Studien zur Rationalitätsgeschichte im älteren Iran Ein Beitrag zur Achsenzeitdiskussion 3447109866, 9783447109864

English summary: Although the idea of a Euro-Asian Axis Age can be traced back to the pioneer of Iranian studies, Anquet

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Studien zur Rationalitätsgeschichte im älteren Iran Ein Beitrag zur Achsenzeitdiskussion
 3447109866, 9783447109864

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Titel
Impressum
Inhalt
Zur Einleitung
I Besichtigung der Jaspers’schen Elemente einer Theorie der Achsenzeit
II Die minime Abweichung. Zu einer indo-iranischen Ritualdifferenz und ihren Folgen
III Daēnā, Xratu und das Moment des Schauens. Wissenserwerb im älteren und mittleren Zoroastrismus
IV Gefügtes – Gesetztes. Überlegungen zur Genese von Darius’ "manā dāta" „mein Gesetz“
V Die Dialektik der Achsenzeit. Von der Objektwerdung des Subjektes im achämenidischen Iran
Index ausgewählter Belegstellen
Abkürzungsverzeichnis
Bibliographie

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IRANICA IRANICA26 26

. Studien König zur Rationalitätsgeschichte imim älteren IranHarrassowitz König· Studien zur Rationalitätsgeschichte älteren Iran Harrassowitz

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IRANICA 26 IRANICA 26 Götz König

Studien zur Rationalitätsgeschichte im älteren Iran Ein Beitrag zur Achsenzeitdiskussion

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© 2018, Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden ISBN Print: 978-3-447-10986-4 — ISBN E-Book: 978-3-447-19739-7

IRANICA Herausgegeben von Alberto Cantera und Maria Macuch Band 26

2018

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Götz König

Studien zur Rationalitätsgeschichte im älteren Iran Ein Beitrag zur Achsenzeitdiskussion

2018

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Bibliographic information published by the Deutsche Nationalbibliothek The Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available in the internet at http://dnb.dnb.de.

Informationen zum Verlagsprogramm finden Sie unter http://www.harrassowitz-verlag.de © Otto Harrassowitz GmbH & Co. KG, Wiesbaden 2018 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen jeder Art, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung in elektronische Systeme. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz und Layout: Tatsiana Harting Druck und Verarbeitung: Memminger MedienCentrum AG Printed in Germany ISSN 0944-1271 ISBN 978-3-447-10986-4 e-ISBN PDF 978-3-447-19739-7

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Meinen Eltern

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Inhalt Zur Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 I  Besichtigung der Jaspers’schen Elemente einer Theorie der Achsenzeit 9 II  Die minime Abweichung.  Zu einer indo-iranischen Ritualdifferenz und ihren Folgen . . . . . . . 37 III  Daēnā, Xratu und das Moment des Schauens.  Wissenserwerb im älteren und mittleren Zoroastrismus . . . . . . . . . 56 IV  Gefügtes – Gesetztes.  Überlegungen zur Genese von Darius’ manā dāta- „mein Gesetz“ . . 115 V  Die Dialektik der Achsenzeit.  Von der Objektwerdung des Subjektes im achämenidischen Iran . . . . 151 Index ausgewählter Belegstellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225

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Zur Einleitung Das vorliegende Buch ist zwar weitgehend aus Texten zusammengestellt, deren Entstehung auf unterschiedliche, letztlich über Jahre sich erstreckende Anlässe zurückgeht, die aber gleichwohl schon lange von mir als Teile eines (zukünftig noch weiter auszuarbeitenden) Themenkreises verstanden wurden, den ich in verschiedenen Zusammenhängen bereits als „Rationalitätsgeschichte des Alten Iran“ benannt habe. Mit dem Begriff der Rationalität, Zentralbegriff der Weber’schen historischen Soziologie, (in verdeckter Weise1) der Achsenzeittheorie wie auch der Dialektik der Aufklärung, versuche ich zu bezeichnen, was ich glaube im ,axialen‘ Rahmen, d. h. im ersten, vielleicht schon im zweiten Jahrtausend v. Chr. als ein historisches, also charakteristisches, in und seit jener Zeit ausgreifendes und sich (weitgehend, aber nicht kontinuierlich oder einsträngig) verdichtendes Bildungsmuster von ‚Subjekten‘ und ‚Objekten‘ und deren verschiedenen und wechselseitig wirkenden Relationen erkennen und für den älteren Iran spezifisch beschreiben zu können. Es ist dabei meine Absicht, die Schichten jenes Musters, aus denen sich m. E. die altiranischen Materialien zusammenfügen, nicht nur jeweils für sich zu analysieren, sondern mich dem Bildungsprozess selbst, und das heißt auch seiner (partiellen) Hybridität und Dialektik, anzunähern. Text I schafft eine mögliche Perspektive auf die Materialien und die Kernproblematik, die Rationalitätsfrage. Es ist der Versuch, in kritischer Lesung des die Theorie der Achsenzeit (wieder-)begründenden Buches von Karl Jaspers Vom Ursprung und Ziel der Geschichte (1949 [= 1955]) die Gründe namhaft zu machen, die durch theorieimmanente Entscheidungen zu einem weitgehenden Verschwinden bzw. Nichtbeachten des Iran in den Debatten um die Achsenzeit beigetragen haben. So wird Jaspers’ interessanter Entwurf eines den Iran einschließenden antiken Kulturkreises „Abendland“ durch die methodologischen Grundperspektiven einer Rekonstruktion a) der Sozialgeschichte nach Maßgabe der Geistes­geschichte, b) der euro-asiatischen Welt des 1. Jt. v. Chr. als eines drei parallele, jedoch berührungslose Entwicklungen zeigenden Kulturraums (Abendland; Indien; China) insofern für den Alten Iran prekär, als sowohl der Weltreichscharakter des Achämenidenreiches nicht dem sozial­geschichtlichen Modell Jaspers’ sich einfügt, und auch eine postulierte Berührungslosigkeit von Iran und Indien hart gegen die wissenschaftlichen Tatsachen steht. Der axialen Ortlosigkeit fällt der Alte Iran aber durch Jaspers’ Reformulierung 1 Siehe Schwartz 1975 a , S. 2.

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Zur Einleitung

seines Modells anheim, die, bedingt durch die Beschreibung der Moderne als eine zweite Achsen­zeit sowie durch die daraus resultierende herausgehobene Position Europas, das axiale Kulturkreismodell mit der (aus Herodot hergeleiteten) Orient-Okzident-Spaltung überblendet, den Iran also aus dem AbendlandBegriff auskoppeln muss, ohne ihn doch einem anderen Kulturkreis zuschlagen zu können. Die missliche Situation ist freilich in unterschiedlicher Weise aufhebbar. Zum einen muss eine Achsenzeittheorie nicht notwendig ein Primat des Geistes einfordern und darf auf keinen Fall die (von Jaspers so viel beschworene) historische Empirie nach diesem modeln. Sodann ist die in Anspruch genommene Orient-Okzident-Spaltung differenziert zu beschreiben: Keineswegs als ein, wie Jaspers glaubte, „ewiger Gegensatz“2, sondern vielmehr als eine historisch durchaus labile Differenz, die sich durch bestimmte Schnitte (Rom contra Parther, Sasaniden; Islam / Christentum; Osmanen / Europa; Orientierung Europas nach Westen seit 1500 und partielle Kolonialisierung Asiens) (immer wieder) hergestellt hat und in einer bestimmten Herodot-Lektüre glaubte ihren schon antiken Referenzpunkt und Ursprung auffinden zu können. Schließlich, und damit verbunden, scheint es weder theoretisch zwingend und in sich stimmig noch sinnvoll und auch nicht von den Tatsachen gedeckt zu sein, für die Antike einen Kulturkreisparallelismus anzusetzen. Widerstreitet bereits der ursprüngliche Zusammenschluss Jaspers’ der axialen Kulturen Griechenlands, Palästinas und Irans zu einem Kulturkreis der Behauptung kultureller Berührungslosigkeit, so scheint die Negierung eines Kontakts jenes „Abendlandes“ mit dem Alten Indien vor allem Folge des Wunsches zu sein, das für die Antike entworfene Kulturkreismodell nicht lediglich auf zwei unabhängige Kreise, einen von Griechenland bis Indien reichenden Kontaktraum und einen chinesischen, zu gründen. Auch wenn bis heute chinesisch-iranische Kontakte vor der Partherzeit (und damit in der Achsenzeit) nicht und lediglich der Transport/Transfer bestimmter iranischer Kulturgüter bis in den Altai bezeugt sind, und eine kontaktbasierte Reformulierung der Achsenzeittheorie hier auf eine bedeutende empirische Schwierigkeit stößt, so kann doch die Bedeutung gerade des Alten Iran, namentlich des Achämenidenreiches als der große von Griechen­land bis Indien reichende Kontaktraum der Achsenzeit, nicht länger in der Achsenzeittheorie unreflektiert bleiben. Obgleich Jaspers und mit ihm die meisten Achsenzeittheoretiker keineswegs eine Zugehörigkeit des Alten Iran zur Achsenzeit leugnen, allerdings aus der systematischen Problematik heraus den Iran, und zwar den Iran der Achämeniden, gern als ein verspätetes Glied der Vor-Achsenzeit zuschlagen möchten, und bei manchen Theoretikern ein (doch zunächst nur Ostiran zugehöriger) historischer Zaraϑuštra noch immer für eine ethische Wende des Iran einstehen soll, trifft sich die tatsächlich prekäre Situation, die der Iran in der Achsenzeittheorie einnimmt, in gewisser Weise mit der Haltung jener Historiker, die dem Alten 2

Jaspers 1955, S. 71.

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Zur Einleitung

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Iran zwar seine historisch-politische Bedeutung keines­wegs abstreiten, ihm jedoch durch den Vergleich mit den Griechen weder eine geistesgeschichtliche Bedeutung zugestehen wollen, noch aus dem Mangel an Philosophie, Literatur etc. an durchschlagende Kontaktverhältnisse glauben können: „Bei aller Hochachtung“, so Bengston, „vor den Leistungen der Perser, im Monumentalbau findet sich in dem ganzen weiten Reich nichts, was in seinem künstlerischen Gehalt auch nur annähernd mit den Bauten des perikleischen Zeitalters vergleichbar wäre. Und vollends dem freien Walten des griechischen Geistes in Philosophie, im Drama und in der Geschichtsschreibung hat das Persertum nichts Gleichwertiges entgegenzustellen. … Trotz vielfacher Berührungen im Handel, in der Wirtschaft, auch im geistigen Leben, standen Hellenen und Perser ohne innere Kontakte nebeneinander, und zwar zwei volle Jahrhunderte lang.“3 Abgesehen davon, dass der Historiker hier sein Geschichtsbild aus in logischer Hinsicht ganz unterschiedlichen Sätzen und problematischen Termini zusammenstückt (subjektive Befunde; e silentio Argumente; „innere Kontakte“), und abgesehen davon, dass auch der palästinische Raum nicht und selbst der griechische Raum erst seit dem 5. Jh. über eine herausragende Philosophie,4 bedeutendes Drama und Historiographie verfügten (noch die frühen sog. Vorsokratiker zeigen ein kosmologisch-philosophisches Niveau, das nicht über das – Jahrhunderte ältere – Avesta sich erhebt, wo sie nicht gar, wie wahrscheinlich Anaximander, Elemente ihrer Kosmologie dem Iran entlehnten), scheint mir der Fehler des Historikers darin zu liegen, dass dieser glaubt nach einem iranischen Platon, Sophokles oder Herodot Ausschau halten zu müssen und den negativen Befund lediglich der Griechenland- und Klassiker-Verehrung dienlich macht, anstatt aus ihm Erkenntnis zu ziehen. Diese bestünde zum einen in einer Rekonstruktion der sozialen und politischen Realität, deren Folgen für das Geistesleben und dessen Rückwirkungen auf den ‚Unterbau‘, zum anderen aber darin, die von Anquetil nach Iran gelegte axiale Spur aufzunehmen und den auf Achsenzeit weisenden Momenten, Impulsen in Iran, im Osten wie sodann im Westen, nachzuforschen, den Grad und die Möglichkeiten von deren Entfaltung und charakteristische Abweichungen gegenüber den griechischen Entwicklungen zu bestimmen, wie auch des Versiegens der Spur, des letztlichen Scheiterns der axialen Wende innezuwerden und dessen Gründe zu benennen. Wenn ich im Zusammenhang mit der Achsenzeitproblematik den Begriff „Alter Iran“ verwende, so setze ich mich damit über eine in der Iranistik übliche Aufspaltung eben dieses alten, antiken Irans in den antiken Westiran (Meder und Achämeniden) und Ostiran (‚Avestakultur‘) hinweg, deren Beziehungen zueinander ein Hauptgegenstand der altiranischen politischen, Religions- und 3 4

Bengston 1965, S. 12–13. Die Griechen selbst sahen ihre Philosophie nicht immer als einzigartige Leistung an. So soll Megasthenes, Gesandter des Seleukos I in Pataliputra, gesagt haben, dass keine philosophische Entdeckung der Griechen nicht bereits schon bei indischen Gymno­ sophisten und bei den Juden gemacht worden sei (s. Dihle 1998, S. 343).

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Zur Einleitung

Kulturgeschichte sind. Über wenige Momente dieser Beziehung herrscht Klarheit. Deutlich ist durch die Sprachgeschichte, dass das Persische, also die Sprache der Achämeniden, aus dem altiranischen Dialektverbund wohl früh ausgeschert ist (während das Medische – soweit dessen lautliche Umrisse überhaupt erkennbar sind – dem Avestischen sehr nahe stand). Deutlich ist auch, dass die zoroastrische ‚Religion‘, die sich im Osten herausgebildet hat und dort, einstweilen als ein Konglomerat von Riten, welche Differenzen zu denen der VedaLeute aufwiesen, in weiten Landstrichen (s. Vīdēvdād 1; Yašt 10) Verbreitung besaß, spätestens in der Achämenidenzeit (6.–4. Jh.) Westiran erreicht haben muss. Weniger deutlich ist indes, ob Teile des rituellen Textkorpus der Zoroastrier bereits Spuren der Achämenidenherrschaft über ganz Iran zeigen oder doch eher, wie in jüngerer Vergangenheit meist angenommen, auf eine Zeit vor dieser Herrschaft weisen. Grundsätzlich scheint es mir nun, dass es vor allem der achämenidenzeitliche Iran ist, auf den der achsenzeittheoretische Fokus gerichtet sein sollte. Dazu fordert allein schon die massive politische, logistische und ökonomische Wende auf, die die Großreichsbildung der Achämeniden nicht nur gegenüber dem ostiranischen Regionalismus (die Existenz eines Kayaniden­reiches, die bis heute vereinzelt immer wieder behauptet wird, ist aus einer Reihe von Gründen anfechtbar), sondern auch gegenüber den räumlich begrenzten mesopotamischen Reichen bedeutete. Gleichwohl ist dieser axiale Iran, sei es durch gemeinsames Erbe oder durch Beziehungen, vom Iran des Avesta, den das Achämenidenreich als Ostsatrapien sich einverleibte, nicht scharf zu trennen, und zwar, wie ich glaube, in zweifacher Hinsicht nicht: a) bereits im Avesta lassen sich, im, unter und neben dem rituellen Gewebe, das sich uns zunächst zeigt, Impulse hin auf eine rationale Erfassung und Gestaltung von Welt entdecken; b) es gehört zu den rationalen Techniken des achämenidischen Iran, sich eine prä-rationale Schicht der Weltkonstruktion, wie sie das Avesta auch noch, wenn nicht vor allem bestimmt, sekundär zunutze zu machen. Weist also der präaxiale antike Ostiran impulshaft auf die Achsenzeit, so wendet sich der achsenzeitliche Westiran auf das Voraxiale ,integrierend‘ zurück. Es ist dieser dialektische Verweisungszusammenhang,5 der es mir nicht nur möglich, sondern heuristisch sinnvoll erscheinen lässt, vom „Alten Iran“ zu sprechen. 5

Auch wenn es durch die Ausweitung des Herrschaftsterritoriums unter den Achämeniden a) notwendig technologisch-bürokratische Fortschritte erfolgt sein müssen, die das Überleben des Reiches nach außen wie innen ermöglichten, b) es zu einer Vervielfältigung interkultureller Kontakte, und das heißt auch, zu Wissenstransfer gekommen ist, so greift doch eine Beschreibung solchen Fortschritts als „from superstitions to the beginnings of science“, die Dandamaev/Lukonin (1989, S. 283–289) glauben auf den eisenzeitlichen Iran des 1. Jt. v. Chr. bis zu den Achämeniden anwenden zu dürfen, zu kurz, und zwar nicht allein darum, weil das Magische i. d. R. die Impulse des Rationalen, wenn auch in verdrehter Form, zeigt, sondern weil das Spätere das vom Magischen befreite Rationale nur allzu oft wider sich selbst kehrt.

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Zur Einleitung

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Die Texte II und III richten den Blick zunächst auf den Ostiran. Anders als es die traditionelle Perspektive der Iranistik (und, in deren Gefolge, der Altphilologie und Geschichtswissenschaft) auf Zaraϑuštra und das Avesta, insbesondere auf das weitgehend dem Zaraϑuštra zugeschriebene ältere Avesta, will, scheint mir dessen Gestalt und der mit dieser verbundene Text noch kein Zeugnis einer durchgreifenden ethischen Kehre Irans bzw. der angestammten indo-iranischen Religion zu sein. Grundsätzlich sind die Texte dem Vokabular, dem Inhalt, ihrer Performanz nach in der indo-iranischen Ritualistik beheimatet, in der die Frage nach dem richtigen Leben zunächst einmal die nach dem richtigen Opfer war. Gleichwohl ist hier zweierlei anzumerken. Erstens hängt der Schritt, den Iran aus einer ritualverhafteten Welt tut, gerade an jener Figur, die doch für das Ritual ätiologisch wie in der Priesterspekulation wie schließlich in der Forschung für dieses gerade einsteht: Zaraϑuštra. Indem der Ritualprozess, und d. h. vor allem die eschatologische Epistemologie, an diesen Einzelnen gebunden wird, sind die Weichen gestellt für Prozesse, die aus der statisch-repetitiven Sakralstruktur hinausführen und die Idee des Individuums und der Geschichtlichkeit anvisieren. Die Rekonstruktion dieses Prozesses, der, paradoxerweise, aus dem Ritual geboren dieses schließlich zur Seite schieben bzw. überformen wird, bleibt einer zukünftigen Studie vorbehalten. Zweitens lassen sich, und das ist nicht unabhängig von jenem zuvor genannten Moment, Wandlungen innerhalb der Ritualistik bzw. Verständnisweisen des Rituals entdecken, die nicht lediglich in das indo-iranische Erbe Differenzen eintragen, sondern die Prozesse auslösen, welche über viele Jahrhunderte hinweg letztlich zu einer Veränderung des Aus­sehens, des Begriffs wie auch des Selbstverständnisses der zoroastrischen Religion führten, hin zu jener „Religion des Guten“, als die sich der Zoroastrismus dann selbst bezeichnen wird (weh-dēn). Text II – ein Text, der mit meinem seit einigen Jahren entstehenden Buch über die Entwicklung des zoroastrischen Feuerkultes verknüpft ist und bestimmte dort entwickelte Ideen andeutet – versucht, diesen Prozess nicht aus der Zusammenstellung vieler Elemente zu rekonstruieren, sondern vielmehr durch die Beschränkung auf das Auffinden einer minimen Differenz des altavestischen Rituals gegenüber der indischen (bzw. indo-iranischen) Praktik. Diese Differenz besteht, wie ich glaube, in einer Weigerung im Avesta, den heiligen Trank mit dem Feuer unmittelbar in Kontakt treten zu lassen, durch welche Separierung das rituelle Dreieck aus Feuer – Trank – Priester in einer Weise verändert wird, die zu rituellen Funktionsverschiebungen, zu einem veränderten Ritualverständnis und letztlich zur Ritualkritik führt. Text III schließt an Alberto Canteras Rekonstruktion und Deutung der alt­avestischen Texte bzw. der sog. Langen Liturgie, also der zoroastrischen Hochämter, an, an deren Verständnis als kompositorische Entfaltung aus dem geheimen Fluchtpunkt des zoroastrischen Rituals (und aus diesem sich entwickelnd: der zoroastrischen Religion) heraus, nämlich der Vereinigung der die Immanenz übersteigenden Priesterseele mit der „Vision“ (daēnā) zum Zwecke

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Zur Einleitung

der Erkenntnis göttlichen Wissens. Es wird zum einen zu zeigen versucht, dass das Modell dieses Vereinigungsprozesses durch die Integration eines bedeutenden Vermögens, xratu „Geisteskraft“, zu erweitern ist, zum andern werden in der Beziehung dieses komplexen Modells auf die zoroastrische Theologie­ geschichte bis zum Ende des 1. Jt. n. Chr. dessen wesentliche Reformulierungen herausgearbeitet: nicht nur wird xratu die ursprünglich visionäre Funktion von daēnā übernehmen, sondern in offenbar größtenteils ent-ritualisierter Weise das epistemologische Modell der Vereinigung von göttlichem und menschlichem xratu in einer Schau sublimiert fortsetzen und bis in diese Spätzeit als höchste Form des Wissenserwerbs pflegen. Die Texte IV und V wenden ihren Blick auf die Achämeniden, genauer gesagt, auf Darius I und seine Zeit. An die Rekonstruktion der epistemologischen Position, Funktion und Geschichte von av. xratu, pahl. xrad, knüpft Text IV an, welcher u. a. die Konstellation der beiden wesentlichen Vermögen des achämeni­ dischen Königs, xratu und aruvasta, Geistes- und Körperkraft, vor allem aber die Bedeutung von xratu für Darius’ Entwicklung eines dāta „Gesetzes“ zu bestimmen sucht. Dieses (in seinem Wesen umstrittene) Gesetz scheint wiederum nicht nur ein Subdiskurs zum kosmologischen Ordnungsbegriff (arta) zu sein, sondern sich bei Darius überhaupt an dessen Stelle zu setzen. Politische Ordnung wird, so der Tenor von Text IV, zum Ersatz einer vormals kosmologischen Ordnung. Das hat erhebliche Konsequenzen sowohl für das ‚metaphysische‘ wie das politische Denken. Text V ist schließlich der Versuch, eben diese Folgen zu skizzieren. Darunter sind drei von besonderer Tragweite: 1. Indem die Metaphysik sich im politischen Ordnungsdiskurs reformuliert, gewinnt das Politische selbst wiederum sekundär quasi metaphysische Kraft. Keineswegs geht aber beides, das Politische und dessen Retranszendierung, bruchlos ineinander auf. Der Spalt zwischen den beiden Diskursen, zwischen Politik und Metaphysik, wird zur Brutstätte des Ideologischen: Das menschengemachte Politische wird sich präsentieren als ein objektives Walten. 2. Indem das Politische, eigentlich die immanente Kritik an einer den Menschen vorgesetzten und unverständlichen Weltordnung, sich die Züge der metaphysischen Ordnung entleiht, ist der Schein der Weltkonstruktion eingezogen wie die Lüge in den entscheidenden Handlungsmomenten unumgänglich. Darius’ Schicksal ist es, dass er zum Lügner nicht aus subjektiver Schwäche wird, sondern diese bereits das Symptom eines objektiven Prozesses ist. 3. Die Verstrickung des Königs in die Metaphysik und die Lüge wird durch den Totalitätsanspruch des Gesetzes potenziert. Es markiert die historische Differenz zwischen Kambyses und Darius, dass letzterer diesen Totalitätsanspruch des Gesetzes nicht länger abweisen kann. Auch er, der eigentliche Gesetzgeber, wird letztlich zu einem, den der Allgemeinheitsanspruch des Gesetzes erfasst.

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Zur Einleitung

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Text V ist, indem er Figuren der Dialektik der Aufklärung aufnimmt, insofern eine Bestätigung der wie zugleich eine Absage an die Achsenzeittheorie in ihrer konventionellen Form, als am Beispiel des frühen Achämenidenreiches (um 500 v. Chr.) zu zeigen versucht wird, dass in jener Periode nicht nur die Geburtsstunde des modernen Individuums liegt – des rationalen Menschen, der sich gegen den Zwang transzendenter Begriffe, gegen Schicksalskonzepte und Magie erheben kann –, sondern zugleich die Formen seines künftigen Untergangs, die Verstrickung mit den alten Mächten, entwickelt werden. Text II geht auf einen in Essen im Februar 2017 gehaltenen, im Kontext des Reformationsjahres stehenden Vortrag zurück. Text III stellt die (stark erweiterte) Langfassung eines auf Englisch auf dem Kongress To the Sources of the Indo-Iranian Liturgies (Liège, 9.–10.6.2016) gehaltenen Vortrags „Daēnā and Xratu. Some considerations on Alberto Cantera’s essay ‚Talking with god‘ “ dar. Text IV ist die weitere Ausarbeitung eines auf Einladung von Alberto Cantera im November 2011 an der Universität Salamanca gehaltenen Vortrags „ ‚Gefügtes‘ – ‚Gesetztes‘. On the construction of reality in the tomb inscriptions of Darius I“. Text V, der der Idee nach und in Teilen in der Entstehung mit diesem Vortrag auf das engste verbunden war, ist für dieses Buch in seiner Gesamtheit neu abgefasst worden. Der einleitende Text, die Kritik der Jaspers’schen Achsenzeit­theorie, wurde im Verlauf eines Seminars geschrieben, das ich im Wintersemester 2016/2017 am CERES der Ruhr-Universität Bochum abhielt. Mein Dank geht an Prof. Volkhard Krech, der am Centrum für Religions­ wissenschaftliche Studien (CERES) der Ruhr-Universität Bochum einen jener seltenen Orte geschaffen hat, an dem sich materiales, philologisches Arbeiten und theoretische Reflexion miteinander verbinden können, und er geht an Prof. Maria Macuch und Prof. Alberto Cantera vom Institut für Iranistik der Freien Universität Berlin, die mir großzügig die Möglichkeit zur Publikation in der von ihnen herausgegebenen Institutsreihe Iranica angeboten haben. Beide Institutionen, das CERES in Bochum und das Institut für Iranistik in Berlin haben zudem die Finanzierung des Buches gesichert und mir damit dessen Veröffentlichung erst ermöglicht. Schließlich möchte ich Frau Tatsiana Harting für ihre verlässliche wie kompetente Arbeit im Rahmen der Herstellung einer Druckfassung des Buches danken. Berlin/Bochum 2016/2017

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I Besichtigung der Jaspers’schen Elemente einer Theorie der Achsenzeit Genese und Umriss der Theorie der Achsenzeit „Parcourons d’un coup d’œil l’état du Monde au commencement de ce siècle, qui peut être regardé comme une époque considérable dans L’Histoire du genre humain. Il se fit alors dans la nature une espèce de révolution qui produisit dans plusieurs parties de la terre des Génies qui dévoient donner le ton à l’Univers.“ Anquetil DuPerron, Pionier der Avesta- und Zoroastrismus-Studien,6 schrieb diese Worte im Anfang seiner Abhandlung über das „Vie de Zoroastre“7, die er seinem berühmten Zend-Avesta: Ouvrage de Zoroastre beigab, jenem Werk also, das die philologischen und ethnographischen Forschungsergebnisse seiner Studien in Gujarat der 1750 er Jahre8 und mit diesen erste Kenntnisse der alt- und mitteliranischen Primärquellen und ihrer Traditionen9 der europäischen Öffentlichkeit 1771 mitteilte. Einige Jahrzehnte vor dem Aufstieg der indogermanischen Studien stellen die wenigen, hier zitierten Zeilen den vorausgreifenden Gegenentwurf zu einem Forschungsprogramm dar, das Geschichte dann als Abstammungsmodell konstruieren sollte, oder hätten doch zumindest zur Ausarbeitung eines solchen Gegenentwurfes dienen können. Nicht die Zugehörigkeit zu einer Sprachfamilie, noch gar eine genetische ,völkische‘ oder ,rassische‘ Verwandtschaft, jene Merkmale also, die mit dem Aufstieg der indogermanischen Studien im 19. Jh. das Geschichtsdenken bis weit ins 20. Jh. bestimmen sollten, sind die wesentlichen Elemente zum Verständnis bemerkenswerter historischer Entwicklungen, sondern die ganz allgemeine Tatsache des Menschseins überhaupt.10   6 Biographie zu Anquetil: Schwab 1934; Duchesne-Guillemin 1986.   7 Siehe das Zitat in Anquetil-Duperron 1771, I/2, S. 7.   8 Zu Anquetils Reisen: Anquetil-Duperron 1771, I/1, S. XXI–CCCCXXXVII; der Reisebericht wurde ins Deutsche übersetzt von Purmann 1776.   9 In Hyde (1700) sind an zoroastrischen Primärquellen nur einige np. Texte aufgenommen, die jedoch dem 18. Jh., im Verbund mit den seit dem 17. Jh. publizierten Reisenachrichten, durchaus ein Wissen über die Zoroastrier vermittelten, das nicht länger nur auf klassische Quellen angewiesen war. 10 Zu Anquetil Duperrons Bedeutung für die Theorie der Achsenzeit siehe Metzler 1991, besonders S. 125; s. a. Metzler 1999 und 2009. Die Idee eines „weltgeschichtlichen Wendepunkts“ findet sich (wohl vor Jaspers) bereits 1948 bei Becker (1948, S. 55 und 51–56) ausgedrückt. Diese Wende wird dort auf die Jahre 800–600 v. Chr. verortet, für

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I Besichtigung der Jaspers’schen Elemente einer Theorie der Achsenzeit

Anquetil stellte freilich noch keine Überlegungen an, wie es sich erklärt, dass im 6. Jh. v. Chr. „die Natur eine Revolution “ und, wie (der für die deutsche Geistesgeschichte bedeutsame) Kleuker alsbald den Anquetil’schen Text ins Deutsche übersetzt, „in verschiedenen Gegenden der Erde … große Menschengeister auf , die Welt und Menschen nach sich stimmten“11. Es blieb einzig bei der Beobachtung eines weitgehend gleichzeitigen geistes­ geschichtlichen Wandels in verschiedenen Gebieten der euro-asiatischen Landmasse12 – verwiesen wird auf Ägypten, Griechenland, Persien, Indien, China und Israel, genannt werden neben Zaraϑuštra u. a. Konfuzius, Buddha („Fo“), die israelischen Propheten, von den frühen Griechen Lykurg, Solon, Pherecydes –, der Naturlehre und Philosophie, Gesetzgebung und Ethik umfasste, und der sich in „Persien“ (= Iran) nach Anquetil/Kleuker als Astralkult und die Zerteilung von Gut und Böse, und speziell für „Zoroaster“ als das Konzept der unendlichen Zeit, der Seele und als das des „moralischen und physischen“ Dualismus darstellte. War es auch bis in unsere Tage hinein vergessen, dass jene bemerkenswerte Koinzidenz der euro-asiatischen Geistesgeschichten eine Entdeckung des Vaters der alt- und mitteliranischen Studien war – erst Metzler hat darauf in jüngerer Zeit hingewiesen –, so blieb doch die Entdeckung selbst zumindest in einem gewissen Unterstrom der europäischen Geschichtsschreibung im 19. und frühen 20. Jh. erhalten13, wenn sie nicht gar den Nähr­boden für Hegels Lehre vom Weltgeist abgab insofern, wie sich diese als eine Reformulierung des Anquetil’schen universalen Parallelismus im Sinne von dessen Sequenzierung zu einem teleologisch aufgipfelnden geistigen Total­geschehens lesen lässt. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es dann schließlich Karl Jaspers, der mit seiner berühmten Schrift Vom Ursprung und Ziel der Geschichte (München 1949 [= Frankfurt a. M. 1955]) (im folgenden ‚UZG‘) in Anknüpfung an den Hegel’schen Achsenbegriff wie in dessen Neujustierung und der Rückwendung des in Stufenfolge stehenden Weltgeistes in die Gleichzeitigkeit noch einmal in die Anfänge jener historischen Beobachtung des ersten großen Iranisten die einstehen: „Kungfutse, Buddha, Zarathustra und die älteren griechischen Denker“ (Becker 1948, S. 51, vgl. S. 55). 11 Kleuker 1777, S. 5–7. Vgl. Metzler 2009, S. 170: „Zuvor ist aber noch daran zu erinnern, daß Anquetils Entdeckung und Bewertung der Gleichzeitigkeit der eingangs erwähnten Geistesgrößen in der später von Jaspers so genannten Achsenzeit im 18. Jahrhundert gerade auch insofern als ein Element humanistischer Aufklärung zu verstehen ist, als er ausdrücklich den Anspruch auf Gleichheit aller Menschen betont …“. 12 Anquetil ist damit selbst wiederum Erbe einer orientalischen Tradition, die auf Mani zurückzugehen scheint. Diese Tradition kennt zwar eine Kettenbildung (von Adam bis Mani), jedoch zugleich Parallelismen: „dann habe er (Gott [GK]) die Budda’s in das Inderland und Zarâduscht in das Land der Perser gesandt“ (Haarbrücker 1850–1851, I, S. 290). 13 Jaspers 1955, S. 27–29. Siehe auch Joas 2012; Wittrock 2012, S. 102 f.

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Genese und Umriss der Theorie der Achsenzeit

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zurückkehrte, um aus ihr eine geschichtsphilosophische Perspektive zu entwickeln. In Bezug auf die Mitte des 1. Jt. v. Chr. schrieb Jaspers: In dieser Zeit drängte sich Außerordentliches zusammen. In China lebten Konfuzius und Laotse, entstanden alle Richtungen der chinesischen Philosophie, dachten Mo-Ti, Tschuang-Tse, Lie-Tse und ungezählte andere, – in Indien entstanden die Upanischaden, lebte Buddha, wurden alle philosophischen Möglichkeiten bis zur Skepsis und bis zum Materialismus, bis zur Sophistik und zum Nihilismus, wie in China, entwickelt – in Iran lehrte Zarathustra das fordernde Weltbild des Kampfes zwischen Gut und Böse, – in Palästina traten die Propheten auf von Elias über Jesaias und Jeremias bis zu Deuterojesaias, – Griechenland sah Homer, die Philosophen – Parmenides, Heraklit, Plato – und die Tragiker, Thukydides und Archimedes. Alles, was durch solche Namen nur angedeutet ist, erwuchs in diesen wenigen Jahrhunderten annähernd gleichzeitig in China, Indien und dem Abendland, ohne dass sie gegenseitig voneinander wußten. (UZG  14 f.)

Jaspers wird, wie es das Zitat bereits andeutet, versuchen, diese „außerordentlichen“ Gestalten14 und Erscheinungen zwar nach Kulturkreisen streng voneinander zu scheiden, zugleich aber auf die zeitliche und geistesgeschichtliche Parallelität dieser Kreise nachdrücklich hinzuweisen, um in dieser Parallelität das erste Aufscheinen dessen zu gewahren, was er mit seiner eigenen Gegenwart angebrochen sieht, die Verwirklichung einer Einheit der Menschen. Mit dieser kurzen historischen Revue ist der geistesgeschichtliche Ort der sog. Achsenzeittheorie Jaspers’scher Provenienz, die bis heute noch immer zentraler Bezugspunkt der Achsenzeittheoretiker ist, umrissen. Diese ist eine vorrangig an geistesgeschichtlichen Phänomenen orientierte, in einem aufgeklärten Humanismus wurzelnde Geschichtstheorie. Sie ordnet weder, zumindest nicht in ihrer ursprünglichen Fassung in UZG, wie es die idealistische Geschichtsphilosophie tat, Weltgeschichte nach einem (Europa und Christentum fokussierenden) Fluchtpunktmodell – sie lässt vielmehr die Möglichkeit einer Mehrzahl konvergierender Fluchtpunkte zu –; noch auch verzichtet sie, wie der Positivismus (s. UZG 12) und Historismus15, auf jede „Rangordnung und Struktur“ (12) und mit diesen auf den der idealistischen Tradition entlehnten Gedanken eines Telos der Geschichte. Mit diesen fundamentalen Verortungen exponiert die Achsenzeittheorie freilich Blößen, die sie zum Teil in den Debatten der Folge­jahrzehnte bis heute zu beheben sucht. Gegenüber jeder linken, vor allem der marxistischen Geschichtstheorie, trägt sie den Anschein einer veralteten Voreingenommenheit für den Geist, als sie, zumindest bei Jaspers, geschichtliche Rekonstruktion weitgehend ohne Reflexion des ‚Unterbaus‘ betreibt. Gegenüber einer Wissenschaftlichkeit beanspruchenden 14 In Jaspers (1964) ist Zarathustra aus der Liste „maßgeblicher Menschen“ geschwunden. 15 Zum kritischen Verhältnis der Jaspers’schen Achsenzeittheorie zum Historismus siehe Roetz 2012, S. 251 f., zur Missachtung dieses Verhältnisses in der späteren Theorie und den zugrundeliegenden Motiven/Zielsetzungen ibid., S. 252 f.

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I Besichtigung der Jaspers’schen Elemente einer Theorie der Achsenzeit

Geschichtsbetrachtung – und Jaspers stellt für sich diesen Anspruch –, handele es sich nun um deren Spielart im Historismus oder aber die der Weber’schen Soziologie, steht sie vor der kaum lösbaren Aufgabe, ideale Zielsetzungen, historische Teleologie ihrem theoretischen Gefüge zu integrieren und diese mit der ihr kaum verzichtbaren geschichtsphilosophischen Perspektive zu vermitteln. Während die stärkere Reflexion auf Unterbauphänomene m. E. keineswegs mit dem Grundriss der Achsenzeittheorie kollidieren muss, vielmehr lediglich Ansätze akzentuiert, die bei Jaspers selbst, wenn auch in der die Theorie in ihrer Integrität in Frage stellenden Weise einer Spiegelung des Überbaus im Unterbau, schon vorhanden waren und nach Jaspers auch teilweise ausgearbeitet werden konnten,16 stellt eine Ent-Idealisierung (im Sinne einer Ent-Teleologisierung) einen durchaus erheblichen Eingriff in das theoretische Gefüge der Achsenzeittheorie dar, von dem fraglich ist, ob er in seiner Entkleidung des emphatischen geschichts-philosophischen Moments der Theorie dieser noch verträglich ist.17 Die Ent-Idealisierung der Achsenzeittheorie würde, in schwächerer Form betrieben, nämlich nicht nur das von Jaspers postulierte bzw. als erreichbar supponierte historische Telos, die Einheit der Menschheit, durch eine Pluralisierungstendenz in Frage stellen; sondern durch Übertragung eines pluralistischen Modells auf die Achsenzeit selbst – eine Tendenz, die bereits mit Eisenstadt ihren Anfang nahm – geriete immanent die Jaspers’sche These, dass es im 1. Jt. v. Chr. in unverbundenen Kultur­k reisen zu dennoch genau den gleichen Entwicklungen und Phänomenen kam, dass die Achsenzeit eben jene Epoche ist, in der erstmals die Vielfalt der Erscheinungen auf ein Allgemeines, Universales hin bezogen werden konnten,18 in Gefahr. Auch wenn diese beiden grundsätzlichen Probleme der Achsenzeittheorie in der Jaspers’schen Fassung im folgenden verschiedentlich gestreift werden, so richtet sich auf deren Behandlung doch nicht das eigentliche Interesse der nachstehenden Besprechung der Jaspers’schen Theorie. Weder scheint es mir, wie gesagt, problematisch zu sein, der Achsenzeittheorie Unterbauphänomene zu integrieren – problematisch bleibt, doch gilt das nicht allein für die 16 Siehe bereits in Schwartz (1975 b) die Beiträge von Humphreys (zur sozialen Position der griechischen Intellektuellen) und Thapar (zum Indien des 1. Jt. v. Chr.). Sozial­ geschichtlich ist vor allem die von Eisenstadt initiierte Achsenzeitforschung orientiert, jedoch in der Weise, dass die entscheidenden Impulse für den Wandel bei einzelnen Denkern, sodann institutionalisierten „Eliten“ liegen, siehe besonders in Eisenstadt 1987–1992, I, S. 13 ff., Kap. 3 „Das Hervortreten von Intellektuellen und die Transformation von Eliten“ und die daran sich anschließenden Kapitel, die den Institutionalisierungsprozess dieser neuen Eliten zu beschreiben suchen. Ein eigentümlicher Versuch, die politisch-soziologische Differenz von Orient und Okzident aus der Tatsache der frühen Wasserwirtschaft abzuleiten, ist Wittfogel 1977. 17 Eine Analyse und Kritik dieser Preisgabe des normativen Gehalts der Jaspers’schen Theorie in den vergangenen Jahrzehnten ist Roetz 2012. 18 Siehe A. Assmann 1992, S. 336.

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Genese und Umriss der Theorie der Achsenzeit

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Achsenzeittheorie, der Konnex von Geistesgeschichte und ‚materieller Kultur‘ bzw. Soziologie überhaupt –, noch auch, zumindest für bestimmte Elemente der Achsenzeittheorie, die Sinnfrage einstweilen auszuklammern. Wichtiger ist es in unserem speziellen Zusammenhang – nämlich der Frage nach der Stellung des Iran in der Achsenzeit19 bzw. zunächst einmal in der Achsenzeittheorie –, a) über die Diskussion des achsenzeitlichen Entwurfs des Verhältnisses von Gegenwart und Geschichte und dessen konstitutiver Bedeutung für die Achsenzeittheorie, b) zu internen Spannungen der Theorie wie Spannungen des theoretischen Gefüges zur historischen Wirklichkeit vorzudringen, um c) die Hintergründe aufzudecken, die Jaspers zum Aufrechterhalten eben dieser internen Spannungen führten, und schließlich d) eine Reformulierung der Achsenzeittheorie vorzuschlagen, die nicht nur jene Spannungen zu mildern (wenn nicht zu beseitigen) hilft, sondern auch dem konkreten Interesse, der axialen Verortung des Iran, dienlich ist. Meine Analyse von UZG beschränkt sich im wesentlichen auf deren ersten, „Weltgeschichte“ übertitelten Teil. Dieser erste Teil des Jaspers-Buches gliedert sich in acht Kapitel, die in Kapitel 1–2 die Achsenzeittheorie in ihren generellen Zügen und Problemen skizzieren, in den Kapiteln 3–8 die gesamte Theorie noch einmal und materialreicher darstellen. Beide Teile laufen jeweils in einem „Schema der Weltgeschichte“ aus (Kap. 2 + 8). Zwischen beiden scheinbar dublettenartigen Teilen kommt es dabei zu nicht unwesentlichen Verschiebungen der theoretischen Architektur, die für die Frage nach der Stellung Irans in der Achsenzeittheorie von erheblichem Interesse sind. Es handelt sich dabei um m. E. drei eng miteinander verwobene Momente: 1. der Einzug der Orient-Okzident-Spaltung in den Kulturkreis ‚Abendland‘ und die davon bedingte Sonderstellung Europas; 2. die Ausbildung einer zweiten Achse in der europäischen Moderne20; 3. die Differenz der Totalstruktur der ersten und zweiten Achse: Kulturparallelismus kontra globaler Kontakt. Aufgrund dieser Differenzen beider Teile benenne ich diese im folgenden zur leichteren Orientierung als UZG A + B. Während sich Jaspers bemüht, diese Differenzen nicht augenfällig werden zu lassen, sind die aus ihnen resultierenden Verschiebungen bedeutend: 1. Reformulierung des Begriffs „Abendland“ (der in UZG B nur noch das christliche Europa umfasst und der damit in gewisser Weise zu Hegel zurückkehrt); 2. Verlegung der historischen Achse in die Moderne; 3. Kontakt als Prinzip der Ausbildung der modernen Achse; 4. Aufgabe des Modells paralleler Kulturentwicklung. 19 Siehe dazu Metzler 1977; Wiesehöfer 2002; Shaked 2005. 20 Siehe bereits gegen Ende von UZG A (besonders S. 34 f.).

