sophie von Grotthuß, die als Brieffreundin von Goethe bekannt ist. Alle diese Frauen vollzogen denselben Schritt wie die Mendelssohns: sie haben sich taufen lassen und christliche Namen angenommen. Als Rahel Levin, nun die Ehefrau des preußischen Diplomaten Karl August Varnhagen, in den 1820er Jahren wieder ein offenes Haus in Berlin führte, hatte ihr Kreis von Gästen sich gewandelt. Man traf dort nun viele, die zur sogenannten „besseren“ Gesellschaft zählten. Barone – wie die Familie Reden –, Grafen, sogar ein paar Fürsten. Und daruntergemischt, Berlins bürgerliche Gesellschaft. Anders als damals Rahel Levin lud die Frau von Varnhagen gerne zum Essen. Ein Brief an Pauline Wiesel, eine Jugendfreundin, zeigt, wie man damals Gäste bewirtete. Und doch ging es nach wie vor um die Macht der Gespräche. Sei es im Hause Mendelssohn, sei es im Hause Levin Varnhagen. Gespräche waren der Lebensnerv der Geselligkeit. Gespräche, in denen es nur um die Sache gehen sollte und nicht um die Person, die sie vorbrachte. Gespräche, in denen die Welt in ihrer ganzen Vielfalt zur Frage werden konnte. Die Macht der Gespräche – ein soziales und auch ein politisches Projekt. Rahel Levin Varnhagen suchte ihren Kreis immer wieder um junge Menschen zu erweitern; sie bat politische Schriftsteller wie Heinrich Heine und Ludwig Börne zu sich. In ihren Gedichten, Aufsätzen, Essays trugen sie das große Experiment des freien Gesprächs weiter. Vorspann. Verhallende Worte Karl August Varnhagen auf einem Notizzettel in seinem Nachlass. Die Professorin Dirichlet erzählte mit vielem Wohlgefallen, wie einst, im Sommer 1829, Heinrich Heine zu ihnen – der Familie Mendelssohn-Bartholdy – gegen Abend in den Garten gekommen sei, auf den Stufen des Gartensaales vor dem

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Hinabschreiten sich in den Anblick gleichsam verloren und ihnen den etwas tiefer und ferner Sitzenden mit Entzücken zugerufen habe, welche Eindrücke er empfange, wie schön sie umgeben seien, wie leicht es ihnen da werde liebenswürdig zu sein; die hohen Bäume, das frische Gras, die duftenden Blumen, das Blau der Luft und die Wolken, die Gruppierung des Einzelnen und den Zusammenhang des Ganzen habe er so ganz wahr und so durchaus schön bezeichnet, daß es ein herrliches Gedicht geworden, so herrlich wie irgend eines seiner geschriebenen. Dann erst sei er zu ihnen herabgeschritten, und habe freundlich weiter gesprochen. Leider seien die Worte, aus dem Stegreif gesagt, in die Lüfte verflogen, und niemand habe sie festgehalten, er selbst am wenigsten. Berlin, den 15. Juni 1847. In demselben Garten.

