Strukturen als Schlüssel zur Welt: Kleine Schriften zur Erzählliteratur des Mittelalters 3484105798, 9783484105799

Der vorliegende Band enthält die meisten meiner Aufsätze zur Erzählliteratur des Mittelalters. Sie sind in den letzten 2

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Strukturen als Schlüssel zur Welt: Kleine Schriften zur Erzählliteratur des Mittelalters
 3484105798, 9783484105799

Table of contents :
VORWORT xi
I. ÜBERGREIFENDES
Poetologische Universalien und Literaturgeschichte (1977) 3
Zum Verhältnis von Mythos und Literatur. Methoden und Denkmodelle anhand einer Beispielreihe von Njördr und Skadi über Nala und Damayanti zu Amphitryon und Alkmene (1979) 21
Der Tag der Heimkehr. Zu einer historischen Logik der Phantasie 37
Schriftlichkeit und Reflexion. Zur Entstehung und Entwicklung eines deutschsprachigen Schrifttums im Mittelalter (1983) 51
Der Teufel und das Böse im mittelalterlichen Roman (1985) 67
Die Zwerge auf den Schultern der Riesen. Epochales und typologisches Geschichtsdenken und das Problem der Interferenzen (1987) 86
Gebet und Hieroglyphe. Zur Bild- und Architekturbeschreibung in der mittelalterlichen Dichtung (1977) 110
Über die Beschäftigung mit mittelalterlicher Literatur nach einer Lektüre der ästhetischen Schriften Bertolt Brechts (1974) 126
II. LITERARISCHE POSITIONEN BIS ZUM BEGINN DES HÖFISCHEN ROMANS
Funktionsformen der althochdeutschen binnengereimten Langzeile (1969) 143
Das 'Muspilli' oder Über das Glück literaturwissenschaftlicher Verzweiflung (1977) 162
Der 'Ruodlieb' (1974) 199
Struktur und Geschichte. Ein literaturtheoretisches Experiment an mittelalterlichen Texten (1973) 236
Das Komische und das Heilige. Zur Komik der religiösen Literatur des Mittelalters (1982) 257
III. HELDENEPIK
Andreas Heuslers Heldensagenmodell: Prämissen, Kritik und Gegenentwurf (1975) 277
Höfische Idealität und heroische Tradition im Nibelungenlied (1974) 293
Normatives Modell oder hermeneutisches Experiment: Überlegungen zu einer grundsätzlichen Revision des Heuslerschen Nibelungen-Modells (1980) 308
Montage und Individualität im Nibelungenlied (1987) 326
Theodorichs Ende und ein tibetisches Märchen (1963) 339
Hyperbolik und Zeremonialität. Zu Struktur und Welt von 'Dietrichs Flucht' und 'Rabenschlacht' (1979) 364
IV. ARTHURIANA - CHRÉTIEN DE TROYES, HARTMANN VON AUE, WOLFRAM VON ESCHENBACH
Vom Imram zur Aventüre-Fahrt. Zur Frage nach der Vorgeschichte der hochhöfischen Epenstruktur (1970) 379
Artussage und Heilsgeschichte. Zum Programm des Fußbodenmosaiks von Otranto (1975) 409
'Der aventiure meine' (1975) 447
Erec, Enite und Evelyne B. (1979) 464
Die Symbolstruktur des höfischen Epos und ihre Auflösung bei Wolfram von Eschenbach (1971) 483
Transzendenz und Utopie. Vorüberlegungen zu einer Literarästhetik des Mittelalters (1981) 513
Parzivals 'zwivel' und Willehalms 'zorn'. Zu Wolframs Wende vom höfischen Roman zur Chanson de geste (1975) 529
Erzählen vom Tod her. Sprachkrise, gebrochene Handlung und zerfallende Welt in Wolframs 'Titurel' (1980) 541
V. DER TRISTANROMAN - GOTTFRIED VON STRASSBURG
'Aventiure' in Gottfrieds von Straßburg 'Tristan' (1972) 557
Die Tristansage und das persische Epos 'Wis und Ramin' (1973) 583
Gottfrieds von Straßburg 'Tristan'. Sexueller Sündenfall oder erotische Utopie (1986) 600
VI. DER ROMAN IN NACHKLASSISCHER ZEIT
Wolframs 'Willehalm'-Prolog im Lichte seiner Bearbeitung durch Rudolf von Ems (1975) 615
Rudolfs 'Willehalm' und Gottfrieds 'Tristan': Kontrafaktur als Kritik (1975) 637
Paradigmatische Poesie. Der spätere deutsche Artusroman auf dem Weg zu einer 'nachklassischen' Ästhetik (1980) 651
Der Artusritter gegen das magische Schachbrett oder Das Spiel, bei dem man immer verliert (1980/81) 672
Das Bildprogramm im Sommerhaus von Runkelstein (1982) 687
Literaturverzeichnis 709
Nachweise der Erstpublikation 749
Autoren- und Werkregister 751

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Walter Haug Strukturen als Schlüssel zur Welt Kleine Schriften zur Erzählliteratur des Mittelalters

Max Niemeyer Verlag Tübingen * •"

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CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Haug, Walter: Strukturen als Schlüssel zur Welt : kleine Schriften zur Erzählliteratur des Mittelalters / Walter Haug. — Tübingen : Niemeyer, 1989 ISBN 3-484-10579-8 © Max Niemeyer Verlag Tübingen 1989 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz: pagina GmbH, Tübingen Druck: Allgäuer Zeitungsverlag, Kempten Einband: Heinr. Koch, Tübingen

Für Maya

Inhaltsverzeichnis

VORWORT

XI

I. ÜBERGREIFENDES

Poetologische Universalien und Literaturgeschichte (1977)

3

Zum Verhältnis von Mythos und Literatur. Methoden und Denkmodelle anhand einer Beispielreihe von Njordr und Skadi über Nala und Damayanti zu Amphitryon und Alkmene (1979)

21

Der Tag der Heimkehr. Zu einer historischen Logik der Phantasie

37

Schriftlichkeit und Reflexion. Zur Entstehung und Entwicklung eines deutschsprachigen Schrifttums im Mittelalter (1983)

51

Der Teufel und das Böse im mittelalterlichen Roman (1985)

67

Die Zwerge auf den Schultern der Riesen. Epochales und typologisches Geschichtsdenken und das Problem der Interferenzen (1987)

86

Gebet und Hieroglyphe. Zur Bild- und Architekturbeschreibung in der mittelalterlichen Dichtung (1977)

110

Über die Beschäftigung mit mittelalterlicher Literatur nach einer Lektüre der ästhetischen Schriften Bertolt Brechts (1974)

126

II. LITERARISCHE POSITIONEN BIS ZUM BEGINN DES HÖFISCHEN ROMANS

Funktionsformen der althochdeutschen binnengereimten Langzeile (1969)

143

Das >Muspilli< oder Über das Glück literaturwissenschaftlicher Verzweiflung (1977)

162

Der >Ruodlieb< (1974)

199

Struktur und Geschichte. Ein literaturtheoretisches Experiment an mittelalterlichen Texten (1973)

236

Das Komische und das Heilige. Zur Komik der religiösen Literatur des Mittelalters (1982)

257

III. HELDENEPIK

Andreas Heuslers Heldensagenmodell: Prämissen, Kritik und Gegenentwurf (1975)

277 VII

Höfische Idealität und heroische Tradition im Nibelungenlied (1974)

293

Normatives Modell oder hermeneutisches Experiment: Überlegungen zu einer grundsätzlichen Revision des Heuslerschen Nibelungen-Modells (1980) . . . .

308

Montage und Individualität im Nibelungenlied (1987)

326

Theodorichs Ende und ein tibetisches Märchen (1963)

339

Hyperbolik und Zeremonialität. Zu Struktur und Welt von >Dietrichs Flucht< und >Rabenschlacht< (1979)

364

IV. ARTHURIANA CHRETIEN DE TROYES, HARTMANN VON AUE, WOLFRAM VON ESCHENBACH

Vom Imram zur Aventüre-Fahrt. Zur Frage nach der Vorgeschichte der hochhöfischen Epenstruktur (1970)

379

Artussage und Heilsgeschichte. Zum Programm des Fußbodenmosaiks von Otranto (1975)

409

Der aventiure meine (1975)

447

Erec, Enite und Evelyne B. (1979)

464

Die Symbolstruktur des höfischen Epos und ihre Auflösung bei Wolfram von Eschenbach (1971)

483

Transzendenz und Utopie. Vorüberlegungen zu einer Literarästhetik des Mittelalters (1981)

513

Parzivals zwivel und Willehalms zorn. Zu Wolframs Wende vom höfischen Roman zur Chanson de geste (1975)

529

Erzählen vom Tod her. Sprachkrise, gebrochene Handlung und zerfallende Welt in Wolframs >Titurel< (1980)

541

V. DER TRISTANROMAN - GOTTFRIED VON STRASSBURG

Aventiure in Gottfrieds von Straßburg >Tristan< (1972)

557

Die Tristansage und das persische Epos >Wis und Rämin< (1973)

583

Gottfrieds von Straßburg >TristanWillehalmWillehalm< und Gottfrieds >TristanScala Celi< des Johannes Gobii Junior, Lübeck 1476 (fol. 15v, Nr. 89) und in Johannes Herolts Promptuarium exemplorum discipuli (exempl. XXIII sub littera L). 12 Varianten enthalten z. B. folgende Sammlungen: Cento novelle antiche, >Fiore di virtüGesta RomanorumBarlaam< offensichtlich harmloser und flacher geworden; es hat an Substanz verloren. Dem Prinzen im >Barlaam< werden die Frauen verteufelt. Trotzdem fühlt er sich unwiderstehlich zu ihnen hingezogen, und am Ende steht das Erstaunen des Königs über das, was die Liebe vermag. Im Predigtexempel werden die Frauen ausweichend Gänse genannt, was für den jungen Mönch offensichtlich eine Bezeichnung ist, mit der er nichts allzu Konkretes verbindet. Es liegt in ihr nichts Warnendes, höchstens der Hinweis, daß es sich um TrivialNebensächliches handle. Die Lehre, die daraus gezogen wird, daß der Mönch sich hat ablenken lassen, ist dann aber um so handfester. Sie wird explizit als moralische Warnung gegenüber den zu diesem Zweck zusammengerufenen Brüdern formuliert. Sie fließt dabei auch nicht aus einer überraschenden Einsicht, sondern der Vorfall ist nur Anlaß, eine von vornherein feststehende Meinung am konkreten Fall zu demonstrieren. Doch diese Reduktion auf eine mehr oder minder billige Moral kann rückgängig gemacht werden. In Boccaccios >Decameron< erscheint Odos Exempel in folgender Form: Filippo Balducci, ein Florentiner Bürger, zieht sich nach dem Tod seiner Frau mit seinem zweijährigen Sohn in eine Einsiedelei zurück. Das Kind wächst heran, ohne mit der Welt in Berührung zu kommen. Mit 18 Jahren nimmt der Vater den Sohn zum erstenmal nach Florenz mit, und der Junge bestaunt die Stadt und das bunte Leben und Treiben. Sie begegnen einer Schar von festlich geputzten Mädchen. Der Junge fragt, was das sei, und der Vater mahnt ihn erschrocken, seine Augen abzuwenden, denn sie seien von Übel. Aber der Junge läßt nicht locker, und Filippo sagt schließlich, man nenne sie junge Gänse. Doch nichts kann den Sohn von seiner Zuneigung zu diesen wunderbaren Wesen abbringen. Er möchte um alles in der Welt eines von ihnen mit heimnehmen. Der Vater muß sich schließlich eingestehen, daß die Natur doch stärker ist als seine ganze Weisheit.15

Hier gewinnt die Erzählung in hohem Maße ihre ursprüngliche Dramatik zurück. Der Lehrsatz am Ende ist wiederum das Ergebnis einer Erkenntnis, und zwar einer Erkenntnis, die sich letztlich gegen die Moral des Predigtexempels richtet. Was Filippos Sohn geschieht, wird nicht mehr als abschreckendes Beispiel angeboten, sondern es offenbart sich hierin eine Naturmacht, der gegenüber sich die Haltung, die hinter dem Exempel steht, als kurzsichtig und falsch erweist. Nahe verwandt mit Odos Version ist auch das mittelhochdeutsche Maere vom Gänslein. Wieder wird unsere Episode von einem jungen Mönch erzählt, der hinter Klostermauern aufgewachsen ist und seinen Fuß noch nie in die Welt gesetzt hat. Eines Tages aber nimmt der Abt ihn mit, als er die Güter des Klosters besuchen muß. Der Abt erklärt dem Unerfahrenen unterwegs alles, was ihnen begegnet. Abends kehren sie in einem Meierhof des Klosters ein, und da sieht der Mönch zum erstenmal weibliche Wesen, die Frau und die Tochter des Meiers. Er fragt, was das für Geschöpfe seien, und der Abt antwortet, das seien Gänse, worauf der Junge bemerkt, daß sie ihm sehr gut Giovanni Boccaccio, >DecameronLes oies de frere Philippe< abhängig, vgl. REGNIER 1889, S. 3ff. Kritisch hg. von PFEIFFER 1851; unabhängig davon VON DER HAGEN 1961, II, S. 37ff., Nr. XXIII. Vgl. LEITZMANN 1924, S. 260f.; ferner FISCHER, H. 1968, S. 319. Die erst später entdeckte Fassung des Karlsruher Kodex 408, 46ra-48rb, jetzt bei SCHMID 1974, S. 218-225, auch in: KULLY/RUPP 1972, S. 72-81.

11

gefielen und man solche Wesen doch auch im Kloster halten sollte. Alles lacht. Aber die Meierstochter nimmt sich vor, so großer Unwissenheit abzuhelfen. Sie erscheint nachts am Bett des Mönchs; sie sagt, daß das Gänslein friere, und bittet ihn, es bei sich zu wärmen, was dieser denn auch in aller Ausführlichkeit tut. Auf Anraten des Mädchens schweigt der Mönch aber darüber. Als freilich später an Weihnachten der junge Mönch im Kloster den Rat gibt, jedem Bruder zum Fest ein Gänslein zu schenken, da sie gut schmecken würden, wird der Abt mißtrauisch. Er nimmt den Mönch ins Gebet und erfährt die Geschichte. Er ist aber einsichtig genug, sich selbst die Schuld zuzuschreiben und die Lehre daraus zu ziehen, daß die Wahrheit ein besserer Schutz gewesen wäre als die Täuschung. Der Lehrsatz am Schluß scheint dieses Maere zu einem Exempel zu stempeln. Aber im Gegensatz zu den Varianten im >Barlaam< und bei Odo/Boccaccio wird die Handlung hier zu Ende gespielt; sie läuft bis zur Verführung weiter und ergänzt sich damit im Sinne der ursprünglichen Erzählung. Die Eigengesetzlichkeit der Handlung schlägt durch, sie trägt nun sich selbst; die Lehre ist im Grunde nur noch Anhängsel, sie ist relativ dünn, und ihre Pointierung hat etwas Beliebiges 17 : das Exempel ist - bis auf diesen dürftigen Rest - in die literarisch autonome Form des Schwanks übergegangen. Im amerikanischen Westen sieht die Geschichte schließlich folgendermaßen aus: Ein Farmer, der mit seinem Sohn allein auf einer einsamen Farm lebt, nimmt ihn, als er 17 Jahre alt geworden ist, zum erstenmal in die Großstadt mit. Dem Jungen gefällt alles. Aber dann fragt er: „Sag, Dad, was sind das für komische Wesen mit den langen Haaren und dem Stück Stoff über den Beinen?" „Die heißen Frauen", antwortet der Vater. „Und wozu sind die?" will der Sohn wissen. „Well - wenn man so alt wird wie du, holt man sich eine und nimmt sie auf die Farm mit, wo sie dann arbeitet." „Ich möchte auch eine haben", sagt der Sohn. Also sucht der Vater ihm eine Frau und schickt sie mit ihm auf die Farm, während er in der Stadt bleibt. Nach einiger Zeit besucht er den Sohn und findet alles zum besten: Die Farm ist vergrößert, neue Ställe sind gebaut, nur - von der Frau ist nichts zu sehen. Als er sich nach ihr erkundigt, wird der Sohn ernst: „Ach, mit der haben wir Pech gehabt, Dad. Gleich am zweiten Tag, als ich sie zum Brunnen nach Wasser schickte, brach sie sich den Knöchel. Hab ich sie natürlich gleich erschießen müssen."18 Der Witz dieser Version beruht darauf, daß die Logik der Geschichte auf den Kopf gestellt wird: die Macht des Eros, die unsere Erzählung über die Jahrhunderte weg weltweit immer wieder neu demonstriert hat, stößt endlich im amerikanischen Westen an ihre Grenze. Zum erstenmal bekommt der unerfahrene Junge seinen Wunsch erfüllt : er darf eines der seltsamen Wesen mit nach Hause nehmen, doch den optimalen Bedingungen zum Trotz endet alles in einem Kurzschluß. 19 Wie steht es bei dieser literarhistorischen Reihe um Aktualität und Verbindlichkeit? Die Erzählung von der Verführung des Asketen Rsyasrnga und dem damit bewirkten Sie ist hier - wie bei vielen Maeren - in der Überlieferung variabel; vgl. den Schluß der Karlsruher Fassung, wo nicht der Abt erkennt, daß die Wahrheit hilfreicher gewesen wäre, vielmehr der Dichter aus dieser Einsicht heraus dem Abt Vorwürfe macht, weil dieser den Mönch eine Tat büßen läßt, für die der Abt im Grunde selbst verantwortlich sei. HERMES 1964, S. 54, nach >HUMOR seit Homer< 1964, S. 176, aus Percy's Anecdotes, Anfang 19. Jahrhundert. Das >BarlaamBarlaamBarlaamBarlaamGänslein< gerundet wäre, und 14

die Macht des Eros läßt sich durch eine Unzahl anderer Geschichten mindestens ebenso überzeugend demonstrieren. Im Entwerfen der Korrelation steckt Risiko, Zufall und Freiheit. Es entwickelt sich ein Spiel mit den Interferenzen. Die direkte funktional-pragmatische Bindung ist dabei gewiß nicht unwesentlich, doch ist zugleich zu beachten, daß die Situation als ganze in das Spiel eingeht. Und die Situation korrigiert, akzentuiert oder erweitert nicht nur, sondern sie gibt dem Wort überhaupt erst seinen Sinnhorizont. Die amerikanische Variante des >BarlaamDecameronArmer Heinrich< dar. Der Stoff ist spät auch als kurzes lateinisches Exempel überliefert.23 Es ist zu einer Kontroverse darüber gekommen, ob dieses >Henricus PauperHenricus Paupen ist überaus simpel, er zielt eindeutig auf eine bestimmte Lehre. Henricus Pauper ist im Gegensatz zum Armen Heinrich Hartmanns ein zweiter Hiob, der seine Krankheit geduldig trägt. Das hindert ihn freilich nicht daran, das Mädchen, das sich für ihn opfern will, bedenkenlos-fröhlich zum Arzt zu führen. Doch ohne große Bemühung um eine Motivation läßt der Erzähler das bessere Ich siegen: der Arzt braucht nur das Gefäß hinzustellen, um das Blut des Mädchens aufzufangen, und schon lehnt Henricus das Opfer ab. Selbstverständlich, daß der liebe Gott den Verzichtenden heilt: Wer geduldig ausharrt, den wird Gott erlösen. Das ist schlichteste Exempelmechanik. In welchem Maße die Handlung bei Hartmann komplexer und differenzierter erscheint, ist bekannt und braucht im einzelnen nicht dargestellt zu werden. Es sei nur daran erinnert, daß sein Armer Heinrich zunächst rebelliert, daß er dann nur zögernd das Opfer des Mädchens annimmt und daß die Wende erst im letzten Augenblick erfolgt, als Heinrich das Meierstöchterlein nackt auf dem Tisch des Arztes liegen sieht. Was dabei eigentlich vor sich geht, wird nicht gesagt, es wird nur die Situation von außen gegeben, und dazu kommt ein Wort des Dichters, das in seiner selbstverständlichen Schlichtheit jenseits von allem Problematisieren liegt; Heinrich, häßlich, vom Aussatz befallen, ist betroffen von der Schönheit des jungen Mädchens, das sich für ihn hinschlachten lassen will: nü sach er si an unde sich und gewan einen niuwen muot.2S Das genügt, um das Wesentliche zu vermitteln: die Verwandlung eines Menschen, die sich im Grunde nicht beschreiben läßt, sondern nur über eine Brechung zu evozieren ist. Während die Handlungsmechanik des traditionellen Exempels auf die Lehre ausgerichtet ist, demonstriert Hartmanns Brechung das Nicht-Lehrbare einer inneren WenKLAPPER 1914 [b]: Das >Henricus PauperDer aussätzige AlbertusPulcrum de leproso curatcx, S. 233-235. gl- KLAPPER 1914 [a], S. 234; VON KRAUS 1930. Im Gegensatz zu Josef Klapper ist Carl von Kraus der Ansicht, daß das lateinische Exempel als Ableger von Hartmanns >Armem Hein^ rich< aufzufassen ist.

2Nala und Damayantl< stellt, die aber nun unverkennbar mythischen Charakter besitzt. Es handelt sich um die Sage von Midir, Etain und Eochaid.14 BERGIN/BEST 1938. Für die Überlieferungslage, die Forschungssituation und die weitere Literatur sei auf die Einleitung zu dieser Ausgabe verwiesen. - Auf die Motivverwandtschaft mit >Nala und Damayanti< hat DILLON 1947, S. 137, aufmerksam gemacht; vgl. auch DILLON 1948, S. 56 Anm. 7 und S. 57 Anm. 8. Siehe auch THOMPSON 1955-58, H 161. 28

IV Der Hochkönig von Irland, Eochaid, gewinnt eine Frau von besonderer Art und Schönheit. Ihr Name ist Etain. Eines Tages aber erscheint ein Jenseitsfürst, Midir, und erklärt ihr, daß sie seine Frau sei. Durch die Eifersucht einer zweiten Gattin aus dem Jenseitsland vertrieben, sei sie als leuchtendes Insekt ins Diesseits geflogen und hier schließlich als Mensch wiedergeboren worden, ohne sich an ihre Herkunft erinnern zu können. Midir verlangt, daß sie zu ihm zurückkehre. Doch Etain will ihren irdischen Mann nicht verlassen. Da begibt sich Midir zu Eochaid und fordert ihn zum Spiel heraus. Er läßt den irischen König ein ums andere Mal gewinnen und wiegt ihn so in Sicherheit. Schließlich schlägt Midir ein letztes Spiel vor, bei dem der Gewinner hinterher den Einsatz bestimmen dürfe. Eochaid geht darauf ein, und diesmal verliert er. Midir verlangt, Etain einmal umarmen und küssen zu dürfen. Der König, beunruhigt, erbittet sich einen Aufschub von einem Monat. Nach Ablauf dieser Frist versammelt er alle Helden Irlands bei sich. Er stellt die Krieger um seine Burg herum und auch im Innern auf und läßt alle Tore schließen. Doch plötzlich erscheint Midir in seiner ganzen überirdischen Pracht mitten unter ihnen. Er legt seinen Arm um Etain, und da schweben beide in die Höhe und fliegen durch das Dachfenster davon. Man eilt hinaus, aber man sieht nur noch zwei Schwäne über der Burg kreisen und dann in der Ferne verschwinden. Eochaid läßt Etain überall suchen. Schließlich findet er heraus, daß sie sich mit Midir in einem ganz bestimmten Elfensitz befindet. Er geht mit bewaffneter Macht gegen diese Jenseitsfestung vor, und er kann Midir so in die Enge treiben, daß dieser sich bereit erklärt, Etain zurückzugeben. Doch als Eochaid seine Frau holen will, sieht er sich 50 Frauen gegenüber, die alle so aussehen wie Etain. Da fordert er sie alle auf, ihm Wein einzuschenken: an der besonderen Art, wie seine Frau dies tut, meint er, sie sicher erkennen zu können. Und so trifft er seine Wahl. Erst viel später erfährt er, daß ihm dabei seine eigene Tochter zugespielt worden ist, die Etain im Jenseitsland geboren hat. Die Übereinstimmungen zwischen dieser irischen Sage und der indischen Erzählung von Nala und Damayantl und zunächst auch jener von Sukanyä sind nicht zu übersehen. Hier wie dort wird einem Sterblichen die Frau von einem oder mehreren überirdischen Konkurrenten streitig gemacht. Und wenn es darum geht, den irdischen Rivalen auszuschalten, taucht hier wie dort dieselbe List auf: in Indien werden Nala und Cyavana, in Irland wird Etain vervielfacht. Anders freilich als Sukanyä sind Damayantl und Eochaid von sich aus nicht in der Lage, eine Entscheidung zu treffen.15 Die Hilfe muß von der andern Seite kommen, sei es, daß die Götter ihre Identität offenbaren wie in Indien, oder sei es, daß die Partnerin sich durch eine Geste verraten soll wie in Irland. Ein zweiter paralleler Komplex - hier fällt >Sukanyä< aus - ist mit dem Motiv des verhängnisvollen Spiels gegeben. In der irischen wie in der indischen Erzählung werden Ehe und Glück dadurch zerstört, daß ein Gott den irdischen Rivalen in heimtückischer Weise zum Spiel verlockt oder zum Spielen treibt. Aber auf der andern Seite sind die Differenzen beträchtlich. In Irland ist Eochaid der irdische Partner einer Frau, die halb diesseitig und halb jenseitig ist und die ihm von einem Gott streitig gemacht wird. In Indien spielt die weibliche Figur die irdische 5v

gl. jedoch oben Anm. 6. 29

Rolle, wobei der männliche Partner zwar nicht überirdischer Natur ist, aber doch so wunderbare Züge aufweist, daß er in bestimmten Phasen gottähnlich erscheint: so wird Nala nicht nur auf übernatürliche Weise in den Palast zu DamayantI gebracht, sondern am Ende fliegt er gleichsam mit Rtuparnas Gespann zu ihr über Berg und Tal; die Besessenheit durch Kali schließlich versetzt ihn in einen außermenschlich-übermenschlichen Zustand. Im übrigen besitzt auch die parallele Figur in der Sukanyä-Geschichte, Cyavana, übernatürliche Kräfte, mit denen er sogar die Götter in Bedrängnis bringen kann.16 Aber nicht nur die Figurenkonstellation ist umgedreht, sondern auch die Kreisbewegung zwischen Gewinn, Verlust und Wiedergewinn des überirdischen Partners ist sozusagen anders geschnitten, und die Umbruchmotive sind entsprechend an anderer Stelle eingesetzt. In Irland beginnt die Erzählung mit dem Verlust der Frau. Das Motiv des verhängnisvollen Spiels steht deshalb am Anfang, während die List mit der Gestaltgleichheit bei der Rückführung der Frau aus dem Jenseitsland Verwendung findet. Die Nala-Erzählung setzt dieses Motiv zu Beginn bei der Gattenwahl ein, das Spiel folgt hinterher als Trennungsmotiv. Die Rückgewinnung vollzieht sich dann auf eine Weise, die in der irischen Sage keine Entsprechung besitzt. Es stellt sich die Frage, wie angesichts dieses Befundes methodisch weiter zu verfahren ist. Man kann im Prinzip auf dem eingeschlagenen Weg vorangehen, d. h., indem man eine Verwandtschaft der in Frage stehenden Erzählungen voraussetzt, die irische Variante über die bisher besprochenen Belege kopieren, um auf einer möglicherweise nochmals höheren Abstraktionsstufe das zugrundeliegende Modell mit seinen Variablen noch klarer herauszuarbeiten. Es würde sich folgendes ergeben: Die Sage von Midir und Etain bestätigt nicht nur, daß die Phasen der Begegnung und Trennung umgestellt werden können, sondern es zeigt sich zudem, daß auch die Rollen von Mann und Frau austauschbar sind. Vor allem aber erscheint nun der Sinn der Übergangsmotive durchsichtig, indem deutlich wird, daß das Geschehen sich zwischen zwei unterschiedlichen Realitätssphären abspielt. In der irischen Sage konkretisiert sich dies als Beziehung zwischen einem irdischen und einem überirdischen Partner. In der Skadi-Geschichte sind verschiedene Götterklassen betroffen, während in Indien zwar auch Götter und Menschen in Konflikt geraten, der mutmaßlich überirdische Charakter des eigentlichen Partners aber bestenfalls noch zu ahnen ist. Man darf somit sagen, daß die besonderen Bedingungen der Gattenwahl ihren Sinn in der Konfrontation unterschiedlicher Sphären finden: die Unmöglichkeit der Wahl bedeutet, daß der Partner aus dem höheren Bereich aus eigenem Willen oder durch einen anderen, übergeordneten Willen veranlaßt herabsteigen muß. Der Rückfall in diesen Bereich erscheint dann als Gestaltwandel, als Übergang in eine nichtmenschliche Form: Etain als Schwan; Nala, der, von einem Dämonen besessen und durch einen Schlangenstich unkenntlich gemacht, seine Identität verliert. Und von hier aus ließe sich dann vielleicht auch das besondere Verhältnis der Skadi-Geschichte zu diesem Grundriß beschreiben und verständlich machen: Skadi wählt unter den Äsen versehentlich den Meergott Njordr, einen unter ihnen befindlichen Vanen, d. h. einen Partner ihrer eigenen Sphäre: der Abstieg ist zu einem Irrtum geworden, es entsteht eine Art Kurzschlußvariante. '6 Zur möglicherweise mythisch-göttlichen Abstammung von Cyavana/Cyaväna vgl. KUHN, A. 1968, S. 12f. Dabei können seine naturmythologischen Spekulationen zur Cyavana-SukanyäGeschichte (S. 14) hier außer Betracht bleiben.

30

Damit ist das Handlungsspiel im Rahmen eines Systems von kontrastiven Positionen soweit durchsichtig geworden, daß sich eine dezidiert strukturalistische Interpretation des in Frage stehenden Motivkomplexes anbietet: Es zeichnet sich deutlich eine mythische Grundstruktur ab. Das Geschehen spielt zwischen zwei Ebenen, einer höheren/göttlichen und einer niedrigeren/menschlichen. Die Bewegung verläuft in einem Phasenwechsel, der umkehrbar ist. Die Wendepunkte sind durch Variable markiert, die einen gewissen Spielraum besitzen. Die Motive in den Wendepunkten bedeuten den Übergang von der einen Ebene zur andern. Das Motiv der Wahl zielt auf die Gewinnung oder Rückgewinnung des Partners. In diesem Übergang steckt ein irrationales Moment, das nicht in den Griff zu bekommen ist, was durch die Wahl zwischen mehreren gleich Aussehenden zum Ausdruck gebracht wird. Das zentrale Motiv des Verlustes ist das Spiel, d. h. das Verspielen des Partners; auch hier wieder ein irrationales Moment beim Rückfall in die Gegensphäre: der Spieler ist dem Zufall oder der Manipulation von drüben ausgeliefert. Als Motive des Übergangs erscheinen ferner der Flug, die Tier-, insbesondere die Vogelgestalt, die Dämonisierung, die tierähnlich macht, der Asket, der Verwilderte - letztere sozusagen als abgeschwächte Formen einer transzendenten Existenz. Der konkrete Mythos spielt diese Struktur anhand der vorgegebenen Motive immer wieder neu aus. Es wäre nun zweifellos möglich, diese Struktur noch dezidierter von den Oppositionspaaren her zu beschreiben, zwischen die die Bewegung eingespannt ist, und man würde sich damit zusehends mehr der strukturalistischen Mythenanalyse von Claude Levi-Strauss nähern. Doch schon der bisherige Abstraktionsgrad dürfte genügen, um deutlich zu machen, was mit einer solchen Analyse erreicht werden kann. Sie zielt auf ein unveränderlich-objektives System, das die konkret ausformulierende Bewegung in einem gewissen Spielraum steuert. Es gibt keine Entfaltung, keine Geschichte, es gibt nur die Transformation des Ewig-Gleichen, bestenfalls abgebrochene Formen oder Kurzschlußlösungen wie die von Skadis Vaterbuße. Verstehen und interpretieren kann man die einzelnen Ausprägungen immer nur auf die Grundkonstellation hin, d. h., Interpretation heißt hier Reduktion auf das System, heißt Abstraktion auf die Struktur hin. Sucht man die individuelle Ausprägung, so bleibt nichts, als diese Abstraktion wieder rückgängig zu machen. Damit aber ist jener Punkt berührt, von dem aus der Strukturalismus immer wieder am schärfsten kritisiert worden ist: so ist Levi-Strauss von Paul Ricceur entgegengehalten worden, daß das Individuelle für den Strukturanalytiker nur insoweit Interesse besitze, als es das Resultat eines Generierungsprozesses sei. Es verstehe sich immer nur als Spielform im Blick auf die Grundstruktur. Man habe es deshalb bestenfalls mit Quasi-Individualitäten zu tun.17 Auf der andern Seite droht die Struktur sich, je weiter man den Abstraktionsprozeß vorantreibt, im VagAllgemeinen zu verflüchtigen, und wenn man sie festzumachen versucht, so steht man am Ende, wie Hugo Kuhn anmerkte,18 bei psychischen, gesellschaftlichen, mythischen oder narrativen Selbstbewegungen. All dies ist im Grunde jedoch schon in der strukturalistischen Strukturdefinition impliziert. Sie lautet: Unter Struktur ist ein Regelsystem zu verstehen, das, auf einen bestimmten Bereich von konkreten Gegebenheiten bezogen, diesen als Ganzheit kon17 18

RICOEUR 1969, S. 43ff. Vgl. im weiteren HAUG, W. 1979 [d], insbes. S. 8ff. KUHN, Hugo 1979 [b]/1980 [b]. 31

stituiert und Bewegungsabläufe als Spielformen eines Grundmusters ermöglicht und steuert.19 Die Definition bestätigt damit die zuvor gegebene Kritik: die Struktur erscheint als ein Apriori, das nicht weiter zu hinterfragen ist, und die einzelne Bewegung kann als Transformation des Grundmusters immer nur Variante ohne echte Individualität sein. Daraus aber ergibt sich e contrario: Echte Individualität konstituiert sich allein in der Auseinandersetzung mit einer Struktur, in der Überwindung generativer Muster, in der Blickwende vom Überzeitlich-Allgemeinen auf das Einmalig-Geschichtliche.

V Es bietet sich an, von diesen Überlegungen aus das Verhältnis des Mythischen zum Literarischen neu zu durchdenken. Wenn man davon ausgeht, daß sich historisch eine Ablösung des Literarischen vom Mythischen vollzogen hat, so dürfte sich dieser Prozeß als Durchbruch durch die Objektivität und Zeitlosigkeit des mythischen Systems verstehen lassen. Das Literarische tritt gegen die Gesetzlichkeit des transformierenden Spiels an, bricht es auf und problematisiert es; es kommt zur individuellen Gestalt, und damit ist auch der Punkt erreicht, an dem eine Interpretation im eigentlichen Sinne erst möglich wird, denn an diesem Punkt entfaltet sich ein Sinnpotential, das aufgeschlossen und weiterentwickelt werden kann. Die literarische Ablösung vom Mythischen erscheint damit nicht, wie man gemeint hat, als eine Art Säkularisation oder Transposition mythischer Komplexe auf eine andere Ebene, auf der sie dem Erzähler frei zur Verfügung stünden, sondern literarische Ablösung heißt zunächst Nacherzählen des Mythos mit einer neuen Einstellung, Nacherzählen im Blick auf das Geschichtlich-Individuelle und seine Problematisierung gegenüber dem objektiv-gesetzlichen Ablauf mythischer Prozesse. Damit soll nicht behauptet werden, daß es auf literarischer Ebene nicht wieder zu Strukturen eigener, narrativer Art kommen und dabei das, was in der Wende an Individualität gewonnen worden ist, nicht wieder verlorengehen könnte. Es besteht grundsätzlich die Tendenz, ein sich auflösendes System in ein neues überzuführen. Doch besitzt gerade der Bereich des Literarischen durch die ihm wesentliche Möglichkeit zur Selbstreflexion die besondere Chance, seine strukturellen Verfestigungen immer wieder zu durchbrechen und in individueller Innovation zu übersteigen. Das bevorzugte Interesse des Literarhistorikers wird diesen Umbrüchen gelten. Zugleich liegt darin die methodische Legitimation, mit Strukturen zu arbeiten, auch wenn diese direkt kaum festzumachen sind, sondern als Hintergrundsysteme erscheinen, gegen die sich die individuellen literarischen Gestalten abheben. Was auch immer als mythische Struktur hinter den Erzählungen von Skadi, Sukanyä, Damayanti und Etain stehen mag, es erübrigt sich, darüber im einzelnen zu spekulieren, das Interesse gilt vielmehr der Art und Weise, in der mythische Schematismen bei der Literarisierung in die Reflexion geraten und sich in dieser Auseinandersetzung erzählerisch niederschlagen. Die hypothetischen mythischen Strukturen tun also ihren Dienst als Hilfskonstruktionen bei der Blickwende auf den literarischen Prozeß, der gegen die Prinzipien der Zur Stukturdefinition vgl. PIAGET 1968; dt. 1973. 32

vorausliegenden Handlungsschemata angeht, ungeachtet der Frage, wie diese sich konkret realisiert haben mögen und tradiert worden sein könnten. Die Geschichten von der Gattenwahl Skadis, Sukanyäs, Damayantls und Eochaids sind selbstverständlich keine Mythen mehr, sondern sie sind Literatur. Dabei sind die Übergänge in unterschiedlicher Weise vollzogen worden. Hinsichtlich der spezifischen Blickwende gehören >Sukanyä< und >DamayantI< offenkundig näher zusammen. Die literarische Problematisierung setzt hier am Übergang des göttlichen Partners zu seiner menschlichen Existenz an: die Unmöglichkeit der Wahl, die die Irrationalität des Übergangs bedeutet, wird neu interpretiert, sie wird vom liebenden Menschen aus gesehen und bewältigt. Sukanyä gelingt es mit der Kraft ihrer Liebe, unter den drei gleichen Gestalten die Individualität ihres Gatten zu fassen. In der Geschichte von Nala und DamayantI wird daraus explizit ein Bekenntnis zum irdischen Geliebten, zu seiner Vergänglichkeit und Unzulänglichkeit, also eine Entscheidung für den besonderen Menschen gegen die ideale Gleichförmigkeit des Göttlichen. Das bedeutet: der mythische Übergang wird in der Weise literarisiert, daß das Göttliche sich vom Menschlichen scheidet; dabei wird die individuelle, personale Liebe zum Sinn, unter dem auch das weitere Geschehen abläuft. Sie bewährt sich beim Rückfall Nalas in die Sphäre des Außermenschlichen, die nun negativ als Kali-Besessenheit gefaßt wird, und die Rückgewinnung erscheint dann als Erlösung durch Damayantls Treue und ihr absolutes Vertrauen. Liebe ist nicht mehr eine Funktion des mythischen Prozesses, sondern Liebe heißt nun Sich-Herauslösen aus dem Funktionalen, heißt persönliche Begegnung im Sich-Absetzen von einem unpersönlichen Prozeß. Ist das einmal geschehen, ist der Kreislauf einmal durchbrochen und hat man das Überirdische, Übermenschliche, Unmenschliche einmal besiegt, so kann der Wechsel zur nächsten Phase unter ein negatives Vorzeichen treten: sie wird dämonisiert, der Rückfall in den mythischen Prozeß bedeutet Verfallensein an eine böse göttliche Macht. Demgegenüber scheint die irische Erzählung von Midir und Etain der objektiven Schematik des Mythos noch sehr viel stärker verpflichtet zu sein. Die Auseinandersetzung des Irdischen mit dem Jenseitigen steht hier nicht am Anfang, sondern die überirdische Frau erscheint im Diesseits der Gesetzlichkeit des mythischen Wechsels entsprechend von selbst. Die Auseinandersetzung beginnt erst, als Etain von ihrem Jenseitsgemahl reklamiert wird. Wenn hierbei eine Wende zu einer literarischen Einstellung faßbar wird, dann am ehesten noch in dem zähen Trotz des irdischen Partners der mythischen Mechanik gegenüber. Etain auf der andern Seite ist so gut wie ohne eigenen Willen. Ihre Individualität geht in ihrer Idealität auf. Und wenn Eochaid dann nicht Etain, sondern die Tochter bei der Wahl zurückgewinnt, so macht dieser Irrtum kaum einen Unterschied. Mythisch ist die Tochter die erneuerte Etain. Und Skadi? Hier ist vom Mythos kaum mehr übriggeblieben, als was sich punktuell literarisch nützen ließ: der Witz des kurzgeschlossenen Übergangs in der Gattenwahl auf der einen und die elegisch verselbständigte Klage Skadis über das Leben am Meer bzw. Njordrs über das Leben auf den Waldhöhen auf der andern Seite. Im Mittelalter ist dann jedoch auch die irische Form des Mythos in einer ihrer Auszweigungen voll literarisiert worden, wobei man sie mit dem Personal des Artusromans besetzte: ich denke an Chretiens >Chevalier de la CharreteLancelotLancelot< ins Zwischenmenschliche übersetzt; die scheinbaren Widersprüche lösen sich auf, wenn man erkennt, daß die mittelalterliche Literarisierung des Themas das irrationale Moment im Übergang zwischen Diesseits und Jenseits auf die Begegnung zwischen dem Ich und dem Du überträgt. Die Liebesnacht zwischen Lancelot und der Königin findet an einem Ort statt, der mythisch gesehen im Jenseits liegt. Das heißt: bei der Liebe, die hier erfahren wird, geht es nicht um ein Sich-Behaupten im Irdischen, sondern um eine Annäherung an etwas Jenseitig-Göttliches. Sie ist Ausnahmesituation, ist etwas Einmalig-Transreales, das sich nicht halten, nicht ins Diesseits einbringen läßt: Guenievre kehrt ohne Lancelot zu Artus zurück. Das ist der Punkt, an dem hier die literarische Umgestaltung problematisierend den mythischen Prozeß durchbricht. Lancelot bleibt im Jenseitsland gefangen. Nur incognito und auf Urlaub kann er zurückkehren. Er erscheint als der unbekannte große Sieger auf mehreren Turnieren. Nun ist er es, der von der Idealität der jenseitigen Sphäre sozusagen affiziert ist, nun muß er sich auf einen Wink der Königin zu erkennen geben, indem er gewissermaßen unvollkommen-menschlich kämpft, sich feige stellt und verliert. Das ist die kontrapunktische Wiederholung des Übergangsmotivs aus der diesseitigen Perspektive. Ein letzter Schritt: vom Mittelalter in die Neuzeit. Hier hat man schließlich die entmythologisierende Literarisierung ganz in die Subjektivität hineingenommen. Das wohl eindrucksvollste Beispiel ist die Neuformulierung des Motivs von der Wahl zwischen gleichgestaltigen menschlichen und göttlichen Figuren im Kleistschen >AmphitryonEddaOdyssee< zurück: Wenn man aus einer Episodenreihe eine bestimmte Episode oder Episodengruppe herausgreift und von ihr her erzählt, dann öffnet sich von dieser Episode oder Episodengruppe aus eine Sinnperspektive, unter die die Gesamterzählung tritt. Oder anders ausgedrückt: Das, was insbesondere in dieser Episode oder Episodengruppe vor sich geht, erhält einen den aktuellen Vorgang übersteigenden Sinn; der Vorgang wird - wie eben kritisch gegenüber Greimas demonstriert - metaphorisch. Im Vorgang der konkreten Heimkehr des Odysseus wird das Heimkehren zum Thema. Interpretieren heißt, konkrete Vorgänge so durchsichtig machen, daß sie metaphorisch über sich selbst hinausführen. Das aber heißt zugleich, daß sich diese Metaphern ablösen, daß sie sich verselbständigen können, wobei sich im Spiel der Interpretationen ein metaphorischer Horizont aufbaut. Der erwähnte historisch-hermeneutische Prozeß ist also immer auch ein Auf- und Umbauen dieses metaphorischen Horizontes. Der Interpretationsprozeß ist somit doppelt bezogen, zum einen auf die konkrete Erzählung bzw. das in ihr anvisierte Handlungsmuster und zum andern auf den metaphorischen Horizont, der seine Interpretationsmuster anbietet. Wie komplex diese Doppelbeziehung sich darstellt, läßt sich am besten zeigen, wenn man von folgendem Einwand ausgeht: Man könnte nämlich sagen, bei dem prinzipiell offenen narrativ-hermeneutischen Prozeß müsse es doch einen absoluten Nullpunkt geben, nämlich jenen Punkt, an dem ein Erzähler zum erstenmal einen faktischen Vorgang in Worten wiedergibt. Aber das ist insofern nur bedingt richtig, als gerade an diesem 42

Punkt die Sinnvorgabe vom metaphorischen Horizont her besonders deutlich faßbar wird: der Erzähler kann den betreffenden Vorgang nämlich nur dann als einen irgendwie sinnvollen Zusammenhang aufnehmen und darstellen, wenn ihm dafür Interpretationsmuster zur Verfügung stehen. Es ist also nicht nur so, daß im fortschreitenden Interpretationsprozeß über die immer neuen Akte des Erzählens der metaphorische Horizont immer neu entworfen, bestätigt, vertieft, verändert würde, sondern dieser Sinnhorizont bietet in der Gegenrichtung seine Metaphern zum sinnvollen Erzählen an, besonders offensichtlich bei der ersten Umsetzung von Faktischem ins Wort, aber natürlich auch weiterhin immer wieder. Dies deshalb, weil der Horizont intersubjektiven Charakter besitzt, also in einem dialektischen Verhältnis zur individuellen Interpretation steht. Diese Dialektik stellt den Literaturhistoriker vor schwierige Probleme. Es gibt zwar die großen epochalen Besetzungen im metaphorischen Horizont, so daß es immer wieder möglich erscheint, die eine bestimmte Zeit prägenden Metaphern-Konfigurationen zu fassen. Aber lebendig sind sie nur in ihrer geschichtlichen Bewegung, als Vorstoß und Entwurf, d. h., sie sind letztlich nur von den literarischen Gestaltungen her zu fassen, über die die Besetzungen dargestellt werden, in denen mit den Besetzungen experimentiert wird, über die man sie diskutiert und propagiert. Das interpretierende Neuerzählen verändert den metaphorischen Horizont, und diese Veränderung wirkt in das interpretierende Neuerzählen hinein. Und so bleibt uns als Literaturhistorikern denn nichts, als mit dieser Schwierigkeit zu leben.

V Was das konkret heißen kann, läßt sich zeigen, wenn man den historischen Prozeß am Motiv und an der Metapher der Heimkehr weiterverfolgt. Denn gerade auch das Heimkehrmotiv ist im Laufe der abendländischen Geschichte in seiner metaphorischen Position im Interpretationshorizont mehrmals radikal und aufschlußreich umbesetzt worden. Otfrid von Weißenburg erzählt in Kapitel 1,17/18 seines Evangelienbuches die Geschichte von den Heiligen Drei Königen. Sie kommen, ihrem Stern folgend, zu Herodes und fragen ihn nach dem neugeborenen König. Die Schriftgelehrten in Jerusalem wissen nichts Genaueres. Herodes bittet die drei Weisen aber - nicht ohne Hintergedanken -, ihm auf dem Rückweg Bericht zu erstatten. Sie finden das Kind in der Krippe; doch von einem Engel im Traum gewarnt, sprechen sie nicht mehr bei Herodes vor, sondern kehren auf einem andern Weg in ihre Heimat zurück. Otfrid greift bei der sich anschließenden Exegese diese 'Heimkehr auf einem andern Weg' heraus. Er deutet sie so: Die Reise der Heiligen Drei Könige mahnt uns, nach der Begegnung mit Christus einen neuen Weg einzuschlagen, einen Weg, der uns in unsere Heimat zurückführt. Diese Heimat ist das Paradies, ein Land, „in dem Leben ohne Tod ist, in dem Licht ist ohne Finsternis . . . und ewige Freude" (I,18,9f.), es folgt eine Klage darüber, daß wir durch unsere Schuld diese Heimat verloren haben, daß wir wegen unseres Hochmuts und Eigenwillens verstoßen worden sind und nun in der Fremde leben müssen, wo es nur Weinen gibt und Bitternis: „Oh, du fremdes Land, wie bedrückend bist du . . . ; fern der Heimat lebt man unter Qualen; keine Freude habe ich 43

hier gefunden; nichts habe ich hier gewonnen als eine tränenschwere Seele, ein weherfülltes Herz und viel Leid" (1,18,25-30). Nach dieser in sehr persönlichen Tönen gehaltenen Klage wendet sich Otfrid wieder der biblischen Geschichte zu. Er fährt fort: „Wenn uns aber das Heimweh ganz erfaßt hat..., dann gehen wir wie die drei Könige eine andere Straße, wir wenden uns dem Weg zu, der in die Heimat führt" (1,18,31-34). Dieser andere Weg ist der Weg der Güte, der Demut und der wahren Liebe. Er führt uns sicher in die himmlische Heimat zurück. Diese Interpretation macht offenkundig, eine wie fundamentale Akzentumsetzung im Vorstellungskreis 'Heimat, Fremde, Heimkehr' vor sich gegangen ist. Doch hat natürlich nicht Otfrid sie vorgenommen, sondern er ist nur der Erbe eines seit der Patristik verwandelten metaphorischen Horizontes. Und diese Verwandlung hat sich nicht zuletzt in programmatischer Umdeutung der antiken Heimkehrepen, der >Odyssee< und auch der >AeneisOdyssee< die Umstrukturierung nach dem Ordo artificialis leistet, das leistet hier die Thematisierung der conversio. Von ihr her wird aber nicht nur interpretiert, sondern sie enthält auch jenen Appell Otfrids an die Zuhörer, ebenfalls umzukehren und sich aufzumachen, um den neuen Weg in die Heimat zu suchen. Das Eigentümliche dabei besteht nun darin, daß diese Öffnung der Perspektive auf den Rezipienten hin das Erzählen in die Reflexion bringt. Und dies gerade im Blick auf den spezifischen metaphorischen Horizont, den es vermittelt. Das Erzählen wird selbst zu einem Akt der Heimkehr, genauer: die erzählte Geschichte erscheint als Entfremdung vom Sinn, das Interpretie7

Vgl. RAHNER 1966, S. 281 ff.

8

Vgl. HAUG, W. 1970 [in diesem Band, S. 379-408).

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ren als ein Heimkehren in den Sinn. Die Dichtung zeigt sich damit als Zwischenreich, als Spiegelung des bildgesegneten und bildverfluchten Lebens, wie ein anderer großer Heimkehrer, Hermann Brochs Vergil, es formuliert.9 Deshalb die ewige Versuchung der reinen Form und auf der Gegenseite die Versuchung des reinen Begriffs: in der durch Otfrid repräsentierten Tradition erscheint der metaphorische Horizont allegorisiert. In dem Maße, in dem die Allegorese die Metaphorik festlegt, ist sie auf dem Weg zum Begriff. Aber anderseits bewirkt sie zugleich, indem sie ins begriffliche Denken hineingezogen wird, ohne von ihm aufgezehrt zu werden, eine Öffnung der Begriffssphäre zur „unbestimmten Bestimmtheit"10 der Phantasie hin und macht diese damit in unmittelbarer Anschauung erfahrbar, ohne sich ihr ganz zu überlassen. Dabei ist bei den phantasiebegabten Allegorikern ein vielschichtig-flexibles Referenzspiel möglich, so daß hier die Interpretationsbewegung nicht zum Stehen zu kommen braucht, der Prozeß vielmehr eine Sphäre nach der andern einbeziehen kann: Natur, Geschichte, Altes Testament, Neues Testament, Ordnungen jeder Art, wodurch gerade hier besonders augenfällig wird, daß jedes Bild immer nur wieder auf ein anderes verweist.

VI Die allegorisch-begriffliche Erstarrung des metaphorischen Horizontes ist ein Grenzfall. Je mehr der metaphorische Horizont ins Allegorische übergeht, um so universalistischer ist sein Anspruch. Der Interpretationsprozeß kann dabei rigorose Züge annehmen. Die Neudeutung der einschlägigen Stoffe kommt dann fast einer Usurpation gleich, und wo sie an Barrieren stößt, bringt dies für den jenseits liegenden Bereich Sanktionen mit sich: indem dieser Bereich von der Neuinterpretation bewußt ausgeschlossen wird, entzieht man ihm den Sinn. Zu dieser Rückseite der christlichen Allegorese zwei Paradefälle: Es spielt bekanntlich das Thema der Heimkehr auch in der deutschen Heldensage eine hervorragende Rolle. Es dürfte nun kaum ein Zufall sein, daß die ältesten schriftlichen Zeugnisse unserer profanen heroischen Dichtung gerade Heimkehrsagen sind, ja die Vermutung liegt nahe, daß ihre Verschriftlichung im Blick auf den beschriebenen metaphorisch-allegorischen Horizont zustande gekommen ist. Der Prototyp des heroischen Heimkehrers ist Dietrich von Bern. Er ist nach der Sage von einem Usurpator aus Oberitalien vertrieben worden; er ging an den Hunnenhof ins Exil, um nach Jahren mit einem hunnischen Heer zurückzukehren und sein Land wieder in Besitz zu nehmen. Nach unseren Zeugnissen - es sind die späten Dietrich-Epen des 13. Jahrhunderts - erscheint diese Heimkehr des Gotenkönigs jedoch merkwürdig erfolglos." Dietrich besiegt zwar seinen Gegner, aber er wird durch Verrat um die Früchte seines Sieges gebracht. Er muß erneut ins Exil gehen, muß zum zweitenmal zurückkehren, worauf sich dasselbe in Variation wiederholt. Und so geschieht es noch ein drittes Mal: in der Rabenschlacht werden die Dietrich anvertrauten hunnischen Prinzen erschlagen, so daß er als verzweifelter Sieger an den Hof seiner Gönner, zu Etzel und Helche, zurückkehrt. ' BROCH 1958, S. 82.

10

BLUMENBERG 1981, S. 16, zur „bestimmten Unbestimmtheit" des Metaphorischen. " Vgl. HAUG, W. 1979 [c] [in diesem Band, S. 364-376]. 45

Diese Dietrichsage als negative Variante der Heimkehr, als Heimkehr ohne Erfolg, läßt sich indirekt schon im 9. Jahrhundert fassen. Denn sie spiegelt sich im Hildebrandslied. Dieses Lied ist eine Abwandlung des Motivschemas vom Vater-SohnKampf. Es handelt sich hierbei um eine in Persien, Rußland und Irland belegte Wanderfabel: Ein Held zeugt in der Fremde einen Sohn und verläßt darauf seine Geliebte. Herangewachsen geht der Sohn auf die Suche nach dem Vater. Sie treffen zusammen, doch unglückliche Umstände verhindern es, daß sie sich erkennen. Es kommt zum Kampf, und der Vater tötet sein eigenes Kind.12 Dieses Motivschema ist im Hildebrandslied der ostgotischen Exilsage angepaßt worden: es ist nicht mehr der Sohn, sondern der Vater - Hildebrand -, der aus der Ferne kommt. Denn er hat seinerzeit Weib und Kind zurückgelassen, um mit Dietrich ins Exil zu gehen. Im Zwiegespräch mit dem Sohn, der ihm bei der Heimkehr an der Spitze eines Heeres entgegentritt, erkennt der Vater, wen er vor sich hat. Der Sohn jedoch schenkt den Beteuerungen des Fremden, daß er sein Vater sei, keinen Glauben. So bleibt nur der Kampf, in dem der Sohn fallen wird. In Hildebrands Schicksal spiegelt sich das Schicksal Dietrichs: beide sind Sieger, denen der Sieg bitter wird. Das Hildebrandslied ist also schon geprägt von jener Perspektive, in der der arme Dietrich der späteren Heldensage erscheint. Man hat sich vergeblich bemüht, das Hildebrandslied im Sinne einer heroisch-germanischen Tragik zu interpretieren, es von einem Konflikt zwischen Ehre und Sippenbindung oder zwischen Gefolgschaftstreue - gegenüber Dietrich - und Sohnesliebe her zu verstehen. Wie immer die mündliche Improvisation die Akzente gesetzt haben mag, bei der überlieferten Fassung ist von solchen Konflikten nicht die Rede. Demgegenüber erscheint es mir nur möglich, das Lied zureichend zu interpretieren, wenn man sich bewußt hält, daß der Vorstellungskomplex der Heimkehr seit frühchristlicher Zeit im metaphorischen Horizont der Fahrt ins Paradies steht. Wenn die Heimkehr im wahren Sinne eine Heimkehr zum transzendenten Ursprung ist, kann die profane Heimkehrsage an sich, d. h. wenn sie nicht neu gedeutet wird, nurmehr eine Heimkehr als Selbstverlust sein. In Hildebrands Kampf mit seinem Sohn gibt es keinen tragischen Widerspruch: der Vater tötet den Sohn nicht in ausweglos schicksalhafter Verstrickung, sondern er tritt gegen ihn an, weil dieser sich weigert, ihn anzuerkennen. Hildebrand sagt: „Wohl sehe ich an deiner Rüstung, daß du zu Hause einen guten Herrn hast, daß du von diesem Herrscher hier nicht in die Verbannung getrieben wurdest" (vv. 46-48), d. h., Hildebrand erkennt, daß sein Sohn sich inzwischen mit dem Usurpator, seinem Todfeind, arrangiert hat; seine Existenz hängt daran, daß der Vater tot ist und tot bleibt.13 Hildebrands Heimkehr ist damit zutiefst sinnlos geworden. Wenn er in den Kampf geht, dann ist das kein heroisches Unternehmen mehr, und wenn er siegt, dann ist das ein Sieg ohne tragische Größe, ohne heroischen Glanz. Im Rahmen der christlichen Umbesetzung der Heimkehrmetapher erscheint die heroische Heimkehrsage, ob bewußt oder zwangsläufig, als negative Variante der 12

13

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ROSENFELD, H. 1952; DE VRIES 1953/1961; VAN DER LEE 1957.

Diese Deutung der Verse 46-48 ist von Hugo Kuhn vorgeschlagen worden. Sie ist m. E. die überzeugendste Interpretation der umstrittenen Stelle und zugleich der Schlüssel zum Verständnis des Liedes: KUHN, Hugo 1968/1969 [b].

himmlischen Heimkehr. Welaga nu, waltant got, ruft Hildebrand aus, bevor er den Kampf beginnt. Der waltant got kann nur der christliche Gott sein. Die neue Welt ist präsent, aber es gibt von der profanen Konzeption aus keinen Zugang zu ihr. Das Profane kann sich nurmehr durch die traurig-sinnlose Tat als überholt entlarven. Von der historischen Logik der Phantasie her gesehen, ist zu formulieren, daß dies dadurch geschah, daß man der heroischen Heimkehr eine sinnstiftende Metaphorisierung verweigerte, indem man die Heimkehrmetapher sozusagen christlich-allegorisch blockiert hielt. Daß die mündlich-heroische Heimkehrsage im christlichen Horizont nicht nur in ein dunkles Licht getreten, sondern daß sie im neuen Horizont reflektiert und kritisch durchgespielt worden ist, beweist ein weiterer heldenepischer Stoff, der verschriftlicht und zugleich latinisiert wurde, die Walthersage'4: Waltharius und seine Braut Hildegund, die als Geiseln am Hunnenhof aufgewachsen sind, planen die Flucht in die Heimat. Waltharius gibt ein Fest, bei dem er dafür sorgt, daß die Hunnen sich gehörig betrinken. Indessen machen sich die beiden Geiseln davon und lassen im übrigen eine Truhe voll Gold mitgehen. Da die Hunnen die Flüchtigen nicht zu verfolgen wagen, kommen sie unbehelligt an den Rhein. Hier jedoch erregt der fremde Recke mit dem schönen Mädchen und dem Goldschatz Aufsehen. Der König des Landes - es ist der Günther der Nibelungensage - überfällt sie mit seinen Kriegern. Doch Waltharius, gut geschützt in einer Waldschlucht, erledigt einen Angreifer nach dem andern. Unter den Gefolgsleuten Günthers befindet sich auch Hagen, der sich aber zunächst aus dem Kampf heraushält, denn er und Waltharius sind alte Freunde. Erst als alle Krieger Günthers erschlagen sind, bringt der König Hagen dazu einzugreifen. Sie warten, bis das Paar die Waldschlucht verlassen hat, dann fallen sie über Waltharius her. Es kommt zu einem wilden Kampf, bei dem alle drei verstümmelt werden: Günther verliert ein Bein, Hagen ein Auge und sechs Zähne, Waltharius eine Hand. Unter diesen Umständen bleibt nichts, als sich zu versöhnen. Bei einem Becher Wein sitzen die Kämpfer zusammen und frotzeln sich gegenseitig wegen ihrer Verstümmelungen. Daß der >WalthariusWaltharius< mit vertauschten Rollen aufgenommen und in charakteristischer Weise abgewandelt. Es ist hier Günther, der die Rolle des goldgierigen Atli spielt, und es ist Waltharius, der in der nibelungischen Rolle Günthers M

Das Folgende ist die Zusammenfassung einer Analyse, die ich anderweitig detailliert durchgeführt habe: HAUO, W. 1975 [a], S. 285ff. [in diesem Band, S. 286ff.]. 47

auftritt. Diese Umformulierung des Kampfes ums Gold kann nur auf eine Ironisierung der Burgundentragödie zielen. Die profane Heimkehr des Helden wird also verbunden mit einem zentralen Motiv der deutschen Heldensage, aber aus dem Hortsymbol, dem Symbol der Königsmacht, wird eine Kiste mit Gold und Geld, und der Kampf mündet in eine humorige Kumpelei. An die Stelle von Gunnars Weg zum Hunnenhof ist hier also der Gegenweg in die Heimat getreten, und wenn auf diesem Weg das Hortthema abgehandelt wird, dann als Akzentuierung der Perspektive, in die die profane Heimkehr gerückt worden ist: es ist eine Heimkehr als Streit um irdische Güter. Und das Ergebnis sind groteske Verstümmelungen, Denkzettel für die im christlichen Verständnis pervertierte Heimkehridee. Der lateinische >Waltharius< erweist sich als eine kunstvoll pointierte kritische Umdeutung der Heldensage, eingebettet in den durch das christliche Heimkehrthema desavouierten Weg in die diesseitige Heimat. Welches ist der nächste Schritt in der historischen Logik der Heimkehrmetapher? Positiv und damit direkt läßt sich ihre christliche Formulierung in der frühmittelhochdeutschen Literatur wieder fassen. Sie taucht im Ezzolied und im >Memento mori< auf. Das Ezzolied spricht im Sinne der an Otfrids Dreikönigsallegorese demonstrierten Exilund Heimkehrmetaphorik von der Welt als dem Ort der Fremde (Straßburger Fassung v. 44, Vorauer Fassung v. 100)15 und dem Paradies als dem Erbland, in das man schließlich heimkehren wird, und zwar ist es Christus, dessen Opfertod uns die Rückkehr ermöglicht hat (Vorauer Fassung vv. 351 ff.). Das >Memento mori< ist geradezu durchsetzt mit christlichen varr-Metaphern: besonders einprägsam ist das Bild vom Wanderer, der sich auf seinem Weg unter einem schönen Baum ausruht und sein Ziel vergißt, wobei der Baum diese Welt mit ihren Verlockungen bedeutet, die einen davon abhalten, den Weg zur Seligkeit einzuschlagen (St. 16f.).16 Auch im Annolied spielt die Heimkehrmetapher eine bedeutende Rolle: der heilige Bischof Anno erscheint als ein zweiter Moses, der den Weg ins verheißene Land weist (St. 49).17 Im deutschen Rolandslied wird gesagt, daß die christlichen Helden sich zum Tod drängen, um als Märtyrer in ihre Heimat zurückkehren zu können (vv. 5752ff.), sie kämpfen um ihr Erbland (vv. 3880ff; 3912ff.).18 Doch mehr oder weniger deutlich beginnt sich bei all diesen Zeugnissen schon der metaphorische Horizont zu verwandeln und kündigt sich damit schon die nächste große Umsetzung der Akzente an. Während bei Otfrid die Welt als bloßer Wendepunkt erschien - die Begegnung mit Christus veranlaßt die Umkehr -, so tritt nun immer stärker die Frage in den Vordergrund, wie man den Weg selbst zu verstehen, d. h. wie man ihn zu gehen und zu bewältigen hat: der Rückweg zur himmlischen Heimat wird zu einem Gang durch die Welt, der auf das Ziel vorbereitet, ja der das Ziel vermittelt. Und über diese Verschiebung der Blickrichtung baut sich dann Schritt für Schritt eine Gegenmetaphorik auf, die im 12. Jahrhundert schließlich die Leitfunktion übernehmen wird. An die Stelle der Heimkehr aus der Welt als der Fremde in die Heimat des Paradieses tritt nun die Ausfahrt in die Fremde dieser Welt, und zwar im positiven Sinn, im Sinn einer Bewältigung des Diesseits. 15

WAAG/SCHRÖDER 1972, Nr. I.

16

BRAUNE/EBBINGHAUS 1969, Nr. XLII.

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NELLMANN 1975. WESLE/WAPNEWSKI

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1985.

Prägend ist zweifellos der Alexanderroman, der Roman wagemutiger Welteroberung. Aber auch über die Brautwerbungsepik, die jetzt verschriftlicht wird, konnte dieser neue Horizont entworfen werden: die Welt wird über den kühnen Gewinn der fernen Braut eingebracht.19 In beispielhafter Eindrücklichkeit zeigt sich die Neukonzeption des metaphorischen Horizontes in der mittelalterlichen Umformung der Vergilschen >AeneisTristanAbrogans< und der >Vocabularius Sancti GalliDe fide catholica< - das wichtigste Stück, daher die Bezeichnung 'Isidorgruppe' für das Korpus -, das >Matthäus-EvangeliumHeliand< und die >Genesis< in altsächsischer Sprache, auf der andern das Evangelien buch Otfrids von Weißenburg, jene in Stabreimversen - vermutlich in Anlehnung an die angelsächsische Tradition geistlicher Epik -, dieses in binnengereimten Langzeilen. Beide Werke nehmen im Vorwort bzw. Widmungsschreiben auf Ludwig den Deutschen Bezug. Man versteht diese Bibeldichtungen heute zunehmend mehr als Ausdruck von Ludwigs spezifisch auf das Ostreich ausgerichteter Kulturpolitik.7 Otfrid von Weißenburg hat zu seinem Versuch in doppelter Form theoretisch Stellung genommen, einmal in lateinischer Sprache im Begleitschreiben an seinen Vorgesetzten, den Erzbischof Liutbert von Mainz, und zum andern auf deutsch im ersten Kapitel des Evangelienbuchs selbst. Im Widmungsbrief rechtfertigt er das Unterfangen mit Argumenten, die der traditionellen Exordialtopik entstammen: er will mit seinem Evangelienbuch den Einfluß heidnischer Dichtungen zurückdrängen, und er will die 5

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Grundlegend: MATZEL 1970.

Nachdem seinerzeit VON DER LEYEN 1954 sogar versucht hat, Karls Heldenliederbuch zu 'rekonstruieren', ist man inzwischen wieder skeptisch geworden, siehe MEISSBURGER 1963. 7 Zum >HeliandWien-Millstätter Exodus< (ca. 1120). Hier die Schilderung der Krötenplage: „Gott suchte die Ägypter mit einem ganz unscheinbaren Heer h e i m . . . es war aber sehr zahlreich. Es führte weder Schilde noch Schwerter mit sich, weder Hütten noch Zelte, weder Helme noch Rüstungen, nichts, was ritterliche Pracht ausgemacht hätte wie Rosse, Maultiere, kostbares Zaumzeug, weder Speere noch Bogen, wie sie für eine Schlacht gut gewesen wären, weder flinke noch behäbige Saumtiere, weder mächtige noch zierliche Hörner, auch nicht Feldzeichen von leuchtendem Glanz . . . " - Es waren eben nur Kröten! (>Die altdeutsche ExodusFinnsburgkampfKudrun< wiederum harmonisierend auf das Nibelungenlied antworten, während anderseits die historischen Dietrichepen im Konflikt zwischen geschichtlicher Bedingtheit und höfischer Idealität zu einem neuen Verständnis tragischen Scheiterns zu kommen versuchen.22 Mit diesem Übergang zum 13. Jahrhundert breche ich meine historische Skizze ab. Man könnte zwar die weitere Entwicklung der großepischen Formen unter den bisherigen Perspektiven weiterverfolgen. Es würde sich zeigen, daß jeder neue Entwicklungsschritt mit der Literatursituation auch die Beziehung zwischen Mündlichkeit und . 22 Zur >KudrunEntwürfen< und WEHRLI 1980 in seinem Spätmittelalterkapitel, S. 663ff. 24

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Gegenmöglichkeit, die Gefahr der Formalisierung, Simplifizierung und Vermarktung über die allgemeine Schriftlichkeit in Rechnung stellen muß.

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Der Teufel und das Böse im mittelalterlichen Roman

Ekkehart IV. berichtet in seiner St. Galler Klostergeschichte, daß Notker Balbulus, der große Sequenzendichter, eines Nachts in die Kirche gegangen sei, um zu beten. Plötzlich ist da ein Geräusch, das sich wie das Knurren eines Hundes anhört. Da dieses Knurren mit Schweinegrunzen wechselt, schließt Notker sogleich und richtig, daß er es nicht mit einem gewöhnlichen Köter, sondern mit dem Teufel zu tun hat. Er zündet ein Licht an und sucht mutig nach dem Eindringling. Als er ihn aufstöbert, springt der Teufelshund ihn an. Doch Notker läßt sich nicht beeindrucken, er befiehlt ihm zu warten. Dann holt er den Krummstab des heiligen Gallus vom Altar und schlägt damit auf den Hund ein, bis die Reliquie in Stücke bricht. Der Hund aber lamentiert, und zwar auf deutsch, barbarice clamans: 'au we, mir we.ri Bei diesem Auftritt des Leibhaftigen in St. Gallen ist nicht nur der bewunderungswürdige Mut des trefflichen Mönchs reizvoll, sondern es ist noch anderes bemerkenswert: Zum einen, daß es gerade ein Dichter und Musiker ist, an den der Teufel sich heranmacht. Es scheint eine alte, eigentümliche Affinität zwischen der Poesie oder der Musik und dem Teufel zu geben, wobei es freilich nicht so zu sein braucht, daß der Böse dabei immer nur Prügel bezieht. Ich denke an ein modernes literarisches Musikerschicksal - aber zwischen Notker Balbulus und Doktor Faustus liegen natürlich Welten. Das zweite, was auffällt, ist, daß der Teufel auf deutsch schreit, d. h., es wird hier die deutsche Sprache als Äußerungsform eingestuft, die gleich nach dem Hundeknurren und Schweinegrunzen kommt. Und das paßt nicht schlecht zu dem Mann, der in eben diesen >Casus S. Galli< sagt, daß er das Latein des >Waltharius< von Germanismen gesäubert habe, und der auch Ratperts deutschen Gallushymnus ins Lateinische übersetzte, um ihn so der Nachwelt zu erhalten. Auf der andern Seite ist es doch auch wieder verwunderlich, denn Ekkehart IV. war ein Lieblingsschüler jenes andern Notker, des Notker Teutonicus, der sich bekanntlich wie kein zweiter in althochdeutscher Zeit um die Übersetzung lateinischer Werke ins Deutsche bemüht hat, und sei es auch nur zum Zweck des Unterrichts. Der Teufel spricht deutsch: darin manifestiert sich eine Kulturbarriere und die mit ihr gegebene Problematik. Auf der einen Seite steht das lateinisch-gelehrte Schrifttum der Kleriker, auf der andern die volkssprachlich-mündliche Tradition der Laien. Das charakterisiert die frühmittelalterliche Bildungssituation, und dies wird auch lange so bleiben, wenngleich schon im 8. Jahrhundert die Versuche begannen, die Kluft zwischen den beiden Kultur- und Sprachsphären zu überbrücken. Es kam zu einer Reihe von Vorstößen: unter Karl dem Großen um 800, unter Ludwig dem Deutschen im 9. Jahrhundert und durch Notker Teutonicus um 1000 - Vorstößen unterschiedlicher Art: 1

MGH SS II, 1828, Ekkehardi IV. Casus S. Galli, c. 3. 67

von Glossen und Wörterbüchern über katechetische Übersetzungen und Evangelienverdeutschungen bis hin zu Bibeldichtung, zu geistlicher Poesie auf deutsch, letztlich mit dem Ziel, die Volkssprache zu einem Instrument zu machen, mit dessen Hilfe das christliche Kulturerbe weitergegeben werden könnte an jene, die des Lateins unkundig waren. Aber diese frühen Bemühungen blieben ohne dauernden Erfolg. Vielleicht nicht zuletzt deshalb, weil sie in nicht ungefährlicher Weise Schranken zu öffnen versuchten. Denn bei einer Begegnung zweier Sprachen begegnen sich ja auch ihre Welten, d. h., man muß sich, wenn man sich verstehen will, von beiden Seiten entgegenkommen; die lateinisch-gelehrte Welt mußte sich also bis zu einem gewissen Grade auch dem öffnen, was die volkssprachliche Welt an poetischen Formen anzubieten hatte, und von der Form war das Inhaltliche nicht ohne weiteres zu trennen. Der Teufel sprach deutsch: konnte man sich also auf die profane Welt einlassen, ohne daß man es mit dem Teufel zu tun bekam? Doch die Entwicklung drängte in diese Richtung. In der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts war es so weit: mit der Auseinandersetzung zwischen weltlicher und geistlicher Macht im Investiturstreit, mit dem dabei erstarkenden Selbstbewußtsein der profanen Führungsschicht und durch den daraus erwachsenden Bildungsanspruch begann sich die Kluft zwischen den beiden Sprachbereichen wie von selbst unaufhaltsam einzuebnen. Die Laien verlangten danach, an der gelehrten Kulturtradition und ihrem Herrschaftswissen unmittelbar teilzuhaben; die Geistlichen sahen sich gezwungen, diesen Erwartungen entgegenzukommen. Die Lösung, die dabei gefunden wurde, sah folgendermaßen aus: Man ging in einem erstaunlichen Maße auf die profane Welt ein, man öffnete sich der Natur und der Geschichte in volkssprachlicher Gestaltung. Es gibt ab 1050 nicht nur auf einmal Bibeldichtung, Legenden, Gebete, Hymnen und dogmatische Stücke in deutscher Sprache, sondern auch Naturkunde und Weltgeschichte. Man hat dabei einerseits aus dem reichen Fundus lateinischer Tradition geschöpft und dessen Stoffe und Interpretationen nun auch in vulgärsprachlicher Version geboten. Anderseits aber wurden die dort vorgeprägten exegetischen Methoden ebenso auf profane Überlieferungen angewandt. Und dies im Prinzip nach dem Vorbild der frühchristlichen Gelehrten, die sich ja seinerzeit schon einer heidnischen Kultur gegenübergesehen hatten und diese bewältigen mußten. Schon damals wechselten wie jetzt die Tendenzen zwischen schroffer Ablehnung einer Welt und einer Kultur, die des Teufels waren, und der kühnen Aneignung der profanen Sphäre, die als Gottes Schöpfung und verborgen von seinem Geist durchdrungen vom christlichen Interpreten doch auf ihren wahren Sinn hin transparent gemacht werden konnte.2 Ich möchte am Beispiel einer Heldensage demonstrieren, was bei dieser religiösen Durchdringung des Profanen geschieht: am Beispiel der Sage von Rolands Untergang in der Schlacht von Ronceval. Historisch liegt ein Ereignis des 8. Jahrhunderts zugrunde, ein heimtückischer Überfall auf die fränkische Nachhut beim Rückzug Karls des Großen aus einem wenig rühmlichen militärischen Unternehmen in Spanien. Die Sage hat diesen Überfall mit einem Verrat begründet, der von einem der engsten Vertrauten Karls, von Ganelon, ausging, und sie hat zugleich den Untergang zu einer heroischen Großtat Rolands, des Führers jener Nachhut, stilisiert. Der Anlaß zu Ganelons Verrat ist eine der grandios-unvergeßlichen Szenen der altfranzösischen Chanson de Roland.3 2

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Zu dieser zwiespältigen Haltung: HAUG, W. 1985 [a], S. 15ff.

Die Heiden haben, von Karl dem Großen vor Saragossa bedrängt, ein Friedensangebot gemacht. Mit prächtigen Geschenken und Versprechungen sind sie gekommen. Aber man traut ihnen nicht. Man will einen Kundschafter schicken. Roland und andere wären dazu bereit, aber der Kaiser hält Roland mit seinem wilden, stolzen Temperament nicht für geeignet. Die Überlegungen gehen hin und her; schließlich rät Roland, Ganelon zu schicken, der dafür plädiert hatte, das heidnische Angebot anzunehmen - Roland war dagegen gewesen. Im übrigen hatten die Heiden schon einmal christlichen Unterhändlern den Kopf abgeschlagen. Nun die berühmte Szene4: Ganelon, von Furcht gepackt, aber völlig beherrscht, wirft seinen prächtigen Mantel aus Marderfell von den Schultern und steht nun strahlend in seinem seidenen Obergewand da. Es glänzen seine Augen mit schillernder Iris, sein Antlitz ist kühn, edel sein Wuchs, breit seine Brust. Seine Schönheit zieht alle in ihren Bann. Dann sagt er, Roland habe seinen Vorschlag aus Bosheit gemacht, aber er nehme die Mission auf sich, und wenn er lebend zurückkehre, werde Roland dafür büßen. Roland lacht nur. Da reicht der Kaiser Ganelon seinen Handschuh als Botenzeichen. Als Ganelon ihn ergreifen will, fällt der Handschuh zu Boden. Die Franken erschrecken und sagen: 'Gott, was mag das bedeuten?' Es ist dies die Szene, die Ganelon zum Verrat treibt. Er wird zu den Heiden gehen und mit ihnen einen Scheinfrieden aushandeln. Und wenn Karl dann mit seinem Heer über die Pyrenäen zurückkehrt, werden die Heiden über die Nachhut, die unter Rolands Befehl steht, herfallen und sie niedermachen. Das ist als persönliche Fehde zwischen Roland und Ganelon ein menschliches Drama. Es wird darin gipfeln, daß Roland in Ronceval im Übermaß seines Stolzes sich weigert, das Hörn zu blasen und Karl mit dem Gros des Heeres zu Hilfe zu rufen. So führt er den völligen Untergang der Seinen herbei. Heroische Hybris mit glanzvoller Katastrophe! Aber in dem überkommenen Epos ist all dies nicht mehr nur ein menschliches Drama. Im Prozeß der Verschriftlichung, d. h. bei der Begegnung mit der Welt der christlich gelehrten Kultur, gerät die Heldensage vom Verrat Ganelons und vom Untergang der fränkischen Nachhut in die Perspektive des frühmittelalterlichen theologischen Geschichtskonzepts. Die menschliche Tragödie wird zu einer Episode der Heilsgeschichte, zu einem Akt im Kampf zwischen Gott und Teufel. Karls kläglicher Spanienfeldzug wird zu einem Kreuzzug umgedeutet. Roland und die Seinen sterben als Märtyrer des Glaubens. Man fügt einen neuen Schluß hinzu: Karl steigt von den Höhen der Pyrenäen nieder und rächt den verräterischen Überfall. Gott hält - wie einst im Alten Testament - die Sonne in ihrem Lauf an, damit der Kaiser die Heiden vernichten kann. Aber auch die Verräterfigur wird auf die Heilsgeschichte hin transparent: Ganelons strahlende Erscheinung kennzeichnet zunächst zwar den eleganten Höfling, aber sie meint nun zugleich den Glanz des gefallenen Engels; Ganelon übernimmt im heilsgeschichtlichen Drama die Luzifer-Judas-Rolle. Und Kaiser Karl weiß wie Christus - im voraus, daß er verraten wird.5 Ganelons Schönheit ist also nicht nur 3

HILKA/ROHLFS 1960; vgl. im weiteren: CHRISTMANN 1965 und DUGGAN 1976. - Die Ratsver-

sammlung, mit der, wie es heißt, 'das Böse seinen Anfang nahm', setzt mit Vers 179 ein. 4 Vv. 280ff. 5 Zur heilsgeschichtlichen Perspektive des Rolandsliedes: OHLY 1974; STACKMANN 1976, S. 264ff.;GEiTH 1977, S. 98ff.