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I Besichtigung der Jaspers’schen Elemente einer Theorie der Achsenzeit

Zur Verschränkung von Geschichte und Gegenwart in der Achsenzeittheorie Ein 1949 publiziertes Buch eines deutschen Philosophen über die Geschichte muss ein Buch über die Gegenwart sein, und UZG ist ein solches Buch in mehrfacher Weise.21 Negativ zunächst, als die katastrophal gescheiterte Gegenwart durch eine Gegenwart substituiert wird, die sich nicht nur als die des Technizismus begreift, sondern die sich von dessen Möglichkeiten den Gedanken eines allgemeinen Humanismus erhofft, um in diesem „über alle Geschichte hinaus zu gelangen“ (UZG 5) in ein „Umgreifendes“, Weltgeschichtliches, zum – wie wir noch sehen werden – „Sein“ überhaupt. UZG ist aber auch ein Buch über die Gegenwart, als es diese in eine doppelte Perspektive mit der Geschichte spannt. Ist Gegenwart, zumindest in UZG A, vor allem Reflex – erst in UZG B wird sie sich als zweite, eigentliche Achse erweisen – einer wesentlich älteren menschheitlichen Bewegung, eben der achsenzeitlichen der Antike, so ist sie es zugleich, die eben diese besondere historische Bewegung zu erkennen und beschreiben hilft. Beide Perspektiven mögen sich in einer Hintergrundstruktur zusammenfinden, die Jaspers religionsgeschichtlicher Zeitkonzeption entliehen haben dürfte, derjenigen von Geschichte, Apokalypse und Heil, die selbst wiederum einer Geschichtsontologie aufruht. Der Begriff der Gegenwart bei Jaspers ist darum einer, der nur bedingt mit dem des sprachlichen Präsens zusammenfällt. Betrachten wir zunächst das UZG beigegebene „Vorwort“. Die landläufige Dreiteilung der Zeit in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist in einem Detail verändert. Jaspers scheidet zunächst zwischen Vorgeschichte, Geschichte (die selbst geschieden ist in die schlecht bezeugte Geschichte vor dem 16. Jh. und die Zeit seitdem, eine Differenz, die dann mit der Konstitution einer zweiten Achse koinzidiert) und Zukunft. Unter diesen dreien nehmen sich, gegenüber der immensen „Vor­ geschichte“ und der „Unermeßlichkeit der Zukunft“, „die fünftausend Jahre der uns sichtbaren Geschichte“ aus als „eine winzige Teilstrecke innerhalb des unabsehbar währenden menschlichen Daseins“ (UZG 5). Erst sekundär wird der Zeitenkonstruktion der Begriff „Gegenwart“ eingefügt, der mit dem der „Geschichte“ korrespondieren soll: „Mitten in der Geschichte stehen wir und unsere Gegenwart. Diese wird nichtig, wenn sie in den engen Horizont des Tages zur bloßen Gegenwart sich verliert“ (UZG 5). Ist „bloße Gegenwart“ die ungespiegelte, reflexionslose reine Zeitbewegung, so vermittelt sie sich den Menschen als eine bestimmte, „erfüllte“, wie Jaspers sagt, als ihre, der Menschen, Gegenwart in Bezug auf die Geschichte. In dieser, anti-Nietzsche’schen Wendung, ist es daher das Ziel von UZG, „unser Bewußtsein der Gegenwart 21 Zur Verhaftung von UZG in der politischen und geistigen Situation der unmittelbaren Nachkriegszeit siehe A. Assmann 1992, S. 336.

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Zur Verschränkung von Geschichte und Gegenwart in der Achsenzeittheorie 15

zu steigern“ (UZG 5), nämlich als Inhalt der Reflexion das Wissen/Leben der geschichtlichen Eingebundenheit des Gegenwärtigen zu konstituieren: „Die Gegenwart erfüllt sich durch den geschichtlichen Grund“ (UZG 5). Symmetrisch dazu steht, in Verkehrung zur üblichen Sprachwendung, die ‚Erfüllung‘ der Gegenwart durch die Zukunft: „Die Gegenwart wird andererseits erfüllt von der in ihr verborgenen Zukunft, …“ (UZG 5). Als von Geschichte und Zukunft erfüllte Gegenwart gewinnt diese eine Transzendenz-Perspektive22, und d. h. für Jaspers, eine Perspektive auf das Sein hin: „Erfüllte Gegenwart aber läßt den Anker im ewigen Ursprung werfen. Mit der Geschichte über alle Geschichte hinaus zu gelangen in das Umgreifende, das ist das Letzte, was im Denken zwar nicht erreichbar, aber doch zu berühren ist …“ (UZG 5).23 Der Verweisungszusammenhang von Gegenwart und Geschichte ist letztlich nicht nur zur gegenseitigen Reflexion der Zeiten notwendig, sondern zu einem Dritten. Sinnvoll erscheint die Gegenwart nicht nur aufgrund des konventionellen Gedankens, dass sich ein jedes in der Geschichte Seiendes nur im zeitlichen, geschichtlichen Verweisungszusammenhang versteht, sondern – und hier wird die besondere Pointe der empirischen Spannungen der Achsenzeittheorie liegen – darum, weil es der Verweisungszusammenhang zwischen der Gegenwart und der Geschichte ist, der über die Geschichte hinaus führt: zu jener letzten Einheit, die eben als die des Seins gilt. Unter den Etappen der Geschichte – und Jaspers wird im wesentlichen drei Etappen kennen24 – ist es deren letzte, die der Achsenzeit, der allein oder in ausgezeichneter Weise die Korrespondenzfähigkeit zur Gegenwart eignet: „Von der Auffassung der Achsen­zeit wird unser gegenwärtiges Situations- und Geschichtsbewußtsein bis in Konsequenzen bestimmt …“, nämlich „wie uns die Einheit der Menschheit konkret wird“ (UZG 32). Die Achsenzeit, bzw. die Achsenzeiten, sind (in den Teilen UZG A und UZG B freilich in etwas anderer Weise) die­jenigen Geschichtszeiten, die a) mit der Gegenwart korrespondieren, und die b) es vermögen, zwischen Geschichtlichem und dem Ontologischen zu vermitteln, Geschichte auf Sein hin zu öffnen bzw. Sein selbst als vollendete geschichtliche (= über-geschichtliche) Formation zu verstehen.25 22 Siehe besonders das Schlusskapitel von UZG, Kap. 3.5 „Überwindung der Geschichte“ (UZG 259–263). 23 Diesem Verweisungs-, Erfüllungs- und letztlich Transzendierungszusammenhang entspricht denn auch der Aufbau des Buches: Teil 1 „Weltgeschichte“; Teil 2 „Gegenwart und Zukunft“; Teil 3 „Vom Sinn der Geschichte“. 24 Siehe UZG 34 f., 15, mit der Zusammenfassung der beiden ersten Etappen als das „mythische Zeitalter“. 25 Jaspers harmonistische Perspektive auf Geschichte und Gegenwart, die in verschiedener Weise für seine Konstruktion der Achsenzeittheorie konstitutiv ist, ist selbst im Bereich der Achsenzeitforschung nicht ohne Kritik geblieben. Dumont (in Schwartz 1975 b, S. 153–172; s. dazu Schwartz 1975 a , S. 6 f.) hat die Ansicht vertreten, dass „die Moderne“ einen qualitativen Bruch zwischen Gegenwart und Achsenzeit darstelle.

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I Besichtigung der Jaspers’schen Elemente einer Theorie der Achsenzeit

Schnitt in der Zeit: Die historische Achse Spricht Jaspers im Vorwort noch von „Vorgeschichte“, „Geschichte“ und „Zukunft“ (UZG 5), so wird durch den Einbau der Gegenwart in die „Geschichte“ und ihren Vorbezug auf Zukunft klar, dass das angestammte Schema der drei unterschiedlichen und doch untrennbaren Zeiten so keinen Bestand mehr hat. Die Zeit des Menschen zerfällt in UZG A in eine der „Vorwelt“ und in jenen Teil, in dem (achsenzeitliche) Geschichte, Gegenwart und Zukunft zusammengeschlossen sind. Der Gedanke ist, wie Jaspers sehr wohl weiß, keineswegs neu. Abendländische Geschichtsphilosophie nahm, so Jaspers, ihren Ausgang „im christlichen Glauben. In den großartigen Werken von Augustin bis Hegel sah dieser Glaube den Gang Gottes in der Geschichte. Gottes Offenbarungshandlungen sind die entscheidenden Einschnitte. So sagte noch Hegel: Alle Geschichte geht zu Christus hin und kommt von ihm her; die Erscheinung des Gottessohns ist die Achse der Weltgeschichte“26 (UZG 14). Das Problem dieser Perspektive ist jedoch nur solange keines, wie „alle Geschichte“ christliche Geschichte ist. Wo aber diese Identifizierungsmöglichkeit – und d. h. konkret christliche Mission, Kolonialismus, Imperialismus – ihre reale Basis verliert, wird die einstige „Achse der Weltgeschichte“ zu einer Achse nicht aller Menschen. Jaspers’ Wendung gegen das Hegel’sche Weltgeistmodell hängt ganz wesentlich mit der Anschauung von Christus als Achse der Geschichte zusammen: Nicht allein erfährt der Weltgeist in Christus eine seiner wesentlichsten Bewegungen; vielmehr begegnet im Achsengedanken wie im Weltgeistmodell die Figur eines sich als Allgemeines gerierenden Partikularen. Darum zeigt sich UZG, zumindest in A, höchst idiosynkratisch gegenüber der Bevorzugung einer einzelnen Kultur und einem solcher Bevorzugung zugrunde liegenden bloßen Reflexionsakt. Das Heil, das in UZG die größten Spannungen zeitigen wird, sucht Jaspers in Wissenschaftlichkeit, d. h. Empirie: „Eine Achse der Weltgeschichte, falls es sie gibt, wäre empirisch27“ – und nicht durch partikulare, damit willkürliche, gewalttätige Setzung – „als ein Tat­bestand zu finden, der als solcher für alle Menschen, auch die Christen, gültig sein kann“ (UZG 14). Wo aber ist eine solche Achse zu finden? Jaspers’ Antwort ist die folgende: Diese Achse wäre dort, wo geboren wurde, was seitdem der Mensch sein kann, wo die überwältigendste Fruchtbarkeit in der Gestaltung des Menschseins geschehen ist in einer Weise, die für das Abendland und Asien und alle Menschen …, wenn nicht empirisch zwingend und einsehbar, doch aber auf Grund empirischer Einsicht überzeugend sein könnte, derart, dass für alle Völker ein gemeinsamer Rahmen geschichtlichen Selbstverständnisses erwachsen würde. Diese Achse der Weltgeschichte scheint nun rund um 500 vor Christus zu liegen, in dem zwischen 26 Tatsächlich: „Angel, um welche sich die Weltgeschichte dreht“ (G. W. F. Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Kap. II „Das Christentum“). 27 Kursivierung im Original.

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Schnitt in der Zeit: Die historische Achse

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800 und 200 stattfindenden geistigen Prozeß.28 Dort liegt der tiefste Einschnitt der Geschichte. Es entstand der Mensch, mit dem wir heute leben. Diese Zeit sei in Kürze die „Achsenzeit“ genannt. (UZG 14)

Während diese Zeit gegen die ihr vorangehende der Alten Hochkulturen qualitativ unterschieden zu sein scheint, besitzt sie offenbar eine zwar historisch nicht bruchlose, inhaltlich indes enge Verbindung, einen, wie oben gesagt, engen Verweisungszusammenhang mit der Gegenwart, der freilich – m. E. keineswegs zum Wohl der Theoriekonzeption – in der Bewegung des Buches insofern aufgehoben wird, als Jaspers schließlich die antike Achsenzeit der Vorgeschichte zuschlägt, die Moderne hingegen als einen neuen historischen Schritt ansieht.29 28 In UZG B (S. 64) wird die Achsenzeit auf die Periode „von der Mitte des letzten vorchristlichen bis zur Mitte des ersten nachchristlichen Jahrtausends“ gelegt. 29 Schwartz (1975 a , S.  2 f.) hat zur Charakterisierung der Alten Hochkulturen und zu deren Abgrenzung gegen die Kulturen der Achsenzeit angeführt: 1. Dass die älteren Kulturen zwar durchaus „a kind of first ‚rationalization‘ of society in the Weberian sense“ (Schwartz 1975 a , S. 2) kennen, nicht aber die Weltentzauberung, die nach Weber mit jener grundsätzlich einhergehe: „In all of these civilazations we find a world permeated with the numinous, the sacred, and the mythic“ (Schwartz 1975 a , S.  2). Implizit scheint das zu bedeuten, dass Schwartz die Weber’sche Kopplung beider Begriffe, Rationalisierung und Weltentzauberung, als für die Achsenzeit charakteristisch ansah, ihnen allerdings als Grundbegriff den (stärker positiven, geöffneten) der „Transzendenz“ letztlich vorzog. Schwartz (1975 a , S. 3) hat wohl als erster vorgeschlagen, die Achsenzeit als das „Zeitalter der Transzendenz“ („age of transcendence“) zu begreifen. Ein „strain towards transcendence“ sei der allen axialen Kulturen gemeinsame „impulse“. Schwartz’ Definition des Begriffs der Transzendenz bleibt eine denkbar weite: „What I refer to here is something close to the etymological meaning of the word – a kind of standing back and looking beyond – a kind of critical, reflective questioning of the actual and a new vision of what lies beyond.“ Kennzeichen dieses Neuen sind Formen der Suche, der Reise, aber auch – das hatte schon Jaspers erkannt – der Negation (nicht notwendig der Welt insgesamt, sondern des Bestehenden). Meines Erachtens hat der so gefasste Begriff der Transzendenz zwar genügend Charakteristik, um nicht auch auf die vor-axiale Zeit angewendet werden zu können; jedoch sehe ich das Problem, dass er zwar für Erscheinungen geistiger Veränderung analytisch sinnvoll ist, nicht aber, oder doch nur vermittelt über die Geistes­geschichte (wie dann im Institutionalisierungsbegriff bei Eisenstadt), für den Unterbau. Daher bevorzuge ich den Weber’schen Begriff der Ratio­nalität, der zumindest den Vorteil hat, dass er auf Erscheinungen des Über- wie Unterbaus anwendbar ist. Leider hat sich Eisenstadt Schwartz’ Begriff bedient, ihn aber durch seine Beschränkung und Hypostasierung um sein Potential gebracht. Der Begriff der Transzendenz wird bei Eisenstadt (der, wie leider häufig die angelsächsische Forschung, von „transzendental“ [„transcendental“] spricht), und zwar ausgerechnet nach dem (oben zitierten) Schwartz-Zitat (s. Eisenstadt 1987–1992, I.1, S. 11), unumwunden dem Innerweltlichen, der „weltlichen Ordnung“ entgegengestellt, damit die Achsenzeit zu einem Zeitalter erklärt, das die (angeblich) zuvor herrschende Homologie beider Ordnungen aufgebrochen und in ein Spannungsverhältnis gestellt habe. Diese Ver­engung des Transzendenzbegriffs ist z. B. für Griechenland analytisch wenig fruchtbar, und sie stellt m. E. gegenüber der guten Erkenntnis von Schwartz, dass die vor-axialen Kulturen zwar die innerweltliche Rationalität, gleichwohl aber (noch) keine Entzauberung kannten, eher einen theoretischen Rückschritt dar. 2. Dass die Durchbrüche der Achsenzeitkulturen (zumindest in den westlichen Kulturräumen)

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I Besichtigung der Jaspers’schen Elemente einer Theorie der Achsenzeit

Pole der Jaspers’schen Achsenzeittheorie: Empirie und Geschichtsontologie Hatte das 19. Jh. im Historismus das Problem von Empirie und Geschichts­ philosophie insofern minimiert, als nun alle Epochen „unmittelbar zu Gott“ sein sollten, so ist UZG, welches freilich den Gedanken pluraler Konstellation in veränderter Weise übernehmen wird, dessen Antithese: Es gibt Perioden der Geschichte, die, wenn auch nicht zu Gott, so doch zum Sein näher als andere stehen. Das Buch ist zum einen gegen eine vormoderne Geschichtsbetrachtung geschrieben, die „Weltgeschichte“ mit fixen Rändern (Schöpfung und Apokalypse) versah oder „in einer runden Gestalt als ein sich selbst tragendes Gesamtbild zu gewinnen“ hoffte (UZG 5), wie zum andern gegen den Historismus – dessen Nachwirkung im 20. Jh. wohl vor allem dafür verantwortlich ist, dass die Achsen­zeittheorie ein, wenn auch nobles, Nischendasein führt – und letztlich auch gegen eine Sichtweise der Geschichte, die diese in einer wandernd-zielführenden (Aufwärts-)Bewegung sah. In eigenartiger Weise ist die Jaspers’sche Achsenzeittheorie anti-positivistisch (anti-historistisch) und anti-idealistisch und doch positivistisch und idealistisch zugleich. Vom Idealismus erborgt sich Jaspers den Gedanken, dass Geschichte sinnvoll, mehr als Geschichte sein kann, vom Positivismus, dass Geschichte von den Fakten, der Empirie, nicht von geschichtsphilosophischer Voreinstellung her zu betrachten sei. Die beiden Pole lassen die Jaspers’sche Achsenzeittheorie hybrid erscheinen. Sie koinzidieren als methodologische mit der oben festgestellten Spannung zwischen empirischer Historiographie und Ontologie. Diese Spannung des Buches versucht Jaspers insofern auszutragen, als er darauf abzielt, aus der Hybridität theoretischen Gewinn zu ziehen. Es wird, wie bereits gesagt, Jaspers’ Strategie sein, eine Achsenzeit als ein empirisches Faktum zu erweisen, dessen nicht in den Räumen der Alten Hochkulturen selbst stattfinden, sondern eher in deren „orbit“ (s. Schwartz 1975 a , S. 2–3). Die Beobachtung hat allerdings Konsequenzen für die Rekonstruktion des Überganges von den Alten Hochkulturen zu den axialen Kulturen. Schwartz (1975 a , S. 2) setzt „a stage of crisis“ an, die die älteren Hochkulturen transformiert habe (vgl. schon UZG 15). Für den Kulturkreis „Abendland“ ist diese Annahme nur insofern sinnvoll, als diese „Krisen“ die Alten Hochkulturen aus ihrer epochalen Dominanz verdrängt haben und die Randkulturen (Griechenland, Palästina, Iran) die Krisen der alten Mächte für ihre Entwicklung fruchtbar machen konnten. Beide Elemente weisen auf die Nähe wie Differenz beider Epochen zueinander hin. Schwartz (1975 a , S. 3) hat darum auch für eine heuristische Verwendung des Begriffs „axial age“ und gegen eine scharfe Grenzziehung plädiert: „Like all breakthroughs in history, the age of transcendence had its antecedents.“ Obgleich die (in aller Regel in den USA und Europa beheimateten) Achsenzeitforscher vermutlich annehmen, dass in der Achsenzeit die Weber’sche Kopplung von Rationalität und Entzauberung stringent durchgeführt wurde, ist doch anzumerken, dass selbst im modernen Westen die Gesellschaft eher ein Verhalten zeigt, das dem der Alten Hochkulturen entspricht – das Nebeneinanderagieren von Technik und allen möglichen Formen irrationalen Geistes­lebens –, als jenem von Weber entworfenen, das von den Wundermächten ablässt.

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Die Charakteristik der Achse und die Klitterung der Geschichte

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Besonderheit, nämlich eine historische „Achse“ zu sein, in der Weise verstanden werden soll, dass daraus eine besondere Beziehung zu dem erwarteten Sinn der Geschichte – und dieser ist nichts anderes als die Aufhebung von Geschichte, deren Zusammenfall mit dem „Sein“ – sich ergibt: Auf diesen Sinn weist, so in UZG A, Geschichte in ausgezeichneter Weise hin, bzw., so in UZG B, ist Geschichte (= Gegenwart) der Beginn der Verwirklichung dieses Sinnes. Diese Strategie wird freilich nicht ohne Unkosten sein, und diese werden, wie dereinst bei Hegel, zu Lasten des Empirischen, des Historischen gehen.

Die Charakteristik der Achse und die Klitterung der Geschichte Woran macht Jaspers die Achse empirisch fest? Nicht anders als einst bei Anquetil sind es die großen intellektuellen Gestalten der Epoche, die ersten Namen, die für die Wende des Menschseins einstehen (s. o.). Ihr Wirken ist gekennzeichnet durch Reflexion bzw. Selbstreflexion und durch das daraus hervorgehende „radikale Fragen“ (UZG 15), durch die Wendung gegen das Bestehende. Die bestimmenden Figuren der Jaspers’schen Charakterisierung sind a) der Bezug von Metapositionen (die transzendierende Wendung), und b) die binären Strukturen: Dynamik contra Statik, Transzendenz contra Immanenz, Universales contra Begrenztes, und sodann konkreter: Logos (Ratio) contra Mythos; Ethos contra Ritus und Magie. In den primär geisteshistorischen Ansatz schleichen sich durchaus soziologische und politologische Elemente ein. Von weithin wirkenden „geistige Kämpfe“ (UZG 15) ist die Rede, „Diskussion, Parteibildung, Zerspaltung des Geistigen“ (UZG 15).30 Die binären Codes werden soziologisch reformuliert: Ist das Logisch-Ethische wesentlich Angelegenheit der zum Individuum umgebildeten Einzelnen, so verharren die „Volksmassen“ im Voraxialen, im Glauben des „mythische Zeitalter“ (UZG 16). En passant wird auf den eigentlichen Unterbau reflektiert. Zunächst fasst Jaspers dessen Verhältnis zum 30 Diese Perspektive auf die Achsenzeit als eine Periode der Brüche und Aufbrüche wurde von Eisenstadt übernommen und systematisch entfaltet. Die „homologe“ alte Welt reißt auf, es konstituiert sich eine „Spannung“ – eines der Schlüsselwörter bei Eisenstadt – zwischen dem Transzendenten (Eisenstadt: „Transzendentalen“) und dem Innerweltlichen, die sich soziologisch-institutionell verobjektiviert und also auch ganz reale Spannungen (Gruppenkonflikte etc.) verursacht, und die auf Lösung hinzielt. Eisen­stadt nimmt damit Jaspers’ historisches Modell einer durch Konflikte geprägten Achsenzeit, die jedoch gleichwohl auf eine befriedete zukünftige Einheit der Menschheit hinweist, auf, komprimiert es jedoch auf die antike/spätantike Welt. Indem Eisenstadt jedoch die zentralen Begriffe von Transzendenz und Lösung religions­h istorisch versteht, nämlich als die Transzendenz des einen Gottes und als das spätantike Erlösungsdenken (vgl. bereits Jaspers’ Rede in UZG 16, von dem Sich-Sehnen des „eigentlichen Mensch“, d. h. dem axialen, „nach Befreiung und Erlösung“), weitet er wiederum die Achsenzeit um 1000 Jahre (Einbezug des Islam), ja fast 2000 Jahre (Einbezug der Frühmoderne) gegenüber Jaspers’ Periodisierung der Weltgeschichte aus.

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I Besichtigung der Jaspers’schen Elemente einer Theorie der Achsenzeit

Geist als eines der Entsprechung (UZG 17). Der Begriff wird nicht expliziert, gleichwohl belastet. Es ist diese Modellierung des Geistes, die auf den Unterbau von Jaspers übertragen wird, nach der nun die soziale, politische Welt der Epoche angeblich geformt gewesen sei. Was wir hören, überrascht: „Es gab eine Fülle kleiner Staaten und Städte, einen“ – und hier wird gar das Naturstandsmotiv bei Hobbes aufgegriffen – „Kampf aller gegen alle“. Soziologisch sei die Welt von einem Dreischritt erfasst gewesen: nach den Reichen der voraxialen Zeit (die Jaspers als das mythische Zeitalter wie auch als die Epoche der frühern Hochkulturen begreift) sei eine axiale Zeit der Auflösung gefolgt, an deren Ende schließlich wieder größere politische Einheiten hervorgetreten seien (UZG 18). Solche Empirie verblüfft, und an wenigen anderen Stellen tritt die Willkür Jaspers gegenüber der doch zuvor für sich in Anspruch genommenen empirischen Methode – anzuführen wäre unter den willkürlichen Momenten die Behauptung einer antiken Berührungslosigkeit von Indien und dem Iran umfassenden Abendland; auch die Behauptung eines nicht exakten Synchronismus der Hochkulturen Mesopotamiens und Ägyptens gehört hierher (eine Behauptung, die zu den Verlegenheitsargumenten zählt, die alten Hochkulturen streng gegen die axialen abzugrenzen) – so deutlich hervor wie in jener Rekonstruktion sozialer Wirklichkeit, die dem Analogiemodell gemäß der romantischen Konzeption der Achsenzeit willfahren muss. Die Tatsache, dass zwischen dem 6. und 3. Jh. ein erstes Weltreich – das der Achämeniden, das von Alexander beerbt wurde – sich vom Mittelmeer bis (Nord-)Indien bzw. das Indus-Tal erstreckte, und dessen Zerfall am Ende der Achsenzeit geschah, wird ausgeklammert, und wenn es doch einmal aufscheint, ins Gegenteil verkehrt: „im vorderen Orient war ein selbständiges Leben der Kleinen, sogar zum Teil der von Persien Unterworfenen“ (UZG 17). Die Verkehrung ist die notwendige Folge der Analogie­figur. Sie muss das Bild der geschichtlichen Welt nach dem der behaupteten geistigen ummodeln. Wir stehen an einem Punkt der Kritik der Achsen­zeittheorie, an dem das Verhältnis von Unterbau und Überbau – das Jaspers dem marxistischen entlehnt, um es verdreht idealistisch zurückzubiegen – zu reflektieren wäre. Dieser generell wichtige Punkt muss jedoch aus der Besprechung ausgeklammert werden, da es in unserem Zusammenhang lediglich von Interesse ist, der Folgen der Jaspers’schen Konstruktion für die ‚empirische’ Beschreibung der Welt um 500 v. Chr. innezuwerden: dem notwendigen Vergessen des Achämeniden­reiches.31 31 Es ist mir nicht recht verständlich, warum Wittrock (2012, S. 113) die Beschreibung der politisch-sozialen Verhältnisse bei Jaspers (1955, S. 17 f.) auf die Vorachsenzeit bezieht, auch wenn Jaspers gerade im betreffenden Passus zugegebenermaßen denkbar unklar formuliert. Tatsächlich scheint Jaspers mit seiner historischen Beschreibung unter den Achsenzeittheoretikern eher allein zu stehen: „In most interpretations of the Axial Age, a relationship is discerned between the Axial Age as a shift in cosmology and ontology, on the one hand, and the emergence of imperial-like political orders, on the other.“ (Wittrock 2012, S. 113, der ebenfalls die Position vertritt, dass den „background“ der Achsenzeit die Reichsstaatlichkeit bildet).

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Geschichtsmystik: Die Dreiteilung der Achse und ihre Unerklärlichkeit

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Geschichtsmystik: Die Dreiteilung der Achse und ihre Unerklärlichkeit Nicht nur der Grund der Achse, sondern auch deren Existenz lassen sich in Zweifel ziehen. Von den drei Einwänden, die Jaspers sich selbst (UZG 21–23) gegen seine Konstatierung paralleler geistesgeschichtlicher Erscheinungen macht, fallen die beiden ersten insofern zusammen, als sie das Problem einmal aus der ontologischen, einmal aus der epistemologischen Perspektive betrachten. Sowohl der Einwand, „das Gemeinsame sei scheinbar“ (UZG 21) (vielmehr seien „die Unterschiede das Wesentliche“ [UZG 21]), als auch der, „die Achsenzeit sei überhaupt kein Tatbestand, sondern Ergebnis eines Werturteils“ (UZG 22) führen letztlich auf den Vorwurf des Relativismus, Subjektivismus, der als ein genereller methodischer Einwand leicht abzuweisen ist.32 Interessanter ist der dritte Einwand, der die darauf beginnende Diskussion um den Paral­ lelismus, die Gleichzeitigkeit und deren Geheimnis (UZG 23 ff.) antizipierend einleitet. „Ein weiterer Einwand ist: Diese Parallele habe keinen geschichtlichen Charakter. Denn was sich im geistigen Verkehr gar nicht berührt, das gehört keiner gemeinsamen Geschichte an.“ Der Einwand rührt also an die Frage, inwieweit die Achsenzeittheorie für sich den Charakter einer Geschichts­theorie, einer, wie Jaspers es will, empirisch gegründeten Geschichtstheorie, in Anspruch nehmen kann, da doch bestimmte Erklärungsmuster, mit denen die Geschichtswissenschaft operiert, verworfen werden. Jaspers spürt, dass er in jener Ecke gefangen ist, in die die empirischen Kritiker Hegels diesen bereits zu treiben suchten: Schon gegen Hegel, der China, Indien und Abendland als dialektische Stufenfolge der Entwicklung des Geistes zusammenbrachte, wurde dieser Einwand gemacht, daß von einer Stufe zur anderen hier keine reale Berührung führe, wie sie in den sich folgenden Stufen innerhalb der Geschichte des Abendlandes stattfinde. (UZG 22)

Jaspers glaubt, die Kritik an der Achsenzeittheorie dadurch entkräften zu können, dass sein Modell (zumindest in UZG A) auf die Idee der Stufenfolge verzichtet, vielmehr ein „Nebeneinander in der gleichen Zeit ohne Berührung“ (UZG 23) bevorzugt. Damit wird das Modell zwar verändert, nicht aber das eigentliche Problem, die Berührungslosigkeit, gelöst. Das Problem wird eher dadurch verschärft, zumindest klarer sichtbar, als eine Mehrzahl berührungsloser Kulturkreise postuliert wird, die sämtlich parallel zueinander stehen. 32 Anders als Jaspers, der diesen Einwand übergeht, macht ihn Schwartz (1975 a) fruchtbar. Seine Definition der Achsenzeit als das „Zeitalter der Transzendenz“ („Age of Transcendence“) ist eine Antwort auf die Frage, ob die als „Durchbrüche“ (Jaspers) / „breakthroughs“ (Schwartz u. a.) qualifizierten Veränderungen in den euro-asiatischen Kulturen des 1. Jt. v. Chr. nicht nur parallel, sondern inhaltlich vergleichbar sind (zur Frage s. Schwartz 1975 a , S. 1).

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I Besichtigung der Jaspers’schen Elemente einer Theorie der Achsenzeit

Während Jaspers die Achsenzeit primär als eine geistige Wende versteht, der ein soziologischer Zustand entspricht (bzw., wie gesehen, entsprechen muss), so führt ihn die Frage nach dem Grund der Achse zwar zunächst zur Soziologie, deren Zuständigkeit er aber sogleich wieder durchstreicht.33 Als einzige diskutable Antwort „auf die Frage: warum die Gleichzeitigkeit“ (UZG 28) wird Alfred Webers Hinweis auf den „Einbruch der Streitwagen- und dann der Reitervölker aus Mittelasien“ (UZG 28), d. h. – nach damaligem Stand der Forschung (s. dann seit den 1950 er Jahren die Schriften von Gimbutas) – der Einbruch der Indogermanen (UZG 28) nach Westen, Süden, Osten zur Debatte gestellt. Die Antwort wird aber mit einem fragwürdigen Argument abgetan: Alfred Webers These weist auf eine reale Einheitlichkeit im euro-asiatischen Block. Wie weit aber das Erscheinen der Reitervölker entscheidend ist, läßt sich schwer abmessen. Geographische Situationen und geschichtliche Konstellationen schaffen zwar Bedingungen; warum aber dann das Schöpfungswerk einsetzt, bleibt das große Geheimnis. (UZG 28)

Fragwürdig ist das Argument, weil es impliziert, es könne eine Erklärung von bestimmten Geistesbewegungen, von deren „Gehalt“ (UZG 28), durch solche der ‚materialen‘ Geschichte im Vorhinein geben. Zurecht hat Wittrock diesbezüglich bemerkt, dass es zwischen geistiger Verfassung und sozialer Gestalt, bzw., wie er es nennt, „cosmology and a particular institutional path of development“, keine „one-to-one relation“ gebe, dass aber gleichwohl der jeweilige „Kontext“ nur eine gewisse Anzahl an Entwicklungswegen zulasse.34 Bemerkenswert ist, wie sich Jaspers im Moment einer soziologischen Erklärung der Achsenzeit des sonst geschmähten positivistischen Denkens bedient. Trotz der Absage an Webers Herleitung mag sich Jaspers dem Anschein nach noch nicht beim bloßen Geheimnis der Achsenzeit bescheiden: Die einfachste Erklärung der Achsenzeit scheint schließlich durch Rückführung auf gemeinsame soziologische Bedingungen möglich, die für das Schöpfertum vorteilhafter waren. (UZG 29)

Diese Bedingungen werden noch einmal historisch weitgehend falsch rekonstruiert („viele kleine Staaten und kleine Städte; eine politisch zersplitterte, überall kämpfende Zeit; Not durch Kämpfe und Revolutionen bei gleichzeitigem Gedeihen, da nirgends universale und radikale Zerstörung geschah; Infragestellen der bisherigen Zustände“ [UZG 29; vgl. oben]), um auch diese falsche Rekonstruktion sofort wieder methodologisch zu entkräften: 33 Dieses Denkverhalten des nur kurzen Berührens und aufgeschreckten Zurückziehens ist mehrfach in UZG zu beobachten, siehe S. 30 bezüglich der Möglichkeit, das „Geheimnis“ theoriebildend und empirisch aufzulösen. Es begegnet immer dort, wo sich Geschichtsphilosophie von Wissenschaft bedroht fühlt. 34 Wittrock 2012, S. 113 f. Siehe auch S. 117: „it would be erroneous to assume a necessary relationship between axiality and imperial order.“

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Geschichtsmystik: Die Dreiteilung der Achse und ihre Unerklärlichkeit

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Das sind soziologische Erwägungen, die sinnvoll sind, zu methodischer Forschung führen, aber am Ende den Tatbestand erleuchten, nicht kausal erklären. Denn diese Zustände gehören mit zum geistigen Gesamtphänomen der Achsenzeit. Sie sind Bedingungen, die nicht notwendig zu dem schöpferischen Ergebnis führen, und sie sind selber zu befragen, woher sie in dieser Gemeinsamkeit kommen. (UZG 29)

Damit bleibt die Achse, zumindest bei Jaspers, unerklärt. Unerklärt ist sowohl deren Auftreten und Art überhaupt, wie auch deren spezifische Erscheinung: Sie tritt in drei unverbundenen Kulturkreisen gleichzeitig auf. Jaspers’ Argumentation bezüglich des Geheimnisses dieses Parallelismus der axialen Kultur­k reise – und dessen Auszeichnung durch Gleichzeitigkeit gegenüber dem (angeblich) imperfekten Parallelismus der alten Hochkulturen35 –, erweckt den Eindruck, als lasse sich, obgleich versichert wird, „die Frage offen halten und möglichen neuen Erkenntnisansätzen, die wir uns noch gar nicht vorwegnehmend vorstellen können, Raum lassen“ (UZG 30) zu wollen, das Geheimnis des Parallelismus empirisch nicht lüften. Das Unerklärte wird, zunächst durch Absage an jede plausible Erklärung („Reale Mitteilungen und Anregungen sind ausgeschlossen“ [UZG 26]36), sodann durch Beschwörung des Nicht-Wissens als Korrespondenz zum „Sein“ (UZG 30), bei Jaspers zum Unerklärlichen. Zwar verwahrt sich Jaspers gegenüber der Annahme, sein Beharren auf dem Geheimnis diene letztlich einer metaphysischen Auszeichnung der Achsenzeit, deren Anschauung als Folge eines „Eingriff der Gottheit“ (UZG 30). Das Geheimnis sei eine ‚Erklärung‘ nur solange, als keine akzeptable gefunden sei. Gleichwohl lässt sich vermuten, dass das Beharren auf dem Geheimnis theoretischen und meta-theoretischen Zwecksetzungen dient, und diese Vermutung wird umso stärker, je weiter sich Jaspers’ Beschreibung der historischen Wirklichkeit der Achsenzeit von den historischen Fakten entfernt. Tatsächlich hatten wir bereits bemerkt, dass Jaspers die Unerklärtheit-Unerklärlichkeit der Achsenzeittheorie 35 Zu diesem UZG 24 ff.; vgl. UZG 56–58. Wittrock (2012, S. 113) hat die Abgrenzung der Achsenzeit gegenüber der Zeit der Alten Hochkulturen, die Jaspers offensichtlich Probleme bereitete, nicht durch eine absolute, sondern graduelle Differenz zu beantworten gesucht: „The Axial Age is not the only period where deep-seated shifts of this type occurred. It is, however, the most consequential cultural crystallization before the Common Era.“ Am Verhältnis der vorderorientalischen Achsenzeitkulturen und den Hochkulturen fällt allgemein auf, dass jene Gebiete, die Achsenzeitkulturen beheimaten, in der Zeit vor dem 1. Jt. v. Chr. Randgebiete waren: der ägäische Raum, der palästinische Raum, das medisch-persische Hochland. 36 Die Ablehnung eines Kontaktmodells hat lange nachgewirkt, s. Schwartz 1975 a , S. 1: „I shall here assume that the question of cross-cultural influence is not the most interesting or rewarding.“ Schwartz relativiert das insofern, als er zwar Kulturkontakt im mittel­meerischen Raum seit den Alten Hochzivilisationen als konstitutiv anerkennt, nicht aber für Indien und China. Damit wird Jaspers’ Modell der drei unabhängigen Kreise bekräftigt.

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I Besichtigung der Jaspers’schen Elemente einer Theorie der Achsenzeit

für eine Präponderanz der Geistigen ausnutzt: Da dieses im Materialen, Sozialen nicht sich auflösen lasse, hat das Geheimnis, das „Wunder“, in ihm seinen natürlichen Ort. Als geistesgeschichtliche Theorie droht darin die Achsenzeittheorie in den Wunderglauben abzurutschen. Das Festhalten an dem Geheimnis, die Hypostasierung der fehlenden Erklärung, hat aber auch ganz theorieimmanente und strategische Gründe: a) Nur solange, wie sich die ältere Achsenzeit (AZ1) in diesem Parallelismus strukturell von der Moderne (AZ2) abhebt – der zeitlichen Definition der (älteren) Achsenzeit wird also durch das Ansetzen des Parallelismus ein formales Kriterium zugewonnen –, ist die Konstruktion eines dialektischen Verweisungszusammenhanges von axialer Geschichte und axialer Gegenwart sowie die Behauptung einer transzendierenden Verweisung der Geschichte auf das Sein aufrechtzuerhalten (s. u.); b) Die Annahme, dass die antiken Kulturkreise nicht berührungslos waren, hätte um 1950 (und schon wesentlich früher) bereits für das Abendland (nach seiner Fassung in UZG A) und Indien durchaus behauptet werden können; die Folge jedoch, dass dann nur von zwei berührungslosen Kultur­k reisen hätte die Rede sein können, schien Jaspers wohl seiner Theorie abträglicher als die Behauptung dreier solcher Kreise.

Die Verschiebung der Achse Die Jaspers’sche Geschichtskonzeption zielt utopisch auf die Einheit der Menschheit, auf die Aufhebung von Geschichte in einem Übergeschichtlichen, im „Sein“. Die drei achsenzeitlichen Kreise der älteren Achsenzeit stehen zu diesem Sein in einer ausgezeichneten Beziehung, und zwar in doppelter Weise: a. in ihrer geheimnisvollen Gleichzeitigkeit und inhaltlichen Parallelität stellen sie bereits ein historisches Alternativmodell zu der modernen, auf Kontakt basierenden Globalstruktur dar, die in UZG B dann als der Beginn der eigentlichen Verwirklichung jenes geschichtlichen Zieles verstanden wird37; b. sie antizipieren dieses Ideal insofern, als ihre Bewegungen der Möglichkeit nach, als Bewegungen im Raum, als Kontaktaufnahme, zugleich Bewegungen hin auf dieses Ziel sind: „Die Achsenzeit assimiliert alles übrige“ (UZG 20), will sagen: alles, was mit dem Achsenzeitlichen in Kontakt kommt, wird achsenzeitlich. Die übergreifende Bewegung von Teil I von UZG ist die, beide Modelle einer axialen Globalstruktur nicht nebeneinander zu stellen, sondern als Teile einer historischen Dynamik zu begreifen, wobei die Moderne sich als die vollkommene, globale Entfaltung der unter b) beschriebenen Bewegung gestaltet. Während die eigentliche Achsenzeit, also die Mitte des 1. Jt. v. Chr., vor allem von a), vom (fast) globalen Parallelismus gekennzeichnet ist und die wirklich universelle 37 Zur Kritik der Jaspers’schen Tendenz der Gleichsetzung von künftiger globaler Kultur und westlicher Moderne s. Schwartz 1975 a , S. 6.