Erziehung zum Gespräch Rahel Levin Varnhagen. Tagebuch, März 1799. In Gesellschaft muß keine Rangordnung sein; und die der Liebe, und des Vorzugs, den das Wohlwollen giebt, zur Erhöhung jeder Art von Genuß, am sorgfältigsten vermieden werden. Die Auseinandersetzung des Worts Gesellschaft sollte uns schon darauf aufmerksam machen; es ist eine Gesellenschaft zur Freude oder dergleichen. Kein Meister ist darunter, lauter sich gleiche Gesellen; und da steht es niemanden an, Meister zu sein. Daher ist küssen so lächerlich oder unanständig in Gesellschaft. Küssen sich Alle, so ist es der erste Fall; küßt man Einen, der letzte. David Veit an Rahel Levin Varnhagen in Berlin. Jena, den 10. November 1794. Ach, liebe Levin, nur die Franzosen verstehen sich darauf, den eigentlichen Trotz mit der Manier der Höflichkeit zu verbinden; hier athmet alles Aufklärungssucht; Unbiegsamkeit heißt Freiheit, Grobheit nennt man Simplizität, und Lebensart Verstellung. Von Nüancen, von übereinstimmenden Tönen im Gespräch, aus denen eigentlich die wahre Konversation besteht, von der höheren Gattung des Witzes, die so viel Einfluß auf Karakter und Genie hat, wissen sie nichts....Ich weiß mir das gar nicht zu erklären, daß ich hier, wo ich keinen Juden sehe, und alle Vortheile der Studenten ohne Kränkung mitgenieße, so oft an meine Judenheit denke. Wilhelm von Humboldt an Karl Gustav von Brinckmann. Berlin, Winter 1794. Es ist heute Montag, lieber Brinkmann […] Wo aber finden wir uns? Ich kann Sie überall aufsuchen. Bestimmen Sie mir nur Ort und Stunde. Ein kühnes Rendevouz wüßte ich wohl, ich halte es nur für zu kühn. Das wäre bei der

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Gräfin Voß. Sie hat mir gestern wieder unendlich gefallen, – ach! Gott! und wie ziehe ich sie allen Gräfinnen vor, die man erst mit Jüdinnen vergleichen muß, um sie erträglich zu finden. […] Nach dem Souper aber habe ich mich sehr gut amusirt. Ich bin zwei Stunden lang mit Gentz spatzieren gegegangen, und er war prächtig. – Da das Projekt zur Gräfin Voß wohl gewiß auch Ihnen zu kühn vorkommt, so sinke ich wieder zu Israel herab, und schlage Ihnen die Levin vor. Ist sie nicht zu Hause, so kommen Sie zu mir und warten mich hier ab. Nicht wahr? H. Abraham Mendelssohn an Fanny Mendelssohn in Berlin. Amsterdam, den 5. April 1819. Du bist nun schon weit genug, um außer den Begebenheiten auch in Deinen Gedanken Stoff genug zur Unterhaltung mit mir zu finden, und es würde mir angenehm sein, wenn Du diejenigen, welche Deine Beschäftigungen in Dir erzeugen müssen, von Zeit zu Zeit mittheiltest. Namentlich hat mir […] Mutter manches von Deinen Stunden beim Herrn Prediger gesagt. Tue das jetzt, damit ich lese, da ich nicht mehr sehen kann, welche Wirkung das, was Du lernst, auf Dein Gemüt und Deinen Verstand hat. […] Es ist dies die würdigste Art, dem Schöpfer zu danken und ihn zu ehren. Unser aller Schöpfer. Es gibt – die Religion sei welche sie wolle – nur einen Gott, nur eine Tugend, nur eine Wahrheit, nur ein Glück. Du findest alle, wenn Du der Stimme Deines Herzens folgst; lebe so, daß sie immer im Einklange mit der Stimme Deiner Vernunft bleibt. Rahel Levin Varnhagen an Regina Frohberg in Berlin. Berlin, 1807.

Ich hasse die Mördergruben: also ‚raus mit der Sprache! Auch ich bin krank; und kenne genau Krankheit, und Zwang. Sie sind krank: das ist wahr. Ihre Seele quält Ihren Körper. Desto mehr hängt alles von ihr ab. Sie können ganz munter sein; das weiß ich, das sieht man; denn Sie sind es oft; lieben, Witz, Spaß; machen ihn. Wenn es Ihnen ganz komplet gut geht, dann äußern Sie diese Talente. Glauben Sie denn, mir ginge es immer so? O! nein! Man muß sich preisgeben! Was glauben Sie denn, zum Beispiel, wäre gestern Abend daraus entstanden, wenn ich in der Gesellschaft meine Seele gezeigt hätte, wie sie ist??? He! Ich zwang mich. Und das können wir Alle. Ein ganz richtiger Takt für das Schickliche, für Verlegenheit, macht es uns leicht, flößt uns die Mittel ein, macht es uns unmöglich anders zu sein. Ihnen ist noch nicht begegnet, was mir begegnet ist! Mit dem Tod im Herzen betrug ich mich, wie ich mich jetzt betrage. Und besonders rettete ich immer Andere aus Gesellschafts-Verlegenheit. Wie oft, selbst bei Ihnen, fand ich voriges Jahr unpassende Gesellschaft: die mich haßte. Gleich geb ich mich preis; rettete Sie zuerst. Dozirte, oder