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menschlich-zwiespältig in ihrem Schwanken zwischen stolzem Anspruch und blendender Täuschung, sondern sie hat auch Teil an der Ambivalenz des Schönen, die für die theologische Ästhetik gilt. Die Schönheit des Geschöpflichen ist Abglanz des Göttlichen, Zeichen damit der Beziehung zum Schöpfer, Ausweis der hohen Bestimmung des Menschen. Zugleich ist die geschöpfliche Schönheit Gefährdung, insofern man sie als Ausweis einer autonomen Würde mißverstehen und sie damit den Weg zu Gott verstellen kann.6 Ganelons Schönheit wird im Verrat zum täuschenden Glanz des Gottesfeindes. Eine analoge Ambivalenz gilt übrigens auch für das Häßliche.7 Das Häßliche ist Ausdruck der Distanz gegenüber Gott. In dieser Perspektive ist die Häßlichkeit der Dämonen, der Monstren, des Teufels zu sehen. Die Monstren sind Abkömmlinge Kains, Ausgeburten des Bösen. Und so werden denn auch die Heiden in den Kreuzzugsepen geradezu als Monstren beschrieben; dies kennzeichnet sie als Teufelsbrut.8 Das Häßliche als Ausdruck der Distanz gegenüber Gott besitzt aber über das Bewußtsein dieser Distanz auch seine positive Seite. Denn gegenüber der absoluten Schönheit Gottes ist alles Irdische häßlich. Die Betrachtung des Häßlichen, die Abwendung vom Schönen vermag deshalb die absolute Differenz zwischen dem Geschöpflichen und dem Schöpfer vor Augen zu führen.9 Die Selbsterniedrigung der Heiligen bis zur physischen Verunstaltung gehört in diese Perspektive.10 Das um den Schlußkampf erweiterte und auf die Auseinandersetzung zwischen Gott und Teufel transparent gemachte Rolandslied ist typisch für die Art und Weise, wie im Frühmittelalter profane Geschichte heilsgeschichtlich interpretiert wird. Das weltliche Geschehen bezieht seinen Sinn von der Heilsgeschichte, d. h., alles Geschichtliche steht letztlich in dem einen übergreifenden religiösen Drama; die irdischen Figuren ordnen sich den universalen Mächten zu; sie werden von ihrer Position im Kampf zwischen Gott und Teufel her bewertet. Geschichtliche Vorgänge sind je und je Entscheidungen für oder gegen Gott, für oder gegen den Teufel. In der Kaiserchronik z. B., der gegen die Mitte des 12. Jahrhunderts geschriebenen ersten volkssprachlichen Chronik des Römischen Reiches, wird jede Herrscherbiographie von dieser Entscheidung her beurteilt. Beim Tod holen jeweils die Engel oder die Teufel die Seele; dieser Schlußakt drückt den Lebensgeschichten der Kaiser und Könige seinen Stempel auf. Die vertikale Sicht bricht die horizontal-linearen Zusammenhänge auf und vereinzelt das Geschehen im Angesicht des Absoluten.11 Das deckt sich im übrigen auch mit der holzschnittartigen Schematik der frühmittelalterlichen Heiligenlegende. Auch bei diesem literarischen Typus geht es in der Frühzeit darum, daß Position bezogen wird. Der Heilige steht allen Listen, Verführungskünsten oder Gewalttaten zum Trotz auf der Seite Gottes. Oder wenn er die 6

Zur theologischen Ästhetik: DE BRUYNE 1975, insbes. Bd. I, S. 339ff., und Bd. III, S. 3ff.; vgl. auch HAUG, W. 1981 [b] [in diesem Band, S. 513-528].

7

Vgl. JAUSS 1968 [a] und die Diskussion in: JAUSS 1968 [b], S. 585-609; MICHEL 1976.

8

Vgl. KOLB 1963, S. 42f.

9 10

Begründet wurde diese Argumentation von Dionysius Areopagita; vgl. MICHEL 1976, §§ 168ff. Das Vorbild ist die Häßlichkeit Christi. Dazu: TAUBES 1968, insbes. S. 180ff. Zur Schönheit trotz der Häßlichkeit siehe des Origenes Deutung der schwarzen Braut des Hohen Liedes: DÖLGER, F. J. 1918, S. 62.

11

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OHLY 1968, insbes. S. 238.

Position nicht halten kann und dem Teufel verfällt, dann geht es um die Umkehr, darum, Gottes Gnade zurückzugewinnen. Es ist auffällig, eine wie geringe Rolle das Psychologische in diesen frühen Legenden spielt. Nicht der innerseelische Prozeß, der die Wende zum Guten oder zum Bösen hervorbringt, ist von Interesse, sondern die punktuelle Entscheidung für Gott oder für den Teufel, das Stellungbeziehen im universalen Drama. Geradezu als Symbol für diese Haltung kann jener Vertrag gelten, mit dem der erste Teufelsbündler, Theophilus, sich dem Teufel verschreibt. Die Unterschrift auf dem Vertrag ist hier sozusagen die objektivierte Entscheidung. Nicht um die innere Abwendung des Theophilus vom Teufel geht es dann im folgenden; die Abwendung geschieht vielmehr unvermittelt durch einen geringfügigen Anstoß von außen, es dreht sich im weiteren vielmehr alles darum, das fatale Dokument mit der Unterschrift zurückzubekommen, also den Vertrag als objektives Faktum aufzuheben - und das ist nicht ganz leicht, denn der Teufel behauptet, von dem Pergament nichts mehr zu wissen, in Wirklichkeit hat er es unter seinem Hintern versteckt; aber Maria, die Helferin des Theophilus, durchschaut das und versteht es, das ominöse Ding aus seinem ominösen Versteck herauszupraktizieren.12 Was bewirkt diese Rückbindung alles Irdisch-Menschlichen in das universale heilsgeschichtliche Drama? Man kann sagen, die Projektion allen Geschehens auf den Kampf zwischen Gott und Teufel ermöglicht es, die Auseinandersetzung zwischen Gut und Böse zu entsubjektivieren, genauer: die subjektive Seite in die einmalige Entscheidung bzw. in den Umbruch zusammenzuziehen. Das gibt diesem Kampf einen einschichtig-unproblematischen Charakter. Und von daher versteht sich auch die Funktion der frühmittelalterlichen Literatur. Als Interpretation der Fakten unter dem Aspekt dieser Entscheidung ist sie zugleich Erkenntnis und Mahnung. Sie läßt das Irdische auf das Heilsgeschehen hin transparent werden und fordert den Leser oder Hörer auf, für sich selbst Stellung zu beziehen. Was diese Welt ist, Natur wie Geschichte, ist nur insofern wert, dargestellt zu werden, als sie diesen Bezug zur Heilsgeschichte erlaubt. So die allegoretische Naturkunde eines >PhysiologusPhysiologus< und seiner exegetischen Technik: JANTSCH 1959; SCHMIDTKE 1968; HENKEL

1976. 71

Diese frühmittelalterliche Literatursituation ändert sich fundamental in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts. Es verändert sich der Status wie die Funktion der Dichtung, und dahinter steht eine Änderung der Einstellung zu Gut und Böse. Ästhetisch schlägt sich dies in einem neuen Verhältnis zu Schön und Häßlich nieder, d. h., daß sich auch die Beziehung zwischen Ethik und Ästhetik grundlegend wandelt. Der Umbruch erfolgt durch die neue höfische Literatur, insbesondere durch den arthurischen Roman Chretiens de Troyes. Ich veranschauliche diese Wende wiederum an einer Szene, in der die Schönheit eine besondere Rolle spielt. Es ist eine Szene aus dem >ErecErec< zeigt, nicht mehr der Mensch, der sich zwischen Gott und Teufel in einem sozusagen neutralen Raum punktuell entscheiden muß, man hat es vielmehr mit einem Helden zu tun, der einen Weg geht; es ist ein Weg, der vom Hof des Königs Artus in eine antiarthurische Welt hineinführt. Am Anfang steht die höfische Idealität, die Harmonie in der spielerischen Balance aller Kräfte und Ansprüche. Sie stellt sich dar im arthurischen Fest. In diese Festfreude bricht von außen etwas ein, was sie in Frage stellt, d. h., es melden sich jene Kräfte, die gegen die ideale Balance von Individuum und Gesellschaft, von Verdienst und Glück stehen. Ein Ritter der Tafelrunde muß ausziehen, auf Aventüren-Fahrt gehen, um stellvertretend für den Hof die Provokation zu bewältigen. Das Eigentümliche dabei ist jedoch, daß es sich nicht einfach darum handelt, den bösen Beleidiger zu stellen und ihn zu besiegen, der Aventüren-Ritter muß sich vielmehr auf die Gegenwelt, die der Provokateur verkörpert, einlassen. Hilflos folgt Erec seinem Gegner; in einer armseligen Herberge findet er Unterkunft; aber in diesem Tiefpunkt erfolgt der Umschlag. In der äußersten Erniedrigung wird ihm das geschenkt, was er braucht, um gegen den Beleidiger antreten zu können: Waffen und ein Mädchen, dessen Schönheit die aller 14

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ROQUES 1952, vv. 342ff. Die Stadt, in der sich der Sperberkampf abspielt, ist bei Chretien zunächst namenlos; erst vv. 6249, 6251 und 6320 erfährt man, daß sie Lalut heißt.

anderen Frauen überragt. Das heißt: dadurch, daß Erec siegt, erweist sich Enide als die Schönste, und weil sie die Schönste ist, kann er siegen. Man muß also in die Welt, die der arthurischen Idealität entgegensteht, hinabsteigen, um sie zu überwinden. Das vollkommene Glück ergibt sich immer nur im Durchgang durch das, was es in Frage stellt. Die arthurische Gesellschaft ist eine Art Utopie; sie versteht sich als Ziel einer Bewegung, die von ihr wegführt, so daß sie immer neu aus dem Umschlag am äußersten Gegenpol aktualisiert werden kann und muß. Die Schönheit Enides unter ihrem schäbigen Kleid, der strahlende Ritter Erec in der armseligen Herberge, das bedeutet: das Positive steckt im Negativen, das Positive erwächst aus der Wende im Tiefpunkt der Gegenbewegung. Es geht also nicht mehr wie in der frühmittelalterlichen Literatur um eine Interpretation von Schön und Häßlich in ihrem Bezug zu Gut und Böse, wobei je nachdem das Schöne wie das Häßliche göttlich oder teuflisch sein können, es geht nun nicht mehr um ein Entweder-Oder mit Entscheidungen und Umbrüchen, sondern um ein Ineinander, das sich dynamisch ausfaltet, es geht um das Schöne im Häßlichen, um das Positive im Negativen als Verheißung der Idealität im Rahmen eines über einen Weg ausgefalteten Prozesses. Nun ist der >Erec< bekanntlich mit der Hochzeit des Titelhelden nicht zu Ende, sondern es kommt zu einer zweiten Aventüren-Fahrt. Sie resultiert aus einer Krise: Erec liegt nur noch mit seiner bezaubernden Frau im Bett und versäumt seine gesellschaftlichen Pflichten. Der Hof beginnt zu murren. Erec erfährt schließlich davon, ja es ist Enide selbst, die ihm - wider Willen - von der allgemeinen Unzufriedenheit berichtet. Er reagiert abrupt. Er bricht bewaffnet auf, Enide muß vorausreiten, in ihrem schönsten Kleid, als Lockvogel für Räuber und Abenteurer. Und sie kommen denn auch, erst drei, dann fünf, und fallen über Erec her: er erledigt sie. Ein Graf, bei dem man Quartier nimmt, versucht dann, Enide zu verführen: man flieht. Ein ungemein starker Zwerg ist der nächste Gegner: er wird überwunden. Es folgt ein Riesenkampf. Aber das ist nun mehr, als Erec verkraften kann. Er siegt zwar, er bricht aber hinterher ohnmächtig zusammen. Enide hält ihn für tot und will Selbstmord begehen. Doch da taucht ein Ritter auf und beginnt, um Enide zu werben. Sie weist ihn ab. Da schleppt er sie zusammen mit dem scheintoten Erec auf seine Burg. Diese hat den sprechenden Namen Limors. Es folgt eine hochdramatische Szene: der lüsterne Ritter an der prächtigen Hochzeitstafel, die weinende Enide, die keinen Bissen anrührt, und der wie tot daliegende Erec. Da Enide den Werbungen des Ritters nicht nachgibt, schlägt er sie ins Gesicht. Sie schreit auf, der Schrei weckt Erec aus der Ohnmacht, er springt hoch, erschlägt den Grafen, und bei dem allgemeinen Schrecken kann das Paar aus der Burg fliehen. Es folgt darauf noch ein zweiter Kampf mit dem starken Zwerg, bei dem Erec freilich, völlig geschwächt, unterliegt, und es ist Enide, die es im letzten Augenblick verhindern kann, daß Erec getötet wird. Auf diesem zweiten Aventüren-Weg geht es nun nicht mehr wie auf dem ersten um die Verletzung der höfischen Form, nicht mehr um äußere Hilflosigkeit und nicht mehr um Widersprüche zwischen Stand und äußeren Verhältnissen, sondern hier erscheinen nun in der antiarthurischen Welt Kräfte, die die höfische Idealität sehr viel radikaler herausfordern. Mit Enide hat Erec etwas aus der Gegenwelt geholt, was in seinem absoluten Anspruch jede irdische Balance prinzipiell in Frage stellen muß: die Unbedingtheit des Eros. Dies ist der Einbruch, der erneut zum Auszug zwingt. Und die Gegenwelt, der Erec sich zuwendet, bringt diesmal nicht nur ein miserables Nachtquar73

tier, sondern eine Begegnung mit dem Tod: Erec scheintot nach dem Riesenkampf, Erec auf der Bahre in Limors, Enide am Rand des Selbstmordes. Aber es ist dann gerade die Liebe Enides, die Erec rettet; sie hält ihm die Treue über den scheinbaren Tod hinaus; und beim zweiten Kampf mit dem Zwerg ist sie es, die es verhindert, daß Erec erschlagen wird. Liebe versteht sich hier nun nicht mehr als absoluter Anspruch, sondern als Geschenk für den andern, als Rettung vor dem Tod. Das zeigt noch einmal: der Mensch steht nicht mehr wie im Frühmittelalter zwischen Gut und Böse, zwischen Gott und Teufel, sondern er tritt in einen Prozeß ein, über den das Positive im Sich-Einlassen auf das Negative erst hergestellt bzw. aktualisiert wird. Das Positive ist nicht mehr das absolute Gute als statischer Bezugspunkt, sondern es ist ein utopischer Augenblick, der aus der Überwindung der Gegenkräfte erwächst. Oder mit andern Worten: das Gute und das Böse sind dynamisch gefaßt, das Negative wird zu einer Funktion des Positiven. Angesichts dieser dynamisch-funktionalen Auffassung beginnt man zu zögern, die Begriffe Gut und Böse überhaupt noch zu gebrauchen, man zieht es vor, von positiven und negativen Elementen im Hinblick auf die Positionen im innerliterarischen Prozeß zu sprechen. Und daß insbesondere die Figur des Teufels hier keinen Platz haben kann, versteht sich von selbst.15 Es ist dabei auch auffällig, daß im >Erec< die antiarthurische Welt nur sehr sparsam mit ethisch negativen Zügen markiert ist. Es wird alles vermieden, was diese Gegenwelt als an sich böse erscheinen lassen könnte. Es gibt zwar Gewalttäter und Verführer, aber an Figuren, die das natürliche Maß sprengen, finden sich nur ein paar Riesen und Zwerge. Diese Zurückhaltung ist verständlich, wenn man sich klarmacht, daß es nicht darum geht, das Positive und das Negative einer übergreifenden allgemeinen Ethik zuzuordnen, sondern darum, das Negative und das Positive als Funktionen eines innerliterarischen Prozesses darzustellen. Die einzelnen Episoden empfangen ihren Sinn aus ihrer Position in der Struktur der Handlung. Es kommt deshalb auf ihren symbolischen Stellenwert an; dieser soll bewußt gemacht werden; eine massive Stofflichkeit wäre dem abträglich. Es versteht sich deshalb auch, daß der neue AventürenRoman des 12. Jahrhunderts nur als fiktionale Gattung denkbar war. Denn nur, wenn über die Motive in ästhetischer Freiheit verfügt werden kann, wird es möglich, einen eigenständigen innerliterarischen Sinnhorizont zu entwerfen und diesen über die Einsicht in die auf ihn bezogene Handlungsstruktur bewußt zu machen. Dieses Konzept einer Bewältigung des Bösen über einen Bewußtseinsprozeß anhand eines literarisch-fiktionalen Entwurfs ist kühn und anspruchsvoll. Doch es steckt in der Art und Weise, wie hier das Utopisch-Vollkommene als Fluchtpunkt einer immer neuen Bewegung in die Gegenrichtung verstanden wird, eine tiefe Wahrheit, von der moderne Utopisten sehr wohl etwas lernen könnten. Anderseits ist das Modell aber auch alles andere als unproblematisch. Es wirft Fragen auf, und es ist leicht mißzuverstehen. So kann man zweifeln, ob das, was die arthurische Idealität herausfordert und diese im Gegenzug erst ermöglichen soll, wirklich über einen solchen symbolischen Aventüren-Weg, wie Chretien ihn mit dem 15

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Das gilt nicht in entsprechender Weise für die Figur Gottes, denn das Idealziel der Bewegung kann durchaus mit ihr assoziiert werden, das irdische Glück kann zugleich Gottes salde bedeuten.

>Erec< entworfen hat, zu bewältigen ist. Kann das Böse, können Gewalt und Begierde wirklich so schadlos und spurlos überwunden werden, wie der arthurische Roman dies vorführt? Ja, mehr noch: Sind die Irreversibilität des Todes und der Absolutheitsanspruch des Eros letztlich über einen fiktional inszenierten Prozeß aufzuheben? Man kann den Anspruch, den die literarische Fiktion hier an sich selbst stellt, für überzogen, für illusorisch halten. Oder man kann auch sagen, die Lösung sei allzu billig, denn das, was fiktional vorgeführt werde, sei unverbindlich. Das heißt, es ist sehr leicht, den Artusroman als Trivialliteratur mit schnellfertigem Happy End mißzuverstehen. So oder so führt dies zu einer Beunruhigung. Schon Chretien selbst muß von ihr betroffen gewesen sein, denn er hat sein Modell Schritt für Schritt näher an die Radikalität der kritischen Gegenposition herangeführt; er hat es so abgewandelt, daß die Grenzen immer schärfer und die Problematik zunehmend härter geworden sind. Es sei insbesondere auf den >Chevalier de la Charrete< hingewiesen. Der >Karrenritter< handelt von der ehebrecherischen Liebe Lancelots zur Königin. Hier hat Chretien gegenüber der Unbedingtheit des Eros ein Äußerstes gewagt, und es ist ihm dabei in einer letzten Anspannung seines Modells gelungen, den absolut gesetzten Anspruch der Liebe noch einmal zu binden. Freilich nicht ohne einen kleinen Kunstgriff. Der absolute erotische Augenblick wird als einmaliges Ereignis der gesellschaftlichen Wirklichkeit enthoben und in ein symbolisches Jenseits verlegt. Die Erfüllung geschieht in der heimlichen und einzigen Liebesnacht, die Lancelot und der Königin im 'Land, von welchem niemand wiederkehrt' vergönnt ist. Nur als Geheimnis in einer überwirklichen Welt kann dem Absolutheitsanspruch des Eros, ohne daß das Aventüren-Modell zerstört würde, Genüge getan werden. Dabei ist anzumerken, daß die übernatürlichen Elemente nun deutlicher werden; beim 'Land, von welchem niemand wiederkehrt' drängen sich mythologische Konnotationen auf, sie akzentuieren symbolisch den transzendenten Ort der absolut gesetzten Liebe. Und die Verzeichnung des Helden in diesem Bezug wird markanter; die Liebe versenkt Lancelot in eine melancholische Trance, seine ins Unsinnige gehenden Liebesekstasen weisen irreal-groteske Züge auf.16 Im >Yvain< hingegen hat Chretien den radikalen Anspruch des Eros nicht an die Grenze des Aventüren-Weges verwiesen, hier hat er vielmehr versucht, ihn als Faktor ins Schema einzusetzen und ihn mit jenen Mitteln zu integrieren, die vom >ErecLancelot< begegneten. Im Banne der Liebe bzw. gegenüber der versagten Liebe verliert der Held nicht nur seine höfische Idealität, sondern seine Vernunft, sein Menschsein. An der Grenze zu jenen absoluten Positionen, die der arthurischen Utopie entgegenstehen, beginnt sich das Bild des Menschen zu verzerren. Und doch, auch aus dieser tiefsten Stufe ist eine Rückkehr möglich, wobei freilich eine Heilung durch 16

Vgl. HAUG, W.

1978.

75

eine Wundersalbe, also ein stärker positiv-irrationales Element, erforderlich ist, und dann erscheint das Tierische liebenswürdig verfügbar in der Gestalt des Märchenlöwen an Yvains Seite. Wo treibt diese innere Anspannung, ja Überspannung die Entwicklung des arthurischen Modells hin? Dahin, daß das Böse und das Gute ihre Autonomie wiederfinden, daß die alten Kontrahenten, der Teufel und der liebe Gott, den Roman als Spielraum für ihre Auseinandersetzung zurückgewinnen. Den Übergang bildet der Conte du Graal, Chretiens letztes, fragmentarisches Werk, das Wolfram von Eschenbach deutsch bearbeitet und zu Ende führt. Der Ausgangspunkt für den Gralsroman ist die Einsicht, daß es Taten gibt, die der Mensch aus eigener Kraft nicht wiedergutzumachen vermag, die Tat nämlich, die zum Tod führt; der Tod als Frucht des Bösen kann nur auf einer übermenschlichen Ebene aufgehoben werden. Bei Chretien handelt es sich um den Tod der Mutter - sie stirbt, als der junge Perceval sie verläßt, um Artusritter zu werden. Bei Wolfram geht es darüber hinaus und unter Verschärfung der Problematik noch um Parzivals Verwandtenmord am Roten Ritter. Um die menschlich nicht einlösbare Schuld zu bewältigen, überhöht der Gralsroman das Aventüren-Modell um die religiöse Dimension. Dabei wird aber doch am arthurischen Strukturkonzept, d. h. an einer innerliterarisch-fiktionalen Sinnkonstitution, festgehalten. Eine neue ideale Gemeinschaft wird, analog zum Artushof, zum Bezugspunkt des religiösen Prozesses, den der Held zu durchlaufen hat: die Gralsgesellschaft. Und so stellt sich denn der zweite Weg folgerichtig als ein Weg in die Gottferne dar, als Weg in die Schulderkenntnis und in die Bereitschaft für die Gnade. Von der neuen, religiösen Fragestellung her muß im Gralsroman wieder von Gott und auch vom Teufel die Rede sein. Aber wenn die Mutter dem jungen Parzival Gott und den Teufel erklärt, dann ganz im Sinne der innerliterarisch-symbolisch funktionierenden Ästhetik. Die Mutter definiert Gott als das Lichthaft-Schöne, den Teufel als das Verderblich-Schwarze. Und so geschieht es denn, daß Parzival, als er zum erstenmal Ritter sieht, diese in ihren glänzenden Rüstungen für Götter hält und daß er dann auch im ritterlichen Glanz das summum bonum sucht. Entsprechend wird Parzivals überwältigende Schönheit von der Gesellschaft als Ausweis seiner höfischen Bestimmung genommen. Die höfische Welt denkt also ebenfalls weiterhin in den traditionellen ästhetischen Kategorien. Die neue Perspektive aber wird in dem Augenblick manifest, in dem die Gralsbotin - tierisch-häßlich in ihrem Aussehen - am Artushof erscheint: sie verflucht Parzival, weil er auf der Gralsburg die Erlösungsfrage zu stellen versäumte, und sie sagt zu ihm, er sei in seiner von allen gepriesenen Schönheit ungehiurer als sie in ihrer ganzen Scheußlichkeit. Vor den absoluten Positionen Gottes und des Teufels werden Schönheit und Häßlichkeit wieder relativ und doppelschichtig. Daß Parzival dies nicht begreift, daß er die Idealität des Artushofes zu seinem absoluten Ziel macht, das ist das Problem des Romans. Konkret: der erste Handlungszyklus stellt sich als der Weg dieses Mißverständnisses dar. Der zweite Handlungsteil nach der Krise ist dann ein Weg auf der höheren, der religiösen Ebene. Aber wenn dabei die religiöse Problematik trotzdem noch mit dem arthurischen Strukturmodell erfaßt und dargestellt wird, so sind gewisse Schwierigkeiten unvermeidlich. Man kann zwar noch, in Analogie zum arthurischen Weg, den religiösen Helden von der Gralswelt weg, von Gott weg, in die widergöttliche Welt gehen lassen, aber diesem Weg fehlt die typische Episodenreihe des Aventüren-Schemas, er ist erzählerisch fast leer, er verläuft im Hin76

tergrund, bis zum entscheidenden Wendepunkt in der Begegnung mit dem Einsiedler, bis zur Sühne am Karfreitag. Die Reduktion des Weges auf den Umbruch signalisiert die Nähe zum vorhöfischen Denkschema. All dies bedeutet, daß die religiöse Problematik letztlich das arthurische Modell überanstrengt. Denn die Kainstat, die religiöse Schuld, kann im Grunde nicht über einen fiktionalen literarischen Prozeß integriert werden. Die schuldhafte Tat ist nur durch einen Akt der Gnade aufzuheben, und über diesen Akt kann man in einem Konzept nicht verfügen, das darauf zielt, Sinn symbolisch über einen Weg in dieser Welt erfahrbar zu machen; oder, wenn man die Gnade trotzdem einbeziehen wollte, so müßte man sie als eine Möglichkeit herausstellen, die das Aventüren-Konzept gerade sprengt. Wir wissen nicht, wie Chretien mit diesem Widerspruch fertig geworden wäre, Wolfram hat jedenfalls die bei Chretien angesetzten Linien am Ende nicht ohne akrobatische und wohl augenzwinkernde Virtuosität zusammengebogen. Aber: gerade indem der Gralsroman mehr vom arthurischen Modell fordert, als es einlösen kann, macht er besonders deutlich, was dieses Modell leistet und wo seine Problematik liegt. Das Böse konkretisiert sich im klassischen Artusroman in einer Welt, die der arthurischen Idealität entgegensteht. Der Held geht durch diese Gegenwelt hindurch, und aus dieser Bewegung heraus erfolgt immer wieder neu der Durchblick auf die Utopie der Versöhung. Wenn sich das Böse in der Gegenwelt als Gewalt und Begierde manifestiert, so scheint es zunächst, als könnte der Held es mit Festigkeit und Mut relativ leicht bewältigen. Doch Gewalt und Begierde sind nur die Zerrformen einer wesensmäßigen Defizienz des Menschen, denn hinter ihnen steht nichts anderes als die Tatsache, daß das Böse letztlich in der Unvollkommenheit des Menschseins schlechthin begründet liegt, in der Bindung an Raum und Zeit, in der Beschränktheit des Individuellen, in der Sterblichkeit. Die biblische Vertreibung aus dem Paradies meint mythologisch den Eintritt in die individuelle Besonderung und in den Tod. Der arthurische Held erfährt auf seinem Aventüren-Weg beides, und er erfährt es als Grenze, die nicht überschritten werden kann, es sei denn, man würde dieses Leben zurücklassen: die individuelle Bedingtheit wäre nur durch eine absolut gesetzte Liebe und die Zeit nur durch die Überwindung des Todes aufzuheben. Dies zum Bewußtsein zu bringen, ist der eigentliche Sinn der arthurischen Aventüren-Fahrt. Sie führt den Helden symbolisch durch den Tod hindurch: Erec auf Limors, Lancelot im 'Land, von welchem niemand widerkehrt', Yvain als Wahnsinniger. Die Unbedingtheit des Eros verwandelt sich dabei in eine schenkende Liebe, die, ebenfalls symbolisch, den Tod besiegt: Enides Treue, die Wunderheilung durch die drei Frauen im >YvainParzival< in neue Dimensionen hinein ausgebaut, sondern man hat es zerstört, und zwar von innen her. Zu dieser Wende kommt es dadurch, daß nun die Macht der antiarthurischen Welt, also letzlich die Macht des Bösen, radikalisiert wird: es ist nun nicht mehr möglich, den Weg durch das Negative als Weg zur utopischen Versöhnung zu verstehen. Wenn der Gralsroman das Modell in der Weise erweitert hat, daß man Gott einbeziehen konnte, so wird in der nachklassischen Phase das Modell aufgebrochen, so daß der Teufel sich wieder im Roman zu etablieren vermag. Der Hebel läßt sich an drei Punkten ansetzen17: erstens beim dynamischen Gegenüber von arthurischer Utopie und Aventüren-Welt; zweitens bei der Funktion der Krise, die der Held durchzustehen hat und die ihn ja zu der Grenzerfahrung führt, über die der Ausblick auf die Idealität sich öffnet; und drittens kann man an der Möglichkeit einer Integration der Gegenkräfte verzweifeln, d. h. sich weigern, den symbolischen Durchgang durch den Tod und die Verwandlung des Eros als Lösung zu akzeptieren. Wo immer man ansetzt, man hebt damit die Bindung des Negativen in die Aventüren-Struktur auf, so daß sich das Böse wieder verselbständigt und der Teufel als Figur wieder auftauchen kann. Das Verhältnis von Ästhetik und Ethik macht dabei erneut eine bezeichnende Verwandlung durch. Ich gebe charakteristische Beispiele für die drei Möglichkeiten. 1. Der o p p o s i t i o n e l l - d y n a m i s c h e Bezug zwischen dem idealen Hof und der Gegenwelt der A v e n t ü r e zerfällt. In den 70er Jahren des 13. Jahrhunderts hat Konrad von Würzburg, nach französischer Vorlage, einen Roman geschrieben, der dem >Amor und PsychePartonopier und Meliun. Aber die Rollen der Liebenden sind gegenüber diesem Schema vertauscht: die Frau ist die übernatürliche Partnerin, und der Mann bricht das Tabu, unter dem die Beziehung steht. Diese Umstellung macht es möglich, den Gewinn, den Verlust und den Wiedergewinn der Geliebten in Anlehnung an den doppelten Aventüren-Weg des klassischen Artusromans ablaufen zu lassen.18 Partonopier, ein Ritter am französischen Hofe, verirrt sich auf einer Jagd. Er gerät auf geheimnisvolle Weise in ein jenseitiges Land und auf eine Burg, wo er von unsichtbaren Händen bedient wird. Er findet da eine Geliebte, die nur nachts im Dunkeln zu ihm kommt und die er nicht sehen darf. Ist sie ein Mensch, oder ist sie ein Teufel? Bei einem Besuch in der Heimat machen ihm die Mutter und ein Geistlicher wahrhaft die Hölle heiß, so daß ihm angst wird und er zu zweifeln beginnt, ob er nicht von einer Teufelin betrogen wird. Er bricht das Sehtabu, indem er heimlich eine Lampe mit ins Bett nimmt: da erblickt er keineswegs ein dämonisches Ungeheuer, sondern die wunderschönste Frau - aber zugleich hat er sie verloren. Hier gibt es keine Spannung mehr zwischen einer höfisch-utopischen Idealsphäre und einer Gegenwelt. Am heimatlichen Hof wie im fremden Wunderland kann in gleicher Weise alles negativ oder positiv, gut oder böse sein. Die Erscheinungen werden 17

Ich nehme im folgenden Überlegungen wieder auf, die ich schon in früheren Arbeiten: HAUG, W. 1980 [b] [in diesem Band, S. 651-671] und 1984, vorgetragen habe, um sie nun in den größeren Zusammenhang zu stellen. 18 AARNE/THOMPSON 1961, No. 425 gegenüber No. 400. Vgl. auch WERNER 1977, S. 45ff.

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undurchsichtig und zwiespältig, denn sie haben mit ihrer Position in einem sinntragenden epischen Strukturkonzept auch ihre klare Symbolik verloren. Der Held wird unsicher, er kann sich täuschen, er wird letztlich hilflos und handlungsunfähig. Das macht Partonopier zu einem Spielball von Intrigen. So bleibt ihm nach dem Verlust der Geliebten nichts, als sich in die Wildnis zurückzuziehen, d. h. sich in sich selbst zu verkapseln. Daß er, von positiven Kräften geführt, schließlich doch noch zum Ziel kommt, verdankt er einer von außen gesteuerten Märchenmechanik. Kennzeichnend für die Art und Weise, wie sich diese nicht mehr durchschaubare Welt der Einbildungskraft präsentiert, ist eine neue Qualität des Bösen: es erscheint unter der Kategorie des Unheimlichen. Partonopier, als er sich auf der Jagd verirrt, gerät in einen wilden Wald. Die Nacht bricht herein. Er sieht auf den Bäumen Echsen und andere bedrohliche Tiere. Er vermutet rings um sich Drachen und Ungeheuer, seine Phantasie gaukelt ihm ein ganzes Arsenal von Fabelwesen vor. Er fürchtet sich. Dem Unheimlich-Bösen der Außenwelt korrespondiert auf der subjektiven Seite die Angst des Helden. Dem Chretienschen Roman fehlte das eine wie das andere: Chretiens Helden pflegen nachts zu schlafen oder zu lieben. Die arthurische Tat spielt sich in der Regel - in der Helligkeit des Tages ab. Die Widersacher haben klare Konturen. Das ändert sich nun entscheidendes erscheint die Nacht-Aventure, der Weg durch die Dunkelheit. Der Held kann sich von sich aus nicht mehr zurechtfinden. An die Stelle der Integration des Negativen treten Mechanismen des Bösen und des Guten: sie drängen den Helden immer wieder in eine passive Position. Es entwickelt sich der Typ des leidenden Helden, der stark legendenhafte Züge annimmt. Das Gute kann sich letztlich nur noch in die Innerlichkeit retten. In einer unstrukturierten und deshalb unverständlichen Welt bleibt als Residuum nur die subjektive moralische Gewißheit.19 2. Der Übergang zum k r i s e n l o s e n H e l d e n . Wenn man die Spannung zwischen der arthurischen Idealität und der Gegenwelt zwar beibehält, die Krise des Helden aber unterschlägt, so entsteht der makellose Musterritter, der ungebrochen und unberührt von der Problematik des Verhältnisses zwischen Gut und Böse seinen heldenhaften Weg geht. Wenn auf diese Weise alles Positive sich im Helden konzentriert, tritt die Gegenwelt zwangsläufig unter einen radikal-negativen Aspekt: der makellose Musterritter evoziert als kontrastive Folie eine an sich böse, ja dämonische Wirklichkeit. Dieser Romantyp mit dem krisenlosen Helden und der dem Bösen ausgelieferten Aventüren-Welt taucht schon in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts auf. Wigalois, der Held des gleichnamigen Romans des Wirnt von Gravenberc, geht durch eine buchstäblich verteufelte Aventüren-Welt hindurch: er muß einen Sumpf überqueren, der unter einem dicken schwarz-giftigen Nebel liegt; dann sieht er sich einem sich drehenden Rad gegenüber, das gefährlich mit Schwertern und Keulen besetzt ist. Nachdem er es mit Gottes Hilfe - Wigalois betet! - überwunden hat und in die Burg seines Gegners eingedrungen ist, tritt ihm ein Ungeheuer entgegen, das Feuer wirft, so daß sein Pferd in Flammen aufgeht. Nachdem er auch damit fertig geworden ist und noch zwei Ritter bestanden hat, folgt der Endkampf mit dem Burgherrn Roaz. Und dieser steht mit dem Teufel persönlich im Bunde, ja der Satan begleitet ihn ratend und helfend in einer Wolke.20 " Im einzelnen vgl. HAUG, W. 1985 [aj, S. 335ff. Ebd., S. 252ff.

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Man sieht: der Aventüren-Weg wird geradezu zu einem Höllenweg, auf dem teuflische Gegner besiegt und vernichtet werden. Selbstverständlich, daß hier der Einbildungskraft im Negativen keine Grenzen gesetzt sind: je schaudervoller sich die Aventüren-Welt gibt, um so glänzender hebt sich der Held vor diesem Hintergrund ab. Wenn, wie im >WigaloisTiturel< bzw. der Lancelot-Prosaroman gelten. Wolfram läßt im >Titurel< seinen Helden Schionatulander einen Aventüren-Weg gehen, auf dem er nicht symbolisch den Tod erfährt, sondern tatsächlich stirbt. Eine Handlung nach dem Chretienschen Doppelkreisschema und eine entsprechende Vermittlung von Sinn sind nicht mehr möglich, d. h., der Sinn der Aventüre wird radikal in Frage gestellt. Da das Werk Fragment geblieben ist, ist Wolframs neue Konzeption aber schwer zu fassen.21 Für den >Prosa-Lancelot< ist es bezeichnend, daß hier gerade jener Ritter, bei dessen Aventüren Chretien in der Anspannung des Modells bis zum Äußersten gegangen war, zum Helden wird. Die alle gesellschaftlichen Schranken sprengende Liebe, die Chretien noch einmal zu binden vermochte, sie zerstört nun das Artusreich. Sie höhlt die arthurische Idealität aus, die Tafelrunde bricht auseinander, der Gral geht verloren. Lancelot kann sich nicht aus den Fesseln seiner Liebe befreien, der Ehebruch führt zum gesellschaftlichen Konflikt, der Hof wird zum Ort der Krise, zum Ort, wo das Böse aufbricht. Auf der andern Seite entschwinden die Gralsfinder Perceval und der reine Gralsheld Galaad mit dem Gral im Orient, und von dort wird er in den Himmel zurückgenommen. Hier ist nicht die Idealität als Bezugs- und Zielpunkt aufgegeben und auch nicht die Möglichkeit der Krise. Im Gegenteil, die Utopie wirkt weiter, aber sie verflüchtigt sich ins Unerreichbare. Auch die Krise ist bewahrt und wird ausgespielt, aber sie kann nun nicht mehr aufgefangen werden: die Artuswelt geht an ihr zugrunde. Es fehlt folgerichtig die charakteristische Struktur, über die der Integrationsprozeß ablaufen könnte. An ihre Stelle tritt ein undurchdringliches Geflecht von Verhängnissen. Da die Utopie trotzdem immer noch im Horizont steht, können die Erscheinungen auf den Aventüren-Wegen der Ritter noch symbolträchtig sein, aber die Symbolik ist undurchsichtig geworden, die Aventüren verwandeln sich in Allegorien, zu denen dem Helden wie dem Rezipienten der Schlüssel fehlt: Bohort sieht, wie zwei Ritter seinen Bruder Lionel auspeitschen. Im gleichen Augenblick erscheint ein Schurke, der eine schreiende Jungfrau davonschleppt. Wem soll er beistehen? Er rettet das Mädchen und findet nachher die Leiche seines Bruders. Hat 21

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Dazu WEHRLI 1974 und HAUG, W. 1980 [a] [in diesem Band, S. 541-553].

er falsch gehandelt? Ein Geistlicher deutet ihm die Vorgänge: er habe richtig gehandelt, als er der bedrängten Jungfrau beigestanden sei, denn er habe damit die Liebe zu Christus der natürlichen Liebe vorgezogen. Lionel ist natürlich nicht tot, die Leiche war nur ein Trugbild. Aber wie sollte man das im voraus wissen?- Oder: Perceval bekommt von einer hilfreichen Dame ein Pferd geschenkt, er sitzt auf, und da rast es mit ihm los, auf ein tiefes Wasser zu. Perceval schlägt in seiner Angst ein Kreuz, das Pferd entpuppt sich als der Teufel, der brüllend ins Wasser stürzt, das zu brennen anfängt. - Oder: eine schöne Jungfrau fährt auf einem Schiff daher; sie lädt Perceval in ein prächtiges Zelt und versucht, ihn zu verführen. Er legt sich zu ihr ins Bett. Mehr zufällig macht er ein Kreuzeszeichen, da löst sich das Zelt in Gestank und Nebeldunst auf, und die Jungfrau fährt mit ihrem Schiff, das in Flammen aufgeht, davon.22 Die Welt ist für die Handelnden unverständlich geworden, die Verrätselung kann bis zum Widerspruch gehen, die Helden verlieren jede Orientierung. Nur der Begnadete handelt unwissend richtig, d. h., in der Undurchschaubarkeit der Erscheinungen das Richtige zu tun, das ist das Zeichen der Erwählung. Gott und der Teufel agieren im Hintergrund eines verrätselten Welttheaters. Der unheimliche Nachtweg des Partonopier, die Verteufelung der Gegenwelt im >WigaloisProsa-LancelotCrone< in die Aventüren-Fahrten Gaweins eingeblendet hat. Auf seiner Gralssuche durchreitet Gawein einen Wald. Da erscheint ein brennender roter Mann, der eine Schar nackter Frauen mit einer Geißel vor sich hertreibt. Sie jammern und klagen. Als Gawein sich nähert, drängen sie sich eng aneinander. Der feurige Mann aber eilt auf Gawein zu und küßt ihm die Füße, um dann in Lachen auszubrechen. Dann kommen auch die Frauen heran, indem sie ihre Blöße mit den Händen bedecken, und grüßen ihn. Wortlos verabschiedet sich der Mann darauf und treibt die Frauen fort. Der Autor bemerkt, daß Gawein nicht wußte, was das alles zu bedeuten habe, aber die Frauen und der brennende Mann taten ihm leid. So reitet er weiter. Da stürzt ein um Hilfe schreiender Ritter herbei. Ein schönes Mädchen hat KLUGE 1974, S. 238ff.; S. 122ff.; S. 140ff. Hl

seine Arme um ihn geschlungen. Ein altes Weib ist hinter ihnen her, sie trägt ein Glas in der Hand. Als sie die beiden erreicht, wirft sie es an einen Baum, da geht alles in Flammen auf, der ganze Wald verbrennt mitsamt dem Ritter und dem Mädchen. Traurig zieht Gawein weiter. Da sieht er ein Untier, das mit Ketten an eine Stange gefesselt ist, an der es nagt. Auf seinem Rücken, mit goldenen Ketten festgebunden, sitzt ein schöner grauhaariger Mann. In der Hand hält er ein Gefäß aus rotem Hyazinth, dessen Anblick und Duft Gawein alle Not und alles Leiden vergessen lassen.23 Es gibt mehrere solche Bilderserien in Heinrichs >CroneCroneParzivalTristan< und an das Nibelungenlied zu denken. So unterschiedlich die beiden Werke ihrer Herkunft und ihrer schriftlichen Gestalt nach sind, sie scheinen doch in gewisser Hinsicht, und zwar gerade von unserer Fragestellung her, miteinander vergleichbar: Das Grundmuster ist hier wie dort, in mehrfacher Abwandlung, das gängige Schema der Brautwerbung. Indem der Held im Nibelungenlied wie im >Tristan< in den Dienst eines königlichen Hofes tritt, rücken seine Taten und Fahrten jedoch in die Perspektive des arthurischen Aventüren-Modells. Sigfrid und Tristan fungieren als Protagonisten des Hofes, sie bewältigen für ihn Provokationen, sie lösen in seinem Interesse prekäre Aufgaben. Doch der entscheidende Unterschied gegenüber dem arthurischen Modell besteht darin, daß sie sich nur scheinbar in ein den Einzelnen und die Gesellschaft umfassendes Konzept einordnen, in Wirklichkeit integrieren sie sich über den Prozeß, in den sie eintreten, gerade nicht. Die Verweigerung der Integration vollzieht sich in den beiden Werken zwar in ganz unterschiedlicher Weise, aber Sigfrid wie Tristan nützen die Brautfahrt für den Hof letztlich für höchstpersönliche Interessen, und dies auf der Basis eines eigenen, durch die Handlung selbst abgestützten Rechts. Daraus erwächst hier wie dort der Konflikt, wobei sich die einander widerstrebenden Ansprüche ebensowenig versöhnen lassen wie die daraus sich ergebende kontroverse Moral. Aus der Perspektive des arthurischen Romanmodells fällt einerseits negatives Licht auf den Helden, weil dessen Tun sich nicht in der gesellschaftlichen Funktion erfüllt: Tristan als Ehebrecher, Sigfrid als autonomer König neben Günther. Anderseits besitzt die Gegenperspektive vom Helden her durchaus ihre Legitimation, und von da aus fällt negatives Licht auf den Hof: Marke, der sich Isolds unwürdig erweist, die Intriganten in seiner Umgebung; Günther als Schwächling, Hagen als negative Figur in seiner Umgebung. Im Nibelungenlied wie im >Tristan< wird die Handlung also in einen ethischen Widerspruch hineingeführt, der unlösbar ist und deshalb tragisch endet. Das Nibelungenlied und der >Tristan< sind also von unserer Fragestellung her als ethische Herausforderungen des arthurischen Modells zu verstehen. Sie widersetzen sich der Idee, daß das Positive im Durchgang durch das Negative anvisiert werden soll und kann. Im antiarthurischen Bereich werden vielmehr Positionen manifest, die ein Eigenrecht geltend machen: das Recht auf ein ganz persönliches Glück. So erscheinen denn die Gegenwelt wie der Hof zugleich als gut und böse, aber nicht wie im nachund propagiert wird. Doch diese Zwischenmöglichkeit zwischen Gut und Böse bringt für den Einzelnen eine Unsicherheit mit sich, die ihn zu kontinuierlicher Selbstprüfung zwingt. Ihr Ausdruck ist eine neue intensive Beichtpraxis, die im 4. Laterankonzil von 1215 ihre offizielle Formulierung findet (S. 292). Diese Wende nach innen aber führt zu einer zunehmenden Subjektivierung des Kampfes zwischen Gut und Böse, und es liegt dann nahe zu folgern, daß der psychische Druck dabei übermächtig wurde, so daß die Nachtseiten der Seele schließlich in der spätmittelalterlichen Dämonologie wieder nach außen geworfen wurden. Von Le Goff aus ließen sich also sehr wohl Hypothesen zu einem theologisch-literarischen Zusammenspiel in der Auffassung des Teufels und des Bösen im Mittelalter entwerfen, doch hätte dann die Überprüfung im einzelnen nicht nur auf die Analogien, sondern auch auf die funktionelle Verzahnung und Differenzierung,™ achten. 84

klassischen Roman des Typus >Partonopier< als eine zwiespältige Gesamtwirklichkeit, der ein integerer Held sich konfrontiert sähe und der gegenüber er u. U. unsicher würde, sondern als eine ethische Doppelperspektive, die durch alles, insbesondere auch durch den Helden selbst, hindurchgeht. Erstmals steht damit die Relativität von Gut und Böse narrativ zur Debatte. Die Ethik erscheint als eine Frage des Standpunktes, wobei die Autoren ganz bewußt die Positionen wechseln, ohne eine Lösung anbieten zu wollen und zu können. Die Liebe, wie Tristan und Isold sie leben, wird von Gottfried als Weg auch zur ethischen Vollendung des Menschen gepriesen, und doch zeigt er, daß eben diese Liebe Isold zum Mordversuch an ihrer treuen Helferin Brangaene treibt. In der gerechten Rache für die Ermordung Sigfrids verwandelt sich Kriemhild in eine Furie, für die dem Dichter nur noch eine Vokabel zureichend erscheint: Teufelin'. 26 Doch, wie gesagt, das sind singulare literarische Experimente, die nicht nur nicht weiterverfolgt, sondern programmatisch abgeblockt werden: so in der >KudrunTristanWilhelm von Orlens< Rudolfs von Ems. 29

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Vgl. KUHN, Hans 1965/1971; HAUG, W. 1974 [b] [in diesem Band, S. 293-307]. So KUHN, Hugo 1956/1969 [b]. 28 Vgl. RUH 1978, S. 119. 29 Vgl. HAUG, W. 1975 [e] [in diesem Band, S. 637-650]. 27

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Die Zwerge auf den Schultern der Riesen Epochales und typologisches Geschichtsdenken und das Problem der Interferenzen

Order is never complete; frustration is never complete ... The essence of life is to be found in the frustrations of established order. A.N. Whitehead Der amerikanische Soziologe Robert K. Merton hat 1965 ein höchst vergnügliches Buch mit dem Titel: >On the Shoulders of Giants - A Shandean Postscript < veröffentlicht.1 Es handelt sich um eine wissenschaftlich abgründige Jagd nach jenem Bild von den Zwergen auf den Schultern der Riesen, in dem sich das Verhältnis von Tradition und Fortschritt so glücklich in selbstbewußter Bescheidenheit veranschaulichen läßt. Etwa so: wir sind zwar nur Zwerge auf den Schultern von Riesen, trotzdem vermögen wir weiter zu sehen als diese. Die Bemühungen Mertons um die Ursprünge und Wandlungen dieses Fortschrittsbildes entpuppen sich dann als eine Persiflage eben dieses wissenschaftlichen Fortschrittsprozesses. Es kommt zu einer ironisch-irrwitzigen Zickzackjagd, die sich rückhaltlos jenem geschichtswissenschaftlichen Verfahren verpflichtet weiß, das Laurence Sterne in ein berühmtes Gleichnis gebracht hat - deshalb der Untertitel: >A Shandean PostScript: Could a historiographer drive on his history, as a muleteer drives his mule, - straight forward; for instance, from Rome all the way to Loretto, without ever once turning his head aside either to the right hand or to the left, - he might venture to foretell you to an hour when he should get to his journey's end; - but the thing is, morally speaking. impossible: For. if he is a man of the least spirit, he will have fifty deviations from a straight line to make with this or that party as he goes along, which he can no ways avoid. He will have views and prospects to himself perpetually solliciting his eye, which he can no more help Standing still to look at than he can fly; he will, moreover, have various Accounts to reconcile; Anecdotes to pick up; Inscriptions to make out; Stories to weave in; Traditions to sift; Personages to call upon: Panegyricks to paste up at this door; Pasquinades at that; - All which both the man and his mule are quite exempt from. To sump up all; there are archives at every stage to be ' Dt.: MERTON

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1980.

look'd into, and rolls, records, documents, and endless genealogies, which justice ever and anon calls him back to stay the reading of: - In short, there is no end of i t . . .2 Schön - aber warum ausgerechnet nach Loreto? Man möchte denken: vielleicht im Kontrast zu dem mühelosen und direkten Weg, den das dortige Gnadenbild genommen hat, als es von Engeln durch die Lüfte transportiert wurde. Doch das bleibt natürlich eine bloße Hypothese, die sich den vielen in Mertons Buch würdig an die Seite stellt. Womit demonstriert sei, wie groß die Ansteckungsgefahr ist, die von ihm ausgeht. Ziehen wir uns auf die Diagnose zurück: Die Wissenschaft, insbesondere die historische, erscheint hier als eine ab- und ausschweifende Reise des Geistes, die nie zum Ziele kommt, oder um Mertons Bild weiterzuspinnen: der Zwerg auf den Schultern des Riesen treibt hier eine Art Akrobatik, bei der er zwar alles mögliche sieht, durch die er aber daran gehindert wird, je einen beruhigt weiterreichenden Blick zu tun. Auf der andern Seite: auch wenn Mertons Frage nach dem Fortschritt der Erkenntnis von einer Sackgasse in die andere führt, wobei jede so voller irrelevant-köstlicher Überraschungen ist, daß man sich darin zu vergessen droht, so haben am Ende alle Irrungen und Wirrungen aber in geheimnisvoller Weise doch dazu beigetragen, daß man vielleicht trotz allem ein Schrittchen vorangekommen ist. Gut, 'das Ende ist nicht abzusehen', aber in dem Humor des Ganzen steckt doch ein kleines Quentchen Optimismus, eine wenn auch noch so klein geschriebene Fortschrittsgläubigkeit, ohne die die Wissenschaft nun einmal nicht leben kann. Bleibt es also im Prinzip doch beim Zwerg auf den Schultern des Riesen, auch wenn der kleine Geselle sich noch so irritabel gebärdet? Jedenfalls kann es nicht völlig überraschen, daß das aufs Korn genommene Bild in all seinen historischen Metamorphosen bei Merton durchwegs das Signum des Fortschritts trägt, d. h., er sieht es fraglos unter dem Akzent, den ihm insbesondere ein Mann gegeben hat, der durch das Gewicht seiner Persönlichkeit wie kein zweiter die Unsterblichkeit des Zwerg-Riesen-Bildes befördern mußte: Isaac Newton. Er hat seine eigene wissenschaftliche Position damit schlicht so zum Ausdruck gebracht: „If I have seen further it is by Standing on the Shoulders of Giants." 3 Doch damit ist es Zeit für die kritische Initialfrage: Stand dieses dezente Fortschrittsbewußtsein wirklich schon an der historischen Wiege des Bildes? Merton scheint dieser Ansicht zu sein, wenn er dieses Bewußtsein bereits dem mutmaßlichen Erfinder, Bernhard von Chartres, unterstellt. Er rühmt ihm nach, daß er „als erster den Gedanken eines kumulativen, wenn auch nicht stetigen Fortschritts des Wissens er2

Laurence Sterne, >The life and opinions of Tristram ShandyPoetik und Hermeneutik< hat schon Siegfried Kracauer die Sterne-Stelle über Merton entdeckt: KRACAUER 1968, S. 126f.; vgl. auch KRACAUER 1968; dt. 1971, S. 176f. 3 Faksimile des einschlägigen Briefes an Robert Hocke, datiert vom 5. 2. 1675, bei MERTON 1980, S. 31 f. - Ich will, wenn ich Isaac Newton in dieser Weise heraushebe, jedoch nicht die Verdienste von Robert Burton schmälern, dessen viel aufgelegter >Anatomy of melancholy< Newton das Bild vermutlich verdankt. Wenn ich Burton nur in einer Anmerkung würdige, dann deshalb, weil er es lediglich als Schutzschild für seinen „eichhörnchenhaften" (Merton) Kompilatorenfleiß gegenüber potentiellen Kritikern gebraucht hat - wenngleich auch diese Funktion ein ehrwürdiges Alter besitzt: schon Peter von Blois hat sich mit dem Zwerg-Riesen-Bild gegen Plagiatsvorwürfe gewehrt. So reicht denn der Melancholiker von Oxford dem Griesgram von Bath über die Jahrhunderte hinweg die Hand. Zum ersteren: MERTON 1980, S. 14, zu letzterem: ebd., S. 181ff. 87

faßt" habe.4 Damit ließe sich über die Geschichte des Bildes tatsächlich die historische Spur des Fortschrittsgedankens nachzeichnen. Wenn man jedoch mehr die innere als die äußere Geschichte des Bildes verfolgt, wird sie zu einem noch verwirrenderen Vexierspiel, als Merton sich dies dachte. Man entdeckt nämlich, daß es nicht unwesentliche Unterschiede in der Akzentuierung gibt. Man kann damit auf der einen Seite zum Ausdruck bringen, daß alle entscheidenden Leistungen von den Vorgängern erbracht worden sind und daß die Heutigen nur deshalb klarer sehen, weil die Zeit vorgeschritten und damit der Überblick größer geworden ist. Auf der andern kann es besagen, daß wir uns zwar auf eine lange Tradition stützen, daß wir hingegen entscheidende neue Perspektiven hinzugewinnen vermochten. Die jüngeren Zeugnisse akzentuieren zweifellos im Sinne einer dezidierten kulturhistorischen Stufung. Dies bis hin zur empörten Ablehnung der Zwergenmetapher für die Moderni, z. B. bei Luis Vives.5 An den Endpunkt kann man Thomas S. Kuhn stellen, bei dem der Zwerg den Riesen schlichtweg von Bord stößt, um sich selbst zum Riesen aufzubauen und dann eines entsprechenden Schicksals zu harren.6 Die kritische Frage lautet demnach konkret: Wie weit läßt sich die moderne Akzentuierung des Bildes zurück verfolgen? War tatsächlich schon im 12. Jahrhundert das Bewußtsein eines epochalen Fortschritts in ihm impliziert? Wenn dies zuträfe, vermöchte es sehr wohl die üblich gewordene Verwendung des Renaissancebegriffs für dieses Jahrhundert zu legitimieren. Davon scheint jedenfalls Edouard Jeauneau ausgegangen zu sein, als er die >Entretiens sur la renaissance du 12e siecle< 1965 in CerisyLa-Salle mit einem Beitrag über „Nains et geants" eröffnete.7 Doch die Beantwortung dieser Frage ist alles andere als einfach. Dies allein schon deshalb, weil der historische Ausgangspunkt und damit die originäre Akzentuierung höchstens indirekt zu fassen sind. Den Hinweis, daß Bernhard von Chartres - als erster? - das Bild gebraucht hat, verdanken wir nämlich Johannes von Salisbury: Dicebat Bernardus Carnotensis nos esse quasi nanos gigantium humeris insidentes, ut possimus plura eis et remotiora videre, non utique propra visus acumine aut eminentia corporis, sed quia in altum subvehimur et extollimur magnitudine gigantea.} Ist es schon schwierig, die genaue Nuance dessen zu fassen, was in dem plura et remotiora videre an Selbstbewußtsein steckt, so geht es selbstverständlich nicht an, 4

Ebd., S. 150f. Daß das kein Ausrutscher war, beweisen ähnliche Formulierungen auf S. 166. Merton hat natürlich Vorgänger, z. B. SARTON 1935/36, S. 109, der auch deshalb eine Erwähnung verdient, weil er viel für die Aufklärung der Geschichte des Bildes getan hat. Vgl. im übrigen die weiteren Stellungnahmen zu dem Thema von OCKENDEN 1936 und von KLIBANSKY 1936. 5 >De causis corruptarum artium< von 1531, Opera, Basiliae 1555, I, S. 340: Falsa est enim atque inepta illa quorundam similitudo, quam multi lamquam acutissimam, atque appositissimam excipiunt, nos ad priores collatos esse, ut nanos in humeris gigantum: non est ita, neque nos sumus nani, nee Uli homines gigantes, sed omnes eiusdem staturae. Zit. bei BÜCK 1958, S. 536. Vives gibt das Signal für jene Demontage des Bildes, das die Querelle dann durchgeführt hat. 6 WasTh. S. KUHN 1973 so bildhaft natürlich nicht sagt. 7 JEAUNEAU 1968; vgl. auch JEAUNEAU 1967. Die Problematik der Übertragung des Renaissance-Begriffs auf das 12. Jahrhundert war den Initiatoren der >Entretiens< selbstverständlich bewußt. Trotz einer „essentielle reserve" ihr gegenüber gilt ihnen aber als Charakteristikum des Jahrhunderts ein „progres manifeste par rapport ä une periode de regression". So Maurice de Gandillac in der Einleitung zu DE GANDILLAC/JEAUNEAU 1968, S. 8. 8

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PL 199, Sp. 900; WEBB 1929, S. 136.

Bernhard dasselbe Vorverständnis des Bildes zu unterstellen. Es gibt jedoch ein Zeugnis, das in die Zeit Bernhards fällt, also 30 Jahre älter ist als der Beleg bei Johannes, und es ist nicht unwahrscheinlich, daß es auch in der Akzentuierung entsprechend näher bei Bernhard steht: Wilhelm von Conches braucht das Bild in seinem PriscianKommentar. 9 Der Zusammenhang ist folgender: Priscian hatte den älteren lateinischen Grammatikern vorgeworfen, daß sie sich nur an die alten griechischen Grammatiker gehalten hätten, statt sich auch an den jüngeren zu orientieren, denn: quanto juniores, tanto perspicaciores. Wilhelm gibt Priscian recht: die Jüngeren seien in der Tat perspicaciores, wenngleich die Älteren weiser gewesen seien, da sie ja die Werke hätten schaffen müssen, die uns nun zur Verfügung stünden. Wir sehen mehr, weil wir die ganze Tradition überblicken - so wie die Zwerge auf den Schultern von Riesen -, aber: sumus relatores et expositores veterum, non inventores novorum. Hier handelt es sich also deutlich um eine rückwärts gewandte Perspektive, und wenn dies auch durch das spezifische Thema, die Grammatik, mit bedingt sein mag, so zeigt gerade dies, in welchem Rahmen die gesamte Diskussion um das Verhältnis zur Tradition, und d. h. insbesondere zur Antike, geführt wird: es ist der Rahmen der Artes; es geht um die eigene Position im humanistischen Bildungsprogramm des 12. Jahrhunderts. Etwas anders Johannes von Salisbury: er gebraucht das Bild in der oben zitierten Formulierung im 4. Kapitel des 3. >MetalogiconErecDie fünfzehn Zeichen des Jüngsten GerichtsOn the Origin of Species< die Geschichte des religiösen Dramas als darwinistische Evolution von der einfachsten Form zu immer größeren Einheiten verstand, hat Young die Vorstellung der Mutation in die Geschichte des mittelalterlichen Spiels hineingetragen und damit ein Entwicklungsbild mit epochalen Zäsuren entworfen. Den Anstoß gab John M. Manlys Aufsatz >Literary Form and the New Theory of Species< von 1906.45 Bei diesem Verfahren hat man nicht nur die Zeugnisse dem vorgegebenen Schema entsprechend zeitlich eingestuft und damit eine vielschichtige und komplexe Entwicklung in entstellender Weise schematisiert, sondern es wurde der Charakter des Wandlungsprozesses grundsätzlich verkannt. Chambers und Young verstanden die Entwicklung des Dramas als ein SichFreispielen der mimisch-literarischen Fähigkeiten des Menschen gegenüber der kirchlich-liturgischen Bindung bzw. als Säkularisierung des religiösen Geschehens. Sie haben mißachtet, daß der liturgische Kern durch alle Wandlungen hindurch nicht nur erhalten, sondern bestimmend blieb, und sie haben übersehen, in welchem Maße der gewonnene Freiraum nicht nur ein Ausgreifen in neue Möglichkeiten erlaubte, sondern zugleich die Chance bot, das damit aufbrechende systemgefährdende Potential zu bewältigen. Muß sich angesichts solcher Fehlinterpretationen nicht die methodische Forderung aufdrängen, mit dem epochalen Strukturmodell erst von dem Zeitpunkt an zu arbeiten, zu dem sich ein entsprechendes epochales Bewußtsein herausgebildet hat, während man geschichtliche Verläufe im Mittelalter als kontinuierliche Prozesse typologischer Integration - in einem weitesten Sinne - darzustellen hätte? Mit dieser Forderung taucht jedoch unter dem Aspekt des Umbruchs zwar nicht in der Geschichte selbst, aber in ihrem Verständnis überraschend und radikaler denn je jene Epochenschwelle zwischen Mittelalter und Neuzeit wieder auf, die in ihrer Singularität doch als überwunden gelten durfte. Haben wir uns - mit einem Kompliment für Tristram Shandy und Merton - schlicht im Kreise bewegt? Sind wir wieder zu der Ausgangsfrage zurückgekehrt, wie es dazu kommt, daß die Zwerge auf den Schultern der Riesen zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr nur retrospektiv die Zusammenhänge klarer zu durchschauen meinen, sondern den Anspruch erheben, prospektiv wesentlich Neues zu sehen? Der durchschrittene Weg dürfte wohl eher einer Spirale gleichen, präsentieren sich doch die alten Probleme von der Interaktion zwischen Gegenstandsstruktur und Interpretationsstruk"CHAMBERS

1903; YOUNG 1933. Zum Folgenden die grundlegende Kritik von

HARDISON,

jr.

1965. 45

MANLY 1906.

103

tur her neu. Denn nach dem Konzept der multiplen Periodisierung wird man keine einmalige Zäsur, sondern ein Geflecht von Übergängen und Verzahnungen erwarten. Dabei muß es sich anbieten, das epochale Modell als heuristisches Instrument zu verwenden, um in dem dem epochalen Denken vorausgehenden Zeitraum jene Züge herauszukämmen, die quer zum typologischen Prinzip stehen und die damit - auf welche Weise auch immer, jedenfalls vielschichtig und komplex - die Wende andeuten, antizipieren, vorbereiten. Unabdingbar wäre es jedoch, sich Schritt für Schritt bewußt zu halten, daß man in einer Perspektive agiert, die im Widerspruch zu dem die Zeit prägenden Geschichtsmodell steht. Die Darstellung der einschlägigen Phänomene müßte deshalb dezidiert auf eine Interpretation der Interferenzen zwischen den beiden Modellen im geschichtlichen Raum zielen. Sollte dies gelingen, so dürfte sich nicht nur ein differenzierteres Bild des in Frage stehenden Übergangs ergeben, sondern es bestünde auch die Chance, prinzipielle Einsichten in die Irregularitäten epochaler Übergänge zu gewinnen. Ich demonstriere die Problematik zunächst wieder an meinem literarischen Paradebeispiel, an der Entwicklung des höfischen Romans, um dann analoge Prozesse in andern Bereichen skizzenhaft-vorläufig zur Ergänzung und zum Vergleich daneben zu stellen. Chretien de Troyes hat mit dem Artusroman die literarische Fiktion als genuines Medium von Erfahrung entdeckt. Das bedeutet, vom epochalen Modell her gesehen, einen radikalen Bruch mit der gesamten bisherigen mittelalterlichen Literaturtradition. Es gab allerdings zuvor schon fiktionale literarische Typen, und zwar unterschied man deren drei - ich folge Macrobius, dessen literaturtheoretisches Konzept für die mittelalterliche Poetik maßgebend geworden ist46: 1. Literarische Erfindungen zur Unterhaltung, die keinerlei Wahrheitswert besitzen, wie etwa der griechische Liebesroman, 2. Erfindungen, die eine Moral veranschaulichen, etwa die äsopische Fabel, und 3. die sog. narratio fabula, i. e. die Darstellung einer höheren Wahrheit im Kleid einer gleichnishaften Erzählung. Diese letzte Form wird dann im 12. Jahrhundert zur Integumentumlehre weiterentwickelt; sie gestattet es Bernardus Silvestris z. B., die >Aeneis< als Weg der menschlichen Seele durch die Welt zu interpretieren. Weder die moralisch-beispielhafte noch die integumentale Fiktion sind Fiktionen von eigenem Recht, es handelt sich in beiden Fällen um bildhafte Umsetzungen von Wahrheiten, die hinter der fiktiven Sphäre liegen und die an sich auch diskursiv formuliert werden können. Die lateinische Poetik läßt dem Fiktionalen also keinen Eigenraum, sie bindet es vielmehr instrumental in die allegorische Wirklichkeitsinterpretation ein. Mit Chretiens Roman wird das Fiktionale im Mittelalter erstmals als ein Bereich begriffen, in dem die Einbildungskraft nicht eine immer schon vorgegebene Wahrheit zur Anschauung bringt, sondern in einem offenen Horizont auf die Suche nach der Wahrheit geht. Das Kennzeichen dieser Offenheit ist die avanture, d. h. das, was dem Helden der Erzählung 'zufällt'. Im Ergreifen dieses Zufälligen begründet sich seine Individualität. Und Individualität impliziert die Möglichkeiten einmaliger, neuer Erfahrung. 46

Vgl. MEIER 1976, S. 9ff., und die dort genannten Arbeiten von Hennig Brinkmann; ferner KNAPP 1980; HAUG, W. 1985 [a], S. 224f.

104

Es scheint, daß wir hier den Punkt fassen, an dem erstmals Literatur im modernen Sinne denkbar wird. Doch stellen sich sogleich zwei Fragen. Einmal: haben die höfischen Schriftsteller selbst begriffen, daß sie mit ihrem fiktionalen Roman etwas wesentlich Neues geschaffen haben? Und zum andern: ist der Roman tatsächlich im Sinne dieses neuen Konzeptes rezipiert worden? Die mittelalterlichen Versuche, die Entdeckung des Fiktionalen theoretisch zu bewältigen, sind höchst eigenartig. Man vermag sie nur richtig zu interpretieren, wenn man sie als Interferenzphänomene im Übergang der beiden Modelle versteht. Chretien beschreibt die Wahrheit des neuen Romans, indem er Begriffe anspielt, die zum Konzept der traditionellen Poetik gehören. Er spricht im Prolog zum >Erec< davon, daß er eine conjointure aus dem Stoff, dessen Wert bislang nicht erkannt worden sei, 'herausholen' wolle. Das klingt, als ob es darum ginge, eine verborgene Wahrheit im Sinne der Integumentumlehre aufzudecken. Zugleich macht Chretien jedoch deutlich, daß diese Wahrheit nicht jenseits des Stoffes liegt, denn conjointure meint die Struktur der Erzählung, d. h. jenes oben beschriebene Handlungsmodell, das den Sinn über eine symbolträchtige Komposition seiner Elemente vermittelt.47 Der Chretien-Bearbeiter Hartmann von Aue wird deutlicher: er sagt im Prolog seiner >YvainParzivalIweinDer Wälsche GastTiturel< durch Albrecht gelten, der die Wolframschen Fragmente ein halbes Jahrhundert später zu einem allesumspannenden Gralsroman 51

Es sei auf das Thema von >Poetik und Hermeutik 1II< (JAUSS 1968 [b]), verwiesen, insbes. auf den Beitrag von Hans Robert Jauß selbst (JAUSS 1968 [a]). Zum weiteren: HAUG, W. 1980 [b], siehe insbes. S. 213f. zu den grotesk-surrealen Bildersequenzen in der >Crone< Heinrichs von dem Türlin [in diesem Band, S. 651-671, insbesondere S. 657f.].

"STADELMANN 1929, S. 20.

106

ausbaute. Im Zentrum des Geschehens steht die Suche nach einer Hundeleine. Auf dieser Leine stand bei Wolfram eine Liebesgeschichte. Sigune hatte sie zu lesen begonnen, als der Hund sich mit der Leine losriß. Und darauf schickt sie den Geliebten aus, damit er sie zurückbringe. Diese äventiure, die tragisch endet, war von Wolfram wohl als Weg der Liebe, als Suche nach der Liebe gedacht. Bei Albrecht steht nun auf der Leine eine kunstvoll systematisierte Tugendlehre unter der Idee des Ineinanderspielens von irdischer und himmlischer Minne. Der Sinn des Romans erfüllt sich in der Demonstration dieses ethischen Universalkonzepts; der Höhepunkt der Handlung ist die festliche öffentliche Lesung der Brackenseilinschrift. Diese didaktische Funktion der Literatur wird von Albrecht im übrigen programmatisch gegen Wolframs Rezeptionsprinzip gestellt. Er paraphrasiert einleitend den >ParzivalErec< die symbolische Funktion der antiken Bildbeschreibung auf und entwickelt sie zugleich in einer Richtung weiter, die für die höfisch-epische Literarästhetik kennzeichnend ist: Auf dem Rückweg von der zweiten avanture-Fahrt erhält Enide ein merkwürdiges Pferd. Bei Chretien ist es braun, nur der Kopf ist auf der einen Seite schwarz und auf der andern weiß, wobei die beiden Farben durch einen grünen Streifen voneinander getrennt sind. Auf dem elfenbeinernen Sattelbogen sind Szenen aus dem Eneasroman eingeschnitzt.15 Hartmann hat die Motive seiner Vorlage übernommen, abgewandelt und erweitert. Bei ihm ist das ganze Pferd Enites auf der einen Seite schwarz und auf der andern weiß, während ein grüner Streifen dazwischen vom Maul über den Rücken bis zum Schwanz läuft. Auch die Augen sind von grünen Kreisen umschlossen. Das schwarze Ohr hat einen weißen, das weiße einen schwarzen Ring. Das Tier tritt so leise auf, daß man es nicht hört. Wer es reitet, meint zu schweben. Der Sattel ist aus Elfenbein geschnitzt und mit Edelsteinen und Gold verziert. Auch hier erscheinen die Szenen aus dem Eneasroman: die Zerstörung Trojas, die Didotragödie und, zusätzlich, Eneas und Lavine. Die Satteldecke zeigt die vier Elemente und die ihnen zugeordneten Lebewesen. Das Sattelkissen ist mit der Geschichte von Pyramus und Thisbe bestickt.16 Es ist mehrfach versucht worden, die Farben von Enites Pferd und die literarischen Szenen auf dem Reitzeug symbolisch zu deuten. Petrus W. Tax sah im Gegensatz von Weiß und Schwarz den Kampf zwischen Gut und Böse, während der grüne Streifen für ihn die Hoffnung bedeutet. Was die Szenen aus dem Eneasroman und aus der Pyramus-Thisbe-Geschichte betrifft, so wollte er sie typologisch auf Erec und Enite bezogen sehen: die Liebe zwischen Erec und Enite setze sich auf höherer, christlicher Stufe von den antiken Liebestragödien ab.17 Sehr viel vorsichtiger und differenzierter bemüht sich Heimo Reinitzer um eine Auflösung der Symbolik.18 Er folgt Tax nicht in seiner problematischen Übertragung des exegetischen Typologiebegriffs in die profane literarische Sphäre, er spricht vielmehr von 'Beispielfiguren'. Er geht aus von den drei Farben des Pferdes: Schwarz, Weiß, Grün. Es seien die Farben der Elster, die nicht nur als schwarz und weiß, sondern gelegentlich zugleich als grün angesehen wird; und von der Symbolik der Elster - sie bedeutet Geschwätzigkeit und Luxuria - schlägt er den Bogen zu Enite, indem er zum einen an das Redeverbot erinnert, das Erec ihr beim Auszug auferlegt hat, und zum andern jene Episoden heranzieht, in denen Enite aus 14

GOEBEL 1971, S. 26, im Zusammenhang weiterer Materialien zu mittelalterlichen Architekturphantasien, S. 23ff.; ebd. auch die ältere Literatur dazu. 15 Vv. 5319ff., zit. nach ROQUES 1952. 16 Vv. 7791ff., zit. nach LEITZMANN 1957. Es stehen 35 Versen bei Chretien 503 Verse bei Hartmann gegenüber. 17 TAX 1963, S. 32ff. "REINITZER 1976, S. 615ff.

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triuwe die Luxuria abwehrt. Das elsternfarbene Pferd bedeute also die von Enite überwundene Vergangenheit. Die epischen Szenen auf dem Sattel weisen in ihrer Symbolik in dieselbe Richtung: Dido und Aeneas seien ebenso wie Pyramus und Thisbe „Exempelfiguren . . . für die katastrophale Wirkung der falschen Liebe".19 So wertvoll viele Einzelbeobachtungen Reinitzers sind, so bleibt das Prinzip der Beispielhaftigkeit doch zu punktuell, um die Bedeutung der Hartmannschen Bildbeschreibung im Gesamtzusammenhang der Handlung vollständig fassen zu können. Enite erhält das wunderbare Pferd kurz vor dem Ende des zweiten äventiure-Weges. Das Paar ist durch eine Serie von gefährlichen Proben und Bewährungen hindurchgegangen. Enite hat dem scheinbar toten Erec die Treue gehalten, und sie hat ihm im zweiten Guivreiz-Kampf das Leben gerettet. Die Episodenfolge, die sie zusammen durchlaufen mußten, ist in zwei Triaden angeordnet. Der Wiederherstellung der Ritterehre und der triuwe nach außen in den ersten drei Szenen folgt in drei parallelen Stationen die Erfahrung.von dem, was Tapferkeit und Liebe in ihrem tiefsten Sinn sein können und sollen.20'Das neue Pferd markiert den Abschluß dieses Prozesses. So wie es beschrieben ist, kann es sich nicht um ein reales Tier, sondern nur um ein Märchenpferd handeln. Es dürften deshalb seine drei Farben und ihre seltsame Anordnung weniger auf eine bestimmte Symbolik angelegt, als vielmehr Signal dafür sein, daß der Dichter die Ebene der epischen Handlung verläßt und im folgenden mit der Sattelbeschreibung in eine andere Realitätssphäre überwechselt. Das Märchenhafte des Farbenspiels hätte also die Funktion, die sich anschließende Descriptio aus dem Lauf des Geschehens auszugrenzen und darauf aufmerksam zu machen, daß mit ihr Bedeutung gesetzt werden soll. Das Wunderpferd wird in dem Augenblick eingeführt, in dem der Zuhörer die Struktur des Romans überblicken und in ihrem Sinn zu durchschauen vermag. Dabei bringt Hartmann über die Sattelbeschreibung zwei literarische Zitate an. Es werden die Hauptstationen der Eneas-Geschichte und die Pyramus-Thisbe-Tragödie in Erinnerung gerufen. Der Roman d'Eneas ist, anders als Vergils >AeneisParzivalMuspilliMuspilli< gelegen war, zweifellos Mittel und Wege gefunden hätte, das Gedicht in ordentlicher Form niederschreiben zu lassen. Es liegt deshalb näher anzunehmen, daß der Eintrag zu einer Zeit vorgenommen wurde, als der Kodex nicht mehr im königlichen Besitz war, am ehesten nach Ludwigs Tod, also nach 876. Was den Lautstand der Sprache betrifft, so ließe er sich mit einer solchen Datierung vereinbaren, doch spricht anderseits nichts dagegen, daß das zugrundeliegende Original einige Jahrzehnte älter gewesen sein könnte, ohne daß es freilich möglich wäre, eine genauere Grenze nach oben festzulegen. Steinmeyer denkt an das 4. Jahrzehnt des 9. Jahrhunderts, 5 Gustav Ehrismann an die Zeit um 830.6 Da h im Anlaut vor Konsonant im Laufe des 9. Jahrhunderts schwindet und das >Muspilli< das h in dieser Position durchwegs aufgegeben hat, wird man das Gedicht nicht zu weit gegen 800 hinaufrücken dürfen. Beweisend wären hier freilich nur die Belege im Stabreim, und hier ist die Sachlage keineswegs so eindeutig, wie es scheint. Man pflegt in diesem Zusammenhang folgende drei Verse anzuführen: 62 73 82 3 4

ni uueiz mit uuiu puaze: so verit si za uuize So daz himilisca hörn kilutit uuirdit lossan sih ar dero leuuo vazzon: scal imo avar sin lip piqueman

BAESECKE 1948/50/1966. Vgl. den Überblick über die Diskussion um diese Frage bei: KROGMANN 1937, insbes. den ersten Teil seiner Studie; ferner MINIS 1966, S. 62ff. FISCHER, H. 1966, S. 16*; BISCHOFF 1971, S. 122f., und 1973, S. 51. Vgl. auch KUNSTMANN 1960,

S. 8f., der die sicherlich nicht absolut stichhaltige Ansicht vertritt, daß Ludwig aufgrund des Dialekts als Schreiber nicht in Frage komme. 5

6

STEINMEYER 1963, S. 78.