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Die Verschiebung der Achse

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Kontaktnahme erst als Möglichkeit kennt, so verfährt die Moderne eben mittels des Kulturkontaktes, durch den sie schließlich auf das Ziel der Geschichte, die Einheit der Menschheit, hinleitet. Die gesamte Konstruktion dürfte vom aristotelischen Modell von Potentialität, Aktualität und Entelechie, Seinserfüllung, inspiriert sein. Nach der Jaspers’schen Konstruktion ist der Kulturkontakt gerade das Kennzeichen der Nach-Achsenzeit, bzw., wie sich in der Konzeption von UZG B nach und nach enthüllt, der als zweite Achse angesehenen europäischen Moderne. Ist die ältere Achsenzeit noch „eine Aufforderung zur grenzenlosen Kommunikation“ (UZG 31), so die Nach-Achsenzeit, das technische Zeitalter seit dem 16. Jh., deren sukzessive Verwirklichung (s. UZG 34).38 Damit kommt es in UZG B zu einer nicht unwesentlichen Verschiebung der gesamten Tektonik der Theorie. Legte Jaspers zu Beginn der Schrift (in UZG A) größten Wert darauf, dass die Achsenzeit die Formationsperiode des heutigen Menschen, also die früheste Gegenwart ist, so rutscht sie schließlich unter diesen Vorzeichen ab in ein Stadium der gegenüber der Moderne qualitativ unterschiedenen Vergangenheit.39 Die Geschichte besteht nach UZG B aus vier Perioden (in denen „der Mensch gleichsam von einer neuen Grundlage“ ausgehe [UZG 34]), dem prometheischvorgeschichtlichen Zeitalter, der Epoche der alten Hochkulturen, der Achsenzeit und der technologischen Moderne, letztlich aber nur aus zwei „Atemzügen“: Der erste Atemzug führte vom prometheischen Zeitalter40 über die alten Hochkulturen bis zur Achsenzeit und ihren Folgen. Der zweite Atemzug beginnt mit dem wissenschaftlich-technischen, dem neuen prometheischen Zeitalter, führt durch Gestaltungen, die den Organisationen und Planungen der alten Hoch­ kulturen analog sein werden, vielleicht in eine neue uns noch ferne und unsichtbare zweite Achsenzeit der eigentlichen Menschwerdung. (UZG 35)

Die Moderne seit dem 16. Jh. – es ist eigentümlicherweise genau jene Epoche, die Lukács als die der „transzendentalen Obdachlosigkeit“ bestimmt hatte41 – wird damit zur zweiten oder doch eigentlichen Achse der Zeit. Weniger die antike Achsenzeit, als vielmehr die „Periode der Weltgeschichte von 1500–1830“42 erscheint in UZG B, auch wenn sie in ihrer Beschränkung auf Europa – man siehe z. B. die Reihe großer Namen (UZG 79), die in gewisser Weise den großen Namen der 38 Wie sehr Jaspers selbst noch einem eurozentrischen Denken verhaftet ist, wird daran deutlich, dass er als zweite Achsenzeit allein die europäische Moderne, also die Zeit seit der Entdeckung Amerikas und die damit verbundene Verlagerung der globalen Zentren und Neubestimmung der Globalstruktur, fasst. Tatsächlich hatte sich eine wissenschaftlich-intellektuelle, technische und ökonomische Moderne bereits seit dem 8. Jh., mit dem weitgehenden Abschluss der islamischen Reichsbildung vollzogen, die (in den Handelsströmen) bis nach Schwarzafrika und China ausstrahlte, und von der lediglich die verbauernde Welt Europas größtenteils unberührt blieb. 39 Jaspers vertritt damit in seinem Werk also sowohl die Kontinuitäts- wie Diskontinuitäts­ perspektive. 40 UZG 34: Sprachentstehung, Werkzeuge, Feuergebrauch. 41 Lukács 1971/1977, S. 32. 42 Vgl. UZG 79.

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Antike (UZG 14 f.) korrespondieren – „nicht als zweite Achse anzusprechen“ sei (UZG 79), als „die unmittelbare Voraussetzung unseres eigenen geistigen Lebens“ (UZG 66). Erst mit der „heute beginnende Wirklichkeit“ eröffnet sich „die faktische Universalgeschichte der Erde, die Weltgeschichte“ (UZG 75).43 Diese Verschiebung, die Anerkennung einer im Grunde zweiten und dann wesentlichen Achse, auf deren Konstitution Teil B immer stärker (und zwar mit der Verortung im modernen Europa) zuläuft, lässt sich, wie gesagt, innerhalb der Theorie insofern abfedern, als diese Achse der Moderne in einem anderen und stärkeren Sinne global ist als die Achse des 1. Jt. v. Chr. Ihr stehen die technischen Möglichkeiten zur Verfügung, die globale Kommunikation, Kontakt und Austausch ermöglichen. Während die erste Achse nur (weitgehend) der Möglichkeit nach und in geheimer Weise global war, nämlich als gleichzeitiges Erscheinen axialer Momente in drei voneinander unabhängigen Kulturkreisen, so ist die globale Struktur der zweiten Achse als reale beschreibbar. Die zweite Achse ist damit letztlich nur die Konsequenz einer erwartbaren Bewegung der Kulturkreise aufeinander zu, die durch Prozesse des Mittelalters lediglich für Jahrhunderte unterbrochen (oder vielmehr in der Richtung verändert44) war, bzw. die Kulturkreise sich historisch eher voneinander fort- als aufeinander zu entwickeln ließ (s. UZG 24–26).45 Die Verschiebung der Achse bringt, wie bereits angedeutet, Jaspers einen doppelten theoretischen Gewinn: 1. Die (schon in UZG A in dieser Weise anvisierte) Moderne definiert sich in Differenz zur Geschichte und erscheint doch zugleich als die konsequente Verwirklichung eines in der Achsenzeit Angelegten (s. UZG 30–36) (mit dem theoretischen Nebeneffekt, dass die Beschreibung 43 Schon Jean Bodin hatte 1556 in seinem Methodus ad facilem historiarum cognitionem festgestellt: „omnes homines secum ipsi et cum Republica mundana, velut in una eademque civitate mirabiliter conspirant“, dass alle Menschen unter einander und in einem Weltstaat wie in einer Gemeinde wundersam verbunden sind. 44 „Seit der Spaltung in Ost und West um die Mitte des ersten Jahrtausends nach Chr. erwächst im Westen nach einem Intervall von rund 500 Jahren die neue abendländische Geschichte der romanisch-germanischen Völker …“ (UZG 64). Dieses neue Abendland ist bei Jaspers das europäische Abendland. Jaspers beschränkt sich in seiner Betrachtung der Nach-Achsenzeit vornehmlich auf den Westen. Schwartz (1975 a , S. 5) hat jedoch insbesondere mit Blick auf die chinesische Geistesgeschichte darauf hingewiesen, dass die Achsenzeit (nach Schwartz: „the age of transcendence“) „did not mark a completion but rather an opening to a complex and unpredictable future“. 45 Gleichwohl schwächt die Anerkenntnis einer zweiten Achse die Attraktion der Achsen­ zeittheorie, weil mit ihr die Idee des einen einmaligen Umschlags der Menschheit, deren Zu-Sich-Selbst-Kommen, an Prägnanz verliert. In der gedanklichen Bewegung von UZG lässt sich das daran ersehen, dass mit dem Vordringen der Idee einer zweiten Achse zugleich der Gedanke einer vor-axialen Achsenzeit abgewehrt werden muss. Jaspers erwägt den Parallelismus der Alten Hochkulturen (UZG 24 f.), den er tatsächlich nicht als scheinhaften verwerfen, sondern lediglich seinem Grad (in inhaltlicher Durch­gestaltung wie in der historischen Exaktheit) nach als dem Durchbruchscharakter der Achsenzeit nicht wirklich ebenbürtig abwerten kann (UZG 25).

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Über die Konzeption der Kulturkreise und die Folgen von deren Verschiebung 27

der älteren Achsenzeit wiederum aus den beobachtbaren Tatsachen der Moderne den Beweis für die Richtigkeit ihrer Rekonstruktion ziehen kann). Schien es im Vorwort von UZG, dass der Gedanke einer Erfüllung, die die Gegenwart von der Geschichte erhoffte, lediglich im hermeneutischen Sinne, als ein Sich-Verstehen durch Bezug auf ein Anderes, formuliert war, so erweist er sich in der Verschiebung der Achse als eine konkrete Bewegung. 2. Für die gesamte Konstruktion von UZG ist die Annahme, dass die axialen Erscheinungen, also die (vor allem geistesgeschichtlich bedeutsamen) Parallelcharakteristika, in verschiedenen Weltregionen (die jedoch sämtlich der euro-asiatischen Landmasse zugehören) unabhängig, d. h. ohne Wissen ihrer herausragenden Träger von­einander, ohne Kontaktnahme aufgetreten sind, in einem zunächst unerwarteten Sinn bedeutsam. Im Rahmen einer möglichen wissenschaftlichen Behandlung des Erstaunen machenden „Geheimnisses“ entwertet Jaspers jeden Ansatz zur dieses durchdringenden Hypothesenbildung mit der eigentümlichen Aussage, das Staunen über den Parallelismus sei „vielleicht gerade das Ziel all unseres Erkennens, nämlich durch maximales Wissen zum eigentlichen Nichtwissen vorzudringen, statt das Sein verschwinden zu lassen in der Verabsolutierung zum in sich geschlossenen Erkenntnisgegenstand“ (UZG 30). Die Platon in gewisser Weise verdrehende, letztlich anti-aufklärerische Wendung scheint sagen zu wollen, dass der einem „Wunder“ (UZG 29) gleiche, geheimnisvolle Parallelismus der Achse in einer besonderen Beziehung zum „Sein“, dem Übergeschichtlichen, stehe, dem mit wissenschaftlichen Mitteln grundsätzlich nicht beizukommen sei (und auch nicht beizukommen sein soll). Das Geheimnis der Achsenzeit soll sein, weil ohne dieses offenbar kein Aufscheinen von „Sein“ (als das „eigentliche(n) Nichtwissen“) wäre. Achsenzeit scheint aber letztlich bei Jaspers dadurch von Nicht-Achsenzeit unterschieden zu sein, dass sie Geschichte in ein spezielles Verhältnis mit dem Sein bringt. Der Gewinn der Verschiebung der Achse in die Moderne liegt darin, dass dieses Verhältnis nicht länger nur als eines des wunderbaren Auftretens von Sein zu deuten ist. Mit der Moderne verliert „Sein“ seine Einkapselung im negativen Begriff des „Nichtwissens“ und beginnt sich positiv zu formulieren als „Einheit der Menschheit“.

Über die Konzeption der Kulturkreise und die Folgen von deren Verschiebung in UZG Dieses wohl Hegel’sche Erbe, im Geschichtlichen mehr als nur Geschichtliches sehen zu wollen, Geschichte sich letztlich enthüllen, einen Geist oder Sinn oder das Sein hervortreten zu lassen, zeitigt Spuren in der Modellierung der Theorie wie schließlich sogar in der empirischen Akkuratesse. In Bezug auf letztere hatten wir gesehen, wie die analogische Konstruktion von Über- und Unterbau dazu zwang, die Existenz eines Achämenidenreiches weitgehend aus den empirischen Daten der Achsenzeittheorie zu eliminieren.

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I Besichtigung der Jaspers’schen Elemente einer Theorie der Achsenzeit

In Bezug auf die Modellierung der Theorie hat dieses Verlangen nach einem Metahistorischen Folgen insofern, als UZG nicht immer einhellig die Kulturkreise beschreibt, die im berührungslosen Parallelismus existieren. Das lässt schon das Zitat (siehe S. 11) erkennen, mit dem der Abschnitt „Charakteristik der Achsenzeit“ (UZG 14 ff.) anhebt. Zählt (ähnlich wie Anquetil/Kleuker) UZG zunächst die großen Geister Chinas, Indiens, Irans, Israels und Griechenlands auf (vgl. UZG 58), so wird diese Fünfzahl – die in der Achsenzeitdebatte immer wieder hervortritt 4 6 – sogleich zur Dreizahl herabgedrückt:47 „Alles, was durch solche Namen nur angedeutet ist, erwuchs in diesen wenigen Jahrhunderten annähernd gleichzeitig in China, Indien und dem Abendland, ohne dass sie gegenseitig voneinander wußten“ (UZG 14 f.). Werden also Griechenland, Israel und Iran als Teile des Kulturkreises „Abendland“ betrachtet – eine Perspektive, die, hätte sie Jaspers in UZG B nicht wieder zurückgenommen, die Möglichkeit zu einer grundsätzlich anderen Rekonstruktion der antiken Geschichte eröffnet hätte –, so bedeutet das implizit, dass Griechen, Juden und Iraner „voneinander wußten“, für deren axiale Leistungen also keineswegs das „Geheimnis“ in Anspruch genommen werden kann. Das muss stillschweigend übergangen werden, weil damit Kontakt als nicht nur mögliche Form der Einheitsbildung, sondern als reale Beziehung axialer Kulturen hervorgetreten wäre. In den etwas späteren Teilen von UZG (besonders in UZG B) verschiebt sich die Dreiteilung hin auf eine Zweiteilung. Zwar wird die auch von Hegel zitierte Sentenz des Lord Elphinstone, „der Europäer könne bis an den Indus glauben, noch in Europa zu sein“, als zeit­bedingt zurückgewiesen (UZG 60); tatsächlich aber ist es ja eben dieser Schnitt „zwischen Persien und Indien“ (UZG 60), den auch Jaspers seiner (ersten) Bestimmung von „Abendland“ zugrunde legt, und der in der weiteren Ausarbeitung der Achsenzeittheorie in den Folge­kapiteln tragend wird. Von nun an werden Indien und China gemeinsam behandelt und ihnen das „Abendland“ gegenübergestellt. Obgleich UZG die Bedeutung der griechischen Historiographie für die Spaltung von Orient und Okzident erkennt („Das Abendland hat sich von vornherein – seit den Griechen – in einer inneren Polarität von Okzident und Orient konstituiert. Seit Herodot ist der Gegensatz von Abendland und Morgenland bewusst geworden als ein ewiger Gegensatz, der in immer neuen Gestalten erscheint.“ [UZG 71 f.]), sie also weitgehend als 46 Siehe Schwartz 1975 a , S. 1; Wittrock 2012, S. 113 ff. In Arnason (2012) bleibt die Stellung Irans/Persiens zur Achsenzeit ambivalent, man siehe hier die Seiten 342–345 (zur Iran-Problematik) und die Seiten 354 ff., da in dem von Arnason vorgeschlagenen pluralistischen Modell der Achsenzeit unter den „Aspects and Directions of World Articulation“ (S. 355) dem Iran nicht – wie bei Wittrock – ein eigener Platz zugestanden wird. 47 UZG hat eine Tendenz, in den auf das „Schema der Weltgeschichte“ (UZG 37) folgenden Teilen immer stärker die Bedeutung des Abendlandes für die Achsenzeit hervorzuheben. So wird UZG 59 zur Diskussion gestellt, ob denn Inder und Chinesen nicht eher mit Babyloniern und Ägyptern, also den vor-axialen Kulturen, zu vergleichen seien. Die Folge­kapitel laufen schließlich auf die Darstellung über „das Spezifische des Abend­ landes“ (UZG 67–71) hinaus.

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Über die Konzeption der Kulturkreise und die Folgen von deren Verschiebung 29

eine frühe (und zwar lange Zeit nur für Europa, nicht für den Orient bedeutsame) Ideologie enthüllt, wird ihr gleichwohl Substanz verliehen. Die Aufnahme der Orient-Okzident-Distinktion hat natürlich Folgen für den Begriff des Abendlandes. Ihre Vorform bei Herodot ist die in Griechen und Barbaren, d. h. vor allem Perser (Meder), eine Distinktion, die freilich durch die meist übersehene Tatsache abgemildert wird, dass sie inferior jener von (Geschichte habenden) Menschen und (an den Welträndern lebenden) Pseudo-Menschen ist. Die Orient-Okzident-Distinktion spaltet den Kulturkreis „Abendland“ auf in eine Welt der Griechen und eine Welt der Iraner.48 Damit wird die Situation für Iran in der Jaspers’schen Achsen­zeittheorie prekär. Weder kann Iran aus systematischen Gründen Indien zugeschlagen werden (denn das widerspräche der grundlegenden Behauptung der Berührungslosigkeit), noch kann offenbar die überkommene Orient-Okzident-Spaltung schlicht negiert werden. Eine Lösung des Dilemmas besteht darin, Iran (bzw. vielmehr „Persien“) der Achsenzeit aus- und der Zeit der Alten Hochkulturen einzugliedern: „Es entstanden die Welt­reiche der Assyrer, Ägypter, zuletzt in neuer Gestalt das der Perser …“ (UZG 54).49 Das wäre tatsächlich insofern konsequent, als Herodot selbst exakt der historischen Achse zugehört, der Kulturparallelismus der älteren Achsenzeit also nicht von den Ereignissen im frühen 5. Jh. und deren weltgeschichtlicher Einordnung bei Herodot einfach absehen kann. Doch hat diese Lösung unangenehme Konsequenzen: 1. Die gesamte Konstruktion eines Kultur­kreises „Abendland“, wie sie UZG A entwirft, bricht zusammen (da sie ja gerade für die Herodot-Zeit gelten soll);50 2. Zaraϑuštra, der doch selbst nach der einheimischen Datierung noch vor den reichszeitlichen Achämeniden lebte, wäre der Achsenzeit ein-, die Achämeniden wären ihr jedoch ausgegliedert! Die andere Lösung besteht darin, Iran aus der gesamten Achsenzeitdiskussion weitgehend auszuschließen. Das war vor allem der Weg, den dann Eisenstadt gegangen ist. 48 Diese Ausgliederung Irans aus dem „Abendland“ findet sich in Variation auch bei Momigliano (in Schwartz 1975 b, S. 10 [sowie S. 11 + 19 über den aktiven Ausschluss der Iraner aus dem Zivilisationsbewusstsein Europas]; s. a. Schwartz 1975 a , S.  1 f.). Momi­ gliano setzt als die „triangular matrix of western civilization“ (Schwartz 1975 a , S.  1 f., vgl. auch S. 5: „the melding of Greek, Jewish, Roman [and perhaps Persian]“) Griechen­ land, Palästina und Rom als die bestimmenden Kräfte des Phänomens „Hellenismus“ an. Die Tatsache, dass der Hellenismus eine Erscheinung im gesamten ehemaligen achämeni­ dischen Reichsgebiet ist, spielt für Momigliano keine Rolle. 49 Dieselbe Eingliederung der Achämeniden in den „background“ der Achsenzeit findet sich auch bei Wittrock (2012, S. 111 f.). Gleichwohl wird dem Achämenidenreich von Wittrock (2012, S. 116–119) die Verwirklichung eines der von ihm konstatierten „five paths of axial transformations“ zugesprochen. 50 Eine Möglichkeit wäre es gewesen, die Orient-Okzident-Distinktion nicht Herodot selbst zuzuschreiben, sondern späteren, in der Regel modernen Interpretationen von Herodots Historien, die schon aus dem Bewusstsein einer bedeutenden Existenz „Europas“ – das es als eine irgendwie kulturelle Einheit in der Antike noch kaum gab – heraus die Welt beschreiben und die Grenzverläufe ziehen.

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I Besichtigung der Jaspers’schen Elemente einer Theorie der Achsenzeit

Diese Ausgliederung Irans lässt sich an UZG selbst mitverfolgen. Im Abschnitt „Geschichte des Abendlandes“ (UZG 63–66) umfasst das Abendland in einer ersten (voraxialen) Phase „Dreitausend Jahre Babylonien und Ägypten bis etwa zur Mitte des letzten Jahrtausends vor Christus“, in der zweiten (axialen) Phase „Eintausend Jahre, begründet auf den Durchbruch der Achse, die Geschichte der Juden, Perser, Griechen, Römer, in der sich das Abendland bewusst konstituiert, von der Mitte des letzten vorchristlichen bis zur Mitte des ersten nachchristlichen Jahrtausends“ (UZG 64). Mit dieser Betonung „der christlichen Achse“ (UZG 64) wiederholt sich letztlich die herodoteische Distinktion noch einmal. „Europa“ (UZG 65, 67) wird nun zum Inbegriff des „Abendlandes“. Europas Geographie wird zur Geographie des Abendlandes (UZG 67 f.), typische europäische Charakteristika, so die „politische Freiheit“, die fortschreitende „Rationalität“ (UZG 68) u. a. m. (vgl. UZG 73) beherrschen das abendländische Bild. Die „Spaltung“ von Griechen und Persern erscheint als die erste der großen abendländisch-morgenländischen historischen Spaltungen (UZG 72). Jaspers sucht das Problem derart auszugleichen, dass er das Abendland der Achsenzeit in zwei Phasen unterteilt: 1. Ist die ältere Achsenzeit geformt aus „China, Indien und dem vorderen Orient mit Europa“ (UZG 75), wobei sich die „Welt Vorderasiens-Europas … als ein relativ Ganzes“ mit „Indien und China“ gegenübersteht (UZG 77); 2. gilt „seit den Griechen … innerhalb dieses westlichen Kulturkontinents die innere Gliederung in Osten und Westen, in Orient und Okzident. So gehören das alte Testament, das iranischpersische Wesen, das Christentum zum Abendland – im Unterschied von Indien und China – und sind doch Orient“ (UZG 77). Anders jedoch als Israel spielte nach Jaspers Iran für die Genese Europas letztlich keine Rolle. Dieses gründe sich – und hier zeichnet sich erstmalig eine plurale Ausfächerung in der Achsenzeittheorie ab – auf der jüdischen Befreiung von Magie und „dinghafter Transzendenz“, auf griechischer Rationalität, auf dem christlichen „Innewerden der äußer­sten Transzendenz“ und deren Fesselung an die Immanenz (UZG 78). Mit dem Eintrag der Orient-Okzident-Differenz in den Kulturkreis Abendland, mit der Charakteristik des Westens als Reich von Ratio und (christlicher) immanenter Transzendenz bei Aufrechterhaltung der ursprünglichen Indusgrenze des „Abendlandes“, gerät Iran bei Jaspers wie in der Folgezeit der Achsenzeittheorie in ein historisches und geschichts­philosophisches Niemandsland. Die (wie erwähnt potentiell von Jaspers erwogene) Alternative, den Iran rein den vor-axialen Reichen zuzuschlagen (wobei man differenzieren müsste: WestIran als Teil der mesopotamischen Kulturen; Ost-Iran als verbunden mit der vedischen Kultur), eine Achsenzeit Irans also erst verspätet, mit dem Hellenismus, anzusetzen, scheint jedoch den Gegenständen bestenfalls nur begrenzt angemessen zu sein. Hätte Jaspers sich stärker auf die geographische Position und den historischen Ort Irans bezogen, sich über beides klares Zeugnis abgelegt, so wären zwei entscheidende ‚empirische‘ Behauptungen von UZG gefallen:

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1. die Behauptung, die Achsenzeit sei vom Zerfall der Reiche, von Klein­ reichen bestimmt gewesen; 2. die Behauptung, zwischen den Kulturkreisen habe es keine Verbindung gegeben. Der Iran der Achsenzeit sind vor allem das Achämenidenreich (und dessen ‚hellenistische‘ Nachfolger), und – soweit man dessen Existenz zugibt – das voran­ gehende Mederreich. Diese gewaltigen Reichsstrukturen integrierten (ab Kambyses) nicht nur alle alten Hochkulturen; sie verbanden auch den griechischen, palästinischen, iranischen und (nord- und west-)indischen Raum. Seit dem Bestehen des Achämenidenreiches existiert ein Kontaktraum, der zwei der drei Jaspers’schen Kulturkreise der Achsenzeit einschließt. Die Anerkenntnis dieses Kontaktraumes hätte, wie schon oben vermerkt, jedoch eine unangenehme Folge gehabt. Der chinesische Kulturkreis wäre, da sich bis heute nahezu keine Kulturkontakte für die Zeit vor den Parthern zwischen dem iranischen und chinesischen Raum nachweisen lassen, in eine isolierte Position, die Theorie in die missliche Lage geraten, dass sie für den achämenidischen Raum Kontakt als Motor des Axialen hätte ansetzen, die chinesische Entwicklung aber im Geheimnis der parallelen Eigenentwicklung belassen müssen. Es scheint diese Asymmetrie, ja Widersprüchlichkeit zu sein, die es Jaspers eleganter erscheinen ließ, die empirischen Fakten, vor allem die Tatsache des Achämenidenreiches, weitgehend zu ignorieren bzw. dieses aus der Achsenzeit überhaupt auszugliedern und den alten Hochkulturen zuzuschlagen. Die jüngere Achsenzeittheorie hat sich von Jaspers’ Modell in mehrfacher Hinsicht verabschiedet.51 Zog schon bei Eisenstadt, trotz dessen verengter Begriffsverwendung von „Transzendenz“, die im Grunde für die Mehrzahl der axialen Kulturen unpassend ist, der Gedanke einer nicht nur soziologischen Diversifizierung der Achsenzeit (so in der Begründung großer und kleiner Traditionen), sondern auch einer Pluralisierung der axialen Visionen herauf,52 so ist dieser Pluralismus heute systematisiert worden. Wittrock etwa hat vorgeschlagen,53 die Achsenzeit in „five paths“ zu unterteilen.54 Diese Wege entsprechen den fünf Kulturkreisen, die Jaspers zu Beginn von UZG nannte, und die nun eine Renaissance erleben. Jaspers’ Schritt, Griechenland, Israel und Iran zu einem größeren, kontaktbasierten Kulturkreis zusammenzuschließen, wird indes nicht mehr allgemein gefolgt.55 Das bedeutet implizit nichts anderes, als dass das Modell des berührungslosen Parallelismus, welches ja auf den drei kontaktlosen 51 52 53 54 55

Siehe dazu (und zur Kritik dessen) Roetz 2012, S. 248–252. Eisenstadt 1987–1992, I.1, S. 21–23, 27. Siehe dazu Arnason 2012, S. 345 f. Wittrock 2012, S. 113–119. Man vergleiche auch Arnason 2012, S. 354–359 („Toward a Pluralistic Model“). Allerdings ordnen noch Arnason/Eisenstadt/Wittrock (2005) die Kulturen (der antiken Achsenzeit) in die Gruppen „Ancient Near East and its Axial Peripheries“ (Kap. II) und „Indian and Chinese Perspectives“ (Kap. IV).

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I Besichtigung der Jaspers’schen Elemente einer Theorie der Achsenzeit

Kulturkreisen basierte, (zumindest bei manchen Autoren) aufgegeben ist. Bei Wittrock verbindet sich dieses Stillschweigende mit einer wesentlichen Veränderung der Perspektive auf Iran. Nicht steht länger ein historischer Zaraϑuštra für dessen Zugehörigkeit zur Epoche ein56 – wohl aber, und das wird m. E . in Zukunft zu re-etablieren sein, die Figur eines Zaraϑuštra und deren Bedeutung für die Felder von Selbst- und Geschichtskonstitution57 – sondern das Reich der Achämeniden. Mit der korrigierten politischen Rekonstruktion der Achsenzeit58 rückt damit der achämenidische Iran ins Zentrum der Achsenzeit: „the geographical and political space where all of the major traditions of Eurasia59 actually interacted is the area of the Achaemenid Empire and its Hellenistic and Iranian successors.“60 Interaktion (Kommunikation, Kontakt) ist damit zum Schlüsselbegriff der axialen Genese, zur Füllung des Jaspers’schen „Geheimnisses“ geworden. Das Achämenidenreich zeigt sich nun aber als der Zentralraum der Achsenzeit: Mit ihm ist zum einen, durch die interne gute Kommunikation, „die Welt kleiner geworden“61, zum anderen ist der Großteil der nicht dem Reich angehörenden Welt durch dessen immense Ausdehnung und zentrale Lage zumindest im Kontaktverhältnis mit den Achämeniden. Was aber ist die Folge für die Theorie, soweit wir die empirische Untersuchung korrigieren, die Bedeutung der iranischen Reiche/Großreiche in genau dem von Jaspers als Achsenzeit bestimmten Zeitraum (800–200 v. Chr.) akzeptieren,62 der Vorstellung einer politisch zerfallenen Achsenzeit aber nicht länger folgen? Theoretisch bedeutet das zum einen, dass Jaspers fragwürdiges 56 Noch Gnoli (2000, S. 3–4) glaubte, dass eine iranische Achsenzeit notwendig an einen historischen Zaraϑuštra gebunden sei; und auch noch Shaked (2005) versucht, an einem historischen Zaraϑuštra und an einer auf diesen ausgerichteten axialen Perspektive festzuhalten. 57 Die Bedeutung von Zaraϑuštra als jene ‚Figur‘, die das Avesta vom Rig-Veda trennt, ist von Colpe (2003 b) klar erkannt (m. E . jedoch fälschlich ins alte Gleis der Propheten­ deutung gebracht) worden. Es ist wesentlich diese ‚Figur‘ Zaraϑuštra, die zwischen Avesta und Achsenzeit einen Bezug herstellt, der für das Rig-Veda (zumindest für dessen ältere Schicht) durchaus problematisch ist. 58 Siehe Wittrock 2012, S. 113. 59 Wittrock lässt die Extension von „Eurasien“ offen. Auch bei Arnason (2012, S. 346) wird die Bedeutung des Achämenidenreiches für die Entwicklung in der Achsenzeit hervorgehoben. Noch klingt bei ihm jedoch die Idee des Kulturkreises „Abendland“ nach, auch wenn der Kontakt mit Indien angemerkt wird: „The rise and expansion of the Persian Empire decisively affected both Greek and Jewish history, albeit in very different ways; Persian presence in and influence on India clearly marked a new round of interregional contacts, but details are very hard to document.“ 60 Wittrock 2012, S. 116. 61 Boardman 2003, S. 181. 62 In der Zeit nach Jaspers zeigt sich die Tendenz, die Achsenzeit auszudehnen. Schwartz (1975 a , S. 1) bestimmt sie als „the first seven or eight hundred years before Christ“, bei Eisenstadt u. a. sind dann spätantike/frühmittelalterliche, ja sogar hochmittelalterliche/ frühmoderne Kulturen integriert.

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Analogie­modell, die Annahme, dass sich ein politischer und ein zeitgleicher geistiger Zustand mit denselben Vokabeln beschreiben lassen müssen, bzw. dessen Reformulierung in Begriffen der Kausalität, hinfällig ist.63 Zum anderen folgt daraus, dass für zumindest zwei der Jaspers’schen Kulturkreise, für den des Abendlandes (Griechenland, Palästina, Iran) und den Indiens, Kontakte bestanden (es gehört zu den Kuriositäten, dass Jaspers dies – obgleich sein Blick doch auf die Indo-Europäer fiel – überhaupt ignorieren konnte). Daraus folgt schließlich, dass sich die Achsenzeit in lediglich zwei möglicherweise unverbundenen Kulturkreisen, dem politisch von Iran dominierten (dem Erbe der Alten Hochkulturen) und dem chinesischen, verwirklichte. Diese Veränderung der achsenzeitlichen Geschichtsschreibung führt theoretisch auf folgende Möglichkeiten: a.  Jaspers Theorie des Kulturparallelismus bleibt reduziert bestehen: Achsenzeitliches zeigt sich unabhängig voneinander in der von Iran dominierten Welt und in China; b. China muss, weil mit den anderen axialen Kulturen unverbunden, aus der Achsenzeittheorie ausgegliedert werden; c. Es müsste empirisch nachgewiesen werden, dass zwischen der von Iran dominierten Welt und China bereits in vor-parthischer Zeit, also in der Achsenzeit, Kontakte bestanden. Während a) prinzipiell in dieselben Probleme wie der Jaspers’sche Geschichtsmystizismus geriete, b) jedoch eine Zumutung, gewisse theoretische Willkür und schließlich wohl ein Verstoß gegen die Fakten darstellte (es sei denn, man beschränkt das Forschungsprogramm der Achsenzeittheorie auf den Raum des Achämenidenreiches), scheint allein c) ein gangbarer Weg zu sein. Er wäre schlicht jener Ansatz zum „weiteren Forschen“ (UZG 30), welches Jaspers für einen flüchtigen Moment gegenüber der Hypostasierung des „Geheimnisses“ in Erwägung zieht. Allmählich scheint dieser Ansatz bei den jüngeren Achsenzeittheoretikern an Attraktivität zu gewinnen. Schon Dumont hatte dessen Beachtung nachdrücklich eingefordert: The Zeit of Jaspers’ term means an era in world history, and the assumption of an absolute synchronism would be more meaningful if all the different civilizations could be seen as having lived in a common time, that is to say, as having interacted on each other. Unfortunately, the question of reciprocal influences has fared badly, due mainly, perhaps, to the contrast between the piecemeal character of the borrowings from the one to the 63 Schwartz (1975 a , S. 4 f.) hat das Problem historischer Verursachung wiederaufgenommen. Während Jaspers das Problem entweder so behandelt, dass er eine Erklärung des Überbaus aus dem Unterbau ablehnt, oder aber den Unterbau einfach den achsenzeitlichen Phänomenen zuschlägt, zeigt Schwartz ein Gefühl dafür, dass der Überbau weder aus einem Unterbau bündig abzuleiten, noch auch von diesem unabhängig ist. Das Verhältnis sei eines „of dialectic tension“ (Schwartz 1975 a , S. 4).

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I Besichtigung der Jaspers’schen Elemente einer Theorie der Achsenzeit other that have been alleged and the very articulate complexity and frequently self-contained sense of superiority of each. The data of the needed degree of relevance, when they exist, are difficult to interpret … Yet we should guard against the assumption that each culture has evolved in isolation: we may be sure that „commerce“ in the widest sense of the term has always gone on, and we should not close the door to hints of interaction.64

Heute beginnt dieser Ansatz an die Stelle des Jaspers’schen Modells einer gegenseitigen Nichtberührung zu treten: Soll der Erklärungsversuch des gemeinsamen Neuen der verschiedenen achsenzeitlichen Phänomene historisch sinnvoll angegangen werden, so ist zunächst nach Kontaktmöglichkeiten zwischen den jeweils weit auseinander liegenden Ereignisräumen zu fragen. Auf Grund ihres damaligen Kenntnisstandes konnten weder Anquetil noch Jaspers für die Achsenzeit-Kulturen einen einheitlichen, real zusammenhängenden historisch-geographischen Raum annehmen, so daß Jaspers sogar von dem „Wunder … rätselhafter Gleichzeitigkeit“ sprechen konnte und betonte, „ohne daß sie gegenseitig voneinander wußten“ hätten sie sich entfaltet.65

Metzler (2009, S. 170 b –172) bringt Beispiele für achsenzeitliche euro-asiatische Kontakte, die insbesondere der Erhärtung der These einer Existenz der Seiden­ straße in der Achsenzeit dienen sollen. Dass Transferleistungen über den von den Iranern/Achämeniden beherrschten vorder- und mittelasiatischen Raum weiter nach Osten führten, dafür sind die Funde von Pazyryk im Altai seit langem ein Beleg. Zu bedenken wird sein, dass es vielleicht weniger die axialen Kulturen selbst waren, die diesen Transfer leisteten, als vielmehr jene, die höchstens als Sich-Assimilierende, in Asien die Skythen, den Achsenkulturen zuzählten.

Möglichkeit des Scheiterns Obgleich es der Achsenzeittheorie in ihrer anti-hegelianischen Wendung gelingt, den Begriff der Menschheit nicht hierarchisch, sondern mit der Konzeption von Einheit in Vielheit allgemeiner und einem (angeblich) post-kolonialen Zeitalter gemäßer zu formulieren (auch wenn das hierarchische Problem wiederkehrt bei der Frage nach allen Völkerschaften jenseits des Gürtels der Hochkulturen und Achsenzeitkulturen, und auch wenn UZG B das Konzept des Pluralen letztlich wieder von einer europäischen Dominanz kassieren lässt), so teilt sie doch mit den meisten Kulturtheorien nicht nur einen historischen Optimismus, ja eine ins Ideologische umschlagende Arglosigkeit bestimmten, als unverlierbar angesehenen Begriffen („Einheit“ und „Totale“, „Sinn“, „das Umgreifende“, „Sein“ u. a. m.) gegenüber, welche im Moment der Gegenwart des Buches so doch kaum noch aufrecht zu erhalten waren. Die vielversprechende Rede von 64 Dumont 1975, S. 153. 65 Metzler 2009, S. 170.

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Möglichkeit des Scheiterns

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einer „Unermeßlichkeit der Zukunft“ etwa hat Jaspers selbst, der in UZG die Möglichkeit zum „einen Ziel der Menschheit“ noch wesentlich von der modernen Technik abhängen ließ, wenige Jahre später nicht mehr unumschränkt aufrechterhalten können.66 Tatsächlich gibt es auch in UZG eine Schicht, die den ganzen Geschichtsoptimismus kritisch begleitet. Dass dieser fragil ist, dafür zeugt schon eine zentrale Figur des Werkes. Zum entscheidenden Kriterium der Achsenzeit wird deren Nähe zur Gegenwart erklärt. Diese ist aber nicht einfach die Erfüllung jener, sondern allein der Möglichkeit nach: Die „Achse wäre dort, wo geboren wurde, was seitdem der Mensch sein kann, …“67. Dafür, dass er es ist, spricht 1949 wenig. Das Versagen vor dem Möglichen hat bei Jaspers zwei Begründungen. Wie Jaspers sehr wohl weiß, liegt das Axial-Zivilisatorische, das Geschichtliche überhaupt, zum einen lediglich als dünnes Häutchen über einem vorgeschichtlichen Abgrund von Barbarei, dem „dunkle Menschsein“ als dem „Grundstock unseres Wesens“ (UZG 38 f.): Die geschichtlich bewußte Überlieferung und Hinaufbildung des Menschen, welche uns zeigt, was dem Menschen möglich war, und welche mit ihren Gehalten die Quelle unserer Erziehung, unseres Glaubens, Wissens und Könnens ist, dieses Zweite ist wie eine dünne Haut über dem Grunde des Vulkans, der der Mensch ist. Es kann möglich scheinen, daß diese Haut abzuwerfen sei, während der Grundstock der Artung des Menschen aus vorgeschichtlicher Zeit unabwerfbar ist. Es mag uns etwas drohen, als ob wir wieder Steinzeitmenschen werden könnten, weil wir es jederzeit noch sind. Wir würden statt mit Steinbeil mit Flugzeugen umgehen, aber es wäre wieder dasselbe da, was war, als ob die Jahrtausende der Geschichte vergessen und ausgelöscht seien.68 Der Mensch könnte beim Verfall der Geschichte wieder in den Zustand kommen, in dem er – immer noch und schon Mensch – vor Jahrtausenden war: ohne Wissen und Bewußtsein seiner Überlieferung … Das Ergebnis des vorgeschichtlichen Werdens ist etwas biologisch Vererbbares,69 insofern etwas durch alle geschichtlichen Katastrophen hindurch Gesichertes. Der Erwerb der Geschichte dagegen ist an Überlieferung gebunden und kann verloren gehen. Was geistig, in Sprüngen des Schaffens, in die Menschenwelt gesetzt wird, dann durch Überlieferung die Erscheinung des Menschen prägt und verändert, ist an diese Überlieferung so weit gebunden, daß es ohne sie, weil biologisch nicht vererbbar, wieder ganz versinken könnte: die Grundkonstitution wäre wieder unmittelbar da.

Zum anderen kann Geschichte überhaupt als „Unheil, das über den Menschen gekommen ist“ (UZG 55), aufgefasst werden, ist das Axiale immer auch das Anti-Zivilisatorische selbst: „Das Zeitalter, in dem dies (das spezifisch Axiale [GK]) durch Jahrhunderte sich entfaltete, war keine einfach aufsteigende 66 Siehe K. Jaspers 1957: Die Atombombe und die Zukunft des Menschen. München/Zürich. 67 Kursivierung im Original. 68 Vgl. UZG 52: „Menschenfresserei hatte ein Ende, kann jedoch jeden Augenblick wieder da sein“. 69 Vgl. dazu UZG 45–49 und das dort bestimmte Verhältnis von Natur und Geschichte.

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I Besichtigung der Jaspers’schen Elemente einer Theorie der Achsenzeit

Entwicklung.70 Es war Zerstörung und Neuhervorbringen zugleich. … Was zuerst Freiheit der Bewegung war, wurde am Ende Anarchie …“ (UZG 18). Auch wenn die Gegenwart von der Achsenzeit bestimmt wird, so sei diese doch „gescheitert“ (UZG 32).71 Von hier aus ist es nur noch ein Schritt hin zur dialektischen Kulturkritik. Davor scheut die Achsenzeittheorie zurück. Bis heute scheint mir die zentrale Figur der wenige Jahre vor dem Jaspers’schen Buch entstandenen Dialektik der Aufklärung (1939–1944, publ. 1947 Amsterdam), das zerstörerische anti-rationale Moment des Rationalen, von der gesamten Achsenzeitforschung nicht aufgegriffen worden zu sein. Jaspers sah nicht wie Horkheimer und Adorno die zivilisatorischen Bewegungen notwendig an den Betrug gebunden, begriff nicht die daraus hervorgehenden zivilisatorischen Bewegungen notwendig als die Zerstörung aller Zivilisation, sondern diese Zerstörung als ein Anderes, Fremdes: „Ein Abschluß der Geschichte erscheint unmöglich, es geht aus dem Endlosen ins Endlosen, und nur eine äußere Katastrophe kann sinnfremd alles abbrechen“ (S. 259, Schlusskapitel „Überwindung der Geschichte“). Gleichwohl war auch der Jaspers’schen Kulturtheorie das Scheitern keine historische Unmöglichkeit mehr. Diese Momente wären m. E. heute stärker herauszuarbeiten und jenem unangenehmen Unterton vieler Studien der Jaspers-Nachfolge entgegenzustellen, denen die Achsenzeit selbstredend eine Zeit der „Durchbrüche“ – der Terminus begegnet bereits mehrfach bei Jaspers72 selbst und formt zusammen mit den Begriffen des Sprungs, des Ursprungs und Ziels und des Seins die Schicht geschichtsphilosophischen Vokabulars in UZG –, eine Zeit des Gelingens, des Triumphs der Reflexion und der Humanisierung ist. Dass diese Sichtweise der Achsenzeit nur eine von zwei möglichen Sichtweisen ist, ahnte Jaspers und gereicht ihm wie der Theorie zur Ehre. Wenn er fragt, ob Geschichte nicht „ein bloßer Zwischenaugenblick“ oder vielleicht „ein Durchbruch der Tiefe … in Gestalt auch grenzenlosen Unheils“ sei (UZG 56), so deutet das, trotz allem zugleich mitgegebenen Möglichkeitsoptimismus, dunkel an, dass die Achsenzeit auch für den Anbruch eines katastrophalen Misslingens angesehen werden kann. Nicht jedoch fasste Jaspers den Verdacht, dass beide Perspektiven letztlich ineinander verschränkt sind und das historische Gelingen noch stets an Formen des Scheiterns gebunden war. 70 Kursivierung GK. 71 Das Moment ist bei Roetz (2012, S. 252) vermerkt worden: „From the beginning, it is his [Jaspers’, GK] assumption that the Axial Age ,ended in failure‘ …“ Obgleich Roetz den normativen Gehalt der Jaspers’schen Achsenzeittheorie hervorhebt, der doch kaum vom geschichtsphilosophischen Ethos, dem utopischen Ziel, abzulösen ist, sucht er diese pessimistische Einschätzung des ganzen Unternehmens zu relativieren: „To him, the world-historical meaning of the Axial Age is not dependent on the factual realization of Axial Age ideas. It is grounded in the evidence that human beings independently of each other are able to mentally transcend themselves and their culture under similar circumstances.“ 72 Siehe z. B. UZG 55, 58.