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war bouffon. „Ich kann das nicht, liebe Rahel!“ Nun so können Sie etwas anderes. Sie haben Geist, Sinn, Unterricht; Sie können sehr spaßhaft sein, wenn es Ihnen einfällt; reden mit großer Lebhaftigkeit, wenn Sie glauben, daß es Zeit ist. Warum fühlen Sie nicht, wenn es Zeit ist einen Andern zu retten? grade, nur durch Gespräch? Weil Sie denken, es ist nicht nöthig: es geht so. Sie wagen nichts, bleiben immer in Ihrem Lande. Ja, so kann ich‘s auch machen! Was wäre aus Ihrer Soiree geworden, wenn ich mich nicht gleich und in aller Manier geopfert hätte? Dies nur ein albernes Exempel. „Meine Schwäche!“ werden Sie sagen; die läugne ich eben. Sie sind jung: hübsch, geliebt, vorgezogen in Gesellschaft: welcher Vortheil! Von mir unterstützt! Ich, nichts von dem! Verkannt, gehaßt; und muß mich und mein Äußeres immer erst legitimiren. Welcher Unterschied! Aber bloß meine Güte; der liebe Wille für die Gesellschaft; für jedes Mitglied derselben! Das nennen die Ochsen Verstand! Sie sehen doch wohl, daß es das schönste Herz, das unbefangenste, liebste Gemüthe ist?? Dies haben Sie auch. Und dies kehren Sie hervor! Denken Sie nicht an sich in Gesellschaft: ich thue es auch nicht. Dies ist die ganze Kunst! Mit Ihnen bin ich wahr. Sie können es vertragen: wir haben ja so vieles, so viel schon in Ordnung. Die Kunst der Geselligkeit Rahel Levin Varnhagen an Sophie von Grotthuß in Oranienburg. Berlin, im Dezember 1824. Berlin, Mittwoch Vormittag 12 Uhr. Trübes, graues, nasses Herbstwetter; wärmliche, unbestimmte Temperatur. Sehr schwarze Straßen. Seit vorgestern, oder vielmehr vorvorgestern Abend, als ich deinen Brief erhielt, theure Grotta, will ich dir antworten, und – ist’s glaublich – bin ich daran verhindert! Ein großer Bestandtheil aller Verhinderung ist meine possirliche Gesundheit. Mit kürzesten Worten: nicht zweimal die Woche mehr – so wechslen bizarre Übel, Krisen, Nerven- und Rheuma-Tollheit in mir ab – hab’ ich drei- bis vierminutenweise ein Erinnerungsgefühl – und gleich, und mir alsdann nicht gleich erklärliche Munterkeit – von Gesundheitsgefühl! Auf Ehre und Gewissen, leider! buchstäblich wahr! Das Abgeschmackteste ist aber, daß ich die Feder ohne höchstes Echauffement nicht führen kann. Welches mich in meinem ganzen geistigen Wirken und Treiben stört, meine Korrespondenzen so gut wie aufhebt; alles, was ich sonst zu Papier brächte, so gut wie getödtet hat; und schlimmstens, das, was ich dennoch schreibe, komplet entstellt. Da ich nur zu schreiben vermag, wenn eine gewisse Entzündung in mir Statt hat, die Geist, Erinnerung, Kombination und Einfälle hervorbringt,

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in Licht und Bewegung setzt; so stört ein körperliches Hinderniß vollkommen diese ganze Operation; ich habe keine fertigen Gedankenpläne zur Ausarbeitung in mir vorliegen: sondern Einfall, Anregung, Gedanke, Ausdruck, ist alles eine und dieselbe Explosion und ein Fluß. Hab’ ich nun eine schlechte Feder – die mich noch mehr irritirt – oder bin nervenzitternd bis zur Bläue – welches nach der ersten Seite Statt hat – erhitzt, so wird Phrase, Wort, Ausdruck, Form und Reihe der Gedanken, Periode, Ton des Ganzen, davon affizirt; kurz, holprig, fließend, gelinde, streng, scherzhaft, ruhig: je nachdem! Und beinah immer brech’ ich mitten im Erguß, ihn selbst, oder seinen Ausdruck ab. Dieses für mich große Übel hat auch dir oft die schönsten Briefe vorenthalten: und Einmal, Freundin! wollte ich dir es doch vorskizziren. So hätte ich dir vorgestern gewiß sehr gut geschrieben, denn ich war ganz voll von deinem Brief. Freundschaft ist kein leeres Wort! Goethe definirt sie in der Elegie so: „Freunde, Gleichgesinnte, nur herein!