EHRISMANN 1959, S. 149. - Anhand einer Analyse des Lautstandes verschiedene Überarbeitungsstufen herauszustellen und zu fixieren, wie VAN DELDEN 1942, S. 316f., dies versuchte, überfordert die Möglichkeiten der Philologie bei weitem; vgl. im übrigen die kritischen Bemerkungen von BERGMANN 1971, S. 311.

163

Wenn dabei argumentiert wird, daß in 62 (h)uuiu mit uuize und in 82 (h)leuuo mit lip staben und diese Verse deshalb nach dem Wegfall des h entstanden sein müßten, so ist dem entgegenzuhalten, daß man in beiden Fällen nicht unbedingt auf diese Stäbe angewiesen ist. Es könnten in 62 der Stab uueiz: uuize und in 82 der Stab lossan: lip zur Not genügen. Es bleibt Vers 73, dessen Stab hörn: kilutit/kihlutit den älteren Lautstand voraussetzt. Hier pflegt man sich damit zu helfen, daß man an das Weiterleben eines formelhaften Ausdrucks denkt.7 - Auf einen relativ frühen zeitlichen Ansatz könnte jedoch selida, v. 15, deuten. Die Formel sälida ano sorgun ist so breit belegt, daß man versucht ist, in selida = 'Wohnung' einen Fehler zu sehen, der im Hinblick auf die nachfolgenden pu und hus verständlich zu machen wäre. Falls es sich dabei um einen Umlaut aufgrund einer Verwechslung von sälida mit sälida handelt, müßte dieser Fehler in die Zeit vor das Auftreten des a-Umlauts, und d. h. ins 8. Jahrhundert, zurückweisen. Aber es ist trotz der zahlreichen Belege zur Formel 'Seligkeit ohne Sorgen' nicht auszuschließen, daß in diesem Fall doch entweder von Anfang an sälida/selida gemeint war oder sälida erst später in diesem Sinne mißverstanden oder neu verstanden worden ist.8 Versuche, Sprachschichten mit einzelnen Gedichtteilen in Zusammenhang zu bringen und die Klitterungsthese sprachlich abzustützen, sind verschiedentlich unternommen worden - am nachdrücklichsten von Baesecke. Sie vermochten aber, da die Textbasis zu schmal ist, nur bedingt zu überzeugen.9 Ad 3) Zur Überlieferungsform: Mündliche Tradition ist nicht auszuschließen, doch neigt man seit Steinmeyer dazu, zumindest für den überlieferten Text eine schriftliche Vorlage anzusetzen.10 In dieser Situation hat man schon vor Steinmeyer und seitdem immer wieder versucht, über eine Quellenanalyse der verarbeiteten thematischen Komplexe weiterzukommen, d. h. sie bestimmten Traditionszusammenhängen zuzuweisen und so den literarhistorischen Entstehungsprozeß des >Muspilli< aufzurollen. Gustav Grau meinte in Ephräm dem Syrer die Vorlage gefunden zu haben." Baesecke hat den AntichristElias-Kampf an Cynewulf (>Crist IIIMuspilli II< ausgegrenzt.12 Ingo Reiffenstein hat auf die Nähe der Darstellung des individuellen Gerichts zu Motiven der irischen Visionsliteratur, insbesondere der >Visio des FurseusMuspilli< in einem weitverzweigten Traditionszusammenhang apokalyptischer Literatur steht, ohne daß präzise Abhängigkeiten oder Überlieferungswege zu fassen wären. 7

BRAUNE/EGGERS 1975, § 153 Anm. 1. STEINMEYER 1963, S. 78, möchte der Schwierigkeit da-

durch ausweichen, daß er hont zum Abvers zieht; dazu die Kritik von MINIS 1966, S. 91f. 8

9

Vgl. BERGMANN 1971, S. 304ff.

BAESECKE 1948/50/1966, S. 202f.; SCHNEIDER 1936/1962, S. 169, denkt an einen Schreiberwechsel.

10

STEINMEYER 1963, S. 81. Vgl. VAN DELDEN 1942, S. 315. " GRAU 1908. 12

Siehe Anm. 3.

13

REIFFENSTEIN 1958. KROGMANN 1937. 15 MINIS 1966.

14

164

Wenn aber für das >Muspilli< die konkreten literarischen Beziehungen dunkel bleiben, wenn man nicht sagen kann, wann das Gedicht entstanden, unter welchen Bedingungen es aufgebaut und wie es überliefert worden ist, dann ist es literaturgeschichtlich nicht einzuordnen, und wenn eine solche Einordnung in die Geschichte die Voraussetzung für ein interpretierendes Verstehen ist, dann ist das >Muspilli< nicht interpretierbar und nicht verständlich zu machen. Man darf sagen, daß Steinmeyer Grund hatte für seine Desperation. Nach all dem möchte man erwarten, daß das Bewußtsein der methodischen Problematik sich hierbei geschärft hätte. Wenn dies kaum der Fall war, dann wohl deshalb, weil es, ohne daß die Fragen der älteren Forschung ganz in den Hintergrund getreten wären, zu einer gewissen Verschiebung der Problemstellung kam. Gegenüber den stofflichen und sprachlichen Seiten traten die stilistisch-künstlerischen Aspekte in den Vordergrund. Dies letztlich mit dem Ziel einer immanent-ästhetischen Interpretation. Diese Neuorientierung findet in Hermann Schneiders >MuspilliMuspilli< vorzustoßen und es als Kombination in einem weit verzweigten Traditionszusammenhang apokalyptischer Themen zu verstehen, auf der andern Seite aber hatte man angesichts der einzigen Stelle, wo man anscheinend wirklich Geschichte fassen konnte, bei 16

SCHNEIDER

1962.

17

Grundlegend zur Stabreimtechnik im >MuspilliMuspilli< zwischen Geschichte und Individualität Wir haben es also in der >MuspilliMuspilli< unter Bedingungen dar, mit denen der Interpret zwar grundsätzlich zu rechnen hat, die sich aber gewöhnlich nicht in dieser Weise kombiniert vordrängen und querstellen. In dieser besonderen Schwierigkeit könnte jedoch auch eine besondere literaturtheoretische Chance liegen: die Unmöglichkeit, Geschichte über ein Modell zu etablieren, und die Unmöglichkeit, eine individuelle künstlerische Konzeption zu erreichen, zwingen zu der prinzipiellen Frage, inwieweit das literarhistorische Verständnis an der Rekonstruktion der genetischen Zusammenhänge bzw. an der geschlossenen Individualität des Textes hängt. Man ist versucht, provozierend zu antworten und zu sagen: das, was sich als genetisches Verständnis eines Werkes gebe, mache dieses im Grunde zu einer Funktion unseres historischen Interpretationsmodells, und was wir als individuelle Konzeption herausdestillieren, sei bestenfalls eine mehr oder weniger gewichtige Komponente in einer übergreifenden literaturgeschichtlichen Situation. Jedenfalls zwingt uns die Forschungslage beim >MuspilliMuspilli< überhaupt interpretierbar. Man wird diesem Gedanken mit Skepsis begegnen, denn Darstellen und Interpretieren von Geschichtlichem besteht ja gerade in der Vermittlung zwischen der subjektiven Vision des Interpreten und dem, was sich objektiv zunächst als ein Chaos von Zufälligkeiten präsentiert. Wir bedürfen der Modelle, um überhaupt ansetzen zu können. Bestenfalls wird man fordern, daß die Zirkelbewegung der Interpretation letztlich versuchen müßte, das Modell zu übersteigen, d. h., daß wir unsere historischen Konstruktionen dazu benützen sollten, um, indem man sie zusammenbrechen läßt, über sie hinwegzukommen. Das >Muspilli< müßte uns dies besonders leicht machen, da es uns unsere Interpretationshypothesen von selbst in ihrer Fragwürdigkeit wieder zuspielt. 166

Wenn man bisher diese Chance nicht gesehen hat, so dürfte dies nicht zuletzt daran liegen, daß man erst in jüngster Zeit programmatisch über jenen Textbereich hinausgreift, in dem sich eine historisch-genetische und individualistische Literaturbetrachtung als fruchtbar erwiesen hat. So ist man heute dabei, auch jene literarischen Typen insbesondere aus dem späteren Mittelalter - zugänglich zu machen und aufzuarbeiten, die eine verpflichtende Prägung vermissen lassen, die vielmehr immer neu abgewandelt und verbraucht werden. In dem Maße aber, in dem das Interesse wächst für Texte in der Flüchtigkeit und Unfestigkeit ihrer Gebrauchssituation, in dem Maße müßte es auch möglich sein, zu einem neuen Verständnis des >Muspilli< zu kommen. Wie bietet sich uns der >MuspilliMuspilli< ist jedoch wenig Mühe darauf verwandt worden, die drei thematischen Komplexe organisch untereinander zu verbinden. Dieser Befund dürfte irrfplizieren, daß die einzelnen Stücke demjenigen, der sie in dieser Weise montierte, vorgegeben waren, sei es, daß er sie aus einem Gedicht herausgeschnitten, oder sei es, daß er sie sich aus verschiedenen Weltgerichtsüberlieferungen zusammengeholt hat. Dabei ist zudem mit der Möglichkeit zu rechnen, daß diese Kombination über mehrere Stufen gelaufen ist. Das >Muspilli< erscheint damit als eine Montage von vorgegebenen thematischen Komplexen im Rahmen eines traditionellen literarischen Genres, das man allgemein als apokalyptische Literatur bezeichnen und durch einen mehr oder weniger geschlossenen Katalog von Motiven inhaltlich bestimmen kann. Es handelt sich um ein Genre, das über unterschiedliche literarische Typen in überregionalen Zusammenhängen vermittelt worden ist. Gerade die vergeblichen Bemühungen, den >MuspilliMuspilli< ist, müßte es sich empfehlen, gerade von ihr her das Verständnis aufzubauen, statt, wie bisher üblich, alles zu tun, um sie zu überspielen und eine zweifelhafte literaturgeschichtliche Kontinuität zu etablieren. Ja, selbst wenn es gelungen wäre oder noch gelingen sollte, die direkten literarischen Vorlagen des >Muspilli< nachzuweisen, dürfte man sich dabei nicht beruhigen, sondern hätte man methodisch bei der klitternden Diskontinuität anzusetzen, die den überlieferten Text kennzeichnet. Es zeigt sich somit, daß die Not der Überlieferungssituation hier zum Glück des Interpreten werden könnte. Von der Fragwürdigkeit seiner Konstruktion auf das grundsätzliche Problem der historischen Kontinuität zurückverwiesen, sollte er entdecken, daß das Verständnis des >Muspilli< nicht von den genetischen Zusammenhängen, sondern von der Einsicht in ihre Brechung abhängt. Wenn es entscheidend auf diese ankommt, dürfen jene getrost Hypothesen bleiben. Bedeutet aber Brechung nicht zwangsläufig Brechung durch eine Individualität? Werden wir von der Montage nicht zur Frage nach der Ratio des Arrangements geführt? In welchem Maße impliziert eine Verfügbarkeit unter übergeordnetem Aspekt eine spezifische Konzeption? Damit sieht man sich unvermittelt doch wieder vor jenes Problem gestellt, das Schneiders Wende aufgeworfen hat. Methodisch formuliert heißt das: Ist unter dem Aspekt der Montage Textkritik überhaupt noch möglich?

3. Kritik der Textkritik In der bisherigen >MuspilliMuspilli< sonst nur die Form denne verwendet wird.

176

stabreimtechnisch problematischen Zeilen. Verstöße gegen die strenge Regel sind in 49, 53, 57, 58 und 59 zu notieren. Die Endreimverse 61 und 62 fallen völlig aus dem Rahmen. Minis weist die Versgruppe trotzdem dem Original zu. Wie schon Schneider schaltet er hingegen die Endreimverse 61 und 62 aus: es handle sich um eine völlig überflüssige, predigerhafte Replik auf die rhetorische Frage von Vers 60. 49 Hc

65

70

65

70

Pidiu ist demanne so guot, denner ze demo mahale quimit, daz er rahono ueliha re[h]to arteile. Dene ni darf er sorgen, dene er ze dem suonu qui(mit). niueiz der uuenago man, uuielihan uu(art)il er habet, denner mit den miaton marrit dfajz refhjta, Daz der tiuual dar pi kit(arnit stentit). (d)er hapet in ruouu rahono ueliha, daz der man (er enti sid) upiles kifrumita, daz er iz allaz kisaget, denne er {ze) dem suonu quimit; Ni scolta sid mannohhein miatun intfahan.50 Wohl deshalb dem Menschen - kommt er zum Gericht -, wenn er jede Sache nach dem Recht entscheidet: Er braucht nicht zu sorgen, wenn er vor dem Gericht erscheint. Doch der Verworfene weiß nicht, was für einen Wächter er hat, wenn er mit Bestechung die Gerechtigkeit hindert, daß nämlich der Teufel verborgen bei ihm steht: Der hat festgehalten, was immer ein Mensch früh oder spät Böses getan hat, und alles sagt er, wenn er vor dem Gericht erscheint. Darum sollte niemand Bestechungsgeld nehmen.

Die Versgruppe 63-72 nimmt - hierin wird man Minis zustimmen 51 - eine gewisse Sonderstellung ein. Dadurch, daß vom Jüngsten Gericht aus das unrechte Richten auf der Erde zur Sprache kommt, ergibt sich eine auffällige thematische Pointierung. Dabei wirkt stilistisch manches unbeholfen, so die Wiederholungen in 63b, 65b und 71b. Zudem verschränkt der Text die Thematik des irdischen Gerichts und des Endgerichts, ohne daß die verschiedenen Zeitebenen klar voneinander abgehoben würden. Die Gedankenfolge ist teilweise nur mit Mühe durchschaubar. Meint mahal in 63 das irdische oder das göttliche Gericht? 5 2 In den Versen 63/64 ist offensichtlich vom irdischen Richter die Rede, in 66/67 jedoch von denjenigen, die Zeugen oder Richter

49

MINIS 1966, S. 76.

50

Die Verszeile erscheint in der Hs. am unteren Rand einer Seite und ist z. T. am oberen Rand der nächsten wiederholt. Der Text ist schwer zu entziffern; vgl. STEINMEYER 1963, S. 70 Anm. 11.

51

MINIS 1966, S. 81 ff.

52

KLAEBER 1938 sieht in mahal hier das Jüngste Gericht, MINIS 1966, S. 87, dagegen das weltliche Gericht. 177

bestechen. Vers 72 schließlich spricht von jenen, die bestochen werden - ein verwirrender Wechsel der Aspekte. Wie immer man diese Probleme im einzelnen lösen mag, die Gruppe 63-72 (IIc) bildet einen Komplex für sich. Es stellt sich die Frage, wie er sich zu den ersten sechs Versen dieses Teils (IIa) und zum Elias-Antichrist-Kampf (IIb) verhält. IIc ist zweifellos auf IIa bezogen, rahha, v. 35, wird abgewandelt in 64 und 69 wiederaufgenommen. Der Ansatz mit dem Jüngsten Gericht in den Versen 31 ff. stellt die Perspektive, in die schließlich der Kontrast zwischen dem ungerechten Richten auf Erden und der unausweichlichen Gerechtigkeit Gottes eingebaut wird. Der zwischen IIa und IIc eingefügte geschlossene Komplex des Elias-Antichrist-Kampfes ist thematisch mehrfach auf diesen Kontrast bezogen: die Zeilen 57 und 60 nehmen das Motiv der Rechtsbeugung auf Erden vorweg. Und in diese Perspektive gehören auch die beiden binnengereimten Langzeilen 61 und 62. Man sollte sie nicht einfach als billige Predigerverse ausscheiden, denn gerade sie tragen, zusammen mit 57 und 60, maßgeblich zum Verständnis des Elias-Antichrist-Komplexes und seiner Funktion im Zusammenhang von Teil II bei. Der Sinn dieses Komplexes besteht darin klarzumachen, daß die Erde vor dem Jüngsten Gericht zerstört wird und man unter völlig veränderten Voraussetzungen vor den göttlichen Richter treten muß: es gibt keinen Gerichtsort mehr, wo man sich unter Verwandten Rechtshilfe leisten könnte; der Boden, auf dem man zusammen mit seinen Verwandten zum Kampf angetreten ist, ist verbrannt; jeder steht allein, man ist der göttlichen Gerechtigkeit ausgeliefert. Gerade dies ist es, was die beiden Reimverse nochmals betonen. Es handelt sich also keineswegs um eine sinnlose Replik auf eine rhetorische Frage. In dieser Perspektive ist nun das umstrittene Problem der tatsächlich oder scheinbar widersprüchlichen Meinungen der uueroltrehtuuison und der gotman über den Endgerichtskampf zwischen Elias und dem Antichrist nochmals aufzugreifen und, wenn möglich, einer Klärung zuzuführen. Wenn von IIc aus gesehen dieser Kampf darauf zielt, daß die Erde zerstört wird, so daß es buchstäblich keinen Boden mehr gibt, auf dem man sich gegenseitig beistehen könnte, dann müßte man eine Argumentationslinie etwa folgender Art erwarten: Es wird am Ende der Zeiten zu einer Auseinandersetzung zwischen Elias und dem Antichrist kommen. Da Gott auf der Seite des Propheten steht, wird dieser über den Vorkämpfer des Teufels siegen. Zugleich jedoch wird Elias verwundet werden. Sein Blut setzt die Erde in Brand. Durch die Zerstörung der Welt ist für das Jüngste Gericht eine Situation geschaffen, die alle Bedingungen irdischen Richtens aufhebt. Das würde bedeuten: Der Untergang des Antichrist und der Tod des Elias schließen sich nicht aus. Wenn es in Vers 43 heißt, daß der Herrscher im Himmel dem Elias beistehen werde, so kann das nicht dadurch in Frage gestellt werden, daß Elias fällt, denn die Vernichtung des Antichrist bleibt als Ergebnis bestehen und Elias wird - nach der Tradition - vom Tod auferweckt. Es wäre demnach der Gerichtskampf zwischen dem Antichrist und Elias mit seinem endgültigen Ergebnis - die Aussage der uueroltrehtuuison - als Rahmen zu nehmen für die Erwähnung einer differenzierenden Überlieferung bezüglich der Entstehung des Weltbrandes - die Aussage der gotman. Die beiden Darstellungen des Endkampfes wären also nicht gegensätzlich zu verstehen, sondern sie könnten sich so verhalten wie die Skizze einer allgemeinen Situation zur detaillierten Ausarbeitung eines Einzelaspektes. Dann erschiene auch vilo, an dem 178

man meinte zweifeln zu müssen, weil es einem grundsätzlichen Kontrast zwischen den Ansichten der 'Rechtskundigen' und der 'Gottesmänner' widerspricht, wieder als eine akzeptable Konjektur. Könnte man überdies bei der Interpretation von uueroltrehtuuison von rehtwisic ausgehen, dann dürfte man wohl uuerolt als weniger gewichtig in die Vorsenkung verweisen. Jedenfalls wäre für rehtuuison eine Bedeutung zu fordern, die den Begriff nicht auf 'Rechtskundige' festlegt oder einengt: es ist möglicherweise an Leute zu denken, die in sehr viel weiterem Sinne über die Gesetzlichkeit dieser Welt und insbesondere ihres Endes Bescheid wissen. Was die gesamte Anlage des Abschnitts II betrifft, so hätte der Einschub IIb unter dem skizzierten Aspekt seinen guten Sinn: Christus hat zum Gericht gerufen, und nun wird nachgetragen, daß in diesem Augenblick das Widergöttliche schon entmachtet ist. Zugleich ist durch das Blut des Elias die Welt in Flammen aufgegangen, die irdischen Möglichkeiten, das Recht zu beugen, sind zerstört. Man hat sich dem Urteil Christi vorbehaltlos und offen zu stellen. Wenn sich aber eine solche Interpretationslinie vom Ende des Abschnitts II aus auch nahelegt, so wird man doch anderseits nicht übersehen können, daß sich ihr im einzelnen nicht alles mühelos fügt. Die Auseinandersetzung zwischen Elias und dem Antichrist ist offensichtlich als Gerichtskampf stilisiert, doch in diesen Vorstellungszusammenhang lassen sich Verwundung und Tod des Elias nicht ohne weiteres einbeziehen. Die Entstehung des Weltbrandes aus dem Blut des Elias scheint einen Komplex für sich darzustellen. Es fragt sich, ob hier nur ungeschickt geklittert worden ist oder ob tatsächlich eine pointierte Gegenüberstellung intendiert war. Es ist nicht auszuschließen, daß auf irgendeiner Überarbeitungsstufe ein Gegensatz anvisiert worden ist, vielleicht verdanken wir ihr sogar die Einfügung von uuerolt in Vers 37. Besonders sinnvoll ist der Gegensatz der Meinungen nicht: wenn man ihn interpretatorisch ausformulieren will, muß man den Text zwingen. Man kann ihn ja nicht so verstehen, als ob die Kundigen weltlichen Rechts eine eigene Version des Elias-Antichrist-Kampfes propagiert hätten - es sei denn, man wollte auf die überholte These germanisch-mythologischer Hintergründe zurückgreifen -, sondern man kann bestenfalls sagen: nach den gängigen Vorstellungen der Rechtskundigen von einem Gottesgericht hätte eigentlich Elias der Sieg zufallen müssen, die 'Gottesmänner' wissen es aber besser. Doch der Text bietet keine derart relativierende Formulierung, sondern er stellt beides, Sieg und Verwundung des Elias, nebeneinander und entwickelt aus letzterer den Weltuntergang.53 Was sich widersprüchlich gibt, sind deshalb, von der überkommenen Redaktion aus gesehen, doch wohl am ehesten Schlacken des Klitterungsprozesses. Der III. Teil, vv. 73-103, setzt nochmals mit dem Endgericht ein. Dabei ist die Zielthematik des I. wie des II. Teils überhöhend einbezogen: Vor der Allmacht Gottes enthüllt sich von selbst, was der Mensch an Untaten begangen hat. Am Ende aber erscheint das Kreuz; Christus weist auf das, was er aus Liebe für die Menschen zu 53

KOLB 1964 hat diese Schwierigkeiten klar gesehen und trotzdem auf einen Gegensatz hin interpretiert. Er spricht, S. 11, von einer „fiktive(n) Vorstellung", und er schließt, S. 12: „gemeint ist doch wohl eigentlich: die Weltrechtweisen könnten oder müßten (nach den Voraussetzungen ihres Denkens) so reden". Es handle sich um ein „konstruiertes Beispiel", für das der „Eigenart des lehrhaften Vortragsstils" (ebd.) entsprechend eine „objektive Form" (S. 13) gewählt worden sei. Ebenso: KOLB 1971, S. 296ff. So deutlich hier das Problem erkannt ist, so forciert erscheint der Ausweg. 179

leiden bereit war. Das ist Hoffnung auf Rettung für jene, die Buße getan haben, und es bedeutet zugleich Verdammnis für diejenigen, die an der Möglichkeit der Gnade vorbeigegangen sind. Der III. Teil ist so angelegt, daß das Thema der Gnadenlosigkeit gerade angesichts der Erlösungstat Christi in letzter Radikalität zum Ausdruck kommt. III

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99a 100

So (daz hi)milisc hörn kilutit uuirdit, enti sih der ana (den) sind arheuit, der dar (s)uannan scal toten enti lepen(ten), Denne heuit sih mit imo herio meista, daz ist allaz so pa(ld), daz imo nioman kip[a]gan ni mak. Denne uerit er (ze d)er(u) mahalsteti, dem dar kimarchot ist: dar uuirdit di(u suo)na, dia man dar hio sageta. Denne uu[a]rant engila uper (dio) marha, uuechant deota, uuissant ze dinge. denne (scal) mano gilih fona dem moltu arsten, lossan sih ar dem le(uuo) uazzon: (sca)l imo hauar sin lip piqueman, daz er sin re(ht) allaz kirahhon muozzi, enti imo after sinen tatin art(eilit) uerde. Denne der gisizzit, der dar suonnan sca(l) enti arteillan scal toten enti quekkhen. Denne stet dar umpi engilo menigi, guotero gomono: gart ist so m(ihhil): dara qu[i]mit ze dem rihtungu so uilo dia dar ar (resti ar)stent, so dar manno nohhein uiht pimidan ni mak: (dar sca)l denne hant sprehhan, houpit sagen, aller(o) (Udo) uuelihc unzi in den luzigun uifnjger, uaz er untar desen mannun mordes kifrumita. Dar ni isftj heo so list(ic) man der dar hiouuiht arliugan megi, daz er kit(arnan) megi tato dehheina, niz al fora demo khunin(ge) (kichundit) uuerde, Uzzan er iz mit alamusanu fur(imegi)i4 enti mit fastun dio uufijrina kipuazti. Denne (der paldet) der gipuazzit [hjapet, Denner ze der(u suonu quimit).55 uuirdit denne furi kitragan daz frono (chmci), dar de(r h)eligo Christ ana arhangan uua(rd). denne augit (er) dio masun, dio er in dem m(enniski) anfienc, dio er dumh desse mancunnes min(na). . . Wenn das himmlische Hörn laut erschallt und sich der auf den Weg begibt, der da richten wird Tote und Lebende,

54 55

STEINMEYER 1963, S. 72, ergänzt: furiuiegi; üblicher ist inzwischen furimegi. STEINMEYER 1963, S. 72, nimmt 99a nicht in seinen Text auf.

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75 dann erhebt sich mit ihm das mächtigste Heer. Es ist so gewaltig, daß keiner ihm trotzen kann. Dann fährt er zur Gerichtsstatt, die dort abgesteckt ist. Dort fällt die Entscheidung, wie es einst ward verkündet. Dann gehen die Engel über das Land 80 und wecken die Völker und weisen zur Richtstatt. Dann werden die Menschen aus dem Staube erstehen, sich aus der Gräber Last lösen und ein neues Leben erhalten, damit jeder sein Tun nach dem Recht vertrete und ihn nach seinen Taten das Urteil treffe. 85 Und es wird da sitzen, der den Richtspruch fällt und sein Urteil spricht über Tote und Lebende. Und es wird um ihn sein die Menge der Engel und der seligen Menschen; der Kreis ist gewaltig. Da kommen zum Gericht die Scharen derer, die vom Tode erstehn, 90 und keiner kann das Geringste verschweigen: Die Hand wird sprechen, und das Haupt wird sagen und jedes der Glieder bis zum kleinsten Finger, was er unter Menschen an Mordtat56 getan hat. Da ist keiner so klug, auch nur im Kleinsten lügen zu können 95 und heimlich zu halten eine einzige Tat, daß sie nicht vor dem König offenbar würde, es sei denn, er hätte sie mit Almosen gesühnt oder mit Fasten die Frevel gebüßt. Doch sei der guten Mutes, der Buße getan hat, 99a wenn er vor diesem Gericht erscheint. 100 Dann wird vorgetragen das Kreuz unsres Herrn, an dem gehangen hat der heilige Christ. Dann zeigt er die Male, die er als Mensch empfing, die er aus Liebe zu den Menschen [erlitt]... In diesem Textabschnitt scheidet Minis nur wenige Zeilen aus: 74b - was voraussetzt, daß man 74a zu einer vollen Langzeile ergänzt - sowie die Verse 97 und 98, die schon Schneider als 'Predigergeschwätz' eliminiert hatte. Interpolationsverdächtig scheinen Minis auch die Verse 95/96.57 97 ist eine Prosazeile, was eine Streichung nahelegt.«yon der Thematik her sollte man hingegen nicht vorschnell urteilen, denn Sühne durch Almosen und Fasten braucht keineswegs von einer oberflächlichen religiösen Haltung zu zeugen. Von der Möglichkeit der Buße ist auch in 99 die Rede. Das knüpft thematisch gut an 97/98 an. Der Text ist freilich gerade in dieser Passage ziemlich verderbt der paldet ist mehr vermutet als wirklich gelesen worden -, so daß eine klare Entscheidung kaum möglich sein dürfte. Im übrigen enthält Teil III weitere Zeilen, die verstechnisch problematisch sind, die Minis aber passieren läßt: vor allem vv. 78, 79, 87, 94. 'Es ist auffällig, daß hier der Mord in dieser Weise herausgestellt wird; einen Erklärungsversuch macht SINGER, J. 1976. ' MINIS 1966, S. 92 bzw. 95f.; vgl. SCHNEIDER 1936/1962, S. 190.

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Die Überprüfung der metrisch-stilistischen Analyse von Minis ergibt somit folgendes: 1. Es sind im überlieferten >MuspilliMuspilliMuspilli< besteht somit nicht darin, daß ein Bearbeiter eine kunstvolle Vorlage predigerhaft verwässert hätte, wobei diesen Eingriffen textkritisch nachzuspüren wäre, sondern es besteht in der Erkenntnis, daß dieses Gedicht einem spezifischen literarischen Typus zugehört, dessen Überlieferungsform als interpolierende Umgestaltung zu kennzeichnen ist. Im einzelnen sind die Interpolationen, wie nicht anders zu erwarten, von unterschiedlicher Qualität; nur das Stümperhafte können wir sicher greifen. Damit ist aber nichts gewonnen, im Gegenteil, es besteht die Gefahr, daß man im Bemühen, zu reinigen und zu korrigieren, den literarhistorischen Typus verfehlt. Im Mittelteil des >Muspilli< sind die interpolierenden Eingriffe am offenkundigsten. Die Thematik spitzt sich hier in ganz bestimmter Weise zu. Man wird deshalb hier das spezifische Aktualitätsmoment des auf uns gekommenen Überarbeitungsstadiums vermuten dürfen. Hier findet sich im Zusammenspiel von irdischer Gerechtigkeit, irdischem Gericht und Gottesgericht eine eigentümliche Akzentuierung, die in der Generalthematik zwar angelegt ist, aber doch nur eine unter mehreren möglichen Perspektivierungen darstellt. Wenn es einen konkreten historischen Anlaß für unsere Fassung gegeben hat, über diese Thematik wäre er zu suchen. Das ist keine Aufforderung zu einem zweifellos vergeblichen Unterfangen; es geht allein um die prinzipielle Fest183

Stellung, daß der beschriebene Typus über seine Interpolierbarkeit der Aktualisierung offensteht und zuneigt. Zusammenfassend ist also zu sagen: Es ergeben sich vom >Muspilli< aus eine Vielzahl möglicher thematischer und formaler literarhistorischer Zusammenhänge; doch sie sind nicht konkret zu fixieren, sondern sie bleiben Hypothesen von zweifelhafter Verbindlichkeit. Es versagt dadurch die Einordnung des Werkes in ein entwicklungsgeschichtliches Modell. Zugleich scheitert auch der Versuch, das Gedicht im Blick auf eine individuelle künstlerische Konzeption immanent-ästhetisch zu fassen. Ein Original, eine ursprüngliche Form und Intention sind nicht greifbar. Anstelle einer festen Individualität zeigt sich eine Textkonstellation von einer gewissen Zufälligkeit. Gerade im Scheitern der gewohnten interpretatorischen Ansätze aber erschließt sich der Zugang zum besonderen Charakter des Textes und der ihm korrespondierenden literarhistorischen Situation. Nochmals in Stichworten: Verfügbarkeit über einen thematischen Komplex, Brechung und Montage, Interpolierbarkeit im Blick auf sich wandelnde Möglichkeiten der Aktualisierung. Damit sind anhand eines einzelnen Werkes, d. h. eines bestimmten thematischen Komplexes in einer ungefähr umgrenzbaren historischen Situation, Kriterien der Analyse und Darstellung gewonnen, die auf ihre Gültigkeit unter einem breiteren Blickwinkel zu überprüfen wären. Es ist zu fragen, ob literarische Interpretation nicht prinzipiell einen Zielpunkt jenseits von Entwicklungsmodell und Individualität anzusteuern hätte. Man wird die Frage dann bejahen müssen, wenn man davon ausgeht, daß ein Einzelwerk nicht nur als individuelle Variante in einer Tradition steht, sondern eine Position und Funktion in einem synchronen literarischen Horizont besitzt. Für den Zugang zu diesem synchronen Zusammenhang kann die >MuspilliMuspilli< unter diesem Blickwinkel ins Grundsätzliche zu transponieren. Literarische Tradition läßt sich als Bündel von literarischen Konstanten fassen und beschreiben. Literaturgeschichte ist damit immer insoweit Geschichte, als sie es mit solchen Konstanten zu tun hat. Auch literarischer Wandel ist nur faßbar als Veränderung auf der Basis von etwas, was sich gleich bleibt. Der literarische Horizont zu einem bestimmten Zeitpunkt versteht sich als Schnitt durch ein Konstantenbündel, oder anders ausgedrückt: der literarische Horizont ist traditionsbezogen, er bedeutet Verfügbarkeit über eine bestimmte Gruppierung von Überlieferungen. Verfügbarkeit setzt aber Ablösung aus der Individualität des Ursprungs, Einordnung in Traditionsformen, Zuordnung zu einzelnen Typen voraus. Und eine solche Ordnung zwingt immer zu einer gewissen Nivellierung, sie zwingt zur Rezeption des Individuellen im Rahmen eines harmonisierenden Feldes, das sich als literarischer Kanon von Typen, Themen, Strukturen, inhaltlich-formalen Korrespondenzen usw. versteht. Verfügbarkeit impliziert aber zugleich auch die Möglichkeit der Brechung, d. h., es öffnet sich die Chance, die Verfügbarkeit thematisch werden zu lassen, das Ungenügen der typisierenden Einordnung und des Verkürzens zur Erscheinung zu bringen. In dem Maße, in dem es zur Traditionsbildung kommt, in dem Maße zeigen sich also gegenläufige Tendenzen, Tendenzen, in der Nivellierung des Horizontes Dissonanzen aufscheinen zu lassen. Jeder Kanon ist potentiell dissonant, und zwar dadurch, daß er der sich wandelnden Situation zunehmend weniger gerecht wird. Der harmonisierende Kanon der literaturgeschichtlichen Überlieferung zeigt sich von seiner ahistorischen Rückseite als dissonante Montage. 184

Einzelwerke, die in dieser Situation entstehen, fügen sich entweder den Erwartungen des Horizontes, oder sie werden in die Erwartungen rezeptiv eingepaßt, oder sie bringen eine Variation der Konstellation zustande. Dabei können die potentiellen Dissonanzen des Horizontes mehr oder weniger bewußt ausgenützt werden. Durch die Dissonanz wird der Bezug zur Aktualität der Situation wiederhergestellt, der durch den Aufbau des Horizontes verlorengegangen ist, d. h., in der Dissonanz tritt das Ungenügen der Tradition gegenüber der veränderten historischen Stunde unmittelbar zutage. Denn jenes Moment, in dem die eigentliche Individualität von Literatur besteht, der aktuelle historische Bezug, ist nicht tradierbar; die Verkürzung um die Dimension der Aktualität ist der Preis, den die Literatur an die Geschichte bezahlt. Will sie sich nicht zunehmend weiter entleeren, so muß sie diese Dimension immer wieder neu herstellen, d. h. die Tradition durchbrechen. Es handelt sich hierbei übrigens um eine Problematik, die sich in ihrer ganzen Radikalität erst beim schriftlich fixierten Text ergibt. Mündliche Dichtung ist aufgrund der Möglichkeit zur Improvisation in sehr viel höherem Maße und sehr viel selbstverständlicher aktualisierbar. Es gibt also ein literarhistorisches Verständnis nur insofern, als man sich auf Traditionen einläßt. Zugleich verfehlt man ihre Geschichtlichkeit, wenn man auf ihre lineare Kontinuität fixiert bleibt. In jedem Punkt der Geschichte erscheint die literarische Tradition als ein Bündel von Konstanten, das zum einen als Überlieferungsbesitz rezipiert und weitergegeben werden kann, das aber anderseits als synchrone Konstellation offen und damit potentiell dissonant ist. In diese Dissonanz kann die Aktualität der Stunde einschießen und dialektisch in ihr ihren Ausdruck finden. Es ist von grundlegender Bedeutung, diesen unauflösbaren Widerspruch zwischen geschichtlicher Kontinuität und Diskontinuität zu sehen und ihm bei der literaturgeschichtlichen Darstellung Rechnung zu tragen. Am relativ leichtesten ist die Aufgabe dort, wo die Möglichkeit zur Traditionsbrechung in markanter Weise objektiv ergriffen worden ist, wo Traditionen umbrechen oder abbrechen.58 Doch sollte man sich dabei nicht darüber hinwegtäuschen, daß solche Extremsituationen nur etwas Grundsätzliches im geschichtlichen Verlauf einseitig verdeutlichen. Eine Geschichte der althochdeutschen Literatur müßte das >Muspilli< in Übereinstimmung mit diesem theoretischen Entwurf in seine Literatursituation hineinzustellen bzw. diese von ihm her aufzurollen versuchen, und d. h., es ginge darum, sich zu bemühen, die an ihm aufgewiesenen technischen, strukturellen und thematischen Eigentümlichkeiten im Zusammenhang von Stand und Funktion der deutschsprachigen Literatur im späteren 9. Jahrhundert zu verstehen.

5. Stabreimvers und Endreimvers Der Überarbeitungsprozeß, der im überlieferten >MuspilliMuspilliRuodlieb< und ihr Verhältnis zueinander lassen den Schluß zu, daß der Clm 19486 aller Wahrscheinlichkeit nach ursprünglich aus neun Lagen (A-I) von unterschiedlichem Umfang bestanden hat. Es ergibt sich folgendes Bild27: LAGE A, ein Binio, ist vollständig erhalten. Wenn man von zwei verlorenen Zeilen (fol. 4 oben) absieht, bietet Frgm. I mit der Erzählung von Ruodliebs Auszug und seiner Ankunft am Hofe des Großen Königs einen kontinuierlichen Text von fol. 2r bis fol. 4V. Von LAGE B sind nur der schmale Pergamentstreifen fol. 35/36 und das Dachauer Doppelblatt auf uns gekommen. In Frgm. I A, fol. 35, und Frgm. II, fol. 4a, wird geschildert, wie Ruodlieb auf Vogel- und Fischfang geht, und es wird auf fol. 35* zuvor noch dargestellt gewesen sein, wie er in den Dienst des Großen Königs aufgenommen wird. Frgm. III, fol. 4b, zeigt Ruodlieb als siegreichen Feldherrn, fol. 36r, wie er dem König Bericht erstattet. Es fehlt davor der Auszug des Heeres und die Schlacht. Es ist also ein Ternio anzunehmen, dessen inneres Doppelblatt verloren ist. LAGE C enthält Frgm. IV mit Ruodliebs Friedensmission beim Kleinen König, (fol. 5-8, angesetzt schon fol. 36). Zwischen der Schilderung dieser Mission und der Königsbegegnung in der Lage D des Fragments V besteht eine Lücke. Diese Lücke kann nicht durch die Annahme erklärt werden, daß der Lage D ein äußeres Doppel26

SEILER, F. 1882, S. 15ff.; Laistner, Rez. SEILER, F. 1882, AfdA 9 (1883), S. 70-79. Zu Seilers Reaktion auf Laistners Kritik vgl. Anm. 16. 27 Dazu die Tabelle S. 234f.

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blatt fehle, da der Text der Lage D unmittelbar in den Text der Lage E übergeht. Somit ist die Lage C als ein Ternio anzusetzen, dessen äußeres Doppelblatt verloren gegangen ist. LAGE D ist vollständig erhalten. Es handelt sich um einen Binio. Zusammen mit der ebenfalls vollständigen LAGE E, einem Ternio, bildet sie das Fragment V mit der Königsbegegnung, dem Brief aus der Heimat, der Belohnung durch den Großen König, dem Beginn der Heimreise und der Begegnung mit dem Rotkopf. Auf die LAGE F fallen die Fragmente VI, VII und VIII. Das Frgm. VI auf fol. 19 schließt nicht unmittelbar an Frgm. V, fol. 18, der Lage D an. In Frgm. V wird noch erzählt, wie der Rotkopf durch die Saaten reitet. In Frgm. VI ist von seiner Reaktion auf die Strafe die Rede, die ihm offenbar dafür zuteil geworden ist. Es fehlt somit das äußere Doppelblatt der Lage F. Frgm. VI bringt dann im weiteren Ruodliebs und des Rotkopfs Herbergssuche und die Geschichte von der Alten Frau und dem Jungen Mann, fol. 19 und 20. Dann folgt wieder eine Lücke, denn Frgm. VII berichtet davon, daß Ruodlieb bei diesem Paar zu Gast ist. Darauf wird übergewechselt zum Rotkopf, der bei dem Alten Mann mit der Jungen Frau einkehrt. Frgm. VII umfaßt das Doppelblatt 21 und 22, das damit das innere Blatt eines Quinio darstellt. Die Lücke zwischen Frgm. VII und VIII, in der die Ermordung des Alten Mannes, und die Lücke nach Frgm. VIII, in der das Gericht über den Rotkopf gestanden hat, bestätigen, daß von der Lage F das erste und das vierte Doppelblatt verloren sind. Besondere Schwierigkeiten hat stets die Rekonstruktion der LAGE G gemacht. Vom Doppelblatt 28/27 ist nur ein schmaler Streifen erhalten. Auch fol. 29 und 26 sind durch Beschnitt verstümmelt. All dies wiegt um so schwerer, als die Lage G - abgesehen von fol. 30 der Lage H - offenbar als einzige am rechten Rand der Blätter noch quergeschriebene Verse enthält. Man wird von folgenden Gegebenheiten ausgehen müssen: Der Textrest, den fol. 28v bietet, findet anscheinend ohne Lücke auf fol. 29r seine Fortsetzung (Fischfang mit buglossa). Wenn man aber damit von fol. 28r bis 29v einen Textzusammenhang vor sich hat (Frgm. IX/X: Gespräch Ruodlieb - Neffe, Ankunft auf dem Schloß, Fischfang, Mahlzeit, Intermezzo mit dem Hund und dem Dieb), dann muß entsprechend ein Zusammenhang für fol. 26-27 angesetzt werden. Dieser Zusammenhang ist freilich über die Beschnitt-Lücken hinweg nur mit Mühe herzustellen. Auf fol. 26r fehlt der quergeschriebene Text am rechten Rand. Das bedeutet, daß das Frgm. XII nach Vers 32 eine Lücke aufweist. Zwischen Frgm. XII und XIII fehlen die über dem erhaltenen Streifen, fol. 27r, weggeschnittenen Verse, nach diesem Streifen dann wohl wieder die quergeschriebenen Verse am rechten Rand. Von den Versresten auf fol. 27v fallen die Zeilen 39-56 auf den quergeschriebenen Text, die übrigen auf die neun unteren Zeilen der Seite. Es sind also davor wohl etwa zwei Dutzend Verse verloren. Das zweite Blatt von St. Florian kann diese Lücke mit den Versen 10-30 fast völlig decken. Über den Text von fol. 27v, d. h. über XIII, 56 hinaus, bietet das Blatt von St. Florian noch 25 Verszeilen, also fast ein ganzes Blatt. Das bedeutet, daß dem Münchener Codex nach fol. 27 ein Blatt fehlt. Ferner muß in Lage G der Text des ersten Blattes von St. Florian (Besuch der Voliere, Harfenspiel und Tanz) untergebracht werden. Da unzweifelhaft festliegt, daß fol. 27 an fol. 26 und fol. 29 an fol. 28 anschließen, ergeben sich aus dem Gesagten für den Aufbau der Lage G zwei Möglichkeiten. Erstens: es folgen auf die Fragmente IX und X (Einkehr auf dem Schloß) die Fragmente 215

XII (Gespräch mit der Schloßherrin über die Patenschaft, Ruodliebs Heimkehr) und XIII (Empfangsmahl zu Hause). Das erste Blatt von St. Florian könnte dann wohl nur in eine Lücke zwischen fol. 29 und 26 fallen. Es ergäbe sich ein Quaternio: x 5 -28-29-x 6 -x 6a -26-27-x 5a . Zweitens: die Fragmente XII (Gespräch zwischen Ruodlieb und der Schloßherrin über die Patenschaft von Ruodliebs Mutter, Ruodliebs Heimkehr) und XIII (das Empfangsmahl zu Hause) gehen voran. Die Fragmente IX und X mit der Einkehr im Schloß folgen. In die dazwischen liegende Lücke müßte dann ein neuer Aufbruch Ruodliebs und des Neffen fallen. Das erste Blatt von St. Florian ließe sich vor fol. 26 stellen. Es ergäbe sich wiederum ein Quaternio: x 6 -26-27-x 5a -x 5 -28-29-x 6a . Die zweite Lösung mit dem zweimaligen Besuch auf dem Schloß ist umständlicher. Aber sie hat für sich, daß der Ring des Schloßfräuleins, den der Neffe sich in Frgm. X an den Finger steckt, derselbe Ring sein kann, den er ihr nach Frgm. XI (x6, 1. Bl. von St. Florian) abgewonnen hat. Die erste Lösung ist insgesamt einfacher und eingängiger. Sie kommt mit e i n e m Besuch auf dem Schloß aus; sie muß aber die Frage offen lassen, auf welche Weise der Neffe schon in Frgm. X einen Ring des Schloßfräuleins erworben haben kann. Seit Laistner zieht man die erste Lösung vor. LAGE H bringt zunächst mit Frgm. XIV auf fol. 30 die Hochzeit des Neffen. Die Vorbereitung dazu kann auf dem letzten Blatt der Lage G geschildert worden sein. Die Klage der Mutter über das Alter, Frgm. XV, dürfte sich schwerlich übergangslos angeschlossen haben. Es wird also wohl ein Doppelblatt ausgefallen sein. Was hier inhaltlich verloren gegangen ist, läßt sich freilich vom Kontext her nicht zurückgewinnen. Lage H war ein Binio. Die Rekonstruktion der LAGE I hat davon auszugehen, daß fol. 34 das letzte Blatt darstellt: das Epos bricht auf der Recto-Seite mit Frgm. XVIII ab. Das erste Blatt der Lage ist somit fol. 31 mit Frgm. XVI. Es enthält die Heiratsmahnung der Mutter und die Beratung der Freunde und Verwandten über eine für Ruodlieb passende Braut. Es muß demnach die Mahnung der Mutter unmittelbar an die Klage von Frgm. XV der Lage H anschließen, es sei denn, man wollte Lage H nicht als Binio, sondern als Ternio mit einem verlorenen Außenblatt ansehen, was freilich eine unnötig große Lücke (mehr als drei Seiten) zwischen Ruodliebs Heimkehr (Frgm. XIII) und der Heirat des Neffen (Frgm. XIV) voraussetzen würde. Das Ende der mißglückten Brautwerbung ist in Frgm. XVII geschildert. In der Lücke zwischen Frgm. XVI und XVII muß erzählt worden sein, wie Ruodlieb vom fragwürdigen Lebenswandel seiner Braut Kenntnis erhält. Die zweite Lücke, die das ausgefallene Doppelblatt verursacht, erscheint folgerichtig zwischen Frgm. XVII und XVIII, zwischen den prophetischen Träumen der Mutter und Ruodliebs Begegnung mit dem Zwerg. Wir haben in Lage I also einen Ternio vor uns, dessen mittleres Blatt verloren ist. Die Analyse ergibt somit, daß der Clm 19486, was den >RuodliebRuodlieb< die natürliche Klugheit im Rahmen einer höheren Weisheit ihren Platz behalten darf, löst sich der scheinbare Widerspruch zwischen der göttlichen Planung, derzufolge Ruodlieb die Königsherrschaft durch die Heirat mit einer Prinzessin erreichen soll, und der Episode mit dem Zwerg, in der Ruodlieb offenbar sein Schicksal mit allen Künsten und Listen, die ihm zur Verfügung stehen, in die eigenen Hände nimmt. Gerade weil Ruodlieb sich unter den göttlichen Willen stellt, darf er seine Künste spielen lassen und dabei sogar versuchen, die Zukunft in den Griff zu bekommen. In der Perspektive der Künste und ihrer Funktion ist es dann auch zu verstehen, daß im >Ruodlieb< kunstgewerbliche Gegenstände auf der einen und gezähmte und dressierte Tiere auf der andern Seite eine so auffällige Rolle spielen. Das besondere Vergnügen an der Beschreibung kunstvoll gebildeter Gegenstände von der Schale mit den Paradiesflüssen im Hause des Jungen Mannes mit der Alten Frau bis zum Backwerk auf dem Tisch der Schloßherrin, von Ruodliebs Hörn aus einer Greifenklaue bis zu den wunderbaren Schmuckstücken im Brot geht über das hinaus, was von einer Übung in traditioneller rhetorischer Descriptio zu erwarten steht. Es zeigt sich darin eine besondere Neigung zu einer kunstvoll verwandelten Welt. In die gleiche Richtung weisen die gezähmten Tiere, die das ganze Werk durchziehen. Max Wehrli hat von einem Tierfries gesprochen.44 Auf einer untersten Stufe kann man die mit List oder Gewalt bezwungenen Tiere ansetzen, so die gefangenen Vögel und die Fische, die, durch buglossa am Tauchen gehindert, mit dem Stock an Land getrieben werden, auf der obersten Stufe Ruodliebs Hund, der durch eine erstaunliche Dressur die Nähe menschlicher Intelligenz erreicht. Bezeichnend ist es, daß der Große König von seinem Gegner als Geschenk nur gezähmte Tiere - zwei Tanzbären, eine Elster und einen Staren - für seine Tochter anzunehmen bereit ist. Zahme Vögel erscheinen auch auf dem Schloß; sie werden als besondere Attraktion den Gästen vorgeführt; die sprechende Dohle der Mutter schließlich spielt ihre köstliche Rolle bei Ruodliebs Heimkehr. Ein verhältnismäßig breiter Exkurs ist im Zusammenhang der Huldigungsgaben des Kleinen Königs der Gewinnung des Luchssteins gewidmet. In dieser Prozedur sind sozusagen beide Schichten vereinigt: Kunstgegenstand und beherrschte Tierwelt. Der ligurius ist ein kostbar-künstlicher Stein, zu dessen Herstellung ein Tier, der Luchs, durch eine kunstreiche Vorrichtung gezwungen wird. Man wird in dieser Beschreibung vielleicht doch etwas mehr als nur eine Abschweifung des Dichters sehen dürfen; sie Vgl. MANNHARDT 1905, S. 117f., WEHRLI 1964, S. 251. 228

137f., 141 f.;

VON DER LEYEN

1910, S. 185ff.

könnte an zentraler Stelle auf die thematische Bedeutung dieser Doppelsphäre hinweisen. Daß ungezähmte Tiere unter negativen Vorzeichen erscheinen, fügt sich, auch wenn man sich dabei in traditionellen Vorstellungen bewegt, in das allgemeine Bild. So symbolisieren die Wildschweine im Traum der Mutter Ruodliebs Feinde. Heriburg auf der andern Seite erscheint im Traum als zahme Taube, die sich dem Helden in die Hände setzt, ihn krönt und küßt. Die Traumsymbolik spannt damit den Tier-Bereich noch weiter bis zu seinen äußersten Möglichkeiten aus, vom ungezähmten Tier, das das Böse verkörpert, bis zum Tier, das zunächst zwar die königliche Braut meint, zugleich aber wohl - auch hier an die Tradition sich anlehnend - mit dem Bild der göttlichen Gnade zusammenfällt. Im Bereich der Gegenstände wie bei den bezwungenen oder gezähmten Tieren geht es also um eine Verwandlung der Natur. Die Natürlichkeit von Dingen und Lebewesen wird überspielt, ihre eigenen Gesetze werden durch Zwang, List oder Kunst gebrochen. Wo immer das in auffälliger Weise gelingt, ist die Reaktion ein Lachen, das aus der Befreiung vom Zwang dieser Gesetze resultiert und das seine besondere Nuance aus der Überraschung und dem Vergnügen empfängt, die der kunstreiche Trick hervorruft. So ist das vergnügte Lachen die typische Reaktion auf Ruodliebs Fischfang mit buglossa; man lacht und staunt auch über den dressierten Hund. Und diese Reaktion findet sich wieder im Zusammenhang der höchsten Stufe der Naturbeherrschung, der Beherrschung der Natur des Menschen. Ruodlieb quittiert den Zorn des Rotkopfs mit einem wissenden Lächeln. Und wenn die listigkühne Klugheit des Schloßfräuleins den Neffen dahin bringt, aller Treulosigkeit abzusagen, so reagieren die Verwandten mit einem ebenso verblüfften wie anerkennenden Lachen. Auch hier geht es um überlistete Unbeherrschtheit; die Kunstmittel sind die rechtlich-gesetzlichen Handhaben verbunden mit Geschick. Von dieser charakteristischen Haltung der Natur und dem Natürlichen gegenüber muß sich die Frage nach dem immer wieder hervorgehobenen Realismus des >Ruodlieb< neu stellen. Es ist gewiß richtig zu sagen, daß die fiktive Handlung durch eine lebendig zur Anschauung gebrachte Alltagswirklichkeit hindurchgeführt werde. Diese realistische Sphäre hat nicht nur um ihrer poetischen Qualitäten willen stets zu fesseln vermocht, sondern sie konnte zu Recht auch kulturhistorisches Interesse beanspruchen. Schon Seiler hat unter diesem Aspekt angesetzt,45 und die Versuchung, die Interpretation des >Ruodlieb< geradezu in kulturgeschichtliche Exkurse aufzulösen, war um so größer, je weniger man das Werk literarhistorisch einzuordnen wußte. Vieles mußte zu sachlicher Einzeluntersuchung herausfordern: das Schachspiel - einer der ältesten Belege, die wir aus dem Mittelalter kennen -, die eherechtliche Situation, die besonderen kunstgewerblichen Techniken, Goldschmiedekunst und Emailarbeiten oder auch die Tierdressuren, in denen man Praktiken des aus antiken Traditionen weitergeführten Mimus widergespiegelt sah.46 So wertvoll alle diese Beobachtungen in kulturgeschichtlicher Hinsicht aber auch sein mögen, es bleibt die für die Interpretation des Werkes entscheidende Frage nach der Art der Realistik und ihrer Funktion im Gesamtzusammenhang. Man wird zunächst negativ feststellen, daß die Natur als Land45

46

SEILER, F. 1881; vgl. SEILER, F. 1882, c. IV, S. 81 ff.

Einen vorzüglichen Überblick auch über diese kulturhistorisch bedeutsamen Motive bietet GAMER 1955/1969.

229

schaft völlig ausfällt. Die Szenerie ist auf die notwendigsten Versatzstücke reduziert: Gartenzaun, Zelt, Zinne, Treppe usw. Und auch dabei handelt es sich in der Regel um von Menschenhand geschaffene szenische Elemente. Die Wirklichkeit des >Ruodlieb< ist so gut wie völlig auf die Kulturwelt eingeschränkt. Man wendet sich nur insofern der Natur zu, als sie vom Menschen geformt erscheint. Wo diese Formung fehlt oder wo sie versagt, tritt die Natur unter negative Vorzeichen. Die nicht von Kunst beherrschte oder von Weisheit geprägte Welt ist häßlich: der Alte Mann als der Betrogene; das Alter in der Perspektive der irdischen Sorge; das Bild, das die Buhlerin in Entsprechung zu ihrer Verfallenheit an die unbeherrschte Natur als Strafe für sich entwirft. Man verfehlt somit das Wesentliche, wenn man der lebendig-anschaulichen und detailfreudigen Schilderung von Gegenständen im >Ruodlieb< undifferenziert eine realistische Wirklichkeitsbetrachtung unterstellt. Der Realismus besitzt eine höchst spezifische Ausrichtung, und er erfüllt eine ganz bestimme Funktion. Es soll nicht Wirklichkeit schlechthin, sondern eine durch die Künste, durch den Geist des Menschen gestaltete Welt vermittelt werden, und diese Gestaltung ist eine Verwandlung in aufsteigender Linie: das Tote nimmt die Form des Lebendigen an - Kunstgegenstände bilden Tiere nach, so die Schlangenarmreife und die Adlerfibel des Königsschatzes -; die Tiere erhalten durch Zähmung und Dressur menschliche Züge: das Pferd freut sich darüber, Ruodlieb tragen zu dürfen, sein Hund zeigt menschliche oder gar übermenschliche Fähigkeiten. Aus denselben Gründen wird auch der Verweis auf die Tradition der rhetorischen Descriptio der Darstellung von Kunstgegenständen im >Ruodlieb< nicht gerecht. Die Beschreibungen mögen noch so sehr als stilkünstlerische Einlagen erscheinen, eine übergreifende Perspektive bezieht sie in eine sehr bewußt durchgeführte Gesamtkonzeption ein. Die Welt des >Ruodlieb< ist keine Welt, die in ihrer Eigentlichkeit positiv erfahren würde, ja die in dieser Eigentlichkeit gar bezaubernd und faszinierend auf den Menschen zu wirken vermöchte. Die Wirklichkeit, die ihrem eigenen Gesetz folgt, erscheint als unbeherrschte Natur, sie ist verderblich und böse. Es wirkt hier noch nicht jenes neue Weltverständnis, wie es etwa der mittelhochdeutsche Alexanderroman einige Jahrzehnte später zum Ausdruck bringen wird; es handelt sich nicht um eine Welt, die an sich als Fülle des Geschaffenen unter der Kategorie des Wunderbaren und Erstaunlichen erlebt würde - erstaunlich ist im >Ruodlieb< immer nur das, was der Geist der Natur abzuringen imstande war. Es fehlt grundsätzlich eine dem Subjekt gegenüber autonome Wirklichkeit, mit der man als mit etwas wesensmäßig Andersartigem zu rechnen hätte, mit der man sich kämpfend und liebend auseinandersetzen müßte. Die Fremde, das Afrika des Großen Königs, ist deshalb auch nicht der Orient Alexanders: Afrika ist ein exemplarischer Ort für Ruodliebs Lehrjahre, ein imaginäres Reich, erfunden zur Demonstration der höchsten Möglichkeit, die dem Menschentypus des >Ruodlieb< offen steht: die Verwandlung auch der in Unbeherrschtheit sich erhebenden, zum Kampf antretenden Welt in eine Welt der Versöhnung und des Friedens. Weil also die Natur nicht unter eigener Gesetzlichkeit und mit eigener Kraft positiv in Erscheinung tritt, kann sie auch nicht als Wirklichkeit eigener Art verstanden und akzeptiert werden, sei es, daß man ihr den ihr gebührenden Spielraum zugestehen, oder sei es, daß man sie sich aneignen würde. Die Auseinandersetzung kann nichts 230

anderes sein als Beherrschung durch Technik und Einsicht, als Überwindung der Natur durch Kunst und Weisheit. Was für den Alexanderroman typisch sein wird, der Vorstoß in die Welt mit dem Ziel, sie zu entdecken und in Besitz zu nehmen, das könnte vom Standpunkt des >Ruodlieb< aus nur als Verfallenheit an die Welt aufgefaßt werden. Die Aneignung ist für ihn eine Form des Sich-Verlierens, eine Form der Unbeherrschtheit. Der Große König nützt im Gegensatz zu Alexander seinen Sieg materiell nicht aus; der Krieg im >Ruodlieb< zielt allein darauf, die Ursache des Konflikts aufzuheben. Ruodlieb wählt die Weisheit, nicht den Reichtum. Der Reichtum wird ihm zwar trotzdem zufallen, jedoch nicht als Besitz um seiner selbst willen, sondern als Herrschaft im Sinne einer Aufgabe. Aus diesen Gründen ist es nicht möglich, daß die Welt für Ruodlieb zum Problem-Raum wird. Er lernt nicht in der Welt und an der Welt, sondern er lernt in einem idealen Reich am Beispiel eines vorbildlichen Königs. Sein Weg durch die Welt beginnt in dem Augenblick, in dem er seine Lehrzeit beendet hat. Dieser Weg kann deshalb auch nicht Erfahrung von Grenzmöglichkeiten menschlichen Seins bedeuten, wie dies im kommenden höfischen Roman der Fall sein wird. Ruodliebs Weg ist vielmehr Bestätigung im Bezug auf eine schon erreichte Position. Es läßt sich höchstens etwas einschränkend sagen: seine Heimkehr offenbart, daß er von der erfahrenen Weisheit geprägt ist und nun beweisen muß, daß er an ihr auch in einer Welt festzuhalten bereit ist, die sich ihr nicht oder nicht ohne weiteres fügt. Aber wenn die Mühe, die der Held damit hat, anhand einer Folge von Stationen veranschaulicht wird, so ist diese in keiner Weise mit der Episodenreihe des späteren äventiure-Romans zu vergleichen. Denn Ruodlieb muß in diesen Situationen nicht eine Idealität preisgeben, um sie immer neu als Ziel einer Bewegung zu erfahren, die von ihr wegführt, es ordnet sich vielmehr die vorgeführte Situationenreihe durch sein Urteilen und Eingreifen zu einer Hierarchie von Verhaltensformen. Und wenn Ruodlieb schließlich die höchste Möglichkeit für sich selbst ergreift, so macht dies deutlich, daß hier weniger der Welt-Weg eines ritterlichen miles Christi neuen Typs47 exemplifiziert, als vielmehr der Entwurf einer in der Perspektive des Idealritters und -herrschers geordneten Welt vorgelegt werden soll. Die Weisheit, die Ruodlieb beim Großen König gelernt hat, verlangt nach Weltgestaltung. Und wenn diese auch nicht ohne Gefährdung durchzuführen ist und diese prekäre Erfahrung mit zum Weg Ruodliebs gehört, so handelt es sich doch nicht in erster Linie um einen Bewußtseinsprozeß, sondern es geht um angewandte Weisheit. Man kann sagen, der >Ruodlieb< bietet zunächst eine Art Fürstenspiegel in epischer Umsetzung und dann, von der Position des idealen Herrschers aus, eine nicht nur ständisch-ritterliche, sondern eine allgemeine Ethik. Die Idealität, die der König verkörpert, ist, Maß und Ordnung setzend, auf die ganze Welt bezogen. Und da es dieser Bezug ist, auf dessen Veranschaulichung die epische Handlung zielt, muß sie sich auch in dieser Hinsicht von derjenigen des späteren Romans abheben, in dem eine spezifisch ständische Problematik in einer von ihr gesetzten fiktiven Welt ausgetragen wird. Mögen aber auch tiefgreifende Unterschiede bestehen zwischen dem, was im >Ruodlieb< als Weg des Helden zu beschreiben ist, und dem, was der Weg des Ritters 47

BRAUN 1962, S. 41. Ohne die Bedeutung der Legende für die Entwicklung des neuen weltlichen Romans verkleinern zu wollen, wird man doch Bedenken tragen, den >Ruodlieb< - im Sinne von Braun - mit dem Typus einer Vita Geraldi in eine zu direkte Beziehung zu setzen.

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im späteren höfischen Roman bedeutet, so scheint wenigstens der Typus des Helden in eigentümlicher Weise kommende Entwicklungen vorwegzunehmen. Es ist nicht unverständlich, daß immer wieder die Nähe Ruodliebs zu Tristan hervorgehoben worden ist.48 Auch Tristan ist als Meister aller höfischen Fertigkeiten sowohl ein geschickter Krieger und Diplomat wie auch ein brillanter Künstler. Es finden sich unter diesem Gesichtspunkt in beiden Werken teils identische Motive, teils treten einzelne Szenen typologisch sehr nahe zueinander. So hört sich Tristan wie Ruodlieb den Vortrag eines berufsmäßigen Sängers an, um dann selber zur Harfe zu greifen und diesen in der Kunst weit zu übertreffen. Ferner ist auch Tristan ein meisterlicher Schachspieler, und er läßt sich ebenfalls in nicht unbedenklicher Weise zum Spielen verlocken, wobei freilich die Folgen sehr viel schwerwiegender sind. Für Tristan wie für Ruodlieb stellt sich die Welt als ein Bereich dar, der durch List und Klugheit zu beherrschen ist. Zugleich aber, und hier zeigt sich die fundamentale Differenz, ist Tristan in einer bestimmten Hinsicht unbeherrscht-beherrscht, indem er nämlich das, was alles Maß sprengt, zu seinem Maß macht: er verfällt nicht nur der Liebe als der Naturmacht schlechthin, sondern er bejaht sie als Lebensprinzip und stellt die durch die Künste beherrschte Welt in ihren Dienst. Im >Ruodlieb< dagegen ist die Weltbeherrschung Teil einer Wirklichkeitsbeherrschung, die auch das Ich miteinschließt. So wenig man übersehen darf, daß der Tristanstoff auf eine literarhistorische Stufe zurückweist, die in der Nähe des >Ruodlieb< liegt,49 so wenig wird man also verkennen können, daß die Perspektiven der beiden Werke diametral entgegengesetzt verlaufen: Der durch Kunst und Weisheit geschaffenen und aufrecht erhaltenen objektiven Ordnung des > Ruodlieb^ der sich auch die Subjektivität einfügt, steht die absolut gesetzte Subjektivität des >Tristan< gegenüber, der über eine durch die Künste manipulierbare Welt verfügt. Wenn der Wirklichkeitssinn im >Ruodlieb< ganz anderer Art ist als die neue Weltlichkeit des >AlexanderRuodlieb< noch diesseits der neuen, kommenden epischen Entwicklung steht. So sieht man sich denn entschieden auf dessen eigenen literarischen Ort zurückverwiesen. Dieser ließe sich, wenn man die skizzierten Differenzen positiv formuliert, folgendermaßen bestimmen: Das Werk spricht für eine ebenso tatkräftige wie freudige Zuwendung zur Wirklichkeit. Aber diese Wirklichkeit versteht sich als eine durch den Geist des Menschen bezwungene oder verwandelte Welt, und gerade daraus erwächst auch das Vergnügen an ihr. Unter dieser Voraussetzung wird der Weg des Helden, wenn dieser die entscheidende Einsicht einmal gewonnen hat, in erster Linie dazu dienen, die objektive Ordnung aufzudecken, zu verdeutlichen, zu bestätigen. Der Held erfährt diese Ordnung zunächst, indem er sein Können in den Dienst einer Leitfigur stellt, um dann eigenhändig mit seinen Künsten und seiner Weisheit in ihrem Sinne zu wirken. Weltzuwendung vom Geist des Menschen aus heißt Naturbeherrschung im Zeichen der Selbstbeherrschung. Daß dies gelingt, ist nicht selbstverständlich, der Held muß sich der Unordnung stellen, um die Welt in Ordnung zu bringen. Weisheit heißt Einheit von Wissen und Ethos. All dies markiert die Sonderposition des >Ruodlieb< an Vgl. z. B. ZEYDEL 1969, S. 13.

Vgl. MOHR 1959/1973, S. 260. 232

der Schwelle zur neuen weltlichen Literatur des 12. Jahrhunderts. Die Weltzuwendung - als das Neue - wird bleiben, aber sie wird künftig bedeuten, daß die Welt sich als ein Raum öffnet, in dem die Anschauung des Idealen nicht mehr nur zur risikoreichen Verwirklichung eines Ethos führt, sondern in dem der Status des Idealen selbst zu einem Bewußtseinsproblem wird. Die Thematik des Friedenskönigs und die Idee der 'edlen Rache' haben den Gedanken nahe gelegt, den >Ruodlieb< im Zusammenhang der Gottesfriedenbewegung Clunys und insbesondere der entsprechenden Bestrebungen Heinrichs III. zu verstehen.50 Wenn das Werk jedoch ins letzte Drittel oder gar ins letzte Jahrzehnt des 11. Jahrhunderts zu setzen ist, so gehört die Zeit Heinrichs in jedem Fall der Vergangenheit an; man steht in der Nähe bzw. schon diesseits des Investiturstreits. Das schließt nicht aus, daß im >Ruodlieb< eine ältere Position nachwirken könnte, insbesondere, wenn anzunehmen ist, daß der Autor kein junger Mann mehr war.51 Doch wie immer dem sei, man sollte sich davor hüten, im Investiturstreit eine Zäsur zu sehen, die sich auf allen Gebieten des geistigen Lebens gleich einschneidend ausgewirkt haben müßte. Das Königsbild des >Ruodlieb< beruht auf einer Jahrhunderte zurückreichenden christlichen Idee des idealen Herrschers, und es wirkt über das 11. Jahrhundert hinaus weiter.52 Auch ein König Artus, wie der höfische Roman ihn bietet, ist ohne diese Tradition nicht denkbar. Das heißt aber zugleich, daß man den >Ruodlieb< nicht allein unter dieser Idee sehen und verstehen kann, es ist der Blick vielmehr darauf zu richten, in welcher Weise sie episch aktualisiert wird: es geht um das spezifische Verhältnis von Herrschaftswissen und Weltordnung, von Einsicht und Ethos. Weisheit als Leitgedanke einer epischen Handlung bedeutet, daß Vernunft und Moral noch als integrierbar und vermittelbar angesehen werden. Sie erscheinen integriert in der Person des Großen Königs, und die Vermittlung erfolgt gewissermaßen charismatisch, d. h. undialektisch. Es ist bezeichnend, wie behutsam der Große König den Helden leitet; er läßt ihm freies Spiel, um nur mit knappen Kommentaren sein Tun in die rechte Perspektive zu rücken oder ihm die Maximen des Handelns vorzugeben. Die zwölf Lehren sind eine offene Auffächerung der Weisheit im Blick auf den epischen Weg, d. h., sie geht in ihnen nicht auf. Entscheidend für Ruodliebs Heimweg ist vielmehr des Großen Königs gelebte Idealität: der Held trägt deren Bild mit sich, von ihm geprägt ordnet sich die Welt; indem der Held durch sie hindurchgeht, führt er die Situationen, in die er gerät, zur Entscheidung; das Unverbesserliche wird ausgestoßen, das Wandlungsfähige aber im Blick auf die Hierarchie des Seins so weit wie möglich in der Richtung nach oben verwandelt. Das epische Geschehen ist anhebende Angleichung an die kosmisch-objektiv gesehene Ordnung. Damit dokumentiert der >Ruodlieb< ein Weltverständnis, in dem die Korrelation von Denken und Sein noch nicht in Frage gestellt ist, in dem sich alles Subjektive auf die Entscheidung zwischen Gut und Böse konzentriert und alle Bewegung, d. h. Erfahrung und Lehre nur auf Integration zielen können. Die Moral ist nicht abstraktes Prinzip, sondern sie lebt und wirkt in der Verkörperung durch Figuren wie den Großen König, in denen Erkenntnis und Ethos noch ungebrochen eins sind. 50

Vgl. HAUCK 1948; kritisch dazu: BRAUN 1962, S. 20ff.

51

Vgl. VOLLMANN 1985, S. 27. Vgl. GÖTTE 1981.

52

233

1. Ruodliebs Auszug (fol. 2 - fol. 3 II, 71 ]) 2. R. tritt in den Dienst des Großen Königs (fol. 3 [I, 72] - fol. 4 - fol. 35 - fol. 4a [II, 48])

IA II

3. R. als Feldherr des Großen Königs (fol. 4a [II, 49] - fol. x1 - fol. x la - fol. 4b - fol. 36)

III III A

4. R. in diplomatischer Mission beim Kleinen König (fol. 36 - fol. x2 - fol. 5 - fol. 6 - fol. 7 - fol. 8 - fol. x2 ?)

IV

5. Die Königsbegegnung (fol. x 2 ?-fol. 9-fol. 10-fol. 11-fol. 12 [V, 219])

6. R. erhält einen Brief mit der Aufforderung, in die Heimat zurückzukehren; der König bereitet ein Abschiedsgeschenk vor (fol. 12 [V, 220] - fol. 13 - fol. 14 - fol. 15 [V, 391]) 7. Die 12 Lehren des Königs und R.'s Abschied (fol. 15 [V, 392] - fol. 16 - fol. 17 - fol. 18 [V, 584])

8. R. begegnet einem Rotkopf, und es erweist sich die Wahrheit der ersten beiden Lehren (fol. 18 [V, 585] - fol. x' - fol. 19 [VI, 7])

19 i 20

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VI

x 21 \ VII 22 x4a 23 Li \i 24 i

VIU

9. Die Geschichte von der Alten Frau und dem d< Jungen Mann (fol. 19 [VI, 8] - fol. 20 - fol. x4?) 10. R. als Gast beim Jungen Mann mit der Alten Frau (fol. x 5 ? - f o l . 21 [VII, 25]) 11. Der Rotkopf als Gast beim Alten Mann mit der Jungen Frau. Es erweist sich die Wahrheit der dritten Lehre (fol. 21 [VII, 26] - fol. x4" - fol. 23 [VIII, 10]) 12. Gericht iz. Das uasuencnt f ( °l- 2 3 [VHI, 11 ] - fol. 24 - fol. x3" ?) [?]

x5 28 l 29 I

r L

13. R. im Gespräch mit seinem Neffen (fol. x5 - fol. 280 IX/X

14. R. und sein Neffe als Gäste auf einem Schloß (fol. 2 8 v - f o l . 2 9 - f o l . x 6 - f o l . x 6 --fol. 26 [XII, 32])

x6 — X I St.Flor.l X™

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26

XII

_ ^ > XIII x 5a St.Fior.2 [— 30

15. Die Heimkehr (fol. 26 [XII, 33] - fol. 27 - fol. x 5 ' ?) 16. Die Hochzeit des Neffen (fol. x 5 a ? - f o l . 30)

XIV

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L x 7a 25

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31

XVI

x8

17. Die Klage der Mutter (fol. x 7 " ? - f o l . 25)

18. R.'s mißglückte Brautwerbung (fol. 31 - fol. x8 - fol. 32 - fol. 33 [XVII, 84])

32

C } XVII L

33 ' 34

XVIII

19. Die Träume der Mutter (fol. 33 [XVII, 85 - 128]) 20. R. und der Zwerg (fol. x " - fol. 34)

Struktur und Geschichte Ein literaturtheoretisches Experiment an mittelalterlichen Texten

Die in den letzten Jahren zum Teil leidenschaftlich geführte Diskussion um strukturalistische und geschichtliche Methoden in den historischen Wissenschaften hat allmählich der Einsicht Raum gegeben, daß es sich hierbei nicht um eine Alternative zwischen zwei sich ausschließenden 'Denkformen' handeln kann. Die Abwehr des strukturalistischen Angriffs auf die Geschichte geht deshalb heute immer entschiedener in das Bemühen über, das Verhältnis zu analysieren, in dem Struktur und Geschichte aufeinander bezogen sind.1 Wenn auf der einen Seite nicht bestritten werden kann, daß ein Erkennen im eigentlichen Sinne seinen Grund jenseits allen bloßen Konstatierens von Fakten hat, daß also die empirische Analyse schon immer ein Allgemeines als Ordnungsprinzip voraussetzt, so ist dieses Allgemeine auf der andern Seite zugleich das Ziel des durch die Geschichte hindurchführenden Prozesses. Reine Empirie - wenn sie ihrem strengen Begriff nach überhaupt möglich wäre - würde auf eine völlige Zerstückelung und Vereinzelung der Gegebenheiten hinauslaufen. Die Deskription muß deshalb im Erkenntnisprozeß in die Darstellung übergeführt werden, die mit den Fakten zugleich deren Stellenwert in einem Gesamtzusammenhang vermittelt. Wenn aber geschichtliche Erkenntnis ihrem Wesen nach darauf zielt, über ein analytisches Konstatieren von Fakten hinaus zur Darstellung von strukturierten historischen Gefügen zu gelangen, weil nur diese ein Verstehen ermöglichen, so impliziert dies, daß sich der Erkenntnisprozeß immer wieder quer zur Geschichte stellt: ein Ordnungsgefüge kann nur synchron, in einem Schnitt durch die historische Kontinuität, sichtbar gemacht werden. So unabdingbar aber ein solcher Schnitt ist, so wenig wird man leugnen wollen, daß er stets etwas Willkürliches und Künstliches an sich hat. Trotzdem darf dieses begründete Mißtrauen gegenüber dem System nicht zu der Schlußfolgerung verleiten, daß man es hierbei nur mit projizierten Denkstrukturen, nicht aber mit objektiven Strukturen der Geschichte selbst zu tun habe. Dabei ist freilich folgende Unterscheidung mit in Rechnung zu stellen: dem Erkenntnisprozeß, der von einem Gesamtentwurf ausgeht, um ihn über die Fülle des Konkreten erst eigentlich zu erreichen, korrespondiert in der Geschichte ein analoger objektiver Vorgang: es zeichnen sich im Verlauf des geschichtlichen Prozesses immer wieder Schnittpunkte ab, in denen disparate Tendenzen sich unter einem führenden Prinzip treffen. Es besteht dann die Chance, daß sich durch Auswahl, Kombination und funktionale Zuordnung der einzelnen Gegebenheiten ein System herausbildet und einspielt. Auch hierzu wird man u. U. so etwas wie historische Vorentwürfe ermitteln können, jedenfalls vermag der Prozeß, der zum System geführt hat, rückblickend bald mehr, bald 'Siehe insbes. SCHMIDT, A. 1969 und 1971; für die Literaturwissenschaft: STROHSCHNEIDERKOHRS 1971.

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weniger durchschaubar zu werden: man kann ihn, wenn auch nicht erklären, so doch verstehen lernen. Subjektiv und objektiv, im Erkenntnisprozeß wie im Geschichtsprozeß werden also immer wieder Systeme anvisiert. Diese Systeme sind damit zwar geschichtlich, aber zugleich scheinen sie sich abgelöst von ihrer Genese selbst zu tragen: sie sind geschichtlich geworden, aber sie gehen nicht in diesem Werden auf. In dem Maße jedoch, in dem sie ihre eigene Genese übersteigen, in dem Maße sind sie wiederum insofern eminent geschichtlich, als sie Geschichte machen. Speziell auf den Erkenntnisprozeß bezogen bedeutet das, daß die Darstellung, gerade als strukturalistische, Geschichte aufschließt, und zwar nicht nur nach rückwärts, sondern auch nach vorwärts. Man wird nicht übersehen, daß ein solcher Versuch, Struktur und Geschichte nicht gegeneinander auszuspielen, sondern aufeinander zu beziehen, an einem bestimmten Punkt zwangsläufig auf einen inneren Widerspruch stoßen muß, der sich logisch nicht völlig auflösen läßt: es ist letztlich der Widerspruch zwischen Kontinuität und Diskontinuität, der alle Prozesse des Lebendigen kennzeichnet. Statt sich bei historischer Arbeit in das trügerische Heil der Einseitigkeit zurückzuziehen, sollte man sich aber dazu bereitfinden, diesen Widerspruch nicht nur bewußt zu halten, sondern sich ihm dezidiert zu stellen. Wer sich dem verweigert, der muß entweder den Strukturbegriff fallen lassen und wird dann auch niemals die Geschichte erreichen, sondern in der Empirie der Fakten stecken bleiben, oder aber er muß den Geschichtsbegriff fallen lassen und wird folglich alles Prozeßhafte auf Scheinbewegungen in einer zeitlosen Denk- und Darstellungsform reduzieren - wie z. B. Claude Levi-Strauss. Es ist dem entgegenzusetzen, daß es nicht nur notwendig ist, mit dem Widerspruch zwischen Struktur und Geschichte wissenschaftlich zu leben, sondern daß es auch möglich sein sollte, den Ansatz im Widerspruch hermeneutisch fruchtbar zu machen. Gerade der Literaturhistoriker ist dabei aus folgendem Grund in einer nicht ungünstigen Lage: Literatur steht nicht nur durch ihre Bindung sowohl in ihren eigenen Überlieferungszusammenhang wie in die jeweilige historische Situation im geschichtlichen Vollzug, sondern sie ist zugleich ein Medium, in dem die Strukturgesetzlichkeiten dieses Vollzuges sich selbst darstellen, so daß seine Bedingungen und Möglichkeiten vorzüglich durchschaubar werden, was wiederum in nachdrücklicher Weise zur Auseinandersetzung mit dem jeweils zugrundeliegenden Erfahrungs- und Darstellungsprinzip herausfordert. Es wäre also der Versuch zu machen, literarhistorisch dort anzusetzen, wo Strukturen insbesondere dadurch, daß ihre Möglichkeiten bis zum Ende durchgespielt sind, ihre Geschichtlichkeit ins Bewußtsein drängen und damit einen Prozeß auslösen, der zum kritischen Umschlag weiterführt. Im folgenden seien die interpretatorischen Chancen eines solchen Ansatzes an vier Beispielen aus der mittelhochdeutschen Literatur erprobt. Den Ausgangspunkt bilden zwei relativ einfach gelagerte Fälle: der Alexanderroman und die Oswaldlegende. Ihnen sollen dann mit dem >Tristan< und dem >Guoten Gerhart< Rudolfs von Ems zwei in verschiedener Hinsicht komplexere Beispiele gegenübergestellt werden.