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II Die minime Abweichung. Zu einer indo-iranischen Ritualdifferenz und ihren Folgen Perspektiven der Forschung Seit Anquetil du Perron, dem Pionier der philologischen und religionshistorischen Iranstudien, welcher sich auf seiner Forschungsreise in den 1750 er Jahren nach jenem westindischen Küstengebiet, das seit mehr als 1000 Jahren die Heimat der aus Iran exilierten Zoroastrier geworden war,73 in den Sprachen und dem Schrifttum eben jener altiranischen Religionsgruppe unterrichten ließ, und der von diesem langjährigen Studienaufenthalt einen Grundstock an zoroastrischen Handschriften74 der Pariser Nationalbibliothek zuführte, welcher uns heute, zusammen mit den im 19. Jh. aufgebauten Sammlungen von Kopenhagen, London und München in Europa als Textschatz zur Verfügung steht, – seit Anquetil du Perron und dessen Übersetzung des „Zend-Avesta“75 war es die allgemeine Sichtweise der Forschung auf Zaraϑuštra (Zarathustra, Zoroaster etc.), dass dieser (durchaus gute) iranische Eigenname76 von einem historischen Religionsstifter bzw. Religionserneuerer, von einem Reformator der indo-iranischen Religion getragen worden sei. Diesen (verschiedentlich und in verschiedener Weise gar mit politischen Intentionen ausgestatteten) Reformator Zaraϑuštra datierten Anquetil und dessen Übersetzer ins Deutsche, J. F.  Kleuker (in seinem 1777 erschienenen Zend-Avesta. Zoroasters Lebendiges Wort  77, Riga, S. 5–7), nach späteren einheimischen Quellen auf das 6. Jh. v. Chr. 73 So zumindest schreibt der berühmte zoroastrische Gelehrte Ǧāmāsp Dastūr Ḥakīm aus Yazd, der in der Zeit 1091–1092 Y (= 1722–1723 AD) in Bombay und Gujarat weilte, im Kolophon der Hs. M 50: wa cūn qarīb-e moddat Zeit yek-hezār-o yek-ṣad sāl būd ke tamāmi-ye īn ǧamāʿat-e Versammlung mūbedān-o behdīnān az welāyat-e Īrān be kešwar-e Hendūān āmade būdand … „Und da es fast 1100 Jahre waren, dass die ganze Gemeinde der Mūbeds und Behdīns aus dem Land Īrān nach dem Kontinent der Hendūs gekommen waren …“. Zu der schwierigen Exilierungsproblematik siehe besonders Hodivala 1920; Cereti 1991; Williams 2009. 74 Siehe Anquetil-Duperron 1771, I.2, ix–xlvi. 75 Anquetil-Duperron 1771 (1984). 76 Mayrhofer 1977, S. 43–53; 1979, Nr. 416. 77 „Lebendiges Wort“ ist eine Übersetzung von Zend-Avesta, mit dem falschen, gleichwohl möglicherweise schon mittelalterlichen etymologischen Bezug von Zand/Zend auf np. zende (zindah), vgl. Dk 5.24.13 zīndag-gōwišnīg saxwan „lebendig gesprochene Rede“ als Bezeichnung des Avesta. Auch bei dem eigentümlichen parth. ((n)s(g) jywʾng)

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II Die minime Abweichung

(„Zoroaster stand ohngefehr 550 J. vor Christus auf“),78 und man sah ihn damit als einen ungefähren Zeitgenosse des Buddha, des Konfuzius oder der frühesten griechischen Philosophen, zählte ihn also jener intellektuellen ‚Elite‘, jenen „große Menschengeister …, die Welt und Menschen nach sich stimmten“, zu, denen schon bei Anquetil eine geistige „Revolution“ der „Natur“ der antiken Welt vom Mittelmeer bis China zugesprochen wurde.79 Nähere Verweise des Anquetil-Kleuker’schen Textes gehen auf Ägypten, Griechenland, Persien, Indien, China und Israel. Die Momente, die dabei heraus­ gestellt werden, sind eine neue Naturlehre sowie Gesetzgebung und Ethik. Für „Persien“ (= Iran) werden der Astralkult und die Zerteilung von Gut und Böse, für „Zoroaster“ das Konzept der Unendlichen Zeit und Seele und das des „moralischen und physischen“ Dualismus aufgeführt. Was uns in den wenigen Zeilen aus dem späteren 18. Jh. begegnet, entspricht im Umriss und Kernstück also demjenigen, was Jaspers um 1950 zur Theorie der Achsenzeit ausformulieren und erheben sollte (siehe Text I). Während jedoch Anquetil bzw. Kleuker sehr wohl die verschiedenen Elemente der frühen iranischen Religion erfassten – eine neue Metaphysik, Natur­ theorie, Ritualistik und Ethik –, so lässt sich bei den späteren Theoretikern einer axialen Wende der Menschheit eine gewisse Verengung der Perspektive erkennen. In seiner „Charakteristik der Achsenzeit“80 weiß Jaspers im Katalog der großen Gestalten jener antiken Zeit von Zaraϑuštra lediglich zu sagen, dass dieser „das fordernde Weltbild des Kampfes zwischen Gut und Böse lehrte“81. Die große historische, ‚revolutionierende‘ Persönlichkeit und die Lehre von der Moral gelten also bei Jaspers als der iranische Beitrag zu jener Epoche. Diese Verengung auf den moralischen Rigorismus und dessen Lehre durch einen Religions­stifter ist wohl vor allem eine Frucht des späteren 19. Jh. Sie begegnet in der Fach­wissenschaft wie in den auf dieser – mehr oder weniger – aufbauen­ den Disziplinen, und sie reproduziert sich fort als deren schlechter synergetischer Effekt. Friedrich Nietzsche äußerte in Ecce Homo („Warum ich ein Schicksal bin“) die Ansicht, dass Zaraϑuštras „ungeheure Einzigkeit“ darin bestanden habe und bestehe, den „verhängnisvollen Irrtum, die Moral“, und zwar im Sinne ihrer „Übersetzung … ins Metaphysische“ – Nietzsche spielt hier auf (mmp. *nsk zy(w)ndk') des Gyān wifrās (GW § 21), das die fünf Elemente = fünf Gāϑās enthalten haben soll, liegt der Gedanke an ein umgedeutetes „Zand“ nahe, zumal die Manichäer (die [pahl.] zwndyk benannten) nur zu gern mit dem Begriff des „Lebendigen“, u. a. im Literarischen, operierten. 78 Auf letztlich derselben Quellengrundlage ist diese Datierung – freilich nicht unwidersprochen – noch bis in die jüngere Vergangenheit bei einigen Autoren aufrechterhalten, so Henning 1970; Gnoli 2000. 79 Vgl. Anquetil-Duperron 1771, I.2, S. 7, der inkludierten Abhandlung „Vie de Zoroastre“. 80 Jaspers 1955, S. 14–18. 81 Jaspers 1955, S. 14.

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Perspektiven der Forschung

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den berühmten iranischen kosmischen Dualismus an –, geschaffen zu haben. Überraschend ist es darum, dass Nietzsche seinen „Zarathushtra“ gleichwohl als den großen Bejaher entwarf, als eine Gegenfigur zu Christus (Zarathushtra ist also bei Nietzsche paradoxerweise sowohl Gegenpol zu wie Vorläufer von Christus). Karl Jaspers wiederum, der (durchaus auch mit anti-christlicher Spitze) die seit Anquetil immer wieder repetierte Beobachtung einer geistigen Wende der antiken Welt zum theoretischen Entwurf ausarbeitete,82 sah bei durchaus einem Nietzsche verwandten Blick auf Zaraϑuštra diese Wende vor allem als die einer großen Negation, sowohl im Sinne einer Wendung gegen das Bestehende,83 wie auch im Sinne einer Wendung hin auf eine sich setzende Transzendenz. Moral kontra Ritus, Logos kontra Mythos, Transzendenz kontra Immanenz sind die großen binären Codes, die man in den Höhen der Kultur- und Geschichtstheorie jener Epoche um so sicherer glaubte ausspielen zu können, als die Fachwissenschaft doch den empirischen Boden dafür bereitet hatte und unermüdlich weiter bereitete. Einige wenige Hinweise mögen hier genügen. Man kann sich bequem über die wichtigsten Forschungsperspektiven der Zeit von 1900 bis in die 1960 er Jahre in dem 1970 von B. Schlerath herausgegebenen Sammelband Zarathustra informieren. Es ist vor allem die von Protestanten geprägte deutsche, aber auch die angelsächsische Forschung, die das seit dem 19. Jh. herausgearbeitete Bild vom Reformator Zaraϑuštra im 20. Jh. zäh und teilweise brutal gegen alle anderen Perspektiven (Nybergs schamanistische; Molés strukturalistische) verteidigte. Das recht dürre Bild dieser akademisch lange etablierten Perspektive lässt sich in wenigen Strichen zeichnen. Es beruht zunächst darauf, dass man an eine historische Existenz Zaraϑuštras glaubte (bzw. diese aus dem bloßen Namen herauszauberte). Diesen historischen Zaraϑuštra erachtete man sodann als den Autor der ‚heiligsten‘ zoroastrischen Texte überhaupt, der Gāϑās. Diese Gāϑās („Lieder“) sah man wiederum als Lehrtexte (die wir m. E . tatsächlich nur in einigen wenigen gāϑischen Passagen und vor allem in Y 30 und Y 45 finden) oder „Predigten“ an,84 deren Tendenz angeblich zum einen gegen den starken Ritualismus der indo-iranischen Religion (vertreten durch die alt­indische Tradition) gerichtet gewesen sei, zum anderen unmittelbar auf eine vor allem moralische Konzeption des Religiösen hingezielt habe: Gut gegen Böse, Wahrheit/Recht gegen Trug, letztlich auch Monotheismus gegen Polytheismus. 82 Jaspers 1955. 83 In der (älteren) Fachwissenschaft ist diese negative Haltung des Zaraϑuštra gegenüber dem überkommenen Ritual ein Gemeinplatz, siehe z. B. Schaeder 1940 a [= 1970, S.  103 f.]. Schaeder bezieht sich u. a. auf die unten diskutierte Passage Y 32.14, sieht die dortige Kritik an der Soma-Praktik jedoch als Kritik des Rauschtrank-Kultes überhaupt an, den er als Teil des Mit(h)ra(s)-Kultes betrachtet. Konstruiert wird ein Zusammenhang von Soma-Trank, Rinds-Tötung (vgl. schon AiW 1549) und Mit(h)ra-Verehrung, gegen den Zaraϑuštra insgesamt protestiert habe. 84 Bartholomae 1905.

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II Die minime Abweichung

Diese gesamte, nach dem Christenglauben und einem recht simplen Geschichtsmodell geformte Perspektive ist heute weitgehend zerbrochen: 1. Die traditionelle Datierung des Zaraϑuštra ins 6. Jh., die sich aus wenigen und problematischen späten einheimischen Notizen speist, ist aus sprachlichen und literarischen Gründen unwahrscheinlich. Die Gāϑās dürften eher das Alter des Rig-Veda haben. 2. Auch wenn Zaraϑuštra in den Gāϑās vereinzelt in 1. Person auftritt, lässt sich daraus natürlich keine historische Existenz ableiten. Eher begegnet Zaraϑuštra in diesen Texten als eine literarische/mythische Gestalt (deren Modellierung und historischen Ort zu erfassen das für die Forschung interessantere Problem sein sollte).85 3. Es gibt keine starken Gründe, die Begriffe Gut/Böse, Wahrheit/Trug pri­ mär moralisch zu verstehen. Zeigen lässt sich vielmehr eine rituelle oder auch kosmologische Semantik der entsprechenden Wörter. Die als Lehrtexte verstandenen Gāϑās scheinen vor allem eine rituelle eschatologische Narration (von der Transformation des Priesters und dessen visionärer Gottesbefragung) zu sein (siehe Text III). 4. Zwar begegnet in den Gāϑās ein Zug zum Monotheistischen; in der Gesamtheit des Avesta ist der Zoroastrismus aber (wie es die ‚Religion‘ der Indo-Iraner war) polytheistisch organisiert. Ernstzunehmen ist hier allerdings die hierarchische Tendenz im Pantheon der avestischen Texte, die historisch möglicherweise mit dem Durchsetzen des monarchischen Prinzips in Iran zusammengeht. Die Differenzen von älterem Avesta und Veda können also keineswegs dadurch erklärt werden, dass die Gāϑās als die Zeugnisse einer spontanen religiösen Reformation anzusehen sind, die sodann – auch dies eine prekäre Forschungsmeinung – in den späteren Texten (Jungavesta) wieder teilweise zurückgenommen wurde. In den letzten Jahrzehnten hat sich daher die Avesta- und Zoroastrismus­ forschung dem Indo-Iranischen Religionshorizont wieder stärker eingegliedert.86 Was uns in und mit den Texten begegnet, ist zunächst einmal ein rituelles Gefüge. Die avestischen Texte werden darum heute eher als Ritualtexte verstanden, und alle zeitgenössischen religionshistorischen Deutungen sollten von diesem Basisverständnis zumindest ausgehen. Gleichwohl lassen sich m. E. nicht alle Besonderheiten des Avesta im Ritualbegriff strukturell auflösen. Die avestischen Texte zeigen durchaus Spuren historischer Veränderung gegenüber der altindischen Religion. Diese sehe ich u. a. in Folgendem:

85 Siehe dazu besonders Skjærvø 2001, 2003 b. 86 Siehe unter den älteren Publikationen schon Ansätze in Boyce 1970 a ; unter den jüngsten philologischen Arbeiten: Kellens 2006–2013; Cantera 2016; Swennen 2016.

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Haoma – Feuer – Priester

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1. in der Besonderheit der Gestalt des Zaraϑuštra (d. h. mit der von dieser Gestalt aufgegebenen Frage von Geschichte und Subjekt); 2. in dem Vordringen des Trug-Begriffs, der (anders als der Wahrheitsbegriff) kaum ohne moralische Implikation zu denken ist (zumindest dann nicht, wenn ihm ein grundsätzlich polemischer, sekundärer Charakter zukommen sollte); 3. in der (sehr wahrscheinlich) nicht indo-iranischen Gottesgestalt des Ahura Mazdā 87 (also im Problem des Monotheismus); und schließlich 4. in der simplen, aber vom Ritualmodell nicht geklärten Tatsache, dass der zoroastrische Iran zu irgendeinem geschichtlichen Zeitpunkt (und zwar vor dem Eindringen von Islam und Christentum) eine Morallehre und sogar ein ethisches Selbstverständnis ausgebildet hat.88 Was wir also für den Alten Iran zu denken haben, ist ein geistes-/kultur­ geschichtlicher Wandel – durchaus, als das Heraustreten aus der indo-iranischen ‚Religion‘, ein axialer Wandel –, dem die historische (freilich nicht die literarische) Figur, an der man diesen vormals festmachte, abhanden gekommen ist, und den wir sehr wahrscheinlich nicht als das Ergebnis thesenhafter Lehrstücke eines Religionsstifter oder Religionsreformators verstehen können. Im folgenden möchte ich diesen Wandel und dessen Ergebnisse skizzieren. Ich wage dabei, sicherlich in überspitzter Weise, den Versuch, den gesamten Wandel aus einer winzigen Verschiebung der rituellen avestischen Praktik gegenüber der indo-iranischen bzw. vedischen Praktik herzuleiten.

Haoma – Feuer – Priester Als Ausgangspunkt für die Diskussion um die (nur sehr schlecht festzumachenden) gāϑisch-vedischen Beziehungen und Bezüge wähle ich bestimmte Bezeichnungen für Dichter-Priester bzw. Dichter-Priester-Gruppen, die sowohl dem Rig-Veda wie dem Avesta bekannt sind, jedoch von beiden Texten unterschiedliche Wertungen erfahren. Während diese Gruppen im Veda positiv beurteilt werden, gelten sie in den Gāϑās als „trughafte“ Gegner des (sich zum armen und schwachen Dichter stilisierenden89 und offenbar für sich allein stehenden) Zaraϑuštra. Diese Dichter-Priester-Gruppen sind: die Gruppe der av. kauui- = ai. kaví-90; die der av. usij- = ai. uśíj-91 und

87 Zuletzt zusammenfassend Hintze 2015, S. 32 f. 88 Zum Ausgang aus der rituellen Weltperspektive s. Text III. 89 Zu der Figur s. Skjærvø 2001, S. 351, 364, 370 f. 90 Siehe dazu Renou 1955, S. 5; s. a. kəuuītāt- „Kauuischaft“ (Y 32.15) und das wohl verächtliche kəuuīna- (s. Humbach 1952, S. 20; G. König 2010, S. 206–214 [zu Y 51.12]). 91 Dazu Skjærvø 2001, S. 353 f.

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II Die minime Abweichung

schließlich die der av. karapan- „*mumbler“92, die zwar kein genaues Gegenstück im Veda besitzt,93 deren (insbesondere im Jungavesta) formelhaftes Zusammenstehen mit den Kauuis aber für einen sehr alten Zusammenhang beider Gruppen zeugt.94 Dieser Befund einer unterschiedlichen Bewertung der genannten drei indoiranischen Gruppen in Veda und Avesta scheint im Kontrast zu der oben erwähnten heutigen (auch von mir geteilten) Perspektive zu stehen, derzufolge die Gāϑās sich selbst wie ihre Zentralgestalt Zaraϑuštra in eine indo-iranische Dichtungs- und Ritualtradition stellen. Eine solche gemeinsame Tradition prägt besonders den Opferdienst und -ritus (die Gāϑās [vgl. ai. gāt́ hā- „Lied“] sind bereits im älteren Avesta Teil eines Opfers, des av. yasna [vgl. ai. yajñá])95, wie sie auch die Priester- bzw. Dichterpriesterfunktion bestimmt: Zaraϑuštra ist zaotar „Opferpriester“ (freilich des im Veda unbekannten Ahura Mazdā),96 entspricht in seiner Funktion also dem ved. hotṛ, und er ist ebenfalls ərəši„visionärer Dichter“ (Y 31.5), sehr wahrscheinlich avestisches Äquivalent von ved. ṛ́ṣ i.97 Warum das Avesta gegen bestimmte indo-iranische Dichter-Priester-Gruppen bei offenbar gleichzeitiger allgemeiner Anerkennung und Tradierung der ererbten rituellen Praxis und ihrer Institutionen polemisiert, ist nicht unmittelbar klar. Da das Veda offenbar eine Koexistenz der (im Avesta angefeindeten) Gruppen kennt, dürfte einer ökonomischen Begründung98 der Rivalität zwischen den Dichter-Priester-Gruppen und Zaraϑuštra in logischer Hinsicht ein nur sekundärer Status zuzusprechen sein. Am plausibelsten ist es daher, eine Existenz von an der Oberfläche des rituellen Gefüges zunächst unsichtbaren Differenzen zu erwägen, Differenzen gleichwohl, die im Avesta als nicht tolerierbar angesehen wurden, und deren Akzentuierung den Zaraϑuštra zu allen anderen ‚religiösen Virtuosen‘ in Opposition setzen musste. 92 Zu einer (möglichen) Etymologie ka-rapan- s. Skjærvø 2001, S. 353. 93 Siehe jedoch RV  10.10.4 b ánṛtaṃ rapema „sollen wir Unwahrheit murmeln?“. 94 Zu grə̄hma- „*glutton“ siehe Skjærvø 2001, S. 368; zu dem ebenfalls teilweise als Eigenname gedeuteten bə̄ṇ duua- „*binder“ siehe Skjærvø 2001, S. 372 f. Skjærvø vermutet in dem Ausdruck einen Gegensatz zur ererbten Dichterbezeichnung vafu-/ ufiia- (s. Skjærvø 2001, S. 373 mit Verweis auf Y 53.9; zu „Weber“ s. Schmitt 1967, S. 298–301). Das „Binden“ begegnet im literarischen Zusammenhang noch im Begriff Hāiti (zu hi- „binden“), Bezeichnung der altavestischen Einzelstücke, die teilweise synonym mit gāϑā- verwendet wird. Wörter des „Schneidens“ begegnen im späteren Karde, Fra-gard. 95 Siehe G. König 2017 a , S. 87 f. 96 Y  33.6 a yə̄. zaotā. „(Ich), der Zaotar“. 97 Das Wort wird mit arm. her̄ „Zorn“, lit. aršùs „heftig“ (jedoch EWA I, S. 261), germ. „rasen“ zusammengestellt, s. mit Lit. Schmitt 1967, S. 303. Im Avestischen begegnet noch YH 40.4 ein Adj. ərəšiia- und im Jungavesta ein EN aršiia-. 98 Man beachte den in den Gāϑās durchscheinenden Kampf um den Priesterlohn (dazu Lommel 1955).

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Haoma – Feuer – Priester

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Bevor ich diese Differenzen rekonstruiere, möchte ich an dieser Stelle zwei für sich uns bereits abzeichnende, einander komplementäre Züge der AvestaKultur/-Religion festhalten, die sich sowohl als Folgen der rituellen Differenzen als auch als dessen Grundlagen, gleichsam als deren dirigierende Kräfte ansehen lassen: a) die Auffassung vom Andersseienden als dem Opponierenden, und b) die Anbindung des Begriffs vom Richtigen an den Begriff des Einfachen.99 Diese auf Identität (Gleichartigkeit und Einfachheit) ausgerichteten Tendenzen, die sich in der Avesta-Kultur/-Religion m. E. stärker als in der eng verwandten Veda-Kultur/-Religion formulieren, sind keine anderen als diejenigen, die auch die Kulturen Europas zutiefst geprägt haben: die intellektuelle, und dann auch physische Tendenz gegen Diversität und Pluralität. Beide Tendenzen lassen sich gut am indo-iranischen Begriff der „Wahrheit“ bzw. „Ordnung“ des Kosmos (ṛtá-; av. ərəta-/aṣ̌a-) demonstrieren. Die Polemik gegen die anderen Priester-Dichter-Gruppen ist nämlich nicht nur eine komparative Polemik, die implizit behauptet, selbst singe man die Lieder schöner als jene anderen, führe das Opfer anders und ergo besser als jene aus.100 Behauptet wird vielmehr die Unrichtigkeit der rituellen Praxis der Anderen.101 Diese Unrichtigkeit, ai. án-ṛta- (vgl. jav. an-ərəta-), also das Verfehlen des bzw. das Fehlen gegen das (im Ritus stabilisierte) wahre, geordnete kosmologische Hintergrundsgefüge, wird im iranischen Denken in seinem systematisch-inhaltlichen Wert insofern verstärkt, als sich die Unrichtigkeit seit dem ältesten Avesta von einem auf aṣ̌a- bezogenen, diesem wohl logisch zunächst untergeordneten Begriff 102 zu einem ontologisch gleichwertigen Oppositionsbegriff steigert. Als „der Trug, die Lüge“ (av. drug-; vgl. ap. drauga-) begründet diese strikte

99 In einigen Werken der Pahlavi-Literatur, insbesondere der Ādurfarrbay-Schule und hier besonders im Škand Gumānīg Wizār, wird mit der Aufnahme aristotelischer Logik in die theologische Argumentationskunst die angestammte Lehre von der Einfachheit des Wahren/Vielheit der Lüge reformuliert (in dem Sinne, dass es über einen bestimmten Sachverhalt nur ein wahres, jedoch viele falsche Urteile geben kann) und über die Logik ontologisch verankert, sicherlich nicht ganz frei von einem Einfluss seitens neoplatonischer Metaphysik/Kosmologie. Wäre im 10. Jh. nicht die intellektuelle Produktivität der Zoroastrier versiegt, scheint es mir nicht unwahrscheinlich, dass der Zoroastrismus letztlich die gegen den Manichäismus festgehaltene, gleichwohl von alters her immer bedrohte Differenz von dem Vielen/Irdischen und dem Bösen aufgegeben hätte. 100 „The performance of the bad poet-sacrificer is characterized by mediocrity and wrong performances, sometimes – apparently – expressed in the vocabulary of the Old Avestan texts by a special set of words or forms reserved for them.“ (Skjærvø 2001, S. 357; zu daēvischen Wörtern/Formen s. Skjærvø 2001, S. 358). 101 Während der gute Dichter Ahura Mazdā unterstützt, gilt für die schlechten: „At best their sacrifices are inefficient, at worst they actively support the forces of chaos.“ (Skjærvø 2001, S. 355). Ihre Patronen sind „possessed by the Lie“ (Y 32.10, 15), sie zerstören die Lebensgrundlage und den Ruf des wahren Dichters (Y 32.9, 10, 11; 46.1?; 49.1?; 51.12; s. Skjærvø 2001, S. 355). 102 Dieses Verhältnis ist herausgearbeitet in Skjærvø 2003 a. Vgl. dazu Text IV.

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II Die minime Abweichung

Opposition die schon bei den antiken Autoren103 (4. Jh. v. Chr.) bekannte iranischen Lehre von den „beiden Wurzeln“104 der Welt. Diese strikte Opposition von Wahrheit und Trug formuliert, wo sie auf die Begriffe des Einen und Vielen trifft, eine klare Zuordnung: Y 72.11 (Ms. K 5) aēuuō. paṇtā .̊ yō. aṣ̌ahe. Ein Weg , der des aṣ̌a, vīspe. aniiaēšąm. apaṇtąm. der anderen alle105 Unwege106 (aŋrahe. +mainiiə̄uš.107 …) (des Aŋra Mainiiu …)

Der Spruch findet sich als ein Schibboleth in späterer Zeit, in Avestisch wie in Übersetzungen aus dem Avestischen, in zahlreichen Kolophonen oder auf Tempel­mauern. Kennt das Veda i. d. R. die „Wege (Pl.!) des ṛtá“, so ist für das Avesta der Singular typisch. Diese Einfachheit der Wahrheit korrespondiert offenbar wiederum mit der Einfachheit der göttlichen und menschlichen Träger von deren Verkündigung. Es gehört, vielleicht mehr noch als der auf die Gottheit Ahura Mazdā ausgerichtete mono­theistische Zug des Zoroastrismus, zu den bemerkenswerten Eigenschaften der älteren iranischen Religion, dass sie um nur eine menschliche Figur zentriert ist: Zaraϑuštra. Fassen wir zusammen, was wir bis jetzt erkennen konnten: 1. Die Partizipation Alt-Irans an einer älteren, indo-iranischen Tradition: das Einrücken der altiranischen Religion bzw. besser: der altiranischen Ritualistik in die indo-iranische Ritualistik in der jüngeren Forschung. 2. Allgemeine differenzsetzende Tendenzen: so der rituelle, dann (letztlich) ontologische Dualismus; das Identitätsprinzip. 103 Siehe Diogenes Laertius, Proömium 6,8 (die dort zitierte Rede von den δύο … ἀρχάς, ἀγαθὸν δαίμονα καὶ κακὸν δαίμονα· … Ὠρομάσδης … καὶ Ἀρειμάνιος). 104 Der Begriff der „zwei Wurzeln/Prinzipien“ (dō bun) wird dann dem Manichäismus den Namen geben (s. dazu Reck 2010). 105 Vgl. mit diesem Plural Yt 4.4, wo es, bedingt durch den eschatologischen Bedeutungsgehalt, nur einen Weg der Trughaften gibt. 106 apạntąm in K 7 b, M 6 a , L 2; K 43 apaϑnąm, K 1 apəntąm, K 5 apạntəm. AiW 75 sieht in der Form einen Akk. Sg. zu einem Stamm apạnti- (apantay-), erwartet aber einen N. Pl. *apạntānō (zu *apạntān- s. Hoffmann/Forssman 1996, S. 125). Auch Wacker­nagel (1953, S. 332, Fn. 1), der den Kasus nicht bestimmt, hält die Form durch den Einfluss des vorherigen Wortes für entstellten N. Sg./Pl., stellt jedoch richtig zum Wurzel­ nomen apạntā- (s. pạntąm < *pantaH-am). Nach Schwyzer (1929, S. 256) hingegen könnte die Form einen Gen. Pl. darstellen, gegen zu erwartendes *apaϑąm (mit Verweis auf K 43 apaϑnąm). Der Genitiv hätte dann also Subjektstellung. Szemerényi (1960, S. 64) wiederum denkt an mir. Einfluss (apạntąm für einen Pl. apantān). Zum Wort vgl. ai. apanthāḥ „Nichtweg“ (nach Wackernagel 1953, S. 332, Fn. 1, nur bei Pạ̄n ini V 4, 72 bezeugt; vgl. Monier-Williams 1899, S. 49), pahl. apandīh-dāštagīh „le fait de laisser sans conseil“ (Molé 1967, S. 258, 203), gemäß der semantischen Veränderung von pand „Weg“ > „Ratschlag, Beratung“. Die PÜ arāh(īh) findet sich auch jenseits der unmittelbaren Übersetzungsliteratur, s. DkM 296.10 az dēwīg arāh. 107 K 5 maniiə̄uš.

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Abweichung im Minimen

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Jene allgemeinen Differenzen lassen sich m. E . als Grund für wie ebenso gut als Folge von wesentlich kleineren Differenzen betrachten. Ich glaube, dass hier formal etwas begegnet, das für Wandlungen im religiösen Bereich ganz typisch ist, uns aber zunächst befremdlich erscheint. Es ist, wie ich es nenne, die Abweichung im Minimen (vergleiche z. B. im Islam die Frage um die Nachfolge Moḥammads, die den Keim für die Spaltung in Sunna und Schia bildet; im Christentum die Transsubstantiationsfrage/Eucharistie; die Frage nach der Natur Christi; Gebrauch gesäuerten Brotes bei den Hostien), und d. h. auch: diejenige Abweichung, die als nicht tolerierbar, als keine mögliche Variante der religiösen Manifestation angesehen wird. Diese Abweichung im Kleinsten begründet nun exponentiell Folgedifferenzen, die letztendlich das Ensemble der Sätze einer neuen Religion, bzw. eine vollkommene Wandlung der Selbst- und Weltbezüge der Religion überhaupt hervorbringen, eben das, was ich allgemeine differenzsetzende Tendenzen genannt habe, ein Ensemble von Sätzen, die in geschichtlich-geschichtsphilosophischer Projektion durchaus jene axiale Wende, d. h. eine geistige Revolution bedeuten oder doch ihr zuzählen können.

Abweichung im Minimen Es ist nun bekanntlich eine vielfach in der Avesta- bzw. ZoroastrismusForschung vertretene These, dass sich die Gāϑās – und das hieß in der älteren Forschung: Zaraϑuštra – dem haoma-Rauschtrank (= ai. sóma) und damit der indo-iranischen Kultpraktik gegenüber feindlich verhielten und diesen Rauschsaft aus dem Kult verbannten,108 dieser jedoch in nach-gāϑischer Zeit seine Rehabilitierung erfuhr und damit eine Wiederkehr der indo-iranischen Tradition in Ostiran statthatte (denn tatsächlich spielt in den Hochämtern der Zoroastrier die Pressung und die Konsumption des Haoma eine wesentliche, konstitutive Rolle). Die Textpassagen, auf die sich diese für die gesamte iranische Religionsgeschichte Schlüsselfunktion besitzende Argumentation stützt, sind zwei gāϑische Strophen, Y 32.14 und Y 48.10109, von denen ich hier nur die erste, Y 32.14, näher untersuchen möchte. Beide Passagen weisen eine Vielzahl von sprachlichen und inhaltlichen Problemen auf, die nur schwer in den Griff zu bekommen sind. 108 Siehe z. B. Bartholomae 1970, S. 6: „Auch Hauma freilich wird in den Verspredigten nicht ausdrücklich genannt, wohl aber wird in nicht mißzuverstehender Weise auf ihn und seinen Kult angespielt, und zwar geschieht das in Worten, die deutlich Zarathushtras Abscheu davor zu erkennen geben.“ Zaraϑuštra wende sich gegen „religiöse Feste“, „bei denen die Teilnehmer in althergebrachter Weise durch reichlichen Genuß des Hauma-Tranks zu orgiastischer ‚Raserei‘ begeistert, blutige und grausame Tieropfer darbrachten.“ (Bartholomae 1970, S. 16). 109 Skjærvø 2001, S. 360 f.; Skjærvø 2004.

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II Die minime Abweichung

Y 32.14 Die Strophenfolge Y 32.12–15 bezieht Stellung gegen die oben erwähnten, mit Zaraϑuštra irgendwie verfeindeten indo-iranischen Dichterklassen (karapō. tās̊ cā. kəuuītās̊ cā. „Karapan- und Kauuīschaft“) bzw. gegen einzelne (?) Dichter­ gestalten (Grə̄hma110). Diese Opponenten gelten dem Zaraϑuštra für aŋhə̄uš. marəxtārō. ahiiā. „Zerstörer dieses Daseins“, die sich ihrerseits wiederum über Zaraϑuštra als „den Boten deines (des Ahura Mazdās) mąϑrān („Zauberwort“)111“ (ϑβahiiā. mąϑrānō. dūtə̄m .) „beklagen“ (jīgərəzaṯ.). Ihm scheinen sie letztlich vorzuwerfen, er halte sie ab „vom Erblicken des aṣ̌a“ (darəsāṯ. aṣ̌ahiiā.) (Y 32.13), also von genau jenem epistemischen Akt des „(transzendenten) Schauens“ (darəs-), der einen der beiden Stämme von Zaraϑuštras ritueller Epistemologie des göttlichen Befragens und Schauens ausmacht (Y 33.6; s. dazu Text III). Y 32.14 scheint nun einige Auskünfte zum Ritual jener feindlichen Priester zu bieten112: Y 32.14 ahiiā. +grə̄hmō. ā.hōiϑōi. „Der Grə̄hma113 und die Kauuīs ‚setzten nieder‘114 ni. kāuuaiiascīṯ. xratūš. in eine sie (die Wahrheit)115 (bedrängende) Fessel116, [ni.]dadaṯ. die (transzendenter Erkenntnis fähigen) Vernunft vermögen (xratūš.) +varəcā.hīcā. fraidiuuā. und die (physischen) Kräfte117, hiiaṯ. vīsə ṇ ̄ tā. drəguuaṇtəm. Wenn sie (die feindlichen Priester) sich täglich zum auuō. trughaften Dienst118 rituell bereitstellen, 110 Gegen das Verständnis als Eigenname siehe z. B. Humbach 1991, I, S. 135, mit der Übersetzung „Grə̄h ma gang“; Skjærvo 2001, S. 372: „the *glutton“. 111 TVA II, S. 287, (nach Hoffmann 1955) „dépositaire des formules divines“. In Y 50.5–6 von Zaraϑuštra, vgl. Yt 3.1–2. 112 Die jüngste Übersetzung der Strophe bei Humbach/Faiss (2010, S. 94) lautet in der deutschen Fassung: „Insbesondere die Kavis/fürsten legen ihren Intellekt und ihre Würde in die Fessel dieses ,Grases‘*, indem sie sich Tag für Tag anschicken, dem Lügner zu assistieren, während (der Befehl) rezitiert wird ‚der Stier werde geschlachtet‘, der die schwer verbrennbare/Tod abwehrende Hilfe/Erfrischung entflammt.“ *grə̄hmō von Humbach als grə̄m gelesen. 113 Eine Deutung des sehr unterschiedlich aufgefassten Wortes als „Gras“ vertritt Humbach (Humbach/Faiss 2010, S. 51–53). 114 Vgl. damit DNb 4–5 hạya xratum utā aruvastam upari Dārayavaum xšāyaϑiyam niyasaya „welcher (Ahuramazdā) Vernunft- (xratu-) und körperliches Vermögen ,niedersenkte‘ auf Darius, den König“. 115 Der Bezug von ahiiā. ist unklar. Humbach (1991, I, S. 135) übersetzt ahiiā … ā.hōiϑōi. mit „(truth’s) fetters“, mit Bezug auf aṣ̌ahiiā in Y 32.13 (alternativ s. Humbach 1991, II, S. 88), Skjærvo (2001, S. 372) indes „cord-work of the Lie“. 116 Vgl. zu ā.hōiϑōi. die perfektive Verbalform Y 29.1 ā.hišāiiā (AiW 1800; TVA II, S. 328). 117 Zur Endung s. AiW 1367; Hoffmann/Forssman 1996, S. 155 (aav. -āhī = ved. -āṁsi). 118 Zu (dem hier zweimal verwendeten) auuō. als Nominalform (Akk. Sg. von auuahn. „Hilfe“) vgl. Y 29.9 (anders AiW 180). Antonym von auuah- ist aēnah- „Gewalttat, Frevel“, s. Y 34.4 ciϑrā.auuaŋhəm. kontra dərəštā.aēnaŋhəm. (s. TVA II, S. 197, 204; Kellens 1994, S. 145) (vgl. auch Y 50.5 aibī.dərəštā. … auuaŋhā.). Möglicherweise ist die Verwendung von auuah- mit drəguuaṇt- ironisch zu verstehen.

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hiiaṯcā. gāuš. jaidiiāi. und wenn das Rind zwecks mraoī. yə .̄ dūraošəm. Tötens mißhandelt wird (mraoī),119 zum Dienst , welcher den dūraoša (Schlechtbrennenden?) aufflammen lässt.120“

Der nicht leicht verständliche Text wirft m. E. den feindlichen Priester-Dichtern zunächst einen falschen Gebrauch des xratu, d. h. des Zentralvermögens zur göttlichen Erkenntnis (s. Text III), vor, bzw. einen Missbrauch der gesamten menschlichen Fähigkeiten (xratūš. … varəcā.hīcā. ≈ Darius’ xratu- + aruvasta-). Dieser falsche, der anthropologisch gegebenen Orientierung zuwiderlaufende Gebrauch der Vermögen ist wiederum die Folge falscher Ritualpraktiken: a) eines Quälens121 (gemeint ist wohl ein falsches Schlachten) des Opfertieres; b) einer falschen Libations­praktik. Das in Hinsicht auf die Libation zentrale Wort dūraoša-, das bis heute nicht einmütig etymologisch und damit auch semantisch nicht vollständig aufgeklärt ist,122 ist im Jungavesta das stehende Beiwort des Haoma, also des sakralen Rauschtrankes, das diesem als Epitheton exklusiv zukommt. In Y 32.14 scheint es ohne sein substantivisches Bezugswort (also haoma) aufzutreten. Dass dūraoša- schon in dem indo-iranischen sóma-/ haoma-Kult beheimatet war, dürfte ai. duróṣa-, ebenfalls Epitheton des sóma, beweisen. Wenn also in Y 32.14 von dem dūraoša- die Rede war, so musste Iranern wie auch Indern die Soma/Haoma-Anspielung deutlich sein. Dass nun die Passage Y 32.14 eine (wie oft angenommen wurde) Verdammung des dūraoša überhaupt meine, ist nicht zu beweisen und m. E. vom Text her und auch ganz 119 Eine rituell verworfene Rindstötung wird in Yt 14.54–56 beschrieben, die von Schwartz (1990) mit den Kafīren in Verbindung gebracht wurde. Das dort vorfindliche Bild ist das jener Ritualgemeinde, die „beide Ohren abdrehen (?), beide Augen ihm ausreißen“ (uši. pairi.dāraiieiṇti. daēma. hō. pairi.uruuaēsaiieiṇti.) (Yt 14.56; es dürfte sich weniger um eine realistische, als metaphorische Beschreibung handeln, vgl. Yt 1.27 pairi. uši. vāraiiaδβəm. im Kontext von Folterausdrücken, vgl. auch die Folterausdrücke in DB 2.74 f., 88 f.). Nicht-rituelles, inkorrektes Tiertöten galt als Sünde des bōdyōzadīh „destroying existence“ (Boyce 1970 a , S. 31, Fn. 55) (vgl. av. baoδō.jati- „Zerstörung der Wahrnehmung“ in N 49.21). 120 Nach Schaeder (1940 a in: Schlerath 1970, S. 103) sei Y 32.14 c so zu verstehen, dass „das Rind müsse getötet werden, um den ‚Todabwehrer‘ – den Somatrank – zu entflammen“; dieser Zweckzusammenhang ist aber nicht notwendig aus der Strophe herauszulesen. 121 Zu mrū- s. Humbach 1957, S. 91, N. 26; Kellens 1974 a , S. 325. Ein phraseologischer Zusammenhang besteht zwischen Y 32.14 gāuš. jaidiiāi. mraoī., V 2.22 mrūrō. ziiā ̊. „l’hiver brutal“ (Kellens 1974 a , S. 325) und V 7.27 zəmō. … gaojanō. „des rindermordenden Winters“. 122 Man folgte zumeist der PY 9.2, die das Wort als dūrōš übernimmt und erklärt: dūrōšīh(-š) ēd kū ōš az ruwān ī mardomān dūr dārēd „dūrōšīh bedeutet: Er hält den Tod von des Menschen Seele fern“, die jedoch volksetymologisch scheint. Die von AiW 752 verworfene Gleichsetzung mit ai. duróṣa-, dem Beiwort des Sóma, ist rehabilitiert in TVA II, S. 260; EWA I, S. 733. Weitere Vorschläge von Bailey apud Boyce 1975 a , S. 162, Fn. 102.