“ und ewig frappirte mich dies Wort; und gleich, für ewig. Was sind Freunde? Gleichgesinnte. Und wo kann der Mensch, die Kreatur, am Ende aller Dinge hin, als zum Geist der Geister. Über diese Gegenstände müssen Freunde – wie wir selbst – sich besprechen; der Tod, als das Aufhören alles Seins, welches aufhören kann, muß uns an das Absolute mahnen, und dies an unsre höchsten Gedanken: und in und bei diesen müssen wir Gleichgesinnte haben; dies ist der höchste Punkt der Geselligkeit, und der tiefste: und daher der Quell und das Mobil aller, noch so geringfähig scheinender. Also, Liebe, ist es natürlich, und mit Recht, daß du an mich dachtest, als du dein Übel für ernst halten mußtest; und das ist mir ein großer Trost. Das ist Sprache, Mittheilung, und ihr Werkzeug Vernunft – ohne sie kein Verständigen, keine Bürgschaft – und das Herz, die große Uhr, die auf Wohl und Weh zeigt. Kurz, das höchst-Menschliche und das Höchste für den Menschen. Pauvre humanité! Sagt Mad. Staël. Laß diese Männerworte (olle Definitionen!) wie sie mir gerathen sind, dir als Zärtlichkeiten dienen! Es geht! da du weißt, daß ich auch zärtlich bin. Gewiß, liebe Sara, wäre ich gekommen; so wie du’s ernstlich wünschest, und es dir wahrhaft Trost ist. Nur damals, als du schreiben wolltest, war ich selbst sehr übel. Doch ist es auch mir genug, daß du mich wolltest. Dabei strömen die Einladungen jetzt nur so! Gestern bei Hofrath Nernst’ens, und bei Schleiermacher’s zur Musik, ich war bei letztern! Gute Gesellschaft. Belmonte und Konstanze von den kleinen Markuse’s, Schleiermacher’s Kindern, Zelter’s Akademikern, sehr gut beim Piano aufgeführt. Prächtiges Werk! Soupé, dreißig Personen, ohne Spannung irgend einer Art. Alles natürlich, richtig, erfreulich. Heute, zu heute, „freundschaftlich“, zu Mad. Beer im Thiergarten, Mad. Grünbaum dort, Musik. Zwei große Soireen ganz kürzlich dort. Sonnabend, bei Mad. Milder: und so immer herum. Dazwischen ich: Wangenheim, würtembergischer Minister; Steffens,

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Mendelssohn’s; etc. etc. Bald muß ich wieder; und so der Strom. Man entgeht ihm hier nicht. Doch ist die erste société sehr heraus im Geselligen: sie selbst, und alles klagt darüber. Rahel Levin Varnhagen an Henriette die Ältere und Henriette von Reden in Rom. Berlin, den 9. Juni 1820. Auch muß ich der Stadt im Winter ihre Gerechtigkeit widerfahren lassen: es ist gewiß die reichste, vielfältigste und vielhaltigste deutsche Stadt, in Rücksicht des geselligen Umgangs. Mehr Frauen, die häuslich empfangen, findet man wohl außer in Paris nirgend; mehr Streben zum Wissen und Sein wohl auch schwerlich, trotz der allgemeinen Zerstörung, und neuen Aufbauung der Gesellschaft, die allenthalben zu verspüren, und auch hier nicht ohne Wirkung ist. Rahel Levin Varnhagen an Pauline Wiesel in Baden-Baden. Berlin, den 5. Februar 1831. Alle Abend einige unverhoffte Leute: Morgen gebeten 12. 