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I Die Geschichte des Alexanderromans ist weitverzweigt und vielsträngig und daher trotz intensiver wissenschaftlicher Bemühungen in mancher Hinsicht noch immer dunkel. Die Hauptlinien - und nur sie sind in diesem Zusammenhang zunächst von Bedeutung - scheinen jedoch gesichert: Es ist davon auszugehen, daß die mittelalterlich-westliche Tradition des Alexanderromans zwei Wurzeln hat, einerseits die lateinische Übersetzung eines sonst unbekannten Julius Valerius aus dem 4. Jahrhundert auf der Basis der griechischen a-Redaktion und anderseits den rohen Auszug, den Leo von Neapel um 960 in Konstantinopel von einer Fassung der griechischen 8-Redaktion angefertigt und ins Lateinische übersetzt hat. Dieser Auszug ist dann in mehreren Stufen interpoliert worden - es handelt sich um die verschiedenen Fassungen der sog. Historia de preliis. Bei diesen Interpolationen verwendete man nicht nur die Übersetzung des Julius Valerius, sondern man griff auch auf die historische Überlieferung, also vor allem auf Curtius Rufus und Orosius zurück. Überdies sind Materialien aus der vielfältigen Streuüberlieferung einzelner Alexanderepisoden eingeflossen.2 Die Entwicklung des lateinischen Romanzweiges stellt sich damit als ein komplizierter Prozeß dar, in dem es in einem Wechsel von Kürzungen und Erweiterungen, von Umstellungen und Akzentverlagerungen zu immer neuen Überschneidungen und Kontaminationen kommt. An diesem Prozeß nimmt auch der vulgärsprachliche Sproß teil. Julius Valerius bildet in Verbindung mit der Historia de preliis die Basis für die zu Beginn des 12. Jahrhunderts entstandene französische Version des Alberic von Pisancon.3 Diese wird noch vor 1150 die Vorlage für die mittelfränkische Übersetzung des Pfaffen Lambreht. Lambrehts Werk ist Bruchstück geblieben. Es hat aber bald einen Fortsetzer gefunden, der es nach einer andern Vorlage, nämlich nach dem nicht-interpolierten Auszug Leos, zu Ende geführt hat. Weder Lambrehts Werk noch die Fortsetzung sind in ihrer originalen Fassung erhalten. Überliefert sind drei Bearbeitungen sehr unterschiedlichen Alters und Charakters: die oberdeutsche Version in der Vorauer Handschrift gegen 1200, der >Straßburger Alexanden von etwa 1160 und der >Basler Alexander< in einer Handschrift des 15. Jahrhunderts.4 Am nächsten bei Lambrehts Bruchstück steht die Vorauer Fassung. Von der Vorlage ist sie im wesentlichen durch die sprachliche Umsetzung getrennt. Zudem besitzt sie einen eigentümlich zusammengestückten Schluß, der nicht von Lambreht herrühren kann. Der >Straßburger Alexanden beruht auf der fortgesetzten Fassung: es wird aber formal geglättet, und überdies beginnen frühhöfische Elemente einzudringen. Der >Basler Alexanden ist deshalb von besonderem Interesse, weil er auf eine Zwischenstufe zwischen der Lambreht-Fortsetzung und der Straßburger Überarbeitung weist. 2

Die Literatur zur Geschichte des Alexanderromans ist kaum mehr überschaubar; ich greife nur folgende weiterführende Arbeiten heraus: MERKELBACH 1954; MAGOUN 1929; CARY 1967.

George Cary bietet auch eine gute Übersicht über die Streuüberlieferung; vgl. ferner die in Anm. 3-5 genannten Titel. 3

4

Vgl. MEYER, P. 1886, I, S. lff., II, S. 69ff.; MINIS 1957.

Die letzte Ausgabe des >Vorauer Alexanden in: MAURER 1965, S. 536ff., Einleitung mit Bibliographie S. 515ff. Der >Straßburger Alexander< neben Alberic und dem >Vorauer Alexanden in: KINZEL 1884. Zum >Basler Alexander« und seiner Position im Überlieferungszusammenhang siehe CZERWONKA 1958.

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Das Verhältnis der drei Bearbeitungen zueinander und zu Lambrehts Übersetzungsbruchstück beschäftigt die Forschung schon seit über einem Jahrhundert, und die Kontroverse scheint noch immer nicht abgeschlossen.5 Sie ist hier nur insoweit von Interesse, als sie die Frage nach dem Sinn und Ziel der einzelnen Versionen tangiert. Auch in dieser Frage gibt es eine Reihe strittiger Punkte.6 Die Schwierigkeiten beginnen damit, daß es kaum möglich ist, direkt zu sagen, was die Alexandergeschichte für Alberic bedeutet hat, denn von seiner Fassung sind nur 105 Verse überliefert. Es dürfte jedoch seine Position aufgrund der deutschen Fassung mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erschließen sein. Lambrehts Haltung erweist sich nämlich als zwiespältig. Auf der einen Seite spricht er vom wunderlichen Alexander, d. h., er konnte sich offensichtlich dem Staunenswerten in diesem Lebensbericht nicht entziehen. Auf der andern Seite sieht er sich aber doch dazu gedrängt, gewisse geistliche Vorbehalte anzubringen. Wenn nicht alles täuscht, gibt der positive Aspekt die Einstellung der Vorlage wieder. Da Lambreht sie sich aber nur halbherzig zu eigen machen konnte, kommt es zu inneren Widersprüchen, und das literarische Ergebnis ist entsprechend unbefriedigend.7 Im Zusammenhang der Vorauer Handschrift, in der uns Lambrehts Fragment überliefert ist, mag dieser Umstand sich nicht so gravierend ausgewirkt haben, da das Programm, unter dem sie zusammengestellt worden ist, der Alexandervita eine bestimmte Position zuwies und ihr von daher ihre Bedeutung vermittelt wurde: die Vorauer Handschrift stellt den >Alexander< zwischen die alttestamentlichen und die neutestamentlichen Stücke, d. h., sie sieht das Alexanderleben von der Theorie der Weltreichabfolge her unter heilsgeschichtlichem Aspekt.8 Mit der Fortsetzung des Lambrehtschen Bruchstückes mußten die inneren Widersprüche aber zu einer Lösung drängen. Und so zeigt sich denn auch, daß sie auf der nächsten Stufe zwar nicht getilgt, aber durch eine Neukonzeption aufgehoben worden sind. Dies wurde durch einen ebenso einfachen wie überzeugenden Kunstgriff ermöglicht, nämlich dadurch, daß man am Schluß des Alexanderlebens eine Episode einbaute, die den ganzen Roman in eine neue Perspektive rückte. Es handelt sich um die Episode des Iter ad paradisum: Alexander stößt auf seinem Orientzug bis zur Mauer des Paradieses vor. Nachdem er vergeblich nach einem Zugang gesucht hat, erscheint an einem Fenster ein alter Mann und fordert ihn auf umzukehren. Er gibt ihm einen geheimnisvollen Stein mit. Dieser Stein ist so schwer, daß er mit keinem Gewicht aufgewogen werden kann. Wenn man ihn aber mit ein wenig Erde bedeckt, wird er leicht wie eine Feder. Dieser Stein bedeutet die menschliche Unersättlichkeit, die durch nichts zu befriedigen ist. Wenn jedoch die Erde des Grabes sie bedeckt, dann wiegt sie so gut wie gar nichts mehr. 5

Eine kritische Bilanz der Forschung zieht SCHRÖDER, W. 1961/62. Eine Gegenposition vertritt FISCHER, W. 1964. Jetzt wieder im Sinne von Werner Schröder: URBANEK 1970. 6 Vgl. insbes. die Kontroverse zwischen SCHRÖDER, W. 1961/62, S. 43ff., und JUNGBLUTH 1956, über die Bedeutung des Vanitas-Motivs bei Alberic und Lambreht. 7 Vgl. FISCHER, W. 1964, insbes. S. 50ff. Selbst wenn man mit SCHRÖDER, W. 1961/62, S. 49, annimmt, daß Lambrehts Position ausschließlich durch seine kritischen Zwischenbemerkungen repräsentiert wird, so bleibt es doch angesichts des überlieferten Bruchstücks mehr als fraglich, ob er im weiteren Verlauf des Gedichtes mit den offensichtlichen Widersprüchen künstlerisch irgendwie fertig geworden wäre. 8 Vgl. POLHEIM 1958; Einleitung: über das Programm der Hs. und die Position des >Alexander< insbes. S. XIVff.

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Alexander erkennt die Wahrheit dieser Lehre, er wandelt sich, und es heißt, daß er für die restlichen Jahre seines Lebens guter mäzen plach (7263).9 Die Welteroberung Alexanders mündet also in die Erkenntnis der Eitelkeit menschlichen Strebens. Die Episode mit dem Paradiesstein gibt dem Roman somit einen neuen Zielpunkt, der zugleich eine radikale Wende bedeutet. Sie verändert als solche den Stellenwert all dessen, was sich bis zu diesem Zeitpunkt ereignet hat, und dies, ohne daß man den Stoff in seiner überlieferten Form im Prinzip anzutasten brauchte. Die Bewunderung konnte stehen bleiben. Kritik und Mahnung waren nicht mehr unbewältigter Vorbehalt, sondern wurden von der Schlußepisode thematisch aufgefangen.

II Der Stoff der Oswaldlegende ist - wenn auch in anderer Weise und auf anderer literarischer Stufe - ebenfalls durch viele Hände gegangen. Mündlichen Traditionsformen näherstehend, liegt das literarische Niveau tiefer und ist die Festigkeit der Form entsprechend geringer. Die Überlieferung ist spät und schlecht. Hypothetisch aber pflegt man die erhaltenen Fassungen mit den übrigen sog. Spielmannsepen noch im 12. Jahrhundert anzusetzen. Diese Möglichkeit bleibt bestehen, auch wenn man die geschichtliche Konstruktion, die Georg Baeseckes Stemma bietet, nicht mehr akzeptieren kann.10 Von den vier stark voneinander abweichenden Überlieferungszweigen, in denen die Legende auf uns gekommen ist, interessiert hier insbesondere der reichhaltigste Text, der >Münchener OswaldKönig Rothen und der >SalmanMünchener Oswald< noch eine weitere Episode an. Sie fehlt den übrigen Fassungen, Baesecke hat in ihr gewiß zu Recht eine jüngere Zufügung gesehen." Oswald läßt die Armen des Reiches speisen. Unter diesen befindet sich auch ein unverschämter Bettler, der immer wieder kommt und mehr und mehr fordert. Die Höflinge wollen ihn verjagen, aber der König wehrt ihnen, denn er hat ein Gelübde getan, niemandem etwas zu verweigern, wenn man es um Christi willen von ihm erbitte. Der Bettler verlangt nacheinander: den goldenen Pokal des Königs, das kostbare Tischtuch, die Krone und das Reich und schließlich sogar die Königin. Oswald gibt alles hin und ist bereit, im Pilgergewand des Bittstellers durch das Land zu ziehen. Doch in diesem Augenblick enthüllt der Bettler seine wahre Identität: es ist Christus selbst, der gekommen ist, um Oswald zu prüfen. Er gibt dem König alles zurück und verkündet ihm, daß er in kurzer Frist mit seiner Frau ins Himmelreich eingehen werde. Durch diese Zusatzepisode wird im >Oswald< - ähnlich wie durch das Iterad paradisum im Alexanderroman - die bisherige Handlung in eine neue Perspektive gestellt. Die Zwiespältigkeit der schlecht und recht christlich abgewandelten Werbungsgeschichte wird in dieser Wendung aufgefangen. Man mag die Lösung vielleicht nicht als ganz so glücklich empfinden wie im Alexanderroman, aber im Prinzip haben wir es mit einem analogen Vorgang zu tun: Die Handlung erhält einen neuen Zielpunkt, der alles Vorausgehende relativiert und damit die Widersprüche auffängt.

III Von diesen in gewissem Sinne parallelen Beobachtungen am Alexanderroman und an der Oswaldlegende her stellt sich nun die Frage nach den durch die epische Struktur gegebenen Bedingungen, die jene Wendepunkte möglich machen, welche durch die Zusatzepisoden - das her adparadisum hier, die Versuchung Oswalds dort - markiert sind. Der griechische Alexanderroman kann gewiß nicht als literarische Leistung von besonderem Niveau gelten. Das allgemeine Urteil läuft darauf hinaus, daß hier teils " Siehe die Tabelle bei BAESECKE 1907, S. 245. 241

historische und teils pseudohistorisch-anekdotische Überlieferungen mit mäßigem Kunstverstand aneinandergefügt worden seien. Gerade dieser Mangel an innerer Form, an künstlerischer Geschlossenheit wurde jedoch - insbesondere im Westen zur literarhistorische Chance des Werkes. Die lockere Fügung der Handlung bot einen Spielraum für Abwandlung, Austausch und Anreicherung mit immer neuem Material. Das Ergebnis war eine variable, am biographischen Leitfaden aufgereihte Folge von Einzelepisoden. Und an sie mußte sich denn auch in erster Linie das Interesse heften, solange eine Gesamtkonzeption fehlte. Wie ausgeführt, erfolgte die erste Übernahme in die Vulgärsprache, die Adaptation Alberics, aller Wahrscheinlichkeit nach unter diesem Aspekt: Alberic scheint insbesondere von den staunenerregenden Ereignissen des Alexanderlebens beeindruckt gewesen zu sein. Dasselbe dürfte für die frühmittelhochdeutsche Rezeption des Romans gelten. Jedenfalls wird dies durch die auffällige Koinzidenz nahegelegt, die zwischen dem literarischen Typus und dem spezifischen Charakter der neuen Laienkultur des beginnenden 12. Jahrhunderts besteht: es manifestiert sich in der neuen weltlichen Literatur eine Zuwendung zur ganzen Fülle des Diesseitigen, wobei sich der Blick durch die Entdeckung des Orients - oder was man dafür hielt - zugleich in ungeahntem Maße erweiterte. Diese ganze neue Welt aber wurde in erster Linie unter der Kategorie des Erstaunlichen erfahren: sie ist eine Welt der faszinierenden Einzeldinge. Man eignete sich die Wirklichkeit an, indem man das einzelne addierte. Gerade der Alexanderroman aber konnte beispielhaft die Bewältigung der Welt in einer Abfolge von Einzelschritten demonstrieren. Die einfachste und primitivste Form, etwas zu bewältigen, besteht ja darin, es in Besitz zu nehmen. Eine Welt, die als Summe ihrer Einzeldinge verstanden wird, wird folglich durch ein additives Aneignungsverfahren bezwungen. Die Addition als Form der Bewältigung aber konnte ihre literarische Entsprechung in der Struktur der Episodenfolge finden. Die Naivität dieser Position ist offenkundig. Sie mußte früher oder später problematisch werden. Es stellt sich die Frage, in welcher Weise dieser Prozeß vor sich ging und wie die nächste Stufe erreicht wurde. Schon Lambreht hat gegen die simple Gleichung 'Bewältigung des Daseins = schrittweise Inbesitznahme der Welt' seine geistlichen Vorbehalte angebracht, freilich ohne dabei eine überzeugende literarische Lösung zu finden oder auch nur zu versuchen. Die Lösung ist, wie uns der >Basler Alexanden belegt, auf der Vorstufe zur Straßburger Redaktion gelungen. Dabei ist vor allem bemerkenswert, daß die vorgegebene Struktur, die Vita als Episodenreihe - Ausdruck der Welthaltung, die zur Debatte stand -, beibehalten wurde. Man ist von ihrer Gesetzlichkeit ausgegangen, man hat die neue Konzeption geschaffen, indem man weiter addierte, dem Gesetz der Reihung folgend noch eine Episode zufügte, doch diese Episode verstand sich zugleich als die letzte: mit dem her ad paradisum war eine Episode hinzugekommen, über die hinaus im Prinzip keine weitere Addition mehr möglich war. Denn was Alexander an der Pforte des Paradieses als Lehre empfing, war die Mahnung, die 'Addition' grundsätzlich abzubrechen, und das bedeutete zugleich, daß damit die Summe dessen, was bisher erfahren, geleistet, erworben worden war, fragwürdig wurde. Man benützte also die vorgegebene Struktur, um die Position, die in dieser Struktur zum Ausdruck gebracht wurde, aufzuheben. Die Summierung des einzelnen als Weg der Daseinsbewältigung läuft in die Negation dieses Prinzips aus: die Chiffre dafür ist die Umkehr, der Verzicht; dann im >Straßburger Alexanden milder und positiver: die mäze, die beherrschte Mitte - erste Ankündigung eines kommenden humanistischen Ausgleichs. 242

Es ist zu beachten, daß damit eine radikale thematische Wende möglich geworden war, während man doch völlig im Rahmen der vorgegebenen literarischen Tradition blieb und sich der Mittel bediente, die sie zur Verfügung stellte. Man hat nicht nur an der Struktur festgehalten, deren Prinzip man überwinden wollte, sondern es kommt hinzu, daß man auch die neue Episode, die die Wende in sich trägt, aus der Tradition bezog: das her adparadisum gehört in die Streuüberlieferung von Alexanderepisoden. Seine Geschichte ist durch das Mittelalter bis zum >Babylonischen Talmud< zurückzu verfolgen.12

IV Stellt man der additiven Struktur des Alexanderromans die Struktur der Brautwerbungserzählung gegenüber, so erweist sich diese - wenn auch in ganz anderer Weise - als ebenso einfach und als letztlich auch ebenso naiv. Wenn im >Alexander< der einzelne Mensch der Welt in ihrer ganzen Breite und in der ganzen Vielfalt ihrer Einzeldinge und Einzelaufgaben gegenübersteht, so ist das Schema der Brautwerbungserzählung dadurch gekennzeichnet, daß dem Helden sich eine Welt präsentiert, die um einen Gegenpol konzentriert erscheint. Die Handlung ist ausgespannt zwischen dem Pol des brautwerbenden Königs und dem in irgendeiner Weise oppositionell bestimmten Pol der begehrten Frau. Die Welten der beiden Figuren spielen nur insofern eine Rolle, als sie den beiden Figuren zugeordnet sind. Mit dem Gewinn der Braut ist auch ihre Welt bezwungen. Es kann hier also nicht um eine schrittweise Bemächtigung eines Raumes gehen, sondern es kann sich nur um ein spannungsvolles Spiel zwischen den beiden Polen handeln, dies möglicherweise in mehreren Runden, wobei, und das ist entscheidend, immer die ganze Spanne durchschritten wird. Man ist also berechtigt, von Zyklen zu sprechen. Im >Oswald< bildet die Werbung durch den Raben einen ersten Kreis, die Fahrt des Königs selbst einen zweiten. Es gibt eine Reihe von Abwandlungen des Grundschemas, etwa durch das Motiv der Rückentführung der Braut, was dann eine zweite Aktion des Königs notwendig macht. Nicht immer spielt wie im >Oswald< die Braut mit dem werbenden König zusammen, sie kann auch als widerspenstige Braut erscheinen, d. h., das oppositionelle Moment braucht nicht allein in ihrer Situation zu liegen, sondern die Braut kann sich handlungstechnisch durchaus mit dem oppositionellen Moment des Gegenpols identifizieren. So verhält es sich z. B. in der Salomonsage. Doch das Strukturprinzip bleibt stets dasselbe: immer handelt es sich um eine zwischen zwei Polen kreisende Bewegung. Die Welt als das Andere, Gegenüberstehende, verkörpert sich in der Partnerin, die Lösung des Gegensatzes vollzieht sich als Verbindung der Geschlechter, als Vereinigung zwischen dem König und der fremden, die Gegenwelt repräsentierenden Frau. Brautwerbung als literarisches Thema ist volksläufig, seine spezifische Schematik ließ Abwandlungen in den verschiedensten Typen mündlich-epischer Tradition zu. Seine Verbreitung scheint kaum Grenzen zu kennen. Es ist nun festzuhalten, daß die Brautwerbung nicht zuletzt mit dem sog. Spielmannsepos im mittelhochdeutschen Bereich literarisch geworden ist und daß bei dieser Literarisierung die Wiederholung der 12

Vgl. CARY 1967, S. 19ff.; zur orientalischen Überlieferung: HARTMANN, R. 1922. 243

Kreisbewegung eine entscheidende Rolle spielte. Die Literarisierung scheint mit einer Tendenz zur Duplizierung der Kreisbewegung zusammenzugehen. Daß der Weg zum literarischen Ausbau und Aufbau in diese Richtung führen mußte, läßt sich einsichtig machen. Es ist zwar nicht ohne erzählerischen Reiz, den einen Handlungskreis auszugestalten: man kann die Spannung zwischen den Polen steigern, die Hindernisse für den Werber vergrößern, die Kühnheit des Unternehmens erhöhen. Aber man stößt dabei relativ schnell auf Grenzen: wenn man parallele Elemente häuft, etwa den Freier ganze Serien von Proben bestehen läßt, dann kommt ein Punkt, wo man die poetische Wirkung schwächt. Etwas wesentlich Neues einzuführen verbietet die Struktur; Abenteuer auf dem Weg zur Braut z. B. fallen, wenn sie sich zu sehr verselbständigen, aus der Linie, sie stören die bipolare Grundkonstellation. Die einzige überzeugende Möglichkeit eines größeren Ausbaus besteht in der Wiederholung des ganzen Handlungskreises, in einer zweiten Bewegung zwischen den beiden Polen unter neuem Aspekt. Das ist der Weg, den alle sog. Spielmannsepen vom >König Rothen bis zum >Orendel< beschritten haben.13 So wie die Struktur der Episodenreihe weiter ausgebaut werden kann, indem man neues Material additiv auf der einen Achse einreiht, so verlangt die Gesetzlichkeit des Kreisschemas, daß man einen ganzen neuen Kreis hinzufügt, wenn man nicht nur punktuell anreichern will, sondern eine wesentliche literarische Entfaltung intendiert. Ist das Gegenüber wie im >Alexander< eine Welt als räumliche Ausdehnung, dann kann man, wie dargelegt, schrittweise vorgehen; ist das Gegenüber der Welt in einer Gegenfigur verkörpert, dann führt jeder Zug neu zur Konfrontation mit dieser Figur; man wird immer wieder den ganzen Weg bis zum Zielpunkt gehen müssen. Beiden Strukturen aber ist eines gemeinsam, nämlich daß das Gegenüber als etwas gesehen wird, was sich bezwingen, einholen, in Besitz nehmen läßt. Und in entsprechender Weise wird dann auch im >Oswald< diese naive Position überwunden. So wie man im >Alexander< die Addition grundsätzlich durchbrochen hat, indem man eine Episode hinzufügte, die gegen das Additionsprinzip gerichtet war und die damit grundsätzlich die letzte Episode sein mußte, so fügte man beim Typus der Brautwerbungserzählung einen Handlungskreis hinzu, der gegen die Kreisbewegung selbst gerichtet war und damit grundsätzlich nur ein letzter Kreis sein konnte. Die Versuchungsepisode des >Münchener Oswald< mit der Hingabe der Königin und ihrer Rückgewinnung wiederholt - wenn auch räumlich verkürzt - die Kreisbewegung zwischen den beiden Polen, aber dieser Kreis ist im Prinzip ein Antikreis, die Brautwerbungshandlung erscheint invertiert: der König gewinnt seine Frau nicht mehr dadurch, daß er sie in kühnem Vorstoß über einen listigen Handstreich oder einen mutigen Kampf erobert, sondern dadurch, daß er auf sie verzichtet.14 Zu der Eigentümlichkeit, daß man dabei innerhalb der vorgegebenen Strukturgesetzlichkeit bleibt, kommt im übrigen auch hier hinzu, daß stofflich nicht ad hoc erfunden, sondern überkommenes Motivmaterial eingesetzt wird. In diesem Fall freilich handelt es sich nicht um Material aus der Brautwerbungstradition, sondern aus 13

14

Vgl. CURSCHMANN 1966, S. 604f.

Es soll bei dieser Parallelisierung von Alexanderroman und Oswaldlegende nicht übersehen werden, daß es nur aufgrund einer gewissen Abstraktion auf die Struktur hin möglich ist, die beiden Typen auf einer Ebene nebeneinanderzustellen. In anderer Hinsicht, insbes. von ihrer literaturanthropologischen Situation her, sind sie hingegen kaum zu vergleichen.

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legendarischen Quellen. Man hat, was die Herkunft der Versuchungsepisode im >Oswald< anbelangt, bisher weitgehend im dunkeln getappt. Bald wollte man sie in die Nähe jenes Motivs vom voreiligen Versprechen (rash boon-motif) stellen, wie es am besten aus dem >Lancelot< oder der Gandin-Episode des >Tristan< bekannt ist. Bald hat man an das Märchen vom Dankbaren Toten gedacht, in dem der Held sich bereit erklären muß, mit seinem Helfer allen Gewinn zu teilen, und sich schließlich vor der Schwierigkeit sieht, auch seine Frau in diese Abmachung einzubeziehen oder wortbrüchig zu werden.15 Aber daß Artus oder Marke ihre Frauen einem Bittsteller ausliefern, weil sie diesem unbedacht einen Wunsch freigestellt haben, hat mit der Versuchung Oswalds nur das gemein, daß aufgrund eines Versprechens, dessen letzte Konsequenz man nicht absieht, die eigene Frau hingegeben wird. Dasselbe gilt auch gegenüber der 'Parallele' im >Dankbaren Totem, nur daß dieses Märchen der Situation im >Oswald< insofern nähersteht, als die Forderung nach der Einlösung des Versprechens nur eine Prüfung darstellt. Sehr viel engere Berührung aber zeigt die Versuchung Oswalds mit einer Gruppe buddhistischer Legenden, die eine bis zum äußersten getriebene Freigebigkeit zum Thema haben. Das bekannteste Beispiel ist das >Vessantara-JätakaTheaitetosLachen wider den TodHeldensage und Märchen< und >Heldensage und Mythos< bei VON SEE 1971, S. 23ff. bzw. 31ff. Beispielhaft für die Gegenpositionen etwa: DE VRIES 1954; SCHRÖDER. F. R. 1955/1961. 7 Vgl. jetzt die differenzierte, kritisch weiterführende Darstellung der Sachlage durch FROMM 1974.

6

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Die Durchschlagskraft des Heuslerschen Modells beruht auf einem - man gestatte den etwas überzogenen Ausdruck - methodischen Trick, der sich die besondere Überlieferungslage der germanisch-deutschen Heldensage zunutze macht: Es sind uns bekanntlich auf der einen Seite neben indirekten Zeugnissen nur späte Trümmer eines völkerwanderungszeitlichen Heldenliedes und auf der andern das heroische Großepos des 12./13. Jahrhunderts überliefert. Heusler beschreibt beides, Lied und Epos, als idealtypische Formen. Was das Heldenlied betrifft, so lassen sich die frühen Trümmer idealtypisch stilisieren, wenn man geschickt verfährt und dabei die nordischen Ausläufer eklektisch nützt. Wieder nur in Stichworten skizziert, ergibt sich für dieses Lied folgende Charakteristik: gedrängte Episode, dramatische Zuspitzung über den Dialog, menschlicher Konflikt mit heroischer Lösung, d. h. in der Regel tragisches Zerbrechen der Protagonisten an der Ausweglosigkeit widersprüchlicher Notwendigkeiten. Demgegenüber kann das heroische Epos als reiner Typus nur Postulat sein, denn die überlieferten Großformen haben es nirgendwo vermocht, die einfacheren heroischen Stufen durchgängig und restlos in neue Konzeptionen einzuschmelzen. Dieser Schwierigkeit wird dadurch begegnet, daß man die Hilfskonstruktion der spielmännischen Zwischenstufe einschaltet: Was einerseits nicht mehr heroisch im Sinne der alten Tradition ist und das, was anderseits sich gegen die Integration in die neue episch-heroische Konzeption sperrt, das sind unbewältigte Reste einer frühmittelalterlichen Zwischenphase, in der das einfache Lied aufgeweicht, mit Novellen- und Märchenstoffen durchsetzt und sentimentalisiert worden ist. Zum einen wird also aus den Trümmern der frühen Tradition der Idealtypus eines völkerwanderungszeitlichen Heldenliedes herausdestilliert. Zum andern wird das Großepos in der Perspektive eines neuen reinen Typus gesehen, wobei man das, was aus der Linie fällt, einer so gut wie unkontrollierbaren spielmännischen Zwischenstufe zuschiebt. Es versteht sich, daß eine solche methodische Mechanik beinahe unfehlbar funktionieren mußte und daß Detailkritik hier nicht anzugreifen, sondern immer nur im Sinne des Modells zu verbessern vermochte. Als Konsequenz aus dieser Sachlage ergibt sich, daß eine Auseinandersetzung mit Heusler, die eine Erfolgschance haben will, nur prinzipieller Natur sein kann und als solche über eine Kritik der literaturtheoretischen Vorentscheidungen laufen muß. Der Angelpunkt des Heuslerschen Modells ist die Prämisse der literarischen Autonomie der heroischen Dichtung. Sie schlägt sich in allen drei Axiomen nieder, indem sie diese prinzipiell vom Nichtliterarischen, von der Geschichte wie von anderen literarischen Typen absetzt und zugleich die Form der Überlieferung und Weiterentwicklung präjudiziell. Hinsichtlich des ersten Axioms wird man diese Prämisse der literarischen Autonomie sicherlich nicht in Frage stellen wollen, wenn man darunter schlicht das Literarische als Realitätssphäre sui generis versteht. Die Prämisse wird aber dann problematisch, wenn sie eine ästhetische Position meint, die das Kunstwerk soweit isoliert, daß es aus seinem dialektischen Verhältnis zur geschichtlichen Wirklichkeit gelöst wird. Bei einer Kritik dieser Prämisse kann es nicht darum gehen, die Heldendichtung - im Sinne etwa von Otto Höfler oder Karl Hauck - funktional zu interpretieren, mythisch-rituell oder familiengenealogisch, denn eine solche Interpretation setzt die prinzipiell dialektische Form der Genesis der Heldensage schon voraus. Dies im besonderen zu begründen dürfte sich erübrigen, denn es geht ja dabei nur darum, Prinzipien, die heute eine literaturtheoretische Selbstverständlichkeit darstel279

len, auch im Bereich der Heldenepik anzuwenden. Konkret hat die Analyse an den zwei entscheidenden Stellen anzusetzen, einmal bei jenem Prozeß, der zur Entstehung des heroischen Liedes führt, und zum andern bei jener Verwandlung der Liedtradition, in der sich das heroische Großepos herausbildet. Ich versuche, in beiden Fällen exemplarisch zu kritisieren.

I. Heldenlied und Geschichte Als Paradebeispiel für die Ablösung der Heldensage von der Geschichte, für die Transformation eines politischen Konflikts in eine private Auseinandersetzung von allgemein menschlicher Gültigkeit, ist immer wieder die Swanhildsage herangezogen worden.8 Offensichtlich ostgotischen Ursprungs, ist die Sage zuerst bei Jordanes bezeugt. Er berichtet, daß der Stamm der Rosomonen von Ermanarich abgefallen sei. Ermanarich habe sich dadurch gerächt, daß er Sonilda, die Frau eines Rosomonenfürsten, von wilden Pferden zerreißen ließ. Ihre Brüder, Ammius und Sarus, hätten darauf den König so schwer verwundet, daß er dahinsiechte und beim Einfall der Hunnen nicht in der Lage gewesen sei, sein Reich zu verteidigen.9 Diese gotische Sage findet sich, entstellt, wieder in den Quedlinburger Annalen um das Jahr 1000. Hier ist davon die Rede, daß drei Brüder, Hemidus, Serila und Adaccarus, den Tod ihres Vaters an Ermanricus rächen, indem sie diesem Hände und Füße abschlagen und ihn dann töten.10 In Skandinavien erscheint die Sage in einer ganzen Reihe von Varianten. Svanhild ist zur Frau des Ermanarich/Jörmunrekk geworden. Sie soll ihren Mann mit ihrem Stiefsohn Randver betrogen haben, worauf Jörmunrekk beide töten läßt. Die Brüder Svanhilds, Hamdir und Sörli, werden von ihrer Mutter angetrieben, die Schwester zu rächen. Die Mutter rät, auch Erp, einen dritten, aber unscheinbaren und unebenbürtigen Bruder, als Helfer mitzunehmen. Hamdir und Sörli treffen mit dem dritten Bruder zusammen, sie fragen ihn höhnisch, wie er ihnen denn helfen wolle. Er antwortet: so wie eine Hand der andern und wie ein Fuß dem andern. Die Brüder mißverstehen diese Antwort als Anmaßung und töten ihn. Sie dringen dann bei Jörmunrekk ein; es gelingt ihnen auch, dem König Hände und Füße abzuhauen, es fehlt ihnen aber der dritte Bruder, der dem König den Kopf hätte abschlagen sollen. So kann Jörmunrekk den Befehl geben, die Brüder, die gegen Eisen gefeit sind, zu steinigen. Sie sterben in der Erkenntnis, daß sie sich mit der Ermordung Erps selbst zugrunde gerichtet haben.11 Man kann zwar den Jordanesbericht von den Rosomonen und ihrem Abfall historisch nicht verifizieren, aber es ist wohl denkbar, daß sich in der Swanhildsage ein politischer Konflikt aus der Zeit der Zerstörung des Gotenreiches durch die Hunnen 8

SCHNEIDER 1962, S. 247f.; VON SEE 1971, S. 61ff.

"MGH auct. ant. V 1, XXIV, S. 129f. 10 MGH ss. III, S. 31, 21-23; vgl. HOLTZMANN, R. 1925/1962, S. 223. "Vorzügliche Darstellungen der überaus komplexen nordischen Tradition der Swanhildsage bieten: VON SEE 1967 und DRONKE, U. 1969, S. 159ff.

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niedergeschlagen hat. Es dürften, angesichts der drohenden Gefahr, Teile der im Gotenreich vereinigten Stämme zu den Hunnen übergegangen sein, und Ermanarich mag dafür an Sippenangehörigen, die ihm erreichbar waren, Rache genommen haben. Es scheint möglich, daß dies im Bericht von Swanhild und ihren Brüdern als sagenhafter Einzelfall weitergereicht worden ist.12 Dabei hat man den historisch-politischen Verrat der Rosomonen zum privaten ehelichen Verrat der Ermanarichgattin umformuliert. Ein internationales Wandermotiv, die Liebe zum Stiefsohn, ist zur Motivation herangezogen worden, die Intrige wurde durch die Figur des verleumderischen Ratgebers dramatisch weiter zugespitzt, und schließlich entwickelte sich aus dem auffälligen, aber nicht weiter erklärten Zug, daß die rächenden Brüder den König nicht töten, sondern nur verstümmeln, ein neuer Motivstrang: mit Hilfe des Märchens von der mißverstandenen Antwort suchte man zu begründen, weshalb die Racheaktion der Brüder nicht vollständig gelingen konnte. Diese Sage von Swanhild und der Rache ihrer Brüder illustriert auf das vorzüglichste das Heuslersche Modell: die Verwandlung des Historisch-Politischen ins Private und allgemein Menschliche liegt offen zutage. Sekundäre Einflüsse novellistischer und märchenhafter Art spielen bei diesem Prozeß eine bedeutsame Rolle, und am Ende stehen die sentimentalisierende Aufweichung und die Verlagerung der Akzente auf das Unerhörte und Interessante. Doch diese gängige Modellinterpretation der Swanhildsage ist nicht so unanfechtbar, wie es scheint. Eine Überprüfung der Materialien zeigt, daß sie nur solange überzeugend ist, als man die Daten in der Heuslerschen Perspektive heranzieht und arrangiert. Es gibt eine Reihe von frühen Reichsuntergangssagen, die sich in auffälliger Weise mit dem zentralen Motivkomplex der Swanhildsage berühren. Obschon Alexander Haggerty Krappe bereits 1923 darauf hingewiesen hat,13 wurden diese Parallelen von der Forschung so gut wie nicht zur Kenntnis genommen: Prokop berichtet in seiner Geschichte der Vandalenkriege über das Ende der Herrschaft Valentinians II. folgendes: Valentinian vergeht sich an der Frau des römischen Senators Maximus. Dieser beherrscht seinen Zorn, bringt den Kaiser aber dahin, Aetius, seinen besten Feldherrn, zu töten. So ist denn Valentinian, als die Hunnen in Italien einfallen, dem Feind schutzlos preisgegeben.14 Dieselbe Sage findet sich auch verbunden mit dem Untergang des Westgotenreiches in Spanien. Rodrick, der letzte Westgotenkönig, vergewaltigt die Frau oder, nach einer anderen Fassung, die Tochter seines besten Ratgebers Julian. Als dieser davon erfährt, 12

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Dieser Auffassung, daß der Bericht des Jordanes im wesentlichen auf historischer Grundlage beruhe, ist bis in die neuere Zeit kaum widersprochen worden. Am entschiedensten hat dann wohl LUKMAN 1949 eine Gegenposition bezogen. Er sah im Bericht des Jordanes eine Fiktion, um die Ermordung Sunigildas, der Frau Odoakers, durch Theoderich zu verschleiern. ANDERSSON 1963, S. 29f., hat diese These überzeugend zurückgewiesen. Er selbst verstand den Jordanes-Bericht als eine historiographische Uminterpretation der ostgotischen Niederlage gegenüber den Hunnen: man habe versucht, diese Niederlage in Anlehnung an den Mettius Fufetius-Verrat bei Livius, statt eigenem Versagen, dem Abfall der Rosomonen zuzuschreiben. Vgl. auch Anm. 21 und 22. DRONKE, U. 1969, S. 194f., kommt zum Schluß, es sei nicht auszumachen, ob es sich beim Jordanes-Bericht um Geschichte oder Fiktion handle. KRAPPE 1923.

Prokop, >Vandalenkriege< I, 4, 17ff.; VEH 1971, S. 34ff.

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verstellt er sich und führt den Fall des Reiches dadurch herbei, daß er entweder dem König verhängnisvolle Ratschläge gibt oder im kritischen Augenblick offen zum Feind übergeht.15 Das erinnert an die Fassung der Ermanarichsage im Anhang des Heldenbuches: Ermentrich vergeht sich an der Frau seines Ratgebers, der der getrüw Sibich genannt wurde, und dieser nimmt sich vor, nun der ungetrüw Sibich zu werden.16 Die Version der Thidrekssaga deckt sich im wesentlichen damit.17 Es gibt eine Reihe weiterer Varianten dieser Geschichte.18 Ihr Kernmotiv ist selbstverständlich universal von David und Bathseba über Lucretia bis Emilia Galotti. Spezifisch aber und damit Kriterium für den literarhistorischen Zusammenhang sind die Verstellung des betrogenen Mannes und der verräterische Rat, der dazu führt, daß der König dem äußeren Feind schließlich schutzlos ausgeliefert ist. Es handelt sich offenbar um ein literarisches Muster, das immer wieder herangezogen wurde, um den Zerfall einer Herrschaft und den Untergang eines Reiches darzustellen: ein Herrscher wird verraten, weil er sich und die Seinen zuerst selbst verraten hat. Der äußere Untergang beruht auf innerer Selbstzerstörung. Diese Selbstzerstörung wird in der Sage als Selbstverstümmelung symbolisch-konkret umgesetzt, und zwar bald metaphorisch und bald real. Nachdem Valentinian seinen Feldherrn Aetius hat umbringen lassen, fragt er einen seiner Leute, ob er damit klug gehandelt habe. Die Antwort lautet: Ob klug oder nicht, könne er nicht sagen, „doch darüber bestehe für ihn völlige Klarheit, daß der Herrscher seine rechte Hand mit der linken abgeschlagen habe".19 Es findet sich also bei Prokop im Zusammenhang einer Variante zu Ermanarichs Ende schon jene Handmetapher, die dann, als positiver Vergleich formuliert, in der nordischen Hamdirsage eine zentrale Rolle spielen sollte: Erp erklärt, er wolle seinen Brüdern helfen, so wie eine Hand der andern und ein Fuß dem andern.20 Bei Jordanes wird die Verstümmelung real genommen, es gelingt den Swanhildbrüdern, Ermanarich schwer zu verwunden, so daß er hilflos dahinsiecht. In den Quedlinburger Annalen taucht dann wiederum konkret das Motiv von den abgeschlagenen Händen und Füßen auf. Es ist auch im Norden da. Wiederum schlagen die Brüder Jörmunrekk Hände und Füße ab, aber es erscheint, wie gesagt, zuvor schon metaphorisch in der rätselhaften Antwort des dritten Bruders. Als literarhistorische Interpretation bietet sich an: das Motiv des Mißerfolgs aufgrund von Selbstverrat und Selbstverstümmelung ist gedoppelt worden, es wird ein zweites Mal verwendet, um das Versagen der Rächer zu erklären. Es gab also ein bestimmtes literarisches Muster, das eingesetzt werden konnte, wenn es darum ging, den äußeren Untergang eines Reiches vom innern, moralischen Zusammenbruch seines Herrschers her verständlich zu machen. Beim Ende Valentinians und Rodricks ist dieses Muster deutlich zu fassen. Die Swanhildsage bei Jordanes konnte entweder eine Notiz eines tatsächlichen geschichtlichen Vorgangs oder ein Bruchstück 15

KRAPPE 1923, S. 7f. "VON KELLER 1867, S. 8.

" VON BERTELSEN 1908/11, S. 158ff.; ERICHSEN 1924, S. 312ff. 18

KRAPPE 1923, S. lOff.

" V E H 1971, S. 36/37. 20 Zu diesem Motiv vgl. REUSCHEL 1939; DRONKE, U. 1969, S. 196ff. 282

des allgemeinen Musters sein. 21 Wie immer man sich hier auch entscheiden mag, zweifellos ist die Sage von Ermanarichs Ende früher oder später unter den Einfluß des Musters geraten. Im Anhang des Heldenbuches ist es mit sämtlichen Hauptmotiven da. Man kann somit sagen, daß das literarische-Schema in gewisser Weise das Primäre sei. Es wird, wenn eine bestimmte historische Konstellation dies nahelegt, zu deren Darstellung herangezogen. Man wird dies aber nicht als Transposition historischer Fakten im Sinne einer literarischen Ablösung interpretieren dürfen, der Vorgang ist vielmehr als Formulierung historischer Erfahrung aufgrund von bereitstehenden Motivationsmustern zu verstehen. 22 Der Ausgangspunkt der Sagenbildung wäre also nicht, wie Heusler meinte, in dem Sinne die Geschichte, daß sich die Heldendichtung in einem Prozeß der enthistorisierenden Literarisierung von ihr entfernen würde, sondern es gäbe demnach im Ursprung zwei Pole, die Geschichte auf der einen und das literarische Schema auf der anderen Seite. Ist das richtig, so heißt das: Heroische Epik konstituiert sich dadurch, daß historische Erfahrung mittels literarischer Schemata zu sich selbst kommt. Die weitere Entwicklung ist dann durch diesen doppelten Ansatz geprägt. Einerseits: die originäre historische Erfahrung kann in der Form der Sage tradiert werden, und zwar bald mehr, bald weniger konzentriert. Es kommt unter diesem Aspekt auf den entscheidenden Punkt an, von dem aus die Darstellung der Erfahrung erfolgt - im Falle der Swanhildsage z. B. auf die Selbstverstümmelung als Begründung des Reichsuntergangs. Es ist somit möglich, daß die historische Erfahrung bei der Weitergabe auf das zentrale Motiv, auf ein Symbol desselben, auf eine Metapher einschrumpft: der verstümmelte König. 23 Auf der anderen Seite beginnt der literarische Charakter des Klischees seine Wirkung auszuüben, d. h., je mehr man seiner Eigengesetzlichkeit nachgibt, um so mehr werden die literarischen Möglichkeiten des Schemas ausgespielt; es sucht sich sozusagen in der Variation die erzählerisch optimale Form. 24 Die historische Entwicklung braucht dabei keineswegs einlinig zum einen oder zum andern Pol hinzutendieren, sondern die beiden Perspektiven können immer wieder neu sich einander zuordnen, sich überkreuzen, sich gegenseitig zurückdrängen usw. Das, was bei Heusler als spielmännische Zwischenstufe erscheint, ist also eine Möglichkeit, die von Anfang an dadurch präsent ist, daß vorgeprägte literarische Schemata im Spiele sind, 21

HOLLANDER 1962 erwägt die Möglichkeit, daß Jordanes die persönlichen Motivationen der Fabel gestrichen und seinen Bericht somit sekundär politisiert haben könnte - ein Gedanke, der sich übrigens schon bei WESLE 1922, S. 248f., findet. Doch solche Überlegungen von der Hypothese aus, daß Jordanes nicht den ersten Schritt von der Geschichte zur Heldensage getan, sondern eine schon entwickelte gotische Sage historisch reduziert habe, bleiben in der Forschung vereinzelt. 22 Dieser Vorgang deckt sich auch nicht mit jener Uberformung, die ANDERSSON 1963 als historiographische Uminterpretation charakterisiert hat. Es handelt sich nicht um ein erklärendentschuldigendes Retuschieren der Fakten aufgrund literarischer Vorbilder, sondern um ein Bemühen, die inneren Gründe historischer Prozesse zu verstehen. Daß Theodore A. Andersson hier zu kurz greift, zeigt sich darin, daß er die Rolle der Sunilda von der Livius-Parallele her nicht zu fassen vermag. Daß in Hinblick auf die spezifische Form des Rachemotivs literarischer Einfluß im Spiele sein kann (vgl. ANDERSSON 1963, S. 37ff.), soll damit nicht bestritten werden. 23 Als eine solche Reduktionsform könnte man etwa auch den Ausdruck 'Der arme Dietrich' ansehen; vgl. KUHN, Hugo 1968/1969[bJ, S. 134 und 139. 34 Zur optimalen Form als Zielform vgl. LÜTHI 1967.

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die ihre eigenen Gesetzlichkeiten zur Wirkung bringen, und d. h., daß in dieser Perspektive die Gattungsgrenze prinzipiell durchlässig ist. Es ergibt sich somit, daß durch den doppelten Ansatz sowohl das erste wie das zweite Heuslersche Axiom aufgehoben wird. 25

II. Lied u n d E p o s Die Geschichte der germanisch-deutschen Heldensage ist im Rahmen der Spannung zu sehen und zu interpretieren, die sich aus ihrem doppelten Ansatz ergibt. Auf der einen Seite wird die historische Erfahrung weitergegeben, sagenhaft, mit der Möglichkeit zur Konzentration auf Grundzüge, auf Symbole oder deren Abbreviaturen. Auf der andern Seite öffnen sich die heroischen Stoffe über ihre Literarizität der freien Variation, mit Ausweitungen und Querverbindungen in den verschiedensten Richtungen. Eine bestimmte literarische Entwicklungslinie wird man der Bewegung in diesem Spannungsfeld nicht von vornherein unterstellen dürfen. Die Bewegung erscheint vielmehr sozusagen geschichtslos, d. h., sie pendelt je nach der historischen und literarischen Situation bald mehr zum einen und bald mehr zum anderen Pol hin, ja es ist damit zu rechnen, daß beide Möglichkeiten auch immer wieder gleichzeitig nebeneinander realisiert worden sind. Wenn sich aber aufgrund dieser Sachlage keine bestimmte Entwicklungstendenz abzeichnet, so stellt sich die Frage, wie unter solchen Bedingungen der Schritt zur epischen Großform erfolgen konnte. Formal gesehen scheint der Weg geklärt: es sind im Laufe der Forschungsgeschichte bekanntlich zwei Theorien in die Debatte gebracht worden. Zunächst die sog. Liedertheorie durch Karl Lachmann, d. h. die Theorie einer Entstehung des Großepos durch Addition von Einzelliedern. Heusler hat diese Theorie widerlegt und an ihre Stelle die These von der Anschwellung oder Aufschwellung gesetzt; danach enthält das Einzellied die ganze heroische Fabel in nuce, das Epos faltet sie aus diesem Kern aus. 26 Wenn man dies akzeptiert, braucht man jedoch nicht auszuschließen, daß bei der Entstehung von Großformen auch Stoffkombinationen und Materialklitterungen eine Rolle spielen können. Heusler selbst hat in seiner Nibelungenliedinterpretation mit dieser Möglichkeit gerechnet. Gerade im Hinblick auf den heroisch-historischen Pol der Heldensagentradition besitzt die Stoffkombinatorik aber noch eine besondere BeEs wäre, um den Modellcharakter des Swanhild-Beispiels zu erweisen, eine gewisse Anzahl von Parallelfällen beizubringen. Da jeder Fall aber eine eigene Untersuchung erforderte, ist dies hier nicht zu leisten. Es sei jedoch auf meine Analyse der Dietrichsage verwiesen, die seinerzeit schon in die Richtung der vorliegenden Studie ging: HAUG, W. 1971 [a]. Auch Hugo Kuhns Interpretation des Hildebrandliedes in der Perspektive der Dietrich-Heimkehrsage ließe sich im Prinzip anschließen: KUHN, Hugo 1946/1969 [b]. Im übrigen bietet die Nibelungentradition eine Reihe von Schemata, bei denen Funktionsanalysen analoge Ergebnisse erbringen dürften; es wäre etwa an die eigentümliche Konstellation zu denken, die dem Motivkomplex des Hallenkampfes zugrundeliegt und die u. a. in der Finnsburgsage und im Mabinogi von Branwen wiederbegegnet: die historisch-genetische Verknüpfung, die WAIS 1953, insbes. Kap. IV und IX, versuchte, wäre durch eine strukturell-funktionale Betrachtungsweise zu ersetzen. Vgl. jetzt HAUG, W. 1981 [a] [in diesem Band, S. 308-325]. LACHMANN, K. 1816/1876; HEUSLER 1956 [a].

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deutung. Die Forschung hat nicht übersehen, daß mit der zeitlichen Distanz zu den historischen Ansätzen der Heldensage durch Zusammenschau der Einzelerfahrungen eine neue Form des historischen Bewußtseins entsteht. Es ist das Bewußtsein von einer vergangenen Epoche, in der die in Frage stehenden Erfahrungen gemacht worden sind. Sachlich gesehen bildet sich dabei ein Repertoire von Sagen heraus, die alle einem bestimmten Zeitraum, einem Heroic Age, angehören und die sich in diesem Zeitraum ineinanderzuschieben beginnen. 27 Das Ergebnis sind eigentümliche ahistorische Synchronien: Theoderich als Zeitgenosse Attilas usw. Darin manifestiert sich die diesem historischen Bewußtsein innewohnende integrierende Kraft; die Einzelerfahrung wird in ein heroisch-historisches Gesamtbewußtsein eingebettet. Es hat durchaus auch die Fähigkeit, Stoffe, die in literarischer Variation angereichert worden sind, ja literarisch gewuchert haben, wiederum rückzubinden, sie neu im historischen Bewußtsein zu verankern. Anschwellung und Kombinatorik betreffen in Heuslers Theorie jedoch in erster Linie die technisch-formale Seite des Problems. Das wird deutlich, wenn man sich in Erinnerung ruft, in welcher Weise er sich die Entwicklung zu einem hypothetischen Swanhildepos vorgestellt hat: 1. äventiure 'Von Swanhilde': Die Königstochter von unvergleichlicher Schönheit p. p. wächst auf unter der Pflege ihrer Mutter und an der Seite ihrer drei heldenhaften Brüder. 2. äv. 'Von Ermenriche': Der mächtige König hat viele Lande unter sich und viele edle Hofmannen, darunter den bösen Ratgeber. Dessen Arglist wird begründet. 3. äv. 'Wie künec Ermenrich nach Swanhilde sande': Die Gemahlin des Herrschers ist erstorben, man rät ihm zu einer neuen Ehe, weist ihn auf Swanhild. Ermenrich schickt seinen Sohn und den Ratgeber mit herrlichem Gefolge aus, sie legen die Reise zurück, bringen die Werbung vor; diese wird nach manchen Bedenken der ahnungsvollen Mutter angenommen. 4. äv.: Fahrt der Swanhild ins Gotenland; der Ratgeber stiftet die zwei Jungen zur Buhlschaft auf. 5. äv. 'Wie Ermenrich mit Swanhilde brüte'. 6. äv.: Der Ratgeber beschuldigt Swanhild und den Königssohn des Ehebruchs. 7. äv.: Ermenrich läßt seinen Sohn hängen. 8. äv.: Ermenrich läßt Swanhild von Rossen zerstampfen. 9. äv.: Die Nachricht von der Tat kommt in Swanhildens Heimat. So hätte unser Epiker im Nibelungen- oder Kudrunstile leicht 500 Strophen verbraucht, bis er auch nur an die Schwelle des alten Liedgrundrisses gelangt wäre. . . . [Die] kurzen Auftritte des alten Heldenliedes wären unter seiner Hand aufgequollen zu einer langen äventiurenreihe: er hätte durchweg den kriegerischen und den höfischen Apparat vermehrt, hätte Nebenfiguren erfunden, die große Kampfszene in eine Folge von Angriffs- und Verteidigungsauftritten aufgelöst, hätte das Schicksal des bösen Ratgebers zum Austrag gebracht u. a. m. Der embryonale Keim der Swanhildsage besaß alle Eigenschaften, um zu einem langen und gar nicht etwa gehaltmagern Epos auszuwachsen.2* So vorzüglich damit die Technik zur Anschauung gebracht ist, anhand derer ein solches „Aufquellen" oder „Auswachsen" des Liedes zum Epos zustande kommt, so wenig kann der literarhistorische Vorgang von daher verstanden, d. h. in seinem Ursprung begründet und in seinem inneren Ziel begriffen werden. Ja, es besteht die Gefahr, daß durch die organischen Metaphern, die Heusler für den Prozeß verwendet, die falsche und von ihm selbst auch keineswegs vertretene - Vorstellung einer kontinuierlichen Entwicklung aus innerer Gesetzlichkeit entsteht. Jedenfalls bleibt die Deskription der 27 n

VON SEE 1971, S. 9ff. HEUSLER 1956 [aj, S. 31 f.

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Phänomene, die die Anschwellung kennzeichnen, dem Vorgang solange äußerlich, als man nicht nach dem Prinzip fragt, unter dem es zur Verwandlung des Typus gekommen ist. Es genügt also nicht festzustellen, daß das Epos gegenüber dem Lied durch eine größere Breite der Schilderung, mehr Details, reicheres Personal, differenziertere Figurenzeichnung, durch eine Vermehrung des „kriegerischen und . . . höfischen Apparats)" charakterisiert ist, sondern entscheidend ist, daß diese Ausweitung Materialien neuer Art einfließen läßt: die Anschwellung schafft Raum für den Einbruch der gegenwärtigen Wirklichkeit, in der Erzähler und Hörer stehen. Es kommt beim Übergang zum Epos also zwangsläufig dazu, daß sich die Gegenwart in der heroischen Welt „breit macht". Dies jedoch muß zu einer Auseinandersetzung mit dem historischen Bewußtsein drängen, das sich in dem durch die kombinatorische Tradition hindurchgegangenen heroischen Stoff präsentiert. Es ist somit die Reflexion auf das historischheroische Bewußtsein, in der jene prinzipielle Wende sich vollzieht, durch die die neue Entwicklungsstufe erreicht wird. Allein durch eine solche Reflexion läßt sich eine epische Großform begründen, die mehr ist als ein nur stofflich breitgetretenes Lied. Es versteht sich von selbst, daß die literarhistorische Entwicklung nicht zwangsläufig zu diesem Schritt hinführt, sondern daß bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein müssen, insbesondere die, daß die einschießende Gegenwart mit der Welt der heroischen Tradition entscheidend kontrastiert. Andernfalls kann es tatsächlich zu einer großen Form als bloßer stofflicher Ausweitung des kurzen Typus kommen. Es stellt sich die Frage, ob sich in der germanisch-deutschen Heldensage der Übergang vom Lied zum Epos unter dem Gesichtspunkt einer solchen prinzipiellen Wende literarhistorisch fassen läßt. Wir stehen beim Versuch, eine Antwort zu geben, vor der Schwierigkeit der großen Überlieferungslücke zwischen den Liedtrümmern der Frühzeit und dem ausgebildeten Großepos um 1200. Besteht überhaupt die Möglichkeit, einen Blick auf die epischen Wandlungen der Zwischenzeit zu tun? Die, soweit ich sehe, einzige Chance bietet der >WalthariusWaltharius< einer Reihe schwer lösbarer Probleme gegenüber29: I, Es wird zwar heute kaum mehr bezweifelt, daß dem >Waltharius< eine vulgärsprachliche Walthersage zugrunde liegt.30 Die altenglischen >WaldereWaltharius< nicht gegeben habe, ist unter den verschiedensten Aspekten vorgegangen worden. Die These darf heute als widerlegt gelten. Vgl. LANGOSCH 1973, S. lff286

gespräch, läßt eher auf ein Lied schließen. Andere Momente zeigen jedoch, daß es nicht dem ganz knappen, gedrungenen Typ angehört haben kann. Aber selbst wenn sich diese Frage klar entscheiden ließe, wäre damit noch nichts über die direkte Vorlage des lateinischen Gedichtes ausgesagt. 31 2. Der >Waltharius< geht schließlich in einer grotesken Schlußszene versöhnlich aus. Die altenglischen Fragmente erlauben keine Entscheidung darüber, ob einmal eine tragische Variante bestanden hat, ja ob der tragische Ausgang ursprünglich dem Stoff eigentümlich war. Man neigt eher dazu, auch dem altenglischen Gedicht einen versöhnlichen Ausgang zuzuschreiben. 32 3. Wir vermögen kaum etwas über den Ursprung der Walthersage auszumachen. Es ist kein konkreter historischer Ansatz faßbar. Die Sage könnte als relativ späte Klitterung geschaffen worden sein. Anderseits ist die Möglichkeit nicht auszuschließen, daß es sich um eine alte westgotische Heimkehrsage handelt. Eigentümliche, noch zu wenig untersuchte verwandte spanisch-französische Motivkomplexe deuten vielleicht auf eine aquitanische Basis.33 Trotz dieser Schwierigkeiten läßt sich soviel festhalten: eine Klitterung verschiedenartiger Motivkomplexe, ein Zusammenspiel mehrerer epischer Schemata sind nicht zu verkennen. Eine Fluchtsage, vielleicht in der Nähe der Hilde-Tradition, erscheint als stoffliche Grundlage. 34 Die Heimkehrsage mit dem Überfall auf den Schatz ist damit kombiniert. Der goldgierige Günther ist schwerlich anders denn als Replik auf den goldgierigen Attila der Nibelungentradition auf der Stufe des alten Atliliedes denkbar. 35 Die Walthersage, wie sie uns vorliegt, ist also offenkundig durch ein Stadium literarischer Variation und Kombinatorik hindurchgegangen. Wenn ein historischer Ansatz im Sinne einer heroisch-historischen Erfahrung da war, so ist er verschüttet worden. Trotzdem ist auch diese Sage von der heldenepischen Tradition gehalten, möglicherweise ist sie gerade durch die Anknüpfung an die Burgundensage im Sinne des heroisch-historischen Bewußtseins rückgebunden und aktualisiert worden. Die lateinische Fassung könnte dann eine Antwort auf diese Aktualisierung sein; sie wäre als Auseinandersetzung mit dem in der Walthersage wirkenden heroisch-historischen Be31

Vgl. LANGOSCH 1973, S. 8ff.; weitere Literaturhinweise: Anm. 36. "Vgl. LANGOSCH 1973, S. 10. So schon HEUSLER 1935/1943; anders zuletzt KUHN, Hans 1963/1971.

" MENENDEZ PIDAL 1956, S. 41 ff.; ENTWISTLE 1969, S. 97, 177. 34

Die ältere Forschung hat, wenn auch nicht unwidersprochen, verschiedentlich versucht, die Walthersage an die Hildesage anzuschließen, nachdrücklich z. B. schon BEER 1889; dann BOER 1908, S. 47ff.; ablehnend u. a. KROES 1955, S. 79. Man dürfte heute eher, insbesondere nach der Studie VAN DER LEES 1959, dazu neigen, die allgemeinere Schematik der Brautraub- und Werbungssagen stärker in Rechnung zu stellen. Vor diesem Hintergrund müssen anderseits auch die mehr oder weniger konstruierten Orient-Bezüge, die HAUG, A. 1965 in die Diskussion gebracht hat, unnötig erscheinen. 35 So schwierig es ist, den literarhistorischen Stellenwert dieser Berührung zu bestimmen, so offenkundig ist es. daß eine Wechselwirkung zwischen der Walther- und der Nibelungensage stattgefunden hat. Die Burgundensage muß, wie der >Waldere< zeigt, schon auf einer Vorstufe der überlieferten Fassungen eingewirkt haben; das auf uns gekommene Nibelungenepos nimmt dann explizit wiederum auf die Walthersage Bezug. Darüber ist öfter gehandelt worden, z. B. von DROGE 1910; in überzogener Form: NECKEL 1921, S. 213ff.; im Sinne einer unter dem Einfluß der Burgundensage abgewandelten Fluchtsage: KROES 1955, S. 79ff., insbes. S. 84. 287

wußtsein zu verstehen. Es sei im folgenden versucht, diese Interpretationshypothese am Text zu überprüfen: 1. Walther und Hildegund fliehen vom hunnischen Hof, an den sie im Zusammenhang mit einem Überfall Attilas auf Westeuropa vergeiselt worden waren. Die Handlung lehnt sich an das Schema der Flucht- oder Brautraubsage an. Doch die charakteristischen Motive dieses Schemas werden nur angespielt und dann sofort wieder fallengelassen; die auffälligsten Beispiele: Walther kehrt als hunnischer Feldherr siegreich aus einem Kampf an Attilas Hof zurück. Merkwürdigerweise findet sich niemand zur Begrüßung ein. Er geht in den Palast, er trifft hier Hildegund allein, und das ergibt die Gelegenheit, die gemeinsame Flucht zu besprechen. Dahinter steht ein Motiv der Brautwerbungssage: Der fremde Held verschafft sich durch kämpferische Großtaten Zugang zur Königstochter - so noch im Nibelungenlied. Oder: Walther verlangt von Hildegund, daß sie u. a. Helm und Brünne des Königs aus der Waffenkammer stehle. Da Walther als Attilas Feldherr zweifellos eine vorzügliche Ausrüstung besitzt, m u ß es mit den Waffen des Königs etwas Besonderes auf sich haben. Doch der Ansatz bleibt blind. Im übrigen würde man unter den geraubten Stücken auch ein Schwert erwarten, und es scheint das Motiv des schicksalhaften Schwertes dann im späteren Kampf auch tatsächlich noch anzuklingen: ein Blick auf den >Waldere< macht deutlich, daß es in der Walthersage einmal eine zentrale Rolle gespielt hat. 36 Oder: Walther veranstaltet für den Hunnenhof ein großes Gelage. Er nützt dann die allgemeine Trunkenheit, u m mit Hildegund zu fliehen. M a n nimmt ein Pferd mit; es trägt aber den Schatz, Walther und Hildegund gehen zu Fuß. Weshalb Walther als mächtiger Feldherr und bei der allgemeinen Trunkenheit des Hofes nicht in der Lage ist, drei Pferde zu stehlen, ist nicht ersichtlich. Die Flucht auf dem einen, wiederum besonderen Pferd gehört zum Schema. 37 36

Die Einzelheiten sind aufgrund der fragmentarischen Überlieferung des >Waldere< umstritten. In Frgm. A wird Waldere, wohl von Hildeguth, versichert, daß er sich auf den Mimming in seiner Hand verlassen könne. In Frgm. B behauptet jemand - Hagen, Guthere oder gar Waldere? -, daß das beste Schwert ort stänfcete (in einer Steintruhe?) verborgen liege. Solange über die Reihenfolge der beiden Fragmente und die Zuordnung der Dialogstücke keine Einigung erzielt ist, bleibt auch die Kontroverse um die Schwerter undurchsichtig. Offenkundig aber ist in jedem Fall, daß dem besonderen Schwert eine entscheidende Funktion zukommt, wobei vermutlich eine Rolle spielt, daß jemand sich über den Verbleib der besten Waffe täuscht. Die Forschung ist zuletzt - z. T. in etwas spekulativer Weise - von SCHWAB 1967, S. 129ff., aufgearbeitet worden. Aus der Zahl der Untersuchungen zum >Waldere< seien nur einige wenige Arbeiten genannt, die als repräsentativ für die verschiedenen Positionen hinsichtlich der zentralen Fragen gelten können: LEITZMANN 1917; SCHÜCKING 1925/26; WOLFF 1925; MILLER

37

1941; Eis 1960, S. 102ff.; vgl. ferner: LANGOSCH 1971, S. 241ff. Vgl. SCHNEIDER 1925. Es kann freilich nicht darum gehen, den Ritt auf dem einen Pferd philologisch-kunstvoll auch für den >Waltharius< wahrscheinlich zu machen, sondern man hat der Tatsache Rechnung zu tragen, daß das Motiv hier so gut wie völlig verdunkelt ist. Demgegenüber ist es in der Thidrekssaga und in der polnischen Walthersage noch greifbar (vgl. SCHNEIDER, ebd., S. 109). Daß es für die Brautraub-Fluchtsage von zentraler Bedeutung ist, braucht kaum belegt zu werden; vgl. z. B. die - möglicherweise mit der Walthersage verwandten - Gaiferos-Romanzen (Lit.: Anm. 33).

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Oder: Als Attila am nächsten Morgen entdeckt, daß Walther und Hildegund geflohen sind, läßt er einen ganzen Tag mit Schimpfen und Jammern vergehen, bevor er sich entschließt, etwas zu tun. Und dann findet sich unter seinen Kriegern keiner, der bereit wäre, die Verfolgung aufzunehmen. Wozu der ganze Aufwand für die Flucht, wenn Walther soviel Furcht einzuflößen vermag, daß es doch niemand wagt, ihm zu folgen? Der ganze Motivkomplex gehört in den Zusammenhang einer Fluchtsage, die den Verfolgungskampf kannte. Die Beispiele ließen sich vermehren. Bezeichnend ist, daß ein bestimmtes literarisches Schema wachgerufen und zugleich zerstört wird, indem man seine zentralen Motive um ihre erzählerische Logik bringt. 2. Am Rhein werden Walther und Hildegund von den Burgunden überfallen. Günther verlangt den hunnischen Schatz, den die Flüchtigen mit sich führen. Dahinter steht einerseits die Heimkehrsage, anderseits aber mußte die Gier Günthers nach dem hunnischen Gold die Burgundensage mit dem Anschlag Attilas auf den Burgundenhort evozieren. Doch es erscheint nicht nur die Figurenkonstellation umgedreht, sondern das zentrale heroische Motiv zeigt sich in einer eigentümlichen Verwandlung. Im Gold, im Hort, konzentriert sich als konkretem Symbol das Moment der königlichen Macht, der Glanz der Herrschaft.38 Der Hort ist unteilbar. Als Günther Walther überfällt, bietet dieser ihm einen Teil des Schatzes an, ja, er ist bereit zu handeln: er erhöht nach der Ablehnung sein Angebot. Das ist entweder eine völlige Verkennung oder eine bewußte Verzerrung des heroischen Motivs. Man stelle sich nur Günther im Schlangenhof vor, der Atli den Vorschlag machen würde, den Hort zu teilen!39 Aus dem Gold als Symbol der Königsmacht ist Geld, kommerzialisierbares Kapital geworden. Thematisiert findet sich diese Umdeutung in der großen Avaritia-Arie Hagens, die pointiert im Höhepunkt des Kampfes eingeschoben wird. Das den Überfall Günthers auslösende Moment ist ursprünglich das Goldstück, mit dem Walther den Fährmann am Rhein bezahlt. Im Glanz dieses einen Goldstücks spiegelt sich der Schatz und das, was er bedeutet. Es geht davon eine Faszination von heroischer Unbedingtheit aus: die Konfrontation, der Kampf um den Hort, folgt einer inneren Gesetzlichkeit, die Bewährung in königlicher Herrschaft bedeutet. Das Goldstück für den Fährmann ist nicht nur erzähllogische Motivation, sondern Anstoß aus der zentralen Thematik heraus. Der >WalthariusWaltharius< sind in dem Sinne als Selbstverstümmelungen anzusehen, daß Walther und Hagen sie sich als Freunde gegenseitig beibringen. Zugleich aber hebt gerade die Gegenseitigkeit das traditionelle Motiv aus den Angeln, d. h., wieder wird ein symbolisches Motiv quantitativ umformuliert, der Schaden wird teilbar, er wird sozusagen auf die verschiedenen Personen aufgeteilt, und er kann, nachdem er seine Symbolik damit eingebüßt hat, komisch erscheinen. Der Dichter selbst schlägt in seinem Kommentar zu den Verstümmelungen bedeutsam den Bogen: Sic sie armillas partiti sunt Avarenses! (1404) 41

42

LANGOSCH 1971, S. 257.

Die Sorgfalt, mit der insbesondere dieser Motivzusammenhang durchgeführt erscheint, ist verschiedentlich vermerkt worden, freilich ohne daß man dies zu den erzählerischen Widersprüchen in einer tieferen Schicht in Beziehung gesetzt hätte; siehe z. B. BRINKMANN 1928/1966, S. 143.

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Man wird nicht annehmen wollen, daß der >WalthariusWalthariusKönig Rothen, oder es kommt zum Verfolgungskampf, in dem der Held mehr oder weniger deutlich durch den Tod hindurchgeht: z. B. in der Hildesage.28 Komplementär dazu das Gegenparadigma: man sieht sich selbst einer Werbung von außen konfrontiert, man gibt - mehr oder weniger gezwungen - eine Frau der eigenen Familie in die Fremde, und dieses Sich-dem-Fremden-Anheimgeben übt dann gleichsam einen Sog aus, dem man widersteht oder dem man verfällt oder den man untergehend aufhebt. Als Beispiel das Mabinogi von Branwen29: Vier Männer sitzen auf einem Felsen und schauen aufs Meer hinaus: König Vran von Wales, sein Bruder Manawydan und zwei Halbbrüder, ein guter und ein böser, Nisien und Efnisien. Sie sehen dreizehn Schiffe heransegeln, die Flotte des irischen Königs. Er wirbt um Branwen, Vrans und Manawydans Schwester. Man hält Rat und gibt der Werbung statt. Efnisien aber, der nicht gefragt worden ist, schneidet den Pferden der Iren Lippen, Ohren und Schwänze ab. Die Gäste, zornvoll und beleidigt, wollen heimfahren, aber Vran kann sie versöhnen, indem er ihnen kostbare Geschenke macht, unter anderm gibt er ihnen einen Wunderkessel, in dem Tote wieder lebendig werden, wenn man sie hineinwirft. Die Iren ziehen mit Branwen heim. Sie macht sich unter ihnen durch Freigebigkeit beliebt; ein Sohn kommt zur Welt. Doch nach 25

Vgl. HAUG.W. 1979 [c] [in diesem Band, S. 364-376]. Vgl. KUHN, Hugo 1968/1969 [b]. 27 Vgl. VON SEE 1971, S. 121, 128. Zu den ikonographischen Querbeziehungen des Motivs siehe 26

28

PLOSS 1966, S. 86ff.

Zum Brautwerbungsschema und seinen Motiven grundlegend: FRINGS/BRAUN 1944/48; GEISSLER 1955. Zur literarischen Weiterentwicklung des Schemas in der mhd. 'Spielmannsdichtung': CURSCHMANN

29

1964.

JON ES/JON ES 1949, S. 25-40. zu den Textausgaben und weiteren Übersetzungen vgl. die Bibliographie S. XXXIV.

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einiger Zeit beginnt man zu murren, man erinnert sich der Beleidigung, die man in Wales erlitten hat. Branwen wird verstoßen und erniedrigt, sie muß Küchendienste tun und erhält vom Metzger jeden Tag einen Schlag ins Gesicht. In dieser Not schickt sie ihren Brüdern einen gezähmten Staren zu mit einem Brief. Die Waliser sammeln ein Heer. Man fährt nach Irland hinüber, wobei Vran, den wegen seiner ungeheuren Größe kein Schiff tragen kann, neben der Flotte herwatet. Beobachter in Irland melden, daß ein Wald über das Meer daherkäme, ferner ein Berg mit einer Klippe und auf beiden Seiten der Klippe ein See. Niemand kann sich das erklären; man befragt Branwen, und sie sagt, der Wald, das seien die Masten der walisischen Flotte, der Berg sei Vran, die Klippe seine Nase, die beiden Seen seine Augen. Die Iren ziehen sich erschreckt über einen Fluß zurück und brechen die Brükke ab, aber Vran legt sich über den Fluß, und die Waliser marschieren über ihn hinweg. Da bieten die Iren Frieden an: ihr König ist bereit, zugunsten des Branwensohnes abzudanken; im übrigen verspricht er, eine Halle zu bauen, in der selbst der riesenhafte Vran Platz finden kann. Die Waliser sind einverstanden. Die Halle wird gebaut, aber die Iren hängen an jede der 100 Säulen einen Sack, in dem ein Krieger versteckt ist. Doch Efnisien betritt die Halle als erster, geht von Sack zu Sack und quetscht alle 100 Krieger tot. Dann ziehen die übrigen ein. Das Fest beginnt; Branwens Sohn wird zum König gemacht. Das Kind geht von einem der Gäste zum andern, aber es läßt Efnisien aus; da packt er das Kind und wirft es ins Feuer. Man greift zu den Waffen. Es kommt zu einer blutigen Saalschlacht, in der die Waliser überlegen sind. Doch am Abend werfen die Iren ihre Toten in den Wunderkessel, und am nächsten Morgen sind sie alle wieder lebendig. Da legt sich Efnisien unter die erschlagenen Iren, er wird mit in den Kessel geworfen; er sprengt ihn, indem er sich streckt, aber sein Herz zerbirst ihm dabei. Die Waliser siegen schließlich, aber nur sieben von ihnen sind übrig geblieben. Vran, von einem vergifteten Speer am Fuß verwundet, befiehlt, daß man ihm den Kopf abschlage und ihn auf dem Weißen Berg von London begrabe. So kehren sie denn zurück, die sieben Krieger, Branwen und der Kopf. Doch unterwegs bricht Branwen das Herz bei dem Gedanken, daß ihretwegen zwei Länder menschenleer geworden sind. Die Berührungen zwischen dem Mabinogi von Branwen und der Nibelungensage sind so auffällig, daß man verschiedentlich eine literarhistorische Beziehung erwogen hat, zuletzt Wais, der das Mabinogi durch ein ausgeklügeltes Netz von Motiventsprechungen in die Nibelungentradition hineinzuknüpfen versuchte.30 Ich nehme >Branwen< als Beleg für die Existenz eines Strukturmusters, über das man bestimmte historische Erfahrungen verstehen und darstellen konnte. Ich nenne es das Muster der invertierten Brautwerbung: Königliche Brüder vermählen ihre Schwester einem fremden Herrscher, dies, obgleich einer von ihnen warnt und dagegen agiert. Man gibt dem Druck der Fremden nach und sichert den Frieden, auf Zeit jedoch nur, denn der Konflikt wird virulent, als die Schwester ein Kind bekommt und dieses Kind ein gewisses Alter erreicht, das Alter 30

WAIS 1953, S. 105ff. - Die Frage der Verwandtschaft ist aber auch nach Wais kontrovers geblieben. Während z. B. Cola Minis in seiner Rezension, Romanisüb. 6 (1953/54), S. 212, die Wais'schen Ausführungen zum Verhältnis zwischen Branwen und dem Nibelungenlied „als die sichersten Teile des Buches" ansieht, vermag Heinrich Hempel, Euphorion 50 (1956), S. 118, zwischen den beiden Werken „keine überzeugenden Ähnlichkeiten" zu erkennen. 315

anscheinend, in dem es herrschaftsfähig wird. Jetzt bringt der fremde König seinen Anspruch zur Geltung, er fordert die Brüder heraus. Diese erscheinen im Land der Schwester. Einen Augenblick bleiben die Gegensätze in gespannter Schwebe, es scheint eine Möglichkeit zum Ausgleich zu geben, doch es ist eine Gegenkraft da, verkörpert in dem einen Bruder, der sich gegen die Versöhnung und die Selbstaufgabe stellt: er erschlägt das Kind. Es kommt zum Kampf in der Festhalle. Die Brüder gehen unter, doch sie bewahren ihre Identität, symbolisiert durch das Herrschaftssymbol: die Burgunden verweigern den Hort, Efnisien sprengt den Wunderkessel. 31 Dieses Schema scheint alteuropäisch im Wais'schen Sinne zu sein. Den frühesten Beleg bietet der >Finnsburgkampf< aus dem 8. Jahrhundert. Wenngleich hier im einzelnen vieles dunkel bleibt, ist doch die charakteristische Konstellation nicht zu verkennen: Der Däne Hnaef mit seinen Leuten bei der Schwester Hildburg und deren Mann Finn auf der friesischen Finnsburg, des Nachts ein Überfall auf die Gäste, ein fünf Tage währender Kampf. Der dänische König und viele seiner Leute fallen. Dabei ist auch von einem Sohn Hildburgs die Rede, der ums Leben kommt. Aus dem >Beowulf< läßt sich ergänzen, daß man einen Waffenstillstand schließt, der dann aber von den Dänen gebrochen wird. Dann fällt auch Finn, und Hildburg kehrt am Ende mit den überlebenden Landsleuten in die Heimat zurück. 32 Es ist unnötig, den alten Streit über die Möglichkeit eines sagenstemmatischen Zusammenhangs zwischen der Finnsburgsage und dem Nibelungenlied wieder aufzurühren. 33 Zur Darstellung des Untergangs der Dänen im Kampf mit den Friesen ist m. E. das Schema der invertierten Brautwerbung ebenso herangezogen worden, wie es der erste Dichter des Burgundenliedes verwendet hat, um die historische Niederlage Gundaharis und seiner Brüder zu fassen, zu deuten, zu bewältigen. Im Norden ist dieser ursprüngliche politische Aspekt des Burgundenuntergangs bewahrt worden, aber die Atlakvida hat das Schema auf die betrügerisch-fatale Einladung, d. h. auf einen unmittelbaren Machtkampf, verkürzt. Das Motiv des Kindes fehlt, genauer: man hat es umgeformt und in die selbstmörderische Racheaktion der Schwester hineingenommen. Diese Rache ist als nordische Zutat anzusehen, denn die Frau bleibt im ursprünglichen Schema weitgehend passiv. Ist das richtig, so muß eine gängige Meinung revidiert werden: Heusler und andere haben bekanntlich angenom51

Anders als Wais sehe ich also im Kessel das dem Hort entsprechende Herrschaftssymbol. Es handelt sich zwar um ein Motiv, das ursprünglich in andere Zusammenhänge gehörte, aber, ins Schema der invertierten Brautwerbung hereingezogen, eine neue Funktion übernommen hat, wobei es zum Teil das bewahrte, was es aus eigener Tradition mitbrachte. MAC CANA 1958 versucht, als Basis des Mabinogi eine irische Sage von einer Jenseitsfahrt nach einem Wunderkessel plausibel zu machen: Man habe an die Stelle der Queste nach dem Kessel die Fahrt nach Branwen gesetzt, die man dann neu motivieren mußte, so daß das ursprüngliche Handlungsschema auseinandergebrochen sei. Dabei schreibt Proinsias Mac Cana freilich einen so großen Teil des Motivbestandes jener hypothetischen irischen Jenseitsfahrt zu, daß für die Figur der Branwen kaum noch eigener Erzählstoff übrig bleibt. Man kommt den Tatsachen wohl näher, wenn man davon ausgeht, daß die beteiligten Traditionen nicht einfach kontaminiert worden sind, sondern daß sie sich überlagert haben, und dies gerade deshalb, weil es zwischen ihnen Analogien gab, die zu einer Verschmelzung einluden. 32 Vgl. die Analyse von SCHNEIDER 1934, S. 52ff. 33 Die ältere Literatur ebd., S. 65; inzwischen: WAIS 1953, S. 171 ff. Hermann Schneiders eigene Position: S. 57; neuerdings von einem etwas anders gefaßten narrativen Grundriß aus und in der Perspektive der Oral Poetry-Theorie: ANDERSON 1980. 316

men, daß das Burgundenlied den Untergang Gundaharis und der Seinen motivierend mit dem Tod Attilas an der Seite eines germanischen Kebsweibes namens Hildico verschmolzen habe.34 Man sah sich zu dieser These einerseits im Blick auf das Alte Atlilied berechtigt, anderseits bot sie allein eine Erklärung dafür, daß sich der Burgundenuntergang in der Sage gegen die historischen Tatsachen nicht am Rhein, sondern am Etzelhof abspielt. Diese Konstruktion dürfte unnötig sein. Der Name 'Hildico' hat nichts mit 'Kriemhild' zu tun.35 Die Schwester war ursprünglich keine Rächerin. Die Verlagerung der Ereignisse an den Etzelhof hängt am Strukturmuster. Der politische Aspekt ist auf dem Weg zum Nibelungenlied verdunkelt worden, doch hat es mit der Thidrekssaga das Motiv des Kindes als konfliktauslösendes Moment bewahrt. Freilich ist, da die politische Bedeutung ausfiel, sein ursprünglicher Sinn verloren gegangen. Das Kind wird in der Thidrekssaga, nicht sonderlich geschickt, für einen Provokationsakt Kriemhilds eingesetzt: sie bringt den Jungen dazu, Hagen einen Fausthieb zu verpassen, worauf Hagen ihn tötet. Das Nibelungenlied hat neu motiviert, ohne alle Spuren seiner Vorstufe zu tilgen, die das Kind in einer Rolle gezeigt haben muß, die jener in der Thidrekssaga zumindest ähnlich gewesen sein dürfte36 - das bekannte Relikt: Hagens Schlag gegen Ortliebs Erzieher.37 Jedenfalls blieb, wenn auch in veränderter Funktion, der Motivkern der alten dramatischen Peripetie erhalten: der 'böse' Bruder ermordet das Kind. Soweit einige vorläufige Hinweise darauf, wie sich die nibelungischen Zeugnisse darstellen, wenn man davon ausgeht, daß das Burgundenlied die historische Niederlage Gundaharis und seiner Brüder auf das Schema der invertierten Brautwerbung gebracht hat. - Ich gehe zum Sigfrid-Brünhild-Komplex über.