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II Die minime Abweichung

grundsätzlich unwahrscheinlich.123 Der Text tadelt nämlich lediglich, dass man den dūraoša, den Schlechtbrennenden/Haoma „aufflammen lässt“124, man ihn also mit dem Feuer in Kontakt bringt.125 Diese von Zaraϑuštra abgelehnte rituelle Praktik anderer Ritualgruppen ist auch im Bereich des post-gāϑischen Zoroastrismus m. W. nicht zu finden, entspricht allerdings der Praktik des alt­ indischen Jyotiṣṭoma wie schon der (zumindest an einigen wenigen Versen nachweisbaren) rig-vedischen Anschauung von Agni als Somatrinker und -verteiler (z. B. RV 1.21.3 indrāgnī tā havāmahe somapā somapītaye „Indra und Agni rufen wir, die beiden Somatrinker zum Somatrunke“ [Geldner], welche beiden Götter nach RV 1.21.1 „die größten Somatrinker“ sind [sómaṃ somapāt́ amā];126 Agni ist es, der die Götter zum Frühopfer fährt und mit diesen den Soma trinkt [RV 1.14.1] bzw. allen Göttern den Trank gibt [s. RV 1.14.7], dessen Mund das Trinkgefäß der Götter ist [RV 6.7.1127], der Soma aufnimmt und in Indras Bauch bringt [RV 3.22.1128]). Wir haben es in Y 32.14 also möglicherweise mit einer iranisch-indischen Ritualpolemik zu tun, die nicht unabhängig von den Feindseligkeiten zwischen Zaraϑuštra und den indo-iranischen Priestergruppen zu verstehen sein mag. Diese Differenz zwischen altiranischer und altindischer Praktik wird von Modi (1937, S. 297) in seinem Vergleich der altiranischen und altindischen Zeremonien denn auch hervorgehoben: 123 Humbach (Humbach/Faiss 2010, S. 49–51), der yə̄. dūraošəm. saocaiiaṯ. auuō. übersetzt mit „he who inflames the fire-resisting/death-averting help“ (zur Diskussion von dūraoša- s. dort S. 47–49), ist jüngst der Meinung, dieses sei „a metaphor for mixing the haoma juice not with milk as would be ritually in order, but with the blood of the sacrificial animal“. Er stützt seine Ansicht auf die bekannte Plutarch-Stelle de Iside 369 D –370 C . 124 Kausative von saok- liegen außer in Y 32.14 nur an späten, recht wertlosen Stellen vor: Vd 9 haδa. ātraēibiiō. xsaocaiiaṇtaēibiiō. „mit aufflammend gemachten Feuern“ (die gesamte Phrase lautet: haomauuaitibiiō. gaomauuaitibiiō. zaoϑrābiiō. haδa. ātraēibiiō. x saocaiiaṇtaēibiiō. [Bartholomae 1901, S. 93]); Vyt 36 saocaiiaṇta. Das (auch im Veda mehrfach bezeugte) Kausativ findet sich schon in dem FUA-LW *šé̯ uke- „Feuer anfachen“ (s. Katz 2003, S. 83, Nr. A II 9). Das Aufflammen/Aufleuchten geschieht im Veda i. d. R. mit Fett, siehe z. B. RV 1.12.5, 1.93.10. 125 In V 9.56 wird von einer dreitägigen Sraoša-Verehrung gesprochen (vermutlich sind Darbringungen des Yasna gemeint). Der Text erwähnt sowohl den haoma als auch ein „auf­flammendes“ Feuer: ϑri.aiiarəm. ϑri.xšapanəm. / saociṇtaṯ. paiti. āϑraṯ. / frastərətāṯ. paiti. barəsmən. / uzdātāṯ. paiti. haomāṯ. „Drei Tage und Nächte / bei flammendem Feuer, / gespreitetem barəsman, / aufgesetztem haoma.“ Die Form saociṇtaṯ. ist Ablativ des PPA saocaṇt- „flammend“; vgl. V 2.8 āϑrąmca. suxram. saociṇtam. „roten flammenden Feuern“. Dass das Feuer durch den „aufgesetzten haoma“ aufflammt, ist hier ganz unwahrscheinlich. 126 Vgl. auch RV 1.109.4; 3.12.3; 3.29.16; 6.59.3, 6.60.7; 7.93.6, 8.103.14; 10.45.5 (sómagopāḥ „Somawächter“). 127 āsánn ā ́ pāt́ raṃ janayanta devā ́ḥ „in seinem Munde haben die Götter sich ein Trinkgefäß gemacht“ (Geldner). 128 ayáṃ só agnír yásmin sómam índraḥ sutám dadhé jaṭháre vāvaśānáḥ „Dies ist der Agni, durch den Indra den ausgepressten Soma voll Verlangen in seinem Bauch aufgenommen hat“ (Geldner).

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The Parsi priests never throw any of the juice129 into the fire, but the Brahmans must first offer a certain quantity130 of the intoxicating juice to different deities, by throwing it from the variously shaped wooden vessels into the fire,131 before they are allowed to taste „the sweet liquor“. The Parsi priests only show it to the fire and then drink it.132

Auch wenn sich Modi hier nur auf den neuzeitlichen indischen Gebrauch des Opfertrankes bezieht, so lassen doch die zoroastrischen Quellen vermuten, dass dieser mit dem Gebrauch der älteren Perioden weitgehend übereinstimmt.133 Wenn also Y 32.14 tatsächlich der älteste Zeuge einer solchen rituellen Differenz ist, dann bedeutet das, dass bereits in der ältesten uns erreichbaren Zeit des Zoroastrismus eine ganz wesentliche rituelle Verbindung in Iran aufgetrennt wurde: Ātar (das Feuer/der Feuergott) war nicht länger Zaotar „Libationspriester“ (wie Agni „Feuer“ im RV Hotṛ [= av. Zaotar] ist, s. bereits RV 1.1), und es/er war damit mit der Libationspraktik nicht länger direkt verbunden. Diese 129 Den Saft der ersten Pressung. 130 Vgl. Boyce 1975 a , S. 162. 131 Agni gilt im vedischen Ritual stets als der hotṛ. 132 Auch eine Legung von haoma-Zweigen um den Altar (vgl. die Barhiṣ-Legung, ai. vṛktábarhiṣ-), wie sie vielleicht vom skythischen Namen ap. haumavarga- bezeugt wird („haoma-Pflanzen um das Feuer legend“; s. Hoffmann 1976, S. 612, Anm. 6), ist in zoroastrischer Ritualistik unbekannt. Verworfen wird die Handlung des +varəxəδrā s̊ ca +varəziṇt- „der Herumlegungen herumlegt“ (?) (H 2.13; Vyt 37). 133 Schwartz (2006) hat die Idee, dūraoša- meine den Samen der Haoma-Pflanze, welcher gemäß Y 32.14 c verbrannt werde, eine These, die er durch einen (leider ohne Referenz angeführten) volkskundlichen Hinweis untermauern möchte: „The latter detail suits the identification of one of the haoma-plants, i. e. the original intoxicant, Peganum harmala, whose seeds are burned in a folk-ritual still popular among Iranian people“, bei welcher Verbrennung es sich um einen „apotropaic rite“ handele (Schwartz 2006, S. 218). Diesbezüglich ist zu sagen, dass die These ein Argument gegen ein Verständnis von dūraoša- als „schwerverbrennlich“ wäre, und dass, sollte sie stimmen, wir tatsächlich eine intimere Parallele kennen als jene apotropäische Verbrennung seitens „Iraner“, nämlich das Verbrennen der Haoma-Zweige gegen Ende der Langen Liturgie (Haomaund Granatapfelzweig-Verbrennung in Y 62): „The Rāspī offers to the fire the dried residue of hōm and pomegranate twigs that had been placed on the bark of the burning wood in the Paragṇā and Y 33“ (Kotwal/Boyd 1991, S. 119). Sodann ist aus methodischer Sicht anzumerken, dass Schwartz seine Idee durch eine weitere Annahme stützen möchte, derzufolge in Y 32.13 dūta- (auch) die Bedeutung „smoke“ habe, bzw. sieht er Y 32.14 c als „corroboration“ dieser etymologisch-semantischen Annahme an. Der Zirkel kann nur von der Analyse des Liedkontextes durchbrochen werden. Dieser scheint aber zu besagen, dass dūta- in Y 32.13 der Seite des Zaraϑuštra zugehört, gegen den andere Priestergruppen polemisieren bzw. klagen. Auch wenn wir nicht wissen, inwieweit es in ältester Zeit schon opferfreie, ewige Feuer gab, und wir auch nicht wissen, wieweit das Konzept der kosmischen Verunreinigung der Elemente/Welt ausgearbeitet war (s. V 1; GrBd 6), so ist doch wenig wahrscheinlich, dass ein Vorwurf an Zaraϑuštra, er halte von der Schau der wahren Ordnung ab durch die Produktion von rituellem Rauch, sinnvoll vorgebracht werden konnte. Man müsste denn annehmen, dass dieser Vorwurf von Zaraϑuštra seinen Gegnern wiederum in den Mund gelegt worden sei.

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II Die minime Abweichung

geringe Verschiebung in der rituellen Praktik hat bedeutende Implikationen und Konsequenzen, zunächst einmal für den Kult selbst: Das Dreieck Priester134Feuer-S/H(a)oma, das bisher ein enges, teilweise sogar identifizierendes Verhältnis ausbildete, wird an einer Stelle (Feuer-S/H(a)oma) unterbrochen: a. (rekonstruierter) Zustand vor den Gāϑās Priester            (Zaotar   +   Ātrəuuaxš) presst + trinkt Haoma (= göttlicher Zaotar)

nährt Feuer (= Hotṛ im RV)

vom Zaotar libiert in

b. Konzeption in den Gāϑās Priester            (Zaotar   +   Ātrəuuaxš) presst + trinkt

nährt

Haoma

Feuer

134 Sowohl nach der beobachtbaren Praktik der Moderne, nach den frühmodernen, mittel­ alterlichen und spätantiken Beschreibungen, den rituellen Manuskripten und auch einigen antiken Siegelabbildungen scheinen Rituale, die das Yasna einschließen, d. h. Rituale, die (den Priester transzendierende) Opfer-Handlungen sind (Tier- und/oder Haoma-Opfer), immer schon (wenigstens) zwei, in ihrer Funktion weitgehend getrennte Priester zu erfordern, einen Haupt- und einen Hilfspriester, den Zaotar („Gießer“ [und wohl auch „Rufer“, s. Yt 3.2]) und den Ātrəuuaxš („Feuernährer“; später bezeichnet als: Rāspī(g), Transkription von PÜ raϑβi(škar) ← av. raēϑβiškara- „Mischer“). Jenseits des Yasna ist eine solche Trennung nicht erforderlich, und man kann dementsprechend auch im Yasna-Kontext notieren, dass vor der Yasna-Rezitation der Zōt, der sich auf dem Platz des Ātrəuuaxš befindet, Holz und Duftwerk ins bereits brennende Feuer gibt (Kotwal/Boyd 1991, S. 86–90). Historisch bemerkenswert ist, dass auf den ela­m ischen Persepolistäfelchen der Ātravaxš besondere Erwähnung erfährt (ha-tar-ma-ak-šá) und das Wort offenbar (neben magu- und elam. šatin) eine generelle Verwendung („Priester“) gewonnen hat.

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Abweichung im Minimen

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Daraus folgt, dass a. dem (in den größeren Opferzeremonien in zwei Funktionen aufgespaltenen) Priester eine stärker vermittelnde Rolle zwischen den beiden Bereichen Feuer und Soma/Haoma zufällt; b. die beiden Bereiche Feuer und Soma/Haoma die Möglichkeit zu eigenständiger Entwicklung gewinnen. Zu diesen beiden Folgen der minimen Ritualdifferenz möchte ich im folgenden drei Anmerkungen geben, die die weiteren und großflächigen Konsequenzen zumindest skizzieren: – Zu Punkt a. (Priester als Vermittler zwischen Feuer und Soma) zwei Anmerkungen: 1. Die avestische Restriktion der Konsumtion des haoma auf den Priester135 führt vermutlich zur Stärkung einer zentralen priesterlichen Funktion, dem Seelenflug: haomō. … yaϑa. xvarəṇte. vahištō. urunaēca. pāϑmainiiōtəmō. „Haoma … wenn man Dich trinkt, öffnest Du am besten die Wege für die Seele“ (Y 9.16). Das Trinken des berauschenden Haoma hat seit je zu Erlebnissen stimuliert, die über die Immanenz der Welt hinausführten. Was aber bereits in den Gāϑās und dann bis ins sasanidenzeitliche, ja sogar frühislamzeitliche Schrifttum begegnet, ist die rituelle Organisation des Seelenflugs zum Zwecke des Erwerbs von „Wissen“ (vaēda = ai. veda). Dem Avesta ist eine elaborierte Psychologie/Epistemologie inkrustiert, die um das – dem Indischen sehr wahrscheinlich fremde – Konzept der daēnā „Vision“ zentriert ist, und bei der das Konzept des (in Y 32.14 erwähnten) xratu, das anders als das ai. krátu- und das gr. κράτος, κράτερος und vor allem wohl auch κρατύς136 keine Bedeutungs­ momente des Physischen mehr aufweist (anders Rönnow 1932, S. 64 ff.), größte Bedeutung erlangt (s. Text III). Während die „Vision“ jene von außen (von Gott) zukommende Auszeichnung von Wenigen, sie Erlangenden, namentlich von Zaraϑuštra ist – und die Gāϑās scheinen eben vor allem dies zu sein: Narration und Spiel von Zaraϑuštras Präparation zur und Durchführung der Jenseitsreise –, so ist xratu das geistige Vermögen, das primär Gott (und diesem in vollem Maße) sowie sekundär dem Reisenden zukommt, der sein xratu zu dem des göttlichen erhebt. Dieser gesamte Zusammenhang von Trunk, Seelenreise, Vision und Veränderung des intellektuellen Vermögens führt zum Erwerb wirklichen, wahren

135 Im Jungavesta gilt nicht das Feuer (wie im Veda) als zentraler Opferpriester, sondern Haoma. Als Zentralgestalt des Pflanzenreiches stehen unter dessen Schutz und Opfer­ verantwortung die grasenden Tiere. Damit ergibt sich über das Opfer von gōspand eine Verbindung von Haoma, Schlachtopfer und Feuer (s. zu diesem Komplex Boyce 1970 b). Der Priester führt(e) sich im Opferkontext nicht nur den gepressten Haoma zu, sondern (s. Boyce 1970 b, S. 68 f.) auch das Fleischopfer. 136 Zum Verhältnis der Worte/Begriffe s. Strunk 1975.

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II Die minime Abweichung

(haiϑiia = ai. satya)137 Wissens, das sich als Text niederschlägt. Und dieser in der Vision gewonnene Text wird dann zur Grundlage von „Religion“ (mp. dēn) (s. Text III).138 2. Das Verbot der Haoma-Libation ins Feuer ist zunächst insofern problematisch, als dadurch das (nach oben führende) Feuer die Befähigung verliert, den Göttern das (vom Veda erwähnte) Trinken des Soma weiterhin zu ermöglichen. Die Beschränkung des Haoma-Trinkens auf den Priester (Zaraϑuštra) und die dadurch bewirkte Seelenreise verschiebt die gesamte Architektur des Opfers wie dessen Charakter, Sinn und Funktion. Nicht der Trunk wird vom Feuer der Gottheit als Nahrung zugeführt, sondern die nach wahrem Wissen strebende trunkene Priesterseele wird durch das Feuer in die Präsenz Gottes überführt. Nicht materielle Gunst wird dem Opfernden zuteil, sondern göttliches Wissen. Dieser auf ein Geistiges hin sich verschiebende, sublimierende Opferakt – die gesamte geisteshistorische Bewegung Irans ist m. E . ja eine des ‚Weg-von-derMaterie‘ (der Manichäismus – die iranische Gnosis – zieht hier später die radikale Konsequenz) – verbindet sich mit einem Element, das sich auch im Verhältnis des Großkönigs Darius zu seinem Gott A huramazdā findet139, dem Akt der Erwählung (s. dazu S. 61, 171 f.). Diese Erwählung ist im Avesta auf Zaraϑuštra beschränkt (s. Y 29; V 2.1 ff.), bzw. sodann auf denjenigen, der ‚als Zaraϑuštra‘ im Opfer agiert. Damit aber ist zum einen ein Individuations­moment fast notwendig gesetzt, zum anderen impliziert die Idee von einem Individuum Zaraϑuštra und den nachfolgenden, als Zaraϑuštra agierenden Individuen die historische Verlaufsform. Anders als es die Eliade’sche Religionsphänomenologie jedoch will, die in der Wiederholung der Urform lediglich deren zeitaufhebenden Einstand sieht, entspringt aus der Erwählung zum Akt des Erwerbs göttlichen Wissens und dessen glücklichem Gelingen vor allem eines: Geschichte. Das begründet, warum Zaraϑuštra im Jungavesta vor allem als eine geschichtsstrukturierende Gestalt, als ein Wendepunkt der Weltzeit, als ein erster Erlöser erscheint. – Zu Punkt b. (Möglichkeit zu eigenständiger Entwicklung von Feuer und Haoma): 3. Indem dem Feuer der Haoma vorenthalten wird, geht nicht nur den Göttern der Trunk materialiter verloren. Auch das Feuer verliert eines seiner beiden wichtigsten Opferobjekte (Opferfett und Haoma). Die Lücke wird gefüllt, indem das ursprünglich dem rituellen Umwandlungszweck dienende Feuer nun selbst zum eigentlichen Objekt des Rituals aufrückt. Ein Entzug des zweiten 137 Zum Terminus s. Skjærvø 2003 b. 138 Zum Themenkomplex s. Cantera 2013 a ; vgl. dazu auch Cantera 2013 b; 2012; 2009 und 2010. 139 Siehe DSf  16 f. mar[tiyam mām] avạr navatā „(A huramazdā) erwählte mich als Mann“.

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Abweichung im Minimen

Opferobjektes, des Fleisches/Fettes, lässt sich in der historisch fortschreitenden Beschränkung solcher Opfer an die Ewigen Feuer erkennen,140 die sich widerspiegelt in der institutionellen/räumlichen Trennung von Opferfeuern und Ewigen Feuern. Durch diesen Prozess formuliert sich eine Opposition von Feuerbereich und Opferbereich:

Haoma trinkt Priester isst

wird gezeigt dem

ist verantwortlich für tierisches Opfer

Feuer

opferloses > ,Ewiges Feuer‘

vereinzelt/nicht gegeben dem

Obgleich der Zoroastrismus vor allem bekannt ist als die Religion der „Feueranbeter“, der Verehrer ewig brennender Feuer, so ist bis heute kein starker Beweis dafür erbracht worden, dass das Avesta (bis auf eine, vielleicht späte Ausnahme im Ātaxš-Niyāyišn) selbst schon die ewigen Feuer kannte, also diejenigen Feuer, die nicht mehr Mittel des „Opfers“, sondern Gegenstand der „Verehrung“ sind (beides yaz-). Diesen ewigen Feuern kommt in der späteren Zeit eine weitere Eigenschaft zu, die offenbar mit dem Charakter ihres ‚ewigen Brennens‘ in genetischem Zusammenhang steht: Die Feuer zeigen sich historisch immer idiosynkratischer gegenüber materiellen Opfergaben. Die heutigen ewigen Feuer der Zoroastrier erhalten, abgesehen von Holz und Duftstoff, im Grunde keine Gaben mehr. Ihr Opfercharakter ist weitgehend aufgehoben. Dieser idiosynkratische Prozess, der zugleich ebenfalls ein Prozess der ‚Vergeistigung‘ ist, scheint seinen Anfang mit eben jenem Libationsverbot in Y 32.14 genommen zu haben. Fassen wir zusammen. Die altavestischen Gāϑās scheinen nicht nur gegen Gruppen von (auch im Rig-Veda bekannten) Dichter-Priestern aus Gründen eines ‚Sängerwettstreites‘ oder des ökonomischen Wettbewerbs zu polemisieren; sie scheinen diese Gruppen vielmehr eines Ritualfehlers zu bezichtigen, der durch eine minime Differenz gegenüber der von den Gāϑās bevorzugten Praktik charakterisiert ist. 140 Zu tierischen Opfern an die Bahrāme s. Boyce 1966; 1970 b, S. 67 ff.; 1975 b.

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II Die minime Abweichung

Diese Kritik der Gāϑās hat folgende Implikationen: a. Die Tatsache, dass jene Dichter-Priester (insbesondere die Kauuis) bereits in indo-iranischer Periode bekannt und also Träger der indo-iranischen Ritualistik waren, lässt die Kritik der Gāϑās als eine historisch sekundäre erscheinen. Ob die Kritik im Gedanken einer Wiederherstellung von Ursprünglichkeit erfolgte (damit unter der – vielleicht Vorachsenzeit und Achsenzeit übergreifenden – Idee, dass Wahrheit ursprünglich ist), eine z. B. aus der Bi ̄sotūn-Inschrift des Darius I bekannte, wenn auch dort in anderem Kontext beheimatete Figur, scheint mir jedoch möglich. Zaraϑuštra behauptet für sich ein Befolgen der „ersten Gesetze des Seins/Herrn“ (Y 33.1 dātā. aŋhə̄uš. paouruiiehiiā.; Y 46.15 dātāiš. paouruiiāiš. ahurahiiā.), während er solche bei den Gegnern in Abrede stellt (s. Y 51.14). b. Die unterschiedlichen Praktiken sind nicht mögliche Varianten ein und desselben Rituals. Die Variante wird als eine Abweichung, als Fehler, letztlich als Vergehen gewertet. Der Gedanke der wiederhergestellten Ursprünglichkeit wird also mit einem Ausschließlichkeitsmoment gekoppelt. Die Kritik der Gāϑās, also die minime Abänderung der indo-iranischen Ritualpraktik, hat folgende primäre Konsequenzen: a. die Konstitution eines (paradoxen) ‚heiligen Objektes‘ (ewiges Feuer) durch den Entzug der Opfergabe; b. die Konstitution von „Religion“ durch die ‚Vergeistigung‘ des Ritualgeschehens: die Verschiebung des rituellen Sinnes von der Ritualgabe hin zur Seelengabe des Priesters (s. Y 33.12) und zum rituellen epistemologischen, den Religionstext produzierenden Prozess. Diese primären Konsequenzen zeugen in der weiteren Religionsgeschichte sekundäre und tertiäre Konsequenzen, so z. B. (durch die in Iran wirkende Ausschließlichkeitstendenz) die Stärkung des Individuums (Zaraϑuštra) und die Stärkung der Idee eines historischen Ortes; (durch das Aussterben der avestischen Sprache) die Verlagerung des rituellen Wissensprozesses zu einem diskursiven Prozess (Emergenz von Theologie), die damit einhergehende Entwicklung eines nicht-ritualgebundenen Ethos, u. a. m. Dabei ist es m. E. bis zu einem gewissen Grad nur eine Perspektivfrage, ob man die Ritualdifferenz als Keim dieser Entwicklungen oder aber (das wäre eine weniger überspitzte Position) als deren Verdichtung betrachtet. Wir sehen also, dass sich die gesamte Tektonik des iranischen Selbst-, Weltund Transzendenzverhältnisses gegenüber der indo-iranischen Tektonik (repräsentiert vor allem durch das Veda) verschiebt (ich folge hierbei also der traditionellen Perspektive, dass nicht das Avesta, sondern das Veda getreuer für das Indo-Iranische einsteht), und zwar im Moment einer minimen Differenz des Rituals, die letztlich und paradoxerweise sogar die Bedeutung des Rituellen selbst stark entwerten wird (das Opfer wird in der Moderne als ein Ritualgeschehen

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Abweichung im Minimen

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minderer Reinheit angesehen). Diese Ritualdifferenz ist offenbar nicht an eine historische Person gebunden. ‚Zaraϑuštra‘ ist weniger realer Urheber der Differenz als bereits schon – im Aufkommen des Individuationsprinzips, der Geschichtlichkeit – deren Symptom. Großflächig bedeutet das für den älteren Iran, dass dessen m. E . bedeutendste geistige Veränderung – nämlich jener Prozess, der aus Mythos und Ritus hinauswies – zwar nur unter einem großen Namen stattfinden konnte, nicht aber notwendig eines realen Trägers dieses Namens, eines ,Reformators‘ bedurfte.141

141 In dieser historisch eigenartigen Konstellation besteht eine signifikante Differenz zu den beiden nachmaligen ,Reformationen‘ der altiranischen Religion. Beide fallen in die Sasanidenperiode (ca. 224–651 n. Chr.): die des Mani in das 3. Jh., die des Mazdak in das frühe 6. Jh. Beide Religionsstifter – die beide das Schicksal der Tötung durch die zoroastrische Kirche/den sasanidischen Hof erfuhren – werden von der zoroastrischen Pahlavi-Literatur als „Häretiker“ angesehen. Die Eingriffe des Mani wie des Mazdak ins Gefüge der überkommenen Religion waren zumindest in manchen Bereichen massiv, sowohl in ritueller und theologischer Hinsicht wie auch in Hinsicht auf den gesamten sozio-ökonomischen Unterbau. Inwieweit Manis entscheidende Grundidee (und wohl seine ‚minime Abweichung‘), das Materielle als das Finstere zu fassen und damit als das Böse zu definieren, nicht auch im Zoroastrismus latent existierte, ist bis heute nicht untersucht. Ein wesentlicher Unterschied zwischen den spätantiken Reformen/ Häresien gegenüber der gāϑischen Reform mag darin liegen, dass Mani und Mazdak bereits mit einer Religion zu tun hatten, die über (wohl bereits schriftlich niedergelegte) Theologie, d. h. eine zweite Reflexionsebene, also Orthodoxie und nicht nur Orthopraxis, verfügte.

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III Daēnā, Xratu und das Moment des Schauens. Wissenserwerb im älteren und mittleren Zoroastrismus Vorbemerkung In seinem umfangreichen Aufsatz „Talking with God“ (publ. 2013)142 hat Alberto Cantera ein Zwischenresümee seiner langjährigen Studien zu den avestischen Texten der sog. Langen Liturgie143 vorgelegt. Der Aufsatz ist ein Schlüsseltext nicht nur der jüngeren, sondern der Avesta-Studien überhaupt, und zwar aufgrund seines Ansatzes, sonst voneinander getrennt gehaltene Analyse­ebenen der Avesta-Texte in ihrem gegenseitigen Verweisungszusammenhang zu erfassen und daraus einen Sinngehalt des Rituals bzw. der Ritual­texte zu entfalten, dem man sich bislang nur partikular genähert hatte. Die philologisch-historische Rekonstruktion der zentralen Opferliturgie verbindet sich mit einer Rekonstruktion der Sinnschicht(en) der altavestischen Texte und deren (mutmaßlichem) Narrativ, Form wird zu Inhalt wie Inhalt zu Form, und beides umkreist schließlich den – in der Forschung des 20. Jh. so vieldiskutierten – Begriff der daēnā. Es ist der daēnā-Begriff, der den Weg zum Verständnis des alt­avestischen Narrativs ebnet, auf dessen Struktur die Lange Liturgie aufruht. Ich schließe mich im folgenden Canteras Rekonstruktion des Narrativs, der Langen Liturgie und seinem Verständnis von daēnā grundsätzlich an. Jedoch möchte ich eine gewisse Ergänzung bzw. Modifizierung des daēnā-Begriffs und des epistemologischen Modells vorschlagen, in dem, wie gesagt, daēnā die zentrale Position einnimmt. Sie betreffen zum einen die systematische Bedeutung des daēnā-Begriffs, und sie führen zum anderen auf einen zweiten bedeutenden epistemologischen Begriff der Gāϑās, xratu, dem m. E . nicht nur modellverändernde Bedeutung zukommt, sondern der es zudem ermöglicht, die Veränderung des Modells in der post-avestischen zoroastrischen Religionsgeschichte zu beschreiben. Ich werde versuchen darzulegen, dass eben diese Veränderung des Verhältnisses von daēnā und xratu in der rituellen Epistemologie den historischen Ausgang aus der Kopplung von Ritual und Epistemologie markiert.144 142 Cantera 2013 a ; vgl. dazu auch Cantera 2013 b; 2012; 2009; 2010. 143 Cantera 2014. 144 Anzumerken gilt es schließlich, dass nicht nur Canteras daēnā-Begriff wesentliche Entscheidungen mit Nybergs Perspektive (1938, S. 114 ff.) teilt, sondern dass es

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Re-Vision

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Re-Vision Referat von Alberto Canteras „Talking with God“ Canteras Aufsatz widmet sich zunächst der Darstellung der sog. Langen Liturgie (Yasna bzw. Visparat) bzw. den auf dieser aufbauenden Interkalations­ zeremonien (hąm.paršti-; darəγō.yašti-145)146, d. h. jenen Liturgiestrukturen, die in die altavestischen Texte, also in die Staota Yesniia,147 jungavestische Texte (Vīdēvdād; Vištāsp-Yašt) einschieben. Cantera versucht nachzuweisen, dass nicht nur die eingeschobenen Texte – denen einstmals wohl auch andere als die noch heute interkalierten jungavestischen Texte zuzählten148 –, sondern ebenso die gesamte Struktur der Liturgie der zoroastrischen Antike entstammen (und nicht, wie man üblicherweise annimmt, späte priesterliche Elaborate sind).149 Cantera versucht des Weiteren nachzuweisen, dass die interkalierten Texte in Hinsicht auf ihre Interkalation komponiert wurden.150 Aus der bemerkenswerten Tatsache, dass die Interkalationen nur in den Staota Yesniia erfolgen, schließt er, dass die Staota Yesniia und die Interkalationstexte strukturelle wie inhaltliche Beziehungen aufweisen: überhaupt Nybergs so schlecht beurteiltes Werk über die altiranische Religion war, auf dem zahlreiche moderne Arbeiten, kaum ohne es zu ahnen, aufruhen. Hennings bekannte, nicht nur intellektuell unangenehme, sondern auch dürftige Kritik, konnte sich nur durch ihre Kaprizierung auf Nebenschauplätze von Nybergs Studie den allgemeinen Beifall sichern. 145 Zu den Ausdrücken s. HN 2.14, Vyt 8; Cantera 2013 a , S.  109 f. 146 Nach Cantera (2013 a , S. 120) wird das Interkalationswesen vom Jungavesta nicht nur benannt, sondern auch beschrieben. V 19 „reproduces the structure of a ceremony of intercalation“. Ein mit darəγō.yašti- verwandter Terminus scheint m. E . darəγa- upa­ iianā- (AiW 392) zu sein. 147 Der Umfang der Staota Yesniia wird uneinheitlich bestimmt, sowohl in den Quellen (s. Dk 9.30.12 = gāhān; Šnš 13.1 + 3–49 [von Y 14.1?–Y 58]), wie auch in der Forschung (s. dazu Cantera 2013 b, S. 25–27). 148 Siehe dazu G. König 2017 b. 149 Von entscheidendem systematischen Wert ist der Nachweis, dass das Vištāsp-Yašt kein bloßes Medley (s. Cantera 2013 a , S. 95) bekannter Texte, sondern eine alte – wenn auch schadhafte – Komposition darstellt. Systematisch wichtig ist dieser Nachweis, weil das Vištāsp-Yašt dann nicht länger als späte rituelle Substitution des Vīdēvdād angesehen werden kann, sondern vollwertig neben diesem steht. Daraus folgt, dass die Interkalations-Struktur, die in beiden Zeremonien weitgehend gleich ist, nicht text­spezifisch für das Vīdēvdād ist, sondern einen allgemeinen Charakter besitzt und durch verschiedene Texte (Nasks) ausgefüllt werden konnte. Allerdings ist Canteras Position das Vištāsp-Yašt betreffend nicht ganz eindeutig (Cantera 2013 a , S. 102: Vištāsp-Yašt aus verschiedenen Stücken zusammengesetzt?). 150 „Since we have no evidence of the use of the Widēwdād as a ritual text except in the Widēwdād ceremony, it seems very likely that it was composed exactly for the only purpose we know of, viz. to be intercalated between the Old Avestan texts“ (Cantera 2013 a , S.  107). Das Argument ist letztlich nur e silentio.

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III Daēnā, Xratu und das Moment des Schauens Although the connection between each single fragard of the Widēwdād and the Staota Yesniia is not obvious, the general structure of Widēwdād reflects a reading of the Staota Yesniia.151

Es herrscht folglich eine intertextuelle Hermeneutik. Je nachdem, welcher jung­ avestische Text in die Staota Yesniia interkaliert wird, verändert sich das Verständnis der altavestischen Basistexte.152 Das Interkalieren führe, so Cantera, zu „new exegetical readings of the Old Avestan texts“.153 Cantera zufolge bilden die Staota Yesniia ein rituelles Narrativ (Y 27.13–Y 54.1), das a) ein Weltzeitschema154 und b) eine Reiseerzählung der Seele155 formuliert. Diese Schemata – die sich in den jungavestischen Interkalationstexten reflektieren – haben einen gemeinsamen im Eschatologischen liegenden Fluchtpunkt, den sie einmal universal-historisch, einmal individual-psychologisch anvisieren. Die Tatsache, dass die Staota Yesniia wie die Interkalationstexte einem vergleichbaren narrativen Hintergrundsschema folgen, führt Canteras Aufsatz über die bloß formale Rekonstruktion der Interkalationsstellen hinaus. Die konkrete, ‚exegetische‘ Form wird dadurch zum Teil der Sache selbst: Die Interkalationen sind das (im Jungavesta bezeichnete) frašna156, von dem die Gāϑās zum einen berichten,157 und das zum anderen im auf den Gāϑās aufbauenden rituellen Kursus erst herbeigeführt wird. Des Weiteren läuft der Basistext (Staota Yesniia), also das Narrativ des frašna, wie auch die strukturell-inhaltlich vermittelten, interkalierten Texte des Vīdēv­ dād (d. h. die Aufzeichnungen der göttlichen Unterredungen) und des VištāspYašt auf einen zentralen (eschatologischen wie epistemologischen) Begriff/eine zentrale Figur zu: auf die (gute) daēnā. Der daēnā-Begriff ist mit den Interkalationszeremonien insofern verknüpft, als diese gleichsam die Konvertoren und Transmittoren der (als „Vision“ gedeuteten) daēnā in die Rede sind (und zwar in der Aktualität ihres jeweiligen rituellen Vollzugs, wie auch in Bezug auf die historische Tradierung des Geschehens/Wissens). In text­genetischer Hinsicht deutet Cantera das Verhältnis von daēnā und der Interkalationsstruktur indes derart, dass das Ursprungsmoment für die Interkalations­stelle nach/in Y 53 liegt (d. h. in jenem Text, der Canteras Ansicht zufolge von der Vereinigung von Priesterseele und daēnā berichtet [s. u.]). Von dort ausgehend wurden 151 Cantera 2013 a , S. 108. 152 Siehe Cantera 2013 a , S. 132–134. 153 Cantera 2013 a , S. 122. 154 Cantera 2013 a , S. 107. Nach Kellens (2015) ist dieses Weltzeitschema das zentrale Interpretationselement, dem die altavestischen Texte im Rahmen ihrer jungavestischen ,Edition‘ unterzogen wurden. 155 Cantera 2013 a , S. 108. 156 Zu Wort und Belegen siehe AiW 1009 f. 157 Bereits die altavestischen Texte, insbesondere die zweite Gāϑā, enthalten Hinweise auf eine Fragesituation. „The Staota Yesniia“, so Cantera 2013 a , S. 119, „appear as the textual equivalents of the journey of the sacrificer’s soul“.

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Re-Vision

die Interkalationsstellen von den Komponisten nach einem bestimmten Schema zwischen den traditionellen Grenzen der altavestischen Texte verteilt. Nach Canteras Analyse des daēnā-Begriffs, dessen Position in den alt­ avestischen Texten, der Textproduktion, der Struktur der Ritualtexte und schließlich des Zusammenhangs dieser Elemente, lässt sich der rituelle Prozess m. E. als ein wechselseitiges Ergebnis von Vision und Text wie folgt darstellen:

Daēnā (Vision) führt zu Ritueller Prozess

wird transformiert in formulieren/ermöglichen

Ritualtexte

Generell lassen sich die Langzeremonien zwar als Opferzeremonien (Opfer von Fleisch/Fett) und damit als Zeremonien verstehen, die das Do ut des158 und mit diesem die dialektische Stabilisierung der ontologisch zweigeteilten, transzendent-immanenten Welt zum Ziel haben. Zugleich wird das Opfer jedoch mit einem eschatologisch-epistemologischen (vielleicht auch heilungsmagischen) Kursus verbunden bzw. als dessen Ermöglichungsbedingung gedeutet. Eine weitere Schicht schließlich, die in altavestischer Zeit vermutlich gegenüber der indischen Praktik eine entscheidende Wendung erfahren hatte, bildet die Haoma-Pressung und -Konsumption (s. Text II). Die in der jung­ avestischen Zeit gestalteten, vielleicht schon auf einer älteren Yasna-Formation aufbauenden159 Zeremonie(n) lassen diese ‚Sinnschichten‘ des Ritus einander durchdringen. In unserem Zusammenhang, der Rekonstruktion der eschatologischen Epistemologie der Langen Liturgie und deren historischer Wandlung, ist jedoch lediglich die in der Forschung des 20. Jh. weitgehend vergessene bzw. durch die Polemik gegen Nybergs Religionen verdrängte Schicht der eschatologischen Epistemologie von Bedeutung.160 158 Siehe dazu Hintze 2004. 159 Siehe dazu G. König 2017 a , S. 87 f. 160 Das verbindende Element der verschiedenen Opfermomente/-schichten ist der Gedanke eines (für beide Seiten vorteilhaften) Kontaktes der beiden Welten (s. dazu Nyberg 1938, S. 157). Dass die verschiedenen Momente des Opfers ein unterschiedliches historisches Herkommen haben, ist wahrscheinlich. Wichtig ist es festzuhalten, dass im avestischen Ritual Opfer- und Wissensgedanke zusammenfinden, während späterhin die Konzeption des Wissenserwerbs zwar nicht zur Kritik am Ritual wird, jedoch vom Ritual sich abkoppelt (letztmalig wohl im Text Mēnōg ī Xrad mit diesem verbunden).