13. Langhanssche Tochter; Madame Richter mit ihrer; schönes Mädchen die da singt. Henriette Solmar. Klug, unterrichtet angenehm. Fanny mit ihren Mann singen – mit zwei Mademoiselles Enzigs, die bey ihr zu Gaste sind, Advokaten Töchter hübsch klug. Graf Kleist, Graf Lippe – der erste ein Erster und sehr hübsch, Mann einer Gräfin Medem, der ältesten Medem Tochter; Cousine der Duchesse Dunc. Ein Herr Schall: Dichter, Komiker, höchst artig, gebildet, 50. Jahr; und die Unverhofften.1 Ausgehn thue ich fast gar nicht. Nur wenn meine Nächsten so großen Werth drauf setzen. Eßen? Butterfische wie bey Mama; mit Klösse; Reh und Pute – das Reh war heute zu klein auf dem Markt - Reis kalt mit ZitronenSaft – sehr vortrefflich, dazu Biskuit, Kastanien. Zum Braten Apfel, Preißelbeeren, Selleriesalat. Aus. Alles zu Ihrem Amüsement. Ich bitte immer nur 12. Aber sehr oft: Mittag nie. Rahel Levin Varnhagen an Ludwig Börne in Frankfurt am Main. Berlin. Sonntag früh 11 Uhr, den 11. Sept. 1825. Endlich schönes Frankfurter Wetter. Machen Sie es sich zunutze, lieber Dr. Börne, daß ich Sie aus Ihrer Ruhe gestört habe, und reisen nun, mir und vielen zu Nutz und Freude, gleich ab. Noch ist das Wetter köstlich, die Wege herrlich, der Mondschein 1 Der Brief zeigt sehr genau die Mischung von ‚wichtigen‘ und ‚unwichtigen‘ Besuchern. Einige der hier im Telegrammstil aufgezählten Besucher konnten wir auch nach aufwändigen Recherchen nicht identifizieren. Interessant auch, dass die Anzahl der Gäste „12. 13“ nicht überschreiten sollte.

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tritt bald wieder ein. Sie kommen auf lauter gute Wirtshäuser […] Ich möchte Ihnen Ihre Pakete machen, Ihnen alle Unbequemlichkeiten wegräumen und übernehmen. Ihre Gedan­ken im Kopf, mit einem Griff der Hand, mit sechs eindringlichen Worten zum Entschluß knöten. Knöten, das Wort steht da. Sie, ich bin es gewiß, werden auch seine besseren Seiten einsehen. Wie ich nur so auf Ihr Herkommen dringen kann? Weil ich nicht allein den Vorteil davon haben werde – würde will ich gar nicht mehr aufkommen lassen. Weil es ein großer für Sie wäre, und gleich für viele. […] Sie fehlen mir, ich fehle Ihnen. Sie sind mein pair in innerer Seele, ich könnte auch sagen: ich will, ich kann wie Klärchen in Egmont die Fahne sein, die Euch alle führt. Aber ich bin auch die Trommel, die Schlachtmusik, die Feldprediger, die restaurierende Marketenderin, die Wäscherin, die Pflegerin, die Aufhetzerin, der Sporn, führe den Balsam in der Feldapotheke. Will auch zerstreuen, Komödienbillette schaffen, Früchte, besseren Wein. Will auch Sänger einladen, dumme, angenehme Leute, kurz, verführen und helfen aus allen meinen Kräften. […] Es bildet sich Kreis an Kreis, schließt sich Freund an Freund! Und daß nur so viel Geselliges, Dummes vergeht, regt ja am meisten zum Denken auf: mich, also auch Sie. Hier bleiben sollen Sie ja nicht: ich sehe es aber hier an, und Sie werden es einsehen als ein russisches Bad der Seele. Alle Stockungen werden gehoben; die wenigsten, die das deutsche Klima dem Geist zu- und entgegenweht. Sie schreiben mir, wann Sie kommen, und daß es bald ist. Gespräche in Worten und Noten Fanny Mendelssohn an Karl Klingemann in London. Berlin, den 12. September 1828. Was übrigens die Gratulation zu meinem Geburtstage betrifft, so haben Sie vielen Dank dafür, die Reime waren ein wahres Gedicht. Man hat ihn mir sehr angenehm gemacht, diesen Geburtstag, und ich kann nicht leugnen, daß ich am Abend ganz ermattet war von vielem Besuchempfangen und Reden und Danken. Felix hat mir dreierlei gegeben, ein Stück in mein Stammbuch, ein „Lied ohne Worte“, wie er in neuerer Zeit einige sehr schön gemacht hat, ein anderes Klavierstück, vor kurzem komponiert und mir schon bekannt und ein großes Werk, ein vierchöriges Stück Antiphona et Responsorium, über die Worte Hora est, jam nos de somno surgere usw. […] Seine Richtung befestigt sich immer mehr, und er geht bestimmt einem selbstge­steckten, ihm klar bewußten Ziel entgegen, welches ich mit Worten nicht deutlich zu bezeichnen wüßte, vielleicht weil sich überhaupt eine Kunstidee nicht wohl in Worte kleiden läßt, denn sonst würde Wortpoesie die einzige Kunst sein.