IV Trotz vieler Bemühungen ist eine historisch-politische Basis für den 1. Teil des Nibelungenliedes bisher nicht sicher nachgewiesen. Möglich, daß de Boor recht hat und Sigfrid ein merowingischer Recke war, der sich am Burgundenhof eine bedrohliche Machtposition aufbaute und deshalb beseitigt wurde.38 Wie immer dem sei, festzuhalten ist, daß in diesem Komplex kein genuines historisches Konzept durchschlägt. Dagegen muß auffallen, daß, wie immer die geschichtlichen Fakten ausgesehen haben mögen, die Geschehnisse um Sigfrids Tod in eigentümlicher Weise an das Struktur34

35

HEUSLER 1955, S. 25, und so immer noch bei BARTSCH/DE BOOR 1972, S. XXIV.

SCHRAMM 1965 hat darauf aufmerksam gemacht, daß es nicht angeht, Ildico als Koseform von Kriemhilt aufzufassen (S. 39-47). 36 Heusler nimmt an, daß der Backenstreich in der >Älteren Not< gestanden hat; hingegen mag er eine solch derbe Motivierung für die Ermordung des Kindes nicht schon der 2. Stufe des Burgundenliedes zutrauen: HEUSLER 1955, S. 39, 99f. bzw. S. 31; zur Umgestaltung im Nibelungenlied: S. lOOf. 37 Vgl. auch Str. 1912; dazu HEUSLER 1955, S. 102. 38 Vgl. die Arbeiten von DE BOOR 1939/1961 und BEYSCHLAG 1952/1961. Anders KUHN, Hugo 1953, S. 9ff.; ferner ROSENFELD 1977, der mit einer mehrschichtig überlagerten Basis rechnet. Elemente ganz anderer Art - die sog. Jungsigfridabenteuer -, die früh eingeflossen sind, mögen zur Verdunkelung der historischen Wurzel beigetragen haben. 317

schema des Burgundenuntergangs angelehnt worden sind: Sigfrid erscheint als fremder Königssohn am Hof Günthers. Er wirbt um Kriemhild und gewinnt sie in dessen Dienst - ein Dienst, der zugleich Machtdemonstration ist. Dann kehrt er, dem Schema gemäß, mit seiner Frau ins eigene Land zurück. Es kommt zu einer zeitlichen Zäsur, mit der die Interpreten im allgemeinen wenig anzufangen wußten und die denn auch nicht nur in den gelehrten Rekonstruktionen des Sigfrid-Brünhild-Liedes gewöhnlich unterschlagen wird, sondern schon in der Thidrekssaga unterdrückt worden ist. Das ist ein Mißverständnis, denn dem Strukturmuster gemäß kann der Konflikt erst virulent werden, wenn in der Ferne ein Sohn geboren ist und ein gewisses Alter erreicht hat. So vergehen nach Sigfrids Heimkehr im Nibelungenlied zehn Jahre, bis die Handlung wieder einsetzt. Doch die Art und Weise, wie dies dann geschieht, bringt eine Überraschung: die verräterische Einladung erfolgt nicht, wie man erwarten müßte, durch die Niederländer, sondern durch die Burgunden. Man hat also den Sigfridstoff dem Burgundenuntergang vorangestellt und ihn dabei an dessen Strukturmuster angeglichen, doch nur bis zum kritischen Punkt, um dann den Schluß dezidiert gegen dieses Muster ablaufen zu lassen. Oder von den Burgunden aus formuliert: Günther und seine Brüder lassen sich sozusagen auf das Schema der invertierten Brautwerbung ein, doch drehen sie im entscheidenden Augenblick den Spieß um, indem sie das Motiv der verräterischen Einladung an sich ziehen: es gelingt ihnen, die Gefahr von sich abzuwenden, Sigfrid zu töten und mit ihm ursprünglich, wie die alten Fassungen es mehr oder weniger deutlich belegen, das Kind, das er - anders als im Nibelungenlied mitgebracht haben muß. 3 9 Hagens bisher nicht befriedigend gedeutetes Wort: Suln wir gouche ziehen? (867,1) besitzt, auf den Sigfridsohn gemünzt, seinen guten Sinn, es signalisiert noch den Angelpunkt des alten Schemas. 40 Soweit wir die Sigfridsage zurückverfolgen können, steht sie immer schon irgendwie in Verbindung mit dem Burgundenuntergang, so bereits im >BrotWaltharius< gehört wohl in die zweite Hälfte des 10. Jahrhunderts; über seine mutmaßliche volksläufige Vorstufe ist nichts Sicheres auszumachen; die Datierung der >WaldereHerzog Ernst< erinnert. Aber es ist auch nicht undenkbar, daß die Umarbeitung in die karolingische Zeit zurückreicht. In der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts liefe sie parallel mit der Chanson de geste-Literatur, in der das Vasallenthema bekanntlich eine zentrale Rolle spielt. Die Einwirkung französischer Vorbilder ist in jedem Fall nicht unwahrscheinlich. 53

sich aus Sippentreue dazu gezwungen sah. Doch weshalb sollte Hagen Walther überhaupt verfolgen, wenn er nicht bereit war einzugreifen? Man kann sich des Eindrucks schwer erwehren, daß Regeniter partout den angeblich typischen tragischen Konflikt des germanischen Heldenliedes in die Walther-Urfabel einbringen wollte. Es ergibt sich ein sehr viel zwangloseres Entwicklungsbild, wenn man den Treuekonflikt Hagens der Stufe der Nibelungisierung zurechnet. 50 Wie der Günther des >Waltharius< die Züge des nibelungischen Etzel angenommen hat - ohne freilich seinen ursprünglichen Charakter, seine Verzagtheit, ganz abzulegen -, so leiht der nibetungische Günther dieser Stufe dem Hunnenkönig des >Waltharius< seine Mutlosigkeit und Schwäche. 51 Ob die eigen man-Fiktion Sigfrids nicht ebenfalls in den Zusammenhang dieser Entwicklungsstufe gehören könnte, wäre wohl eine Überlegung wert. Dem echten und ernsten Vasallenbewußtsein Hagens stünde dann das gespielte Vasallentum Sigfrids gegenüber. "SCHWAB 1967, S. 247ff. 53

WOLF, A. 1981 rechnet damit, daß die Umgestaltung der Nibelungensage von der Vasallenthematik her unter französischem Einfluß erfolgte. Die Wilhelmsepik, die als Vorbild in Frage kommt, reicht ins frühe 9. Jahrhundert zurück. Alois Wolf hält einen entsprechenden französisch-deutschen Kontakt für durchaus denkbar (S. 228). - Wenn dieser zeitliche Ansatz richtig ist, so müßte dies unter Berücksichtigung der Kontrafaktur in der Walthersage bedeuten, daß die Übertragung der Hauptrolle von Etzel auf Kriemhild im 2. Teil im 9. Jahrhundert noch nicht erfolgt war oder sich noch nicht allgemein durchgesetzt hatte. Damit aber würde man mit Heuslers These, daß der Rollentausch durch das positive oberdeutsche Etzelbild ausgelöst worden sei, in einen gewissen Widerspruch geraten, denn der Nibelungenstoff ist schon im 8. Jahrhundert in Bayern nachweisbar; vgl. WENSKUS 1973. Jedenfalls ist damit zu rechnen, daß es in Oberdeutschland längere Zeit unterschiedliche Etzelbilder nebeneinander gegeben hat schließlich ist auch der mehr oder weniger blamable Etzel der Walthersage neben dem positiven Etzelbild des Dietrich-Komplexes toleriert worden. Das stützt meine Auffassung, daß der Rollentausch eher als ein genuin erzählerischer Schachzug anzusehen ist.

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VI Ich komme zur letzten Stufe, zur Umformung zum schriftlichen Großepos. Auch diesen Übergang wird man nicht einfach als Ergebnis eines innerliterarischen Prozesses Anschwellung, Psychologisierung, Ausschmückung, Höfisierung usw. - verstehen dürfen. Das Entscheidende liegt vielmehr darin, daß das Gegeneinander von literarischpsychologischer Motivierung und historisch-politischer Schematik nun thematisiert wird.54 Der erste Teil des Nibelungenliedes zeigt hinter dem menschlichen Drama die nicht mehr faßbare, nicht mehr verstehbare Mechanik des alten Schemas. Auf der Oberfläche lassen sich die Probleme nach höfisch-diplomatischen Spielregeln lösen oder aufheben. Trotzdem macht das heroische Schema seine unerbittliche Gesetzlichkeit geltend: Sigfrid wird ermordet, ohne daß völlig begreiflich würde, wie es geschehen konnte. Denn Brünhild vermag das, was man ihr angetan hat, nirgendwo wirklich festzumachen. Günther gibt dem Mordplan schließlich stillschweigend nach; weshalb, wird nicht klar. So bleibt alles am Ende an Hagen hängen, der seine Vasallenrolle weiterspielt: er argumentiert von der überkommenen Konstellation her, aber die Argumente stimmen nicht mehr. Man muß also in ihm so etwas wie den Repräsentanten des alten Strukturmusters sehen, das noch gegenwärtig ist und wirkt, obschon ihm der Boden entzogen ist. Insbesondere im 2. Teil tritt Hagen programmatisch gegen die individualistisch-psychologische Umdrehung der Perspektive an, ja er inszeniert den Untergang geradezu nach dem traditionellen Muster, er setzt ihn gegen die persönlich gerichtete Racheaktion Kriemhilds durch und verschafft sich damit einen grandiosheroischen Abgang. Es beginnt damit, daß er sich zum Sigfridmord mit der traditionellen Richtergeste bekennt (1783ff.), d. h., indem er Sigfrids Schwert über die Knie legt, provoziert er Kriemhild persönlich in rückhaltloser Offenheit, zugleich dürfte jedoch für die Zuhörer die gewohnte Symbolik der Geste noch mitgeklungen haben: indem Hagen sich das Richteramt anmaßt, rechtfertigt er seine Tat staatspolitisch. - Als Kriemhild dann ihr Kind hereinbringen läßt, bemerkt er, daß ihm kein langes Leben beschieden sein werde (1918,3); er wartet nur auf einen Anlaß, um es umzubringen, und dieser wird dann auch prompt geliefert. Dabei ist zu beachten, daß er Etzels Wunsch, die Burgunden möchten Ortlieb zur Erziehung mit sich an den Rhein nehmen, damit er ihnen einmal ein tapferer Helfer werde, ins Zweideutige wendet: man sol mich sehen selten / ze hove nach Ortliebe gän (1918,4), das kann formelhaft meinen, daß er nicht damit rechne, Ortlieb am Burgundenhof zu begegnen, ze hove gän nach . . . kann aber auch in einem spezifischen Sinn verstanden werden, und dann bedeutet der Vers, daß Hagen nicht bereit ist, einem Hof zur Verfügung zu stehen, an dem Ortlieb herrscht55 - so, als ob hinter Etzels Wunsch noch die dem alten Schema entsprechende Herrschaftsforderung stünde! Und schließlich bringt es Hagen sogar dahin, daß Kriemhild in seine 54

Zum Folgenden vgl. HAUG, W. 1974 [b] [in diesem Band, S. 293-307]. "Vgl. de Boors Kommentar zu v. 148,4 (BARTSCH/DE BOOR 1972): „ze hofe gän bedeutet das offizielle Auftreten vor fürstlichen Personen." Wie in 148,4 Gernot durch den Ausdruck ze hofe gän in seiner Position hervorgheoben wird, so impliziert die entsprechende Formulierung Hagens eine künftige übergeordnete Position Ortliebs. 323

Perspektive einschwenkt: er zwingt sie zur Hortforderung; diese bietet die einzige Chance für sie, Hagen auf seiner Ebene zu schlagen: ginge er darauf ein, würde er sich selbst verraten, und Kriemhild hätte gesiegt. Ein hoffnungsloser Versuch selbstverständlich, denn Hagen erhält gerade dadurch die Gelegenheit, die Handlung mit dem im epischen Muster vorgegebenen Triumph zu krönen, während Kriemhilds persönliche Aktion nicht greifen kann, sondern ins Leere geht: sie zerstört sich innerlich selbst. Das ist Hagens Regie. Das Strukturmuster der Heldendichtung und das Bewußtsein, daß sie über dieses Muster geschichtliche Wirklichkeit darstellt und deutet, sind mit der heroischen Gattungstradition um 1200 in gewisser Weise noch präsent und aktualisierbar, wenngleich das Muster vor der neuen, der höfischen Welt in die bloße Gattungsgesetzlichkeit zurücktritt, um von daher jedoch zugleich die höfisch-individualistische Position zu provozieren. Was das literaturgeschichtlich bedeutet, wird noch offenkundiger, wenn man sich vergegenwärtigt, daß zur selben Zeit mit dem arthurischen Roman ein poetischer Typus sich durchsetzt, dessen Verständnis wesentlich über die Transparenz seines fiktionalen Schemas läuft. Im Nibelungenlied steht dieser durchsichtigen fiktionalen Struktur ein dichterischer Entwurf gegenüber, der sich zwar seiner Gattungstradition nach auf Faktisches bezieht, dessen Strukturmuster aber, über das dieser Bezug läuft, als unergründlich dargestellt wird. Dieser verdunkelte Blick auf die geschichtliche Wirklichkeit, ihre Unfaßbarkeit ist Folge der autonom entfalteten Erzählkunst innerhalb des Werkes und zugleich Antwort auf die autonom gewordene Erzählkunst außerhalb, im fiktiven Roman. Das Nibelungenlied interpretiert seine eigene Literatursituation mit. Es geht also letztlich nicht um die Konzeption des Dichters oder der Dichter des Nibelungenliedes, sondern um eine bestimmte literarhistorische Konstellation. Diese entwirft sozusagen aus ihrer Problematik heraus, aus dem heraus, was an Tradition und Neuerung widersprüchlich in ihr zusammenwirkt, die Regeln, nach denen mit den vorgegebenen Materialien, mit den Figuren und Bauplänen, eine epische Handlung durchgespielt wird. Das Ergebnis läßt sich nicht als Konzept fassen, sondern nur als erregendes poetisches Experiment beschreiben. Ich will meinen Modellversuch hiermit abbrechen. Nur eine Schlußbemerkung noch: Die vorstehenden Überlegungen mögen in manchen Einzelheiten Widerspruch herausfordern, und es werden zweifellos da und dort Korrekturen notwendig sein. Entscheidend freilich ist, ob die wissenschaftsgeschichtliche Situationsanalyse und die Folgerungen, die ich aus ihr gezogen habe, zu überzeugen vermögen. Man kann bei Heusler bleiben, indem man vor den nicht haltbaren literaturtheoretischen Implikationen seines Modells die Augen schließt. Oder man kann die Vorgeschichte der mittelhochdeutschen Heldenepik in den diffusen Bezirk der Oral Poetry-Theorie verweisen, d. h. auf die Vorgeschichte entweder schlichtweg verzichten oder sie in einem Heroic Age komparatistisch einkapseln. Streicht man auf diese Weise die Geschichte, sieht man sich den Texten selbst gegenüber; doch eine Interpretation aus ihrer Zeit heraus ohne geschichtliche Tiefe muß grundsätzlich unzureichend ausfallen. Deshalb mein Neuansatz über die Frage nach der Erfahrungsstruktur, mit deren Hilfe das Heldenlied der ersten Stunde historische Fakten darzustellen und zu deuten suchte. Der zugleich damit anlaufende Literarisierungsprozeß ist dann in der Auseinandersetzung mit dieser Ausgangsbasis zu sehen, und zwar im Hinblick auf die erzählerische 324

Eigengesetzlichkeit einerseits und von der Möglichkeit zur politischen Neukonzeption her anderseits, bis hin zum Wendepunkt der großepischen Verschriftlichung, bei der im Nibelungenlied aus der Situation um 1200 heraus gerade dieses Gegeneinander zum neuen Thema wird. Es sei abschließend noch einmal betont, daß mein Ansatz hypothetisch sein will und nur hypothetisch sein kann. Er rechtfertigt sich allein durch das, was er interpretatorisch leistet, d. h. durch das Ausmaß, in dem er die literarhistorischen Gegebenheiten einsichtiger darzustellen vermag als die bisherigen Modelle. In ihren Prämissen ist meine Perspektive selbstverständlich der aktuellen literaturtheoretischen Diskussion verpflichtet. Im Grunde bietet deshalb die neue Sicht nichts weiter als die längst fällige Anpassung der Nibelungenliedinterpretation an diesen Diskussionsstand. Und sie wird sich mit diesem wiederum verändern müssen, um weitere, bislang abgedunkelte literarhistorische Dimensionen freizugeben. Dies impliziert auch die Überzeugung, daß bei einem als offenen hermeneutischen Prozeß verstandenen Interpretieren das nicht verloren geht, was unter den zurückgelassenen Perspektiven aufgeschlossen worden ist: es verändert nur seinen Stellenwert. Und so ist denn auch von der künftigen Forschung zu erwarten, ja zu fordern, daß sie dem, was das Heuslersche Modell geleistet hat, bei aller kritischen Relativierung stets mehr als ein nur wissenschaftsgeschichtliches Interesse entgegenbringt.

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Montage und Individualität im Nibelungenlied

Es gibt Regisseure, die bei der Inszenierung eines Theaterstücks von einer optischen Impression ausgehen, in der die Gesamtkonzeption visionär verdichtet schon präsent ist. So sagte Fritz Kortner, als er >Kabale und Liebe< inszenierte, daß ihm zunächst ein hohes französisches Fenster vor Augen gestanden habe mit einem langen, gelben Vorhang, der sich im Wind bewegte. Jürgen Fehlings Bildidee bei seiner Inszenierung von >Fräulein Julie< war ein Leiterwagen voller Flieder, auf dem das Liebespaar auf die Bühne gezogen werden sollte. Als einen derartigen 'Regieeinfall' könnte man es ansehen, wenn der Nibelungendichter bald nach dem Beginn des zweiten Teils ein Bild einblendet, das die Handlung visionär-doppelbödig auf ihr Ende hin transparent werden läßt; es steht am Anfang der 22. äventiure. Hier wird erzählt, daß sich die Völkerscharen aus den weiten Ebenen Osteuropas in Bewegung setzen, um Kriemhild, die die Werbung des verwitweten Hunnenkönigs angenommen hat, zu empfangen. Und dann heißt es: Der Staub von den pausenlos dahingaloppierenden Reiterscharen stand über dem Land wie der Rauch einer alles überziehenden Feuersbrunst. Die Staubwolken der Reiter, Zeichen des freudigen Aufbruchs, Zeichen der Hoffnung, daß ein riesiges Reich sich aus seiner Trauer erheben wird, Zeichen des Glücks, das man sich von der neuen Königin erwartet, sie werden im Vergleich durchsichtig auf das, was diese Königin tatsächlich bringen sollte: den Feuerbrand, der alles vernichten wird. Dieses kühn-visionäre Bild steht an keiner beliebigen Stelle, sondern es erscheint an einem Schlüsselpunkt des Geschehens: im Aufbruch der Völker des Etzelreiches - sie werden einzeln angeführt: Polen, Russen, Griechen, Wallachen, Petschenegen -, in diesem Aufbruch kulminiert ein Szenarium, das präzis-kunstvoll über zwei äventiuren hin, die 21. und die 22., angelegt ist. Die Kriemhild-Reise nach dem Osten ist inszeniert als ein eng gefügtes Ineinandergreifen von Begleitungen und Begegnungen, von Empfängen und Abschieden. Es ist auffällig, daß sich etwas Vergleichbares sonst nirgendwo im Nibelungenlied findet. Und doch hat man dem bisher nur wenig Interesse entgegengebracht: Andreas Heusler sprach abschätzig von „Heimatmalerei"!' Das ist nicht ganz unverständlich angesichts jener zahlreichen berühmten Szenen, die sich durch grandiose dramatische Aktion auszeichnen: die Konfrontation der Königinnen am Portal des Münsters - der erschlagene Sigfrid vor Kriemhilds Kemenate - Hagen mit dem Schwert auf den Knien. Die 21. und 22. äventiure sind ohne solche einprägsame Dramatik, und doch sind sie von einer untergründigen Spannung, die einem den Atem nimmt. Dies gerade deshalb, weil nichts Ungewöhnliches geschehen kann und soll auf dieser von Rüedeger so perfekt organisierten Fahrt: Beim Aufbruch von Worms ziehen zunächst die Burgunden mit, Giselher und Gernot mit tausend Mann, Gere, Ortwin und Rumold. Sie begleiten Kriemhild bis zum Donauübergang bei Ver1

HEUSLER 1955, S. 67.

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gen. Jenseits der Donau in Bayern reitet Bischof Pilgrim von Passau ihr entgegen, und die Stadt bietet dann einen glänzenden Empfang. Indessen bereitet man sich in Bechelaren schon auf Kriemhilds Ankunft vor; Rüedegers Gemahlin Gotelind ist benachrichtigt; sie kommt Kriemhild mit ihren Leuten bis zur Enns entgegen, wo man ein prächtiges Zeltlager für die Übernachtung aufschlägt. Am nächsten Tag erreicht man Rüedegers Residenz; Pilgrim und seine Leute ziehen mit, und von da noch weiter die Donau abwärts. Hier öffnet sich dann der Blick auf die Weiten des Etzelreiches, in dem sich auf die Nachricht vom Kommen der Burgunderin hin alles in Bewegung setzt. Und genau an dieser Stelle, vor der Begegnung mit Etzel, steht die faszinierendbeklemmende 'Regievision', Strophe B 1336: Si [Kriemhild] was ze Zeizenmüre unz an den vierden tac. diu motte üf der sträze die wile nie gelac, sine stübe, alsam ez brünne, allenthalben dan. da riten durch Österiche des kiinic Etzelen man.2 Und dann trifft Kriemhild auf den Hunnenkönig; er ist ihr mit seinen Völkerscharen bis nach Tulln entgegengeritten. Großartig-kunstvoll das Begrüßungszeremoniell. Es folgt der gemeinsame Ritt nach Wien, wo die Hochzeitsfeierlichkeiten stattfinden. 17 Tage. Dann geht es nach Misenburg, wo man sich einschifft. Und den Abschluß bildet der Empfang in Etzels Residenz. Das Auffällige an diesen beiden äventiuren ist die präzise Förmlichkeit, mit der der äußere Weg Kriemhilds nach Osten im Crescendo inszeniert und beschrieben wird: die sich ablösenden Begleitungen, die Verzahnung der Bewegungen im Wechsel zwischen Plan, Vorbereitung und Handlung, der wachsende Aufwand an Ausstattung und das immer größere Aufgebot an Statistenmassen. Und dabei läuft das alles, was Kriemhild betrifft, als fast wortloses Ritual ab. Der Text gibt nur eine einzige Rede Kriemhilds wieder, und diese ist auch nur eine konventionelle Dankesadresse an Gotelind. Es wird offenbar alles Gewicht darauf gelegt zu zeigen, in wie perfekter Weise sich Kriemhild dem Plan und Protokoll fügt, für die, wie gesagt, Rüedeger verantwortlich ist. Er bestimmt die Verhaltensformen bis in Einzelheiten hinein. Er sorgt für die gemäße Gestik; er sagt, wen Kriemhild von den Mannen Etzels mit Kuß zu begrüßen hat und wo eine distanzierte Form sich empfiehlt, usw. Kriemhild scheint also fast nur als Figur in dem vorgegebenen Szenarium zu fungieren. Und doch, gerade weil alles Subjektive so nachdrücklich ausgespart wird, meint man es kontinuierlich zu spüren. Es stellt sich gewissermaßen indirekt ein über die totale Selbstbeherrschung, mit der Kriemhild sich in die objektive Mechanik der Bewegungsabläufe fügt. Nur ein einziges Mal bricht das Untergründige für den Hörer direkt durch, und zwar, als das entscheidende Ziel erreicht ist, beim Hochzeitsfest in Wien. Hier bemerkt der Dichter (Str. B 1371): Kriemhild dachte an die Zeit, in der sie mit Sigfrid am Rhein beisammen war, und es kommen ihr die Tränen. Aber, so fügt er hinzu, sie weinte heimlich, so daß niemand es bemerkte. Aber Kriemhild spielt das vorgegebene Bewegungsritual nicht nur perfekt durch, sondern sie macht es zu ihrer eigenen Form. Indem sie von Etappe zu Etappe in ihre neue Rolle hineinwächst, beherrscht sie sie schließlich souverän. Wohlkalkuliert baut 2

Ich zitiere nach: BARTSCH/DE BOOR 1972.

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sie von Anfang an ihre Position auf. Am Ende der 22. äventiure wird angemerkt, daß sie nun an Macht die verstorbene Königin Helche übertreffe. Und dies eben dadurch, daß sie ihre herrscherlichen Funktionen in idealer Weise erfüllt. Am Etzelhof, so heißt es, sind tugent und ere wieder eingezogen. Form und Macht geben sich als vollkommene Einheit, und am Beginn der 23. äventiure wird schließlich festgestellt, daß Kriemhild dies 13 Jahre lang konsequent durchgehalten habe und daß sie nun ganz sicher sei, daß niemand mehr sich ihrem Willen widersetzen würde (Str. B 1391). Damit aber ist der Zeitpunkt gekommen, an dem sie ihren Racheplan ins Werk setzen kann. Eine längere Strophenfolge, B 1392 bis 1397, bringt zum erstenmal nach dem langen Aussparen alles Subjektiven das zur Sprache, was in Kriemhild vorgeht: sie erinnert sich an ihre Zeit im Nibelungenland, an die Ermordung Sigfrids, sie denkt an ihre Rache. Und hier fällt dann auch zum erstenmal das Wort välant in der berühmten Strophe B 1394: Ich wane der übel välant Kriemhilde daz geriet, daz si sich mit friuntschefte von Gunthere schiet, den si durch suone kuste in Burgonden lant. Ich übersetze im Sinne von Helmut Bracken und gegen Helmut de Boor: „Der Teufel muß, meine ich, es ihr geraten haben, sich in Freundschaft von Günther zu verabschieden, nachdem sie ihm den Versöhnungskuß gegeben hatte, im Burgundenland."3 De Boor verstand den Satz anders: „Der Teufel muß es ihr geraten haben, die Versöhnung mit Günther zu brechen."4 Aber das Teuflische kann nicht in einem solchen Friedensbruch bestanden haben - den hat sie ja auch gar nicht im Sinne; sie will nur Hagen töten -, teuflisch ist vielmehr, daß sie seinerzeit schon die Versöhnung strategisch auf ihren Racheplan hin angelegt hat.5 Die geheime Verhandlung mit Rüedeger bestätigt dies, in der sie ihn absichtsvoll verpflichtet, das, was man ihr antat oder antut, zu vergelten (Str. B 1255-58), und sie denkt dabei ausdrücklich an die Rache für den Sigfridmord (Str. B 1259). Der Racheplan ist also bei allem, was Kriemhild tut, durchgängig präsent: bei der Einwilligung zur Heirat mit Etzel, beim perfekten Rollenspiel in der neuen königlichen Funktion, beim Aufbau der Macht über 13 Jahre hin, wobei zweimal die Bemerkung fällt, daß es nun keinen Widerstand mehr gegen ihren Willen gebe. Was sich dabei nach außen hin als totales Sicheinfügen in eine vorgegebene Form darstellt, das wird somit letztlich dazu benützt, gerade das zu zerstören, wofür diese Form steht: die Versöhnung in höfischer Idealität. Doch niemals dringt die böse Absicht nach außen (Str. B 1399), nur heimlich weint Kriemhild immer wieder über den Verlust Sigfrids. Und scheinbar harmlos und selbstverständlich bringt sie schließlich Etzel dazu, die Burgunden ins Land zu laden. 3

BRACKERT 1970. - Gunthere ist übrigens von de Boor statt Giselhere in die B-Fassung eingesetzt. BARTSCH/DE BOOR 1972, Anm. zu v. 1394, 2: „mit friuntschefte schiet, in bezug auf ihre Freundschaft trennte, 'die Freundschaft aufsagte'". So auch KUHN, Hans 1965/1971/1976, S. 346. 5 Daß die Interpretation sich scheiden mit = „sich trennen in bezug auf" nicht zwingend ist, zeigen Wendungen im Nibelungenlied wie v. B 1327, 4: sich mit gruoze scheiden. Da mhd. mit doppeldeutig ist, muß vom Kontext her entschieden werden.

4

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So wird denn die höfische Form zum Trug, zum Deckmantel und Vehikel der Rache. Dies ist es, was sich hinter dem zeremoniellen Bewegungsspiel der 21. und 22. äventiure aufbaut und was deren distanzierter Objektivität, wenn man genauer hinhört, etwas so unheimlich Gespanntes gibt. Und dies ist es dann auch, was visionär in den Staubwolken der zum festlichen Empfang reitenden Völkerscharen aufscheint, den Staubwolken, die sich im Vergleich in den Rauch der alles verzehrenden Feuersbrunst verwandeln. Ohne diese beiden äventiuren wäre die Heirat mit Etzel nichts als ein listigheimtückisches Manöver, um Macht und Gelegenheit zu der verräterischen Einladung zu bekommen, eine List wie viele andere auch in der frühen Literatur. Dem gegenüber wird hier gezeigt, wie Kriemhild sich in eine Welt fügt und eine Welt trägt, die die Realisierung eines höchsten Ethos meint. Und wenn Kriemhild diese Welt dann zum Mittel ihrer Rache macht, so bedeutet das, daß sie damit das Sinngefüge des menschlichen Daseins überhaupt untergräbt. Damit eine solche Zwiespältigkeit aber denkbar und darstellbar wird, ist ein gegenüber der Tradition wesentlich verändertes Verhältnis zur Form vorauszusetzen. Denn wenn die Erfüllung des gesellschaftlichen Ethos, die Verwirklichung von tugent und ere zu einem Mittel wird, über das man verfügen kann, so impliziert dies eine Trennung zwischen dem Äußeren und dem Inneren, die Ablösung einer subjektiven Sphäre von der objektiven Form. Die Innensphäre wird zwar im Nibelungenlied zunächst fast nur als ausgesparter Raum manifest; aber sie ist da, und der Hörer füllt sie in seinem Bewußtsein von den Stellen her, an denen diese kaum faßbare Innerlichkeit doch ins Wort kommt, von Stellen her wie der zweideutigen Verpflichtung Rüedegers, den heimlichen Tränen bei der Hochzeit in Wien, dem Wort von der Macht, der gegenüber es keinen Widerstand mehr gibt, den Erinnerungen an Sigfrid und dann natürlich den Überlegungen zu Beginn der Racheaktion. Was damit geschehen ist, erfaßt man in seiner literarhistorischen Bedeutung nur völlig, wenn man bedenkt, daß es zuvor in der mittelalterlichen Literatur eine Trennung von Innen und Außen nicht gegeben hat. Das Äußere ist gewissermaßen das Innere. Wenn es doch Verstellung, Verkleidung, Trug und List als literarische Motive gibt, dann gerade deshalb, weil man auf das Prinzip der Entsprechung zwischen Innen und Außen bauen kann. Abweichungen von der Korrelation sind nur temporär, sie richten sich nie gegen sie als Prinzip, sie sind vielmehr in ihm immer schon aufgehoben, d. h., Unstimmigkeiten in der Entsprechung dienen nur einer Bewegung, die diese wiederherstellt. Die Figuren können deshalb aufgrund solcher Unstimmigkeiten nicht ein vom Äußeren sich ablösendes Innenleben entfalten. Dieses literarische Prinzip der Korrelation von Innen und Außen wird mit Kriemhild, soweit ich sehe, erstmals in der mittelalterlich-abendländischen Literatur programmatisch-provokativ durchbrochen. Erstmals wird hier gerade dadurch, daß jemand sich absolut der äußeren Form fügt, ein seelischer Freiraum ausgespart, von dem aus sich eine Figur ihr eigenes Gesetz gibt. Kriemhild verstellt sich nicht wie andere mittelalterliche Helden und Heldinnen, um der vorgegebenen Norm am Ende zum Sieg zu verhelfen, sondern sie benützt die vorgegebene Norm formal, um einen Spielraum für ein Gesetz zu gewinnen, nach dem sie ihr persönliches Schicksal entwirft. Das ist neu und unerhört, oder man kann nach mittelalterlichem Verständnis auch sagen: es ist teuflisch, denn Luzifer allein stand bisher für einen solchen Versuch einer 329

selbstgesetzten Ordnung; und diese Möglichkeit war damit mythologisch negativ festgeschrieben. Menschliche Figuren, die eine selbstgesetzte Ordnung zu ihrem Programm machen, können deshalb immer nur Abbilder des Teufels sein: Ganelon, der Verräter im Rolandslied, ist ein Musterbeispiel dafür.6 Der Nibelungendichter hat gespürt, wo er sich mit seiner Disjunktion zwischen dem Inneren und Äußeren bei seiner Kriemhildfigur hinbewegte. Er hat sie zum Teufel in Beziehung gesetzt, er hat Dietrich und Hagen sie välandinne nennen lassen (Str. B 1748 bzw. 2371). Drückt diese harte christliche Vokabel einfach Entsetzen aus? Oder ist es eine Hilfsvokabel für etwas Neues, wofür der Begriff fehlte?7 Wie immer dem sei - diese Distanzierung des Formalen, seine Ablösung zum verfügbaren Mittel, die nirgendwo prägnanter als in der 21. und 22. äventiure zum Ausdruck kommt, gilt im Prinzip für das Nibelungenlied insgesamt. Schon von Anfang an ist die Form, das höfische Normverhalten, nicht mehr wie im arthurischen Roman ein Idealkonzept, das die Handlung strukturiert, indem es über diese Handlung die Gegenwelt zuläßt, um sie zu überwinden oder aufzuheben und damit sich selbst zu bestätigen. Das Höfische im Nibelungenlied ist vielmehr immer schon eine bewußt ergriffene und eingesetzte Form, ja eine Art kommunikatives Regelsystem, das weniger dazu dient, Konflikte durchzuspielen, als sie zu verhindern. Dabei tritt der Nibelungendichter mit dieser Form gerade gegen einen Stoff an, der seiner heroischen Herkunft nach von der Unausweichlichkeit von Konflikten lebte. So wird denn gezeigt, wie die Burgunden alles versuchen, um mit Hilfe dieses Modells das mit dem Handlungsmuster vorgegebene Konfliktpotential zu entschärfen. Der Auftritt Sigfrids in Worms besitzt in dieser Hinsicht geradezu Signalfunktion.8 Der niederländische Königssohn gibt sich hier unvermittelt als heroischer Herausforderer, er provoziert die Burgundenfürsten bis zum äußersten: er fordert sie zum Kampf um Land und Leute heraus. Aber dieses Handlungsmuster läuft ins Leere, die Provokation wird in gesellschaftlicher Form aufgefangen. Sigfrid wird für die höfische Welt gewonnen, er fügt sich den entsprechenden Verhaltensnormen - bis zur Hilflosigkeit, was seine eigentliche Absicht, die Werbung um Kriemhild, angeht. Der Distanzierung gegenüber der Form entspricht eine Distanzierung gegenüber dem Stoff, und dies ganz buchstäblich: der gängige Traditionskomplex der nibelungischen Heldensage erscheint zu einem großen Teil in den Hintergrund gedrängt; aber er steht da sozusagen zur Verfügung, er ist im Bewußtsein des Publikums vorausgesetzt; Anspielungen nehmen auf ihn Bezug: die Jugendtaten Sigfrids, der Drachenkampf, der Hortgewinn, die erste Begegnung mit Brünhild, die harte Form der Überwältigung des Kraftweibs, die verräterische Einladung: all dies ist in seinen traditionellen Schemata präsent gehalten, aber zugleich in seiner Virulenz sozusagen neutralisiert. So gibt es denn insbesondere nichts mehr, was zum Konflikt führen, konkret: was den Mord an Sigfrid rechtfertigen könnte. Es hat immer wieder irritiert, wie konsequent der Nibelungendichter alle Motivationen für den Mord gekappt hat. Zwar werden die alten heroischen Motivationen anzitiert: das Motiv der Macht, das Motiv der Vergewaltigung Brünhilds, aber weder das eine noch das andere vermag zu greifen. Sigfrid hat 6

Vgl. HAUG, W. 1985 [b], insbes. S. 167ff. [in diesem Band, S. 67-85, insbes. S. 68ff.]. Dazu die grundlegende Studie von KUHN, Hans 1965/1971/1976. 8 Zum Folgenden: HAUG, W. 1974 [b] [in diesem Band, S. 293-307]. 7

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ausdrücklich auf das Kriemhilderbe verzichtet; und es steht fest, daß Sigfrid Brünhild nicht sexuell bezwungen hat. Und so tauchen denn die beiden Motive zwar im Frauenstreit auf, aber sie sind hier völlig grund- und haltlos: die alte heroische Motivation wird zum lügnerischen Weibergeschwätz. Und trotzdem kommt es zum Mord. Ohne konkreten Grund, d. h., der Grund ist eben das Gezänk der beiden Frauen, wie das auch in Strophe B 846 explizit festhalten wird. Die Lügerei der zwei zänkerischen Königinnen tritt also im Nibelungenlied an die Stelle der einstigen heroischen Konfliktsituation, die mit der ehernen Gesetzlichkeit ihrer objektiven Logik zum tragischen Ende führte. Aber gerade auf diese motivliche Ablösung scheint es dem Dichter angekommen zu sein. Denn er macht mit allem Nachdruck klar, daß die Mechanik der heroischen Muster nicht mehr funktioniert. Der Mord an Sigfrid ist ohne jede objektive Logik, denn nach außen hin sind, wie gesagt, alle Mißverständnisse bereinigt; die Brüder sind sich einig, daß es keinen Anlaß gibt, etwas gegen Sigfrid zu unternehmen; Sigfrid hat einen Eid geschworen - oder wäre jedenfalls bereit gewesen zu schwören -, daß er nicht behauptet habe, er habe Brünhild vergewaltigt. Und nur um diese angebliche Behauptung kann es noch gehen, denn Günther selbst weiß ja am besten, daß der Vorwurf der Vergewaltigung nicht trifft.9 Nur Hagen treibt weiter zum Mord. Zunächst vergeblich; nach längerem Zögern erst ist Günther damit einverstanden. Warum? Erklärlich ist das nur, wenn man sieht, daß es neben dem öffentlichen Bereich nun eine innere Sphäre gibt, in der die Probleme nicht erledigt sind; ja gerade dadurch, daß man die Konfliktstoffe im öffentlichen Bereich durch die Formen höfischer Kommunikation bannt, werden sie in einen persönlichen Raum abgedrängt; die öffentlichen Probleme verwandeln sich in psychische und sind nun als solche ebenso unfaßbar wie virulent. Schon im ersten Teil des Nibelungenliedes etabliert sich also angesichts des dezidiert ergriffenen und durchgehaltenen gesellschaftlichen Regelsystems eine innere Gegensphäre, in der die formal bewältigten Konflikte als seelische Realitäten weiterwirken. Im Frauengezänk erscheinen die alten Motive als emotionale Argumente. Erstmals wird damit Psychologisch-Persönliches in seiner Irrationalität literarisch bedeutsam. Und wieder gibt es auch hier schon jene Kette von Zeichen, die auf diesen ausgesparten Innenraum verweisen: Brünhild, die in Tränen ausbricht, weil Kriemhild angeblich an einen Vasallen verheiratet wird; Brünhild, die irritiert ist über die Position und Funktion Sigfrids am Burgundenhof; die Peinlichkeit, in die Günther durch die Lügen Kriemhilds gerät und die er nicht dadurch zurückweisen kann, daß er die Wahrheit bekennt, so daß es zu einer Demütigung kommt, die er für sich verwinden muß. Und in diesen Zusammenhang gehört nun auch eine Bemerkung, die mir sehr aufschlußreich scheint: Gleich nach der Episode, in der der Frauenzank bereinigt wird, ist von einem Turnier die Rede, in dem die Leute Sigfrids sich übermütig-überlegen zeigen. Und dann wird gesagt, daß Günthers Leute sich darüber geärgert hätten (Str. B 871). Diese Bemerkung steht unmittelbar vor den Strophen, in denen Günther überraschenderweise dann doch sein Einverständnis zum Mord gibt. Ich meine, in ihr steckt die eigentliche Begründung für die Wende in Günthers Haltung. Im Hinweis auf den Ärger der Burgunden über das Turnier-Verhalten der Niederländer wird symptomatisch das veränderte Welt- und Gesellschaftskonzept vor Augen gebracht: Das Kampf9

Vgl. dazu SALMON 1976.

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spiel, bislang der Ausdruck der idealen höfischen Balance par excellence, wird nun persönlich genommen. Das heißt: die gesellschaftliche Spielform vermag die Probleme nicht mehr zu bewältigen und aufzuheben, sie fungiert vielmehr als Verdrängungsmechanismus; die spielerische Überlegenheit der Sigfrid-Leute wird für den Wormser Hof untergründig zur Provokation; und das ist die neue Ursache für den Mord. Schon im ersten Teil des Nibelungenliedes wird also eine Welt höfischer Formen aufgebaut und festgehalten, die nicht mehr fraglos mit sich selbst identisch ist. Es gibt Unbewältigtes, das in einen ausgesparten Innenraum ausweicht. Die Handlung ist so angelegt, daß das Konfliktpotential des heroischen Stoffes zurückgelassen erscheint: der Mord an Sigfrid ist unter den öffentlich-gesellschaftlichen Bedingungen nicht mehr möglich. Trotzdem wird Sigfrid getötet, aus unfaßbaren Gründen, aus Gründen, die irrational aus einem ausgegrenzten bzw. nur punktuell zugänglichen Innenraum wirken: Frustration, Demütigung, Verletztheit. Öffentlich gesehen aber bleibt die Mordtat etwas, was eigentlich nicht hätte sein dürfen, und so wird denn auch gleich alles getan, daß es bei der einen, ebenso unverantwortbaren wie unverständlichen Tat bleibt: die Brüder betreiben die Versöhnung mit Kriemhild. Wenn man diese doppelte Distanzierung, die Distanzierung gegenüber der Form wie gegenüber der heroischen Tradition, und ihre Bedeutung für die Entwicklung einer Innensphäre erkannt hat, ergeben sich radikale Konsequenzen für die leidige stoffgeschichtliche Frage: Das Nibelungenlied verfügt in einer so erstaunlichen Weise über seine eigene Stoffgeschichte, daß es nichts mehr sagt, wenn man feststellt, es sei aus ihr herausgewachsen. Das Nibelungenlied setzt seine Stoffgeschichte vielmehr als seinen eigenen Bezugshorizont. Der Bruch mit der Tradition, der sich darin manifestiert, ist von so grundsätzlicher Art, daß die Stoffgeschichte im Grunde nichts mehr verständlich machen kann. Zugleich aber gewinnt sie eine sekundäre Bedeutung als intertextueller Horizont, ohne den nichts zu verstehen ist.10 Und daraus folgt: das Nibelungenlied hat keinen Werkcharakter im modernen Sinn; es ist kein in sich geschlossenes Ganzes. Das Ganze ist es nur zusammen mit seinem intertextuellen Horizont, auf den es sich immer neu bezieht, den es wachruft, dessen motivliche Elemente es spielerisch einsetzt, dies bis zur Bedenkenlosigkeit, wenn es darum geht, irgendwo Handlungsbrücken zu bauen. Viele der bekannten Ungereimtheiten und Widersprüche lösen sich damit in nichts auf. Dabei ist zugleich zu beachten, daß die traditionellen Muster in ihrer gewohnten Verbindlichkeit preisgegeben werden. Und zudem: es ist nicht nur die eigene Stoffgeschichte, die in dieser Weise im intertextuellen Horizont steht, sondern ein breites Spektrum narrativer Traditionen und Typen überhaupt: Brautwerbungsepik, gängige Wandernovellen wie die Besiegung des Kraftweibs oder die Mordjagd; aber insbesondere wird das arthurische Strukturmuster mit seinem Wertgefüge hereinzitiert: Sigfrid stilisiert sich selbst zum Protagonisten des burgundischen Hofes. Er tritt in den Dienst des Königs wie irgendein arthurischer Held. Doch auch dieses Konzept wird, und zwar in besonderer Absicht, wie gleich zu zeigen sein wird, zurückgelassen. Das 10

Nur mit Zögern führe ich den Begriff der Intertextualität in diesen Zusammenhang ein, denn es handelt sich ja nur z. T. um Texte im schriftlich-literarischen Sinne. Da aber ein Begriff fehlt, der den Horizont mündlicher wie schriftlicher narrativer Überlieferungen insgesamt umfassen würde, ziehe ich es vor, doch von Intertextualität zu sprechen - unter Hinweis auf den erweiterten Sinn -, statt ein neues Kunstwort zu erfinden.

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Nibelungenlied erscheint damit als ein Werk, das vor dem Hintergrund des so gut wie gesamten profanen narrativen Repertoires der Zeit seine eigene Position formuliert. Und es ist dieses intertextuelle Formulierungsspiel, das überraschenderweise gerade in der Auseinandersetzung mit dem altertümlichsten heimischen Stoff auf die Entdekkung einer völlig neuen Dimension zielt, auf die Entdeckung einer individuellen Innensphäre und der damit auftauchenden Problematik. Nun kann man einwenden, es sei ein alter selbstverständlicher Hut, das Nibelungenlied letztlich psychologisch-individualistisch erklären zu wollen. Man habe das immer wieder versucht - mit zweifelhaften Ergebnissen, weil man damit allzu moderne Kategorien in die heroisch-epische Dichtung hineingetragen habe. Und dem wird man zustimmen: solange man eine psychologisch-individualistische Erklärung als eine Selbstverständlichkeit ansieht, solange kann sie nur falsch sein. Sie wird erst akzeptabel, wenn man die Tatsache, daß eine solche Erklärung möglich ist, als etwas radikal Unselbstverständliches, als eine unerhörte, ja als die vielleicht unerhörteste Provokation in der gesamten mittelalterlichen Literatur versteht. Man braucht nur den höfischen Roman dagegenzuhalten, um die ganze Bedeutung dieses Schrittes zu ermessen. Entscheidend ist folgendes: anders als die arthurischen Figuren sind die Personen im Nibelungenlied nicht mehr schlicht mit ihren Rollen identisch; sie spielen vielmehr ihre Rollen bis zu einem gewissen Grade, ja die Rollen stehen in einem bestimmten Rahmen zur Verfügung, und sie sind strategisch vertauschbar. Sigfrid spielt den Vasallen, Günther spielt den großen König, den starken Werber und Ehemann; Kriemhild spielt die Hunnenkönigin. Und es ist dieser Spielraum zwischen Person und Rolle, in dem sich das Neue etabliert, der Innenraum, von dem her irrationale Beweggründe nach unfaßbaren psychischen Mustern zunächst punktuell, dann radikal die Führung übernehmen. Es ist also literarhistorisch abwegig, das Nibelungenlied schlicht als modernen psychologischen Roman in der Weise zu interpretieren, daß man die Handlung aus den psychischen Beweggründen Brünhilds, Günthers, Kriemhilds usw. motiviert und das Geschehen von den Charakteren her entwickelt. Und doch muß man sagen, daß man im Nibelungenlied so etwas wie einen ersten psychologischen Roman vor sich hat. Aber es wird dazu nicht aufgrund von genuin aus persönlichen Bedingungen heraus entworfenen individuellen Lebenswegen, sondern dadurch, daß die Realisierung der höfischen Norm sich nicht mehr als ein Prozeß abspielt, der diese Norm bei aller Problematisierung doch festhält. Es wird die Realisierung der Norm vielmehr als rollenhaftes Verhalten begriffen, und Rolle bedeutet bedingte Identität, Lockerung der Verbindlichkeit, Raum für eine Sphäre, in der literarisch bisher gebannte Triebkräfte freiwerden. Im Hinblick auf diese Wende gibt es einen bemerkenswerten Unterschied zwischen dem ersten und dem zweiten Teil des Werkes. Der erste Teil zeigt, wie es der Gesellschaft gelingt, das Prinzip der Identität scheinbar und äußerlich bis auf den einen kritischen Augenblick, den Sigfridmord, durchzuhalten; die Rollen sind akzeptiert, auch Sigfrid ist in das Rollenspiel eingebunden, ja gerade er trägt entscheidend dazu bei, daß es nicht zusammenbricht. Denn es ist Sigfrid, der Günther zum unangefochtenen König und Gatten macht; Sigfrid ist deshalb auch derjenige, der am besten über das bloß Rollenhafte von Günthers Position Bescheid weiß; er verkörpert geradezu die Gegenmöglichkeit, die Diskrepanz zwischen Sein und Schein. Das macht ihn so unbedenklich und bedenkenlos und gerade deshalb so gefährlich: wenn Sigfrid die Wahr333

heit sagen würde, fiele das ganze Gebäude aus Spiel und Trug zusammen. Günther kann zwar sicher gehen, daß er schweigen wird; aber das Wissen um das Rollenspiel macht Sigfrid unerhört frei, frei bis zum Leichtsinn. Sigfrids Übermütigkeit hat darin ihren eigentlichen Grund und narrativen Sinn. Und das muß für Günther zu einer psychischen Belastung werden, die er schließlich nicht mehr ertragen kann. So kommt es denn zum Durchbruch durch das prekär ausbalancierte gesellschaftliche Gefüge, zum Mord, der dieses noch einmal retten soll. Und es scheint zu gelingen, d. h., es würde gelingen, wenn nicht Kriemhild ihrerseits genau an dem kritischen Punkt ansetzen und eben dieses Rollenspiel nun ganz bewußt für sich übernehmen würde, um das Gefüge von jenem persönlichen Freiraum aus, der sich aufgetan hat, zu unterminieren und schließlich zu zerstören. Kriemhild wird damit zur ersten Gestalt in der mittelalterlichen Literatur, die ihre persönliche Erfahrung als ihr Schicksal annimmt und ihr Leben individuell entwirft. Sie ist deshalb auch die erste Gestalt, die innere Kontinuität, d. h. Erinnerung als reine Innerlichkeit, besitzt. Sie macht die Erinnerung an Sigfrid und seinen Verlust zur Basis für die Entfaltung ihres persönlichen Schicksals. Im Artusroman, wo das Äußere und das Innere auf Korrelation hin angelegt sind, gibt es keinen Raum für eine Erinnerung. Wenn deshalb etwas Vergangenes präsent werden muß, so wird es strukturell herangeholt - ein Musterbeispiel: die Präsenz Condwiramurs über die Blutstropfen im Schnee -; man wiederholt also Stationen, wenn man Vergangenes aufarbeiten will. Das heißt: an der Stelle einer innerlichen Kontinuität steht der Strukturentwurf, der die Handlung trägt. Erstmals gibt es nun bei Kriemhild eine innere Kontinuität über die Erinnerung. Aus der punktuellen Manifestation des Subjektiv-Persönlichen im ersten Teil, das schnell wieder zugedeckt wird vom objektiven Rollenspiel, wird im zweiten Teil eine durchgängig subjektiv-persönliche Sphäre, der gegenüber das Rollenspiel nur noch als Tarnung fungiert. Die Genialität des Nibelungendichters besteht darin, daß er die Chance, die ihm das Verhältnis zwischen Rollenspiel und Subjektivität im ersten Teil eröffnet hat, in ganz neuer Weise für den Kriemhildteil zu nützen wußte. Aber das ist nicht alles. Es geht nicht nur darum, daß damit die alte objektive Pflicht zur Rache durch eine subjektiv-persönliche Motivation ersetzt und damit ein individuelles Schicksal gestaltet wird, sondern es kommt zugleich zu einer Problematisierung der hiermit aufgedeckten Subjektivität. Der epische Motor dieser Problematisierung ist Hagen. Hagen ist wohl die am schwersten zu deutende Figur des Werkes. Es überlagern sich in ihm in besonderer Weise mehrere Schemata. Er ist zunächst der einzige, der sich weigert, die höfische Form zu einem bloßen Mittel gesellschaftlicher Versöhnung zu machen; er akzeptiert die Rollenhaftigkeit der gesellschaftlichen Existenz nicht. Er steht damit gewissermaßen noch auf dem alten heroischen Standpunkt. Das zeigt sich insbesondere darin, daß er die alten Argumente für eine Beseitigung Sigfrids ins Spiel bringt. Er hat damit zwar keinen Erfolg, trotzdem erhält er schließlich Günthers Zustimmung zum Mord. Er ist dann auch der einzige, der nicht an eine Versöhnung mit Kriemhild glaubt, und Kriemhild nimmt ihn ja auch ausdrücklich von der Versöhnung aus. Hagen steht gewissermaßen noch diesseits der höfischen Position, während Kriemhild schon jenseits von ihr steht. Da die Konsequenzen dieselben sind, verstehen sie sich, obwohl sie am weitesten voneinander entfernt sind. Und als es um die Teilnahme Hagens am Zug ins Hunnenland geht, funktioniert bei ihm noch das alte he334

roische Motiv, der Vorwurf der Feigheit, obschon er hier leichtsinnig-verblendet hingeworfen wird. Es ist intertextuell fast ein Zitat als Köder! Wirklich glaubhaft gemacht wird das alte Motiv jedoch von einer jüngeren Thematik her, durch die die HagenFigur im Laufe ihrer Geschichte überformt worden sein muß: es ist die Thematik des treuen Vasallen, die vermutlich aus der französischen Chanson de geste-Tradition stammt." Damit wird das ursprüngliche heroische Handlungsmuster zum Ausdruck eines neuen Handlungsprinzips. Es ist nun faszinierend zu beobachten, wie Hagen Kriemhild nicht die höfische, sondern die über das neue Prinzip aktualisierte heroische Position entgegensetzt. Er bringt über das Vasallenethos die alte heldenepische Schematik wieder ins Spiel. Gerade damit aber hatte Kriemhild nicht gerechnet, darauf war sie nicht vorbereitet. Die Schlüsselszene ist jene Begegnung im Hof, bei der Hagen und Volker vor der Königin und ihren Mannen sitzen bleiben (29. äv.): Hagen legt Sigfrids Schwert auf die Knie und bekennt sich nun offen zum Mord. Mit dem Schwert auf den Knien, der stereotypen Richtergeste,12 behauptet Hagen die Rechtlichkeit seiner Mordtat, gibt er sich als Vollstrecker eines objektiven Gesetzes im Dienst seines Herrn. Und die Objektivität dieser Verpflichtung ist es auch, die er nun hartnäckig gegen Kriemhild durchhält und durchsetzt, gegen Kriemhild, die den Konflikt zu einer direkten und ausschließlichen Auseinandersetzung zwischen ihr und ihm machen wollte. Durch seine Taktik zwingt er sie, Schritt für Schritt den Boden ihrer subjektiven Rache aufzugeben und in die Gesetzlichkeit jener Schemata einzutreten, die er ihr vorgibt. Dieser Prozeß der Entpersönlichung geht schließlich soweit, daß die Auseinandersetzung in den Streit um den Hort einmündet. Hans Kuhn hat sich sehr abgemüht, diesen 'Bruch' verständlich zu machen.13 Er argumentiert schließlich mit dem Effekt, den der Dichter mit der Wiedereinführung dieser Szene erzielen wollte: die Erschütterung dadurch, daß Kriemhild im letzten Augenblick der Situation nicht mehr gewachsen ist und ihren Sieg sinnlos verspielt. Aber dann spricht er doch wieder vom Zwang der alten Hortforderungsszene, die der Dichter nicht opfern wollte und die es ihm verwehrte, das Rachethema sauber zu Ende zu führen.14 Die erste Erklärung liegt der Wahrheit gewiß näher als die zweite, doch bewegt sich die ganze Argumentation grundsätzlich nicht auf tragfähigem Boden. Es geht nicht um stoffgeschichtliche Zwänge und Motivationslogik. Entscheidend ist vielmehr, daß der Dichter das Motiv der Hortforderung im intertextuellen Horizont voraussetzen konnte. In diesem Horizont aber mußte die Hortforderung als das Motiv der heroischen Gesetzlichkeit schlechthin gelten. Wenn der Nibelungendichter es gegen jede Oberflächenlogik beibehielt oder einsetzte, dann konnte das nur als Signal dafür verstanden werden, daß Kriemhilds Rache auf jene Ebene zurückfällt, die Hagen verkörpert, d. h., daß Kriemhild gezwungen wird, auf Hagens Denken einzugehen und damit sich selbst zu verraten. Es wird durch dieser! Selbstverrat eine erstaunliche Einsicht demonstriert. Wenn im ersten Teil subjektive Motivationen die alten heroischen Muster ersetzen und Hagen damit in seiner anachronistischen Position zum Werkzeug eines ganz andersartigen " Vgl. HAUG, W. 1981 [a], S. 46f., mit weiterführender Literatur [in diesem Band, S. 321f.]. 12 13

14

Zu diesem Motiv: WYNN 1965. KUHN, Hans 1965/1971/1976, S. 337.

Ebd., S. 363. 335

Konflikts und seiner Lösung wird, so zwingt er im zweiten Teil der neuen Subjektivität scheinbar sein altes Gesetz wieder auf. Der bittere Sinn dieser Verschiebung ist schwerlich zu verkennen: die alte heroische Welt ersteht im Zusammenbruch der höfischen Welt aus der Subjektivität, die dieser freigesetzt hat, in merkwürdiger Weise neu. Das bedeutet: die Sphäre des Individuellen ist, wenn sie sich absolut setzt, nicht wirklich frei, sondern sie fällt auf untergründige Schemata zurück, über die man nicht verfügt, die einen vielmehr zwingen, das Individuelle doch wieder zu etwas Allgemeinem zu machen, das Subjektive vor dem Allgemeinen zu verantworten bzw., wo es nicht verantwortet werden kann, es am Allgemeinen scheitern zu lassen. Hagen repräsentiert gewissermaßen die Macht, die das Subjektiv-Individuelle dazu zwingt, das persönlich ergriffene Gesetz zum Gesetz aller zu machen und es damit ad absurdum zu führen. Kriemhild ist die erste wirklich individuelle Gestalt in der abendländischmittelalterlichen Erzählliteratur. Aber sie ist natürlich keine Individualität im modernen Sinne, denn sie entwirft ihr Leben nicht positiv aus dem ihr eigenen Wesen heraus, das Individuelle bleibt wie stets im Mittelalter eine negative Möglichkeit, sie ist Abweichung vom Allgemeinen, Abweichung von der Norm. Neu ist jedoch, daß die Erfüllung des Allgemeinen als Rolle gesehen und damit ein Spielraum eröffnet wird, in dem das Negative nicht einfach als solches abgestempelt wird, sondern in dem es sich wirklich entfalten kann. Kriemhild ergreift das Negative sozusagen positiv, indem sie es zu ihrem persönlichen Schicksal macht. So entwickelt sie sich ins Böse hinein. Aus dem auf Hagen zielenden Rachegedanken wird ein verzweifelter Haß, der alles verschlingt und in den Abgrund reißt. Kriemhild als negative Individualität: das bedeutet, daß die erstmals gewonnene Freiheit zur Unfreiheit wird. Man kann das eine moderne Erfahrung nennen. Jedenfalls greift das Nibelungenlied mit diesem kühnen Experiment weit über seine Zeit hinaus. Bekanntlich hat man das nicht ertragen. In welcher Weise die >Klage< und die Redaktion *C in eine Schwarz-Weiß-Schematisierung ausweichen, ist oft dargestellt worden. Indem man Kriemhild entlastet und Hagen anschwärzt, vertuscht man die Individualität zum Bösen.15 Auch mit der >Kudrun< hat man wohl ein Gegenbild zum Nibelungenlied entworfen. Werner Hoffmann hat das Werk zuletzt so verstanden: Kudrun wird als eine Frau vorgestellt, die anders als Kriemhild ihr Leid trägt und in ihm ausharrt, bis Rettung kommt.16 Es gibt aber, wie mir scheint, einen noch sehr viel eindrucksvolleren Gegenentwurf zum Nibelungenlied, einen Gegenentwurf, der genau auf den kritischen Punkt zielt, nämlich Wolframs >WillehalmWillehalm< ist, so wie Wolfram sie verstanden hat, derjenigen im Nibelungenlied im Prinzip analog. Auch im >Willehalm< geht es darum, daß jemand sein persönliches Schicksal zum Schicksal aller, zum Schicksal Frankreichs macht. Das war in der Chanson de geste noch kein Problem, da dort die Protagonisten für ihre Völker standen. Wolfram dagegen hat das Verhältnis zwischen der Liebesgeschichte von Willehalm und Gyburg und dem Kampf zwischen Heiden und Christen reflektiert und problematisiert. Der zornige Willehalm am französischen Königshof: 15

Vgl. z. B. KUHN, Hans 1965/1971/1976, S. 354ff.; HOFFMANN, W. 1967.

16

HOFFMANN, W.

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1976.

das ist nun der Rächer, der Hassende unter dem Druck seiner ganz individuellen Notlage. Wie ist es möglich, persönliche Liebe und persönlichen Haß einzubeziehen in den gottgewollten Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen Christentum und Heidenwelt? Es sind im >Willehalm< gerade die Frauen, die den Weg zur Versöhnung weisen, Alyze zunächst und dann vor allem Gyburg. Es wird zwar auch hier der individuelle Weg in seiner Negativität ergriffen, doch ist ihm etwas entgegengesetzt, was im Nibelungenlied völlig fehlt: das Bekenntnis zur eigenen Schuld. Dies allein ermöglicht es, das individuelle Schicksal zu bejahen und doch nicht dem Negativen zu verfallen, vielmehr das Positive festzuhalten, nicht als gesicherte Ordnung, sondern als Hoffnung auf eine Lösung, eine Hoffnung freilich, die sich nicht mehr auf die eigene Kraft, sondern allein auf die göttliche Gnade gründen kann. Dem Nibelungenlied war dieser Weg verschlossen. Ihm standen nur immanente narrative Muster zur Verfügung. In diesem Rahmen aber hat es mit beispielloser Konsequenz die äußersten Möglichkeiten erprobt. Nun mag man einwenden, eine solche Reflektiertheit, wie ich sie dem Nibelungendichter unterstelle, widerspreche völlig dem Eindruck, den man bei der Lektüre des Werkes gewinne: es handle sich doch um ein nur mehr oder weniger kontrolliert herangewachsenes Epos, mit gewiß vielen grandiosen Szenen, aber es sei auch immer wieder ungeschickt, stümperhaft, ja im Grunde genommen insgesamt mißglückt. Es ist zweifellos zuzugeben, daß auf der Erzähloberfläche häufig höchst bedenkenlos geklittert wird, ich meine aber, es ist falsch, den Blick in erster Linie darauf zu richten, d. h. das Nibelungenlied als in sich geschlossenes isoliertes Werk zu betrachten und eine entsprechende Stimmigkeit zu verlangen. Das Nibelungenlied wird nur in seinem intertextuellen Zusammenhang wirklich verständlich; auf ihn bezieht es sich; in ihm hat es gewirkt; er ist mit zu interpretieren. Der uns gewohnte Werkbegriff ist somit ad acta zu legen.17 Und so mag denn auf der Erzählhorizontale manches nachlässig behandelt sein, die vertikalen Bezüge auf den narrativen Horizont sind um so stringenter. Und darauf kam es dem Dichter an: es ging ihm um die Auseinandersetzung mit den zur Verfügung stehenden Erzählmustern, zunächst jenen der eigenen nibelungischen Traditionen und dem heroischen Typus überhaupt, dann aber auch den Mustern der Brautwerbungsepik und des höfischen Romans. Hier hat er ganz klar Position bezogen, indem er mit den gegebenen Stoffen und Strukturen in seiner eigenen neuen Perspektive gearbeitet hat: er hat sie geradezu montiert und dabei als Signale eingesetzt für die betreffenden Konzepte, um sie gleichzeitig zu unterlaufen und ganz neue Dimensionen der Erfahrung zu erschließen und zu diskutieren. Man darf Die Bemühungen der Forschung, das Nibelungenlied als Großepos in seiner Position zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit zu orten, haben zu gewissermaßen diffusen Lösungen geführt. FROMM 1974 spricht von einer „Symbiose" zwischen schriftlicher Fixierung und mündlichen Traditionen. WACHINGER 1981 denkt sich als Vorstufe unserer Überlieferung ein einigermaßen gefestigtes mündliches Epos, von dem es möglicherweise schon Vorlesemanuskripte gab, die aber noch nicht als Texte „im üblichen buchliterarischen Sinn" (S. 99) angesehen werden dürften. Meine These einer intertextuellen Montage erlaubt es, die Zäsur zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit doch wieder stärker zu markieren; man braucht das scheinbar Unfertige nun nicht mehr einem diffusen Übergangsstadium zuzuschieben. Das kühne literarische Experiment, das das Nibelungenlied meiner Interpretation zufolge darstellt, ist jedenfalls nur auf schriftlicher Basis denkbar. Es bleibt zwar bei der „Symbiose", aber sie meint vom Nibelungendichter aus bewußtes Verfügen über die mündlichen Traditionen. 337

natürlich weiterhin von Brüchen sprechen, aber Brüche besitzen in der intertextuellen Montage eben ihre sinnvermittelnde Funktion. Das Nibelungenlied ist nicht der mißlungene Versuch einer deutschen >IliasKanjur< aufwies, aber man darf wohl sagen, daß es kaum der Fuchs und die Elster gewesen sein können, denn diese spielen in der indischen Erzählliteratur so gut wie keine Rolle. Wenn aber Fuchs und Elster sekundär sind, so bedeutet dies, daß die drei abendländischen Varianten nicht unabhängig voneinander auf einen indischen Prototyp zurückgehen können, sondern entweder unmittelbar oder in einer Vorstufe voneinander abhängen, d. h. im äußersten Fall auf jene Redaktion zurückgehen, die an die Stelle der indischen Tiere den Fuchs und die Elster gesetzt hat. Die Fassung des >Kanjur< sichert uns in einer allgemeinen Form zwei Repliken des indischen Prototyps der Non dormio sed penso-Episode: die eine betraf die gleiche 352

Länge von Körper und Schwanz bei einem bestimmten Tier, die andere die Federn eines Vogels, die zu gleichen Teilen hell- und dunkelfarbig sein sollen. Von den übrigen Behauptungen des Gandharers hat keine eine Entsprechung in den abendländischen Varianten. Damit bleibt auch die Zahl der Repliken des indischen Prototyps offen.44 Was die Schlußpointe anbelangt, so gehen die vergleichbaren europäischen Fassungen und die Version des >Kanjur< völlig auseinander: in der Sage von Conthey und im Libro führt die Episode zum Tod des Fragenden, wobei die ursprüngliche Form ungewiß bleibt, am Ende der tibetischen Gesprächsserie wird die uneheliche Zeugung Pradyotas als Ursache seiner Schlaflosigkeit aufgedeckt. Von einer Schlaflosigkeit des Königs ist weder im Libro noch im Dialogus ausdrücklich die Rede, ja Salomon geht nach der Unterhaltung zu Bett! In der Walliser Sage wird erwähnt, daß der Cantovert vor Sorgen nicht schlafen könne, aber das Motiv mag hier sekundär sein. Gehen wir vom Inhalt der Gespräche zur Gesprächssituation und ihren Figuren über, so steht im Westen wie im >Kanjur< ein kluger Mann einem Herrscher gegenüber, der als tyrannisch, zornig oder zumindest bösartig beschrieben wird. Dieser Herrscher verlangt von seinem Partner, daß er wach bleibe, und droht, ihn zu töten, wenn er einschlafe. In diesem Punkt weicht nur die Walliser Sage ab, der Besuch des Vogtes in der Wachstube weist aber wohl, wie gesagt, auch hier auf die ältere Form der Wachtinspektion. Es gehört zur Pointe der Episode, daß der Mann, der wachen muß, einschläft, denn er soll sich ja durch das Non dormio sedpenso aus der Schlinge ziehen. So verhält es sich im Dialogus, während im Libro das Motiv wohl impliziert ist. Auch der Gandharer schläft ein, er läßt sich aber von den Hofleuten rechtzeitig wecken. Obschon er also wach ist, als der König erscheint, antwortet er unter einer sinnlosen Motivation erst auf den dritten Anruf. So fragt dann Pradyota hier auch nicht. „Schläfst du?", sondern: „Wer hält Wache?', wodurch das charakteristische „Ich schlafe nicht, ich denke" ausfällt und der König darauf ganz unvermittelt fragen muß: „Was M

Als sicher darf gelten, daß die Zwölfzahl der Gespräche nicht ursprünglich ist. Es hat den Redaktor offensichtlich Mühe gekostet, die Zahl zu erreichen; einzelne Behauptungen finden sich in mehreren Abwandlungen: Das Motiv des gleichen Gewichtes (befiederte und gerupfte Eule, 1. Replik) wiederholt sich in bezug auf mit dem Hammer geschlagenes und nicht geschlagenes Munja-Gras (3. Replik); das unterschiedliche Gewicht eines toten und eines lebenden Menschen mag ebenfalls hierher gehören (9. Replik). Die Ansicht, daß ein Topf voll Wasser in einen Topf voll Sand geht (6. Replik), wird abgewandelt im Hinblick auf Salz und Wasser (7. Replik), und wenn gesagt wird, daß eine Handvoll Mehl in einer Handvoll Wasser das Gewicht des Wassers nicht verändere (8. Replik), so ist dies vermutlich eine weitere Spielform dieses Themas. Als Variation im Gegensatz darf man vielleicht die Behauptung hinzufügen, daß, wenn man eine Grube grabe, die ausgehobene Erde nicht wieder in die Grube hineingehe (10. Replik). Damit reduzieren sich sieben der Gesprächsthemen auf zwei oder drei. Einmalig sind die Behauptungen über den Schwarzkopfaffen und die Rebhuhnflügel, ferner die Ansicht, daß die Brachvögel, wenn man ihnen eine Mischung von Milch und Wasser vorsetze, nur die Milch tränken, das Wasser aber zurückließen (2. Replik). Schließlich entsprechen sich wiederum die Aussagen der letzten beiden Nachtwachen, sie fallen jedoch völlig aus dem Rahmen und dürfen wohl vernachlässigt werden; es handelt sich eher um Rätsel: „O König, der Weber webt Tag und Nacht ein Gewand und weiß nicht, wohin es geht" (es wird zu Erde) und: „O König, ein Töpfer macht Tag und Nacht ein Gefäß, man weiß nicht, wohin es geht" (dieselbe Antwort). Wir kommen also etwa auf ein halbes Dutzend Repliken. Diese Zahl deckt sich ungefähr mit der der Röhakagespräche, siehe unten. Die Aussage über die uneheliche Zeugung des Königs erscheint aber im >Kanjur< als zusätzliche Behauptung zum letzten Gespräch. 353

denkst du?". Es kann nicht zweifelhaft sein, daß wir es hier mit einer Entstellung zu tun haben. Lassen sich die verschiedenen Versionen in allen diesen Punkten zur Gesprächssituation gegeneinander korrigieren, so wird die Sachlage verwirrend, wenn man nach der ursprünglichen Form der Wache fragt. Im Libro prüft Theodorich seine Schildwachen in der Stadt, und die Sage von Conthey setzt eine solche Wachtinspektion vermutlich ebenfalls voraus. Salomon und Marcolf unternehmen eine Art Wettwachen. Im >Kanjur< ist zunächst davon die Rede, daß Pradyota die Schildwachen inspiziert, dann aber verlangt er von seinen Frauen, Prinzen, Ministern, Kriegern und schließlich von den Stadt- und Landbewohnern, daß sie mit ihm wachen. Wenn dann jedoch der Gandharer für letztere diese Aufgabe übernimmt, so scheint er doch wieder als Wachtposten zu fungieren. Man wird auf Grund dieser Unentschiedenheit zunächst vermuten, daß in Indien zwei Varianten der Nachtwache nebeneinander bestanden haben, von denen die eine, die Wachtinspektion, sich im Libro und in der Vorstufe der Walliser Sage niedergeschlagen hat, die andere aber, das gemeinsame Wachen, im Dialogus auf uns gekommen ist, während der >Kanjur< beides, nicht sehr geschickt, zu kombinieren versuchte. Aber diese Hypothese scheitert an der gemeinsamen Zwischenstufe für die abendländischen Varianten, es sei denn, man wolle annehmen, daß diese Zwischenstufe dieselbe Unentschiedenheit wie der >Kanjur< zeigte und die abhängigen Fassungen dann einmal in der einen und einmal in der andern Richtung Eindeutigkeit geschaffen hätten. Da es aber sehr unwahrscheinlich ist, daß sich eine Version mit einem solchen inneren Widerspruch über eine längere Zeit hinweg hätte tradieren können, ohne daß er aufgelöst worden wäre - außer man denke an schriftliche Überlieferung -, so bleibt nur die Möglichkeit, daß sich unabhängig voneinander im Westen wie im Osten entweder aus der Wachtinspektion das gemeinsame Wachen oder aber aus dem gemeinsamen Wachen die Wachtinspektion als Variante entwickelt hat. Eine Analyse der >KanjurKanjurKanjur< betrifft so viele Motive, daß es sich nach den allgemeinen Erfahrungen der vergleichenden Erzählforschung nicht um eine zufällige Parallelität handeln k a n n : da ist der König, der nicht schläft; die Schlaflosigkeit beruht auf außerehelicher Zeugung, wovon er jedoch nichts weiß. Er verlangt von seinen Untertanen, daß sie mit ihm wachen und ihn unterhalten. Diese lösen sich in der Aufgabe ab, bis die Reihe an einen bestimmten Mann kommt, der die Nachtwache dazu benützt, die Ursache der Schlaflosigkeit aufzudecken. Es fehlt auch nicht der Gang des Königs zu seiner Mutter und deren mehr oder weniger erzwungenes Geständnis. Abweichend dagegen sind der Anfang und der Schluß: an der Stelle des schlichten Ehebruchs im >Kanjur< steht hier die Zeugung durch einen Feenfürsten, ' und das bedingt dann die Jenseitsfahrt des Sohnes zum Vater. Dieser Rahmen baut die ERICHSEN 1924, S. 412. Zum Feueratem siehe GRIMM, W. 1957, Register s. v. 'Dietrich von Bern - Feueratem'; vgl. ferner ENSSLIN 1947, S. 342 und Anm. 6, S. 392. Die Sächsische Chronik bezeichnet Dietrich als Bastard, GRIMM, W. 1957, S. 321. 56 PARIS 1879, S. 66ff. Vgl. HERTZ 1905 Anm. S. 389ff., wo auf Pradyota hingewiesen ist. 360

orientalische Nachtwache in den Zusammenhang einer keltischen Feengeschichte ein," und diese wird dann weiter durch die Erfindung eines zweiten Kindes, der Tochter, zu einer bretonischen Stammessage. Wenn man aber Rahmen und Kolorit abstreift, so steht der Lai von Tydorel näher bei der tibetischen Erzählung von König Pradyota als irgendeine andere Version der Nachtwache in Ost und West. Es fehlt freilich eines: die Non dormio sed penso-Episode. Damit hängt vielleicht zusammen, daß aus dem Klugen Knaben der Nachtwache ein dummer geworden ist, der mit Hilfe des mütterlichen Spruches 'zufällig' ins Schwarze trifft.58 Entstehungsgeschichtlich muß die Nachtwache im >Tydorel< auf jene Stufe zurückgehen, auf der das nächtliche Gespräch zwischen dem Klugen Knaben und dem König mit dem Komplex 'Schlaflosigkeit des Königs - Unterhaltung durch die Untertanen' verbunden worden ist, d. h. vor die Verknüpfung mit dem zornigen Pradyota, der die Wachen inspiziert. Es ist also entweder eine Variante der Erzählung auf dieser Stufe unabhängig von den übrigen europäischen Versionen der Nachtwache nach dem Westen gekommen und in der Bretagne mit einer keltischen Feengeschichte verschmolzen worden, wobei das orientalische Motiv der unehelichen Zeugung von der Vorstellung der göttlichen Abkunft überformt wurde; wo in diesem Falle die Non dormio sed penso-Episode ausgeschieden wurde, ist natürlich nicht zu sagen. Oder aber der Lai hängt am gleichen Traditionsstrang wie der Dialogus, der Libro und die Walliser Sage, und das würde bedeuten, daß der Prototyp der europäischen Fassungen unserer Episode nicht nur das Motiv der Schlaflosigkeit, sondern auch die entscheidende dritte Replik gekannt hat, und dies würde es weiterhin wahrscheinlich machen, daß die Non dormio sed penso-Forme\ erst bei der Umformung des Stoffes zur keltischen Feengeschichte verloren gegangen ist. Daß die Entdeckung der außerehelichen Zeugung des Königs als dritte Replik im europäischen Prototyp der Non dormio sed penso-Episode gestanden hat, wurde unabhängig von >Tydorel< durch eine Analyse ihrer Geschichte nahegelegt. Wenn man anderseits berücksichtigt, daß auch der Lai auf einer Vorstufe unsere Episode gekannt haben muß, ja diese vielleicht erst bei der bretonischen Adaptation verloren gegangen ist, so werden, wenn man zwei unabhängige Traditionen ansetzt, die Differenzen zwischen ihnen immer geringer, ja sie reduzieren sich im günstigsten Fall auf das Motiv der Schlaflosigkeit, das dem Zweig Libro-Dialogus-Sage von Conthey fehlt - wenn die Walliser Fassung nicht doch eine Spur davon bewahrt hat. Wenn also die Möglichkeit besteht, daß die Unterschiede zwischen diesen beiden Traditionen sich über die Vorgeschichte weitgehend auflösen lassen, so wird die Annahme einer zweifachen Wanderung des Komplexes aus dem Orient nach dem Abendland überaus fragwürdig. Der Gedanke ist zwar nicht völlig abzuweisen, aber eine genaue Überprüfung der These einer einmaligen Wanderung und ihrer Konsequenzen spricht nicht zu seinen Gunsten. Parallelen im keltischen Bereich: die Zeugung Mongans durch Manannan, die Zeugung Arthurs bei Galfrid von Monmouth usw. KRAPPE 1929, S. 200ff., bringt Folklorevarianten zu >Tydorel< bei und versucht damit die keltische Herkunft auch der Nachtwache zu erweisen. Es scheint sich bei diesen Varianten um eine Verbindung der Tydorelerzählung mit der verbreiteten Sage vom gefahrvollen nächtlichen Aufenthalt im Gespensterschloss zu handeln. Krappes These, daß diese Form ursprünglicher sei als der Lai, vermag mich nicht zu überzeugen.