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III Daēnā, Xratu und das Moment des Schauens

Exkurs: Das Narrativ der Staota Yesniia bzw. der Langen Liturgie(n) Bevor wir in der Darstellung der altavestischen Epistemologie fortfahren, scheint es sinnvoll zu sein, sich über den angedeuteten, in Molés bahnbrechender Studie von 1963 erstmalig postulierten, narrativen Zusammenhang der Gāϑās – so, wie sie seit ihrer jungavestischen ‚Edition‘161 bis heute überliefert sind – und damit über die narrative Einbettung des epistemischen Prozesses zu vergewissern. Canteras integrative Perspektive auf die avestischen Texte, d. h. die Betrachtung der Langen Liturgie als Entfaltung bzw. Realisierung eines auf ein visionäres Ereignis hin angelegten eschatologischen Prozesses,162 führte ihn zu dem Gedanken, dass die Staota Yesniia (d. h. im wesentlichen die altavestischen Texte163) wie die interkalierten jungavestischen Texte einer ähnlichen und also kompatiblen Anlage folgen. Man mag diese, in inhaltlich allgemeinsten Begriffen, als die des Drei-Zeiten-Schemas ansprechen,164 wobei sich offenbar universale (kosmogonisch-eschatologische) Spekulationen165 mit psychographischen 161 Siehe dazu besonders Kellens 2015. 162 Das Verhältnis von Yasna bzw. Interkalationszeremonie und den Gāϑās ähnelt einem Möbius-Band. Im konkreten liturgischen Vollzug sind die jungavestischen Texte die Ummantelung der altavestischen Texte. In der Narrationsperspektive bilden hingegen die Gāϑās eine Rahmenerzählung für die in sie eingelassenen jungavestischen Texte (diese sind dialogische Vergegenwärtigungen der Vision/Gottesbefragung, von der die Gāϑās berichten) bzw. die Erzählung vom Yasna, das sich wiederum in der Performanz der Texte vollzieht. 163 Siehe Kellens 2015, S. 45. 164 Siehe Cantera 2013 a , S. 107. Die kosmogonische Deutung/Funktion, die heute in der Forschung Y 27.13 zugesprochen wird, geht wesentlich auf die mittel-/jungavestische Theologie zurück (s. besonders Y 19.1 ff.), in deren Zug es vielleicht auch zu der Abscheidung von der zugehörigen ersten Gāϑā gekommen ist. 165 Von Kellens ist jüngst mit Nachdruck die These vertreten worden, dass a) die Gāϑās uns nur als Ergebnis einer jungavestischen ‚Edition‘ vorliegen, und dass b) der theologische Ansatz für die Integration altavestischer Texte in ein Yasna eine „philosophy of history“, die Millenniarismus-Lehre war (s. Kellens 2015, S. 45–47, 48–50). Die jungavestische Re-Kontextualisierung habe zur Folge, dass sich uns die ursprüngliche Textfunktion der Gāϑās („the use for which they were originally composed“) entziehe (Kellens 2015, S. 49). Cantera (2013 a) und Kellens (2015) kommen darin überein, dass sie nicht länger an die Möglichkeit eines unmittelbaren Zugriffs auf die Gāϑās glauben. Die Gāϑās sind immer schon in ihrem Verständnis durch die jung­avestische Liturgie vermittelt, und in Canteras Perspektive ist solches Vermittelt­sein gerade der Sinn des allgemeinen Interkalationsschemas. Während Kellens jedoch versucht, allein die Millenniarismus-Lehre als jungavestisches Deutungsinstrument gelten zu lassen (Zaraϑuštra wird nur in Beziehung auf diese Lehre Bedeutung eingeräumt: „His sole concern is the speculative schema of a man who is present from the cosmogony up to the resurrection and who reproduces in his person the successive forms taken by the world …“ [Kellens 2015, S. 47]), steht bei Cantera stärker das psychische Ereignis im Vordergrund. In der Akzentuierung des Seelenschicksals des Zaraϑuštra berührt sich Cantera partiell mit der Perspektive Skjærvøs auf die Gāϑās (s. zuletzt zusammenfassend Skjærvø 2015). Skjærvø wiederum kommt insofern mit Kellens überein, als

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Re-Vision

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überlagern. Das gāϑische Narrativ, das vom Schicksal der Seele des (sich vor allem als mąϑrān „mąϑra-Rezitator“ und wohl auch als zaotar verstehenden166) Zaraϑuštra im Rahmen dieser Großform folgt, ist bisher nur partiell entschlüsselt.167 Vergegenwärtigen wir uns hier der wesentlichen thematischen Felder der altavestischen Texte bzw. deren progredierenden Zusammenhangs: Ahunauuaitī-Gāϑā: Vorstellung des Protagonisten und der zentralen Problematik. Erwählung. Lehre. Opfer und Himmelfahrt Y 28: Vorstellung des Zaraϑuštra als Priesterdichter des Mazdā und rituelle Begrüßung Y 29: Vorexistenz: Berufung168 des Zaraϑuštra169; Klage der Kuhseele Y 30–32: Beschreibung der Lehre vor der Seelenreise : Die beiden Urgeister (vgl. Y 45) / die Wahl / deren eschatologische Konsequenzen; das xratu-Prinzip; Fragen, s. Y 31.14–17, vgl. Y 43 auch er (neben dem biographischen Moment) ein universales Moment der altavestischen beschreibt: Zweck der Gāϑās, und als solcher strukturbildend, sei „the regeneration of the ordered cosmos after periods of chaos“ (Skjærvø 2015, S. 59). 166 Zum Problem s. Kellens 2015, S. 47 f. 167 Der erste (und bislang umfangreichste) Versuch, die Gāϑās in ihrer angestammten Folge und Gesamtheit als eine rituelle Sequenz zu lesen, stammt von Molé (1963), insbesondere niedergelegt in den Kapiteln „L’ordre des Gāthā“ und „L’office gāthique“ (S. 176–270). 168 Nach Skjærvø sind die Gāϑās, insbesondere die Ahunauuaitī-Gāϑā und speziell deren zweites Hāiti, zu verstehen als „Zarathustra’s installation as first poet-sacrificer“ (Skjærvø 2003 b, S. 167).* Y 29 (zur Lesung/Deutung Skjærvø 2003 b, S. 169 ff.) ist die berühmte Gāϑā von der Klage der Kuh über ihre Schutzlosigkeit gegenüber den bösen Mächten. Ahura Mazdā, vom „Bildner der Kuh“ (tašā gə̄uš) nach Schutzmaßnahmen gefragt, muss eingestehen, dass zwar kein ratu- hierfür konzipiert sei (Y 29.6), jedoch u. a. das mąϑra- (Y 29.7), von dem nun gefragt wird, wer es den „Sterblichen“ hinab­ bringen solle. Auf die Frage antwortet der Bildner der Kuh: Y 29.8 aēm. mōi. idā. vistō. yə̄. nə̄. aēuuō. sāsnā ̊. gūšatā. / zaraϑuštrō. spitāmō. huuō. nə̄. mazdā. vaštī. aṣ̌āica. / carəkərəϑrā. srāuuaiieŋ́ hē. hiiaṯ. hōi. hudəmə̄m . diiāi. vaxəδrahiiā. „Dieser hier ist von mir gefunden, der als einziger unseren Unterweisungen lauscht, der Zaraϑuštra Spitama. Er will uns, o Kundiger, und der Wahrhaftigkeit Preislieder zu Gehör bringen, wenn ich ihm Süße (oder: guten Atem/Kontrolle) der Stimme verleihen werde.“ Über die Entscheidung ist die Kuh durchaus unglücklich: Sie zweifelt an Zaraϑuštras Fähigkeiten (Y 29.9), denn es handele sich dabei nur um vācəm. nərəš. asūrahiiā. „the voice of a man without life giving power“ (Skjærvø 2003 b, S. 172), die man hier zur Fürsorge erwählt habe. Dieses „little mythical drama“ spiele sich (so Skjærvø 2003 b, S. 169, 172 f.) in Gegenwart des Ahura Mazdā ab. Es handele sich im Falle Zaraϑuštras um Zaraϑuštra in seiner präexistentiellen frawahr-Existenz (s. Dk 7.2.14 f.; s. dazu Skjærvø 2003 b, S. 174, 176; s. a. Skjærvø 2007, S. 117 f.). * Dieses Verständnis ist zunächst einmal ein inhaltliches. Soweit man aber eine (mehr oder weniger lineare) Narrativität der Gāϑās akzeptiert, wäre eine solche Installation in der ersten Gāϑā auch formal stringent (Y 28: irdischer Opferbeginn; Y 29: jenseitige Installation). 169 Siehe hierzu auch den Mythos in GrBd 4 a ; zu Y 29/P 33 s. Kellens 1983, S. 118 f.

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62 Y 33–34:

III Daēnā, Xratu und das Moment des Schauens

Präliminarien der Seelenreise : Erklärung Zaraϑuštras zum „zaotar“ des Mazdā; Schau und Befragung Mazdās. Aufgabe der Lebensseele; Fleischopfer an das Feuer zwecks Überführung der Totenseele

Yasna Haptaŋhāiti: Opfer (Aufstieg von Opfergabe und Totenseele) Uštauuaitī-Gāϑā + (?) Spəṇ tā.mainiiu-Gāϑā170: Himmlische Unterredung Y  43–50 (?): Begrüßung171 und Befragung (s. besonders Y 43+44) des Mazdā; Erklärung des Zaraϑuštra zum „staotar“ und „mąϑrān“ des Mazdā; Rekurs auf Lehrinhalte (Y 45 ≈ Y 30) Vohuxšaϑrā Gāϑā Y 51: Eschatologie. Die visionäre Erkenntnis (daēnā, cisti) (2. Yasna Haptaŋhāiti: Opfer) 170 Beide Gāϑās haben gleiches Metrum (4 + 7), jedoch unterschiedliche Strophenlänge. 171 Im Rahmen des Berichts WZ 21–23 über Zarduxšts Konferenzen mit Ohrmazd heißt es in der Begrüßungsszene: WZ 21.5 u-š pursīd az Zarduxšt kū kē hē ud az kē-ān hē u-t cē kāmagtom u-t pad ast tuxšišn „Und er (Wahman) fragte den Zarduxšt: ‚Wer bist Du?‘ und ‚Von wem stammst Du ab?‘ und ‚Was begehrst Du gar sehr?*‘ und ‚Worin besteht Dein Bemühen?‘ “. Die Sätze erinnern an die Begrüßung in Y  43.7 a–c: spəṇtəm. aṯ. ϑβā. mazdā. mə̄ŋ́hī. ahurā. / hiiaṯ. mā. vohū. pairī.jasaṯ. manaŋhā. / pərəsaṯcā. mā. ciš. ahī. kahiiā. ahī. „Für spəṇta halte ich Dich, o Ahura Mazdā. / Wenn mich einer mit Gutem Denken begrüßt / und mich fragt: ‚Wer bist Du?‘ ‚Wessen bist Du?‘ “ → abzōnīg-om ēdōn tō menīd hē ohrmazd / ka ō man wahman be mad / pursīd-iz-iš az man kū kē hē ud az kē-ān hē „Für gedeihlich wurdest Du, Ohrmazd, von mir gehalten. Als Wahman zu mir kam, fragte er mich: ‚Wer bist Du?‘‚ und ,Von wem stammst Du ab?‘ “. Die Antwort in WZ 21.6 hat in der Pahlavi-Übersetzung der Gāϑās keine direkte Parallele, ist jedoch mit Passagen aus Y 43 und wohl auch Y 29 verwandt: u-š pāsoxēnīd kū Zarduxšt hom Spitāmān andar axwān ahlāyīh-kāmagtar u-m kāmag [kū āgāh bawom ān ī yazdān kām] ud ān and ahlāyīh warzom cand-im nimāyēnd pad axw ī abēzag „Ich bin Zarduxšt Spitāmān. In der Existenz verlange ich nach ahlāyīh, und mein Verlangen ist ich wissend werde des Wunsches der Götter. Und ich übe soviel ahlāyīh, wie man mir in der Reinen Existenz zeigt.“ Vgl. Y  43.10 a aṯ. tū. mōi. dāiš. aṣ̌ə m. hiiaṯ. mā. zaozaomī. „Zeige Du mir das aṣ̌a, nach dem ich sehr rufe!“ → ēdōn tō ō man dahē ahlāyīh ka-t hom pad xwānišn xwānom „Zeige Du mir die ahlāyīh, nach der ich sehr rufe!“; Y  43.11 e taṯ. vərəziieidiiāi. hiiaṯ. mōi. mraotā. vahištəm. „Ich will wirken (?), was Ihr mir als das Beste nennt.“ → ēdōn warzišn dahom kū-tān ō man guft pahlom [pas-iz oh kunom] „Ich will wirken, was Ihr mir als das Beste nennt [dann will ich es auch tun].“; Y  29.8 b zaraϑuštrō. spitāmō. huuō. nə̄. mazdā. vaštī. aṣ̌āicā. „Zaraϑuštra Spitama, er will uns, Mazdā und dem aṣ̌a“ → Zardušt ī Spitāman ōy ān ī amā Ohrmazd kāmag ahlāyīh-iz …] „Zardušt Spitāman, er hat unseren, des Ohrmazd und der ahlāyīh, Wunsch.“ * tuxšišn übersetzt in den Gāϑās das mit təuuuīšī- „körperliches Vermögen“ verbundene utaiiūiti- „Jugend“, welche beiden Wörter sich jedoch nicht in Y 43.7 finden.

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Re-Vision

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Vahištōišti-Gāϑā Y 53 (+ 54): Vereinigung mit der daēnā und eine damit verbundene Vertreibung des Bösen und Heilung (Y 53.7; Y 54.1) Zu erkennen sind also die folgenden größeren Themenfelder: Begrüßung + Vorschau; Opfer; Befragung; Eschatologie. Innerhalb dieser Felder sind gegenwärtig als ein fortlaufender Erzählzusammenhang der Anfang und das Ende der ersten Gāϑā (Y 28 Begrüßung und Verweis auf die Vorexistenz in Y 29172; Y 29173 – als narrativer Rückgriff bzw. als ein Wechsel der ontologischen Ebene – die Erwählung des Zaraϑuštra; Y 33 das Begehren von Schau und Befragung und die Aufgabe der Lebensseele; Y 34 die Opferankündigung174), das Yasna Haptaŋhāiti (Opfer, d. h. auch: Aufstieg der Seele), Y 43 ff. (Begrüßung und Befragung der Gottheit), Y 51 + Y 53 (eschatologische Motive; die daēnā-Begegnung) rekonstruierbar. Probleme hinsichtlich der Einfügung in das narrative Schema bereiten einstweilen einige Lieder der ersten Gāϑā, die dritte Gāϑā sowie das zweite Yasna Haptaŋhāiti175. Y 30 und das parallele Y 45 scheinen vom Narrations­ zusammenhang absehende Lehrtexte zu sein. Der Spəṇta Mainiiu-Gāϑā (Y 47– 50) fällt offenbar eine vermittelnde Funktion zwischen der Befragung in der zweiten und der visionären Epistemologie bzw. der Eschatologie in Y 51 und Y 53 zu. Hinsichtlich der eschatologischen Sektion der altavestischen Texte ist festzuhalten, dass diese also zugleich die Epistemologie formuliert. Darin scheint ein gewisser narrativer Widerspruch zu liegen. Gemäß dem rekonstruierten Narrativ sollten die epistemologischen Bedingungen nicht nach, sondern vor den Befragungen genannt werden. Tatsächlich ist in der weiteren visionären iranischen Tradition der Zoroastrier (Kirdīr-Inschriften; AWN) festzustellen, dass, in Umkehrung zum Gāϑā-Modell, die Dēn, die in diesen Texten ganz zur Person geronnen ist, ihren Auftritt lange vor der Begegnung mit der Gottheit hat.176

172 Siehe dazu Kellens 1995 b, S. 348. 173 Humbach (2015, S. 40) bezeichnet Y 29 als „a product of archaic mysticism“. 174 Die Nahtstelle des gesamten eschatologischen Prozesses ist das vorletzte Lied der ersten Gāϑā. In Y 33.14 (vgl. dazu Y 37.3, zu rātā- Y 43.9 [Ankunft im Himmel]) erfolgt die Ankündigung der Darbringung von uštana, PÜ gyān „Lebensseele“: aṯ. rātąm. zaraϑuštrō. tanuuascīṯ. xvax́iiā ̊. uštanəm. / dadāitī. … „Als Gabe bringt Zaraϑuštra“ – der zaotā. aṣ̌ā . ərəzuš. „durch aṣ̌a aufrechte zaotar“ – das uštana (Lebenskraft) seines Leibes dar …“. Die Tatsache, dass der Passage hoher ritueller Wert zukommt, wird durch deren Zitation in zahlreichen, rituell markanten jungavestischen Textpartien (zit. z. B. in Y 11.18) belegt, s. Cantera 2013 a , S. 117. 175 Zu einer Deutung s. Cantera 2013 b. 176 In AWN 4 (vgl. HN 2) erscheint die Dēn nach der dritten Todesnacht; in KSM 35 / KNRm 59 tritt die „Frau“, die mit dem hangirb des Kirdīr zum Himmelsthron schreitet, Kirdīr vor der Brücke entgegen.

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III Daēnā, Xratu und das Moment des Schauens

Die daēnā-Frage Die konzeptionelle und strukturelle Belastung des daēnā-Begriffs in der Theorie Canteras Canteras Rekonstruktion der Langen Liturgien führt, wie bereits angedeutet, zu einer Belastung des daēnā-Begriffs. Diese resultiert daraus, dass der gesamte eschatologische Prozess, wie ihn die altavestischen Texte fassen, in seiner Ermöglichung wie Durchführung stark auf den daēnā-Begriff – und zwar in dessen einheitlicher Bestimmung als „Vision“ – hin ausgerichtet wird: a) in der textlichen Ausgestaltung stellen die wesentlich der Funktion der daēnā gewidmeten Eingangsstrophen der letzten Gāϑā – also die von Cantera sog. „daēnā section“ Y 53.1–3 – den Fluchtpunkt des gesamten altavestischen Narrativs dar (Bestellung des Zaraϑuštra als rechtmäßiger Opferpriester; Opfer → Jenseitsreise : Befragung der Gottheit / Vereinigung der Seele (uruuan) mit der daēnā177 : Wissenserwerb); b) in textgenetischer Hinsicht nimmt das gesamte Interkalationswesen, also die Exposition der Konsultationen, von dieser Kernpassage (bzw. Y 53) seinen Ausgang178; c) in der Performanz bildet dieselbe Passage das Scharnier zwischen innerer Text- und Außenwelt (nämlich – und zwar unter der Annahme eines Erbzusammenhanges von Morgenröte und daēnā – in der Koordinierung von Textgeschehen und äußerer Zeit).179 Nur wenn daēnā die 177 Deren unmittelbarer Zusammenhang wird in Y 46.11 c genannt. 178 Siehe Cantera 2013 a , S. 122. 179 Cantera hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Zelebration der gāϑischen ,daēnā-Sektion‘ Y 53(.1–3) in der Langen Liturgie mit dem Erscheinen des Morgenlichtes synchronisiert ist. Diese Verbindung von Text und Außenwelt (in der rituellen Performanz) scheint das wesentliche Argument für eine Identifizierung von daēnā und Morgenlicht abzugeben: daēnā scheint die personale Konzeption des Morgenlichts zu sein („apparition aurorale“ [Cantera 2012, S. 51; vgl. Kellens 1995 a]) bzw. darin eine indo-europäische Tradition fortzusetzen (s. Kellens 1995 a ; Cantera 2012). Nach Cantera (2012, S. 52) ist (in Nachfolge von Kellens) die Daēnā, die mit dem Osten (s. KSM 35; s. a. V 19.30 [+ V 13.9]) und dem „Aufleuchten“ (HN 2.7 viiusą.) verbunden wird, eine Abart der idg. *„Tochter des Taghimmels“ („ fille du ciel diurne [diu̯ és dhugh2tēr]“), die (so Kellens) im Zoroastrismus eine ‚eschatologische Transposition‘ erfahren habe („La dayanâ est la transposition de l’aurore dans le domain de l’eschatologie“ [Kellens 1995 a , S. 53]). Während eine größere, in die mythische Vorgeschichte der daēnā zurückführende Studie noch aussteht, lässt sich indes die Verbindung von daēnā mit der Paradies- = Licht-Sphäre gut im Rahmen der Zusammenstellung mit dem bekannten zoroastrischen Triplett (zur Festlegung auf „drei“ s. V 18.17) des (guten) Denkens, Redens, Handelns belegen. In jungavestischen – eschatologischen – Texten bildet daēnā das vierte Glied einer Sequenz, deren Anfang das bekannte Triplett (im Falle der Bildungen hu-/ ́ duš-manah- hu-/duž-vacah- hu-/duš-š iiaoϑnahu-/duž-daēna-) einnimmt (s. Vyt; HN; Yt 19.95; Y 65.7; s. a. P 32(33) [Belege AiW 1833]; s. bereits Y 49.11 dušəxšaϑrə̄ṇg. ́ duš.š iiaoϑanə̄ ṇg. dužuuacaŋhō. duždaēnə̄ng. dušmanaŋhō., vgl. Y 31.22, Y 33.14,

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Die daēnā-Frage

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von Cantera ermittelte (und zwar zunächst identische) „Visions“-Bedeutung besitzt, nur dann lässt sich von einer besonderen „daēnā section“ in Y 53 sprechen (weil nur dann die Behauptung einer Vereinigung der Seele [uruuan] mit der daēnā eine plausible Gestalt wie auch einen Textbeleg hat), nur dann darf Y 53 (als Fluchtpunkt) einen herausgehobenen Rang unter den altavestischen Texten beanspruchen, und nur dann kann das Interkalationswesen (bzw. auch die Struktur der Interkalationstexte) als eine auf das altavestische Narrativ abgestimmte (und diesem nicht nur mechanisch angelagerte) Ritualausgestaltung angesehen und letztlich auch die äußere Zeit-Koordination als ein dem inneren Textsinn Vermitteltes begriffen werden. Die Bedeutung/Funktion von daēnā, die Rekonstruktion des altavestischen Narrativs sowie das gesamte Interkalationswesen verweisen wechselseitig aufeinander bzw. bedingen einander in hohem Maß. Nur wenn der daēnā-Begriff in sich konsistent ist, steht das gesamte auf ihm aufruhende Gebäude sicher.



Y 36.4, Y 45.2, und besonders Y 53.2, Y 45.8, Y 30.3, Y 47.1 [+ Spəṇta Mainiiu]; häufig wird das Triplett aber auch ohne viertes Glied geführt, s. Y 1.21, V 7.51, V 8.100, A 1.11). In Yt 14.28 folgt als viertes Glied „Rede + Gegenrede“ (paiti. frauuāke. … paiti. pāitiuuāke. „in Rede und Gegenrede“), vielleicht eine Metonymie für die daēnā bzw. das in der daēnā vollzogene frašna. In mittelavestischen Texten schließt bisweilen ciϑra an das zoroastrische Triplett an (Y 12.4 mruiiē. … vī. manə̄bīš. vī. vacə̄bīš. vī. šíiaoϑnanāiš. vī. ciϑrāiš.; Y 58.1 nəmə̄. huciϑrəm. … yeŋ́ hē. nəmaŋhō. ciϑrəm. humatəmcā. hūxtəmcā. huuarštəmcā. „das Gebet von gutem ciϑra, … dessen, des Gebets, ciϑra von gutem Denken, gutem Sagen, gutem Tun“). In Yt 3.4 ist ciϑra- mit Ahura Mazdā verbunden, weist also ebenfalls auf die höchste Himmelsstufe. In Yt 3.3 gehen Verweise auf das Triplett voran, die – man beachte die Ähnlichkeit mit Yt 13.84 (da in der Folge ohne hu-/duš- der „Vater … Ahura Mazdā“ als viertes Glied folgt) – offenbar auf die Idee einer Verbindung von Rezitation des Avesta – Triplett (Quartett) – Himmelsstufen hinweisen (s. G. König 2016, S. 261). Die Bildungen humata- hūxta- huuaršta- formulieren in HN die drei Schritte zum Paradies (s. AiW 1819, 1832, 1851), die in HN 2.15 zu den „unendlichen Lichtern“ führen, anaγraēšuua. raocōhuua. In Yt 13.84, da das Triplett vermutlich ebenfalls mit der Himmelsstufenkonzeption verbunden ist,* folgt das Paradies garō.nmānəm., im Text des Vīspa Humata das „Beste Dasein“ (FrW 3.2 vīspa humata. … hūxta. … huuaršta. vahištəm. aŋhūm. ašaiti.), in FrW 3.1 baoδō.varšta. „was mit Erkenntnis getan ist“ (andere Erweiterungen in Y 11.18, Vr 12.3). (In der Folge humata- hūxta- huuaršta[bzw. in der Folge der duš-Entsprechungen] steht das vierte Glied i. d. R . nicht [s. bereits YH 35.2, 36.5], doch folgt im sog. Glaubensbekenntnis Y 12.8–9 daēnąm. māzdaiiasnīm.). Die jungavestischen Texte bezeugen also, dass daēnā mit der höchsten Himmelsstufe (bzw. dem höchsten Licht) gleichgesetzt bzw. für dieses einstehen kann. Man beachte auch, dass (die mazdayasnische) daēnā in Y 9.26 offenbar die Milchstraße bezeichnet. * Wenn es in V 5.21 heißt yō. huuąm. aŋhuuąm. yaoždāite. humatāišca. hūxtāišca. huuarštāišca. „der sein Dasein reinigt durch gutes Denken, Reden, Tun“, dann weist das auf den Gedanken einer Seelenreinigung, der vielleicht auch mit der Himmelsstufen­ idee verbunden wurde (die Seelen steigen bei ihrem Gang durch die Sphären zu immer größerer Reinheit – Immaterialität (?) – auf).

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III Daēnā, Xratu und das Moment des Schauens

Die textimmanente und historische Verwandlung des daēnā-Begriffs in der Theorie Canteras Auch in Canteras Entfaltung des daēnā-Begriffs180 ist eine gewisse Belastung durch eine funktionale Verdichtung zu bemerken. In Canteras Bestimmung des daēnā-Begriffs lassen sich zwei Tendenzen ermitteln. Zunächst begegnet in ihr (gegen Bestimmungen älterer Forschung) eine ursprüngliche Identität von daēnā. Während die ältere Forschungsmeinung zu av. daēnā eine (und zwar gemäß den Zeit-/Textschichten, in denen der Begriff auftritt) uneinheitliche Bedeutung angenommen hatte (daēnā sei, so Cantera, gemäß älterer Forschung im altavestischen Schrifttum „the individual religious consciousness“, im Jung­ avesta und Pahlavi indes „religion“), so meine der daēnā-Begriff Cantera zufolge zunächst allein „Vision“. Gleichwohl zeige sich a) eine im Begriff angelegte Diversifikation und b) eine dynamische Tendenz des daēnā-Begriffs. Zu Punkt a: daēnā besitzt nach Cantera, der sich hier auf eine Perspektive Kellens’181 bezieht, drei Aspekte182 (kausativ, passiv, aktiv). Cantera expliziert diese Aspekte wie folgt: 1. durch Vereinigung (sar-) der Seele (uruuan) mit der daēnā ermöglicht diese der Seele im rituellen Akt die Schau (kausatives Moment): „The soul obtains the individual capacity for the Vision“183; 2.  daēnā wird in der Vision von der Seele und von den Göttern gesehen als Bild der Verdienste; 3.  daēnā ist die vergegenständlichte Schau bzw. deren textuelle Transformation („But the passive relationship of the daēnā has another important aspect: it is seen by the sacificer’s soul of the sacrificer (sic!) and this vision includes in itself the contents of the consultation with god that it makes possible.“184). Bevor wir die gegebenen Momentbestimmungen genauer betrachten, sei auf zweierlei hingewiesen: a) in der gegebenen Darstellung bleibt unexplizit, worin das aktive Moment der daēnā besteht (zwei Charakterisierungen weisen passive Momente auf); b) es ist unklar, ob – auch wenn in den Gāϑās vereinzelt personale daēnā-Momente aufscheinen (s. daēnā1 = Pourucistā) – die Bestimmung von daēnā als personales Bild der Verdienste – von Cantera offenbar als passives Moment von daēnā angesehen – bereits gāϑisch ist.185 180 Siehe besonders Cantera 2013 a , S. 127–131: „The Vision and the Concept of ‚Religion‘ “. 181 Kellens 1995 a , S. 51. 182 „A multilateral relationship with the act of viewing, at the same time active, passive and causative“ (Cantera 2013 a , S. 130). 183 Cantera 2013 a , S. 130. 184 Ibid. 185 Das Verständnis von daēnā als Bild der Verdienste stellt einen Aspekt von daēnā dar, der sich im historischen Kursus stark entfaltet (und z. B. vom Manichäismus adoptiert wird). Man siehe hier besonders Y 51.13, 17. Vgl. auch Fn. 204, 232.

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Die daēnā-Frage

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Untersuchen wir Canteras Bestimmungen 1. und 3. näher, so fällt auf, dass in ihnen daēnā mehrfach begegnet. In 1. ermöglicht daēnā (strenggenommen die Vereinigung mit [der als Pourucistā vorgestellten] daēnā) eine daēnā „Schau“. In 3. schließt die ermöglichte Schau wiederum eine in Text transfigurierte daēnā ein. Es treten also im epistemologisch-eschatologischen Prozess nicht weniger als drei bzw. vier daēnās auf: a) daēnā + uruuan b) daēnā als ermöglichende Schau daēnā als ermöglichte Schau, worin/wodurch: c) daēnā als Text Ich schlage gegenüber dieser vielleicht hyper-komplexen Rekonstruktion folgende Begriffsdifferenzieung vor: a. Kausative daēnā = Seelenvermögen (ein „Organ“186); b. Aktive daēnā = Akt des Schauens; c. Passive daēnā = Schauinhalt. Zu den Punkten b + c: Diese daēnā-Momente, das hat Cantera deutlich gemacht, stehen in einem prozesshaften Zusammenhang. Daēnā nimmt sekundär (und zwar sowohl innerhalb des avestischen Narrativs selbst wie auch im religionshistorischen Prozess) die Bedeutung „religiöser Text“ > „Religion“ an. Für Cantera ist es diesbezüglich wesentlich, dass die Vision im Rahmen der rituellen Jenseitsreise kein rein privates Erlebnis ist, sondern sich auf eine Gemeinde bezieht. Zwei Priestertätigkeiten erlangen in diesem soziologischen Zusammenhang Bedeutung: mar- und bar-, das rituelle Memorieren/Sprechen und Überbringen der – nun in Text transformierten – Vision:187 „The sacrificer not only attains the Vision of god, he can bring it in the form of frašna to the community.“188 Bieten die Staota Yesniia das narrative, auf ein visionäres Ereignis hin ausgerichtete Gerüst, so sind die jungavestischen Texte die Aufzeichnungen dieses Ereignisses selbst, und zwar in dessen textueller Verwandlung. Zugleich markiert die historische Differenz von alt- und jungavestischen Texten 186 So Nyberg 1938, S. 114; s. dazu Gonda 1963, S. 259 f., auch S. 159. 187 Cantera 2013 a , S. 130: „To ,utter and to bring‘ the Vision is to put it in words in the form of a frašna and to recite it intercalated between the Staota Yesniia during a long liturgy.“ 188 Cantera 2013 a , S.  129 f.

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III Daēnā, Xratu und das Moment des Schauens

den in den altavestischen Texten als logischen vorgestellten Begriffswandel von Vision > Text als einen im historischen Verlauf de facto vollzogenen (die Vision liegt als jungavestischer Text vor).189 Damit löst sich das alte Bedeutungs­ problem von daēnā: This feature of the ritual technique of the intercalation ceremonies190 can provide a satisfying explanation of a long disputed problem of Avestan philology: the disparity of meanings of daēnā.191

Mit der oben vorgeschlagenen, leicht veränderten Rekonstruktion der daēnāVerhältnisse stellt sich der epistemische Prozess, d. h. die Ermöglichung und Verwirklichung einer „Vision“ und deren Konvertierung in Text, unter Berücksichtigung der oben vorgenommenen Korrektur wie folgt dar: 189 Hinsichtlich der Bedeutungsentwicklung scheint sodann zumindest festzustehen, dass np. dīn nicht länger „Schau, Anschauung“ bedeutet. Ob pahl. dēn – für welches Wort sich wohl noch nicht eine Überblendung mit arab. dyn „Religion“ ansetzen lässt – in seiner allgemeinen Verwendung diese (vermutete ältere) Bedeutung aufweist, ist un­sicher (ein Plural scheint nur in Dd 71.9 ahlomōγ dēnīhā belegt zu sein). In den Referenz-Formeln wird dēn entweder mit paydāg „sichtbar*; manifest“ – ein Wort, das selbst möglicherweise zu daiH zu stellen ist (s. Cheung 2007, S. 49) – oder aber mit gōw-/guft „sagen“** verbunden, und diese Kollokationen finden sich auch bei dezidiert textlichen (oralen oder schriftlichen) Ausdrücken (MX 26.28 ciyōn pad dēn paydāg kū, WZ 2.1 pad dēn ōwōn paydāg kū, Dk 6.40 az ēn dēn ōwōn paydāg kū, PRDd  8 m 1 u. a. az dēn paydāg kū; Dk 7.1.7, 7.1.12 etc. az weh-dēn paydāg kū; PRDd  8 d 9, 8 f 1 u. a. az abestāg paydāg; PRDd  8 l 1 u. a. gyāg paydāg kū; Dk 7.1.9 pad gōwišn ī Ohrmazd paydāg kū, Dk 7.4.30 ciyōn pad gōwišn ī Ohrmazd ō Zarduxšt paydāg kū; GrBd 1.31 ōwōn ciyōn pad dēn gōwēd, GrBd  5 A 1 pad dēn gōwēd, Dd 6.8 ciyōn pad dēn gowīhēd, GrBd  36 A 1 andar dēn guft estēd kū u. a. m.; GrBd 13.3 ciyōn pad abestāg gōwēd). Auch wenn pahl. dēn folglich als genereller Ausdruck weniger „(religiöse) Schau“ als vielmehr „(religiöser) Text“ bzw. „Religion“ (s. besonders den Ausdruck weh-dēn) bedeutet, so scheint vereinzelt das offenbar ältere Schaumoment mit diesem verbunden zu bleiben. So rezitiert Zaraϑuštra in Dk 7.5.2 die dēn und ruft dadurch ein Sichtbares hervor (ka Zarduxšt … dēn srūd cašm paydāg kū). Tatsächlich handelt es sich hierbei aber um ein auch im Jungavesta belegtes Ritualmodell, das Schaueffekte von Textrezitationen abhängen lässt. * Zur Bedeutung „sichtbar“ beachte GrBd  5 B 4, 21 C 9, 21 E 1 ciyōn pad cašm-dīd paydāg kū; KN ēn rōšn paydāg. Cantera (2013 a , S. 131) nimmt die Formel pad dēn paydāg hingegen als Beweis, dass dēn noch im Pahlavi „the original meaning ‚Vision‘ “ besitze. ** Zu den gōw-/guft-Formeln differenziert Cantera (i. E). 190 In Y 49.6 scheint daēnā allerdings schon ein Sprachliches zu sein: frō. vā ̊. [fra]ēšiiā. mazdā. aṣ̌ə mcā. mrūitē. / yā. və̄. xratə̄uš. xšmākahiiā. ā.manaŋhā. / ərəš. vīcidiiāi. yaϑā. ī. srāuuaiiaēma. / tąm. daēnąm. yā. xšmāuuatō. ahurā. „I urge You, O Wise One, and Truth, to tell (us) / which (are) the passions of Your intellect, of Yours, / so that (we) may discern plainly how we might make heard / that religion which is (that) of One such as You, O Ahura“ (Humbach 1991, I, S. 181). Im Jungavesta wird die daēnā sowohl gezeigt wie (verbal) gelehrt: s. Y 57.23 daēnō.dis- „der die daēnā zeigt“, vgl. V 18.9 aγa. daēna. disiiāṯ.; aber Y 19.17, Yt 13.155 daēnō.sac- „der die daēnā lehrt“. 191 Cantera 2013 a , S.  129 f.

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Die daēnā-Frage

a) daēnā als Ermöglichung der Schau

+ uruuan

b) daēnā als Schau c) daēnā als Schauinhalt > Konvertierung der daēnā in Text Canteras Arbeit stellt mit diesen semantischen (und auch funktionalen) Bestimmungen von daēnā den Endpunkt einer generellen Tendenz des 20. Jh. dar, sowohl die etymologische wie auch die semantische Frage von daēnā zu vereinfachen. Alle daēnā-Belege werden zu einer Wurzel (*dhay 1- oder *dhay 2-) gestellt und – im Falle eines Ausgangs von dī- „sehen“ – eine semantische Entwicklung des Wortes nur im Rahmen seiner Deutung der Ritualgeschehnisse zugelassen (Transformation: Vision > Religionstext). Bekannt ist indes, dass das av. (nur jav.?) daēnā- wie auch pahl. dēn einerseits einen eher allgemeinen Charakter („Religion“ < „Vision“), andererseits aber einen speziellen Charakter aufweisen kann (Bezeichnung/Name einer himmlischen Frau im eschatologischen Zusammenhang). Die Sachlage wird noch dadurch verkompliziert, dass a) auch die Belege des allgemeineren Charakters wiederum in zwei Gruppen zu zerfallen scheinen, und b) im Jungavesta zudem eine Personalisierung der „mazdayasnischen daēnā“ begegnet (daēnaiiā .̊ vaŋhuiiā .̊ māzdaiiasnōiš.192). Während Geldner (s. AiW 665) die beiden allgemeineren Charaktere zusammenfasste (und auch etymologisch zusammenschloss [zu dī„schauen“]), so ließ Bartholomae wiederum die Etymologie(n) offen und trennte die Belege in zwei Lemmata193: 1daēnā- „Religion“ (AiW 662–665) und 2daēnā„inneres Wesen, geistiges Ich, Individualität“ (AiW 666–667). Letztere Bedeutung glaubte er in einer Vielzahl altavestischer Belege auffinden zu können, der er auch den speziellen Charakter der daēnā als Mädchen integrierte. Nach dieser Analyse ergibt sich folgende (wohlproportionierte: 1daēnā- „Religion“ : 1daēnā- als Gottheit ≈ 2daēnā- „inneres Wesen“ : 2daēnā- als Mädchen) Aufteilung der Belege:194 1daēnā-

Sg. Aav. + Jav. (oft mit Epitheta)

„inneres Wesen, geistiges Ich, Individualität“ 1daēnā- als Gottheit 2 daēnā- als Mädchen Sg. Sg.194 + Pl. Sg.

„Religion“

Jav.

2 daēnā-

Aav. + Jav.

Jav.

192 Nach Cantera (2013 a , S. 91) ist die Figur zu verstehen als „of the good Vision obtained in the sacrifice to Mazdā“. 193 Gegen Bartholomaes Trennung der Belege s. bereits Nyberg 1938, S. 114. 194 Im Jungavesta ist der Singular fast ausschließlich verwendet, nur Yt 13.74 hat daēnā ̊. saošiiaṇtąm., was jedoch vermutlich Y 34.13 daēnā ̊. saošiiaṇtąm. abkünftig ist.

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III Daēnā, Xratu und das Moment des Schauens

Bartholomaes Aufteilung war darum notwendig, weil er das Ansetzen einer ursprünglichen Bedeutung „Religion“ – aus welchen Gründen auch immer – auch für das Altavesta postulierte. Jedoch ließ sich für das Altavesta keine einheitliche Bedeutung „Religion“ durchhalten, weil eine Reihe von altavestischen Stellen daēnā- (alle zu AiW 2 daēnā-) im Plural führt (Y 34.13, 39.2, 45.2; Akk. Y 31.11, 33.13, 46.6, 49.9; Instr. Y 53.5; Dat. Y 40.1). Der Vergleich der alt- und jungavestischen Stellen zeigt, dass es zwischen Alt- und Jungavesta zu einem Prozess der ‚Singularisierung‘ von daēnā- und – soweit Bartholomaes semantische Zuteilung der Belege Vertrauen geschenkt werden darf – zu einer Bevorzugung von 1daēnā- im Jungavesta gekommen ist (während das Alt­ avesta 2 daēnā- bevorzugte). Der Prozess reflektiert also eine Individualisierung bzw. Personalisierung des Begriffs,195 wie er z. B. auch von den Aməṣ̌a Spəṇtas bekannt ist, bzw. eine Stärkung personaler Momente. Dabei scheinen sich die Entwicklungswege der beiden angesetzten Bedeutungen überlagert zu haben. Während aav. vaŋhu- daēnā- vermutlich die Basis für jav. (vaŋhu) māzdaiiasnīdaēnā- ist, so scheint Y 53.1–3(4), an welcher Stelle die vaŋhu- daēnā- besonders hervortritt, durch die Tatsache der dort angespielten Vereinigung der daēnā mit uruuan eher auf das spätere eschatologische „Mädchen“ zu weisen. Die Aufschlüsselung der Belege bei Bartholomae zeigt, dass beide personalisierten Daēnās (die Göttin und das Mädchen) Erscheinungen des Jungavesta sind (mit gewissen Vorbildungen im Altavesta). In Hinsicht auf die allgemeinen Begriffe („Religion“ und „Inneres Selbst“) kann Canteras Theorie den der „Religion“ als historisch sekundär erklären. Der eigentliche Stoß von Canteras Theorie trifft damit also weniger den (ja zumindest sekundär fortbestehenden) 195 Gemäß Yt 17.16 ist sie als ‚Mazdayasnische Daēnā‘ die Tochter des Ahura Mazdā und der Ārmaiti. Als „Jungfrau (= ,Mädchen‘) der Guten Taten“ (Sundermann 1992; Reck 2003; Colpe 2003 a ; Hintze 2016; zu sogd. γw γypδ ʾkrtyh [vgl. HN 2.9 hauua. daēna. → ān ī xwēš dēn kunišn; Y 26.6, 45.2, 48.4, 51.21 daēnā- → dēn [kunišn]; MX 2.125 ān ī xwēš nēk-ēn kunišn; AWN 4 xwēš dēn ud ān ī xwēš kunišn] s. Henning 1945, S. 476 f.; Widengren 1983, S. 69 f.), deren Figur bzw. Idee sich auch im Manichäismus und Sufismus nachweisen lässt, wird sie zur Totenseele (av. uruuan- m.; pahl. ruwan) in ein Spiegelverhältnis gesetzt (sie repräsentiert die Taten/Verdienste bzw. das „Selbst“ [HN 2.11 xᵛaepaiϑe.tanuuō.]; zur zoroastrischen Interpretation der daēnā s. Y 26.6, 45.2, 48.4, 51.21 daēnā- → dēn [kunišn]; HN 2.9 hauua daēna → ān ī xwēš dēn [kunišn ī xwēš]), das aus einer Geschlechterdifferenz seine Innigkeit bezieht (die Totenseelen der Frauen werden nicht thematisiert). Die Totenseele wird – und das hat eine auffällige Ähnlichkeit mit der Figur der Beatrice, die den Dichter durch das Paradies führt – von der als ein ideales „Mädchen“ beschriebenen Daēnā (HN 2.11) in das Paradies (das Bild der guten Daēnā teilt Züge des Bildes der Göttinnen Arəduuī Anāhitā [s. Yt 5.126–129] und Aṣ̌i [s. Yt 17.23]), bzw. im Falle böser Seelen in die Hölle geleitet (vgl. KSM 29 [zur Seelenreise des Kirdīr s. Gignoux 1984, 1989; s. a. Gignoux 1981, 1987]; vgl. auch AWN 4.11; MX 2.125; WZ 31.5). Im letzteren Fall erscheint sie nach HN 2.36 als duždaēnā bzw. als jahikā- (der Beschreibung in AWN 17 liegt jene der Todesdämonin Nasu in V 7.2 zugrunde), die wiederum in Gegensatz zu H 2.18 nāirikā- aṣ̌aonī- steht.

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Die daēnā-Frage

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Religions-Begriff, als vielmehr den des „inneren Wesens, geistiges Ichs, Individualität“, oder, wie Cantera sagt, den des „individual religious consciousness“. Es ist Bartholomaes 2 daēnā-Begriff, der vor allem – auch wenn AiW 662 neben Y 44.10 + 11 die (für Canteras Theorie so wichtigen) Stellen Y 53.1 (wegen vohu) + Y 53.2 1daēnā- zuordnet – von der Visions-Theorie in Frage gestellt wird. Canteras Theorie ist durch die starke Einführung des Visions-Begriffes also eine Auflösung der älteren daēnā-Bestimmung als „the individual religious consciousness“ und zugleich der Versuch, die einst darunter versammelten Bele­ge sämtlich dem Begriff „religion“ zu vermitteln. Der Vorteil der neuen, das Schau-Moment in den Vordergrund rückenden Perspektive auf den daēnā-Begriff liegt darin, dass der Begriff sowohl eine große innere Konsistenz, als auch eine Flexibilität gewinnt, die es ihm erlaubt, bestimmte textliche bzw. historische Spezifika erklären zu können, ohne eine primäre etymologische Identität preisgeben zu müssen.196 Der Nachteil von Canteras Theorie liegt in der starken semantischen und funktionalen Belastung des daēnā-Begriffs und in der (jedoch zu überwindenden) Schwierigkeit, die besonders in der Pahlavi- Literatur begegnenden Begriffsunterschiede historisch überzeugend herleiten zu können.197 Tatsächlich hängt Canteras Theorie ganz wesentlich an der etymologischen Frage von daēnā. Bekanntlich ist av. daēnā- einer der meistdiskutierten zoroastrischen Termini.198 Gewidmet sind ihm etymologische und/oder religionshistorische Studien.199 In der etymologischen Analyse wird bevorzugt dī- „schauen“ (*daiH1)200 als Wortbasis vorgeschlagen: Für (vollstufiges) daēnā- wurde – unter Beachtung der dreisilbigen Messung von daēnā- in den Gāϑās – im späteren 196 Neben dem ästhetisch-strategischen Argument der einheitlichen Bestimmung von daēnā mag im Hintergrund der Theorie schließlich stehen, dass es die Auffassung von daēnā als „Vision“ erlaubt, die Figur des Zaraϑuštra denkbar weit von den monotheistischen Prophetenfiguren zu distanzieren und sie vielmehr den visionären Sängern des Veda anzugleichen. 197 Während Canteras Studie den Religionsbegriff aus dem Visionsbegriff herleiten kann, scheint mir die historische Rekonstruktion eines Begriffs vom transzendenten Ich (= dēn) in der eschatologischen Pahlavi-Literatur eine zukünftige Forschungsaufgabe zu sein (die Fragen lauten: a) Warum erscheint die ‚Vision‘ der Dēn als Spiegel der Seele?, und b) Warum spiegeln sich in ihr die „Taten“?), ebenso wie die Frage, warum sich dieser transzendente Ich-Begriff offenbar nicht zu einem des innerweltlichen „Gewissens“ fortentwickelt hat (ein Versuch G. König [i. E. (a)]. 198 Lankarany 1985; Shaki 1994 und Rudolph 1970, S. 308 f., Fn. 193, mit der Literatur des 20. Jh. 199 Molé 1960 b; Widengren 1983; Shaki 1994; Lankarany 1985, S. 22 ff., und einige entwicklungsgeschichtliche Arbeiten (Sundermann 1992; s. a. Reck 2003; Colpe 2003 a ; H.-P. Schmidt 1975; zur Kritik Schmidts s. Ognibénine 1980). Zu den bis dahin vorgebrachten verschiedenen etymologischen Vorschlägen s. bei H.-P. Schmidt 1975, S. 163–167. 200 Zur Wurzel s. AiW 724 f.; EWA I, S. 777 f.; Cheung 2007, S. 48; LIV  141 f.; Pokorny 1959, S. 243.