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Fanny Hensel an Felix Mendelssohn Bartholdy in England. Berlin, den 25. Mai 1829. Eben habe ich meine Lieder2 fertig geschrieben und bitte Dich, verfahre damit, nicht als seyen sie aus der Ferne an Dich gerichtet, denn das giebt der Sache nur einen relativen Werth, sondern als hätte ich Lieder mit den und den Fehlern gemacht, und bate Dich um eine kritische Rücksicht darauf. Eins ist darunter, welches ich für eins meiner besten Lieder halte, ich will einmal sehn, ob Du auch der Meinung seyn wirst, Du wirst es sehr schön finden. Felix Mendelssohn Bartholdy an Fanny Hensel in Berlin. London, den 9. Juli 1829. Ich denke es ist die schönste Musik, die jetzt ein Mensch auf der Erde machen kann. Wenigstens hat mich nie etwas so durch und durch belebt und ergriffen. Der Teufel hole kalte Worte. Aber es giebt Töne, die sich aufbäumen und Sprache bekommen, und einem ins Ohr schreien, und wo nicht einer singt, sondern alle, die so empfunden haben, und jeder gute Mensch hat so empfunden, nur kann er es nicht sagen; da möchte man nun knien, wenns einer mal sagt, und den vielen Stummen Sprache gibt. Solche Lieder werden nie wieder gemacht werden. […] Das ist die innere, innerste Seele von der Musik; und fange ich nun an den Schluß zu spielen, so muß ich sie alle singen, denn keins ist schwächer, ich kann nirgends aufhören, zu letzt singe ich dann das erste noch nach, worin die Worte gesprochen werden; und wenn sich die Heimkehr nach h dur hinaufschwingt, und ich mir die Seele aussinge, wenn das Hochland so fremd auftritt, und das Terzett am Ende! Es hat ja gar keine Ähnlichkeit mit meinem: was das für Einfälle sind! Es spricht noch eine ganz andre Sprache, als meins. Und dann das grave, was bitter ist! Solche Musik habe ich nie gehört; auch werde ich in meinem Leben nichts Ähnliches machen; das thut aber nichts, wenns nur in der Welt ist; einerley, wer es ausgesprochen hat. Fanny Hensel an Felix Mendelssohn Bartholdy in England. Berlin, den 13. Juli 1829. Ich fange diesmal recht früh mit dem Schreiben an, weil ich Dir, mein liebster Felix, gern viel sagen möchte. Erstlich möchte ich Dir so gerne danken, wie mich Dein Brief beglückt hat, und da hat schon die Sache ein Ende. Gelesen und wieder gelesen habe ich Deinen Brief, wie Du meine Lieder, und weiß ihn eben so gut auswendig, und wenn ich damit zu Ende bin, denke ich immer noch eine kleine Coda dazu, die heißt: wie bin ich armes Schaf doch so glücklich, daß ich Dir solche Freude habe machen können, und dann singe ich den 2 Gemeint ist der “Liederkreis. An Felix, während seiner ersten Abwesenheit in England 1829.“

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Schluß des 2ten Liedes, das mir allerdings immer am Besten gefallen hat, und finde ihn gar nicht übel. Im Haus Mendelssohn, Leipziger Straße 3 Motto: Fanny Mendelssohn Bartholdy an Karl Klingemann in London. Berlin, den 18. Juni 1828. In unserem Hause, wo, wie Sie wissen, jede unschuldige Wettermei­nung hartnäckige Parteikämpfe ins Leben ruft… Felix Mendelssohn Bartholdy an Rebekka Mendelssohn in Berlin. Glasgow, den 10. August 1829. Mein liebstes Beckchen! Höre an! Wir wollen jetzt miteinander froh plaudern und von der Zukunft sprechen, von der ich