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Wenn man hypothetisch davon ausgeht, daß auch der Lai von Tydorel vom gemeinsamen Prototyp der europäischen Versionen der Nachtwache abhängt, so stellt sich die Frage, wo der Lai in der Ausgliederung der Varianten anzusetzen wäre. Das gemeinsame Wachen verbindet ihn zunächst mehr dem Dialogus als dem Libro und der Walliser Sage, aber die übernatürliche Abkunft Tydorels und sein Ritt in den See erinnern wiederum an die Sagen von Theodorichs Geburt und Ende, und sollte unsere Vermutung zutreffen, daß die dritte Replik mit ihrer Enthüllung der außerehelichen Abkunft einst auch in der Theodorichsage gestanden hat, dann ist man eher geneigt, Lai und Libro näher zusammenzurücken. Da die beiden Versionen nicht unmittelbar voneinander abhängig sein können, so würde das bedeuten, daß sie beide auf eine gemeinsame Vorstufe zurückgehen. Diese Vorstufe müßte den orientalischen Komplex der gemeinsamen Nachtwache und ihrer Non dormio sedpenso-Formel über die dritte Replik mit der Sage von übernatürlicher Geburt und Jenseitsritt (vielleicht ins Wasser?) verbunden haben. War dies aber schon eine Theodorichsage? Oder genauer: War die Vorstufe Theodorichsage, bevor sich die Fassung des Lai abgezweigt hatte? In jedem Falle, und das ist zunächst das Entscheidende, wird eine Sage von Theodorichs Geburt und Ende greifbar, die der kirchlichen Version vom Höllenritt vorausliegen muß. Denn in dem Maße, in dem es wahrscheinlich wird, daß der Lai in die gemeinsame Tradition aller abendländischen Fassungen gehört, in dem Maße schließt es sich aus, daß sich Incubusmotiv und Höllenfahrt direkt mit der Non dormio sed pensoEpisode verbunden haben, ist es doch kaum denkbar, daß eine Teufelssage in eine bretonische Feengeschichte und Stammessage verwandelt worden wäre.59 Überdies zeigt gerade der Libro, daß die kirchliche Redaktion in ihrem Zusammenhang mit dem Motiv der übernatürlichen Zeugung nichts mehr anzufangen wußte und es in ein allgemeines Tu eres homme del diablo einschrumpfen ließ. Ob wir nun freilich im Lai von Tydorel einen Ausläufer der Theodorichsage vor uns haben oder aber der Ostgotenkönig erst nach der Abzweigung, die zum Lai führt, in den Komplex eingetreten ist, läßt sich mit Sicherheit nicht sagen, doch spricht für ersteres, daß eine Beziehung zwischen den Namen Theodorich und Tydorel nicht ganz von der Hand zu weisen ist. Tydorel geht nach E. Brugger auf ein bretonisches Tuduuoret zurück, das urkundlich seit dem 9. Jahrhundert belegt ist. Der Übergang woret ) oret macht dabei keine Schwierigkeiten, ebensowenig der Diminutivsuffixwechsel -et/-el. Etwas problematischer scheint die Entwicklung u > y, i, doch kann dies graphische Entstellung sein, oder es ist an eine Mischform aus Konfusion mit J(u)doret zu denken. Tutuuoret stellt sich neben eine Reihe paralleler Namensbildungen sowohl von tut- als auch -uuoret aus, die Form ist sicher eigenständig bretonisch. Nun erscheint aber neben Tud-/Tidals Variante auch Teud-: um 1200 ist ein Theudoret belegt. Damit steht man aber überraschend nahe bei einem * Theodorec/*Theudorec. Der Suffixwechsel -ec/-et ist geläufig. Wenn dieses Teud- auch wohl kaum noch mit altgallisch Teut- in Verbindung steht und vermutlich auch gar nicht diphthongisch gesprochen wurde, so könnte das graphische Bild doch dazu beigetragen haben, daß man in der Bretagne ein * Theudorec 59

BRUGGER 1905, S. 92f., meint, daß das Sprichwort „Wer nicht schläft, stammt nicht von Menschen" auf eine teuflische Abstammung anspiele. Die überkommene Fassung des Lai sei „geradezu eine Parodie", sie müsse von einem Bearbeiter stammen, der dem bretonischen Fürstenhaus, mit dem Tydorel verbunden sei, nicht günstig gesinnt war. Ich kann von einer solchen Tendenz nichts entdecken.

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an den gewohnten Namen Theudoret/Tudoret angeschlossen hat. Eine Sage von Theodorichs übernatürlicher Geburt und Jenseitsritt, verbunden durch die orientalische Non dormio sedpenso-Episode, konnte also bei einer bretonischen Adaptation sehr gut zur Geschichte eines Tudoret/Tydorel werden.60 Wir sind am Ende unserer Untersuchung angelangt. Es scheint, daß es möglich ist, den Ort, an dem die spanische Theodorichsage in der Tradition der Erzählungen von der Nachtwache steht, mit einiger Wahrscheinlichkeit zu bestimmen. Die Analyse läuft dabei im Geflecht der Beziehungen zwischen den einzelnen Varianten zwar über einige hypothetische Punkte, aber es läßt sich doch nicht nur das Gewicht der einzelnen Möglichkeiten ungefähr abschätzen, sondern die getroffenen Entscheidungen finden auch immer wieder zurückblickend eine gewisse Bestätigung. Der Gewinn dieses ganzen geschichtlichen Aufrisses der Erzählung von der Nachtwache in Orient und Okzident bringt nicht zuletzt eine neue Stütze für die These einer vorkirchlichen, also ostgotischen Theodorichapotheose, ja es wird denkbar, daß diese im Sinne von Wilhelm Grimm mit einer göttlichen Geburt im Zusammenhang gestanden hat. Erzählerisch gebunden aber wurden die beiden Motive wohl erst durch die Kombination mit der Non dormio sed penso-Ep\so6.e. Das Ergebnis war eine Version, die dem Lai von Tydorel, seines bretonischen Kolorits entkleidet und um die ersten Repliken der Non dormio sed penso-¥orme\ ergänzt, nicht unähnlich gewesen sein mag. Diese Nachtwache Theodorichs wurde dann in kirchlicher Redaktion der anderswo zustande gekommenen Umformung des Jenseitsrittes zur Höllenfahrt angeglichen, die Nahtstelle scheint in der verdunkelten dritten Replik Cariolos noch erkennbar.

60

Von BRUGGER 1905, S. 93f., zum erstenmal vorgetragen, ausgebaut 1927, S. 470f. Zum Diminutivsuffixwechsel -et/-el und zum Übergang von woret > oret: BRUGGER, ebd., S. 470, zu u ) y, i: S. 471, zum Wechsel -ec/-et (lonec/lonet): S. 381. Bildungen mit -uuoret: LOTH 1890, S. 180; Bildungen mit Tut-: S. 170; zur Aussprache von bret. eu: S. 235 Anm. 8.

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Hyperbolik und Zeremonialität Zu Struktur und Welt von >Dietrichs Flucht< und >Rabenschlacht
Dietrichs Flucht< und >RabenschlachK dar. Es beginnt damit, daß Ermrich, der Onkel, Dietrich das Erbteil nehmen will. Da es ihm mit List nicht gelingt, geht er mit Waffengewalt gegen den Neffen vor. Es kommt zur ersten Schlacht von Mailand. Ermrich wird geschlagen, aber die sieben besten Helden Dietrichs geraten in einen Hinterhalt des Ermrich-Mannes Witege. Dietrich kann sie nur dadurch retten, daß er auf allen Besitz verzichtet, er flieht an den Hunnenhof. Von dort kommt er mit einem Heer zurück, nachdem der treue Amelolt Bern für ihn gewonnen hat. Es folgt die zweite Schlacht von Mailand, bei der Dietrich wiederum siegt. Aber während er das Heer an den Hunnenhof zurückführt, wird er von Witege, den er zu vertrauensselig in seinen Dienst genommen hat, verraten. Er muß mit hunnischer Unterstützung erneut gegen Ermrich vorgehen. In der Schlacht von Bologna siegt er zum drittenmal, aber es fallen seine besten Krieger. Trauernd kehrt er zu Etzel zurück. Das Rabenschlachtepos berichtet dann von einem vierten Heerzug und einem vierten Sieg. Bei Raben/Ravenna werden jedoch sein Bruder und die Etzelsöhne von Witege getötet. Und wieder kehrt Dietrich als glückloser Sieger an den hunnischen Hof zurück.1 Daß diese Handlung sich im Kreise dreht, ist offenkundig: Man gewinnt den Eindruck, daß vier Varianten derselben Geschichte mit wenig Logik und Kunst aneinandergehängt worden sind. Das Urteil der Literarhistoriker war entsprechend vernichtend. Hermann Schneider bezeichnete die Ereignisfolge als „absurd". Es stehe einerseits fest, daß Dietrich am Ende ins Hunnenland müsse, anderseits aber habe er als Sieger aus dem Kampf hervorzugehen. Das vertrage sich nicht miteinander.2 Von den vier Schlachten seien drei zuviel. Die stoffliche Basis bilde eine Flucht an den Hunnenhof und eine Rückkehr mit tragischen Implikationen.3 „Ein müßiger Kopf" habe „ein bestehendes älteres Handlungsschema sinnlos ausgeweitet und verwässert". Die ursprüngliche, einfache Fabel könne man sich im übrigen von Parallelberichten, insbesondere von der Thidrekssaga, bestätigen lassen.5 1

MARTIN 1967: >Dietrichs FluchK, S. 55ff., >RabenschlachtDietrichs Flucht< mit einer Großgliederung.9 Ihre einzelnen Abschnitte heben sich durch schmale Übergangszonen voneinander ab, die er durch dicht auftretende Vorausdeutungen markiert sieht. Es sind drei Hauptkomplexe zu unterscheiden: Der eigentlichen Dietrichhandlung voraus geht ein einleitender I. Teil, der von Dietrichs Vorgängern und Ahnen berichtet. Diese Genealogie Dietrichs wird als eine Serie von Brautwerbungen geboten, die weitgehend demselben Schema folgen, wobei die erste, diejenige des Ahnherrn Dietwart, breit ausgeführt ist - als Modell sozusagen, dessen kennzeichnende Motive dann im weiteren bei zunehmender Verkürzung der Werbungsgeschichten nur mehr angespielt zu werden brauchen. Schon diese Einleitung zeige, sagt Curschmann, die Erzählhaltung: den manipulierenden Umgang mit verfügbarem Erzählstoff, verbunden mit freier Erfindung unter einer bestimmten thematischen^Perspektive.10 Einen II. Teil bildet dann Dietrichs Vertreibung, seine Rückkehr mit der ersten Schlacht von Mailand und die Gefangennahme seiner Mannen, die'ihn dazu zwingt, alles aufzugeben und ins Exil zu gehen. Es schließt sich ein III. Teil mit zwei Rückkehrversuchen an, die weitgehend parallel verlaufen: zwei Aufenthalte am Hunnenhof, zwei Schlachten - Mailand II und Bologna -, die Fruchtlosigkeit der Siege, die Rückkehr jeweils an den Hunnenhof. 6

Von den zahlreichen Darstellungen, die den Materialkomplex analysieren und ihn historisch immer wieder anders aufbauen, hebe ich nur jene Arbeiten heraus, die die wichtigsten Forschungsschritte markieren: FRIESE 1914; SCHNEIDER 1962, S. 214ff.; STECHE 1939; MOHR 1944; ZINK 1950; WAIS 1953, S. 60ff.; VON PREMERSTEIN 1957. Vgl. im übrigen die Bibliographie zur

deutschen Heldensage 1929-1960< von Roswitha Wiesniewski bei SCHNEIDER 1962, S. 511 ff. 7

8

CURSCHMANN 1976.

Ebd., S. 358. Ebd., S. 358ff. 10 Ebd., S. 361. 1

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Daß hinter dieser Gliederung eine planvolle Stoffmanipulation steht, wird - nach Curschmanns These - noch augenfälliger, wenn man die Korrespondenzen und Oppositionen zwischen den Abschnitten im einzelnen miteinbezieht und überdies das Zusammenspiel mit dem Rabenschlachtepos in Rechnung stellt. Es lassen sich vielfältige Querbezüge nachweisen, die in ihrer Bedeutung bisher nicht gesehen worden waren.11 Diese Manipulation des Stoffes sei, so führt Curschmann weiter aus, unter einer bestimmten thematischen Perspektive durchgeführt worden. Es gehe „um das Ideal wechselseitiger Treue zwischen Herrn und Gefolgschaft".12 Dietrich wachse im II. Teil aus jugendlicher Unsicherheit in das richtige Verständnis der Treue hinein; er demonstriere sie, indem er zur Rettung seiner Mannen alles herzugeben bereit sei. Diese Thematik präge dann auch das Arrangement des III. Teils: die erste Rückkehr sei ausgerichtet auf den g e t r e u e n Amelolt, der Bern für Dietrich zurückerobert, die zweite werde notwendig, weil der u n g e t r e u e Gefolgsmann Witege Ravenna dem Feind ausgeliefert hat.13 Die variierende Wiederholung habe also den Sinn, wenn nicht das triuwe-Thema episch zu entfalten - dazu reiche die Gestaltungskraft nicht aus -, so doch seine verschiedenen Aspekte über Strukturkorrespondenzen und -Oppositionen zu demonstrieren. Man wird Curschmann dankbar dafür sein, daß er gegen das Verdikt von der sinnlosen Klitterung und damit gegen eine ausschließlich stofflich-genetische Betrachtungsweise der historischen Dietrichepik angegangen ist. Daß sich manches gegen seinen Neuansatz einwenden läßt, weiß Curschmann selbst. So hat er betont, daß der Stoff nicht wirklich thematisch bewältigt, vielmehr von außen auf thematische Positionen hinarrangiert worden ist; und er hat auch nicht verschwiegen, daß selbst dies nur bedingt gelungen ist. Die Brüche und inneren Widersprüche, die das Arrangement stören, sind nicht zu übersehen.14 Wie schwerwiegend solche strukturellen und thematischen Inkonsequenzen aber auch sein mögen, man wird wohl bereit sein, Curschmann wenigstens einen Schlußredaktor zuzugestehen. Damit aber sieht man sich zumindest der Frage konfrontiert, wieviel von der vorliegenden Organisation des Stoffes einer individuellen Redaktion zu verdanken ist, bzw. wieviel an mehr oder weniger planloser Klitterung dieser schon vorausgegangen ist. Das Problem läuft also auf ein Abwägen zwischen der Stoffwucherung und dem Grad der Neuorganisation durch den mutmaßlichen Endredaktor hinaus. Das ist selbstverständlich nicht als Aufforderung gedacht, sich auf eine solche spekulative Gratwanderung einzulassen. Man sollte sich im Gegenteil von der Alternative zwischen anonymer Stoffwucherung und individueller Stoffmanipulation freimachen und versuchen, einen Interpretationsansatz über die Gesetzlichkeiten zu gewinnen, nach denen sich der in Frage stehende epische Typus in einer ganz bestimmten literarhistorischen Situation entwickelt hat.

11

Ebd., S. 368ff. Ebd., S. 364ff. 13 Ebd., S. 370. 14 Ebd., S. 382f. 12

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II Vier Schlachten, vier glücklose Siege, viermal der Weg ins hunnische Exil - wie immer dieses Sich-im-Kreise-Drehen zustande gekommen sein mag, eines ist in den auf uns gekommenen Texten unverkennbar: es handelt sich um eine sich steigernde Addition von Varianten. Nach der ersten schon recht aufwendigen Mailänder Schlacht werden die Kämpfe zunehmend mehr zu Massenaufmärschen und Massengemetzeln mit Strömen von Blut und Bergen von Leichen. Zugleich wird das Unglück des Siegers von Mal zu Mal schwerer: Nach dem ersten Sieg verliert er sein Land; nach dem zweiten läßt der Verräter Witege die ganze Bevölkerung von Raben umbringen: 4000 Frauen werden geköpft, mehr als 600 Kinder gehängt; beim dritten Sieg verliert Dietrich seine besten Helden; und im Zusammenhang der Rabenschlacht schließlich fallen sein Bruder und die ihm anvertrauten hunnischen Königssöhne. Diese vier Ereignisreihen wurden offensichtlich nicht so sehr auf eine kunstvoll-komplexe Struktur hin zusammengebaut, sondern unter Vernachlässigung der äußeren und inneren Logik als eine steigernde Wiederholung des Grundthemas kumulativ montiert. Die Wiederholung prägt die eine Grundsituation emphatisch ein: bei immer gewaltigerem Kampf das immer größer werdende Unglück. Von diesem selben technischen Prinzip her ist auch die Vorgeschichte gestaltet, nur daß hier die Perspektive umgedreht worden ist. Bei der Reihung von Brautwerbungsgeschichten steht die ausführlichste und kunstvollste Schilderung am Anfang. Dann werden sie immer schematischer und dürftiger. Die Brautwerbung des Ahnherrn Dietwart umfaßt mehr als 1000 Verse, für die Vermählung des letzten in der Reihe, Arnelunc, hat man nur noch sieben Zeilen übrig. Der gewendeten Perspektive entspricht eine andere Funktion. Dient die steigernde Addition der emphatischen Vergegenwärtigung, so hat die Addition mit sich verkürzenden Gliedern den Zweck, die Modell-Brautwerbung Dietwarts zu distanzieren. Die Nachfahren Dietwarts wiederholen im Prinzip zwar das, was er in idealer Weise vorgelebt hat, konkret aber genügen nun knappe Anspielungen auf allgemein bekannte Sagenzusammenhänge: wesentlich ist nur noch die genealogische Linie, die sie in die Perspektive des Modells stellt. Dieses wird dadurch in eine über zahlreiche Stufen abgesetzte historische Ferne gerückt und nimjpt den Charakter einer in die Vorzeit projizierten Utopie an. Diese utopische Idealität des Modells wird nun noch dadurch verstärkt, daß es eine Bruchstelle gibt zwischen der in der Perspektive Dietwarts stehenden Vergangenheit und der Gegenwart, in der die Dietrichgeschichte spielt: diese Bruchstelle ist durch das Auftreten Ermrichs markiert. Mit ihm hat die untriuwe begonnen: untriuwe ist von im in diu rieh / leider allererste bekomen (vv. 3508f.). Nicht, daß durch diesen Einbruch des Bösen die alte Idealität völlig ausgelöscht worden wäre, es gibt gegenüber der untriuwe des Ermrich-Lagers die triuwe auf der Seite Dietrichs, aber die triuwe hat keine reale Chance mehr, die untriuwe siegt mit Ermrich und seit ihm auf dieser Welt. Sie arbeitet mit Geiselnahme und Terror, und dagegen kommt man nicht an, damals nicht und heute nicht: die Gegenwart des Dichters gehört in das durch Ermrich gezeichnete Zeitalter, Ermrich hat den Status quo heraufgeführt. Dadurch wird er zur quasimythischen Figur einer Zeitenwende. Mit ihm beginnt der Verrat, durch ihn kommt es zum Bruch mit einer ebenfalls mythisierten heroischen Urzeit, in der die Menschen 367

noch in triuwe zusammenlebten, was durch den harmonischen Ablauf der Brautwerbungsserie und die ebenso harmonische Weitergabe der Herrschaft einleitend dargestellt worden ist.15 Dieses mythische Konzept folgt an sich dem simplen Schema von Paradieszustand und Fall oder Kainstat. Die Ausgestaltung bedient sich hier jedoch einer Stilisierung, die sehr eigentümlich ist. Die Vorzeitutopie, konkretisiert in der Brautwerbungsreihe, stellt sich als eine höfische Welt dar, die in gesellschaftlich-formalisierten Vorgängen und Verhaltensweisen ihren Ausdruck findet. Die zwischenmenschlichen Beziehungen und Begegnungen laufen in ritualisierten Konventionen ab, und sie erschöpfen sich darin. Zur Verhaltensform kommt die Manifestation der Vollkommenheit im Glanz der äußeren Erscheinung. Schon bei der Einleitung zur Brautfahrt Dietwarts, seiner Schwertleite, wird die ganze Pracht höfischer Festschilderung entfaltet: der Aufzug der Gäste mit prunkenden Kleidern und großem Gefolge, der König, der ihren Reichtum noch übertrumpft mit den Kleinodien und Kostbarkeiten, die er aus seiner Schatzkammer holen und unter sie verteilen läßt: Samt, Zobel, Hermelin, perlenbestickte Kissen, kostbar verzierte Taschen usw. Dann das Fest selbst in der Abfolge seiner verschiedenen Programmpunkte: Messe, Schwertleite, Turnier, Bankett - das Singen und Spielen der Fahrenden nicht zu vergessen, die verschwenderisch beschenkt werden. Schließlich die obligate Brautwerbungsberatung, und dabei der ebenso obligate Bericht von dem einen Mädchen, demgegenüber alle anderen ein tou und ein wint sind: es ist die Tochter des Königs des Westenmeerlandes, dessen ere, guot und höher muot dann in den höchsten Tönen gepriesen werden. Boten werden unter tränenreichem Abschied ausgesandt und im fernen Land ehrenvoll empfangen. In diplomatischer Zurückhaltung und zugleich vollendet höfischer Gebärde wird die Werbung vorgetragen, mit positiver Antwort und reichen Geschenken kehren die Boten heim. Nun zieht der König selber aus, und zwar mit einer ganzen Flotte und begleitet von 4000 Rittern. Unterwegs besiegt er noch schnell eigenhändig einen Drachen. Im Westenmeerland: würdiger Empfang und festliches Mahl; dann folgt die Heimkehr mit der wunderbaren Jungfrau, und darauf nochmals - wenn nun auch knapp geschildert - ein vierzehntägiges Fest.

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Die korrumpierte Gegenwart von einer idealisierten Vergangenheit abzusetzen ist ein gängiges Klischee. DELBRÜCK 1893/1902 hat Belege dazu bis zu Homer zurück zusammengetragen. Von dieser allgemeinen Zeitklage, verbunden mit der laudatio temporis acti, unterscheidet sich die Situation in >Dietrichs Flucht< dadurch, daß das Klischee mythisiert wird: es ist ein bestimmter Mensch - Ermrich -, der die katastrophale Zeitenwende herbeigeführt hat. Es scheint dazu, soweit ich sehe, nur einen einzigen Parallelfall zu geben: den >Pfaffen AmisDietrichs FluchK vor.

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Was man hier vor sich hat, ist eine Reihung von literarischen Versatzstücken unterschiedlicher Provenienz. Entscheidend ist ihre höfische Inszenierung, die alles gleichermaßen idealisiert. Es kann in diesem Rahmen nicht überraschen, daß Dietwart explizit mit Artus verglichen wird (v. 106, v. 131). Das Höfische bleibt jedoch durchwegs Klischee. Das hängt daran, daß die Figuren keine Gelegenheit haben, sich in einer spezifischen Handlung zu individualisieren. Die vollendete Form fließt nicht wie im Artusroman - aus einer Position, die errungen werden muß, sondern es wird die äußere Erscheinung als Zeremoniell geboten, das diese Position lediglich bedeutet, d. h., das Höfische wird, in die Idealität der Vorzeit entrückt, zur utopischen Setzung. Immerhin, so mag man einwenden, gibt es den Drachenkampf. Doch dieser Drachenkampf Dietwarts erscheint als zusammenhanglose Episode auf seinem Weg zur Braut. Die Bedeutung des Drachenkampfes dürfte gerade darin liegen, daß damit das Negative außerhalb der höfisch-idealen Sphäre angesiedelt wird. Die Existenz des utopischen Urzustandes beruht darauf, daß der Drache besiegt werden kann und exemplarisch besiegt worden ist. Der Vorzeit der Dietrichahnen als einer quasimythischen Utopie in höfischer Stilisierung wird dann die heroisch-tragische Gegenwart der Dietrichhandlung gegenübergestellt. Dabei zeigt sich auch das Heroische in einer eigentümlichen, von der Heldensagentradition abweichenden Form. Es ist zwar problematisch, das, was das Heroisch-Tragische der sog. germanischen Heldensage ausmacht, auf einen Nenner bringen zu wollen und es zum Zwecke des Vergleichs in eine Formel zu fassen, aber vielleicht darf man - mit allen Vorbehalten - sagen, daß das frühe heroisch-tragische Lied in einem Bewußtseinsakt des Helden sein Ziel findet, indem der physische Untergang des Helden zugleich ein Sieg seines Geistes ist, ein Triumph seiner ungebrochenen Haltung: der Paradefall ist der harfenspielende Gunnar in der Schlangengrube. Diese auf das äußerste gespannte Verschränkung von Untergang und Sieg erscheint in der überkommenen Dietrichepik aufgelöst und in gewisser Weise umgedreht. Aus dem inneren Sieg ist ein nur äußerer geworden, und aus dem Wissen um den Untergang ein zufälliges Unglück nach dem Sieg, das in die Entmutigung, in Verzagtheit und Hoffnungslosigkeit führt. An der Stelle des im Tod siegenden Helden steht der glücklose Sieger, an der Stelle des geistigen Triumphs die seelische Depression: die Handlung gipfelt in der Klage. Das lßgt nicht unbedingt an der Fabel. Es hätte z. B. der Verzicht Dietrichs zur Rettung seiner Mannen sehr w.nhl Gelegenheit geben können, seinen Großmut zu feiern. Doch der Verzicht kommt am Hunnenhof erstaunlicherweise nicht einmal zur Sprache; er geht sozusagen in der Klage unter. Wird die heroische Tragik zum deprimierenden Unglück, so erscheint auf der andern Seite die heroische Tat ins Ungeheuerliche gesteigert. Sie wird in maßloser Hyperbolik überzogen. Das Qualitative schlägt radikal ins Quantitative um, oder es wird hochgetrieben ins Grelle des Effekts. Da die heroische Tat nicht mehr mit einer auf das Tragische ausgerichteten geistigen Haltung gekoppelt ist, ist sie nicht mehr auf den individuellen Helden angewiesen. Aus der heroischen Einzeltat wird die Massenschlacht. Geschildert werden zwar immer noch Einzelkämpfe im Rahmen der Massenregie, aber die Reihe dieser Kämpfe steht teils im Rahmen der Massenschlacht und teils für sie. Eine Sekundärfigur drängt sich übrigens neben Dietrich in den Vordergrund: Wolfhart. Er erscheint geradezu als die personifizierte Kampfwut. 369

Blut, Feuer und Zahlen - immer wieder Zahlen: das ist es, was sich bei diesen Kampfschilderungen einprägt. Die erste Schlacht von Mailand spielt sich als nächtlicher Überfall Dietrichs und seiner Leute auf Ermrichs übermächtiges Heer ab. Die wütenden Schläge Wolfharts und seiner Mannen lassen Feuer aus den gegnerischen Helmen brechen, so daß es hell wird wie am Mittag. Die Kämpfer fallen in Scharen. Die Ringe fliegen aus den Brünnen wie Laub von den Bäumen. Der Berner tut Wunder an Krafttaten. Als die Sonne aufgeht, sind von den 60000 Mann Ermrichs 56000 erschlagen, die übrigen gefangen. Das Feld steht so tief unter Blut, daß man die Toten nicht mehr sehen kann. - Auch die zweite Schlacht von Mailand beginnt mit einem nächtlichen Überraschungsangriff auf Ermrichs Heer. Es kommt zu einer gräßlichen Metzelei: Helme werden gespalten, Stahl wird gebrochen, die Leiber der Helden rauchen wie ein brennender Wald, man watet bis zu den Knien im Blut. Am Abend sind 7000 auf Seiten Ermrichs erschlagen. Die Kämpfer des Berners haben keine Haut und kein Fleisch mehr an den Händen. - Für die Schlacht von Bologna bringt Ermrich 200 000 Mann zusammen. Sie werden durch ein Umgehungsmanöver von Dietrich in die Zange genommen, aber als sie aufgerieben sind, kommen immer wieder neue Hilfsheere für Ermrich heran, der Kampf beginnt immer wieder von vorn. Und wieder schlägt das Feuer aus den Rüstungen, die Helden dampfen, so daß sie einander nicht mehr sehen können, das Blut fließt in Bächen über das Feld, die Schlächterei dauert drei Tage und zwei Nächte. - Die >Rabenschlacht< weitet anhand desselben Schemas noch einmal aus. Die Kämpfe ziehen sich hier über 12 Tage hin. Immer neue Reiterscharen werden zum Abschlachten herangeführt. Es fließt noch mehr Blut, es entwickelt sich noch mehr Feuerdampf und Rauch, die Krieger fallen zu Zehntausenden. Alle diese Schlachtschilderungen bestehen im Grunde aus einer Häufung hochgepeitschter Klischees. Da sie in ihrer Formelhaftigkeit leerer Effekt bleiben und sofort verpuffen, drängen sie zu immer neuer Überbietung, was ihr Ungenügen aber nur offenkundiger macht. Was die Handlungsführung kennzeichnet: das Ausweichen in die variierende, sich steigernde Wiederholung, das gilt auch für die sprachliche Gestaltung. So wenig der Stoff von innen her organisiert, sondern von außen her manipuliert wird, so wenig kommt es zu einer inneren sprachlichen Form. Auch die Sprachgestalt ist Montage. Die Verse werden hochgetrieben, das Formelhafte kann dabei eine schlagkräftige Prägnanz erreichen, aber auch immer wieder in hölzerne Banalität fallen. Das quantitative Denken wirkt in die Thematik hinein. Wenn Dietrich um seine verlorene ere klagt, so geht es ihm dabei vor allem um den Verlust seiner materiellen Machtmittel, um Landbesitz und Geld. Das heißt: Ansehen in der Gesellschaft und Reichtum als konkrete Macht sind nicht mehr selbstverständlich eins in einer Figur, der beides von art zukommt oder der es über den äußeren Weg, der zugleich ein innerer ist, zufällt, sondern ere und materieller Besitz sind in neuer Weise miteinander verkoppelt. Dietrich ist arm, weil ihm das Unglück die konkreten Machtmittel genommen hat; und der Weg, der zu Land und Würde zurückführen soll, geht über die materielle Unterstützung durch den Hunnenhof. Der Kampf ist eine Frage von Quantitäten, gerade auch dann, wenn zahlenmäßige Übermacht durch übermenschliche Kraftakte ausgeglichen wird. Trotz höchster Bewährung stellen sich ere und Macht jedoch nicht ein. Das Unglück Dietrichs liegt darin, daß diese Entsprechung nicht mehr funktioniert, d. h., es wird nicht mit einer Erzählstruktur gearbeitet, die sie ga370

rantieren würde; im Gegenteil, es macht die Eigenart der hier verwendeten Struktur gerade diesen Bruch offenkundig. Die Zeitklage, die in >Dietrichs FluchK an das Unglück des Helden angeknüpft wird, spiegelt übrigens diese Perspektive wider: der Dichter klagt darüber, daß die Herren ihre Mannen heutzutage nur noch materiell ausnützen, ohne es ihnen entsprechend zu vergelten (vv. 7949ff.). In der Welt fallen - seit Ermrich - Verdienst und Lohn oder Glück auseinander.

III In der klassischen Heldenepik - im Nibelungenlied - sind das Höfische und das Heroische in einem thematisch gebundenen Spannungsverhältnis aufeinander bezogen. Dabei kann die höfische Welt von der heroischen Tradition in Frage gestellt werden, kann die Problematik des Höfischen vor dem Hintergrund des Heroischen aufbrechen und eine Auseinandersetzung in Gang kommen, in der beide Komponenten in die Krise geraten und sich verwandeln.16 Ein solcher Prozeß ist in den Dietrichepen dadurch verunmöglicht, daß das Höfische wie das Heroische veräußerlicht und beziehungslos gegeneinandergesetzt werden. Das Höfische ist in die utopisch-ideale Vergangenheit der Vorgeschichte abgerückt; der historische Bruch ist nicht mehr rückgängig zu machen. Zwar fällt ein Abglanz der Idealität noch auf den Hunnenhof, doch auch er ist letztlich hilflos gegenüber der durch Ermrich verdorbenen Welt. Das Höfische, zum Zeremoniell erstarrt, tritt in seiner Idealität in einen fruchtlosen Gegensatz zum Ungenügen an der Gegenwart - eine Konfrontation übrigens, die auch sonst in der späthöfischen Dichtung von Bedeutung ist.17 Das Heroische auf der andern Seite ist nicht mehr bedrohlicher Hintergrund und Gefährdung der höfischen Welt aus alter und neuer Gegengesetzlichkeit heraus, sondern es ist vergebliche Tat gegenüber dem Bösen. Je gewaltiger dabei die Anstrengung wird, um so mehr entleert sich das Heroische in sinnloser Hyperbolik. Was bleibt, ist, wie gesagt, die Klage. Ein entsprechendes Bild ergibt sich unter thematischem Aspekt. Die Dietrichepik verarbeitet zwei große abendländische Literaturthemen: Brautwerbung und Heimkehr. Diese beiden Themen sind im 12. und frühen 13. Jahrhundert neue fruchtbare Verbindungen von unterschiedlicher Art eingegangen. Im Artusroman ist dor Gewinn der Braut ein Ausgreifen ins Fremde, in den Bereich des Unhöfischen, die Heimkehr mit der Braut die Verwirklichung der höfischen Idealität. Eine Gegenmöglichkeit ist in der tragischen Brautwerbung realisiert, etwa im >TristanBiterolf und Dietleib< den Verdacht abwehren muß, Helches Fürsorge für die guoten recken sei üf falsche minne gerichtet.20 Offenbar soll Rüedegers Erklärung im Anschluß an die Duz-Episode ähnlichen Gedanken vorbeugen. Es wird deshalb das Verhältnis der Königin zu Dietrich explizit als ein mütterliches stilisiert - zweimal wird Helche kurz vor dieser Szene von Dietrich bzw. in Verbindung mit ihm muoterlich genannt.21 So kann Curschmann nicht zu Unrecht sagen, daß sie gewissermaßen die Mutterstelle an ihm vertrete.22 Im übrigen wird bei dieser Stilisierung mitgewirkt haben, daß es nicht unnötig gewesen sein dürfte, ganz konkrete arthurische Assoziationen abzuwehren. Je mehr der Etzelhof Züge des Artushofes annahm, um so mehr mußte sich die Position Helches derjenigen Guenievres annähern, und damit konnte das Verhältnis Helches zu den Recken leicht in die öfter prekäre Beziehung Guenievres zu gewissen Artusrittern hinüberspielen. Dem wich man dadurch aus, daß man Helche zur Mutterfigur umstilisierte. Im weiteren konnte sich nun gerade in Dietrichs Beziehung zu einer solchen Figur die ambivalente Position des Hunnenhofs in der epischen Handlung besonders prägnant darstellen: Die Heimkehr Dietrichs nach Italien ist von der Mutterfigur Helche her gesehen ein Hinausgehen in die Welt. Scheiternd kehrt er dann immer wieder zu ihr heim. An der Stelle der Bewältigung der Welt im äventiure-haflen Vorstoß und im Blick auf die königliche Herrin steht hier die Katastrophe und der Rückfall auf den mütterlichen Ausgangspunkt. So erscheint der Weg Dietrichs seltsam zwiespältig im Wechsel zwischen Lösung und Bindung gegenüber der Königin Helche. Die Flucht als Heimkehr zur Mutter, das Versagen in der Welt als Rückseite der Mutterbindung: auf dem Hintergrund dieses psychologischen Schemas gewinnt das Sich-im-Kreise-Drehen etwas von einem Ritual. Es ist das Ritual der vergeblichen Ablösung vom mütterlichen Ursprung in einer bösen, nicht zu bewältigenden Welt. Je weniger man also den überkommenen Stoff zu durchdringen und die Welt über das Wort zu formen vermag, um so mehr kommt es - teils bewußt und unter bestimmten Zwecken und teils zwangsläufig - zur Anlehnung an mythische und psychische Elementarkonstellationen.

20

CURSCHMANN 1976, S. 374f.; JÄNICKE 1963, vv. 1265ff. - In der Gudrünarkvida III wird übrigens Gudrun, die hier an der Stelle Helches steht, des Ehebruchs mit Dietrich beschuldigt. Es handelt sich freilich um eine bloße Verleumdung, die dann durch ein Gottesurteil entkräftet wird. Zudem hat man es zweifellos mit einem späten, novellenhaften Motivkomplex zu tun. Trotzdem ist es wohl nicht ganz bedeutungslos, daß gerade Dietrich der Partner ist, den man mitverdächtigt. - Für diesen Hinweis habe ich Ursula Hennig zu danken. 21 Vv. 4837 und 4931. Die dritte Stelle, die Curschmann anführt (v. 5047), ist - Burghart Wachinger hat darauf aufmerksam gemacht - nicht einschlägig, denn sie bezieht sich auf Helches Mutter. "CURSCHMANN 1976, S. 375.

373

IV Ich habe mir bisher erlaubt, >Dietrichs FluchK und >Rabenschlacht< in einer Linie zu sehen, so, als ob die Schlacht von Ravenna mit dem Tod der Helche-Söhne einfach eine weitere, vierte Variante des Grundthemas vom glücklosen Sieger Dietrich darstellen würde. Man kann dies durch den Hinweis rechtfertigen, daß die beiden Epen nicht nur gemeinsam tradiert worden sind, sondern sich über längere Zeit hin in einer Art Symbiose entwickelt haben und dabei in wechselseitiger Beeinflussung denselben literarhistorischen Bedingungen unterworfen gewesen sein müssen. Die auf uns gekommene Fassung der >Rabenschlacht< läßt erkennen, daß sie auf der Basis der skizzierten stilistischen und strukturellen Gesetzlichkeiten in der Richtung weitergegangen ist, in die das Fluchtepos gewiesen hat. Auch thematisch wird unmittelbar angeknüpft. Wir finden zu Beginn Dietrich in gewohnter Weise trauernd am Hunnenhof, er beklagt seine gefallenen Helden. Es wird also auf das Ende des Fluchtepos Bezug genommen. Die weiteren Vorgänge laufen in den eingefahrenen Bahnen: Helche bemerkt Dietrichs Kummer, sie gibt den Anstoß, daß wieder Hilfsmittel und ein Heer für einen Rachefeldzug zusammenkommen. Das Zeremonielle und das Hyperbolische erweisen sich weiterhin als die maßgeblichen Kategorien der Darstellung. Die typischen Züge sind im Sinne der steigernden Variation weitergetrieben. Das heroische Gemetzel feiert in der Schlacht bei Ravenna neue Exzesse, und das Unglück mit Dietrichs großer Klage überbietet ebenfalls alles, was der Berner bislang erfahren mußte und zu bewältigen hatte. Wenngleich aber die >Rabenschlacht< das Fluchtepos handlungstechnisch fortsetzt und es strukturell und thematisch variierend weiterspielt, so schließt es sich doch nicht nahtlos an die >Flucht< an, und es trägt auch das Gesamtbild nicht ganz dieselben Akzente. Auffällig ist die Differenz in der Form: Strophen gegenüber Reimpaaren, dann eine gewisse stoffliche Überlappung: die Heirat Dietrichs mit Herrat wird nochmals geschildert. Besonders bemerkenswert aber ist eine eigentümliche Handlungsführung, die mit der Gewichtung der einzelnen thematischen Komplexe zusammenspielt. Sie beruht auf Art und Stellenwert des Unglücks, das dem Rabenschlachtepos sein charakteristisches Gepräge gibt: dem Tod der hunnischen Prinzen. Das Epos gliedert sich in drei Abschnitte von ungefähr gleichem Umfang. Das erste Drittel bringt, nach der Vorbereitung, die Ausfahrt Dietrichs vom Hunnenhof, den Kriegszug in Italien und den Tod der Prinzen und des Dietrichbruders. Das ganze zweite Drittel nimmt die Schlachtschilderung ein, während das letzte Drittel mit der Totenklage, der Darstellung der Verzweiflung Dietrichs und der Versöhnung mit dem hunnischen Königspaar wieder an den ersten Komplex anknüpft. Dadurch, daß die Schlacht, von der man erwarten müßte, daß sie dem Untergang der Etzelsöhne parallelläuft, künstlich - durch einen unmotivierten Waffenstillstand - hinausgezögert wird, wird das hyperbolische Gemälde der Schlacht noch drastischer als in der >Flucht< gegen Dietrichs unverschuldetes Unglück gestellt: der ganze Kampf ist - für den Zuhörer oder Leser - schon sinnlos geworden, bevor er überhaupt beginnt. Doch die Grundthematik wird auf diese Weise nicht nur verschärft, sondern Dietrichs Unglück greift auch weiter aus: es trifft nun unmittelbar auch jene Basis, auf die Dietrich sich immer zurückziehen konnte: die bislang nicht beeinträchtigte Sphäre des Hunnenhofs in ihrer höfischen Idealität und Dietrichs Beziehung zu ihr sind mit 374

in Frage gestellt. Nicht, daß diese Idealität zurückgenommen würde, im Gegenteil, aber die Hofsphäre erscheint bei aller Stilisierung sehr viel lebendiger, und dies nicht erst durch die Prinzentragödie, sondern von vornherein. So wird z. B. die Heirat Dietrichs mit Herrat, die in der >Flucht< mit dem auffälligsten Desinteresse knapp erzählt wurde, nun breit ausgemalt, und sie gewinnt für Dietrich Bedeutung: sie ist für ihn nicht mehr ein politischer Akt, dem er sich widerwillig fügt, sondern er kann bei Herrat sein Leid vergessen (Str. 119 u. 122). So wie der Hunnenhof auf der einen Seite in Dietrichs Unglück einbezogen wird, so darf Dietrich auf der andern wenigstens für einen Augenblick dort glücklich sein. Das Exil ist insgesamt weniger schematischer Fluchtpunkt als im ersten Epos, es ist stärker in das Geschehen verflochten, es ist bei aller Idealisierung in höherem Maße Teil einer übergreifenden Welt. Das bedeutet eine Veränderung in der Grundkonstellation. Sie muß sich schon in dem Maße bemerkbar machen, in dem die >Rabenschlacht< sich gegenüber der >Flucht< verselbständigt und die utopische Vorgeschichte nicht mehr direkt mit in den Blick fällt. Der Hunnenhof steht dann weniger im Lichte der abgerückten Vorzeitidealität; und das bedeutet, daß die mythische Schematik zurücktritt. Zugleich wird auch das psychologische Grundmuster verwischt. Die Bindung Dietrichs an Helche erscheint distanzierter, dies schon durch die von ihr inszenierte Hochzeit mit Herrat. Insbesondere aber, kommt es durch den Tod der Helchesöhne zu einem einschneidenden Bruch: Dietf ich wird von der Königin verflucht, und wenn der schuldlos-schuldige Berner schließlich auch wieder in Gnade aufgenommen wird, so geht die Beziehung doch durch eine tiefe Krise hindurch, und es kann das Verhältnis hinterher nicht mehr von jener spontanen Mütterlichkeit getragen sein, die es in der >Flucht< kennzeichnet. Auf der andern Seite ist zu bedenken, daß die Tragödie der Helchesöhne wohl zu den stofflich ältesten und festesten Elementen der Dietrichsage gehört23 und daß das Eigengewicht der Fabel immer wieder durchschlagen und der Schematisierung Widerstand entgegensetzen mußte. Um so bemerkenswerter ist es, in welchem Grade die >Rabenschlacht< doch denselben Strukturgesetzlichkeiten, wie sie in >Dietrichs FluchK faßbar werden, verpflichtet bleibt. Dietrich ist schon im Fluchtepos in erster Linie ein leidender Held, und dies trotz aller Aktivität; denn die heroische Tat ist so überzogen, daß sie leer wird und das thematische Gewicht ganz auf das Leiden an d#r Gemeinheit der Welt fallen muß. Alles Tun versackt sozusagen trotz krampfhaftester Bemühungen in der bodenlosen Kluft zwischen der höfischen Utopie und der von Ermrich geprägten Wirklichkeit. Diese Vergeblichkeit des Guten kennzeichnet auch die Gegenwart des Dichters, die er •m Bild Ermrichs kritisiert. Er vermag ebensowenig gegen sie wie der Berner gegen seinen Feind: es bleibt ihm nichts, als die zeitgenössischen Ermriche zum Teufel zu wünschen. Immerhin besitzt die >Flucht< noch diesen moralischen Impetus. In der >Rabenschlacht< ist auch dieser verloren, es bleibt nur das Leid, ein Leid freilich, das sich nun einem Prozeß öffnet: es ist nicht mehr bloß immer wieder enttäuschte Hoffnung und Resignation, sondern Erfahrung, die zwischenmenschlich bewältigt werden muß. Damit verändert sich mit dem Publikumsbezug die Funktion der Dichtung. 23

Es wird in der Regel mit einer historischen Basis gerechnet: MOHR 1944, S. 125ff., und insbes. ROSENFELD, H. 1955, S. 216ff.; er postuliert ein Lied von Frau Helches Söhnen, dessen geschichtliche Grundlage die Schlacht am Nedao gewesen sei, in der die Goten auf Seiten der Hunnen gegen Ardarich kämpften und der Helchesohn Ellak fiel.

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Wenn >Dietrichs Flucht< die konkrete historische Verankerung der Dietrichsage auch weit hinter sich zurückläßt, so liegt ihr doch über das mythisierende Schema noch eine Art geschichtliches Gesamtkonzept zugrunde. Das psychologische Schema führt zudem auf eine allgemein menschliche und universal verbindliche Basis. Mit dem Abbau dieser Schemata in der >Rabenschlacht< tritt das private Schicksal Dietrichs bestimmend in den Vordergrund. Hier wird kein geschichtlicher oder gesellschaftlicher Entwurf mehr versucht; was davon übrig ist, zehrt vom mythischen Ansatz des Fluchtepos. Das Fresco-Gemälde der Schlacht von Ravenna vermag kein quasi-heilsgeschichtliches Bewußtsein mehr zu konstituieren, es ist nur mehr Reiz und Erregung vor dem Umbruch ins Unglück des Helden. Das Thema des armen Dietrich appelliert damit vor allem an die individuelle Fähigkeit des Hörers oder Lesers, das Leid der Welt auf sich zu nehmen und sich der Gnade anzuvertrauen. Über die Tragödie der Helchekinder erreicht das Epos mindestens im Ansatz eine neue seelische Dimension, die die Dichtung des späteren Mittelalters auch anderweitig aufzuschließen sucht: Leiden und Mitleiden als innere Form der Wirklichkeitsbewältigung.

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IV. A R T H U R I A N A C H R E T I E N DE T R O Y E S , H A R T M A N N VON A U E , W O L F R A M VON E S C H E N B A C H

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Vom Imram zur Aventüre-Fahrt Zur Frage nach der Vorgeschichte der hochhöfischen Epenstruktur

In der neueren Forschung zum Artusroman setzt sich immer mehr die Erkenntnis durch, daß jener hochhöfische Romantypus, der für uns am vollkommensten durch Chretiens >Erec< und >Yvain< repräsentiert wird, einem ganz bestimmten Strukturmodell folgt, wobei es wesentlich zu dieser Struktur gehört, daß sie in einer besonderen Weise den Sinn des Geschehens mitträgt.1 Im >Erec< wie im >Yvain< läuft die Handlung über zwei Kreise, die durch die Zäsur einer Krise voneinander getrennt sind. Der Aventüre-Weg des ersten Kreises wird im zweiten Kreis auf höherer Ebene, d. h. unter neuen Bedingungen und unter verändertem Aspekt, wiederholt. Die Episodenfolgen der beiden Zyklen sind dabei ihrerseits wieder, in z. T. kunstvollen Symmetrien, in sich abgestuft. Die Projektion der Handlung auf diese Bauform bedeutet, daß die Ereignisse in den einzelnen Positionen nicht nur aus ihrer linearen Verknüpfung, sondern zumindest ebensosehr von ihrem Stellenwert in der Gesamtstruktur her zu interpretieren sind. Während man die Bedeutung dieses strukturbezogenen Darstellungsprinzips heute zu durchschauen beginnt, liegen seine literarhistorischen Voraussetzungen so gut wie völlig im dunkeln.2 Auch die nachstehende Untersuchung vermag nicht so weit vorzustoßen, daß eine Lösung der Frage sich abzeichnete. Es kann vorläufig erst darum gehen, etwas mehr Licht auf die Strukturen jener literarischen Typen zu werfen, die geschichtlich unmittelbar an die hochhöfische Epik heranführen. Der Versuch, den ich hier vorlege, wählt als Gegenstand den Typus des vorhöfischen Reiseromans, konkret: die Imram Maelduin->BrandanBrandans3 Meerfahrt < ist im wesentlichen in drei Versionen überliefert: 1. in der >Navigatio Sancti BrendaniVita< (>Betha BrenainnNavigatio< als >Reise< oder >ReiseNavigatio< ist sehr breit überliefert. Carl Selmer, dem wir die maßgebliche Edition verdanken, kennt etwa 120 Hss., deren älteste noch ins 10. Jahrhundert zurückreichen. Dazu kommen zahlreiche vulgärsprachliche Übersetzungen.4 Die >Navigatio< stammt zweifellos aus irischer Schule. Das legt nicht nur die Titelgestalt nahe - der historische Brandan, geboren in Kerry, war Abt des Klosters Clonfert, Galway; er stirbt in den siebziger Jahren des 6. Jahrhunderts5 -, sondern das beweisen Hibernismen im Latein und insulare Schreibgewohnheiten. Auch die stofflichen Beziehungen lassen daran keinen Zweifel aufkommen. Was den Entstehungsort betrifft, so weist die Hss.-Tradition nach Lothringen.6 Ob man gegen Selmer weiter ins 9. Jahrhundert zurückgehen und die >Navigatio< oder zumindest deren Vorstufe in Irland selbst lokalisieren darf, ist eine offene Frage.7 2. Die irisch-lateinische >Vita< ist in ihren Querbeziehungen sehr schwer zu beurteilen. Nachdem Heinrich Zimmer sie aufgrund der Redaktion im Book of Lismore, 15. Jahrhundert, für irisch gehalten hat, konnten lateinische Versionen beigebracht werden, die das sehr zweifelhaft erscheinen lassen.8 Mit der >Navigatio< zeigt die >Vita< nur wenige Berührungspunkte. Sie hat sich offenbar sehr selbständig entwickelt. Kontaminationen tragen weiterhin dazu bei, daß sie zu den undurchsichtigsten Zeugnissen der ganzen Tradition gehört. 3. Die >ReiseReiseNavigatio< ist das Problem der Entwicklungsgeschichte des Stoffes neu aufzurollen. Zu diesem Zweck ist es in erster Linie notwendig, den nächstverwandten irischen Text, den Imram Maelduin, vergleichend heranzuziehen.18 Ich gebe eine möglichst knapp gehaltene Übersicht über die einzelnen Episoden:

1

1 (Zi.O)

G e b u r t und Jugend M a e l d u i n s . Ein gewisser Ailill vergewaltigt eine Nonne. Er wird kurz darauf von Räubern erschlagen. Das Kind der Nonne, Maelduin, wird von der Königin mit ihren drei eigenen Söhnen aufgezogen. Später erfährt Maelduin seine Herkunft; er beschließt, sich aufzumachen, um den Tod seines Vaters zu rächen.

2 (Zi.O)

Besuch bei Nuca. Maelduin begibt sich zum Druiden Nuca und holt sich Auskunft über einen glücklichen Zeitpunkt für den Bau des Schiffes und den Beginn der Reise. Er soll genau 17 Gefährten mitnehmen.

3 (Zi.O)

Bau des Schiffes. Maelduin baut ein dreihäutiges Schiff.

4 (Zi.O)

Die drei Ü b e r z ä h l i g e n . Als Maelduin aufbricht, erscheinen seine drei Pflegebrüder. Sie schwimmen dem Schiff nach, und Maelduin sieht sich gezwungen, sie mitfahren zu lassen.

5 (Zi.l)

Die Insel der M ö r d e r . Schon nach einem Tag finden sie die gesuchten Räuber auf zwei kleinen bewehrten Inseln. Aber ein Wind treibt das Schiff ab. Die überzähligen drei Brüder sind schuld daran, daß der Racheplan vorerst fehlgeschlagen ist.

6 (Zi.2)

Die Insel der R i e s e n a m e i s e n . Nach drei Tagen wird das Schiff an eine Insel getrieben. Es erscheinen Ameisen von der Größe junger Pferde. Maelduin und die Seinen fliehen so schnell wie möglich.

7 (Zi.3)

Die Insel mit den großen Vögeln. Auf einer hohen, mit Bäumen bestandenen Insel finden sie Vögel, die ihnen als Nahrung dienen.

8 (Zi.4)

Die Insel des Pferds mit den H u n d e f ü ß e n . Maelduin nähert sich einer Insel, auf der sich ein Mischwesen befindet: eine Art Pferd mit Hundefüßen und Krallen. Es macht Anstalten, das Schiff aufzufressen; Maelduin rudert eilig davon.

9 (Zi.5)

Die Insel des d ä m o n i s c h e n P f e r d e r e n n e n s . Maelduin und seine Gefährten finden auf einer Insel riesige Fußspuren von Pferden. Voll Furcht auf das Schiff zurückgekehrt, sehen sie, daß von Dämonen ein Pferderennen veranstaltet wird.

10 (Zi.6)

Die Insel mit dem m e n s c h e n l e e r e n H a u s . Sie erreichen eine Insel, an dessen Ufer ein großes, menschenleeres Haus steht. Sie finden darin Lager und gedeckte Tische. Dankbar erfrischen sie sich.

STOKES 1888/1889; VAN HAMEL 1941, S. 20-77. Ich zähle auch die Einleitungsepisoden durch, setze aber die Zimmersche Zählung in Klammern.

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11 (Zi.7)

Die Insel mit dem Apfelzweig. Maelduin ergreift im Vorbeifahren an einer Insel einen Zweig; innerhalb von drei Tagen wachsen daran drei Äpfel, von denen jeder sie 40 Tage lang sättigt.

12 (Zi.8)

Die Insel mit dem Tier, das sich in seiner Haut dreht. Auf einer ummauerten Insel sehen sie ein Tier, das mit Windeseile um die Insel rast und das die Fähigkeit besitzt, sich in seiner eigenen Haut zu drehen. Dem flüchtenden Schiff Maelduins wirft es Steine nach.

13 (Zi.9)

Die Insel der sich z e r f l e i s c h e n d e n Pferde. Auf einer Insel sehen Maelduin und seine Gefährten pferdeähnliche Tiere, die sich gegenseitig Fleischstücke aus ihren Seiten beißen.

14 (Zi.10) Die Insel mit den A p f e l b ä u m e n . Auf einer Insel mit Apfelbäumen leben feurige, schweinähnliche Tiere. Tagsüber fressen sie von den Äpfeln. Nachts verkriechen sie sich in die Erde, so daß der Boden ganz heiß wird. Dann kommen die Wasservögel ans Land und fressen ihrerseits von den Äpfeln. Maelduin und die Seinen warten wie die Vögel die Nacht ab und holen sich dann von den Früchten. 15 (Zi. 11) Die Insel mit dem Haus der Katze - Verlust des ersten Pflegebruders. Maelduin landet auf einer Insel mit einer hohen weißen Mauer und weißen Häusern. Alles ist wie ausgestorben, nur im größten Haus finden sie eine Katze. Sie finden hier Lager und Essen und Trinken. An der Wand hängen kostbare Broschen, Halsketten und Schwerter. Gegen den Rat Maelduins nimmt einer der Pflegebrüder eine Halskette. Da fährt die Katze wie ein feuriger Pfeil durch ihn hindurch und verbrennt ihn zu Asche. 16 (Zi. 12) Die Insel der schwarzen und weißen Schafe. Maelduin kommt mit seinen Gefährten zu einer zweigeteilten Insel. Auf der einen Seite befinden sich schwarze, auf der anderen Seite weiße Schafe. Wenn der Schafhirte eines der Tiere von der einen Seite zur andern bringt, wechselt es die Farbe. Maelduin wagt es nicht, die Insel zu betreten. 17 (Zi.13) Die Insel der Schweine und der Riesenkälber. Maelduins Leute holen sich auf einer Insel ein Schwein aus einer Herde und kochen es sich. Im Innern der Insel finden sif/einen Fluß, in dem alles sofort zergeht, was man in ihn eintaucht. Dahinter liegt eine Herde von riesigen Kälbern. 18 (Zi.14) Die M ü h l e n i n s e l . Auf der nächsten Insel steht eine Mühle. Ein großer, häßlicher Müller mahlt darin alle Dinge, um die in Irland Streit entsteht. 19(Zi.l5) Die Insel der W e h k l a g e n d e n - Verlust des zweiten Pflegebruders. Maelduins Schiff kommt zu einer Insel mit schwarzen, wehklagenden Menschen. Das Los, auf die Insel zu gehen, trifft den zweiten Pflegebruder Maelduins. Er beginnt auf der Insel sogleich mitzuklagen und kann nicht mehr zurückgebracht werden. 20 (Zi.16) Die v i e r g e t e i l t e Insel. Maelduin landet auf einer durch Mauern viergeteilten Insel. In den vier Teilen befinden sich: Könige, Königinnen, Krieger und Mädchen. Ein Mädchen gibt Maelduin und den Seinen eine käseartige Speise, die den Wünschen der Einzelnen entsprechend ihren Geschmack wechselt. Dann erhalten sie einen Trank, von dem sie 387

drei Tage und drei Nächte schlafen. Als sie aufwachen, finden sie sich auf ihrem Schiff wieder, und von der Insel ist keine Spur mehr zu sehen. 21 (Zi.17) Die Insel mit der Z a u b e r m u s i k . Maelduin kommt mit seinen Leuten zu einer kleinen Insel mit einer Burg, deren gläserne Brücke sie zunächst nicht betreten können. Eine Frau tritt aus dem Tor, um Wasser zu schöpfen. Dreimal fallen Maelduin und die Seinen, nachdem sie wieder hineingegangen ist, durch eine Zaubermusik in Schlaf. Am vierten Tag werden sie in die Burg geführt; sie erhalten von dem den Geschmack wechselnden Käse, und sie bekommen zu trinken. Als aber Maelduin nachts bei der Frau zu schlafen begehrt, versagt sie sich, und nach dem zweiten vergeblichen Versuch finden sie sich am Tage darauf wieder in ihrem Boot und sehen nichts mehr von Insel und Burg. 22 (Zi.18) Die Vogelinsel. Sie hören ein Geschrei wie von Psalmensingen. Sie gehen ihm nach und finden eine Insel voll kreischender Vögel. 23 (Zi.19) Der Mann auf der E r d s c h o l l e . Auf einer kleinen Insel mit Bäumen und Vögeln stoßen sie auf einen Mann, der ganz von seinem Haupthaar bedeckt ist. Er erklärt, er sei auf einer Scholle auf das Meer hinausgefahren. Gott habe die Scholle Grund fassen lassen, er gebe jedes Jahr einen Fußbreit Erde hinzu, und jedes Jahr wachse ein neuer Baum. Die Vögel seien die Seelen der Verstorbenen seines Geschlechtes. Engel bringen ihm jeden Tag ein halbes Brot und ein Stück Fisch. Maelduin und seine Gefährten bleiben drei Tage auf der Insel. Der Einsiedler verkündet, daß sie alle bis auf einen nach Hause zurückkehren werden. 24 (Zi.20) Die Insel des E i n s i e d l e r s mit der W u n d e r q u e l l e . Wieder treffen sie einen Mann, dessen Haupthaar seinen ganzen Körper bedeckt. Er besitzt eine Quelle, die je nach der Heiligkeit der Tage bald Molken oder Wasser, bald Milch und bald Wein gibt. Auch hier schickt Gott für alle an diesem Tag ein halbes Brot und ein Stück Fisch. Der Trank aus der Quelle wirft sie bis zum Morgen in einen tiefen Schlaf. Sie bleiben drei Tage. 25 (Zi.21) Die S c h m i e d e i n s e l . Nach langer Fahrt kommen sie zu einer Insel, auf der Schmiede hämmern. Maelduin flieht mit den Seinen; ein Schmied wirft glühendes Metall nach dem Schiff. 26 (Zi.22) Das d u r c h s i c h t i g e Meer. Sie fahren dann auf einem Meer, das klar ist wie Glas, so daß sie den Grund sehen können. 27 (Zi.23) Das n e b e l a r t i g e Meer. Sie erreichen darauf ein nebelartiges Meer. Sie sehen in der Tiefe eine Landschaft mit Menschen und Rindern. In einem Baum befindet sich ein Ungeheuer, das sich einen Ochsen aus der Herde holt und ihn auffrißt. Mit großer Furcht fahren Maelduin und die Seinen weiter. 28 (Zi.24) Die Insel mit den U n h e i l f ü r c h t e n d e n Bewohnern. Auf einer andern Insel werden sie von Menschen empfangen, die ihre Ankunft offenbar irrtümlich - als Verhängnis beklagen. Eine Frau wirft mit Nüssen nach ihnen. 388

29 (Zi.25) Die Insel mit dem R e g e n b o g e n s t r o m . Auf einer weiteren Insel spannt sich ein Fluß wie ein Regenbogen von einem Ufer zum andern. Lachse fallen aus dem Strom auf die Insel. Maelduin und die Seinen sammeln von diesen Lachsen ein. 30 (Zi.26) Die Säule mit dem S i l b e r n e t z . Sie fahren weiter auf dem Ozean, bis sie zu einer hohen silbernen Säule kommen. Ein silbernes Netz hängt von der Höhe herab. Das Boot kann durch eine Masche durchfahren. Einer schlägt ein Stück heraus, um es als Zeichen mitzunehmen. 31 (Zi.27) Die Insel mit der Säule. Maelduin und seine Leute kommen zu einer Insel, die sich auf einer Säule befindet. Die Türe in der Säule, die als Zugang dient, bleibt ihnen verschlossen. 32 (Zi.28) Die Insel der F r a u e n . Auf einer Insel, wo man Alter und Mühe nicht kennt, wohnen 17 Jungfrauen mit ihrer Königin. Prachtvoll geschmückt kommt diese Königin dahergeritten. Maelduin und seinen Gefährten wird ein Bad bereitet, jeder erhält dann eine der Jungfrauen als Bettgenossin, während Maelduin mit der Königin schläft. Tagsüber reitet die Königin zum Rechtsprechen. Sie bleiben drei Monate, bis Maelduins Leute zu murren beginnen. Man beschließt zu fliehen. Die Königin wirft ihnen einen Fadenknäuel nach, der an Maelduins Hand haften bleibt. So zieht sie das Boot wieder zurück. Beim zweiten Fluchtversuch fängt ein anderer den Knäuel auf, man schlägt ihm die Hand ab und entkommt. 33 (Zi.29) Die Insel mit den s c h l a f b r i n g e n d e n F r ü c h t e n . Auf einer Insel finden sie wunderbare Früchte. Wer von ihrem Saft kostet, fällt in einen tiefen Schlaf. 34 (Zi.30) Die Insel mit dem letzten Genossen des Brendan von Birr. Auf einer bewaldeten Insel mit einem See, mit Schafen, einem Kastell und einer kleinen Kirche lebt ein Geistlicher, der ganz von seinem Haupthaar bedeckt ist. Er ist der letzte der 15 Genossen des Brendan von Birr. Maelduin und seine Leute werden gut aufgenommen und verpflegt. Eines Tages erscheint ein großer Vogel, der sich von zwei andern Vögeln das Ungeziefer ablesen und die alten Federn ausrupfen läßt. Dann verjüngt er sich in einem See. Einer der Genossen Maelduins badet ebenfalls darin und bleibt zeitlebens gesund und kräftig. 35 (Zi.31) Die Insel der L a c h e n d e n - Verlust des d r i t t e n Pflegebruders. Maelduin kommt mit seinen Gefährten zu einer Insel, wo alle Leute spielen und lachen. Das Los, auf diese Insel zu gehen, trifft den dritten Pflegebruder Maelduins. Er fängt mit den Inselbewohnern an zu lachen und kommt nicht wieder. 36 (Zi.32) Die Insel mit dem r o t i e r e n d e n Feuerwall. Die Meerfahrer kommen zu einer Insel, die ein rotierender Feuerwall schützt. Wenn die Toröffnung sich an ihnen vorbeidreht, können sie auf ein schönes Land mit fröhlichen Menschen sehen. 37 (Zi.33) Die Klippe des b e t r ü g e r i s c h e n Kochs. Auf einer Klippe treffen sie einen Einsiedler, der ehemals als Klosterkoch in betrügerischer Weise Reichtümer angehäuft hatte. Beim Grabschaufeln hat er einmal Rücksicht auf den Wunsch einer schon an der betreffenden Stelle liegenden Leiche genommen und erhielt dafür die Versicherung, daß er ins Ewige Leben eingehen werde: Er begibt sich mit seinem ganzen Reichtum auf das Meer. Ein Mann er389

scheint ihm auf einer Welle und befiehlt ihm, all sein Gut ins Wasser zu werfen. Auf seinem Boot wird er dann zu einer Klippe getrieben, wo er zunächst von den Broten und dem Molkenwasser lebt, die der Mann auf der Welle ihm mitgegeben hat. Dann bringt ihm ein Otter Lachse und macht ihm sogar Feuer. Später erhält er auf wunderbare Weise Brot, Fisch und Bier. Maelduin und die Seinen werden bei ihrem Besuch ebenso verpflegt. Der Greis prophezeit ihnen eine gute Heimkehr und ermahnt sie, dem Mörder von Maelduins Vater zu verzeihen. 38 (Zi.34) Zweiter Besuch auf der M ö r d e r i n s e l u n d H e i m k e h r . Nach einem Aufenthalt auf einer Insel mit Viehherden weist ihnen ein Vogel die Richtung, in der die Heimat liegt. Sie kehren über die Insel der Mörder, wo sie freundlich aufgenommen werden, nach Hause zurück. Es ist unbestreitbar, daß der Imram Maelduin sich in einer Reihe von Episoden mehr oder weniger deutlich mit der >Navigatio< berührt. Es ergibt sich daraus die Frage, ob die >Navigatio< aus dem Imram Maelduin geschöpft hat oder ob der Imram von der >Navigatio< beeinflußt worden ist. Zimmer hat sich seinerzeit dahingehend entschieden, daß die >Navigatio< eine geistliche Überarbeitung des Imram darstelle. 19 Auch wenn diese These, die die >Navigatio< aus dem auf uns gekommenen Imram Maelduin ableitet, aufgrund der neuen Datierung der >Navigatio< ins 10. oder 9. Jahrhundert nicht mehr haltbar ist, so bleibt doch grundsätzlich die Möglichkeit, daß eine Vorstufe des >Maelduin< die Basis für die >Navigatio< abgegeben hat. 20 Schon Whitley Stokes aber hat die Gegenmeinung vertreten, daß der Imram-Autor die >Navigatio< gekannt habe, 21 sei es, daß die >Navigatio< Einzelepisoden geliefert hat, oder sei es, daß der ganze Imram überhaupt eine verweltlichte Fassung der >Navigatio< darstellt. Ist es möglich, aufgrund eines Episodenvergleichs eine eindeutige Entscheidung zu treffen? (Vgl. zu den folgenden Überlegungen Schema III, S. 408). Was den Imram Maelduin zunächst besonders auffällig mit der >Navigatio< verbindet, ist der Motivkomplex der drei überzähligen Leute. Hier wie dort kommen nachträglich drei Seefahrer zu der ursprünglichen Zahl hinzu und gehen dann im Laufe der Fahrt verloren. Zimmer hat darauf aufmerksam gemacht, daß dieses Thema im Imram klarer, verständlicher und damit auch sinnvoller durchgeführt ist als in der >NavigatioNavigatio< verunklärt ist. 19

20

ZIMMER 1889, S. 176; ebenso WAHLUND 1974, S. XXIV.

Aus sprachlichen Gründen wird das Original ins 8./9. Jahrhundert datiert; siehe VAN HAMEL 1941, S. 24. 21 STOKES 1888, S. 450; zuletzt Carney, Med^v. 32 (1963), S. 41 f. Eine verlorene gemeinsame Quelle von >Navigatio< und Imram Maelduin erwägt ESPOSITO 1938. 22

ZIMM*R 1889, S. 176f.

390

Dem Besuch beim Druiden Nuca dürfte der Besuch Brandans bei einem gewissen sanctus pater Ende entsprechen. Aber Brandan fährt zu ihm mit den von ihm frei gewählten vierzehn Begleitern, und außer daß Brandan den Segen Endes und seiner Mönche empfängt, ergibt sich aus dieser Episode nichts. Es besteht dann auch kein Grund für Brandan, die nachträglich um Aufnahme bittenden drei Mönche abzuweisen. Er sagt freilich voraus, daß einer von ihnen ein gutes Ende nehmen werde, während die anderen beiden einem schrecklichen Gericht entgegengingen. Abgesehen davon aber, daß sich dies erfüllt, wird die Fahrt von diesem Thema nicht weiter beeinflußt. Es ist also wahrscheinlich, daß der Imram Maelduin, was diesen Motivkomplex der drei Überzähligen betrifft, das Ursprünglichere zeigt. Der Motivkomplex ist nur sinnvoll, wenn er die Vorstellung von einer bestimmten Zahl von Begleitern, an der der Erfolg des Unternehmens hängt, in sich schließt. Diese Vorstellung ist vermutlich dem >NavigatioNavigatio< 6/7 = >Maelduin< 15, ist die Parallelität bei allen Abweichungen im Detail nicht zu bezweifeln. Wo die größere Ursprünglichkeit liegt, wird man nicht ohne weiteres entscheiden können. Die beiden andern Verlust-Episoden, >Navigatio< 17 und 24 gegenüber >Maelduin< 19 und 35, differieren dagegen sehr stark. In der >Navigatio< bleibt der zweite Mönch auf einer paradiesischen, nach Altersklassen eingeteilten Insel, während der dritte Mönch auf einer Vulkaninsel Teufeln in die Hände fällt. Im Imram Maelduin gehen die beiden Pflegebrüder auf der Insel der Klagenden bzw. auf der Insel der Lachenden verloren. Zimmer hat die Insel der Wehklagenden mit der >MaelduinNavigatio< 17 parallelisierte. Nach Zimmer wäre dann aus dem Wehklagen der Inselbewohner im Imram das Psalmensingen der drei Altersgruppen in der >Navigatio< geworden. Das zwingt weiter zu der Annahme, daß sich die Insel der Lachenden unter der Hand des christlichen Redaktors in eine Dämoneninsel verwandelt hat.23 Es läßt sich zeigen, daß Zimmer^hier irrte. Zur viergeteilten Insel, >Maelduin< 20, gehörte ursprünglich das Motiv des Lachens, >Maeldujn< 35.24 Das bedeutet, daß ein älterer Zusammenhang im überlieferten Imram auseinandergerissen wurde. Es wird zu überlegen sein, was für Rückschlüsse sich daraus für die Beziehung zur >Navigatio< ergeben. Deutlich wird schon hier, daß der Verlust des dritten Mönchs auf der Vulkaninsel, >Navigatio< 24, für sich steht. Von der Basis des Motivkomplexes der drei Überzähligen aus hat Zimmer dann versucht, sämtliche Episoden der >Navigatio< als mehr oder weniger weit gehende Umformungen von >MaelduinNavigatioNavigatio< 10, und den Kampf der Meeresungeheuer, >Navigatio< 16. Diese beiden Episoden fehlen im Imram Maelduin. 23 4 5

Ebd., S. 178f. Vgl. u. S.394. ZIMMER 1889, S. 177ff.

391

Sie kommen dagegen auch unabhängig von der >Navigatio< in Brandan-Überlieferungen vor.26 Es handelt sich hier also um Zusätze, die nach Zimmer bei der Übertragung des Imram-Materials auf Brandan zugleich mit der Figur des Heiligen in die Erzählung aufgenommen worden sind. Diese Beobachtung ist das wichtigste Argument in der Auseinandersetzung mit der Gegenthese, der These von der Einwirkung der >Navigatio< auf den Imram Maelduin: es ist sehr unwahrscheinlich, daß der >MaelduinBrandanNavigatioNavigatio< 9, z. B. hat mit der >MaelduinNavigatio< 19, aus der Vogelerscheinung in >Maelduin< 34 herausgesponnen sein soll, ist kaum einsichtig. Es kann darauf verzichtet werden, alle Episoden durchzudiskutieren. Man würde im einzelnen wohl auch unterschiedlich urteilen. Entscheidend ist, daß Zimmers Parallelisierungen offensichtlich zu weit gehen und daß sein Versuch, die ganze >Navigatio< aus dem Imram Maelduin zu entwickeln, als verfehlt bezeichnet werden muß. Ein Beispiel nur sei abschließend noch angeführt, weil es Zimmers These nicht nur unsicher macht, sondern ihr geradezu widersprechen könnte. Es handelt sich um die Insel mit dem Vogelbaum, >Navigatio< 11, die Zimmer mit der Vogelinsel, >Maelduin< 22, zusammenstellt.27 Im >Maelduin< ist relativ knapp von einer Insel die Rede, auf der das Geschrei der Vögel sich so anhört, als ob sie Psalmen sängen! Es ist kaum denkbar, daß sich aus einem solchen, noch dazu wenig einsichtigen Vergleich die Vorstellung vom Vogelbaum in >Navigatio< 11 herausgebildet hat. Der Baum mit den Seelenvögeln ist bekanntlich ein in der irischen Literatur verbreitetes Motiv.28 Was in >Maelduin< 22 vorliegt, ist, wenn überhaupt ein Zusammenhang mit >Navigatio< 11 besteht, nicht als Anstoß, sondern als Reduktion des vollen Motivs zu verstehen. Damit wäre ein Hinweis auf eine Entwicklung in der der Zimmerschen These entgegengesetzten Richtung gegeben, d. h., wir fassen hier im Imram Maelduin eine Tendenz, bestimmte Motive, die in der >Navigatio< voll in Erscheinung treten, zu reduzieren. Diese Reduktion zielt hier und an anderen Stellen auf eine gewisse Verweltlichung; geistliche Motive werden, freilich mehr gelegentlich als planvoll, abgebaut. Nicht zu übersehen aber ist bei all diesen Vorbehalten, daß Zimmer eine Anzahl überzeugender Parallelen anführen kann. So stellt sich die Säule mit dem Silbernetz. >Navigatio< 22, zu >Maelduin< 30, die Schmiedeinsel, >Navigatio< 23, zu der entsprechenden Episode >Maelduin< 25; ebenso ist das durchsichtige Meer, >Navigatio< 21, wenn auch im einzelnen anders gestaltet, in >Maelduin< 26 und 27 wiederzuerkennen. Zweifelsfrei ist auch die Entsprechung zwischen der Episode Paulus der Eremit, >Navigatio< 26, und Teilen der Erzählung vom betrügerischen Koch in >Maelduin< 37. 26 27 28

Ebd., S. 181. Ebd., S. 177. Vgl. CROSS 1952, E 732.