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III Daēnā, Xratu und das Moment des Schauens

20. Jh. eine Entwicklung daēnā- < *dai ə̯ nā- < *dhai H ̯ anā- angesetzt.201 Semantisch glaubt man innerhalb des Avestischen einen Wandel von „Anschauung“ > „religiöse Anschauung“ > „Religion“202, bzw., wie oben dargestellt, von „Vision“ > „religiöser Text; Religion“ annehmen zu können. Die Etymologie bindet daēnā- in Wort und Konzept folglich eng an ai. dhī -́ f. „Wahrnehmung, Vision, Gedanke, Preislied“ (siehe EWA I, S. 793203), dessen Bedeutungen einen Hinweis auf den Zusammenhang von Gesehenem und Sprachlichem geben: das in der Vision Geschaute wird im (rituellen) Lied verbalisiert.204 In jüngerer Zeit sind gegen diese i. d. R. akzeptierte Etymologie erneut Bedenken vorgebracht worden: Pirart205 … has given up the usual etymological connection with dī, Ved. dhī, and called back to life, on the basis of an impressive collection of common formulas, the old connection206 with Ved. dhénā-207. 201 Narten 1986 b, S. 263; Hoffmann/Forssman 1996, S. 63. 202 Siehe Hoffmann/Forssman 1996, S. 121. 203 Nach Grassmann (1873, S. 684) auch „Weisheit, Einsicht“, im Plural „als Gottheiten ́ aufgefasst“; vgl. auch die Wörter dhīti-, dhī ra-. Zum Konzept s. Gonda 1963; zur Kraft des Wortes im Veda s. hingegen Renou 1955. 204 Aav. daēnā- steht sowohl mit Begriffen/Verben des Nährens wie des Sehens zusammen. Y 44.10 bezeichnet diejenige daēnā als die „beste“, die zwar einerseits „die Herden nährt“ (gaēϑā. frādōiṯ.), andererseits aber mit dem Sehen verbunden ist, sowohl in einer figura etymologica (daēnąm. … ərəš. daidiiaṯ.), als auch begrifflich mit cisti- „Einsicht“. In Y 33.13 gelten die daēnās als etwas Zeigbares: frō. … aṣ̌ā . daēnā ̊. [fra]daxšaiiā. „Mache kund durch aṣ̌a die daēnās!“ Zu daēnā im Zusammenhang mit den „(rituellen) Woŕ ten und Taten“ s. a. Y 53.1 daēnaiiā ̊. vaŋhuiiā ̊. uxδā. š iiaoϑanācā. „die (rituellen) Worte und Taten der Guten daēnā“; vgl. Y 51.13 tā. drəguuatō. marədaitī. daēnā. ərəzaoš. ́ haiϑīm. / yehiiā. uruuā. xroadaitī. cinuuatō. pərətā ̊. ākā ̊. / x vāiš. š iiaoϑanāiš. hizuuascā. aṣ̌ahiiā. nąsuuā ̊. paϑō. „Deswegen verfehlt des Trughaften daēnā des rechten Wahrheit, / erzittert seine Seele angesichts der Cinvat-Brücke, / durch seine und der Zunge Taten abgekommen vom Weg des aṣ̌a.“ 205 Pirart 2012, S. 129 ff.; vgl. Molé 1960 b, S.  182 ff. 206 Siehe z. B. Rudolph 1970, S. 308 f., Fn. 193. 207 dhénā- „Milchstrom, nährender Strom, Strom der Rede“ (EWA I, S. 797; Grassmann 1873, S. 695); nach Rudolph (1970, S. 308, Fn. 193 [Referat Molés]) „Gesang, Gebet; Akt der Anbetung“. Das Wort gehört etymologisch zur Wurzel dā(y)-. Ein Ausgang von dā(y)- „hegen und pflegen; nähren“ (zur Wurzel s. AiW 724; EWA I, S. 776) auch im Falle von av. daēnā- wurde sporadisch früher (so Widengren 1983, S. 70–76) schon in Erwägung gezogen*. Die Beleglage von dā(y)- im Avestischen ist jedoch eher schwach. AiW stellt folgende, nur altavestische Wörter hierzu: Y 29.7 dāiiāṯ. (jedoch wohl eher zu dā- „setzen“; s. Humbach 1991, II, S. 40, mit Lit.; TVA II, S. 258); eventuell das Kompositumsvorderglied vīdaṯ° in vīdaṯ-gu- (EN Yt 13.127), vgl. auch EN Yt 13.128 vīdaṯ-x varənah- (vermutlich zu vid-, s. Mayrhofer 1979, Nr. 364–365; vgl. ap. Vi ndafarnah-). Lediglich in Y 33.3 vī-dąs scheint die angesetzte Bedeutung einigen Autoren akzeptabel (vīdąs. … gauuōi.), und Humbach (1991, II, S. 94) fügt zwei weitere mit vī präfigierte Verben dem hinzu (Y 51.6 vīdāitī., Y 53.4 vīdāṯ.), jedoch werden alle drei Belege in TVA II als Aorist zu vid- „servir“ (= ai. vidh-) gestellt. Damit scheint nur das Hinterglied °dāiiah- (= ai. °dhāyas-) (s. AiW 737), das in zwei aav. Belegen

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Modifikatio

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Cantera 2013208 sucht im Rückgriff auf eine von Narten/Hoffmann abweichende Etymologie (*dhaHi a̯ nā- statt *dhai H ̯ anā-) die dī-Etymologie indes mit einer Modifikation aufrechtzuerhalten: He [= Pirart, GK] is right in pointing out that the reconstructed group -ai a̯ nV( Religionstext) und bei Aufrechterhaltung der ‚Schau‘ als Erkenntnisinstrument ein terminologisches Defizit einstellte. Dieses Defizit wurde seit dem Jungavesta mit Hilfe des Terminus xratu (> xrad) geschlossen. Es stellt sich freilich die Frage, wie diese Schließung möglich war, zeigt doch die große Mehrzahl der xratu-Belege im (Alt-)Avesta, dass xratu ein mit der Sprache und nicht mit der Schau operierendes Vermögen war. Entweder muss also ein altes, im Avesta jedoch (noch weitgehend) verdecktes Schau-Moment wieder gestärkt worden sein,345 oder aber dieses Schau-Moment stellt eine gewisse Anlagerung am xratu-Begriff dar. Sodann fragt es sich, inwieweit dieser veränderte Einsatz von xratu/xrad den alten daēnā-Begriff tatsächlich ersetzen konnte. Cantera hat auf die innere Zusammengehörigkeit der verschiedenen daēnā-Aspekte nachdrücklich hingewiesen. Zu vermuten ist, dass jene in den Gāϑās herrschende enge Verzahnung der Schau-Aspekte aufgelöst wurde, und sich diese zu einander isolierten, teilweise 343 Verwandt sind damit die (für das Mikro-Makro-Denken wichtigen) Stellen GrBd 28.15 ōwōn ciyōn andar gētīg xwarrah ī dēn ī mazdēsnān kustīg homānāg ī star-pēsīd ī mēnōgān-tāšīd; Dd 36.100 xwarrah ī dēn ī mēnōg pad ān ī rōšn kirb asāmānīhā hampērāmōn ī āsmān parwandīhēd. 344 Vgl. GrBd 6 J 1, 28.15 vom xwarrah ī wehdēn. 345 Zur Bedeutung der Vision im Veda s. Gonda 1963.

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III Daēnā, Xratu und das Moment des Schauens

den Bezug auf ‚Schau‘ verlierenden Elementen entwickelten (genau das scheint im Jungavesta stattzufinden [siehe oben S. 99]). In der historischen Dauer dürfte sich also folgendes zugetragen haben: Zwar blieb das Element der visionären Gottesschau erhalten, doch löste sich dieses Element vom Ritualgeschehen (siehe oben S. 90). Im Gegenzug wurde das Ritualgeschehen i. d. R. nicht länger als ein Prozess der Gottes­schau aufgefasst (Ausnahmen stellen MX 1 und das AWN dar).

Der schauende xrad in Texten der Pahlavi-Literatur In der Pahlavi-Literatur hat der Begriff dēn seine epistemologische Funktion schließlich eingebüßt. Mit dem Begriff dēn beziehen sich die Pahlavi-Werke offenbar auf die Pahlavi-Übersetzung des Avesta bzw. auf die theologische Literatur älterer Zeit (vermutlich der Sasanidenperiode und frühislamischen Zeit). Dēn ist nicht mehr – wie es einmal daēnā war – die visionäre Ermöglichungsform des Erwerbs göttlichen Wissens, sondern bereits dessen textliche Vermittlungsweise. In Dd 38.14–15 (s. o.) deutete sich jedoch an, dass die im Avesta wesentlich auf daēnā aufruhende visionäre Epistemologie zwar überlebt hat, jedoch auf einen anderen Begriff übertragen wurde: xrad. Tatsächlich existieren einige wenige, jedoch bedeutende theologische Traktate, vor allem das Dādestān ī dēnīg (spätes 9. Jh.), die die Schaufunktion des xrad entfalten.

Die Schau des Transzendenten durch den ahlaw Im Dādestān ī dēnīg finden sich verschiedene Kapitel, die Darstellungen einer mystischen Epistemologie sind,346 und deren Schlüsselbegriff xrad lautet. Dd 30 Dd 30.4 ff. ist in unserem Zusammenhang von Interesse, als die Passage die Schau in und zwischen den ontologischen Sphären behandelt. Es ist offenbar besonders das optisch-visionäre Wahrnehmungsvermögen, das die Grenze zu überschreiten vermag: Dd 30.4 ohrmazd ī weh-dahagān347 dādār andar-iz mēnōgān mēnōg. u-š mēnōgān-iz wēnišn ōh dīd ī mēnōgān abar gētīgān paydāg. „Ohrmazd, der Schöpfer guter Geschöpfe, ist das mēnōg-Wesen unter den mēnōg-Wesen schlechthin. Und seine Schau durch die mēnōg-Wesen entspricht dem Blick auf die mēnōg-Wesen, er bei den irdischen Wesen manifest ist.“ 346 Bei Jaafari-Dehaghi (1998, Fn. zu Dd 36.97 bzw. 18.5) heißt es bezüglich dieser Passagen: „There are likely allusions to Mysticism; a probable Zoroastrian transmission into Islam or vice versa“. 347 Vgl. Dd 30.17 hudāhagān.

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Der schauende xrad in Texten der Pahlavi-Literatur

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Dd 30.5 bē ān ī ka pad +wuzurg-handēšīh/xwašīh ī dādār mēnōgān gētīgīg-wēnišnīhā paymōzēnd ayāb ō gētīgān mēnōg-sōhišnīg-wēnišn abyōzēnd enyā axw pad gētīg sōhišn mēnōgān dīd pad ān hangōšīdag tuwān ciyōn ka tanīhā wēnēnd kē-š ruwān andar ayāb ka ātaxš wēnēnd kē-š wahrām andar ayāb āb wēnēnd kē-š xwēš mēnōg andar ast. „Aber im Falle, dass sich die mēnōg-Wesen durch den großen Ratschluss/ Wunsch des Schöpfers irdisch sichtbar gestalten bzw. anderweitig dem mēnōgSchauen der Irdischen verbinden, vermag der Geist (axw) durch die irdischen Sinne die mēnōg-Wesen zu sehen, ähnlich wie wenn man Körper sieht (und darin die Seelen ), oder wenn man das Feuer sieht (und darin den Wahrām 348), oder wenn man das Wasser sieht (und darin das eigene mēnōg349 ).“ Dd 30.6 bē pad ān handēmānīh ohrmazd ān ruwān wēnēd ēwar cē ohrmazd wispān wēnēd. „Aber in der Präsenz des Ohrmazd sieht die Seele exakt, was Ohrmazd alles sieht.“ Dd 30.7 ān-iz druz ruwān cand-iš az ān ī ohrmazd andar mēnōgīg-sōhišn abyōzīhēd pad nimūdan ī az ān ī ohrmazd urwāhmanīhēd. „Selbst die Seele der Druz (?350), soweit sie von Ohrmazd mit den mēnōg-Sinnen verbunden ist, wird durch das Zeigen des von Ohrmazd Herstammenden erfreut.“

Der Text scheint folgendes zu besagen: Ein „Schauen“ (wēnišn) innerhalb der (gestaffelten) Sphäre des (als irdischer Spiegel gedachten) mēnōg scheint gewöhnlich intellektueller Natur zu sein (so, wie die Götter von den Menschen gewöhnlich nur intellektuell ‚gesehen‘ werden können). Unter bestimmten Umständen jedoch ist eine Schau zwischen den Sphären (eine Schau des mēnōg durch das gētīg) möglich. Diese Schau beruht darauf, dass a) eine Verbindung (abyōz-) zwischen den mēnōg-Objekten und den materiellen Sinnen – bzw. der auf das mēnōg ausgerichteten Sensibilität (mēnōg-sōhišnīg-wēnišn) – hergestellt, b) ein axw genanntes Geistvermögen an diesem Prozess beteiligt wird. Beides scheint zusammen zu bewirken, dass die mēnōg-Objekte in den gētīg-Objekten erscheinen und wahrgenommen werden. Eine zweite Art des Schauens stellt sich ein, wenn eine seelische Wesenheit „in die Präsenz“ (handēmānīh) der Gottheit gerät. Auch hier findet ein Akt des Verbindens (abyōz-) statt, der offenbar die (passive) Gottesschau in eine (aktive) Gottesschau verwandelt.

348 Vgl. dazu GrBd 26.41–43. 349 Das transzendente Korrelat des eigenen Selbst. 350 Jaafari-Dehagi (1998) verbessert in *ahlawān.

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III Daēnā, Xratu und das Moment des Schauens

Dd 18 Dieselbe Thematik wie in Dd 30.4 ff. wird auch in Dd 18 behandelt. Dd 18 modifiziert jedoch das Erkenntnissubjekt in der Weise, dass dieses – als ruwān – nun bereits als Teil der mēnōg-Sphäre erscheint.351 Die Schau Gottes wird in Dd 18.3 diesem ruwān durch das xrad-Vermögen eröffnet. Die Betätigung dieses Vermögens ist also gleichsam die Explikation des Ausdrucks pad handēmānīh in Dd 30.6: Dd 18.1 18-om pursišn ān pursīd kū ruwān ī ahlawān ud ruwān ī druwandān ka be ō mēnōgān šawēnd +ēg-išān ohrmazd ud ahreman be abāyēd dīd ayāb nē? „18. Frage. Das Gefragte: Wenn die Seelen der Gerechten und die Seelen der Trughaften zu den mēnōg-Wesen gelangen, sehen sie dann notwendig Ohrmazd bzw. Ahreman oder nicht?“ Dd 18.2 passox ēd kū ahreman rāy guft ēstēd kū-š gētīg nēst „Antwort: Bezüglich Ahreman wird behauptet, dass er nicht materiell existiert.“ Dd 18.3 ohrmazd-iz andar mēnōgān mēnōg pad ān ī gētīgīg ud ān-iz ī mēnōgīg šnāyišn. kirb wēnišnīg spurr nē bē pad xrad ud zōr ī hangōšīdag wēnīhēd „Ohrmazd ist das mēnōg-Wesen unter mēnōg-Wesen schlechthin, und er ist zu verehren von den materiellen wie geistigen Existenzen. Gestalt ist nicht vollständig zu sehen, aber durch das xrad und ähnliche Vermögen wird sie gesehen.“ 351 Die Fähigkeit des mēnōg-wēnišnīh tritt in der Pahlavi-Literatur (bis ins 16. Jh.) besonders als Vermögen der Priester auf: Dk 3.302.4 cē ān ī mēnōg dādwar pad mēnōg-wēnišnīh ō wēnišn rōšn; Dk 4.22 (Rede Xosrōs) u-mān Ohrmazd mowbed {ān ī} ān xwānd xwānēm kē mēnōg-wēnišnīh andar amāh paydāgīhist. u-mān frāx-cārīh mēnōg-wēnišnīh gētīg-handāzag-nimāyišnīhā-iz harw 2 ēwēnag spurrīg az-išān xwāst xwāhēm „Und wir proklamieren das von den Mowbeds des Ohrmazd, die Einsicht ins mēnōg zeigten, Proklamierte. Und wir begehren das von ihnen Begehrte vollständig, die Mittel des Gedeihens den beiden Weisen der Einsicht ins mēnōg Projektion im irdischen Maßstab“ (vgl. Dd 30.13 handāzag ī gētīgīg „irdisches Äquivalent“); GrBd  0.2 (16. Jh.) yazdān-dōst hamāg-xrad ahlāyīh-warzīdār kirbag-dōst ī yazdān-šnās ī mēnōī-wēn ī wehān-passenddastūr „des Freundes der Götter, gänzlich Verstandeskräftigen, Praktizierers der Wahrheit, Freundes des Verdienstes, des Kenners der Götter, des ins Geistige Einsichtigen, des von den Guten Geliebten, den Dastūr“; K 43 3. Kol. (1594) mēnōg-wēn dastwar Anōšagruwān Rostām. Vergleichbar ist die Zuschreibung des āsn-xrad an den dēn-pēšōbāy, s. Dd 0.23 ōh-iz nūn jud az cihrag dānišn baxšāyišnīh ī weh mēnōgān (ud) mānsar wizārišnī(g) ud nigēzišn ī dēn rōšntar nimāyišn ī abar dēnīg warzišn az dō bun abērtar az-iš paydāgīhēd: ēk az mādayān nimūdārīh ī +āsn-xrad ī dēn-pēšōbāy ud ēk mādayāntar az nihādag ī hufraward pēšēnīgān ī pēšōbāyān ī meh pōryōtkešān „Nun wird, jenseits von natürlichem (?) Wissen den Gaben der guten mēnōg-Wesen, die Interpretation des mānsr, die Darstellung der dēn und die erleuchtete Darstellung dessen, was die religiöse Praxis betrifft, vor allem aus zwei Quellen manifest: Eine ist die wesentliche nimūdārīh durch den āsn-xrad des dēn-pēšōbāy. Eine ist die noch wesentlichere aus der nihādag seitens der seligen älteren pēšōbāyān, die großen pōryōtkešān.“

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Der schauende xrad in Texten der Pahlavi-Literatur

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Dd 18.4–5 gibt nun den exemplarischen Fall einer Begegnung von ruwān und Gottheit. Der Text beschreibt die Ankunft des Zardušt im Himmel. Zardušt wird zu folgendem von Ohrmazd aufgefordert: Dd 18.4 dast ī +mard ī ašō gīr cē-m pad tō xwēš dēn hucašm gīrišnīh. and kū gīrē wēnē ān kē az ān ī man xrad ud xwarrah mehmānīh wēš abar. „Erfasse die Hand des seligen Mannes! Denn mein glückliches Erfassen durch die Dir eigene dēn.352 In dem Maße, wie Du erfasst, siehst Du, was das Einwohnen353 meines xrad und xwarrah354 übersteigt.“ Dd 18.5 ruwān ī ahlawān ud druwandān pad ān ī mēnōgīg sōhišn ān gāh wēnēnd kū Ohrmazd dīd sahēnd ēdōn-iz ān ī Ahreman +hamzamān pad ān ī xrad ī-š dādār abar barēd bārīgīhā be +šnāsēnd tā ōhrmazd ud āhreman „Die Seelen der Wahr- wie Trughaften erschauen (wēnēnd) mittels ihrer geistigen Sinnesvermögen den Ort, wo sie Ohrmazd bzw. den Ahreman zu sehen vermeinen. Durch das xrad , das der Schöpfer ihnen (den Seelen) übertrug, sehen sie exakt355 bis zu Ohrmazd bzw. Ahreman.“

Satz Dd 18.4 verweist darauf, dass u. a. das göttliche xrad (ān ī man xrad) in den Menschen „einwohnt“. Der Gedanke wird in Dd 18.5 insofern wieder aufgegriffen, als nun von einer göttlichen Übertragung (abar bar-) von xrad gesprochen wird, durch die das Erkennen Gottes erst möglich wird (vgl. Dd 18.3). Dk 3.397 (B 292.7–293.11) = 3.266 (B 213.14–14) Auch wenn es fraglich ist, ob der persische Hohepriester Manušcihr (2. Hälfte des 9. Jh.) die Theologie des ca. 50 Jahre älteren Ādurfarrbay, Autor/Editor einer Reihe von theologischen und juristischen Schriften, darunter Dk 3, in ihrer Komplexität und Modernität fortsetzt – eine Theologie, die m. E. nichts weniger 352 Dd 18.4 ist in seinen grammatikalischen Bezügen nicht eindeutig (vgl. die abweichende Übersetzung in Jaafari-Dehaghi 1998). Nach der hier gegebenen Übersetzung ist unter dēn nicht die dēn des Ohrmazd (und also nicht ein Begriff „Religion“) zu verstehen, sondern die dēn des Zardušt, die dessen ruwān erfasst. Tatsächlich spielt das Erfassen der Hand in den dēn-Bildern der Pahlavi-Quellen eine zentrale Rolle (s. AWN 4 + 5 [von verschiedenen Yazds]; Kirdīr KSM 36, KNRm 60). Eigentümlich ist nach gegebener Übersetzung jedoch, dass die dēn als mard ī ašō zu verstehen wäre. 353 Zum Konzept mehmānīh s. Kreyenbroek 2012, S. 49. Zum häufig genannten (pad) mehmānīh der Dämonen s. GrBd 33.22, Dk 5.24.17, PRDd 48.9, 29; Shaked 1967, S.  230 ff.; Gnoli 1995, S. 218. 354 Vgl. Dd 36.3 xrad ud xwarrah ī wisp-āgāh wisp-tuwān dādār „xrad und xwarrah des allwissenden und allvermögenden Schöpfers“. 355 Vgl. Dd 0.24 bārīg-wēnišnān; bārīg-saxwanīh; bārīg bezeichnet offenbar die Genauigkeit in Perzeptions- oder Kommunikationsprozessen.

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III Daēnā, Xratu und das Moment des Schauens

ist als eine Reformulierung der zoroastrischen Theologie unter der Einführung eines neoplatonischen Hypostasendenkens –, oder doch nur begrenzt an dieser partizipiert, so ist es bemerkenswert, dass sowohl das Dādestān ī dēnīg wie Dēnkard 3 xrad (bzw. dessen Spielart āsn-xrad, d. h., der nicht mit empirischen Daten arbeitende xrad) nicht nur zu einem Schlüsselbegriff der Erkenntnislehre (und auf dieser aufbauend der Ethik) erheben, sondern dessen visionäres Moment betonen. Diese „Schaukraft“ (wēnāg-nērōgīh) des āsn-xrad wird in ihren verschiedenen Graden und Funktionsweisen besonders in Dk 3.397/3.266 behandelt. Der Text führt aus, dass das Organ der „Schau“ (wēnāgīh) eben das mit wahman „Gutes Denken“356 gekoppelte āsn-xrad ist (welches Dk 3 hier und andernorts auch als gyān-cašm „Seelenauge“ bezeichnet wird), die Schau damit also bereits Konzept-Momente aufweist357, ihr Denken („Gutes Denken“) inne­ wohnt: 1 abar wēnāg-nērōgīh358 ī mardōm u-š winnārišn abzāyišn ud kāhišn ud appurd-(.) nērōgīh ud 359 ēwēnagān ī mardōm u-š padiš (ud) ēk ēk wizārišn360 az nigēz ī wehdēn. „Über die Schaukraft des Menschen und deren Funktionsweise (Zunahme und Abnahme und Abschaffung) und die Menschentypen und deren jeweilige Erklärung gemäß dem nigēz der weh-dēn.“ 2 hād nērōgīh wēnāgīh361 mardōm az āsn-xradōmandīh ān  ī 362 xwad-astīh363 gyān-cašm u-š winnārišn pad zōr 3 64 ī wahman abar 3 65 axw. ud abzāyišn abērtar az srūd-dēn-dānāgīh „Die Schaukraft des Menschen beruht auf dem Vermögen des āsn-xrad, dem ‚Seelenauge des Selbstseins‘. Ihre Funktionsweise beruht auf der Stärke366 des wahman im Sein. Und Zunahme erfolgt vor allem durch den Vortrag des theologischen Wissens (srūd-dēn-dānāgīh367),“

356 Zu xratu + vohu manah → āsn xrad + wahman siehe Fn. 277. 357 Vgl. bereits in Y 30.2 die Formulierung auuaēnatā. … manaŋhā. „Schaut … mit dem Denken!“. 358 Dk 3.266 wēnāgīh für wēnāg-nērōgīh. 359 So Dk 3.266. Dk 3.297 setzt einen Punkt. 360 Dk 3.266 wizārišn ī ēk ēk für u-š padiš (ud) ēk ēk wizārišn. 361 Dk 3.266 wēnāgīh für nērōgīh wēnāgīh. 362 Dk 3.266 āsn-xrad für ān ī. 363 Dk 3.266 xwad ast wēnāg-nērōg ī für xwad-astīh. 364 Dk 3.266 mehmānīh für zōr. 365 Dk 3.266 pad für abar. 366 Der Ausdruck zōr „Gewalt“ ist das Antonym zu stahm „Gewalttätigkeit“. In Dk 3.266 stattdessen „des Einwohnens“. 367 Vgl. av. (a-)srāuuaiiat-gāϑā → (a-)srūd-gāhān. Der in Dk 3 verwendete Ausdruck srūddēn-dānāgīh wirkt wie ein Hybrid aus dēn-dānāgīh „Kenntnis der dēn; Theologie“ und dem avestischen Kompositum („die Gāϑās rezitieren“).

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Der schauende xrad in Texten der Pahlavi-Literatur

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3 368ud kāhišn az dūrīh369 ī 370 srūd371 aziš (.) ud appurd-nērōgīh az stahmag-padišīh ī 372 akōman bawēd. (ēk hamāg-wišādag ēk xfrāx-wišād (.) ud ēk nēm-wišādag.)373 ud 374 andar ham-dar 375 kunēnd „und Abnahme erfolgt durch die Absenz dieses Vortrags, und Abschaffung erfolgt durch die Gewalttätigkeit376 des akōman. (Einer ist ‚ganz-offen‘, einer weit-offen und einer halb-offen. Und in dem gleichen Kapitel machen/erfassen sie :)“ 4 mardōm ēn-iz ēwēnag 5. ēk hamāg-wišādag377 ēk xfrāx-378wišād (.) ud ēk nēmwišād. ud ēk frāy-bast. ud ēk hamāg-bast cašm. „Die Menschen zerfallen diesbezüglich in fünf Typen: Einer ist bezüglich des Auges vollständig-offen, einer weit-offen und einer halb-offen und einer stark-geschlossen und einer vollständig-geschlossen.“ 5 ud 379 hamāg-wišādagīh ī 380 cašm az381 purr 382-mehmānīh ī 383 wahman abar 384 axw ud x sejdīh385 ī 386 akōman az andarag-axw-menišn. ud agrēyīh ī pad dēndānāgīh srūd hamīh387. ud ēn pāyag ast ī 388abardar xradīh ud 389 frazānagīh ud mēnōg-wēnišnīh-iz. „Die vollständige Öffnung des Auges rührt her von einem vollständigen Einwohnen des wahman im Sein und die Tyrannei des akōman von einem Sich-Im-Sein-Denken390. Der höchste Grad durch die Übereinstimmung mit dem Vortrag theologischen Wissens. Und diese Stufe wird erreicht in den Formen von xradīh und Weisheit sowie Transzendenzschau.“ 368 369 370 371 372 373 374 375 376 377 378 379 380 381 382 383 384 385 386 387 388 389 390

Dk 3.266 fügt ein ud hamīh. Dk 3.266 judāgīh für dūrīh. Dk 3.266 Ø. Dk 3.266 srūd-dānāgīh für srūd. Dk 3.266 Ø. Dk 3.266 lässt aus: ēk hamāg-wišādag ēk frāx-wišād ud ēk nēm-wišādag. Dk 3.266 Ø. Dk 3.266 dar für ham-dar. Vgl. Dk 8.43.36 stahmag-padišīh ī dēwān. Dk 3.266 wišād für wišādag. Dk 3.297 plʾw; Dk 3.266 plʾy.̱ Dk 3.266 Ø. Dk 3.266 Ø. Dk 3.266 pad für az. Dk 3.266 spurr für purr. Dk 3.266 Ø. Dk 3.266 pad für abar. syyhyyh. Dk 3.266 wsyhkyhy. Das Wort ist offenbar terminologischer Gegensatz zu mehmānīh. Vgl. Dk 5.24.12 druz aziš sejdīh ud yazdān padiš urwāhmenīh. Dk 3.266 Ø. Dk 3.266 Ø. Dk 3.266 lässt abardar xradīh ud aus. Dk 3.266 Ø. Der auf akōman angewendete Ausdruck axw-menišn steht in Opposition zu dem auf wahman angewendeten Ausdruck axw. Er erklärt sich vermutlich im Rahmen der Theorie von einem geisterhaften, irrealen Sein des Bösen.

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6 ud391 frāy-wišādagīh ī 392 cašm pad brāh-dāštārīh ī wahman abar 393 axw394 abāg tom-abganišnīh ī akōman andarag-axw- 395menišn abzār āgāhīh pad dēn-dānāgīh srūd hamīh. ud ēn pāyag ī ast ī šnāsagīh ud abzōnīgīh ud396 pēškēdīgīh397. „Die weitgehende Öffnung des Auges rührt her von einem ‚Lichtglanz398-Erhalt‘ des wahman im Sein sowie der Abwehr der Finsternis des akōman im Sinne eines Sich-Im-Sein-Denkens. Kraftvolles Wissen durch den Vortrag theologischen Wissens. Und diese Stufe wird erreicht in den Formen von Erkenntnis und (intellektueller) Mehrung und Prophetie.“ 7 ud nēm-wišādagīh čašm abāg399 bām-dāštārīh ī 400 wahman pad axw wēš (.) sāyag-(ud)abganišnīh ī akōman andarag šādagīh axwmenišn. ud mayānag āgāhīh ī pad dēn-dānāgīh srūd hamīh bawēd ēn pāyag ast ī dānāgīh wurrōyišn āgāhīh. „Das Halbgeöffnetsein des Auges rührt her von einem ‚Lichtschein-Erhalt‘ des wahman im Sein und dem vermehrten Schattenschlag des akōman im Sinne eines Sich-Öffnens zum Seins-Denkens. Mäßiges Wissen durch den Vortrag theologischen Wissens. Und diese Stufe wird erreicht in den Formen von Wissen und Glauben und Kenntnis.“ 8 ud frāy-bastagīh ī cašm abāg402 nizār-bāmīh ī wahman abar 4 03 axw frāysāyag- (ud)abganišnīh404 ī akōman andarag axw menišn 405ud nidom āgāhīh ī pad dānāgīh srūd hamīh. ud 4 06 ēn pāyag x ast ī x 407 handēšišn wizīhišn / ud cēhišn parmā(yiš)n408 mihōxt409 391 392 393 394

Dk 3.266 Ø. Dk 3.266 Ø. Dk 3.266 pad für abar. Dk 3.266 fügt ein: wmʾn' (für wahman?) miyānagīh/x mehmānīh (Text: mʾhnkyh) pad dēn-dānāgīh srūd. 395 Dk 3.266 lässt aus: menišn abzār āgāhīh pad dēn-dānāgīh srūd hamīh. 396 Dk 3.266 Ø. 397 Dk 3.266 kytʾnykyh. 398 Vgl. zu der hier beginnenden Kette von Licht-Ausdrücken den Dēnkard-Bericht über die Redaktion des Dēnkard (Dk 3.420). 399 Dk 3.266 pad für abāg. 400 Dk 3.266 Ø. 401 Dk 3.266 (B 214.8–10) fügt ein: W nytwmyh pṯ' dyn' dʾnʾkyh slwt' LWTH̱ sʾyk wyš LMYTWNšnyh Y ʾkwmn' ʾndlg ʾhw’mynšn'. ẔNH̱ pʾyk AYt Y dʾnʾkyh ʾkʾsyh. 402 Dk 3.266 pad für abāg. 403 Dk 3.266 pad für abar. 404 Dk 3.266 gibt für frāy-sāyag-(ud)abganišnīh: widangīh (wtngyh) pad dēndānāgīh srūd abāg stahmagīh ī. 405 Dk 3.266 lässt aus: ud nidom āgāhīh ī pad dānāgīh srūd hamīh. 406 Dk 3.266 Ø. 407 Text astīh. 408 pʾlmʾdšn'; Dk 3.266 plmʾn'/parmān. 409 mytwht'. Dk 3.266 gibt für astīh handēšišn wizīhišn / ud cēhišn parmāyišn mihōxt: ast ī cēhišn ud handēšišn framān ud mihōxt.

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„Und die starke Geschlossenheit des Auges hat einen schwachen Lichtschein des wahman im Sein und den weitgehenden Schattenschlag des akōman im Sinne eines Sich-Im-Sein-Denkens. Niedriges Wissen durch den Vortrag theologischen Wissens. Und diese Stufe wird erreicht in den Formen von Reflexion und Hochmut410 und Falschheit.“ 9 ud hamāg-bastagīh ī cašm az411 hanjaftagīh ī wahman bām-iz az axw ud 412 škeft īdagīh413 ī akōman andarag-axw- (ud)-menišn bēgānagīh ī dēn-dānāgīh srūd aziš 414. ud ēn pāyag x ast ī x 415 zad-wīrīh ud saxt-ōšīh ud tuhīgīh xradīh ud candīdag-bōyīh.416 „Und die vollkommene Geschlossenheit des Auges rührt her von einem Beendet­ sein des wahman wie auch des Lichtscheins aus dem Sein und dem heftigen Einfallen des akōman im Sinne eines Sich-Im-Sein-Denkens und dem daraus resultierenden Fremdsein bezüglich des Vortrags theologischen Wissens. Und diese Stufe wird erreicht in den Formen der Zerstörung von Erinnerung und des verstockten417 Bewusstseins418 und der Leere des xrad und der verwirrten Perzeption.“

Zur Übertragung von xrad Xrad wird Zardušt bei der Jenseitsreise übertragen, wodurch er „sieht“ Die in Dd 18 und 30 beschriebene epistemologisch-transzendente Struktur erfährt an einigen Stellen der Pahlavi-Literatur weitere mythisch-mystische Entfaltung. In den Passagen Dd 36.30 und Dk 8.14 wird das „übertragene“ (frāz burd) xrad qualifiziert als xrad ī harwisp-āgāhīh. Das Adjektiv „allwissend“, das sonst ein Epitheton Ohrmazds ist, zeigt an, dass das xrad des Zardušt transzendiert wurde:

410 Mit parmā(yiš)n vgl. tarmānīh (av. tarə-manah-); zur Bedeutung vgl. av. pairimaiti(AiW 866). 411 Dk 3.266 pad für az. 412 Dk 3.266 az für ud. 413 Dk 3.266 gibt wʾlytkyh. 414 Dk 3.266 gibt für bēgānagīh ī dēn-dānāgīh srūd aziš: a-rasišnīh ī fradom-iz dēndānāgīh awiš. 415 Text astīh. 416 Dk 3.266 gibt für astīh zad-wīrīh ud -ōšīh ud tuhīgīh-xradīh ud candīdag bōyīh: ī xrad-(wi)stardīh guxrūn-ōšīh ud a-dānīh. 417 Vgl. im Neupersischen die zahlreichen saxt-Komposita, die meist positive, teilweise aber auch negative Konnotationen haben. 418 Vgl. in Dk 3.266 guxrūn-ōšīh (vgl. damit Dk 9.53.38 ōš guxrūn und insbesondere Dk 3.116 ōš guxrūn ud xrad appurd). Das Wort ⟨gwhlwn'⟩ (s. noch Dk 7.7.36, Dk 9.38.11, 45.6–7) ist Pahlavi-Übersetzungswort, siehe av. vīxrūmant- (AiW 1436f.), xrūta(AiW 539) und verschiedene andere xrū-/xruu(i)-Wörter, hat also eine Bedeutung des Blutig-Grausigen, Verwundeten (mehrfach erläutert mit rēš kardan).

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Dd 36.30 ka-š az Ohrmazd +pursīd 419 abar mad xrad ī harwisp-āgāhīh u-š dīd ōy ī ahōš afrazand ōy-iz ōšōmand frazandōmand „Als er (der ahlaw Zardušt Spitāman) Ohrmazd gefragt hatte, überkam der allwissende xrad (xrad ī harwisp-āgāhīh). Und er sah den Unsterblichen kinderlos, und den Sterblichen mit Kindern.“ Dk 8.14.7 ud frāz burdan ī abar Zarduxšt xrad ī harwisp-āgāhīh ud dīd ī Zarduxšt pad ān xrad būd bawēd hamē cand-aš (ī) drang ī padiš būd ī ān xrad „Und das Übertragen des allwissenden xrad auf Zarduxšt und Zarduxšts Schau des Gewesenen und Kommenden mittels jenes xrad, solange er in dem von ihm, dem xrad, Zeitraum sich befand.“

Tatsächlich begegnen in Dādestān ī dēnīg Passagen, die Gott selbst (aber nicht der Druz, s. Dd 36.4) eben dieses Vermögen des harwisp-āgāh xrad zuschreiben, so in Dd 13.3 und Dd 36.3 xrad ud xwarrah ī wisp-āgāh wisp-tuwān dādār „xrad und xwarrah des allwissenden und allvermögenden Schöpfers“, oder Dd 36.61, wo das xrad ī harwisp-āgāhīh des Ohrmazd dem waran ī a-rāh der Druz gegenübersteht. Synonym scheint dem der Ausdruck Dd 36.12 hamwisp-wēn dādār „allsehender Schöpfer“ zu sein. In GrBd 1 dürften die Ausdrücke harwisp-āgāhīh und rōšn-wēnāgīh (GrBd 1.36 [ohne Parallele in IndBd]) gleichbedeutend sein.420 Nach Dd 36.13 befähigt das xrad-Vermögen (bzw. die xrad-Vermögen) Ohrmazd zum „Sehen“ des Zukünftigen (vgl. damit Yt 19.94 ́ die Augen des Saošiiaṇt): Dd 36.13 ud spenāg-kārīhā dīd ī-š pad ān ohrmazdīg xrad ud ān ī mēnōgīg xrad andar ān ī brīnōmand zamānag ud ān ī kanāragōmand gāh ud ān ī sāmānōmand razm ud ān ī paymānag ranj ud ān ī frazāmōmand kār padīrag ī druz ī +a-dād-kōxšīdār +dādagīhā kōxšīdan „Durch seinen ohrmazdischen xrad und das mēnōgīg xrad sah er (Ohrmazd) die gedeihliche Wirkung des gegen die ungesetzlich kämpfende Druz gerichteten gesetzlichen Bekämpfens im Rahmen der endlichen Zeit und des begrenzten Raumes und der fixierten Schlacht und des vertraglich festgesetzten Kampfes und des endzeitlichen Wirkens.“

Die (āsn-)xrad-Verbindung von Gott und Mensch zum Zwecke der Gotteserkenntnis gemäß Dk 3 Dk 3, die umfangreichste Schrift des Ādurfarrbay ī Farroxzadān, Hohepriester im frühen 9. Jh., wie der erhaltenen Pahlavi-Literatur überhaupt, ist ein bis heute erst ansatzweise erschlossenes und verstandenes Werk. Die Schrift scheint eines der Frühwerke einer theologischen Strömung zu sein, die vielleicht seit der Spätantike im Iran bzw. bei den zoroastrischen Theologen vorhandene Spuren 419 J 1, J 2 , H, DF wsp; TD sp/syp; K 35 sp; Jaafari-Dehaghi (1998, S. 122) +dīd. 420 Siehe dazu Hultgård 1990, S. 188.