vielleicht jetzt mehr weiß als Du, denn ich male viel daran herum und will Dir hier nun meinen Hauptplan mitteilen, darum schreibe ich an Dich, oder vielmehr darum setze ich mich auf den Sofa und spreche Dir ins Ohr, leise. Von Glasgow tönts hinüber, und im Augenblick ist die Enferung weg, denn Du hast gar keinen Begriff, wie ich Dich liebe und wie nahe ich mich Dir denken muß, um froh zu sein, und wie jede frohe Stunde Du mir verschaffst, und wie ich in meinem Leben nie anders denken und fühlen werde. Nie! – Kannst ein dickes Haus auf mich bauen, ich halte fest. Aber es ist sonderbar, daß ich keine Note schreiben könnte, wärst Du nicht auf der Welt, möcht auch nicht leben. Guten Abend, liebes Beckchen! […] Nun ists vorbei; ich gehe aus der Stube, Du willst mich am Flausrock festhalten, ich laufe aber doch fort, gucke natürlich gleich wieder durch die Türe. Nun fragst Du, ob Du nächsten Winter zwei Stuben bewohnen sollst? Nein, denn ich brauche eine davon und will während meines Aufenthalts wieder malen. Gesegnete Mahlzeit! […] Dein Bruder. Fanny Hensel an Karl Klingemann in London. Berlin, Januar 1836. Ich will den Brief gleich anfangen, damit er angefangen sei und ich ihn dann gelegentlich weiterschreiben und gelegentlich abschicken könnte. Die Korrespondenz mit Ihnen ist so erfreulicher Art, daß sie die einzige ist, die ich fortsetze und willentlich gewiß nicht ins Stocken geraten lassen werde. Denn schriftlich wie im Leben liebe ich solchen Umgang, vor dem man sich auch einmal maussade und maulfaul zeigen darf, ohne daß der andere gleich Absicht oder Beleidigung darin sieht. Man muß auch einmal einen Brief schreiben dürfen, in dem nichts steht als „guten Tag, antworten Sie bald“.

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Abraham Mendelssohn an die Familie in Berlin. Paris, den 16. August 1830. Da, wo ein mächtiger Revolutionsinstinkt sich im Volke entwickelt und geäußert hat, da scheint mir ein legaler Zustand in dem Sinne, wie wir dieses Wort nehmen und verstehen können, ganz und gar unmöglich. Ganz neue Formen und Verhältnisse müssen sich bilden, um einem solchen Volke zu entsprechen und zu genügen; alles Vorhandene ist abgenutzt und wird langweilig und lächerlich, und ich irre mich sehr, oder dies Gefühl fängt schon an, sich zu äußern. Ein Volk, wie das Pariser sich gezeigt hat, ist entweder im Gefühl eigener Stärke und Mündigkeit allen Einflüssen und Einwirkungen individueller Überlegenheit entwachsen, und dann steht es schlimm um das Bestehende, oder aber es wird eine furchtbare, unwiderstehliche Waffe in den Händen derer, die es zu gebrauchen wissen, und dann steht es wieder schlimm um das Bestehende. Fanny Mendelssohn an Karl Klingemann in London. Berlin, den 22. März 1829. Mein Gedächtnis, so tot für Erlerntes, ist unerschüttlich für Erlebtes, und alle Freunde und Genossen einer frischen Jugendzeit sollen wahrlich durch keine Verhältniss und Verhängnisse daraus verdrängt werden. Zudem wird unsere Korrespondenz jetzt durch Felixens Aufenthalt in London einen neuen Aufschwung erhalten […]. Bereiten Sie ihm manche ruhige Stunde, in der er alte Jahre und neue Augenblicke und tönende Ahnungen künftiger Stunden ausbreite, und lenken Sie das Gespräch oft auf uns, oder vielmehr lenken Sie es