392

Es muß nun auffallen, daß die klaren Parallelen zwischen der >Navigatio< und dem Imram Maelduin in der >Navigatio< im wesentlichen zwei Blöcke bilden, es handelt sich einmal um die Episodenfolge 2-7 am Anfang und um die Folge 21-26 gegen das Ende, wobei hier jedoch die problematische Vulkaninsel und die Judasszene eingeschoben sind. Für sich steht die Insel der Altersklassen, >Navigatio< 17. (Vgl. Schema I, S. 406). Was das übrige, vor allem in der Mitte liegende Motivmaterial anbelangt, so mag einzelnes im Imram anklingen, aber die Beziehungen erscheinen fragwürdig. Wenn man diese Gruppierungen mit dem Aufbau des Imram Maelduin vergleicht, so stellt man fest, daß das ganze Parallelmaterial, wenn man vom Ansatz des Motivkomplexes der drei Überzähligen absieht, in die zweite Hälfte fällt. Nach den Episoden >Maelduin< 2, 3,4 erscheint die erste Parallelepisode mit 15. Aber diese Episode gehört wie die nächsten beiden, 19 und 20, ebenfalls in den Zusammenhang der drei Überzähligen. Die davon unabhängigen Entsprechungen beginnen vielleicht mit Episode 22, sicher mit 25, mit der Schmiedeinsel. (Vgl. Schema III, S. 408). Aber nicht nur von daher, sondern auch vom Charakter der Episoden her ergibt sich eine deutliche Zweiteilung im Imram Maelduin. Die Episoden der ersten Hälfte bringen eine Reihe von Kuriosa; es erscheinen seltsame, meist gefährliche Bestien und mehr oder weniger dämonische menschliche Wesen. In der zweiten Hälfte verändert sich die Atmosphäre merklich. Die dämonischen Züge sind nicht mehr so prononciert, es treten immer wieder ausgesprochen christliche Motive auf; vor allem kommt es mehrfach zu Begegnungen mit Einsiedlern und Asketen, die offenbar ein typisches Schema abwandeln. Man wird also mit einer Kontamination rechnen müssen, bei der entweder die zweite Hälfte mit dem Rahmenkomplex der drei Überzähligen an einen alten >MaelduinNavigatio< bringt. Was läßt sich zu den übrigen Motiven dieses Teils an Parallelen beibringen? Eine genauere Prüfung ergibt nun überraschenderweise, daß sich zumindest in zwei Fällen Berührungen mit der >ReiseMaelduin< 23, erscheint wieder in Episode 23 der >ReiseReiseMaelduin< 32 steckt: Maelduin und seine Gefährten sehen am der Fraueninsel einen Reiter auf einem prächtigen Pferd dahersprengen. Es wird seine kostbare Kleidurg beschrieben. Erst als der Reiter abspringt, erkennen sie, daß es sich um eine Frau handelt. Es ist die Königin, die tagsüber unterwegs ist, um Recht zu sprechen. In der >ReiseReiseNavigatio< ohne Parallelen sind, zu überzeugen vermögen, dann wäre damit die Vermutung bestätigt, daß die >ReiseMeerfahrt des Brandan< zusammenhängt, von der aus sich die >Navigatio< und die >ReiseMaelduinMaelduinUi Corra
Maelduin< 19 = 20 + 35 = 31 = 29 = 30 = 23 = 21 = 18

Im Imram Ui Corra ist also die viergeteilte Insel, auf der einer der Gefährten verlorengeht, zugleich die Insel der Lachenden. Das dürfte das Ursprüngliche sein. Jedenfalls steht die Insel der Lachenden im Imram Maelduin falsch. Auf der vorausgehenden Episode der Fraueninsel muß der dritte Pflegebruder schon verloren sein, denn es ist n u r noch von 17 Begleitern des Maelduin die Rede. Die >Navigatio< aber hängt mit einer >MaelduinUi CorraManuel und AmandeDe Civitate DeiQueste del Saint Graal< durchführte. Er mußte sich die Frage stellen, ob der Autor der >Queste< Es ist hier etwa auch an die im Prinzip ähnliche, im Konkreten aber doch wieder ganz anders gelagerte Problematik des Bildprogramms im Dom von Siena zu erinnern: OHLY 1972/1977. Auch in Siena hat man es mit einer transsubjektiven und doch nicht objektiv fixierten Konzeption zu tun. Sie manifestiert sich hier darin, daß sie über zwei Jahrhunderte hin die bildnerische Gestaltung steuert. Friedrich Ohly versucht, dies folgendermaßen zu formulieren: er sagt, mehrere „schöpferische Impulse" hätten „auf ihre jeweils eigene Weise im Sinne eines einheitlichen Raumgedankens" gewirkt (S. 243). 434

wirklich präzis um das Regelsystem wußte, dem die Strukturierung seiner Erzählung unterworfen erscheint. Todorovs Antwort lautete: ob er darum wußte oder nicht: „le recit, lui, le savait."90 Wenn man also fragt, wieviel Jonathas oder Pantaleon von der inneren Gesetzlichkeit des komplex strukturierten Bildarrangements von Otranto wissen mochten, so könnte man im Blick auf die beschriebene Zwischensphäre zwischen subjektiver Absicht und objektiver Traditionalität entsprechend pointiert antworten: wie immer dem sei: la mosai'que, eile, le savait.

TODOROV 1969, S. 214.

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Die Tradition der höfischen Literatur des Mittelalters mit ihren Ausläufern und Gegenformen konstituiert sich nicht nur aufgrund der Verbindlichkeit verhältnismäßig fester poetischer Typen, sondern zudem durch ein Netz direkter Beziehungen zwischen den Einzelwerken. Durch Zitate und Anspielungen, durch explizite Berufung auf Vorgänger und Vorbilder, durch Variation und Transformation einzelner Elemente wie ganzer Werke entstehen Überlieferungszusammenhänge von solcher Differenziertheit und von solchem Anspruch, wie dies nur bei einer relativ kleinen kulturtragenden Schicht mit einem hohen literarischen Bewußtsein denkbar ist. Trotz vieler Bemühungen ist es jedoch nicht leicht, sich heute ein zureichendes Bild vom Ausmaß dieser literarischen Verflechtung zu machen. Es fehlt noch immer ein umfassender kritischer Überblick über das, was unserer literarhistorischen Analyse zugänglich ist oder zu sein scheint. Der methodisch sichere Boden zwischen überzogener Interpretation und übertriebener Skepsis ist schmal. Wieviel für immer undurchschaubar bleiben muß, wird kaum je abzuschätzen sein.1 Eine relativ geschlossene literarische Tradition von hohem Reflexionsniveau impliziert zum einen, daß der Schriftsteller sich einem System von literarischen Konstanten gegenübersieht, die für ihn nicht nur Materialien darstellen, sondern als Konstituenten des Erwartungshorizontes des Publikums Anspruch und Verpflichtung bedeuten. Indem man jedoch die Erwartung an den Schriftsteller heranträgt, daß er sich in den Traditionszusammehang stellt und ihn weiterführt, öffnet sich für ihn zum andern die Möglichkeit, die eigene Position durch mehr oder weniger dezidierte Abweichung zur Geltung zu bringen. Dabei ist zu beachten: je fester geprägt eine Tradition sich darstellt und je verbindlicher ihre Regelsysteme sich geben, um so geringer können die Differenzen gegenüber den Traditionskonstanten sein, um aufzufallen, ja provokatorisch zu wirken. Der Innovationsgrad ist eine Funktion der Festigkeit der Konstanten. So kann es unter Umständen weniger revolutionär sein, ein %useinanderbrechendes System als ganzes über Bord zu werfen als in einem intakten System eine Nuance zu ändern. Gerade bei der Interpretation mittelalterlicher Literatur mit ihren stark traditionalistischen Zügen sollte man sich dies bewußt halten. Was im besonderen die im 12. Jahrhundert einsetzende höfische Epik betrifft, so ist bei ihr der literaturtheoretischen Standortbestimmung - abgesehen von der beliebigen Möglichkeit kritischer Exkurse - ein spezifischer Ort zugewiesen: es ist dies in erster Linie der Prolog, dem sich der Epilog an die Seite stellen kann. In Prolog und Epilog ist die Auseinandersetzung mit der Tradition nicht nur poetologisch legitimiert, sondern 1

Zum Methodischen vgl. die grundsätzlichen Erörterungen bei WACHINGER 1973, S. 95ff. Sein Ausgangspunkt ist die Frage der literarischen Polemik in der mhd. klassischen und nachklassischen Lyrik; dabei geht es jedoch gerade darum, die Diskussion aus der üblichen, zu engen Perspektive der persönlichen Dichterfehden herauszuführen und zu einem differenzierteren Bild möglicher Bezugnahmen zu gelangen. 447

hier wird sie vom Publikum erwartet, d. h., Äußerungen an diesen Stellen werden von vornherein in der Perspektive dieser Auseinandersetzung gesehen. Je reflektierter das literarische Bewußtsein ist, um so weniger ist also der Prolog beiläufige Einleitung und der Epilog bloße Schlußfloskel, um so mehr ist mit programmatischen Implikationen zu rechnen. Auch in Hinblick auf das theoretische Selbstverständnis sind somit Erwartung und Anspruch durch spezifische Gattungstraditionen vorgegeben.2 Der mittelhochdeutsche höfische Roman folgt auch hinsichtlich der Formen des Selbstverständnisses seinem französischen Vorbild. Dabei wird, wie sich zeigen läßt, zum Aufbau des Gattungsbewußtseins die ganze Spanne der Möglichkeiten theoretischer Auseinandersetzung von der schlichten Anknüpfung bis zur prononcierten Distanzierung genützt. Als einfachste implizite Form der Anknüpfung darf das Zitat gelten. Es kann sich als Identifizierung mit der ästhetischen Position des zitierten Vorgängers oder - wenn Zitate aus mehreren Autoren addiert werden - mit einer durch eine Gruppe von Meistern initiierten Tradition verstehen. Es sind centoartige Prologklitterungen möglich, wobei dann freilich zu fragen ist, inwieweit hier Toposartistik nicht schon Selbstzweck, d. h. Traditionsbewußtsein zum Spiel in und mit der Tradition geworden ist. Ein charakteristisches Beispiel bietet Wirnt von Gravenberc, der einen großen Teil seines >WigaloisWillehalmBarlaam< abgewandelt, sondern im >Guoten Gerhart< auch auf Gottfrieds >TristanParzivalGregorius< zitiert, um sie im folgenden kritisch abzuwandeln.5 Ohne daß es notwendig wäre, die ganze Fülle des Materials auszubreiten, darf also davon ausgegangen werden, daß die Tradition des höfischen Romans und das ihm entsprechende literarische Bewußtsein sich in hohem Maße über typusspezifische Formen der innerliterarischen Reflexion aufbauen und von ihr getragen werden. Prolog, Epilog und literaturkritischer Exkurs bilden die besonderen Knotenpunkte der Verflechtung in expliziter und impliziter Anlehnung und Absicherung, in Umformung und Neuakzentuierung, in kritischem Sich-Absetzen und in provozierender Innovation. Schon beispielhafte Hinweise auf diesen Sachverhalt zeigen, welche Bedeutung ihm für das Verständnis der mittelalterlichen literarischen Tradition zukommt, und schon eine erste Bestandsaufnahme dessen, was von diesem Bezugsnetz mit mehr oder weniger Sicherheit aufzudecken ist, genügt, um offenbar zu machen, wie allgemein und dicht diese Verflechtung ist.6 Betrachtet man die literaturkritischen Stellen in der mittelhochdeutschen höfischen Epik unter dem Aspekt eines direkten oder indirekten Reflexionszusammenhangs, so macht es den Anschein, als ob ein einziges einschlägiges Textstück aus dem allgemeinen Bild herausfiele: nämlich der strophische Prolog von Gottfrieds >TristanTristanGregorius< bekanntlich mit Nachdruck vertreten - verfällt derjenige der Hölle, der die Hoffnung auf Gnade aufgegeben hat.' Entsprechend wäre die erste Prologstrophe des >Tristan< situationsgerecht etwa in folgender Weise wiederzugeben: 'Ich behaupte, daß das Gute nur existiert, insofern es als solches bewußt wird, und das schließt in sich, daß der gängige Topos, nach dem es Böse gibt, die das Gute diskreditieren, nur die halbe Wahrheit darstellt.' Das aber, was der gängige Topos besagt, wird dann in der zweiten Strophe noch explizit nachgetragen: 5

Der guote man swaz der in guot und niwan der werlt ze guote tuot, swer daz iht anders wan in guot vememen wil, der missetuot.

Es scheint, daß die topische Meinung, die Gottfried anspricht, viel allgemeinerer Art ist als diejenige, die die >ParzivalGregorius< gestattet. Auf der Suche nach einem konkreten Anknüpfungspunkt wird man zunächst an Eilhart denken, dessen Version Gottfried aller Wahrscheinlichkeit nach bekannt war. Und tatsächlich erscheint eine Variante des in Frage stehenden Topos im >TristrantErec< gestanden hat. Mit einer solchen Hypothese zu spekulieren mag zunächst müßig erscheinen, doch bietet sich immerhin die Chance, sie an Hartmanns Vorlage, am >ErecErecErecParzivalErecErecErecErec< v. 5 dagegen wird atorner im übertragenen Sinne gebraucht: es handelt sich darum, daß man sein Bemühen atorne a san, wörtlich übersetzt: 'entsprechend der Vernunft einrichtet' oder, wenn man afz. sans mit 'Sinn' verdeutscht: 'daß man sein Bemühen mit Sinn ausstattet'; und das könnte sehr wohl durch mhd. mit sin zieren wiedergegeben werden. Mhd. zieren kann wie afz. atorner 'ausstatten' heißen, z. B. Nibelungenlied 25,2: mit kleidern zieren}9 Und auch hier ist die übertragene Bedeutung geläufig, z. B. Walther 55,22: ir herze ist. . . mit luterlicher reinekeit gezieret wol.20 zieren kann somit als ein vorzügliches Äquivalent für atorner gelten; eine Übersetzung von atorner a san durch mit sin(nen) zieren wäre gut denkbar.21 2. bien dire et. . . bien aprandre (>Erec< 12) könnte in guote rede ze guote und . . . ze rehte verstan (>Tristan< 4634f.) nachklingen. Die klare Doppelforderung Chretiens: 'gut zu formulieren und zugleich die Bedeutung zu erfassen' (oder 'zu vermitteln'?) ist in der Entsprechung bei Gottfried durch die veränderte Perspektive etwas verwischt, doch wird das dadurch aufgewogen, daß der in Frage stehende Doppelaspekt für die ganze Hartmannkritik konstitutiv geworden ist: am auffälligsten erscheint sie in dem Gegenüber von wort und sin. 3. Es drängt sich die Vermutung auf, daß conjointure d'un conte d'avanture (>Erec< 13f.) durch der aventiure meine (>Tristan< 4627) ins Mhd. übersetzt worden ist. Der Gedanke erhält dadurch eine Stütze, daß Gottfrieds eigentümliche Formulierung: der aventiure meine mit rede figieren sich vom Text Chretiens aus gut verständlich machen ließe: da treire nicht nur als 'ziehen', sondern auch als 'schießen' aufgefaßt werden kann, wäre zu folgern, daß treire d'un conte d'avanture une conjointure in der Weise ins Mhd. übertragen worden ist, daß man treire d'un conte zusammengezogen und durch den Ausdruck mit rede figieren (figieren = 'wie mit Geschossen treffen') wiedergegeben hat, während aus dem Rest: une conjointure d'avanture das mhd. der aventiure meine geworden ist. Es mag zunächst überraschen, in meine eine Verdeutschung von conjointure sehen zu wollen. Im Blick auf lat. iunctura hat man conjointure immer wieder als 'Komposition', 'Handlungsgefüge', 'Struktur' zu verstehen gesucht. Zugleich ist jedoch nicht zu verkennen, daß conjointure kein rein tektonisch-technischer Begriff ist, sondern daß er sich eng mit sans berührt, d. h., es geht nicht nur um den äußeren Aufbau, sondern zugleich um den damit gegebenen inneren Zusammenhang.22 19 20

21

Zit. nach BARTSCH/DE BOOR 1972. Zit. nach LACHMANN/VON KRAUS/KUHN 1965.

Im übrigen ist daran zu erinnern, daß Hartmann die Ausstattungsmetaphorik im Zusammenhang mit sin geläufig ist: Im Samaritergleichnis des >GregoriusTristan< und dem Chretienschen >ErecErecErecErecTristan< immer schon einzubeziehen, so ist es nun noch notwendig, dezidiert die Brechung zu berücksichtigen, die die tradierten Elemente bei der Übernahme durch Gottfried erfahren mußten. Es geht dabei vor allem um die Frage, in welchem Verhältnis Gottfried zu Hartmann stand und was dieses Verhältnis für die Adaptation von Elementen der Hartmannschen Literaturauffassung für Konsequenzen haben konnte. Zunächst fällt auf, daß bei Gottfried die beiden Prologperspektiven, die bei Chretien verschränkt sind: die Publikumsperspektive und die Perspektive des poetischen Programms, getrennt erscheinen. Der strophische Prolog bietet die Auseinandersetzung mit dem Publikum, und zwar in der Form einer Analyse der Bedeutung, die eine richtige bzw. falsche Kritik für die Wirkung und Entfaltung der Kunst haben muß. Wenn bei Hartmann aus Chretiens Sprichwort in Anlehnung an einen gängigen Topos eine allgemeine Polemik gegen böswillige Zuhörer geworden ist, dann konnte Gottfried daran anknüpfen. Jedenfalls setzt, wie dargelegt, die neue Pointierung, die Gottfried dem Thema gibt, den allgemeinen Topos voraus. Er ist als Folie um so wichtiger, als sich davon mit der neuen Pointierung eine veränderte ästhetische Position abzuheben beginnt. Die gängige Scheidung zwischen dem guten und dem bösen Zuhörer 26 27

Vgl. NITZE 1915-17, S. 18. RUH

1977, S. 117. 461

und die Abwehr des ungerechten Kritikers bilden den Ausgangspunkt für die Darstellung der Gottfriedschen Idee von der intersubjektiven Existenz des Kunstwerkes. Die implizite Bezugnahme auf Hartmanns >ErecTristan< charakteristischen inneren Widersprüchlichkeit führt -, geht offenkundig entscheidend über die Position hinaus, die Gottfried bei Hartmann vorgefunden haben kann, jedenfalls bietet das Werk Hartmanns keine Anhaltspunkte für eine derart kühne und problematische Konzeption. Wenn Gottfried also einen eigenen Weg zu einer theoretischen Begründung der höfischen Literatur einschlägt, so mag er wohl von Hartmann ausgegangen sein, doch haben ihm in diesem Fall allein die Erörterungen über das Publikum als Ansatzpunkt gedient. Die literaturtheoretischen Elemente, die der >ErecErecErecIweinTristanIwein< markant abzulesen ist, gilt grundsätzlich für den Roman-Typus, dem er zugehört: das Normalleben der arthurischen Gesellschaft ist von der dünnen Haut hochstilisierter Formen umschlossen. Im Innern ist es voller Beunruhigung Keie ist der personifizierte Stachel -, und von außen ist es wesensmäßig gefährdet, ja diese Gefährdung ist in gewisser Weise die Bedingung seiner Existenz. Denn die Ge466

fährdung wird angenommen und einbezogen. Das Bild dafür: der König, der zu Beginn dasitzt und auf die äventiure, den Einbruch von außen, wartet. In diesem Außen aber herrscht eine Gesetzlichkeit eigener Art. Sie erscheint zunächst als Antigesetzlichkeit, als das Unberechenbare schlechthin, als eine Welt der wilde, des Grotesken, der veränderten Dimensionen, der Riesen und Zwerge. Die Leitvorstellungen kommen aus dem Transhumanen, dem Nicht-Menschlichen und dem Ungesellschaftlichen: der Wahnsinn und das Tier. Man könnte Iweins Verhalten neurotisch nennen, und auch Erecs absurder Ausritt von Karnant liegt nicht weit ab, von Lancelots bizarren Anfällen von Liebeswahnsinn ganz zu schweigen. Wenn man trotzdem nicht auf den Gedanken kommt, eine Psychopathologie der Artushelden zu schreiben, dann deswegen, weil es keine eigentlich psychische Begründung für ihren avew/HW-Zustand gibt, wie ja ihre Individualität sich überhaupt erst aus ihrer äventiure herleitet. Bei Evelyne scheint es sich genau entgegengesetzt zu verhalten. Ihre Individualität ist nur eine psychische, genauer: eine psychopathische, und d. h., ihre Individualität geht in ihrer Neurose auf. Der Autor vermittelt denn auch kaum eine persönliche Vorstellung von ihr, abgesehen von ein paar reizvollen Äußerlichkeiten. Es gibt keine individualpsychologische Krankengeschichte. Evelyne B. ist „der typische Fall". Man kann deshalb sagen, die Individualität reduziere sich bei ihr wie beim arthurischen Helden - jedenfalls im Ansatz - auf ihre Disposition, die Schwelle zu überschreiten. Beim Artushelden rastet diese Disposition in eine spezifische Handlungsmechanik ein, in die Provokation des Artushofes durch Figuren von außen. Bei Evelyne ist es eine innere, aber ebenso unkontrollierbare Mechanik, die sie steuert; sie erklärt, es sei so, als ob sie „ein- und ausgeschaltet" würde. Und an dieser Schaltstelle wird dann der therapeutische Weg eingehängt. Was hingegen den Helden in Ernst Augustins Roman betrifft, so ist er zweifellos eine volle literarische Individualität. Mit dem „Typischen" in Evelyne verbindet ihn jedoch seine Fähigkeit zum Schwellenerlebnis und eine gewisse darin implizierte Gefährdung. Im übrigen besitzt er insofern einen Sonderstatus, als er mit dem ErzählerIch identisch ist. Er vermag somit zugleich zu handeln und aus seinem Handeln heraus zu kommentieren. Zudem zehrt er von der Individualität des hinter ihm stehenden Autors. I'

II Zwölf Jahre später, 1957, stand ich in dem ummauerten und stark gesicherten Hof der 'schweren' Station, wo der Klettermaxe, wie die Berliner das Gewächs nennen, seit einem halben Jahrhundert einen dicken grünen Pelz an den Ziegelmauern hochgezogen hatte. Alles überdeckend, Wände und Fangvorrichtungen. An diesem Bild hat so ziemlich alles seine Bedeutung: Das Überdeckte, die Wände, die Stille des dicken Gewächses, obwohl es nur zur Mittagszeit still war, wenn die Patienten beim Essen waren . . . die erstickende Stille der grünen Schattenschlucht . . . (S. 38)

Damit wird das Motiv der grünen Mittagsstille von Veiten wieder aufgenommen. Die „schwere" Station der Charite liegt symbolisch jenseits der kritischen Schwelle. Drei Jahre ist der Erzähler hier tätig, drei Jahre lang versucht er vergeblich, die Sprache der 467

Kranken in „ihrem Gedankenreichtum" zu verstehen, über den sie ihre Erfahrungen jenseits der Grenze umzusetzen versuchen. Die gesamte psychopathologische Literatur, die der Erzähler konsultiert, bleibt davor im Grunde verständnislos. In der Charite begegnete der Erzähler nun der 15/16jährigen Evelyne mit ihren goldbraunen Locken, dem „Löwenköpfchen", wie er sie nennt. Er ertappt sich dabei, daß er ein Gefallen an ihr hat, das über das ärztliche Interesse hinausgeht. Es beginnt ein halb kindliches, halb gefährliches Phantasiespiel. Sie spielen z. B. Abschiednehmen vor einer imaginären Reise, oder sie lädt ihn zum Kaffee ein an einen mit einer Papierspitzendecke belegten und mit kleinen Stannioltellerchen und -täßchen gedeckten Tisch hinter ihrem Bettchen. Sie schreibt ihm Briefe und unterschreibt mit „Deine Ehefrauevelyne". Die Spieleinfälle vermischen sich mit der Wahnwelt der Patientin. Es ist nicht immer klar, wo die spielerische Phantasie aufhört und der Bilderschub der Krankheit einsetzt. Einbildungskraft und Wahnsinn liegen zum Verwechseln nahe beieinander. Gerade diese Nähe - und damit wird wieder zur Situation im Raum hinter dem Schranklabyrinth zurückgegangen - sucht der Therapeut zu nützen. Die Patientin hat ein Schlafmittel erhalten; als sie nach kurzer Zeit wieder erwacht, spiegelt er ihr vor, daß es früher Morgen sei und daß man sich auf einer Schiffsreise befinde. Aber die Patientin will nicht mitspielen, sie beharrt auf dem faktischen Ort und auf der faktischen Zeit. Da öffnet der Erzähler einen Vorhang: es erscheint eine Flußszenerie, ein Bassin, rings von Pflanzen umwuchert, mit künstlicher Strömung. Die Patientin soll hineinsteigen, um sich von der Wirklichkeit der Phantasiewelt zu überzeugen, d. h. sich der spielerischen Manipulation von Raum und Zeit fügen. Sie leistet Widerstand, weigert sich, sich auszuziehen. Und an dieser Stelle wird wieder ein Stück Biographie eingeblendet, und zwar nun als Beispielerzählung für die Patientin. Der Erzähler hat seinerzeit aus Irritation über die Verständnislosigkeit und Unfähigkeit der Schulmedizin gegenüber der Geisteskrankheit Hals über Kopf die Charite verlassen und die Leitung eines Hospitals in Afghanistan übernommen. Das in Frage stehende Erlebnis gehört an das Ende dieses afghanischen Abschnitts. Als er mit seinem voll bepackten Jeep das Land wieder verlassen will, findet er an der Zollschranke vor der Stadt den Polizeichef, seinen Freund. Der Erzähler hat sich einen Tag früher als ursprünglich beabsichtigt auf den Weg gemacht, denn er befindet sich in einer etwas prekären Situation: ein Mann war ihm ins Auto gelaufen und hatte sich verletzt. Er war nach einiger Zeit gestorben, nicht an der Verletzung, sondern an einer Darminfektion. Aber in Afghanistan ist auch in einem solchen Fall immer der Autofahrer schuld. Und da es hieß, daß drei Brüder des Verstorbenen aus den Bergen gekommen seien, war es wohl besser zu verschwinden. An der Zollschranke schiebt er seinem Freund die erwarteten Zigarettenstangen zu, mehr als üblich. Aber der läßt ihn nicht fahren, sondern fängt an zu fragen, was er alles dabei habe, und er läßt einfließen, daß die besagten Brüder bei ihm vorgesprochen hätten, und dann beschlagnahmt er nacheinander die kostbaren Teppiche, die Fotoapparate, das ganze Gepäck und schließlich auch das Auto; Empörung und Drohungen helfen nichts, der Polizeichef erklärt gelassen: „Anders kommen Sie hier nicht raus." Das ist das biographische Stichwort für die therapeutische Situation: es gibt nur den Weg nach vorwärts, d. h., daß man alles zurücklassen, alles ablegen, ins Wasser steigen 468

und sich der Strömung anvertrauen muß, jenseits von Wollen und Nicht-Wollen denn anders kommt man nicht mehr raus. Das Spiel der Phantasie als Wirklichkeit inszeniert, der Eintritt ins Spiel als Einübung in einen Wechsel der Spielregeln im Rückblick auf die Faktizität, und dies selbst wieder im Rahmen der Fiktionalität eines Romans - erscheint dieses Spiel, in dem es doch ums Leben geht, nicht in gewisser Weise auch in der märchenhaft-phantastischen äventiuren-Welt des Artusromans? Und stellt es sich nicht auch dort als eine Art Inszenierung dar? Eine Inszenierung freilich aus der größeren Distanz des Autors, der, da er nicht zugleich der Held der Geschichte ist, die Szenen von außen arrangiert und ohne zwingende Rücksicht auf die lineare Logik oder auch nur die schlichte Plausibilität über den Strukturentwurf Regie führt? Auch die Schwelle zwischen den Sphären ist unverkennbar markiert, und sie kann mit analogen Motiven besetzt sein; es ist der charakteristische Aufbruchs- und Übergangsmoment, in dem die 'normale' Welt aufgegeben wird: Erec, der ohne Waffen drei rätselhaften Gestalten nachreitet; Lancelot, der den Karren der Schande besteigt, beide, ohne zu wissen, was für einen Weg sie geführt werden, und einer Wirklichkeit ausgeliefert, deren Spielregeln ihnen undurchsichtig sind, denen man sich aber unterwerfen muß, denn es gibt von dort aus kein Zurück mehr, außer durch sie hindurch. Die äventiure-Situation des arthurischen Helden jenseits der gesellschaftlichen Normschwelle erscheint jedenfalls als eine zweite Ebene der Fiktionalität mit einer Gesetzlichkeit eigener Art, einer Antigesetzlichkeit, wenn man vom arthurisch-gesellschaftlichen Rahmen aus denkt, auf den sie zurückbezogen ist. Und der Übergang bedeutet ein Spiel um Leben und Tod.

III Ach, Afghanistan, in meinen Träumen liegt es immer im Regen, die spitzen schwarzen Berge und die ausgesägten Grate der Kakaowüste ... In meinen Träumen heißt der Regen: Gefühl. Obwohl es in Afghanistan nie geregnet hat, soweit ich mich erinnere, höchstens im Winter, und dann ist es unheimlich still im Land, beides, still und unheimlich, ohne einen Menschen auf hundert Kilometer. (S. 79) Das ist eine seltsame Einleitung zu einem Kapitel, das in Wüste, Sand'und Dürre spielt. Weshalb liegt dieses Land in den Träumen des Erzählers im Regen? Hitze und Stille: das sind die Charakteristika, die sich immer wiederholen. Einmal wird eine Sandfläche beschrieben, auf der die Luft die Temperatur des Blutes hat, „so daß der Unterschied zwischen draußen und drinnen - zwischen dem, was vor und hinter der Haut liegt, aufgehoben ist". Und niemand ist da, nur plötzlich ein Vogel „wunderschön golden mit schwarz-weiß gestreiftem Schwanz. .. Und der sitzt und schaut mit absoluter Aufmerksamkeit gerade mich an. Ich sage: Ja, du Äffchen, was schaust du denn, aber vielleicht hat er sich genauso wie ich gefürchtet, vor der Stille, vor sich selbst vielleicht - ich weiß nicht, ob Vögel das können -, vor dem Gedanken, daß es ihn hier an dieser Stelle vielleicht wirklich gäbe" (S. 80). Unter der Oberfläche dieser Stille aber, gleichsam dicht unter dem Sand, lauert das Nicht-Geheure, das die Existenz in diesem labilen Zusammenspiel von Innerlichkeit und Außenwelt bedroht. Der alte Chauffeur Mamat Khan sagt: „Sie kommen von unten, sie stecken die Hand durch" (S. 82). 469

Chah-i-anjirs - das ist der Ort in Afghanistan, dessen Hospital der Erzähler zu übernehmen hat: Lehmbauten mit halbkugeligen Dächern in der Sandwüste. Im Hof jeden Morgen die Patienten mit ihren wirklichen und mit ihren eingebildeten Krankheiten. Hoffnungslos die Überforderung des Arztes angesichts der Armseligkeit und des Leides. Aber „in einem See von Blut und Schmerz, abgemagert vor Angst und dünn vor Verantwortung", ist er doch „auf seltsam ferne Art glücklich" (S. 88). Er entdeckt, daß es einen Punkt jenseits des körperlichen Schmerzes gibt, auf den man notfalls zurückgehen kann. Da ist ein Fakir in einem Zirkus, der sich den Degen durch den Bauch steckt, so daß die Spitze neben der Wirbelsäule herausragt. Dann legt er zwei Drahtschlingen um Griff und Spitze und läßt sich daran in die Höhe ziehen, dazu ein kleiner Mühlstein an den Füßen, ein Dolch durch die Zunge und zwei durch die Backen, mit Gewichten daran, und dann noch ein halbes Dutzend Messer in Schultern, Oberarmen und Brust. So hängt er eine halbe Stunde, den Blick ins Nirgendwo gerichtet. Dann zieht er Degen und Messer heraus und geht weg, und all dies, ohne ein einziges Mal zu lächeln. Man könnte es, meint der Erzähler, vielleicht medizinisch erklären, aber damit ginge man am Wesentlichen vorbei: „Dieser Mann zeigte, was unmöglich ist. Er zeigte es als Gleichnis, wie er selbst wohl auch nur ein Gleichnis gewesen ist." Und dann: „Ein Heiliger im orientalischen Sinne ist ein Mann, der sich von seinem Körper so weit abwendet, daß er ihn biegen kann, oder der sich von der Welt so weit abwendet, daß er sie biegen kann" (S. 102). Der Erzähler hat es später selbst versucht, versuchen müssen, als er Zahnschmerzen hatte und es viel zu weit war bis zum nächsten Zahnarzt. Er quält sich, bis es ihm gelingt, den entzündeten Zahn sozusagen von innen zu sehen, von jenem Punkt im Gehirn aus, wo er schmerzt: Ich „stülpte .. . meine Augen von außen nach innen und betrachtete den Zahn, der so groß geworden war, und als ich ihn eine Weile betrachtet hatte, war er plötzlich etwas kleiner. Also betrachtete ich den großen gereizten Zahn eine lange Weile in aller Ruhe, bis er noch kleiner wurde. Und nicht mehr gereizt. Da wußte ich, daß ich es konnte" (S. 89). Innen und Außen, Ursache und Wirkung, erscheinen vertauschbar. Als zugleich innerliche wird die Wirklichkeit zu einer Welt des Möglichen, d. h., das Unmögliche wird Wirklichkeit. Das bedeutet, daß alles, was ist oder geschieht, als Gleichnis seiner selbst verstanden werden kann. Eines Tages will der Erzähler zum Katschaki-See fahren, jenem „kristallblauen Weltwunder in den Bergen". Er folgt in seinem Jeep einer schmalen Fahrspur durch die glühende Sandwüste an bizarren Sandformationen und weißen und schwarzen Basaltgraten vorbei. Eine Panne hält ihn auf, er repariert den Wagen in der kaum mehr erträglichen Hitze. Da tauchen oben auf einer Düne drei Männer auf, sie versuchen, ihm den Weg abzuschneiden, er kann ihnen gerade noch entkommen. Doch dabei gerät er auf eine Spur, die im Leeren endet. Er muß zurück, und da warten die drei schon auf ihn. Er will ihnen ausweichen, doch es läuft ihm der eine - er hat einen schwarzen Vollbart - direkt in den Wagen. - In Afghanistan ist immer der Autofahrer schuld, und in einem dortigen Gefängnis lebt man höchstens vier Wochen. - Nun kommt der zweite an, mit einer Flinte: der Jeep erwischt ihn, als er gerade abdrücken will. Dann ist alles still, rings nur Sand und Steine: „Und ich denke, das ist Wahnsinn, wie komme ich hierher, und was soll ich um Gottes willen ausgerechnet in Afghanistan. Denn hier - ich fasse erst mein Gesicht an, dann . . . die Windschutzscheibe des grünen Jeeps, den ich deutlich sehe - hier befinde ich mich. Und das ist gefährlich, 470

denke ich, weil es so deutlich ist (es ist die Stelle, wo die Hand aus dem Boden kommt), weil es nämlich nicht möglich ist" (S. 111). Den dritten erwischt er dann, nachdem er ihn auf einer längeren Schotterstrecke vor sich hergejagt hat - anders wäre er hier nicht mehr herausgekommen . . . Etwas später aber heißt es dann: „Eines Tages fuhr ich an den Katschaki-See, der sich ziemlich unvermittelt aus der Sandfläche materialisiert, als blaues Weltwunder ohne Mensch und Tier. Aber wohl auch ohne Männer mit Vollbärten, die sich dann doch nicht materialisieren. Nur diese heißen Luftplatten, die heat-glasses, die zuweilen alle möglichen vorgestellten Dinge hereinspiegeln, die in Wirklichkeit gar nicht existieren, oder wenigstens nicht direkt" (S. 114). Was ist nun 'wirklich' geschehen? Die Frage erscheint gegenüber einer Welt, in der Innen und Außen vertauschbar sind, nicht mehr sinnvoll. Und dann die letzte Episode, die in diesem afghanischen Kapitel erzählt wird: Bei einer Fahrt zum Markt in Girishk hat der Erzähler den Einfall, die alte Festung in der Höhe über der Stadt zu besichtigen. Mamat Khan, der Chauffeur, holt nur widerstrebend vom Polizeikommandanten die Erlaubnis. Sie steigen hoch, die Masse der Lehmmauern mit den achteckigen Türmen steht wie das Jüngste Gericht über ihnen. Vor dem Eingang eine Wache. Man läßt sie eintreten, und da stehen sie in einem offenen Hof: von dem Gebäude existieren nur noch die vier stockwerkhohen Außenmauern, die ihn umschließen. Und rings den Mauern entlang und oben auf den kleinen Plattformen, Resten der früheren Stockwerke, sind Menschen mit Eisenringen und -Stangen an die Mauern geschlossen. Es ist das Gefängnis von Girishk. Einige heben, als die Besucher kommen, den Kopf, aber alle sind ganz still. Wie lange hält das einer durch?, fragt der Erzähler. Im Winter sind die Nächte kalt, es gibt keine Decken. Das Essen bringt die Familie, oder auch nicht. Er geht den Mauern entlang um den Hof. Dabei stößt er auf einen Mann, der ganz mit Lehm bedeckt ist, die Eisenstange ist völlig verrostet. Niemand weiß, wie lange er schon da ist. Aber als er aufblickt und den Besucher anschaut, erscheint eine Klarheit in seinen Augen, „wie wenn ein Licht aus einem Haus fällt" (S. 117). Und schließlich am Ende findet er einen Gefangenen mit europäischem Gesicht. Er kann nicht sprechen, weil man ihm die Zunge herausgeschnitten hat. Es soll ihm jemand ins Auto gelaufen sein. Mehr ist nicht zu erfahren. Und im übrigen stellt sich das unbestimmte Gefühl ein, daß es höchste Zeit ist, wieder hinauszukommen. Diese afghanischen Geschichten bieten eine Episodenfolge, über die eine bestimmte Grunderfahrung unter wechselnden Aspekten zur Darstellung kommt. Da ist zum einen der Helfende und Heilende, der Arzt, der erkennt, wie sehr die Hilfe, die er von außen bietet, nur etwas Vorläufiges ist, ja, daß ihm selbst geholfen werden muß, daß er letztlich auf etwas Unerzwingbar-Gnadenhaftes angewiesen ist, demgegenüber er sich nur vorbereitend verhalten kann. - Das zweite Moment läßt sich als Flucht nach vorwärts bezeichnen. Sie gründet in jenem verzweiflungsvollen Mut, der notwendig ist, damit man unter den radikal anderen Bedingungen dieser orientalischen Welt überhaupt eine Chance hat zu bestehen. Doch vor diesem Mut erweist sich die fremde Wirklichkeit dann wiederum als das Nicht-Wirkliche, das Nur-Mögliche: das Bedrohliche ist nur die Materialisation der Angst, das Innere im Äußeren. Und als drittes kommt schließlich die Begegnung mit dem Tod hinzu, in der sich dieser verwandelt, d. h., es geht um die Entdeckung eines Punktes jenseits von Leben und Tod, von dem 471

aus die Faktizität ihre Substanz verliert: das Licht, das durch die Augen des zeitlosen Gefangenen von Girishk in die diesseitige Wirklichkeit fällt. Die Grunderfahrung, die hinter all dem steht, findet sich, anders konkretisiert und mit differierenden Akzenten, im Prinzip aber mit analogen Mitteln umgesetzt, in der Stationenreihe des arthurischen äventiuren-Weges wieder. Auch hier gibt es die gestellte Gefahr, die sich dann vor dem Mut des Helden auflöst: Lancelot sieht, als er auf der Schwertbrücke das Jenseitsland Gorre erreichen will, am andern Ufer zwei bedrohliche Löwen. Als er den Übergang trotzdem wagt, lösen sie sich in nichts auf. - Wenn Erec sein Leben einsetzt, um Cadoc aus der Gewalt zweier Riesen zu befreien, so ist dies zweifellos eine gute, hilfreiche Tat, aber für seinen eigenen Weg bedeutet sie nur etwas Vorläufig-Vorbereitendes. Daß der Held selbst hilflos und hilfsbedürftig wird, daß er von seiner Frau, die er nur in ihrer Schwäche gesehen hat, sich helfen und sich das Leben schenken lassen muß, dies erst bedeutet die Wende. - Auf Limors hält Enite ihren Mann für tot, und er ist es insofern, als die Möglichkeit entscheidend ist, nicht die Tatsächlichkeit: Limors ist in der äventiuren-Spielv/eh für den Tod gesetzt, und der Weg führt durch Limors hindurch. - Und Joie de la Curt am Ende, wo Erec im Verhältnis Mabonagrins zu seiner amie seine eigene Situation gespiegelt sieht, bedeutet dann nichts anderes, als daß der Held die Welt, durch die er gegangen ist, als Realität und Gleichnis in einem versteht und akzeptiert. Afghanistan - so wird gesagt - ist genauso, wie man es erwartet, d. h., es ist 'typischer Orient' als Gegenwelt zum Abendland. Um sie als solche zu konstituieren, werden die gängigen Versatzstücke verwendet. Dem Exotisch-Trivialen Afghanistans entspricht seiner Funktion nach das Märchenhaft-Triviale des arthurischen äventiuren-Bereichs. Die Konventionalität des Ungewöhnlich-Wunderbaren bedeutet hier wie dort die Spielwelt, in der man sich bewegt; es werden die geläufigen Marken gesetzt. Das Klischeehafte verhindert, daß die Aufmerksamkeit an den Motiven selbst hängen bleibt; sie geraten vielmehr in die Reflexion: das Spiel wird als Spiel bewußt, seine Grenze wird sichtbar und damit auch der dahinterliegende Ernst. Die schizophrene Vorstellungswelt überbietet die beiden literarisch konventionellen Jenseitswelten, Orient und Artus-äventiure, um ein Vielfaches an Phantastischem, wobei auch hier das Triviale nicht fehlt: aus Räubern und Riesen werden Geheimagenten. Aber die schizophrene Phantasie wuchert, fesselt, überwältigt: hier bricht das ungebändigt durch, was in Ernst Augustins Orient als das Nicht-Geheure unter der Sandwüste lauert. Wie es im Fall der Evelyne B. in die kontrollierte Spielwelt hineingenommen wird, zeigt nun der folgende Abschnitt.

IV Könnten Sie die berühmte Paßstraße sehen, die bei Quetta nach Afghanistan hineinführt, würden Sie mir sicherlich zustimmen, wenn ich sie mit dem Raubtiergebiß vergleiche, dessen Zähne nach innen gerichtet sind: Hinein geht es leicht - ... nach zwei Stunden Anfahrt auf den Paß, der gar nicht so hoch ist, wie [der Reisende] geglaubt hat, erreicht er die Stelle, wo hinter einer Biegung sich das Land ausbreitet. Da riecht er sie...: die Holzkohlenfeuer Afghanistans, die überall im Land brennen. Und das ist die Stelle, wo er innehält und das Land zum erstenmal sieht, die Sandstrecken und Schluchten, die 472

Räuber und Tiger in den Schluchten, die da alle versammelt sind. Und Angst? Ja, Angst hat er unbedingt, aber eine noch viel größere, ob er nämlich jemals wieder herauskommen würde. (S. U2f.) Mit diesen Bemerkungen werden die afghanischen Geschichten in den therapeutischen Prozeß eingehängt: sie sind also Erzählung für die Patientin, wenn sie auch erst spät und nur an diesem einen Punkt in ihm festgemacht sind. Dabei ist es insbesondere das Bild vom Raubtiergebiß mit den nach innen gerichteten Zähnen, das in die spezifische Situation einrastet. Wir befinden uns auf dem therapeutischen Weg ja noch immer im Übergang: die Patientin steht im Haus vor der Flußlandschaft. Der Rückweg ist abgeschnitten. Sie muß nun den Schritt in die andere Wirklichkeit tun. Des Erzählers andere Wirklichkeit, Afghanistan, ist eingeblendet worden und hat die Leitvorstellungen geliefert, die für die Patientin Anweisung und Anforderung sind. Es wird von ihr verlangt, die entscheidende Wende zu vollziehen, die Außenwelt als Funktion der innern zu sehen, sich dem Bedrohlichen zu überlassen, um es gerade dadurch zu überwinden, den Tod anzunehmen, um ihn aufzuheben. Die immer noch Zögernde wird schließlich mit einem Schubs ins Wasser gestoßen. Es ist warm. Sie beginnt, sich darin heiter und gelöst zu bewegen und gegen die Strömung „flußaufwärts" zu schwimmen. Sie erreicht über eine flache Rinne ein eirundes, ruhiges Wasserbecken mit Farnkulissen und Schmarotzerpflanzen, die es wie ein grünes Gewölbe umschließen. Große schattige Blüten hängen in den Zweigen. Und der Erzähler bemerkt: „Fast hätten wir ein Wolläffchen angetroffen" (S. 123) - ein Scherz, aber er bedeutet, daß die Inszenierung ihre eigene Wirklichkeit durchzusetzen beginnt. Aus dem Eirund scheint es zunächst keinen Ausweg zu geben. Aber dann entdeckt man, daß eine herabhängende Coquilpflanze sich wie ein Vorhang raffen läßt und eine Öffnung in der Beckenwand freigibt. Hat man sich da durchgearbeitet, gerät man in eine Schlammrinne. Der Schlamm ist heiß, die Luft hat 38 Grad, die Patientin kommt nur mit Mühe vorwärts, rutscht immer wieder aus und wird schlammschwarz von oben bis unten. Schließlich legt sie sich erschöpft in den Dreck. Als sie dann diese heiße Passage endlich hinter sich gebracht hat und sich an eine Steinsäule lehnt, öffnet sich unvermittelt eine Tür. Die Patientin schreit auf: sie sieht sich einem Meer gegenüber, einem „Alptraum-Ozean". Eine Maschine bewegt große grüne Wellen heran; der ganze Raum, auch Decke und Boden, ist verspiegelt, so daß der Eindruck einer unendlichen bewegten Meeresfläche entsteht. Das Wasser hat 35 Grad, Hauttemperatur, der Schwimmer befindet sich in seinem eigenen Körpersee. Blickt man zurück, ist die Eingangstür verschwunden, denn auch sie ist verspiegelt. Es bleibt nur die Möglichkeit, durch den Ozean durchzuschwimmen. Irgendwo am andern Ende gibt es wieder eine solche Tür, aber die Wegstrecke ist nicht abzuschätzen, die optische Illusion hat sie vertausendfacht. Dann schwimmen sie, der Therapeut und die Patientin, gegen die Wellen. Es ist mühsam, und an einem bestimmten Punkt kommt unweigerlich die Angst: die Patientin wird unsicher, sie weiß nicht, ob es nicht doch ans Leben gehen könnte. In dem Augenblick aber, in dem sie in den „seegrünen Tod" zu versinken droht, ist der Helfer da, und es findet sich die Klinke der versteckten Tür. Es ist ein Spiel über drei Stufen. Im grün überwölbten Ruhe des Ursprungs zurück. Auf dem Weg durch den buchstäblich keinen festen Boden mehr unter den Füßen. bissenen Bemühen, das in völliger Erschöpfung endet. Und

Eibecken findet man zur Schlamm hat man dann Das zwingt zu einem verschließlich sieht man sich 473

dem unendlichen Ozean ausgeliefert, er bringt die Begegnung mit dem Tod, durch den man aber unvermutet durchstößt. Das Münchner Haus wird also in dem Augenblick, in dem die Patientin ins Wasser taucht, zu einer symbolisch-imaginären Welt. Das ist - im Rahmen des therapeutischen Weges - die den afghanischen Erfahrungen entsprechende Verwandlung der Wirklichkeit von innen her. Bevor jedoch die letzte Phase dieses Prozesses beginnt, bevor sich die Tür zum „Alptraum-Ozean" öffnet, wird nochmals - das ist nachzutragen - ein Stück orientalische Biographie eingeblendet, Szenen aus Indien, deren Reihe an diesem Punkt anläuft und die dann nach der Bewältigung des Ozeans zu Ende erzählt werden. In Indien versucht der Erzähler die Erfahrung der Grenze für sich manipulierbar zu machen. Er lernt Yoga-Techniken. Aber was ihm dabei begegnet, ist widersprüchlich und bizarr. Es ist eine Welt des Absurden, die bald mehr irritierend und bald mehr komisch wirkt. Das hilft kaum weiter. Doch ganz am Ende auf der kleinen Bahnstation von Madurai, unmittelbar vor der Abreise, geschieht es dann trotzdem, und zwar über eine Art Kurzschlußtechnik: Samadhi. In diesem allerletzten Augenblick, als der Zug schon fast abfährt, gibt ihm der Yogalehrer eine Anweisung für einen „direkten Weg": er besteht in der Konzentration auf die eigene Nichtexistenz, und das heißt zugleich Konzentration auf die Unmöglichkeit, sich überhaupt konzentrieren zu können. Und was dann vorgeht, beschreibt der Erzähler als eine sausende Talfahrt durch sich selbst hindurch: „als ob sich mein innerstes Ich herumstülpte, um mich und die ganze Welt, die da nichts weiter als ein kleiner gelber Lehmbahnhof in meinem Innersten war, wo ich selber herumstand" (S. 185). Es ist das Schlüsselerlebnis vom Eßzimmer von Veiten, das sich hier auf neuer Stufe wiederholt. Diese beiden miteinander korrespondierenden Episoden: Veiten und Madurai, umklammern die biographische Romanhandlung: sie ist von jener her und auf diese hin entworfen. Insbesondere der orientalische Weg ist nichts anderes als die erzählerische Ausfaltung dieser Grunderfahrung in ihre verschiedenen Aspekte in einem Raum, in dem das Reale zum Imaginären verwandelt werden kann und umgekehrt. Diese Erfahrung aber wird dann auf dem zweiten, dem therapeutischen Weg nochmals inszeniert und dabei zugleich den veränderten Bedingungen und Erfordernissen entsprechend umgesetzt. Der Weg führt von der kritischen Schwelle durch die verschiedenen Wasserbecken bis unmittelbar an den Tod heran, zu jenem Augenblick, in dem dann unerwartet gnadenhaft die verspiegelte Tür aufgeht: Samadhi, der Sprung in eine neue Dimension, von der aus Räumliches und Zeitliches nur noch als Spiel und Gleichnis erscheint. Insgesamt gesehen sind also in Ernst Augustins Roman drei erzähltechnisch ineinandergeschobene, motivisch verzahnte und thematisch aufeinander bezogene Handlungsabschnitte zu unterscheiden: 1.) Die frühe Biographie, 2.) die Reihe der Orientepisoden und 3.) der therapeutische Prozeß. Über ihr Zusammenspiel enthüllt sich der Sinn der Geschehnisse. Der Artusroman zeigt eine im Prinzip analoge, in der Realisierung jedoch differierende Schematik. Ich demonstriere am >ErecErec< dar. Wie verhalten sich dazu die drei Handlungsabschnitte in Ernst Augustins Roman? Da ist zunächst, nur in Bruchstücken vorgeführt, das Leben des Helden und Erzählers bis zu seinem Aufbruch in den Orient: das frühe Schlüsselerlebnis im grünen Licht des Eßzimmers in Veiten, die Ereignisse am Kriegsende, die Zeit in der „grünen Schattenschlucht" der Charite. Das sind merkwürdig disparate Ausschnitte; doch es gibt einen thematischen Bogen, der sie zusammenbindet: er führt vom Grenzerlebnis in Veiten zur Grenzsituation der Schizophrenie. Und in diesem Zusammenhang kommt es auch zur ersten Begegnung mit Evelyne und zur spielerischen Vorwegnahme der künftigen Beziehung, einer Beziehung, die über das Spiel in die rettende Gemeinschaft führen wird. Das Ganze ist eine Art skizzenhaftes thematisches Präludium und als solches in gewisser Weise mit Erecs erstem Weg vergleichbar. Es folgt dann ein zweifacher Weg, einmal der Weg, den der Held und Erzähler allein geht, die Reihe der Orientszenen, und zum anderen der Weg, den er seine Partnerin entlangführt. Der Bezug der beiden Wege zueinander ist zwar dadurch offenkundig, daß der biographische Weg mit dem therapeutischen erzählerisch verschränkt wird, doch fehlt gerade deshalb das klare Strukturmuster mit seinen Korrespondenzen und Oppositionen, das der Artusroman bietet. Immerhin ist nicht zu verkennen, daß der biographische Weg durch eine Reihe von Grunderfahrungen führt, die der Held und Erzähler dann, in bestimmter Weise umgesetzt für seine Partnerin, buchstäblich nochmals in Szene setzt, damit sie einen analogen Erfahrungsprozeß durchlaufen kann. Aber gerade deshalb ist auch hier die eine Episodenfolge nicht einfach eine Replik der andern. Sie sind vielmehr - und dies schon äußerlich - wiederum kontrastiv angelegt. Der biographische Weg führt durch die Dürre, durch die Hitze, durch das Feuer, der 476

therapeutische Weg durch eine grüne Pflanzenwelt und durch das Wasser. Trotz dieses Gegensatzes gibt es aber Berührungen: im Traum liegt das dürre Afghanistan immer im Regen; der Wasserweg führt anderseits auch durch ein heißes Stadium; die Lufttemperatur im Orient und die Wassertemperatur im Haus in München entsprechen der Körperwärme; die Aufhebung des Gegensatzes zwischen Innen und Außen gilt hier wie dort, d. h., die Wege durch Feuer und Wasser sind Varianten derselben Grunderfahrung - wie in der >Zauberflöte< -, doch das Wasser ist mehr auf den Ursprung, das Feuer mehr auf das Ziel bezogen; aber da Ursprung und Ziel eins sind, begegnet sich die Symbolik der beiden Elemente. Das Wasser steht in Beziehung zum Vegetativen, zum Passiven, zum Wahnsinn. Das Feuer steht in Beziehung zur Aktivität, zur Zerstörung, zum Tod.3 An der Grenze des 'normalen Lebens' aber stoßen sie zusammen. Zudem: der zweite Weg ist der Weg der Frau. So schon im >ErecErecFall Evelyne B.< eher symptomatischen Charakter. In einem übergreifenden historischen Entwurf würde dieser Differenz selbstverständlich ihr Stellenwert zuzuweisen sein. Im übrigen wird man sagen dürfen: Das besondere Interesse, das das Mittelalter von der modernen Literatursituation her beanspruchen kann und das sich in den letzten Jahren sehr nachdrücklich zu artikulieren begonnen hat,7 vermag sich hierbei erneut und unter einem bisher nicht beachteten Aspekt zu bestätigen.

6

Reiches Material stellt FOUCAULT 1961 bereit, dem der vorliegende Beitrag entscheidende Anregungen verdankt. - Was die Gegenbewegung anlangt, so wäre insbesondere die Literatur zum Verhältnis von Dichtung und Wahnsinn heranzuziehen. Ich weise dazu auf GORSEN 1977 hin. Siehe im weiteren die Bibliographien bei KUDSZUS 1977, S. 57ff. und 177ff. 7 Vgl. dazu meine Einleitung zu den Referaten des Schweinfurter Kolloquiums der Wolfram von Eschenbach-Gesellschaft 1976: HAUG, 1979 [d].

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Die Symbolstruktur des höfischen Epos und ihre Auflösung bei Wolfram von Eschenbach

I Mit dem ersten Artusroman Chretiens de Troyes erscheint in der mittelalterlichen Literatur eine Darstellungsform, die ihrer ästhetischen Konzeption nach, soweit die Überlieferung ein Urteil gestattet, als Novum anzusehen ist. In parallelen Vorstößen auf germanistischer und romanistischer Seite hat sich die Forschung bemüht, das Wesen dieser Konzeption aufzuhellen und ihre historischen Voraussetzungen zu klären.' Das ästhetische Prinzip dieses Romantyps, den Chretien in >Erec et Enide< vorgestellt und im >Yvain< und im Conte du Graal weiterentwickelt hat, läßt sich folgendermaßen umreißen: Die Romanhandlung wird einen gegliederten Stationenweg entlanggeführt. Der Prozeß, den sie zum Ausdruck bringt, faltet sich in der Handlung über den Weg aus. Der Sinn dessen, was sich in den einzelnen Stationen ereignet, wird damit wesentlich durch seinen Stellenwert im Schema bestimmt, d. h., die Situationen sind symbolisch auf ihre strukturelle Position bezogen. Für die weitere Gliederung der Stationenfolge ist charakteristisch, daß der Weg in der Form eines Doppelkreises angelegt ist. Der zweite Handlungszyklus wiederholt dabei in gewisser Weise den ersten, indem er den Helden unter veränderten Vorzeichen und neuen Bedingungen über einen parallelen Weg führt. Der zweite Zyklus zeigt der komplexeren Ausgangslage entsprechend einen differenzierteren inneren Aufbau. Die einzelnen Stationen dieses Strukturschemas sind - in einem gewissen Variationsspielraum - auch inhaltlich charakterisiert, d. h. mit typischen Motiven besetzt. Für >Erec et Enide< bietet sich in stark vereinfachter Form - für die detaillierte Strukturanalyse sei auf den grundlegenden >ErecErecYvain< und des Conte du Graal - insbesondere im Hinblick auf den Sinn der Krise - beruhen darauf, daß das spezifische Motivierungsproblem dieses Romantypus nicht erkannt worden ist.4 Chretiens Doppelkreisstruktur ist thematisch gebunden, jedenfalls in ihrem Ansatz. Es geht um die literarische Bewältigung eines spezifischen Problems, um die Integration der insbesondere im erotischen Bereich erfahrenen Macht der Individualität in die gesellschaftliche Ordnung. Das Problem wird symbolisch-programmatisch über das Wegschema ausgetragen. Dieser thematische Bezug der Symbolstruktur wird leicht übersehen, wenn man nach ihren literarischen Voraussetzungen fragt. So ist etwa die bloße Doppelung einer Handlung im Sinne einer Variation unter verändertem Aspekt, wie die 'Spielmannsepen' sie aufweisen, nicht als Vorform des gestuften und differenziert gegliederten doppelten Zyklus Chretiens zu betrachten. Auch der Roman d'Eneas bietet, wie Hans Fromm klargestellt hat, keine so nahe strukturelle Parallele, daß er als konkreter historischer Ansatz in Frage käme.5 Die Differenz liegt jedoch nicht nur in 3

Wieweit das Geschehen sich dabei der Allegorie nähern kann, hat KUHN, Hugo 1948/1969 [a]/1973, S. 35ff., in seiner Analyse der Joie de la cwrt-Episode gezeigt. "Vgl. ebd., S. 150, und RUH 1977, S. 128. 5

FROMM 1969.

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der sehr viel einfacheren Linienführung dieser Doppelstrukturen, sondern vor allem darin, daß sich bei Chretien anhand des gestuften Doppelkreises das Problem des Werkes symbolisch ausfaltet und löst. Das Neue ist also das eigentümliche Verhältnis von Thema und Form. Wer nach dem geschichtlichen Ansatz fragt, wird insbesondere dies berücksichtigen müssen. Es läßt sich ein literarischer Typus nachweisen, der die wesentlichen Voraussetzungen besitzt, um als historisches Vorbild für Chretiens Struktur gelten zu können: der Typus des bretonischen Lais, vor allem in jener Ausprägung, deren Varianten unter der Bezeichnung 'Graelentgruppe' zusammengefaßt werden.6 Das Lai von Graelent, dem sie den Namen verdankt, erzählt folgendes7: Graelent ist einer der ersten Ritter am bretagnischen Hof. Die Königin wendet ihm ihre Liebe zu. Da er ihre Avancen aber abweist, verleumdet sie ihn beim König, so daß dieser ihm seine Gunst entzieht. Graelent verarmt. Einmal trifft er bei der Verfolgung einer weißen Hindin auf eine schöne Frau, die in einer Quelle badet. Sie stellt sich zunächst spröde, gibt sich dann aber dem Ritter hin und erklärt, daß sie ihn erwartet habe. Sie verspricht ihm Reichtum, und sie will sich, wann immer er es wünscht, bei ihm einfinden. Sie legt ihm nur die Verpflichtung auf, von ihrer Liebe zu schweigen. Graelent verrät jedoch nach einiger Zeit das Geheimnis am Hofe, indem er sich brüstet, die Liebe der schönsten Frau zu besitzen. Der König verlangt darauf die hochgepriesene Dame zu sehen. Graelent kann der Aufforderung nicht nachkommen, da er die Geliebte durch seinen Wortbruch verloren hat. Er soll verurteilt werden. Im letzten Augenblick erscheint sie dann aber rettend am Hof und überzeugt alle von der Wahrheit der Behauptung Graelents. Als sie sogleich wieder wegreitet, eilt Graelent ihr nach, er wirft sich sogar in einen Fluß, um die Geliebte zu erreichen; schließlich hat sie Mitleid und nimmt ihn versöhnt mit in ihr jenseitiges Reich. Das Schema, dem dieses Lai und seine Varianten folgen, ist nicht zu verkennen: ein erster Handlungskreis beginnt mit einer typischen avanture, mit der Jagd auf eine weiße Hindin. Es fehlt hier freilich eine Provokation des Hofes. An ihre Stelle ist das Potipharmotiv getreten. Als Ergebnis bleibt, daß Graelent in Ungnade fällt, seine gesellschaftliche Position einbüßt. Die Jagd führt zur Begegnung mit der Partnerin, was dem Helden Glück und Reichtum einträgt. Dieser Höhepunkt am Ende des ersten Zyklus ist in seiner Relativität deutlich gekennzeichnet, er steht unter einer Bedingung, unter einer Art Tabu. Der zweite Handlungskreis setzt mit einer Krise ein. Sie wird durch den Tabubruch ausgelöst. Die Geliebte entschwindet, Graelent gerät in höchste Gefahr. In diesem Tiefpunkt erfolgt der Umschwung, die Geliebte erscheint als Retterin und führt den Helden zu dauerndem Glück in ihr Jenseitsland. Dieses Handlungsschema findet sich - im Detail bald typischer ausgeformt, bald verkürzt oder durch Wandermotive überdeckt - auch in den übrigen Lais der Graelentgruppe. Die Lais von Lanval, Guigemar und Guingamor schließen sich besonders eng an. Unverkennbar ist überall der Doppelkreis mit dem relativen Höhepunkt am Ende des ersten Zyklus. Mit Krise und Trennung setzt der zweite Zyklus ein, 6

Siehe zur Graelentgruppe die Anmerkungen zu den betreffenden Lais bei WARNKE/KÖHLER 1925 und bei HERTZ 1905. - Vgl. auch SEGRE 1957; ferner die Einleitungen zu den Ausgaben von GRIMES 1928, S. 12ff., und von LODS 1959, S. VII.

7

GRIMES 1928, S. 76ff.

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der auf die Wiederbegegnung in absoluter Erfüllung zielt. Es handelt sich hierbei also nicht um eine Art gedoppelter Brautwerbung wie in den 'Spielmannsepen', sondern um eine thematische Strukturierung: der Doppelkreis bedeutet eine Stufung, der relative Höhepunkt am Ende des ersten Zyklus erscheint motivmäßig objektiviert als bedingte Vereinigung mit der Geliebten. Auffällig ist, daß das Geschehen in einem Teil der Lais zwischen zwei verschiedenen Bereichen spielt: die erste Vereinigung im Lai von Graelent ist dem Diesseits verhaftet, der Ritter bleibt am bretagnischen Königshof. Der zweite Zyklus führt die Liebenden in das Jenseitsreich der Partnerin, deren ursprünglich übernatürlicher Charakter hier besonders deutlich wird. Es handelt sich bei diesem Erzähltypus um die keltische Feenliebesgeschichte. Die inselkeltischen Parallelen der bretonischen Lais sind bekannt. Die mythischen Hintergründe lassen sich z. T. noch fassen.8 Die Übernahme dieses Typus in die altfranzösische Literatur des 12. Jahrhunderts näherte ihn der Novelle an. Motive aus dem internationalen Erzählfundus traten für ältere, unverständlich gewordene Züge ein, irrationale Elemente wurden abgebaut.9 Die besondere Aufnahmebereitschaft für diesen Typus ergab sich daraus, daß die übernatürliche, jenseitige Frau dazu prädestiniert war, in die Rolle der Minneherrin, wie die höfische Liebestheorie sie propagierte, einzutreten. Die keltische Feenliebesgeschichte mußte sich aufgrund der Position und Funktion der weiblichen Figur geradezu anbieten, als stofflich-schematische Grundlage für die epische Darstellung der höfischen Minneidee verwendet zu werden: hier fand sich die absolute Überlegenheit der Frau, die Willkür, mit der sie Verderben und Segen spendet, die Unerreichbarkeit, die nur durch gnadenhafte Gewährung aufgehoben werden konnte, die Vereinigung, die bald mehr real, bald mehr metaphorisch die Diesseitigkeit übersteigt, dazu die Motive des Dienstes, des Gehorsams, der absoluten Verpflichtung. Chretien schöpft aus derselben Stofftradition wie die Lais.10 Es dürfte kaum zu bezweifeln sein, daß sie ihm zugleich die Strukturidee des gestuften Doppelkreises geliefert hat. Und doch kann der Entwicklungsschritt, den Chretien vollzieht, nicht hoch genug eingeschätzt werden. Der gestufte Doppelkreis der bretonischen Lais erscheint in den Stoff versenkt. Wenn man hier von einer Symbolik sprechen will, dann kann sie nur allgemein-archetypischer Art sein. Chretien hat die Struktur als Prinzip erfaßt und sie thematisch-prägnant eingesetzt. Das gab ihm zugleich eine neue Distanz 8

Die Literatur zur keltischen Feenliebesgeschichte ist kaum mehr überschaubar. Abgesehen von den Anmerkungen bei WARNKE/KÖHLER 1925 und bei HERTZ 1905, S. 59ff., sei vor allem verwiesen auf: BROWN 1903; LOOMIS 1949, S. 68ff. (Jagdmotiv), S. 118ff. und S. 120ff. (Enide und die keltische Fee) u. ö.; CROSS 1913, S. 377ff.; ALBRECHT 1954, S. 20ff. Zu den am nächsten stehenden altirisichen Parallelen, >Noinden Ulad< und >Serglige ConCulainnErec< als die Lais der Graelentgruppe steht eine Erzählung bei Andreas Capellanus: >De Amore< 1. II. c. 8, die ihren bretonischen Ursprung ebenfalls nicht verleugnet. Vgl. RUH 1977, S. 120f. Doch erscheint anderseits die Struktur in dieser Erzählung verunklärt. Prinzipiell und mit der nötigen Klarheit zur Quellenfrage: ebd., S. 101 ff-

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dem Stoff gegenüber. Er konnte im Wissen um die Form frei über das Material verfügen, die Motive in neuer Weise strukturbezogen einsetzen. Wäre diese entscheidende Wendung mit ihrem neuen Verhältnis zur Form und ihrer Freiheit gegenüber dem Stoff stärker berücksichtigt worden, wären der Forschung wohl manche Kontroversen über die 'keltischen Quellen' der Artusromane erspart geblieben. Wenn man vom Laitypus der Graelentgruppe als historischer Basis ausgeht, dann muß auffallen, wie programmatisch-bewußt Chretien in seinem ersten Artusroman bei der Thematisierung der Doppelkreisstruktur die Akzente umgesetzt hat. Das betrifft vor allem die Figur der Partnerin. Aus der jenseitig-machtvollen Geliebten ist die hilfsbedürftige Enide in ihrer armseligen Behausung in Laluth (Tulmein bei Hartmann) geworden. Chretien hat der Figur nicht nur alle übernatürlichen Züge genommen, sondern er hat auch alles ausgespart, was ihr eine gegenüber dem Helden autonome oder gar überlegene Position hätte geben können. Erhalten geblieben ist allein das Motiv der unvergleichlichen Schönheit, das jedoch hier nur zum Ausdruck bringt, daß Enide Erecs und des Hofes würdig ist. So ist denn die Partnerin auch nicht in der Lage, ihre Liebe unter Bedingungen zu stellen. Der relative Höhepunkt am Ende des ersten Handlungskreises und die Krise sind unmittelbar auf die neue Thematik ausgerichtet. Es ist also nicht ein besonderer Anspruch Enides, der die Krise hervorruft, sondern der Anspruch der Liebe selbst, d. h., Chretien hat es vermieden, diese Liebe in der Figur der Frau zu verkörpern und sie über diese Figur in einer autonomen Position erscheinen zu lassen. Nur auf diese Weise freilich kann Enide dann in echter Gemeinschaft in den Prozeß einbezogen werden, der durch den Weg des zweiten Zyklus zur Darstellung kommt. Man wird nicht übersehen können, daß Chretien mit dieser Akzentsetzung gerade gegen die Elemente der keltischen Feenliebesgeschichte anging, auf die die Gesellschaft seiner Zeit von ihrer Konzeption der höfischen Liebe her besonders ansprechen mußte. Das bedeutet, daß schon der >Erec< als eine Stellungnahme in der Auseinandersetzung um diese Konzeption anzusehen ist. Chretiens nächste Werke, der >Cliges< und der >LancelotYvainErec< mit Rücksicht auf die neue Ausgangstage abgewandelt wird: Chretien versucht, anstelle Enides die autonome Minneherrin in das Doppelkreisschema einzusetzen und auch unter dieser extremen Bedingung über die Symbolstruktur eine Lösung zu erreichen. Kurt Ruh hat die thematischen und strukturellen Implikationen dieses Versuches überzeugend herausgearbeitet.11 Die Handlung des >Yvain< nähert sich damit in ihrer ganzen Anlage wiederum sehr viel stärker dem >GraelentLe Chevalier de la Charrete< vv. 3669ff., zit. nach ROQUES 1958. 23 Die These, daß Chretien die Blutstropfenszene ganz bewußt den Anforderungen des Schemas entsprechend eingesetzt hat, müßte etwas von ihrer Überzeugungskraft verlieren, wenn es sich nachweisen ließe, daß diese Szene schon in seiner Quelle vorhanden war und darin ihre feste Position hatte. Die Blutstropfenszene findet sich auch im >PeredurPeredur< nicht von Chretien abhängt, dann würde das bedeuten, daß sie schon vor Chretien in diesem stofflichen Zusammenhang eine Rolle spielte. Das >Mabinogi< - zit. nach JONES/JONES 1950, S. 199 - erzählt, daß Peredur die Nacht in einer Einsiedelei verbrachte. Es hat geschneit, und als er am Morgen ins Freie tritt, zeigt sich ihm folgendes Bild: „a wild she-hawk had killed a duck alongside the cell, and what with the horse's clatter the she-hawk rose up, and a raven alighted on the bird's flesh. Peredur stood and likened the exceeding blackness of the raven, and the whiteness of the snow, and the redness of the blood, to the hair of the woman he loved best, which was black as jet, and her flesh to the whiteness of the snow, and the redness of the blood in the white snow to the two red spots in the cheeks of the woman he loved best." ZIMMER 1884, S. 200ff., hat diese Schilderung im Vergleich zu Chretien für ursprünglicher gehalten, und zwar deshalb, weil hier die für das Motiv typische Kombination der drei Farben Schwarz-Weiß-Rot (Rabe-Schnee-Blut) erscheint. Zu diesem Motiv und seiner Verbreitung in Folklore und - insbesondere auch irischer - Sage vgl. THOMPSON 1955-1958, Z65.1. CROSS 1952, Z 65.I.I. Am wichtigsten: COSQUIN 1922, Monographie C. Le sang sur la neige, S. 218ff. Es ist also wahrscheinlich, daß im höfischen Milieu der Vergleich mit dem Raben ausfallen mußte - das Schönheitsideal verlangte blondes Haar -, daß man ihn durch die Wildgans ersetzte und daß an die Stelle der drei Farben die drei Blutstropfen traten. So deutlich freilich die Folklorevarianten zeigen, daß der Rabe neben Blut und Schnee zum ursprünglichen Motiv gehört, so unverkennbar ist es auch, daß die >PeredurPeredur< dagegen liegt die überarbeitete Form mit dem höfischen Falkenüberfall vor, und der Rabe erscheint - neben Gans bzw. Ente - als zusätzliches Element. Es kann also kein Zweifel darüber bestehen, daß die walisische Fassung hier die Chretiensche Szene aufgrund eigenständiger und stoffunabhängiger Motivtradition ergänzt hat. Da sich im Hinblick auf Position und Funktion der Blutstropfenszene auch anderweitig keine Vorbilder im inselkeltischen Bereich nachweisen lassen, dürften die spezifische Gestaltung des Motivs und seine Sinngebung Chretien zuzuweisen sein. 501

höfischer Vollkommenheit. Unter diesem Aspekt erhalten die Worte Gauvains, mit denen er Percevals Verhalten interpretiert, ihre volle Bedeutung: er sagt, daß dieses Träumen des Helden nicht unedel, sondern in höchstem Maße höfisch sei.24 Perceval hat sich also gerade durch sein Verhalten vor den Blutstropfen unter dem Aspekt der Minne als 'Artus-würdig' erwiesen. Es mußte diese Seite seines Rittertums beim Einzug am Hof in Erscheinung treten. Deshalb braucht Gauvain auch nichts gegen die Versunkenheit zu unternehmen: der Dichter selbst setzt in gewohnter Weise die Symbolsituation und löst sie wieder auf. Wenn Wolfram diese Szene im Sinne von Kolbs Interpretation ändern und mit dem Schleiermotiv gegen die Magie der Minne angehen wollte, dann müßte das heißen, daß Wolfram Chretien mißverstanden hat. Wolfram hätte dann nämlich in der Szene das traditionelle Motiv der Liebesversunkenheit gesehen und die Uminterpretation der Szene unter struktursymbolischen Gesichtspunkten nicht begriffen. Damit präzisiert sich am konkreten Fall die anfangs generell gestellte Frage, wie Wolfram sich der Chretienschen Symbolstruktur gegenüber verhält. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, daß der deutsche Dichter entscheidend von dieser Struktur abrückt, es fragt sich nur, ob er sie in ihrer Bedeutung nicht erkannte oder ob er sie nicht übernehmen wollte. Ein Blick auf den Einbau der Szene in den weiteren Zusammenhang soll eine Antwort auf diese Frage ermöglichen.

V Bei Chretien verläuft die weitere Handlung von der Blutstropfenszene bis zur Einkehr am Artushof in einer einfachen, klaren Linie. Während Perceval über dem Bild im Schnee träumt, kommen die Knappen aus den Zelten des königlichen Hoflagers; sie sehen den Helden auf dem Pferd und wundern sich, denn er erscheint ihnen wie schlafend. Der ungestüme Sagremor erfährt als erster davon; und er holt sich sogleich von Artus die Erlaubnis, den Ritter herzubringen. Auf die unwirsche Aufforderung des Sagremor, zum König zu kommen, reagiert der Held nicht, d. h., er tut so, als ob er nichts gehört habe. Sagremor wird wütend und rennt nach einer kurzen Warnung gegen Perceval an. Dieser sieht ihn heransprengen, er wendet sich dem Angreifer zu und wirft ihn aus dem Sattel, so daß er zu Fuß zum Zeltlager zurückkehren muß und für den Spott nicht zu sorgen braucht. Indessen wendet sich Perceval wieder der Betrachtung der Blutstropfen zu. Im wesentlichen das Gleiche geschieht, als Keu darauf den Versuch unternimmt, den Ritter an den Hof zu holen, nur daß es ihm schlechter ergeht: er verrenkt sich beim Sturz das Schulterbein und bricht sich den rechten Arm. Erst der dritte Versuch, der Versuch Gauvains mit andern, höfischen Mitteln, führt zum gewünschten Erfolg. Schon die Ausgangssituation bei Wolfram weicht ab. Es wird nicht gemeldet, daß ein Ritter wie schlafend draußen vor dem Lager auf dem Pferd sitze, sondern daß ein Ritter sich zur Tjoste bereit eingefunden habe. Das versetzt das ganze Lager in helle Aufregung, denn man versteht dies als entehrende Provokation. Vollkommen närrisch Vv. 4457ff.: Certes, fait mesire Gavains, / Cist pensers n'estoit pas vilains, / Ainz estoit molt coriois et dols. 502

vor Kampfbegier bricht Segramors in das Zelt des schlafenden Königs ein, reißt ihm die Decke weg und verlangt, als erster zur Tjoste ausreiten zu dürfen. Segramors erhält die Erlaubnis und reitet hinaus. Auch Wolframs Held reagiert nicht auf die Worte des Segramors, aber nicht deshalb, weil er auf die unhöfische Anrede nicht antworten will, sondern weil er tatsächlich vor lauter Versunkenheit nichts hört. Es ist dann das Pferd Parzivals, das sich dem heransprengenden Segramors zuwendet und den Träumer damit aus seiner Versunkenheit reißt. Parzival wird wach, er fängt den Stoß des Gegners auf; der fällt vom Pferd, und Parzival kehrt, ohne sich weiter um den Gegner zu kümmern, zur Betrachtung der Blutstropfen zurück. Die Szene wiederholt sich dann mit Keie, nur daß das groteske Element noch gesteigert erscheint. Keie schlägt dem träumenden Parzival den Speer an den Kopf, und als das nichts hilft, drängt er dessen Pferd von den Blutstropfen weg, so daß Parzival aus seiner Versunkenheit aufwacht. Zwischen diese Kämpfe sind im übrigen Reflexionen über die Macht der vrouw Minne eingeschaltet, wobei mit Kritik an ihrer Untreue nicht gespart wird und Wolfram sich nicht scheut, auf eigene böse Erfahrungen anzuspielen. Es ist also tatsächlich so, daß Wolfram auf den ursprünglichen Sinn des Motivs von der Minneversunkenheit zurückgreift und damit Chretiens Uminterpretation überspringt. Dabei wird diese Versunkenheit zugleich neu bewertet: sie wird in der Reflexion kritisiert und in der Handlung selbst durch ihre Übersteigerung ins Komische gewendet und damit dem Gelächter preisgegeben. Komik auf der einen, Reflexion auf der andern Seite, das ist in anderer Weise wiederum jene Mischung von Nähe und Distanz, die schon zur Sprache gekommen ist: die Nähe führt zur drastischen Realistik, die leicht ins Komische umschlagen kann, die Distanz führt zu theoretischen Überlegungen, wobei auch hier die Darstellung sich wieder ins Allegorische öffnet, freilich nun in neuer Form: Versunkenheit und Aufwachen des Helden im Zusammenhang der einzelnen Kämpfe werden als Auseinandersetzung zwischen vrouw Minne und vrouw Witze dargestellt, die abwechslungsweise Gewalt über den Helden gewinnen. Es ist offenkundig, daß sich damit der Sinn der Chretienschen Szene vollkommen gewandelt hat. Bei Chretien liegt eine klare thematische Linie vor, die auf dem Hintergrund der Symbolstruktur zu verstehen ist. Wolfram dagegen wechselt immer wieder die Perspektive: Segramors und Keie erscheinen als närrische Raufbolde, trotzdem wird ihr Fall hinterher am Hofe in fast übertriebener Weise beklagt. Parzival, der bewaffnet vor dem Hoflager erscheint, begeht damit eine Provokation, er wird also in gewisser Weise ins Unrecht gesetzt. Seine Haltung wird dann aus der triuwe zu Condwiramurs erklärt, aber die Folgen der Liebesversunkenheit sind so übersteigert gezeichnet, daß er dabei der Komik verfällt. In diese komische Darstellung schieben sich bald mehr spielerisch, bald mehr ernsthaft vorgebrachte Überlegungen zur Macht der Minne; und schließlich, nach der Niederlage des Keie, kehrt der Gedankengang nicht nur zur triuwe, zu Condwiramurs zurück, sondern es wird an die not, die die minne dem Ritter bereitet, jene not angeschlossen, in die ihn das Gralserlebnis gebracht hat: 296,1

Parzival der valscheitswant, sin triwe in lerte daz er vant snewec bluotes zäher dri, die in vor witzen machten vri. 503

5 sine gedanke umben gräl unt der küngin glichiu mal, iewederz was ein strengiu not: an im wac für der minnen löt. truren unde minne 10 brieftet zcehe sinne, sol diz äventiure sin? si mähten bede heizen pin. Damit wird offenkundig, was bei Wolfram aus Chretiens symbolischer Präsenz der Geliebten geworden ist. In der Nahsicht ist Parzivals Liebesversunkenheit komisch, ja grotesk; aus der Distanz gibt die Szene Anlaß zu bald mehr allgemein-theoretischen und bald mehr persönlichen Überlegungen des Dichters, und schließlich öffnet sich die Szene der großen thematischen Perspektive des Romans. Dabei erscheinen die not in Hinblick auf Condwiramurs und die not in Hinblick auf den Gral ineinandergebunden. Die Demonstration einer höfisch-vollendeten Haltung im Conte du Graal wird bei Wolfram von einem Durchblick auf die Grundproblematik des Werkes abgelöst. Erst später enthüllt sich im übrigen, in welch elementarer Weise die Blutstropfenszene direkt mit dem Gralskomplex verbunden ist: Trevrizent wird den tieferen Zusammenhang erklären. Die Episode auf der verschneiten Wiese beginnt damit, daß Artus in scherzhafter Weise der meienbeere man genannt wird, d. h., Wolfram spielt darauf an, daß sich die Artusgeschichten gewöhnlich zu Pfingsten oder im Mai abspielen. Hier aber sei dies einmal anders, denn es handle sich um einen Zeitpunkt, zu dem, wenn auch etwas ungewohnt, Schnee fallen könne. Dieser unzeitige Schnee wird später durch eine bestimmte astronomische Konstellation erklärt: es ist Saturn, der durch seine Kälte den Schneefall möglich macht. Dieser Planet ist es aber auch, der die Leiden des Anfortas an dem Tage, an dem Parzival auf der Gralsburg erscheint, auf das höchste steigert und der zugleich die Lanze bluten läßt, mit der der Schmerz gelindert werden kann. Wolfram stellt also einen Zusammenhang zwischen den Vorgängen auf der Gralsburg und der Blutstropfenszene her. Sie erhält bei Wolfram letztlich ihren Sinn nicht von der Position im Chretienschen Schema, sondern von ihrem direkten Bezug zum Gralsthema her. Die für den Conte du Graal charakteristische Struktursymbolik erscheint überspielt. Während also der Perceval Chretiens seinen höfischen Weg im ersten Handlungszyklus zu Ende geht und dabei das neue Thema nur soweit in der Gralsszene angesetzt wird, daß es in der Krise am Artushof aufbrechen kann, ist bei Wolfram das Gralsthema nicht nur in der Blutstropfenszene, sondern überhaupt auf dem Weg des Helden zum Hof schon in hohem Maße präsent. An die Stelle der Sinngebung durch die Symbolstruktur tritt eine Sinngebung aufgrund konkreter thematischer Verknüpfung, wobei diese Verknüpfung zunächst nicht direkt gegeben ist, sondern im Hintergrund bleibt, um erst im Laufe der Zeit offenbar zu werden. Deshalb muß oder kann das, was bei Chretien struktursymbolisch gemeint ist, bei Wolfram komisch werden. Wolfram entwertet das Erscheinungsbild, um auf einen Sinn aufmerksam zu machen, der im Hintergrund verborgen liegt, den man aber nur zu erreichen vermag, wenn man die Nahsicht, die Oberflächensicht aufgibt und auf eine tiefere Ebene durchstößt. 504

Diese Doppelbödigkeit enthüllt sich in besonderer Weise in der sich an die Blutstropfenepisode anschließenden Szene, beim Empfang Parzivals durch den König und die Königin. Wolfram hat dabei auch die dem traditionellen Schema verpflichtete Krise seiner veränderten Sicht entsprechend vollkommen umgestaltet. Bei Chretien zielt der Handlungsbogen des ersten Kreises strukturgerecht auf den krönenden Empfang am Artushof. Perceval wird als vollendeter Ritter zum Königspaar geleitet, nachdem er in Gauvains Zelt seine Waffen abgelegt hat und kostbar gekleidet worden ist. Dann kehrt der Hof nach Carlion zurück, und dort feiert man das den Abschluß markierende Fest, bis am dritten Tag mit dem Auftritt der Gralsbotin die Krise aufbricht. Bei Wolfram ist das Erscheinen Parzivals am Hof nicht von jener vröude geprägt, die die höchste Erfüllung höfischer Existenz für den einzelnen im Rahmen der ritterlichen Gesellschaft bedeutet. Schon das erste Wort, das der König an Parzival richtet, ist zwiespältig: ir habt mir lieb und leit getan. Artus stellt dann zwar sogleich fest, daß das Positive, das er bringe, das Negative überwiege, und er nimmt ihn dankbar in die Tafelrunde auf. Aber auch die Begrüßung durch die Königin ist nicht ungetrübt, und hier wird eindeutig ausgesprochen, weshalb die Gefühle gegenüber Parzival gemischt sind: 310,27

311

'nu verkiuse ich hie mit triwen,' sprach si, 'daz ir mich mit riwen liezt: die het ir mir gegebn, dö ir rois Ither nämt sin lebn.' Von der suone wurden naz der küngin ougen ...