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Der schauende xrad in Texten der Pahlavi-Literatur

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griechischer Philosophie fortsetzt, offenbar aber wesentliche Impulse, sei es durch Entlehnung und Adaption, sei es in Form von in Religions­disputen notwendigerweise entwickeltes logisches Rüstzeug, in der frühabbasidischen Epoche erfahren hat. Auffällig an den 420 Kapiteln von Dk 3, nach dem Editions­bericht in ihrer Folge das Ergebnis eines ca. 100 Jahre später wirkenden Hohepriesters, ist das eigentümliche Wiederkehren zentraler Termini und Themen, die geordnet den Eindruck einer ontologischen Stufenfolge, also den Eindruck eines neo-platonischen Reflexes erwecken. Einer der zentralen Termini ist der des āsnxrad „eingeborenes (= ursprüngliches421) xrad“, über den sich Epistemologie und Ethik vermitteln. Mit Dādestān ī dēnīg teilt Dk 3 die Theologie des göttlichen Wunsches nach der Erkenntnis der Gottheit. Der Begriff āsn xrad „nicht mit Erfahrungsdaten operierendes xrad“ besetzt innerhalb dieser Theologie einen zentralen Ort. Wie in (dem einige Jahrzehnte jüngeren) Dādestān ī dēnīg ist dabei systematisch entscheidend, dass xrad – und hier liegt ein schon gāϑisches Erbe vor – sowohl der Gottheit wie den Menschen zukommt, und dass zwischen göttlichem und menschlichem xrad eine Verbindung hergestellt werden kann, die allein volle Erkenntnis ermöglicht. Das Kapitel Dk 3.294422 scheint zu seinen Kernaussagen zu haben, dass a) āsn-xrad ein Organ zwischen Gott und Mensch ist, und b) dieses Organ die Befriedigung des Wunsches des Gottes nach seiner Erkenntnis durch die Menschen ermöglicht: Dk 3.294.4 (B 232.12–14) ud dādār ī āsn-xrad tuxšāgōmandīh ī ō423 mardōm handarz āsn-xrad (ud) tuxšāgōmandīh pad warun abārīg āhōgān abāz āzurdan ud wizudan +rāyīhēd 424 „Der Schöpfer hat die āsn-xrad-Wirkungskraft an den Menschen geknüpft (?) (handarz); die Wirkungskraft des āsn-xrad wird durch Geilheit und andere Fehler beschädigt und vereitelt.“ Dk 3.294.2 (B 232.4–6) hād kāmag ī dādār ohrmazd pad šnāxtan ī mardōm ō ōy-iz az-iz ān ī +kē-š 425 har mardōm pad dādār šnāsīh-nērōg bahrēnēd u-š andar dēn dādār šnāxtan fradom ud pahlom handarz paydāg „Folgendes: der Wille des Schöpfers Ohrmazd, dass die Menschen ihn erkennen, und zwar durch das, wodurch jeder Mensch teilhat an der Erkenntniskraft des Schöpfers. Und in der dēn ist das Erkennen des Schöpfers als der erste und vornehmste Lehrsatz (handarz) manifest.“426 421 Dk 6.262 „Und āsn-xrad existiert im Leib eines jeden, und alles, was gewusst wird, wird durch āsn-xrad gewusst“. 422 DkM 303.20–304.16; B 232.3–18. 423 Zu pahl. ī ō s. Josephson 2012, S. 550–552. 424 lʾdypyt'. 425 ka-š. 426 Schon Y 46.18 kennt die Verbindung von šnāy- (av. xšnu-) und xrad/xratu-, wie sie in Dk oder Dd begegnet: mazdā. aṣ̌ā . xšmākəm. vārəm. xšnaošəmnō. / taṯ. mōi. xratə u ̄ š.

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III Daēnā, Xratu und das Moment des Schauens

Der sich daran anschließende Text betont die Rolle des xrad in diesem Erkenntnisprozess. Die Zitation eines älteren Kommentators innerhalb der Ausführungen rückt diese Theorie bereits in sasanidische oder frühislamische Zeit ein. Kapitel Dk 3.292427 zufolge scheint xrad (resp. āsn-xrad) eine Art Scharnier zwischen göttlicher und menschlicher Sphäre darzustellen. Es ist das Organ einer „Produktion“ (āfurišn) des Schöpfers in die Welt hinein (nämlich einer Produktion von „Wissen“ und „Gesetz“): Dk 3.292.2 (B 230.15–17)428 hād ciyōn dād bun dānāgīh dānāgīh bun āsn-xrad. āsn-xrad āfurišn ast ī dādār andar dahišnān „Denn Gesetz (dād) basiert auf Wissen, und Wissen basiert auf āsn-xrad. āsnxrad ist der Produktion des Schöpfers in den Geschöpfen.“429

Obgleich der Begriff āsna xratu seit dem Jung­avesta Teil der iranischen Epistemologie ist, so ist doch an den zitierten Passagen Dk 3 auffällig, dass er ohne seinen Gegenpart, gōšōsrūd-xrad „empirischer Verstand“, Verwendung findet,430 eine Verselbständigung, die anderen Schriften zufolge epistemologisch nicht sinnvoll ist.431 Wenn Dk 3 diese Verselbständigung bzw. die Ersetzung von xrad

427 428 429 430

431

manaŋhascā. vīciϑəm. „O Wise One, (thereby) satisfying Your will by truth. Such is the discrimination (made) by my intellect and thought“ (Humbach 1991, I, S. 173). Strunk (1975, S. 280) sieht in xratə̄uš. das Korrelat zu vārəm. Zu vedischen Belegen einer Verbindung “durch krátu … wünschen” s. Strunk 1975, S. 280. Siehe Cantera 2003 a , S. 24; Zaehner 1955, S. 174 ff. DkM 302.3–5. Zu einer abweichenden Disjunktion von xrad s. Dk 3.240 (s. B 198.13–199.3). Beides sind Entlehnung zweier jungavestischer Bildungen. Durch die Aufsplittung in āsna- xratu- (mazdaδāta-) „das eingeborene xratu (, das Mazdā erschuf)“ = pahl. āsn xrad und gaošō.srūta- xratu- (mazdaδāta-) „das durch das Ohr vernommene xratu (, das Mazdā erschuf)“ (Y 22.25 ; Y 25.6) = pahl. gōšōsrūd xrad, wird das xrad in ein Vermögen, das vor aller Erfahrung liegt, und in ein von sinnlichen Daten abhängiges xrad unterteilt. Dk 3.80.41 ud cē dānišn zāyīhēd az hamīh ī āsn xrad ud gōšōsrūd xrad āsn xrad mādag ud gōšōsrūd xrad nar ud ēd rāy cē harw dō az dādār āfurišn xwah ud brād hēnd „Denn das Wissen stammt aus der Gesamtheit von āsn xrad und gōšōsrūd xrad. Āsn xrad die Mutter und gōšōsrūd xrad der Vater, und zwar darum, weil beide vom Schöpfer als Schwester und Bruder erschaffen sind.“ Dk 6.262 u-šān ēn-iz ōwōn dāšt kū narīh ud mādagīh was ēwēnag ēn-iz narīh ud mādagīh ast āsn-xrad ud gōšosrūd-xrad cē gōšosrūd-xrad pad narīh gāh kard ēstēd ud āsn-xrad pad mādagīh gāh kard ēstēd ud āsn-xrad andar tan-ēw harw cand ast (ast), ud harw cē dānīhēd pad āsn-xrad dānīhēd ud kē gōšosrūd-xrad abar nē rasēd ēg tis-iz nē dānēd ud ka abar mad pas and cand dānīhēd pad xēm ud āsn-xrad dānīhēd ud āsn-xrad kē gōšosrūd-xrad abāg nēst ēdōn-iz ciyōn mādag kē gušn abāg nēst ud ābustan nē bawēd ud bar nē dahēd ud ān kē gōšosrūd xrad ud āsn-xrad nē bowandag ēdōn homānāg ciyōn mādag kē gušn nē padīrēd, cē mādag kē gušn nē padīrēd bar ōwōn nē dahēd ciyōn ka pad bun gušn nēst „Und man betrachtete diese wie folgt: Männlichkeit und Weiblichkeit sind von vielerlei Gestaltung. Männlichkeit und Weiblichkeit verhalten sich u. a. wie

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Der schauende xrad in Texten der Pahlavi-Literatur

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durch āsn-xrad betreibt, so mag darin ein bestimmter theologisch-philosophischer Standpunkt zum Ausdruck kommen. Für Ādurfarrbay scheint es offenbar neben einer xrad-Erkenntnis als einem Zusammenwirken von āsn- und gōšōsrūd-xrad noch eine höhere xrad-Erkenntnis zu geben, die gerade ohne Empirie auskommen muss, jene, die unmittelbar göttliches Wissen erlangt.432 Dieser Wissenserwerb vollzieht sich eben durch die an āsn-xrad – ein ontologisch vorgeordnetes Vermögen – gebundene Schaukraft (s. Dk 3.397), und diese Konzeption findet sich dann auch bei späteren Theologen (insbesondere Manušcihr), die der überkommenen zoroastrischen Terminologie stärker verhaftet bleiben und einen neo-platonischen Weltaufbau eher nicht übernehmen. In beiden Fällen, bei Ādurfarrbay wie bei Manušcihr, zeigt sich also noch āsn-xrad und gōšosrūd-xrad. Denn gōšosrūd-xrad hat in männlicher Weise ,den Platz bereitet‘, und āsn-xrad hat in weiblicher Weise ,den Platz bereitet‘. Und āsn-xrad existiert im Leib eines jeden, und alles, was gewusst wird, wird durch āsn-xrad gewusst. Doch wer nicht zu gōšosrūd-xrad gelangt, der weiß ebenfalls nichts. Und wenn er versteht, dann weiß er soviel, wie von Natur und āsn-xrad aus gewusst wird. Jedoch ist āsn-xrad, der nicht mit gōšosrūd-xrad verbunden ist, wie ein Weibchen, das nicht mit einem Männchen verbunden ist und nicht schwanger wird und ,keine Frucht gibt‘. Und wem gōšosrūd-xrad und āsn-xrad nicht als ein zusammenstimmendes (bowandag [vgl. Dk 3.80 hamīh ī.]) zukommt, der ähnelt einem Weibchen, das das Männchen nicht ,akzeptiert‘, denn ein Weibchen, das ein Männchen nicht ,akzeptiert‘, das gibt so wenig Frucht, wie wenn es grundsätzlich ohne Männchen wäre.“ Wizīrīhā ī dēn ī weh mazdēsnān 2 kē-š āsn xrad nēst u-š gōšōsrūd xrad az frazānagān dānāgān nē ašnūd estēd ēg ast nēst nē dānēd … āsn xrad abzāyišn az gōšōsrūd xrad kē-š āsn xrad ast u-š gōšōsrūd nēst āsn ī xrad be kār nē šāyēd burdan ka-š āsn xrad nēst ēg gōšōsrūd xrad abar nē bawēd „Wer āsn xrad nicht besitzt, und gōšōsrūd xrad nicht von den Weisen und Wissenden erworben hat, der weiß überhaupt nichts … āsn xrad Mehrung/Stärkung (abzāyišn) durch das gōšōsrūd xrad. Wer āsn xrad besitzt, nicht aber gōšōsrūd xrad, weiß nicht das āsn xrad zu verwenden. Wenn man kein āsn xrad besitzt, so geht gōšōsrūd xrad nicht über sich hinaus.“ GrBd 26.17 āsn xrad ud gōšōsrūd xrad nazdist abar Wahman paydāg bawēd kē-š ēn harw dō ast ō ān ī pahlom axwān rasēd kē-š ēn harw dō nēst ō ān ī wattar axwān rasēd kē āsn xrad nēst gōšōsrūd nē āmōxtēd kē-š āsn xrad ast ud gōšōsrūd xrad nēst āsn xrad ō kār nē dānēd burdan „Āsn xrad und gōšōsrūd xrad Wahman am nächsten. Manifest ist, dass, wer diese beiden besitzt, ins Paradies gelangt, wer diese beiden nicht besitzt, in die Hölle gelangt. Wer kein āsn xrad besitzt, lernt nicht durch gōšōsrūd xrad; wer āsn xrad besitzt, kein gōšōsrūd xrad, der weiß nicht das āsn xrad anzuwenden.“ 432 Im Fortgang der Tradition gerät der „hörende xrad“ in eine niedrigere bzw. dienende Position: GrBd 28.4 ud āsn xrad ciyōn mardōm ud gōšōsrūd xrad ciyōn gōspand „Und āsn xrad gleicht dem Menschen, und gōšōsrūd xrad gleicht dem Tier.“ In der NpÜ von Ny 5.10 heißt es: ān ke gūš šenīde xerad barāy-e afzūdan-e āsnīde xerad peydā ast „der ‚hörende xerad‘ ist geschaffen zwecks des Gedeihens des āsnīde xerad“. Dieselbe Aussage wird von der SÜ (nicht jedoch von der PÜ) geteilt. Hingegen heißt es polemisch in der (späten) GujÜ, der ‚hörende Verstand‘ – d. h. die Schulbildung – sei besser als der „eingeborene“.

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III Daēnā, Xratu und das Moment des Schauens

im 9. Jh. das Bestreben, innerhalb des religiösen Erkenntnisprozesses, in der Theologie, den Ort einer ‚visionären Vernunft‘ zu beschreiben und aufrechtzuerhalten, also eine Art Vernunft zu bewahren, die einst zur Schaffung der heiligen Texte führte und die dann durch die Existenz eben dieser Texte (in ihrer kanonischen Form) wie durch deren Gebundensein an eine bestimmte Sprachform selbst kritisch wurde.

Anhang *daēnā

+ uruuan

*daēnā als ermöglichende Schau

+ Mazdā/aṣ̌a

= göttliche Erkenntnis im ham-paršti- durch xratu

daēnā als Text

(alt-)avestisch

uruuan

Schaumoment

+ xrad Gottes (āsn-)xrad des (lebendigen/toten) (bzw. auch Menschen Mēnōg ī Xrad) göttliche Erkenntnis

Schaubild: Eschatologische Epistemologie in Wirkweise und historischer Entwicklung

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post-avestisch

dēn = religiöser/theologischer Text; Religion

IV Gefügtes – Gesetztes. Überlegungen zur Genese von Darius’ manā dāta- „mein Gesetz“ Als Europa im letzten Drittel des 18. Jh. durch den Forschungsreisenden Anquetil du Perron erstmals mit den literarischen Originaldokumenten des antiken Iran bekannt wurde,433 erfuhr es nicht nur, dass, nach Anquetils Lehrmeinung, Iran wie die Kulturen (bzw., wie Anquetil sagte, „la nature“) von Griechenland bis nach China im 6. Jh. v. Chr. von einer geistig-religiösen Umwälzung, „une espece de révolution“, erfasst worden war,434 sondern dass diese Revolution „produisit dans plusiers parties de la terre des Génies qui devoient donner le ton à l’Univers“435, und dass es der (Europa aus den antiken Quellen zumindest dem Namen nach bekannte) Zoroaster – Zaraϑuštra – war, von dem der Wandel in Iran seinen Ausgang genommen hatte. Bildete erstere Lehrmeinung die Grundlage für die Achsenzeittheorie,436 so ordnete diese, Kritik und Erbe der Geschichtsphilosophie und (partiell auch) des Historismus des 19. Jh., zudem anti-marxistisch in ihrem Kern, ohne weitere Reflexion auch die zweite ihrem Inventar ein. Damit war entschieden, was in Iran für axial zu halten war: ein Zaraϑuštra, der als Autor der seit der Mitte des 19. Jh. aus der avestischen ‚rituell-magischen‘ Textmasse herausgelösten,437 philosophischethisch verstandenen Gāϑās den Menschen den Weg wies, wie „wahrhaft“ zu leben sei. In Text II war darauf hingewiesen worden, dass allein von der iranistischen Forschung her diese Kopplung von Achsenzeit und dem „Genie“ Zaraϑuštra kaum aufrechtzuerhalten ist: Zaraϑuštra ist lediglich als eine literarische Figur (in unterschiedlicher Weise in den alt- und jungavestischen438 und in den Pahlavi-Berichten [besonders Dk 7; WZ < Spand-Nask]) zu fassen, die ihm zugeschriebenen Texte sind sehr wahrscheinlich zeitlich vor-axial, und die 433 Anquetil-Duperron 1771. 434 Anquetil-Duperron 1771, I/2, S. 7 f. 435 Anquetil-Duperron 1771, I/2, S. 7. Für Ägypten, das bei Anquetil jener Revolutionszeit zugerechnet wird, ist die Achsenzeitfrage in jüngerer Zeit immer wieder von J. Assmann diskutiert (siehe z. B. Assmann 2001). 436 Metzler 2004, S. 567; 1991, S. 125. 437 Westergaard 1852–1854, S. 2; Haug 1858, 1860, mit Verweis im Vorwort auf Spiegels Edition. 438 Zu Zaraϑuštra im Avesta s. Skjærvø 2003 b.

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IV Gefügtes – Gesetztes

Perspektive auf Zaraϑuštra als Religionsstifter ist aufgegeben439 zugunsten seiner stärkeren Reintegration in den indo-iranischen Kulthorizont440, in dem die Frage nach dem wahrhaften Leben nicht oder kaum unmittelbar, sondern i. d. R . durch die rituelle Organisation des Lebens hindurch gestellt wurde. Wenn folglich von den fachlichen Befunden der vergangenen 50 Jahre aus die Voraussetzungen für eine achsenzeitliche Wende in Iran in der Weise, wie sie Anquetil und Jaspers beschreiben zu können glaubten, nicht länger gegeben zu sein scheinen, dann fragt es sich, ob eine solche überhaupt noch für den (vor-)antiken Iran zu postulieren ist. Die Antwort, die in Text I gegeben wurde, bestand in einem Schwenk der Perspektive. Nicht Zaraϑuštra und der Ostiran um 1000 v. Chr. und der Folgejahrhunderte sollte im unmittelbaren Fokus einer auf Iran bezüglichen Achsen­zeitfrage stehen, sondern eher die antike Reichszeit, also jene Epoche, die vom späten Mederreich über die Achämeniden – und hier besonders die Zeit Darius I – bis hin zu deren Erben Alexander und zur Überlagerung der beiden Kulturkreise Griechenland und Iran führt. Ostiran, die Kultur, die den Hintergrund der avestischen Ritualtexte bildet und deren Differenzen zum vedischen Textgut und dessen ritueller Einbindung bestimmt (wie von diesen Differenzen wiederum dirigiert wird), scheint gegenüber dem Reichs-Iran einen noch vorläufigen Charakter zu haben. Schon versammelt sie Impulse, die auf die Axialität drängen – eine der wesentlichen Differenzen zum Veda, die Konfiguration der avestischen Texte um eine Zentral­figur,

439 Schon Haug vermochte aus dem Vergleich der avestischen und altindischen Materialien nicht an eine Stifterreligion zu glauben, sondern vielmehr an einen bis ins 2. Jt. zurückführenden Prozess der Abspaltung einer iranischen Ahura- von einer vedischen Deva-Religion, dessen später Erbe zwar ein Zaraϑuštra war (s. dazu auch Haug 1858, S. XIII–XV; Haug 1907, S. 299, schlägt eine Datierung des Zaraϑuštra vor 1000 v. Chr. vor), dessen historische Gestalt aber aus den mythologisierenden zoroastrischen Schriften und den antiken Quellen nicht zu rekonstruieren ist (s. Haug 1907, S. 295 f.). 440 Siehe dazu bereits Rudolph 1970; Boyce 1970 a . Boyce wollte jedoch zeigen, wie (der für sie historische) Zaraϑuštra, der Boyce zufolge als zaotar im indo-iranischen Horizont ausgebildet gewesen sei, seine „lofty teachings“, sein „own ethical system“ in die überkommene Ritualistik zu integrieren suchte (wesentlich mittels der Schaffung des Systems der Aməṣ̌a Spəṇtas). Es ist vermutlich der letzte bedeutende Versuch, die von Molé (s. Molé 1960 a ; eine Antwort darauf in Duchesne-Guillemin 1961; eine Rückantwort von Molé 1961; siehe sodann Molés großes Werk Culte, mythe et cosmologie dans l’Iran ancien, Paris 1963; in jüngerer Vergangenheit ist gegen Kellens/ Pirarts in Bahnen Molés stehender Sichtweise noch einmal von Gnoli 2000 [einen anderen historischen Ansatz als Gnoli vertrat Shahbazi 2002] der historische Zarathustra verteidigt worden, zur Kritik dessen s. wiederum Kellens 2001; zur Meta­ kritik von Kellens s. wiederum H.-P. Schmidt 2003; gegen einen historischen Zaraϑuštra votiert auch Skjærvø [siehe zu Zaraϑuštra folgende Artikel Skjærvøs: 1997, 2000, 2001, 2003]) destruierte Konzeption eines ,Moral predigenden Zaraϑuštra‘ noch zu retten.

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Von aṣ̌a zu dāta

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Zaraϑuštra, und mit dessen besonderer Funktion die Strukturierung von Zeit zu einer Folge ‚materialer Epochen‘, Kosmogonie, Geschichte, Eschatologie, ist einer der deutlichsten dieser Impulse –, ohne doch die ‚homologe‘ Weltstruktur zu durchbrechen, die auf Ritual und Magie gegründete TranszendenzImmanenz-Bindung von rationalen Partikeln so durchsetzen zu lassen, dass sie schließlich, nach ihrer Spaltung, in neuen Formen der Vermittlung gedacht werden muss. Das Problem der älteren Reichszeit ist jedoch, dass sie an einheimischen Textzeugnissen, die für die axialen Fragen von besonderem Interesse sein könnten, sehr arm ist. Im Grunde beschränkt sich das Material auf die Inschriften der Achämenidenkönige, denen kunstgeschichtliches Material in Ergänzung und Materialien der ökonomischen Verwaltung und die historischen Texte der Griechen im Kontrapunkt nebengeordnet werden können. Im folgenden soll eine, wie mir scheint, terminologische Besonderheit insbesondere der Darius-Inschriften näher beleuchtet werden, das Aufkommen des Begriffs „Gesetz“ (dāta), der m. E. die systematische Position eines ‚metaphysischen‘, diskursübergreifenden Ordnungsbegriffes (aṣ̌a) besetzt, und dessen Konstitution offenbar von dem (schon in Text III in seiner epistemologischen Funktion im avestischen Ritualprozess behandelten) Vernunft­ vermögen, xratu, abhängt.

Von aṣ̌a zu dāta Dieser begriffliche Wandel, dessen erster schriftlicher Niederschlag sich m. E . tatsächlich in Iran im (ausgehenden) 6. Jh. v. Chr. nachweisen lässt, betrifft den kosmologischen Zentralbegriff der Indo-Iraner, *ṛta, der im Veda wie in den Gāϑās a) in einem engen Verweisungszusammenhang mit dem Opfer steht, und der b) über diesen Verweisungszusammenhang die Bedeutungen der Vokabeln „gut“ und „böse“ schließlich die Ethisierung eines zunächst einmal rituellen Vokabulars weitgehend mitbestimmt. Ende des 6. Jh. scheint nun dieser im Avesta so bedeutende Begriff in (West-)Iran zumindest partiell durch andere Begriffe ersetzt zu werden. Der Ort dieser Substitution ist ein zunächst nicht genuin religiöser, sondern politischer, das Achämenidenreich. Es sind die Inschriften des Darius I, d. h. die ersten achämenidischen Inschriften überhaupt, die anstelle von *ṛta einen anderen Begriff ins Zentrum der Weltkonzeption rückten: dāta „Gesetz“.441

441 Die hier vorgetragene Idee ist als solche nicht neu, s. besonders Bucci 1972, 1983. Jedoch scheint mir, dass Bucci die Sache zu leicht nimmt, wenn er in arta „il superiore senso di giustizia“ sieht (1983, S. 117; vgl. Geiger 1916), denn dieser Sinn ist, wenn nicht von dāta rückübertragen, doch erst eine Spezifizierung des wesentlich allgemeiner zu fassenden arta-Begriffs.

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IV Gefügtes – Gesetztes

aṣ̌a (*ṛta): „Ordnung“ oder „Wahrheit“ Um die Bedeutung dieses Wandels zu erfassen, ist es zunächst notwendig, sich über den in den Gāϑās dominierenden, im post-gāϑischen Iran jedoch verschwindenden bzw. sich verändernden Begriff aṣ̌a zu verständigen. Der zentrale Begriff der (alt)avestischen (wie bekanntlich auch der vedischen) Texte lautet *ṛta (av. aṣa; ved. ṛtá). Was *ṛta in diesen Texten meint, ist vom Wort her allein nur ganz unzureichend zu bestimmen. *Ṛta- ist (mutmaßlich) das Perfektpartizip einer Wurzel ar-, idg. *h2 ṛ-tó „gefügt“, damit ein substantiviertes Adjektiv.442 *Ṛta wäre also zunächst als das „(harmonisch443) Gefügte“ zu verstehen. Um von der Bedeutung des Wortes zu einem Verständnis des Begriffs zu gelangen, bedarf es der Diskussion und Explikation zum einen der Kontexte, in denen *ṛta- (av. aṣ̌a, ap. ạrta) Verwendung findet, zum anderen des Versuchs, den Begriff im Rahmen seiner Geschichte zu betrachten. Das kann im folgenden freilich nur in beschränktem Umfang erfolgen. Der erste Teil der Aufgabe muss sich weitgehend auf einen Überblick über die Forschungsarbeiten beschränken. Seit dem 19. Jh. ist die Indo-Iranistik immer wieder auf die Problematik des Begriffs *ṛta zurückgekommen. Die beiden bevorzugten Verständnisweisen lauten „Wahrheit“ bzw. „Ordnung“.444 Der erste Grund, ṛta als „Wahrheit“ verstehen zu wollen, ist ein sprachhistorischer. Am indischen Material ließ sich zeigen, dass ved. ṛtá im Verlauf der indischen Geistesgeschichte von (dem wiederum in sich schwierigen Begriff) satya „Seiendes; Wirkliches; Wahres“ abgelöst wurde bzw. werden konnte,445 und dass folglich ṛtá ebenfalls „Wahrheit“ gemeint haben muss.446 Dem Argument wurde indes auf iranischer Seite mit einem systematischen widersprochen. Im Altavestischen ergab genauere Textanalyse, dass die iranische Entsprechung von ai. satya-, av. haiϑiia-, in den Gāϑās neben aṣ̌a in einer Weise figuriert, die offenbar einen nicht unerheblichen Bedeutungsunterschied beider Termini anzeigt (s. u.).

442 Zum Wort s. Hoffmann 1986; Cantera 2003 b. 443 „Harmonie“ ist eine (vermutlich etymologisch verwandte) von Kellens/Pirart bevorzugte Übersetzung von aav. aṣ̌a - (s. dazu besonders Kellens/Pirart 1988– 1991). 444 Geiger (1916) hat die Position vertreten, *ṛta meine „Recht“. Das scheint jedoch, wenn überhaupt, erst für eine spätere Epoche vertretbar zu sein (und besser dann: „Gerechtigkeit“). 445 Siehe dazu besonders Lüders 1951–1959; Schlerath 1986, S.  199 f. Lüders (posthum publiziertes) Werk Varuṇa ist für die Begriffs-Diskussion in der 2. Hälfte des 20. Jh. das zentrale Werk. 446 In den ApI, auf sasanidischen Zeugnissen (Münzen und Siegel) und auch in bestimmten mp. Schriften (ŠGW) findet sich eine dem Indischen vergleichbare Entwicklung, nämlich die Ersetzung der aṣ̌a -Wörter durch von rāsta- „wahr, richtig, gerade gerichtet; gerecht“ abgeleitete Ausdrücke.

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Von aṣ̌a zu dāta

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Den zweiten Grund für die Annahme, dass aṣ̌a im Avesta wie ṛtá im Veda „Wahrheit“ meine, bildet das traditionelle Kardinalargument, dass das Avesta angeblich einen Oppositionsbegriff zu aṣ̌a kenne, druj. Das Wort druj-, das etymologisch auf idg. *dhreu̯gh „trügen“ zurückzuführen ist, und insbesondere in den Gāϑās den „Trug“ bzw. die „Lüge“ (in einem ‚kosmischen‘ Sinne) zu bezeichnen scheint, stehe innerhalb des Avestischen, insbesondere in den Gāϑās, in einem Gegensatzpaar mit aṣ̌a (und noch häufiger finde sich eine Opposition der zugehörigen Adjektive aṣ̌auuan-/drəguuaṇt- [= jav. druuaṇt-]). Es ist diese Opposition, die als eines der wesentlichsten Distinktionsmerkmale der Gāϑās gegenüber dem Rig-Veda bzw. dem indo-iranischen Denken angesehen wurde. Allerdings ist auch diese traditionelle Rekonstruktion der Verhältnisse in den vergangenen Jahrzehnten verschiedentlich angegriffen worden. Insbesondere Skjærvø447 hat in Fortführung der von Kellens/ Pirart 4 48 vorgebrachten Kritik, nämlich über den bereits genannten Hinweis auf die generelle Differenz von aṣ̌a und haiϑiia „das wirklich Seiende; das, was wahr ist“, geschlossen, dass aṣ̌a und druj sich nur scheinbar in einer symmetrischen Opposition befinden.449 Während haiϑiia die Wahrheit von Sätzen meine, also in der auf Erkenntnis bezogenen richtig/falsch-Opposition stehe, sei aṣ̌a ‚Wahrheit‘ in einem den Urteilen vorgelagerten, „kosmischen“ Sinne zu verstehen, meine folglich „(cosmic) order“. Wie sich an der synonymen Verwendung von druj- und dab- „täuschen“ zeigen lasse, beziehe sich druj auf ein ‚falsches Wissen von/Reden über etwas‘, sei also die begriffliche Opposition zu haiϑiia, nicht aber zu aṣ̌a.450, 451

447 Skjærvø 2003 a. 448 Kellens/Pirart 1988–1991, I, S. 26 ff. 449 Dieser Gedanke ist m. E . darum so interessant, weil er der sonst rein statisch konzipierten Spannung der beiden Begriffe ein Moment der Asymmetrie zugesellt, aus dem sich die historische Dynamik des Begriffspaares entfalten lässt. Das Verständnis von druj als ein in den gāϑischen Texten epistemologischer Begriff wirft das Problem von Satz und Ding, Subjekt und Objekt auf, die Frage nach dem Wissen um die Wahrheit der ‚Wahrheit‘. Es ist sicherlich auch richtig, dass in den Gāϑās dem dualen Begriffs­ apparat ein polemisches Moment eingeschrieben ist (in Hinsicht auf den Dichterstreit s. Skjærvø 2001; in Hinsicht auf einen postulierten „daēva cult“ s. Ahmadi 2015); dieses Moment aber für das Ganze zu nehmen, beraubt sich wohl der wichtigsten Begriffsspannung zu einer Rekonstruktion altiranischer Geistesgeschichte. 450 Nach dieser Rekonstruktion verhielte sich in den Gāϑās: aṣa : druj + haiϑiia wie Ahura Mazdā : Schlechtester Mainiiu + Heilwirkendster Mainiiu. Parallel stünden dazu auch die historischen Entwicklungen mit dem Fortfall/Schwund der Kategorie haiϑiia und des (schon in den Gāϑās problematischen [s. Humbach 2015, S. 42]) Spəṇta Mainiiu. 451 Auch Schlerath (1986, S. 199 f.) sieht einen Niveauunterschied zwischen ṛtá und sátya-, seine Schlussfolgerung daraus ist aber eine andere. Während sátya Wahrheit auf ein Verhältnis von Wort und Sache beziehe, so meine ṛtá die „Übereinstimmung zwischen zwei gleichgesetzten Begriffen“, sei also deren „tertium comparationis“,

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IV Gefügtes – Gesetztes

Diese jüngere Argumentation, die sich fast ausschließlich auf das altavestische Material bezieht, ist, zumal wenn der Blick auch nach-gāϑische Verhältnisse einbezieht, gewiss nicht ohne Probleme: 1. Auch wenn es zweifellos richtig ist, dass aṣ̌a nie (ebenso wenig wie später [pahl. LW] ahlāyīh < ahlā(w) + -īh) die Wahrheit von Urteilen meint, so folgt daraus nicht, dass es keinen ‚symmetrischen‘ Gegenbegriff zu aṣ̌a geben könne; die Pointe der avestischen Konzeption wird ja traditionell gerade in einem metaphysischen (kosmologischen) und eben nicht logischen Dualismus gesehen452. Tatsächlich ist am altavestischen Wortgebrauch von aṣ̌a - und druj- festzustellen, dass dieser in beiden Fällen auf den Singular beschränkt ist (hierin zeigt sich eine Ähnlichkeit zum Gebrauch von ap. dāta- „Gesetz“ und drauga- „die [kosmische] Lüge“ [s. u.]). Sowohl aṣ̌a wie druj scheint also das Moment der Einheit wesentlich zu sein.453 2. Die Gāϑās führen druj- durchaus zu aṣ̌a-, vor allem aber aṣ̌auuan- zu drəguuaṇt- in Opposition, nicht aber, wie es doch wohl nach der Theorie Skjærvøs zu erwarten wäre, zu (dem überhaupt nur schwach vertretenen) haiϑiia-.

Ausdruck der „geheimen Gelenkstellen der Weltordnung“ (nicht eigentlich diese selbst) (ibid.). Es fragt sich m. E . freilich, ob die Gāϑās hier dem Veda entsprechen, denn der Gebrauch des metaphorischen Prinzips, also die Auskonstruktion/Erkenntnis der Welt über jene Gelenkstellen, scheint im Veda wesentlich stärker ausgearbeitet zu sein als in den Gāϑās oder gar im Jungavesta. Für einen Parallelismus könnte indes die Tatsache sprechen, dass in Iran wie in Indien ein Verschwinden des ṛta-Begriffs und ein Überleben des satya-Begriffs (in Iran werden sich die rāst-Wörter durchsetzen) zu beobachten ist (zu Indien s. Schlerath 1986, S. 200). 452 Kreyenbroek (2006, S. 213) hat darauf hingewiesen, dass der traditionelle Blick auf die Opposition von aṣ̌a und druj diese gerade nicht als ‚logische‘ fasste, die Argumentation somit von Kellens/Pirart (und dann auch von Skjærvø, den Kreyen­broek nicht erwähnt) ins Leere laufe. Scheinbar entgegengesetzt zur Position Skjærvøs ist die Humbachs (2015, S. 43). Ihm zufolge bilden aṣ̌a /druj eine (offenbar symmetrische) Opposition, meine aṣ̌a „truth“. Tatsächlich ist Humbachs Position der Skjærvøs letztlich nicht allzu fern, wenn er die „Wahrheit“ fasst als „a utterance whose correctness is insured by its inherent cosmic power and which in expressions such as ‚judgment in accordance with Truth‘ can be conceived of as denoting that power itself.“ 453 Asymmetrie herrscht indes im Verhältnis beider Termini zur Möglichkeit materieller Existenz: Nur aṣ̌a scheint auch eine „knochenversehene“ Existenz zu besitzen (s. Y 43.16). Das könnte zum einen als Indiz für die Richtigkeit von Skjærvøs Theorie gewertet werden (druj- als epistemologische Kategorie hat keine materielle Realität), zum andern auf die später bezeugte Lehre von der Asymmetrie der Reiche des Guten und Bösen, nämlich bezüglich von deren Relation auf die existentielle Doppelung (materiell/immateriell) vorausweisen (zum Problem s. Gnoli 1995; H.-P. Schmidt 1996; Panaino 2001) (zu anderen Deutungen des eigentümlichen Ausdrucks s. Humbach 2015, S. 43).

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Von aṣ̌a zu dāta

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3. Historisch ist es nicht einzusehen, warum in der Pahlavi-Literatur das Gegensatzpaar ahlāyīh/druwandīh, das sich aus der gāϑischen (und nicht aus der jungavestischen) Literatur herleiten dürfte, auftritt, wenn aṣ̌a und druj keinen solchen Gegensatz in den Gāϑās je gebildet haben sollten.454 Die sich heute (wieder) stärker durchsetzende Übersetzung von aṣ̌a - als „Ordnung“ lässt sich im Falle der Gāϑās m. E. jedoch verschiedentlich stützen. Am Wort aṣ̌a - fällt auf, dass es bevorzugt im Instrumental und Ablativ geführt und dabei meist in Bezug auf die Mazdā-Gottheit verwendet wird. Aṣ̌a scheint also eine Kategorie zu sein, durch die bzw. von der her die Gottheit wirkt.455 Soweit aṣ̌a - dieselbe instrumentale oder ablativische Verwendung mit einem Bezug auf Menschen zeigt, ist aṣ̌a in den Gāϑās aufgrund seiner Bezüge zum Opfer­vokabular als eine das Opfer- (und wohl weniger das ethische) Verhalten leitende Kategorie anzusehen. Da der Zweck des avestischen Opfers neben der Ermöglichung der Jenseitsreise der Erhalt der Götter und durch diese der Erhalt des Kosmos und seiner Fügung ist, scheint es also angemessener zu sein, aṣ̌a als „(kosmische, durch den Ritus stabilisierte und wirkende) Ordnung“ aufzufassen, die sich auf beide Teile des Kosmos, den geistigen wie den „knochenversehenen“ – ein Terminus, der im Jungavesta durch die Neubildung gaēϑiia- „stofflich“ (wie aav. manahiia- durch jav. mainiiauua-) ersetzt wird456 – erstreckt. Druj (bzw. ap. drauga) wäre demgegenüber als „Trug“ zu verstehen, als die falsche Ordnung, die, wenn auch nur im Immateriellen beheimatet (siehe Fn. 453) und, soweit Skjærvø Recht hat, lediglich als epistemologisches Phänomen zu betrachten ist, also die falsche Vorstellung von der Ordnung meint, durch ihre Tendenz auf Universalität – und diese Tendenz ist sowohl in den altpersischen Inschriften wie in der späteren zoroastrischen Literatur zu beobachten (die Welt wird letztlich als eine primär verkehrte erfahren) –, die Möglichkeit zur intellektuellen Scheidung zwischen aṣ̌a und druj aufhebt. Es ließe sich also zwischen der Zentralthese Skjærvøs, der Annahme einer kategorialen Differenz von aṣ̌a und druj, und dem vorgebrachten historischen Argument (s. o. Punkt 3) so vermitteln, dass druj (durch einen begrifflichen Universalanspruch) historisch zu einem Als-Ob-Seinsbegriff aufgestiegen ist. 454 Eine Annahme, eine Symmetrisierung von aṣ̌a und druj sei analogisch zu der jungavestischen systemischen Aufwertung eines „Bösen Geistes“ zum Gegenspieler des Ahura Mazdā, ist darum problematisch, weil im Jungavesta aṣ̌a und druj (bzw. deren Personalisierungen) im wesentlichen keine Opposition bilden. 455 Das Kasusverhältnis ist nicht parallel zur syntaktischen Verwendung von aav. druj-: 1 × Nom., 6 × Akk., 7 × Gen., 2 × Abl. Kein instrumentaler Beleg. 456 Während im Altavestischen das Bezugsnomen ahu- ist, wird auch dieses mit dem jung­ avestischen Wandel ersetzt (sti-). Die jav. Terminologie hat sich im Pahlavi-Schrifttum durchgesetzt (gētī(g)/mēnō(g)).

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IV Gefügtes – Gesetztes

Ebenso wenig wie wohl der druj-Begriff bleibt auch der aṣ̌a-Begriff historisch stabil. Im jungavestischen wie auch nicht-avestischen Material, welches beides aus der Diskussion um av. aṣ̌a zumeist ausgeklammert wird,457 sind gegenüber den Gāϑās einige Differenzen zu konstatieren: 1. Beide Termini erscheinen vielfach in personalisierter Form (im Falle von druj- [f.] ergibt sich damit eine bemerkenswerte Ähnlichkeit zu ved. druḥ-, das oft mit „Unhold(in)“ zu übersetzen ist). Die Personalisierung von aṣ̌a (> aṣ̌a vahišta) im Jungavesta führt dazu, dass die Kategorie ihren alten fundamentalen Status einbüßt und mit der weiteren Herausbildung der Lehre von den 6/7 Aməṣ̌a Spəṇtas458 zu einer speziellen Gottheit regrediert. 2. Die Opposition von aṣ̌a (jav. meist aṣa vahišta) und druj tritt in den Hintergrund. Die beiden personalisierten Begriffe agieren weitgehend unabhängig voneinander und haben andere Opponenten.459 Die Gemeinsamkeiten, die Rig-Veda, Jungavesta und vielleicht auch die (in ihrer Beziehung zum ‚Zoroastrismus‘ notorisch umstrittenen) ApI – in denen, wie sich zeigen wird, das Problem noch undurchsichtiger wiederkehrt – aufweisen, lassen einen gewissen Sonderstatus der Gāϑās (und dann der auf ihnen nicht unwesentlich fußenden theologischen Tradition des Pahlavi-Schrifttums460) innerhalb der indo-iranischen und altiranischen Tradition erkennen. Gleichwohl zeigen sich Bezüge in verschiedene Richtungen. Mit dem Rig-Veda teilen die Gāϑās die fundamentale Bedeutung von *ṛta (in Bezug auf Kosmos und Opfer). Mit dem Jungavesta (und vielleicht auch mit den ApI [mit der ap. Bildung drauga-]) teilen die Gāϑās gegenüber dem RV die Vorliebe für die Verwendung des Wortes druj- (bzw. davon abgeleiteter bzw. verwandter Wörter). RV und Jungavesta kommen darin überein, druḥ/druj (vielfach) als (weibliches461) dämonisches Wesen zu konzipieren. Schematisch ließen sich die Ähnlichkeiten, cum grano salis, wie folgt darstellen:

457 Eine gewisse historische Auflösung der Probleme gab Schlerath 1964 und 1987. 458 Gegen Narten (1982) hat Kellens (2014) die Existenz und strukturelle Funktion der dann klassischen sechs Aməṣ̌a Spəṇtas in den Gāϑās aufgezeigt. 459 Als Gründe für diese Differenzen sind bis heute nur unzureichende geistesgeschichtliche ad hoc Annahmen (Rückfall in rituell-magisches Denken der Priesterschaft) gegeben worden. Die Ähnlichkeit von Rig-Veda und Jungavesta in diesem Punkt wird wohl so erklärt, dass das Veda die Opposition von aṣ̌a und druj noch nicht in voller Schärfe (s. Geiger 1916), das Jungavesta sie nicht mehr in voller Schärfe kannte. Das setzt eine geisteshistorische Folge Rig-Veda – Gāϑās – Jungavesta voraus. Andere geistesgeschichtliche Konstellationen sind aber denkbar. 460 Der druj-Begriff vererbt sich ins Pahlavi doppelt: Dem Gāϑischen stammt vermutlich das Konzept druwandīh, vielleicht auch drō (KDBA), aus dem Jungavesta die druzDämonin ab. 461 Ap.  drauga- ist im Unterschied zu av. druj-, ved. druḣ- maskulin.

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Von aṣ̌a zu dāta

Jav. druj druwandīh (ethisiert) ahlāyīh