nicht ab, denn er wird oft genug mit dem Herzen und einem eigentümlichen, feuchtglänzenden Blick bei uns sein. […] Beinahe hätte ich vergessen, Ihnen zu danken, daß Sie erst aus meiner Verlobungskarte geschlossen haben, ich sei ein Weib wie andere, ich meinesteils war darüber längst im klaren, ist doch mein Bräutigam auch ein Mann wie andere. Daß man übrigens seine elende Weibsnatur jeden Tag, auf jedem Schritt seines Lebens von den Herren der Schöpfung vorgerückt bekommt, ist ein Punkt, der einen in Wut und somit um die Weiblichkeit bringen könnte, wenn nicht dadurch das Übel ärger würde. Felix Mendelssohn Bartholdy an die Geschwister in Berlin. London, den 25. Juni 1829. Ich sehne mich nach Euch! Und namentlich heute. Es ist Sommer, und die Saison geht zu Ende; der erste Abend, den ich nun allein auf meiner Stube sitzen kann, drum will ich ihn auch anwenden, mit Euch einen Kongreß zu halten. Draußen gehen die Leute spazieren, pfeifen aus der „Stummen von Portici“ und dem „Freischütz“, und die Wagen in Regent Street rasseln heftig. Ihr sitzt in den Ecken des Sofas, ich klemme mich in die Mitte, und nun gehts

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los. Das Tagebuch wird Tageblatt und folgt auf der nächsten Seite. Aber vor allen Dingen: was ist Eure Meinung über das Programm zur silbernen Hochzeit [der Eltern] im Dezember? Schickt mir umgehend Eure Ideen darüber; wenn die Sache aber wenigstens so glänzend wird wie Euer kaiserlicher Einzug, so sage ich mich von allem los und feiere nicht mit. Eine große Musik mit neuen schottischen Kompositionen, wozu Du, o ältester Otter, auch etwas schreiben mußt, schlage ich unmaßgeblich vor; auch kann Braham eine Arie singen und Neate ein Konzert spielen usw; auch kann nichts ohne Komödie, Maskerade, Diner und einen Ball geschehen; wenn ich auch stille Hochzeiten lobe, so müssen silberne Hochzeiten doch laut sein. Braucht ihr eine Dampfmaschine dazu, so kann ich sie Euch mit der Gesandtschaft schicken, die Kosten sind unbedeutend, da seit kurzem hier eine Dampfmaschine eingerichtet ist, die Dampfmaschinen fabriziert; oder wollen wir einen kleinen Ostindienfahrer verehren? Die Macht der Gespräche Verwehte Stimmen aus der Vergangenheit. Hier, auf dem Papier, in ein imaginäres Gespräch verwickelt, das sich der Lektüre von Briefausgaben verdankt. Am 25. Juni 2009 waren diese Stimmen in einer Aufführung an der Musikhochschule in Hamburg zu hören. Dazu Klaviermusik, ein Streichtrio und Gesang auch das Gezwitscher von Vögeln draußen im Garten, der sich zur Alster hinunterzieht. Die Flüchtigkeit des gesprochenen Worts und aufgeführter Musik in die Flüchtigkeit eines kühlen Sommerabends gerettet. So lassen sich Traditionen stiften: In immer neuen Momenten des einsamen Lesens und Hörens, des Gesprächs zu zweit oder zu vielen. Und an solchen Abenden, an denen sehr fein und genau vorbereitet, eine vergangene Kultur in die Gegenwart fällt und uns bewegt. Diese Traditionen lassen sich schlecht in Stein hauen. Sie sind auf ein Wagnis verwiesen. Sie brauchen Menschen, die diesen Momenten Zeit und Raum geben. Die das Vergangene mit großer Sorgfalt in das Gegenwärtige retten und ihm damit ein Weiterleben ermöglichen. Menschen wie Beatrix Borchard, eine Meisterin dieser Kunst.