Es ist also der Mord an Ither, der beim Empfang zur Sprache kommt. Das Königspaar verzeiht Parzival zwar die Tat, aber die Herzen bleiben schwer. Bei Chretien versteht sich Percevals Sieg über den Roten Ritter als gerechte Bestrafung eines Beleidigers und bleibt deshalb ohne negative Folgen. Von der Struktur her gesehen handelt es sich um das Provokationsmotiv, also die Ansatzsituation, die die Handlung in Gang bringt und von dieser Funktion her ihren Sinn erhält. Wenn Wolfram thematische Konsequenzen aus dem Mord an Ither zieht, dann geht er auch hier über die Symbolstruktur hinweg. Das Provokationsmotiv gewinnt Eigengewicht und bewahrt es unabhängig von seiner Position im Schema. Die Schuld aus dieser ersten Krafttat Parzivals muß wieder auftauchen, und das geschieht am Ende des ersten Handlungskreises, so daß er sich nicht in selbstverständlicher Harmonie schließen kann. Das bedeutet, daß auch die Einkehr am Artushof gleich von Anfang an ihren Sinn nicht mehr nur aus ihrer Position bezieht, sondern über das Itherthema das Grundproblem anrührt: Parzivals Versagen und Schuld. Es handelt sich dabei aber nicht nur um eine schnell überwundene Trübung der Fest-vröWe, sondern dieser Zwiespalt ist in der ganzen Hofszene mehr oder weniger deutlich präsent, und er manifestiert sich schließlich im Höhepunkt der Szene in einer kaum mehr zu überbietenden Ironie. Hier heißt es von Parzival: 311,9

als mir diu äventiure maz, an disem ringe niemen saz, der muoter brüst ie gesouc, 505

des werdekeit so lützel trouc. wart kraft mit jugende wol gevar der Wäleis mit im brähte dar. 15 swer in ze rehte wolde spehn, so hat sich manec frouwe ersehn in triieberm glase dan war sin munt. ich tuon iu vonme velle kunt an dem kinne und an den wangen: 20 sin varwe zeiner zangen war guot: si möhte State habn, diu den zwivel wol hin dan kan schabn. ich meine wip die wenkent und ir vriuntschaft überdenkent. 25 sin glast was wibes State ein bant: ir zwivel gar gein im verswant. ir sehen in mit triwe enpfienc: durch diu ougen in ir herze er gienc. Man und wip im wären holt. Es wird also behauptet, Parzivals Schönheit sei so lauter, so spiegelgleich klar, daß sie die Frauen zur State zu zwingen und allen zwivel zu verbannen vermöchte. Entsprechung von äußerer Schönheit und vollkommener zwischenmenschlicher Beziehung, absolute Harmonie zwischen Erscheinung und innerer Ordnung, das ist die für den Abschluß des ersten Handlungszyklus kennzeichnende Situation. Aber wieder wird auch hier die Symboltypik überzogen, der Preis der Schönheit und ihre Wirkung sind ins Maßlose gesteigert. Die Vergleiche, die Wolfram verwendet, sind forciertgrotesk; und wenn sogar gesagt wird, daß Parzival äne flügel engeis mal trage (308,2), dann ist damit jene Höhe erreicht, von der Wolfram die Handlung abstürzen lassen will. Denn dieser ganze Lobpreis ist ja Vorbereitung für den Auftritt der Cundrie, und er muß daher rückblickend in ironischem Lichte gesehen werden: die Worte der Gralsbotin weisen ebendiesen engelgleichen Parzival der Hölle zu, seine Makellosigkeit enthüllt sich als Trug; er ist nicht eine vröude, sondern eine Schande für die Tafelrunde; er ist in seiner vollkommenen, blendenden Erscheinung ungehiurer als die Gralsbotin in ihrer ganzen Scheußlichkeit, er ist zutiefst valsch, ungetriw, siech an der werdekeit. Die festlich-schöne Szenerie zerreißt wie eine Kulisse, und es wird die wahre Situation sichtbar: Parzivals völliges Versagen, seine Verworfenheit bei allem äußeren Glanz. Die ironische Unterhöhlung der Szene ist Wolframs Werk. Bei Chretien folgen höfisches Fest und Krise als ein Nacheinander von in sich geschlossenen Situationen, die ihren Stellenwert durch ihre Position in der Gesamtstruktur erhalten. Die wesentliche Beziehung der Situationen zueinander konstituiert sich indirekt über das Schema; die linearen Motivverknüpfungen haben nur sekundäre Bedeutung. Die Krise, die durch den Fluch der Gralsbotin aufbricht, kann deshalb den festlichen Höhepunkt der Rückkehr zum Artushof nicht unmittelbar in Frage stellen, sondern ihn nur über das Schema in seiner Relativität sichtbar werden lassen. Dieses durch die Symbolstruktur gehaltene Nacheinander von Höhepunkt und Krise wird von Wolfram zugunsten einer auch hier wiederum offenkundigen Doppelschichtigkeit aufgegeben. Die Abfolge der 506

beiden Positionen erscheint nun als Durchbruch durch eine Oberflächenschicht auf eine tiefere Ebene, wobei letztere schon zuvor immer wieder angespielt und insbesondere durch die ironische Übersteigerung der Oberflächenschicht ins Bewußtsein gebracht wurde. All das weist auf eine gegenüber der Vorlage grundsätzlich veränderte ästhetische Haltung. Die Darstellung eines Prozesses in der Form eines Weges über einen gestuften Doppelkreis macht es erforderlich, daß das, was in den einzelnen Positionen dieses Weges geschieht, in erster Linie die jeweilige Position ins Bild bringt. Da die Erscheinung also die Bedeutung trägt, ist es nicht möglich, den Phänomenen eine Tiefendimension zu geben, die unabhängig von der sinngebenden Struktur wäre. Wolfram bricht mit diesem Darstellungsprinzip. Er verzerrt oder zerstört das die Bedeutung tragende Erscheinungsbild seiner Vorlage. Die Sinnfindung geschieht bei ihm als Durchbruch durch mehrere Schichten, wobei er den Strukturbezug durch ein allmählich sichtbar werdendes Netz von linearen Verknüpfungen ersetzt. Die Zielsicherheit, mit der dabei gerade gegen die entscheidenden symbolischen Positionen vorgegangen wird, macht es wahrscheinlich, daß es sich um eine bewußte, möglicherweise programmatische neue ästhetische Konzeption handelt.

VI Chretien de Troyes sah sich vor der Aufgabe, einen Konflikt, der in seiner Zeit sehr verschiedene Ausdrucksformen fand, den Konflikt zwischen dem absoluten Anspruch der individuellen erotischen Beziehung und der gesellschaftlichen Existenz des Menschen, im fiktiven Raum des Artusromans darzustellen und beispielhaft zu lösen. Er ging dabei von einer ästhetischen Konzeption aus, die es ihm ermöglichte, eine Psychologisierung des Problems zu vermeiden und es stattdessen strukturell zu objektivieren. Das bot den Vorteil, die Ansprüche von Individuum und Gesellschaft, ihre Auseinandersetzung, ihre Relativierung und Synthese als symbolische Positionen ins Bild zu bringen. Der Prozeß brauchte nicht durch die Reflexion hindurchzugehen, das Moment der Diskontinuität, das in jeder Wandlung mitspielt, blieb gewahrt. Der Nachteil dieser ästhetischen Konzeption bestand darin, daß der Held der Handlung den Konflikt nicht eigentlich austragen, sondern daß er nur durch ihn hindurchgehen konnte. Problemstellung und Lösung ergaben sich aus dem von vornherein gestellten Spielfeld. Der Bewältigung des Konfliktes konnte deshalb leicht etwas von einem bloßen Arrangement anhaften. So mag man etwa einwenden, daß das Problem im >Erec< unterspielt oder daß im >Yvain< die durch die verstärkte Position der höfischen Liebe erschwerte Aufgabe durch ein strukturelles Kunststück eher übersprungen als bewältigt worden sei. Gerade die Möglichkeit, die die Symbolstruktur bot, die einzelnen Positionen absolut anzusetzen, mußte aber dazu drängen, auch die religiöse Erfahrung anhand des Doppelkreisschemas zu fassen zu suchen. Der absolute Anspruch Gottes an die individuelle Person gegenüber der gesellschaftlichen Bedingtheit des Menschen schien als Konfliktsituation über die Symbolstruktur ausfaltbar zu sein. Man wird auch hier weder verkennen, daß das diskontinuierliche Moment in Schuld und Gnade durch die Autonomie der betreffenden symbolischen Positionen besonders 507

eindrücklich in Erscheinung treten kann, noch aber übersehen, daß die personale Not der Konfliktsituation zwar an einer symbolischen Bilderfolge ablesbar ist, jedoch nicht wirklich präsent zu werden vermag. Dies ist genau der Punkt, auf den Wolframs veränderte Konzeption zielt. Seine Neuinterpretation unterbindet die Projektion des Geschehens auf das symbolische Spielfeld und nimmt den Konflikt in den Menschen zurück. Das bedeutet zugleich, daß er die Funktion seines Darstellens anders verstehen und daß er ein anderes ästhetisches Verhalten des Publikums verlangen muß. Es bietet sich von daher an, die Ergebnisse der Textanalyse mit Wolframs dichtungstheoretischen Äußerungen zusammenzusehen. Der Zugang zu Wolframs Poetik muß, was die Theorie betrifft, in erster Linie über seinen >ParzivalParzivalParzivalParzivalGregorius< bezogen, für den gerade die These dieser Sentenz zentrale Bedeutung hat: der >GregoriusErec< bzw. >Iwein< gesehen.30 Wenn das zutrifft, dann wäre an dieser entscheiden30

HEMPEL 1951/52/1966, S. 272. - Hartmann gebraucht übrigens den Ausdruck versitzen im Bezug auf Iwein ausdrücklich (v. 3056).

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den Stelle des Prologes wiederum auf Hartmann Bezug genommen. Dadurch verstärkt sich der Eindruck immer mehr, daß Wolfram nicht nur gegen ein bestimmtes Publikum, sondern gleichzeitig auch gegen eine bestimmte Kunstform polemisiert. Man kann also versuchen, das, was der Prolog über das Verhältnis des Werkes zum falschen und richtigen Publikum aussagt, gleichzeitig als Auseinandersetzung zwischen Wolframs künstlerischer Konzeption und jener andern Kunstauffassung zu verstehen, auf die sich die tumben Hute in ihren Erwartungen beziehen. Wenn Wolfram dem Menschen, der sich durch sein absolutes Vertrauen dem Himmel zuordnet, und dem Menschen, der in seinem zwivel der Hölle verfällt, den gemischten Typus gegenüberstellt, so geht er gegen die Chretien-Hartmannsche Ästhetik an, die ihre Figuren in einem idealtypischen Handlungsschema vorführt. Da dort alles, was an Konkretem und Individuellem geboten wird, wesentlich Erscheinungsbild einer bestimmten strukturellen Position ist, so hat der den Schlüssel zum Verständnis in Händen, der das Prinzip dieser symbolischen Setzung begriffen hat. Insbesondere ist es die charakteristische Krise im Übergang vom ersten zum zweiten Zyklus, an der es sich entscheidet - heute wie damals -, ob diese ästhetische Konzeption durchschaut worden ist oder nicht. Es wäre deshalb zu verstehen, wenn Wolfram in seiner Polemik gerade auch diesen springenden Punkt berührt, wenn er mit dem Wort vom versitzen und vergen spottend auf die >ErecIweinLiterarästhetik des europäischen Mittelalter von Hans H. Glunz aus dem Jahre 1937 prinzipiell jede Berechtigung abgesprochen,1 und er scheute die Mühe nicht, in einer fünfzigseitigen Detailkritik vernichtend nachzuweisen, welche Fehldeutungen die falsche Prämisse nach sich gezogen hat. Denn Glunz mußte, wenn sein Ansatz tragen sollte, die Lehre von den Artes aus ihrer nur praktischen Einbettung lösen und versuchen, sie doch einem übergreifenden ästhetischen Prinzip zu unterstellen. So sieht er die Artes schon bei Augustinus in einen neuplatonisch geprägten Stufenweg der Kontemplation einbezogen,2 und er verfolgt dann diese angebliche Öffnung der Künste auf ein umfassendes philosophisch-ästhetisches Konzept hin durch die Jahrhunderte, wobei er durchaus bereit ist zuzugeben, daß es immer wieder zur Reduktion der Artes-Lehre auf die bloße Praxis gekommen sei. Entscheidend für ihn ist jedoch, daß die Tradition der neuplatonischen Ontologie eine Perspektive anbot, in die die Kunst jederzeit eintreten und dann immer mehr als nur handwerkliche Technik sein konnte. Es war für Curtius ein leichtes aufzudecken, in welchem Maße Glunz die Daten gezwungen hat, um sein Ziel zu erreichen. Curtius wußte auch, wo die eigentliche Wurzel dieses forciert-willkürlichen Verfahrens zu suchen war: er lastete es der „Geistesgeschichte" an, „die sich" - „ein Symptom wissenschaftlichen Verfalls" - „in Deutschland seit dem ersten Weltkrieg an Stelle der Philologie setzte".3 Die Glunzsche ' GLUNZ 1962; CURTIUS 1938, S. 22, unter Berufung auf A. Bäumler; vgl. auch ASSUNTO 1963,

S. 15ff. - Grundlegend zur philosophischen Ästhetik des Mittelalters, d. h. zur theologisch-philosophischen Lehre vom Schönen: DE BRUYNE 1975; vgl. auch DE BRUYNE 1951-55. Eine Textsammlung mit Einführungen bietet TATARKIEWICZ 1970; bibliographische Hinweise zur mittelalterlichen Ästhetik seit Edgar de Bruyne ebd., S. 4. 2

GLUNZ 1962, S. 13ff.

'CURTIUS 1961, S. 385, mit Hinweis auf seine Glunz-Rezension (CURTIUS 1938), hier insbes. S. 42f.

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>Literarästhetik< sollte - dies war die generelle Stoßrichtung seiner Besprechung - als Musterfall der geistesgeschichtlichen Verirrung vorgeführt und über die Kritik zugleich das methodische Rezept für die Rückkehr zum rechten Weg wissenschaftlicher Philologie geliefert werden.4 Nun wird man Glunz nicht vorhalten dürfen, daß er die Ästhetik des 18. Jahrhunderts unreflektiert auf das Mittelalter übertragen habe. Er stellt vielmehr selbst fest, daß die moderne Kunstauffassung sich dadurch von der mittelalterlichen unterscheide, daß sie auf der Idee vom schöpferischen Dichter beruhe, der sein Werk als symbolischen Weltentwurf verstehe, eine Idee, die zum ersten Mal in den italienischen Poetiken und Literaturgeschichten des 16. Jahrhunderts auftauche, um dann in der klassischen Theorie vom Symbolcharakter der Kunst ihre Erfüllung zu finden.5 Damit ist eine klare historische Grenzlinie gezogen. Doch Glunz verwischt sie sogleich wieder mit der Frage, wie diese Vorstellung vom Schöpferdichter entstehen konnte, d. h., ob nicht doch schon mit mittelalterlichen Vorformen der modernen ästhetischen Konzeption zu rechnen sei, die die geschichtliche Wende vorbereitet und möglich gemacht hätten. Seine Antwort lautet, es habe, was die Führung im geistigen Bereich betrifft, zwischen dem Mittelalter und der Renaissance ein Rollentausch stattgefunden: die Position, die von der Renaissance an dem Poeta zufiel, wurde im Mittelalter vom Theologen eingenommen. Es sei deshalb zu prüfen, ob nicht im Mittelalter die theologische Darstellung der Welt die Ästhetik sozusagen vereinnahmt hatte, indem der Theologe auch ästhetisch interpretierte, so daß dann in der Renaissance an die Stelle des dienenden, in seiner Exegese von Gott inspirierten Theologen der selbstherrliche Dichter treten konnte, der die symbolische Auslegung der Welt zu seiner eigenen symbolischen Schöpfung machte.6 Doch auch diesen Gedanken vom Rollentausch läßt Glunz schließlich weitgehend fallen, wenn er von der symbolischen Theologie zur mittelalterlichen Dichtung überwechselt; denn die großen Dichter, so sagt er, übernahmen damals schon in gewisser Weise die Funktion der Theologen. Wolframs >Parzival< ist ihm „bestes Beispiel für den Geist des dichtenden Führers zu Gott".7 Er nimmt zwar noch nicht die Position des Renaissancedichters ein, es „herrscht noch die unverbrüchliche Ordnung mit Gott an der Spitze und dem Menschen auf einer mittleren Stufe halbwegs zwischen dem Tier und den Intelligenzen".8 Es habe der Dichter des 12. Jahrhunderts „mit dem Blendwerk des Irdischen zu kämpfen, es zu überwinden: es ist die Fabel seines Gedichtes oder Romans . .. eine Fabel, die an sich wertlos, unwahr und bloßer Schein ist, genau wie die Fabeln eines Vergil, Horaz" usw., „an denen er seine eigene Fabel bildet und stilisiert. Wert erhält diese Fabel erst, wenn er sie kraft seines Dichterseins vertieft und verinnerlicht und sie von der hierarchischen Struktur des absolut geltenden Seins her interpretiert . . . Eine sogestaltete Fabel aber ist Symbol im tiefsten und allein gültigen Sinne des Wortes".9 4

Ein zweiter Paradefall ist ihm Gustav Ehrismann, dessen 'ritterliches Tugendsystem' (EHRISMANN 1919/1970) er ebenso unerbittlich wie die Arbeit von Glunz kritisiert hat. Dieser Aufsatz: CURTIUS 1943/1970, ist pikanterweise zuerst in der >Deutschen Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte< erschienen.

5

GLUNZ 1962, S. 3ff.

6

Ebd., S. 6f. Ebd., S. 59. 8 Ebd., S. 59f.

7

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Es ist einigermaßen schwindelerregend, was in diesen wenigen Sätzen geschieht. Über alle Differenzen und Vorbehalte hinweg sieht man sich am Ende doch auch im Mittelalter dem Symbolbegriff des 18. Jahrhunderts mit allen seinen Implikationen gegenüber. Die Erklärung dafür ist simpel: Glunz hat sich in seinem eigenen Zirkel gefangen; denn da er zu Beginn seines Buches postuliert, daß wahre Kunst Symbolcharakter besitze - dies im Sinne der klassizistischen Ästhetik -, muß auch die mittelalterliche Kunst, insofern sie diesen Namen verdient, symbolisch sein. Damit dies aber denkbar ist, ist eine entsprechende ästhetische Perspektive erforderlich. Glunz zieht die ontologische Ästhetik des christlichen Neuplatonismus heran. Hier gilt: Alles Seiende ist schön, insofern es mit seinem Sein am absoluten Sein und damit an dessen absoluter Schönheit teilhat. Da es im 12. Jahrhundert zu einem großen platonischen Schub kommt, lag es nahe, diesen mit der neuen höfisch-profanen Dichtung in Verbindung zu bringen. Nicht, daß Glunz den vulgärsprachlichen Dichtern eine explizite neuplatonische Ästhetik unterstellt hätte, aber wenn die Theorie auch fehlte, so erfüllten diese Dichter seiner Meinung nach in praxi doch genau das, was in platonischer Perspektive zu erwarten war10: die neue Literatur des 12. Jahrhunderts sei insofern als symbolisch zu bezeichnen, als sie ihre Stoffe auf die hierarchische Struktur des Seins hin durchsichtig mache. Und daraus folgt, daß das Kunstwerk eine bevorzugte Funktion in dieser Hierarchie einnimmt; denn da alles, was ist, in seinem irdischen Sein, Wahren und Schönen das absolute Sein, das absolute Wahre und das absolute Schöne spiegelt und damit auf dieses Absolute hinweist und hinführt, ist das symbolische Schaffen des Künstlers nichts anderes als eine prägnante Realisierung dieses universalen Prinzips. Trotz dieser Schlüsselposition, die damit der Kunst und insbesondere der Dichtung zugewiesen ist, deckt sich, so betont Glunz, das Selbstverständnis des Künstlers nicht mit jenem, das sich im Zusammenhang der neuzeitlichen Ästhetik herausbildet. Doch das Entscheidende, nämlich die symbolische Auffassung der Poesie, ist erreicht, und es bedarf nur noch der Idee des Schöpfer-Dichters und der damit verbundenen Subjektivierung des künstlerischen Prozesses, damit sich jenes Konzept voll entfalten kann, an dem Glunz von vornherein seinen Entwurf ausgerichtet hat: das ästhetische Weltverständnis der Goethezeit. Es kann nach all dem schwerlich überraschen, daß Glunz nun auch den Gegenbegriff zum klassizistischen Symbol einführt und damit im Mittelalter zu arbeiten versucht: die Allegorie. Während das Symbol, um an Goethes Wort zu erinnern, das Allgemeine „als lebendig augenblickliche Offenbarung des Unerforschlichen" vergegenwärtigt, besteht bei der Allegorie eine künstliche Beziehung zwischen Erscheinung und Bedeutung, d. h., die allegorische Kunst ist dadurch gekennzeichnet, daß bei ihr der Sinn nicht im Bild erscheint, sondern die Vermittlung des Sinns durch Konvention, durch dogmatische Fixierung zustande kommt. Das Symbolische ist deshalb das innerlich, das wesenhaft Bedeutsame, während das Allegorische als das nur äußerlich, künstlich Bedeutsame verstanden wird.11 Entsprechend versucht nun Glunz, die alle9

Ebd., S. 60. Ebd., S. 51 ff. " Die Literatur zur Symbol-Allegorie-Kontroverse ist kaum mehr übersehbar. Ich beschränke mich darauf, auf die grundlegende Arbeit von SORENSEN 1963 und seinen Textband: SORENSEN 1972, hinzuweisen; das Goethe-Zitat aus den >Maximen und Reflexionen< ebd., S. 134. Im weiteren vgl. HAUG W. 1979 [b], Reg. s. v. 'Allegorie und Symbol'.

10

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gorische Kunst des Mittelalters als Gegentendenz zum neuplatonischen Symbolismus zu verstehen. Er findet Ansätze zu dieser Tendenz schon in der allegorischen Exegese der Kirchenväter, insbesondere in der Zeichentheorie Augustins. Und diese allegorische Richtung dränge sich dann im Laufe der Jahrhunderte bald mehr, bald weniger in den Vordergrund, bis sie schließlich in dem, was Glunz die Ästhetik der Scholastik nennt, voll durchbreche und das neuplatonisch-symbolische Kunstverständnis ablöse.12 Gleichzeitig entwickle sich ein neuer Dichtertypus, der moralisch-didaktische Literat, der den Niedergang der Poesie im späten Mittelalter verschuldet habe. Die Renaissance aber knüpfe wieder beim Piatonismus an, überwinde damit das Spätmittelalter und mache den Weg zur neuzeitlichen Symbolkunst und einer entsprechenden Ästhetik frei.13 In welchem Maße diese Konstruktion verfehlt ist, hat die Kritik von Curtius hinlänglich gezeigt, und so mag es denn müßig erscheinen, sich heute noch damit zu beschäftigen. Wenn ich trotzdem die Diskussion wieder aufnehme, dann deshalb, weil Curtius zwar die Fehler und Verzerrungen der Glunzschen >Literarästhetik< im einzelnen nachgewiesen hat, dem Fiasko aber nicht eigentlich auf den theoretischen Grund gegangen ist, dies, weil er glaubte, mit dem abqualifizierenden Etikett 'Geistesgeschichte' aller Fragen nach den Prämissen enthoben zu sein. Auf der anderen Seite legitimierte sich das, was er als exakte philologische Methode dagegensetzte, seiner Auffassung nach offenbar fraglos von selbst. Wenn man Curtius' philologische Exaktheit zunächst einmal beim Wort nimmt, so muß befremden, daß er in seiner Kritik einen Abschnitt des Glunzschen Buches stillschweigend übergangen hat, nämlich den Abschnitt über Johannes Scotus Eriugena. Der Grund dafür ist unschwer zu vermuten: Eriugena bietet nämlich das, was es im Mittelalter nicht gegeben haben soll, eine Ästhetik im eigentlichen Sinne, eine Theorie also, die die Philosophie des Schönen, die Erkenntnislehre und eine Deutung des künstlerischen Schaffens in einem einheitlichen Konzept zusammenfaßte.14 Eriugenas Basis ist Pseudo-Dionysius, d. h. die neuplatonische Lehre von der Gottheit, die sich in der Schöpfung ausgießt und sich damit im Seienden darstellt, so daß alles, was ist, auf Gott als seinen Ursprung zurückweist. Die prägnante Formel lautet: „Alles, was nicht Gott ist, ist Theophanie."15 Jener Stein oder dieses Holzstück können für mich ein Licht sein; . .. wenn ich diesen oder jenen Stein betrachte, erfahre ich vieles, was meinen Geist erleuchtet. Ich bemerke nämlich, daß er gut ist und schön, daß er das ihm entsprechende Sein besitzt, daß er sich in seiner Art und Gattung von anderen Arten und Gattungen unterscheidet, daß er seiner Zahl nach ein einzelnes ist, daß er innerhalb seiner Seinsordnung bleibt, daß er aufgrund seiner spezifischen Schwere dem ihm gemäßen Ort zustrebt. Indem ich diese und ähnliche Gegebenheiten in diesem Stein erkenne, werden sie für mich zu Lichtern, d. h., sie erleuchten mich. Ich beginne nämlich nachzudenken, woher dem Stein solches zukommt, und ich sehe, daß er es nicht dadurch besitzt, daß er seiner Natur nach an der sichtbaren oder unsichtbaren geschöpflichen Welt teilhat, und alsbald werde ich von der Vernunft über alles einzelne hinweg zur Ursache 12

13

GLUNZ 1962, S. 101 ff.

Ebd., S. 201 ff. Ebd., S. 38ff.; ferner neuerdings die konzise Analyse von BEIERWALTES 1976. 15 Theophanias autem dico visibilium et invisibilium species, quarum ordine et pukhritudine cognoscitur Dens esse. >De div. nat.< V. 26, PL 122, Sp. 919C; vgl. DE BRUYNE 1975 I, S. 352; 14

BEIERWALTES 1976, S. 241.

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von allem geführt, durch welches alles seinen Ort und seinen Rang, seine Zahl, seine Gattung und seine Art, seine Güte und seine Schönheit und sein Wesen hat und durch das auch alle übrigen Gegebenheiten und Gaben vermittelt werden. Und so geht von allem Geschöpflichen, vom höchsten bis zum niedrigsten, d. h. vom geistigen bis zum körperlichen ein Licht aus, das jene führt, die sich im Lob Gott darbieten und ihren Gott eifrig suchen und sich bemühen, ihn in allen Dingen zu finden, und die ihn gerne über alles loben, was ist. . . Und daher kommt es, daß dieses ganze Weltgebäude zu einem gewaltigen Licht wird, das aus vielen Teilen wie aus vielen Laternen zusammengesetzt ist, so daß die intelligiblen Dinge in der Reinheit ihrer Art offenbar und im Innersten des Geistes erschaut werden können, wobei die göttliche Gnade und das Vermögen der Vernunft im Herzen jener, die glauben und wissen, zusammenwirken. So im Kommentar Eriugenas zur >Himmlischen Hierarchie< des Pseudo-Dionysius.16 Diese symbolische Theologie schließt nun nicht nur die Natur ein, sondern auch die Kunst, oder allgemeiner: das menschliche Tun ist im Rahmen der Schöpfung entsprechend symbolisch zu verstehen. Ob es sich nun um die Artes handle, die das Wissen von der Welt vermitteln, oder um die handwerklichen Künste, durch all sein Tun zeigt der Mensch, daß er vom Göttlichen abhängt, und in alle Dinge, die er schafft, legt er deshalb notwendigerweise einen Abglanz von Gott und offenbart ihn auf diese Weise.17 Hatte Glunz also doch recht? Jedenfalls werden Zweifel an der Unvoreingenommenheit wach, mit der Curtius seine exakte philologische Methode zu handhaben vorgibt. Man könnte dem entgegenhalten, daß Eriugena in gewisser Weise einen Sonderfall darstelle, und er war dies zweifellos in seiner Zeit, doch das berechtigt kaum dazu, ihn auszuklammern, denn seine Wirkung war unabsehbar. Er hat nicht nur als Vermittler des Pseudo-Dionysius, sondern auch durch seine eigenen, auf dem Areopagiten aufbauenden Werke, insbesondere vom 12. Jahrhundert an, größten Einfluß ausgeübt, und dies gerade auch in ästhetischer Hinsicht: Suger von St. Denis hat aus dem Geist der dionysisch-eriugenischen Lichtmetaphysik die gotische Kathedrale geschaffen.18 16

PL 122, Sp. 129: hunc vel hunc lapidem consideranti multa mihi occurrunt, quae animum meum illuminant. Eum quippe animadverto subsislere bonum et pulchrum, secundum proprium analogiam esse, genere specieque per differentiam a celeris rerum generibus et speciebus segregari, numero suo, quo unum aliquid fit, contineri, ordinem suum non excedere, locum suum juxta sui ponderis qualitatem petere. Haec horumque similia dum in hoc lapide cerno, lumina mihi fiunt, hoc est, me illuminant. Cogitare enim incipio, unde ci talia sunt, et intueor, quod nullius creaturae sive visibilis sive invisibilis participatione naturaliter haec ei insunt, ac mox ratione duce super omnia in causam omnium introducor, ex qua omnibus locus et ordo, numerus et species genusque, bonitas et pulchritudo et essentia, ceteraque data et dona distribuuntur. Similiter de omni creatura, a summo usque ad deorsum, hoc est, ab intellectuali usque ad corpus, ad laudem Creatoris referentibus eam et se ipsos, et Deum suum studiose quaerentibus, et in omnibus, quae sunt, eum invenire ardentibus, et super omnia, quae sunt, eum laudare diligentibus lux introductiva est. . . Hinc est, quod universalis hujus mundi fabrica maximum lumen fit, ex multis partibus veluti ex multis lucemis compactum, ad intelligibilium rerum puras species revelandas et contuendas mentis acie, divina gratia et rationis ope in corde fidelium sapientum cooperantibus. 17 DE BRUYNE 1975 1, S. 356; BEIERWALTES 1976, S. 260ff. - Es gibt selbstverständlich noch andere Vermittler neuplatonischer ästhetischer Vorstellungen. Man wird in erster Linie an Augustinus denken; vgl. dazu TSCHOLL 1967. Doch nirgendwo kommt der ontologische Aspekt der symbolischen Theologie so zur Geltung wie in der Tradition Dionysius/Eriugena. Gerade dieser ontologische Aspekt aber wird für die nachstehenden Überlegungen von entscheidender Bedeutung sein. 18

PANOFSKY 1946; VON SIMSON 1972; BEIERWALTES 1976, S. 237ff.

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Und Eriugena ist nicht zuletzt mitverantwortlich dafür, daß die neuplatonischdionysische Tradition, immer wieder erneuert und abgewandelt, vom 12. Jahrhundert über die Mystik des Spätmittelalters und über die Renaissance schließlich den deutschen Idealismus erreichte. Es gibt eine Linie, die, zwar vielfältig verschlungen und überlagert, aber doch deutlich genug von Eriugena zu Giordano Bruno, Spinoza, Shaftesbury und Goethe führt. Ist somit trotz allem daran festzuhalten, daß die symbolische Welt- und Kunstauffassung Eriugenas und Goethes im Prinzip identisch sind, nur mit dem Unterschied, daß der Künstler bei Eriugena, anders als das schöpferische Genie des 18. Jahrhunderts, sich darauf beschränkte, das große Kunstwerk Gottes nachzuahmen? Sollte man also nicht doch zu Glunz zurückkehren, d. h. ihm im Prinzip recht geben, und sich an die Aufgabe machen, das, was in seiner >Literarästhetik< im einzelnen falsch gesehen ist oder verzerrt erscheint, nach den Maßstäben der exakten Philologie zu verbessern bzw. ins Lot zu rücken? Diese Frage kann nicht entschieden genug verneint werden. Curtius hätte die Glunzsche Darstellung der Ästhetik Eriugenas durchaus in seine Kritik einbeziehen können. Dazu hätte er freilich seine philologische Analyse mit einer generellen Prämissenkritik verbinden müssen, durch die nicht nur der Grund für das Versagen des Glunzschen Versuchs aufzudecken gewesen wäre, sondern auch die Grenzen der eigenen Methode hätten in den Blick fallen können.

II Glunz hat einen wesentlichen Aspekt der Eriugenischen Ästhetik vernachlässigt. „Alles, was nicht Gott ist, ist Theophanie": das heißt nicht nur, daß Gott im Lichthaften der Schöpfung, in der Schönheit des Seienden erscheint, sondern dies heißt zugleich, daß er jenseits von dem steht, in dem er erscheint. Gott bleibt in seiner Transzendenz unsichtbar, unfaßbar, unaussprechbar. Deshalb ist alles, was man über ihn sagt, metaphorisch, symbolisch, figural. Dieser Begriff des Symbolischen meint damit zum einen, daß es zwischen dem Seienden und dem absoluten Sein, zwischen dem Schönen und dem absoluten Schönen, zwischen dem Lichthaften und dem absoluten Licht eine Ähnlichkeit im Sinne eines analogen Verhältnisses gibt. Analogie meint Teilhabe und Differenz. Und wenn man hierbei die Vermittlung als eine symbolische bezeichnet, so heißt dies auch, daß es eine n u r symbolische ist, daß also die Unähnlichkeit größer ist als die Ähnlichkeit, daß die Unterschiede größer sind als das Verbindende, wobei sogleich hinzuzufügen ist, daß eine solche quantitativ-komparativische Ausdrucksweise selbstverständlich zur Charakterisierung dieses Verhältnisses untauglich ist. Die Ähnlichkeit bei um so größerer Unähnlichkeit meint einen qualitativen Sprung. Und daraus folgt für die Beziehung zwischen dem Endlichen und dem Ewigen, daß man den Übergang aus eigener Kraft nicht zu leisten vermag, daß der Weg, den das Symbol anzubieten scheint, kein Weg ist, daß man diesen Scheinweg vielmehr zusammenbrechen lassen muß, um jenes Ziel zu erreichen, das seinem Wesen nach quer zu allem steht, was über ein Kontinuum zugänglich ist. Die Bewegung und das Ziel liegen also nicht auf derselben Ebene, die Bewegung kann deshalb ihr Ziel nicht ansteuern, sondern den Blick dafür nur dadurch frei machen, daß sie sich selbst aufhebt. Was man hiermit vor sich hat, ist im übrigen nichts anderes als eine ästhetisch akzentuierte 518

Formulierung der im Grunde unauflösbaren christlichen Antinomie von Natur und Gnade und muß letztlich in diesem Zusammenhang verstanden werden. 19 Glunz hat sich den Zugang zu diesem dionysisch-eriugenischen Symboldenken dadurch verstellt, daß er die klassizistischen Begriffe des Symbols und der Allegorie unkritisch ins Mittelalter hineingetragen hat. Wenn man die Ästhetik der unähnlichen Ähnlichkeit mit diesen Begriffen beschreiben wollte, so müßte man sagen: insofern die endlichen Dinge dem absoluten Sein ähnlich sind, sind sie Symbole im Goetheschen Sinne, insofern sie ihm aber unähnlich sind, werden sie zu bloßen Zeichen, d. h., sie bedeuten das Gemeinte nur im Sinne des Allegorischen. In welchem Maße diese ästhetische Position antiklassizistisch ist, läßt sich am eindrücklichsten an dem aus dem Prinzip der unähnlichen Ähnlichkeit sich ergebenden Verhältnis von Schön und Häßlich ablesen 20 : Insofern die irdischen Dinge schön sind, haben sie teil an der absoluten Schönheit Gottes; insofern die Differenz zwischen dem Irdisch-Schönen und dem Göttlich-Schönen aber radikal ist, ist das Irdisch-Schöne als häßlich zu bezeichnen. U m der Gefahr zu entgehen, bei der Betrachtung des IrdischSchönen diese Differenz zu übersehen, ist es deshalb besser, Häßliches zu betrachten bzw. häßliche Bilder für das Göttliche zu verwenden; denn das Häßliche spornt dringlicher als das Schöne dazu an, die Erscheinung auf das hin zu durchstoßen, was hinter ihr steht. So argumentiert Dionysius Areopagita. 21 Die Häßlichkeit des Schönen, das Allegorische im Symbolischen, die Unähnlichkeit des Ähnlichen: all dies meint dasselbe, nämlich, daß es von der Erscheinung zum Sinn, von der Immanenz zur Transzendenz keinen kontinuierlichen Übergang gibt. Die Paradoxie zielt auf die Brechung, auf den qualitativen Sprung. Und unter diesem Prinzip ist nun durchaus eine spezifische Kunsttheorie denkbar, und sie ist im Mittelalter auch explizit formuliert worden. Das menschliche Kunstwerk kann eine den natürlichen Dingen der Schöpfung entsprechende Funktion erfüllen, ja es vermag dies in höherem Maße als jene, da im Kunstwerk die Brechung in gewisser Weise mitgesetzt werden kann. Am einfachsten in der Verbindung von Wort und Bild. Sugers gotische Kathedrale entsprang dem Gedanken, einen diaphanen Baustil zu schaffen, d. h. in " D E BRUYNE 1975 I, S. 353; BEIERWALTES, 1976, S. 243f., 253f. Generell und grundlegend zum Analogie-Begriff: PRZYWARA 1962; vgl. insbes. S. 135ff. - Durch dieses Prinzip der unähnlichen Ähnlichkeit wird im übrigen jener Gefahr begegnet, die der christlichen Offenbarung vom Neuplatonismus droht: es verhindert, daß die Offenbarung in einer platonischen Kosmostheologie aufgeht und damit eine Harmonisierunng erreicht wird, die das Kreuz, und d. h. die Spannung zwischen Schuld und Gnade, unterschlägt. Nicht daß diese platonische Gefahr damit grundsätzlich gebannt gewesen wäre, aber das Korrektiv war wohl doch in höherem Maße wirksam, als dies in der Darstellung der christlich-mittelalterlichen Ästhetik VON BALTHASARS 1961-1969 zum Ausdruck kommt. Er neigt dazu, die christlich-platonische Ästhetik zu einseitig von den prometheischen Folgen her zu beurteilen, die die Weiterentwicklung des Neuplatonismus in der Renaissance und im deutschen Idealismus mit sich brachte. Er hat übersehen, in welchem Maße, theoretisch wie praktisch, die Schönheit der Welt im Mittelalter zwar substantiell verstanden, aber zugleich doch wiederum, und dies in höherem Maße, als Zeichen begriffen worden ist. Die prometheische Wende kam erst dadurch zustande, daß man diese Spannung aufgab und die Schönheit nur noch substantiell, und das heißt pantheistisch, auffaßte. 20 Siehe MICHEL 1976 - eine überaus anregende Arbeit, der die nachstehenden Überlegungen Wesentliches verdanken. 21 Vgl. ebd., §§ 168ff. 519

ihm die Durchsichtigkeit des Materiellen auf seinen lichthaft geistigen Urgrund hin zu demonstrieren. Suger spricht von der lux nova, in der sein Kirchenbau erstrahlen soll, und er meint damit einmal sein neues lichtdurchflutetes Bauwerk und zum andern seine transzendente Entsprechung, das neue Licht Christus gegenüber der Dunkelheit des Alten Testaments.22 Dabei ist zu beachten, daß Suger sein ästhetisches Konzept nicht nur in theoretischen Schriften expliziert hat, sondern es auch in einer Inschrift am Portal seiner Kathedrale festhalten ließ, einer Inschrift, die größtenteils nichts anderes ist, als eine metrische Umsetzung dionysisch-eriugenischer Gedanken. Er schreibt: Wer immer Du seist, der Du dieses Portal rühmen möchtest, bestaune nicht das Gold und den Aufwand, sondern die Kunstfertigkeit, die in das Werk gelegt worden ist. Es erstrahlt das edle Werk, aber indem es edel erstrahlt, soll es den Geist erleuchten, so daß er durch die wahren Lichter zum wahren Licht gelangt, zu dem Christus das wahre Tor ist. In welcher Weise es im Irdischen wirkt, das sagt das goldene Tor: Es erhebt sich der beschwerte Geist zur Wahrheit mit Hilfe der materiellen Dinge, und er, der zuvor herabgedrückt war, aufersteht im Anblick des Lichtes.23

Vergleicht man die Literatur, so läßt sie sich solange mit in diese ästhetische Perspektive stellen, als sie ihre Aufgabe darin sieht, faktische Gegenstände ins Wort zu fassen und sie dabei auf ihren Sinn hin durchsichtig zu machen: Das frühmittelhochdeutsche >Himmlische Jerusalem< z. B. interpretiert die apokalyptische Himmelstadt - in prinzipieller Entsprechung zur gotischen Kathedrale - als architektonisches Gebilde, das zugleich visionäres Faktum und transzendente Realität ist.24 Oder allgemein gesagt: Natur und Geschichte werden in literarischer Übersetzung auf den Sinnhorizont des Heilsgeschehens bezogen. Dabei sollte man nicht übersehen, daß die natürlichen Gegenstände und die historischen Ereignisse - gerade auch in der Vermittlung über das Zeichensystem der Sprache - nicht als leere Bedeutungsträger gedacht werden, es ist vielmehr als Index mitgesetzt, daß ihnen als faktischen Gegebenheiten von Gott sinnhaltige Verweise eingeprägt worden sind.25 Solange Literatur Faktisches meint, ist also auch in der Übersetzung ins Wort beides bewußt zu halten: das tatsächliche Geprägtsein der Dinge durch Gott und der Verweischarakter dieser Prägung. Das Sinnziel der Betrachtung und Interpretation liegt damit immer jenseits von Anschauung und aussagbarer Bedeutung: es liegt darin, daß 22

23

24 25

BEIERWALTES 1976, S. 238.

Portarum quisquis attollere quaris honorem, Aurum nee sumptus, operis mirare laborem. Nobile claret opus, sed opus quod nobile claret, Clarificet mentes ut eant per lumina vera Ad verum lumen, ubi Christus janua vera. Quäle sit intus in Ms determinat aurea porta. Mens hebes ad verum per materialia surgit, Et demersa prius hac visa luce resurgit. PL 186, Sp. 1229A. Vgl. PANOFSKY 1946, S. 46ff.; MICHEL 1976, § 202.

Vgl. HAUG, W. 1977 [a], insbes. S. 173ff. [in diesem Band, S. 110-125, insbes. S. 117ff.]. Daß es Tendenzen gegeben hat, die Wirklichkeit nur zum Anlaß zu nehmen für allegoristische Spielereien, soll nicht geleugnet werden. Der Konflikt zwischen den Schulen von Antiochia und Alexandria zeugt dafür; er demonstriert aber zugleich, daß man sich der Gefahr bewußt war und sich zur Wehr setzte. Grundlegend dazu: AUERBACH 1938/1944/1967.

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ich die Bedeutung erfahre und erfasse, indem ich sie aktualisiere. Oder anders ausgedrückt: ich kann Welt und Geschichte nur verstehen, wenn ich schon erfahren habe, in welchen Sinn sie einbezogen sind; die Inspiration ist die Basis christlicher Hermeneutik, Verstehen ist ein Geschenk der Gnade. Für Natur und Geschichte, für die Architektur, für die bildende Kunst überhaupt und für die Literatur in besonderer Weise gilt somit: Seiendes bzw. als seiend Gemeintes ist Theophanie, es ist und b e d e u t e t zugleich, oder prägnant ästhetisch formuliert: es ist ontologische Metapher.

III Im 12. Jahrhundert, im Jahrhundert der Wiederentdeckung Eriugenas, im Jahrhundert Sugers, entsteht eine neue, profane Erzählliteratur, die fiktionalen Charakter besitzt. Sie findet ihre spezifische Form im arthurischen Roman. Wie nimmt sich dieser neue Typus vor dem Hintergrund der traditionellen Ästhetik aus? Die Frage, ob er sich in irgendeiner Weise auf sie beziehen läßt, scheint mir um so mehr einer Überlegung wert, als sich der Glunzsche Ansatz vom klassizistischen Symbolbegriff aus als anachronistisch erwiesen hat. Wenn diese profane Literatur nicht symbolisch ist im neuzeitlichen Sinne, könnte sie in ihrem ästhetischen Prinzip dann nicht vom mittelalterlichen Symbolbegriff her verständlich werden? Um aber mögliche Mißverständnisse von vornherein auszuräumen: es kann nicht darum gehen, die hochmittelalterlichen Romane stattdessen als christliche Allegorien zu lesen, wie dies mit mehr oder weniger bizarren Ergebnissen immer wieder versucht worden ist; es ist vielmehr zu prüfen, ob es denkbar wäre, daß jenes ästhetische Modell, das die Welt als ontologische Metapher faßt, entsprechend umgesetzt, auch als Strukturmodell für fiktionale Handlungen verwendet worden sein könnte. Wie müßte sich eine solche Umsetzung konkret darstellen? Ich möchte eine solche Transformation zunächst als Gedankenexperiment durchspielen und dann versuchen, das theoretische Ergebnis am konkreten Material zu überprüfen und, wenn möglich, zu verifizieren. Mit welchen Transformationen also hätte man zu rechnen, wenn man hypothetisch davon ausgeht, daß das Modell der dionysisch-eriugenischen Ästhetik auch für fiktionale literarische Entwürfe strukturbildend gewesen ist? 1) Sucht man im innerweltlich-fiktionalen Bereich nach einer Entsprechung zur Transzendenz, so stößt man auf die Utopie. Das Utopische als das Unerreichbar-Ideale in der profanen Sphäre kann als eine säkularisierte Form des Transzendenten aufgefaßt werden. Die Positionen sind jedenfalls formal zur Deckung zu bringen. 2) Der Weg zur Utopie kann folglich analog zu jenem Weg strukturiert erscheinen, über den man die Transzendenz erreicht bzw. gerade nicht erreicht, d. h., es wären, in episches Geschehen übersetzt und demgemäß verwandelt, jene drei charakteristischen Strukturelemente wieder zu erwarten, die die Transzendenzerfahrung - hier nun die Utopie-Erfahrung - ausmachen: a) die Ähnlichkeit mit dem Ziel als symbolische Vorgabe, b) die Unähnlichkeit als Bewußtsein der um so größeren Differenz und c) der Sprung aufgrund eines Entgegenkommens, das gnadenhaft vom Ziel ausgeht. Ich versuche das am konkreten Material zu überprüfen: 521

1) Die fiktionale Utopie und 2a) ihre epische Vorgabe. Die höfische Idealität als Sinnziel des arthurischen Romans besitzt utopischen Charakter. Sie konkretisiert sich im Hof-Fest als der Schlußposition der Handlung. Doch dieses Ziel ist immer schon vorweggenommen. Der Held verläßt den Hof, um auf seine äventiuren-Fahrt zu gehen, und er kehrt zu ihm zurück. Diese Vorwegnahme der idealen Position bedeutet, daß der Hof am Anfang und der Hof am Ende nur bedingt identisch sind. Der Hof zu Beginn der Handlung besitzt sozusagen nur eine potentielle Idealität. Diese Potentialität wird erzählerisch durch unterschiedliche Mittel zum Ausdruck gebracht. Da ist z. B. der König, der sich nicht zum Mahl setzen will, bevor sich nicht eine äventiure ereignet hat; das Fest als Ausdruck der Idealität ist gewissermaßen sistiert. Es gibt zudem Zeichen von latenter Disharmonie, ironische Distanzierung, kritische Vorbehalte. Der Artusroman hat eine besondere Figur entwickelt, deren Hauptfunktion darin besteht, diesen Zustand zu artikulieren: es ist Keie, der Spötter. Die höfische Idealität erscheint somit als ein Entwurf, der immer neu verwirklicht werden muß. Der Hof des Anfangs verweist auf sich selbst als Utopie. Entsprechendes gilt vom Helden: der Held des höfischen Romans ist in der Regel von Anfang an der vollendete Artusritter; ideale Tapferkeit, Tugend, Schönheit usw. zeichnen ihn aus. Doch auch dies versteht sich als Potentialität. Denn er ist bei aller Vollkommenheit vor Beginn der äventiure noch ein unbeschriebenes Blatt, d. h., die positiven Charakteristika nehmen insofern das ideale Ziel vorweg, als sie über den äventiuren-Weg erst zu sich selbst kommen müssen. Und indem dies geschieht, aktualisiert der Held zugleich den utopischen gesellschaftlichen Entwurf des Hofes, als dessen Protagonist er sich begreift. Das Verhältnis zwischen Ausgangssituation und Ziel ist also nicht ein Verhältnis von Keim und Entfaltung, von Anlage und organischer Entwicklung, sondern von Vorgabe und Realisierung, von Potentialität und Aktualität.26 Der Gralsroman bietet anders als der >Erec< oder der >Iwein< eine Jugendgeschichte des Helden. Höfische Vollkommenheit als Vorgabe des utopischen Ziels schließt sich dadurch aus. An ihre Stelle aber tritt Parzivals lichthafte Schönheit, die trotz seines seltsamen Aufzugs und seines närrisch-wilden Gebarens von jedem, dem er begegnet, als Zeichen seiner Auserwähltheit verstanden wird. Diese ungewöhnliche Schönheit wird dann von Wolfram nochmals geradezu exzessiv herausgestrichen, wenn er im 6. Buch (308, 1 ff.; 311,9ff.) Parzivals Empfang durch den Artushof beschreibt. Man gewinnt den Eindruck - und auch die arthurische Gesellschaft scheint dieser Meinung zu sein -, daß er hier sein ideales Ziel erreicht hat. Doch da tritt Cundrie auf, ein Ausbund von Häßlichkeit, sie verflucht ihn und stellt fest, daß er in seiner ganzen Schönheit ungehiurer sei als sie in ihrer scheußlichen Erscheinung. Diese Konfrontation von Schön und Häßlich bringt mit der entsprechenden Akzentsetzung genau jenes Verhältnis von Vorgabe und Differenz zum Ausdruck, das die Position des Helden in via und insbesondere in der Krise markiert.27 26

Ich bin mir dessen bewußt, daß dies Behelfsbegriffe sind, die das Verhältnis zwischen der Position in via und der Zielposition im episch-fiktionalen Bereich nur ungenau wiedergeben. Vom Prinzip der unähnlichen Ähnlichkeit aus müßte man von einer 'faktischen' Vorprägung des utopischen Ziels in via sprechen, und dies im 'Sein' wie im Handeln, wobei die Erfüllung, die 'Aktualisierung' diskontinuierlich, im Sprung erfolgt; siehe unter 2b. 27 Den geistlichen Traditionshintergrund, vor dem die lichthafte Schönheit Parzivals zu sehen ist, hat HAHN, I. 1975 überzeugend aufgedeckt. Vgl. zum Verhältnis von Schön und Häßlich bei 522

2b) Die Differenz als epischer Gegenweg. Es holt nun zwar der arthurische Ritter über seinen äventiuren-V/eg sowohl die persönlichen Vorgaben wie auch die gesellschaftliche Utopie am Ende ein, doch führt ihn dieser Weg zunächst gerade von der höfischen Gesellschaft weg. Man kann sagen: die Vorgabe des utopischen Ziels in der potentiellen Idealität des Hofes verhindere, episch-technisch gesehen, einen direkten Zugang zu ihm. Genauso wie die Transzendenz nicht in einem gradlinig kontinuierlichen Prozeß erreichbar ist, sondern nur dadurch, daß man aus ihm austritt und in die äußerste Gottferne fällt, so muß der Weg des Helden zur Gesellschaft in die Gegenrichtung gehen und ihn durch eine radikal antigesellschaftliche Welt hindurchführen. In der äußersten Hof-Ferne, im Tiefpunkt der Handlung, erfolgt dann der Umschwung. In Entsprechung wiederum zur Erfahrung der radikalen Distanz zum Transzendenten, der Verzweiflung in der Gottferne, ist dieser Gegenpunkt zum utopischen Ziel gekennzeichnet durch Erniedrigung, Hoffnungslosigkeit, Wahnsinn und Tod. Erst über den totalen Selbstverlust kann die Wende eintreten: Erec auf Limors, Iwein in seinem tierähnlichen Zustand, Lancelot nahe am Selbstmord usw.28 2c) Der Sprung als irrationaler epischer Umbruch. Der Sprung, im theologischen Modell ermöglicht durch die entgegenkommende Gnade Gottes, erscheint im fiktionalen Modell als Erfahrung des Du, als Geschenk der personalen Liebe: im Tiefpunkt erfolgt die Begegnung oder die Wiederbegegnung mit der Partnerin. In der Du-Beziehung verwirklicht sich die zwischenmenschliche Utopie beispielhaft, und nach der Rückkehr des Helden und seiner amie konstituiert sich die ideale Gesellschaft in der höchgezit, der Feier des prototypischen Paares. Der Sprung im Tiefpunkt ist ein irrationales Moment. Er bedeutet einen Wechsel der Ebenen. Das macht Schwierigkeiten für die epische Umsetzung. Im Augenblick der Wende, in der äußersten Hof-Ferne, müßte der äventiuren-Kittev eigentlich schon in der Gesellschaft zurück sein. Das ist erzähltechnisch kaum zu bewerkstelligen. Man überspielt die Schwierigkeit in unterschiedlicher Weise. Zum Beispiel: Mit dem Sieg Erecs über Ider ist ein erster äventiuren-Wtg bewältigt, der Held hat seine amie gewonnen, und die arthurische Idealität ist im Prinzip wiederhergestellt. Doch da der Umschlag episch nicht in e i n e m Akt realisierbar ist, wird die endgültige Wende technisch-symbolisch insofern hinausgezögert, als Enite ihre zerfetzten Kleider anbehalten muß, bis das Paar am Hof eintrifft und Ginover selbst sie königlich einkleiden kann. Eine andere Lösung bietet der erste Teil des >IweinParzival< die Rechnung zwischen Weltschuld und Gotteshuld zu märchenhaft-unproblematisch auf, und dies belaste die existentielle Fragestellung. Dieses Mißverständnis ergibt sich aus seiner oben in Anm. 19 kritisierten Perspektive, die das Prinzip der unähnlichen Ähnlichkeit nicht zureichend berücksichtigt. Vgl. HAUG, W. 1979 [a] [in diesem Band, S. 464-482]. 523

Im zweiten Teil des >Iwein< ist die Sachlage besonders komplex. Der Held verläßt die Gesellschaft, er fällt in Wahnsinn, in ein tierhaftes Dasein, ja er geht durch einen Scheintod hindurch. Damit wäre eigentlich jener Punkt erreicht, an dem Laudine ihm entgegenkommen könnte. Doch was sich nun anschließt, wird gegen alle Erwartung zu einer Demonstration dessen, daß sich das Wiederfinden nicht erzwingen läßt. Alle Bewährung hilft nichts, ein Spiel von Zufall und List hilft schließlich über die Schwelle. Es gehört zum Wesen des Sprungs, zum Umschlag zwischen der relativen und der absoluten Ebene, daß die Aktualisierung der Utopie wie die Begegnung mit der Transzendenz in dieser Wirklichkeit nur Augenblickscharakter haben können. Für die mystische Gotteserfahrung des Gläubigen ist dies eine bittere Selbstverständlichkeit, er spricht immer nur von der Unio mit Gott her oder auf diese hin, der Augenblick der Begegnung ist zeitlos und damit sprachlos. Für den Erzähler wird der Augenblickscharakter der Erfahrung des Utopischen zum epischen Thema, d. h., er muß sie in Handlung umsetzen. Dies geschieht über die Krise im Rahmen des zweiphasigen arthurischen Modells. Konkret: die erfüllte Liebe und ihr Korrelat, die gesellschaftliche Idealität, lassen sich nicht als Besitz festhalten. Beides existiert nur im Moment der Aktualisierung. Der Versuch, den utopischen Augenblick zu perpetuieren, sei es, daß man ihn wie Erec zum bloßen Besitzen des Partners pervertiert, oder sei es, daß man sich wie Iwein des Errungenen allzu sicher wähnt, führt zur Krise. Die Utopie ist nicht institutionalisierbar, sondern sie kann immer nur von Augenblick zu Augenblick neu verwirklicht werden. Dazwischen aber liegen immer wieder der Du-Verlust, der Gesellschaftsverlust, der Selbstverlust. Der erste Handlungskreis bringt die erste, fast traumwandlerische Aktualisierung der Utopie: das ideale Paar, gefeiert von der idealen Gesellschaft. Die Vorgabe ist glückhaft eingelöst. Im zweiten Handlungskreis wird nicht nur der Augenblickscharakter der Aktualisierung erfahren, sondern es wird in der Härte des Verlustes zugleich bewußt gemacht, daß der Wiedergewinn, die Rückkehr, die Reaktualisierung nicht zu erzwingen, sondern daß sie Geschenk der Liebe und der scelde sind. Zur innerweltlich-fiktionalen Umformulierung der Differenz und des Sprungs kommt also die Möglichkeit, diese episch zu thematisieren, d. h. das Modell literarisch zur Reflexion zu bringen. Man kann die Du-Beziehung auch antigesellschaftlich fassen. So der >TristanGregorius< unternommen worden. Die siebzehn Jahre, die der Held gefesselt auf einem Felsen im Meer auf die Gnade wartet, demonstrieren noch drastischer als das blinde Umherirren Parzivals, daß das Ziel nur dadurch erreicht werden kann, daß man den Weg zu ihm zusammenbrechen läßt. Die Kombination der beiden Wege bleibt auf der andern Seite nicht ohne Folgen für die innerweltlich-profane äventiure. Der religiöse Prozeß wird in einem gewissen Grade gegen den gesellschaftlichen ausgespielt, d. h., der weltliche Weg verliert in dem Maße an autonomer Problematik, in dem er die Problematik des religiösen Weges der zweiten Phase vorzubereiten hat: Der Mord am Roten Ritter und der Tod der Mutter werden im Gralsroman zur Begründung dafür, daß der Held die Erlösungsfrage zu stellen versäumt. Ich breche hiermit die Überprüfung meiner Hypothese ab. Das Ergebnis läßt sich so interpretieren, daß offenbar auch im Rahmen der neuen fiktionalen Literatur mit dem traditionellen ästhetischen Modell zumindest experimentiert worden ist. Jedenfalls ist es möglich, dieses Modell in eine Theorie des mittelalterlichen Artusromans umzusetzen. Man kann den Gedanken kaum abweisen, daß sich die Struktur der Transzendenzerfahrung, wie sie aufgrund des Prinzips der unähnlichen Ähnlichkeit in der mittelalterlichen Ästhetik formuliert worden ist, in der Struktur der Erfahrung und Darstellung innerweltlicher Idealität spiegelt. Wenn dieses Ergebnis nicht täuscht, so müßte sich dies auch im poetologisch-pragmatischen Selbstverständnis dieser Dichtung niederschlagen. Denn so wie die fiktionale Handlung den Helden nicht in einem kontinuierlichen Prozeß zu seinem Ziel führt, sondern ihn von ihm weglenkt, um ihn am Gegenpol im Sprung eine neue Ebene erreichen zu lassen, so kann auch das Werk sein Publikum nicht in einem kontinuierlichen Prozeß zum Sinn hinführen, sondern nur jenen Punkt aufzeigen, an dem es zum Sprung kommen muß. Das heißt: eine solche Kunst bietet weder Identifikationsmöglichkeiten, noch ist sie explizit lehrhaft, sie gestattet weder eine Einfühlung, noch setzt sie Bedeutung und präsentiert sie Rezepte, sie ist sowohl anti-illusionistisch wie anti-didaktisch oder, um mit Wolfram von Eschenbach zu reden: sie ist ein sich auflösendes Spiegelbild, der Traum eines Blinden, ein hakenschlagender Hase eine Bildwelt also, die sich entzieht, die sich selbst aufhebt. Nur wer den schwierigen 525

Weg des Helden durch alle Umbrüche hindurch mitgeht, kann am Ende hoffen, den Sinn zu verstehen, und d. h. sich in diesem Verständnis so zu wandeln, daß die Seele gerettet wird. In der pragmatisch-funktionalen Rückbindung wird die fiktionale Umsetzung also folgerichtig wieder rückgängig gemacht; die Rezeption stößt durch die Analogie durch, das profan-literarische Modell wird von der umfassenden Perspektive übergriffen. Im Prinzip findet sich dasselbe bei Gottfried von Straßburg: er stellt bekanntlich die strukturelle Entsprechung der literarischen Erfahrung zur Gotteserfahrung explizit heraus, indem er das Ineinander von Liebe, Tod und Erlösung in Anlehnung an das Mysterium der Eucharistie formuliert. Das ist nicht blasphemisch gemeint, sondern als Modellkorrespondenz in dem hier vorgetragenen Sinne zu verstehen, wobei zugleich wiederum das fiktiv-ästhetische Modell in das umgreifende Modell eingeschrieben wird. IV Es dürften sich gegenüber diesem Versuch, eine neue Basis für eine Literarästhetik des Mittelalters zu finden, eine Reihe von Fragen aufdrängen. Es sind vor allem drei, die mir im Hinblick auf weiterführende Überlegungen wichtig erscheinen. Ich kann sie in diesem Rahmen jedoch nur noch stellen, nicht mehr zureichend beantworten: 1) Welches sind die konkreten historischen Bedingungen, unter denen es dazu kommt, daß sich auf dem Hintergrund eines allgemeinen theologisch-ästhetischen Denkmodells eine spezifische Ästhetik der fiktionalen Erzählliteratur entwickelt? 2) Ist dieser Versuch auf einen einzigen literarischen Typus beschränkt geblieben? Und 3) wie lange trägt dieses ästhetische Konzept? Zur 1. Frage: Das vorgestellte Experiment einer Literarästhetik im strengen Sinne ist zweifellos im Zusammenhang des großen geistigen Aufbruchs zu begreifen, der das 12. Jahrhundert kennzeichnet: man hat das theologisch-ästhetische Modell herangezogen, um diesen Aufbruch auch im innerweltlichen Bereich unter einen höchsten denkerischen Anspruch zu stellen und ihn unter diesem Anspruch literarisch zu reflektieren. Eine neue weltliche Elite hat sich für ihr Selbstverständnis und ihre Selbstrechtfertigung ein gesellschaftsutopisches Ziel gesetzt, das sie in Analogie zur Transzendenzerfahrung zu fassen und zu realisieren suchte. Zur 2. Frage: Der Gedanke liegt nahe, daß es in andern literarischen Gattungen zu entsprechenden Experimenten gekommen sein könnte, die sich selbstverständlich gattungsspezifisch anders darstellen müßten. So wäre etwa zu überlegen, ob sich die Strukturen des Hohen Minnesangs nicht ebenfalls von dem beschriebenen ästhetischen Modell her interpretieren ließen: der Sänger nähert sich im Lied seiner vrouwe, um gerade in dieser Annäherung eine um so größere Distanz zwischen ihr und der Idee herzustellen, die er in ihr schaut. Die huote könnte man als eine Chiffre für die Unerreichbarkeit des utopischen Ziels, den gruoz der Herrin als den irrational-gnadenhaften Augenblick des Sprungs begreifen. Es handelt sich, wenn diese Überlegung richtig sein sollte, wieder um ein Modell literarischer Fiktion, konkret: um ein Modell, in dem das irdische summum bonum der Liebe zwischen Mann und Frau mit Hilfe einer feudalen Metaphorik 'artistisch' auf die Struktur der Transzendenzerfahrung gebracht wird, um sie damit einer höchsten Form des Selbstverständnisses zuzuführen.29 526

Zur 3. Frage: Das ästhetische Denkmodell der unähnlichen Ähnlichkeit bleibt noch weit über das 12. Jahrhundert hinaus maßgebend. Seine Spannung wird in der Mystik schließlich noch einmal an die äußerste Grenze geführt. Das Konzept einer entsprechenden Literarästhetik hingegen bricht schon nach wenigen Jahrzehnten zusammen. Der spätere Roman hat es offensichtlich nicht mehr akzeptiert oder nicht mehr verstanden. Er arbeitet nicht mehr mit dem Gegenüber von Utopie und Vorgabe, die Helden sind nun von gleichbleibender Idealität, und der Hof verliert seine utopische Dimension. Der Blick verengt sich wieder von der Ästhetik zur Poetik. Man reflektiert die Fiktionalität unter dem Aspekt ihrer Wirkungsmöglichkeiten und nicht mehr im Zusammenhang eines universalen Denkmodells. Doch diese erneute Beschränkung auf die poetische Praxis ist nicht nur Reduktion und keineswegs bloßer Rückfall, sondern sie führt auf die Länge gesehen zu einem Bewußtsein der literarischen Autonomie, über die sich die Entwicklung der subjektivistischen Ästhetik der Neuzeit vorbereitet.30 Die historischen Ursachen, die zu dieser Umstellung geführt haben, sind zweifellos komplex und damit schwer zu fassen. Eine wesentliche Rolle dürfte jedoch gespielt haben, daß sich im 13. Jahrhundert die Publikumssituation veränderte: es kommen neue Hörer- und Leserschichten hinzu, und damit wandeln sich die Rezeptionsbedingungen. Die Dichter konnten sich nicht mehr an einer relativ geschlossenen, homogenen Zuhörerschaft orientieren und ihr - in Analogie zur religiösen Gemeinde vorweg ein ästhetisches Bekenntnis abfordern, wie dies für Wolfram und Gottfried noch möglich war: Wolfram verpflichtet in seinem >ParzivalWillehalm< ist gegenüber dem >Parzival< zweifellos das sprödere, das weniger attraktive Werk. Es hat lange Zeit nicht die ihm gebührende Beachtung gefunden. Inzwischen mehren sich aber die Stimmen derer, die im >Willehalm< letztlich doch das reifere, tiefgründigere Epos sehen.1 Zugleich wird freilich zunehmend deutlicher, daß es größte Schwierigkeiten bereitet, diese Ansicht durch eine interpretierende Analyse überzeugend zu decken. Dabei scheint der Zugang zur Konzeption des Werkes zunächst leicht: die sogenannte Toleranzrede Gyburgs vermittelt - darüber besteht weitgehend Einigkeit - die Position des Dichters, und das heißt, daß hier die Perspektive faßbar werden müßte, in der das Werk verstanden werden will. Gyburg spricht zu den nicht zuletzt um ihretwillen in die Schlacht ziehenden Christen: sie kann aus ihrem Glauben und ihrer Liebe heraus nicht anders, als sie zu tapferem Kampf gegen ihre eigenen Verwandten aufzufordern, und sie nimmt damit, obschon sie darunter zusammenzubrechen droht, bewußt neues Leid und neue Schuld auf sich. Zugleich aber fleht sie um Erbarmen für die Heiden: schönt der gotes hantgetät. Die Gnade Gottes, die allen seinen Geschöpfen gilt, und seine Liebe, die in der ganzen Natur wirkt, sind Möglichkeit und Mahnung, sich über die Gegensätze hinweg der Versöhnung zu öffnen (306,1 ff.). So klar diese Position Gyburgs - bei aller inneren Problematik - ist, so schwierig ist es jedoch, den Verlauf der Handlung interpretierend dieser Perspektive einzufügen, ja es drängen sich Zweifel auf, ob es Wolfram gelungen ist oder überhaupt gelingen konnte, eine solche Konzeption ohne Brüche und Konflikte in episches Geschehen umzusetzen. Und dieser Eindruck ergibt sich keineswegs nur daraus, daß das Werk Fragment geblieben ist. Es könnte sich vielmehr - wie immer wieder argumentiert wurde - so verhalten, daß der >Willehalm< aus einer unauflösbaren inneren Unstimmigkeit heraus nicht zum Abschluß zu bringen war.2 Im Vergleich zum >Parzival< ließe sich also - etwas überspitzt - sagen, daß die Interpretationsproblematik hier genau 'umgekehrt' liege: beim >Parzival< ist die epische Handlung in ihrer gezielten Linienführung offenkundig, und die Diskussion dreht sich um die Frage, wo der eigentliche konzeptionelle Angelpunkt zu finden ist. Beim >Willehalm< dagegen scheint die Konzeption explizit formuliert und unzweideutig faßbar zu sein, während die Handlung sich ihr nur sehr bedingt fügen will.

'Vgl. zu dieser Wende in der Beurteilung BUMKE 1959, S. 200; das wachsende Interesse am >Willehalm< notierte und dokumentierte schon der Forschungsbericht von JOHNSON 1964.

2

Siehe zum Problem des Abschlusses ebd., S. 73ff. Inzwischen hat sich LOFMARK 1972, S. 210ff., entschieden gegen die These gewandt, daß Wolfram nicht in der Lage gewesen wäre, das Epos zu einem handlungstechnisch und thematisch überzeugenden Abschluß zu bringen. 529

Diese auffällige Differenz in Hinblick auf die wissenschaftliche Problematik der beiden Werke dürfte letztlich in ihren unterschiedlichen literarhistorischen Ausgangspositionen begründet liegen. Dies hat schon Ludwig Wolff in seinem >WillehalmParzival< erst in schwerem inneren Kampf zu erringen war, was erst stufenweise zu klarer Einsicht kam - die Einheit von Liebe und Glauben, die Versöhnung von Irdischem und Göttlichem -, das sei im >Willehalm< als Ergebnis vorausgesetzt, als Ergebnis gesichert. Irgendwelche Fragen und Zweifel seien nicht mehr damit verbunden. Der >Willehalm< trete damit als die jüngere Dichtung vor uns hin, die nicht mehr um die Lösung zu kämpfen brauche.3 Daß damit etwas Wesentliches getroffen ist, wird man um so weniger verkennen, als die spezifischen Schwierigkeiten der >WillehalmWillehalm< an jenem Punkt ansetzt, den der Dichter im >Parzival< erreicht hatte, wenn ihm also jedenfalls im Prinzip eine Situation zugrundeliegt, in der die großen Fragen, die den >Parzival< bewegten, als gelöst gelten, dann fragt es sich, was Handlung, was episches Geschehen nun noch bedeuten kann und soll. Theoretisch ist es auf der einen Seite möglich, daß innerhalb des vorgegebenen Rahmens mit festen Figuren gespielt wird; auf der andern Seite ist es aber auch denkbar, daß die Figuren erst über die epische Handlung Schritt für Schritt in die grundsätzlich vorgezeichneten Positionen einrükken. Je mehr man die Grundposition betont, um so mehr wird die äußere Handlung zur Bewegung in einem gegebenen Spielraum. Je mehr man die Vorentscheidung als Vorwurf sieht, um so mehr wird das Geschehen auf die konkrete Erfüllung des Vorwurfs hin gesteuert erscheinen. In jedem Fall ist die Differenz gegenüber der >ParzivalWillehalm< gegenüber zu einer Kontroverse kommen, ob überhaupt von einer Entwicklung des Helden gesprochen werden dürfe oder nicht.4 Man mag sich zu dieser literaturwissenschaftlichen Debatte stellen, wie man will, am bemerkenswertesten an ihr scheint mir, daß sie möglich war. Das müßte zu dem Versuch drängen, in der Weise eine Lösung vorzubereiten, daß man nach den Bedingungen fragt, unter denen die Kontroverse entstehen konnte. Auf die Sache bezogen heißt das: man kann mit Werner Schröder noch so dezidiert der Meinung sein, daß Willehalm sich im Laufe des Epos wandelt, man wird doch mit ihm auch einräumen müssen, daß „weniger klar erkennbar ist, wie es in kaum mehr als drei Wochen zu dieser Wandlung gekommen ist und welche Ereignisse und Erlebnisse sie im einzelnen bewirkt haben".5 In dieser 'Unklarheit' liegt das Problem. Es wäre jedoch denkbar, daß es sich auflösen könnte, wenn man versuchte, die angeführte Bemerkung Wolffs ganz ernst zu nehmen und den >Willehalm< nicht mehr, wie das meist geschieht, ahistorisch auf eine Ebene neben den >Parzival< zu stellen und im Vergleich zu charakterisieren, sondern ihn vor der Schlußposition des >Parzival< zu sehen und ihn aus dem konkreten li3 4 5

WOLFF 1934/1966, S. 396f. Siehe jetzt die besonnene Kritik dieser Auseinandersetzung bei LOFMARK 1972, S. 136ff. SCHRÖDER, W. 1962/1966, S. 528.

530

terarhistorischen Bezug heraus zu interpretieren. Daß dieser Bezug in seinen weiteren Zusammenhängen über die beiden Werke hinausgreift, versteht sich von selbst. Denn daß der >Willehalm< vor dem Hintergrund des >Parzival< geschrieben worden ist, bedeutet ja zugleich, daß er in Relation steht zum Typus des höfischen Romans, von dem er sich offensichtlich löst, und daß eine neue Beziehung hergestellt wird, die Beziehung zur Chanson de geste, der Wolfram sich mit dem >WillehalmWillehalm< eine Auseinandersetzung in drei Richtungen stattfindet, eine Auseinandersetzung mit dem älteren Werk, eine Auseinandersetzung mit dem Typus des etablierten höfischen Romans und eine Auseinandersetzung mit dem Heldenepos, wobei nicht nur die französische Quelle in Betracht zu ziehen ist, sondern auch - und möglicherweise in höherem Maße - der Typus der deutschen Heldenepik, der Wolframs Publikum präsent war. Es darf ja nicht übersehen werden, daß die dreifache Auseinandersetzung sich nicht nur im Akt der poetischen Gestaltung vollzieht, sondern daß sich ein paralleler Prozeß im literarischen Bewußtseinshorizont des Publikums abspielt, wobei Wolfram diesen Horizont immer schon bei seiner Gestaltung mit einkalkuliert. Daß diese Auseinandersetzung in den drei Richtungen, in Richtung auf den >ParzivalWillehalm< tatsächlich stattfindet, läßt sich explizit und implizit nachweisen. In dem Maße, in dem dieser Nachweis die wesentlichen Elemente des Werkes mitbetrifft, in dem Maße kann der Nachweis und seine Deutung als Beitrag zur Interpretation des Werkes gelten.

I Gleich nach dem Prolog stellt Wolfram sich als derjenige vor, der den >Parzival< geschrieben hat, wobei er sich eine spitze Bemerkung darüber nicht versagen kann, daß das Werk nicht durchwegs Zustimmung gefunden habe (44,19ff.). In der Folge wird das ältere Werk dann mehr oder weniger kontinuierlich im Bewußtsein gehalten, nicht nur durch zahlreiche Anspielungen und Anklänge in der Formulierung, sondern eigentümlicherweise sogar durch Ergänzungen, durch Nachträge zu Stellen im >ParzivalParzival< im >Willehalm< trage einfach der Tatsache Rechnung, daß das ältere Werk inzwischen in das literarische Bewußtsein eingegangen und daß die Bezugnahme als Einstimmung auf dieses Bewußtsein zu werten sei. Nun wissen wir freilich aus dem >ParzivalParzival< im >Willehalm< aktualisiert sich am stärksten darin, daß der Dichter eine Figur einführt, die nicht nur in vieler Hinsicht die Erinnerung an Parzival weckt, sondern die explizit Parzival an die Seite gestellt wird. Es handelt sich bekanntlich um Rennewart, den Wolfram in Hinblick auf seine Schönheit, seine Kraft und auch seine tumpheit mit Parzival vergleicht; überdies seien beide, so fügt er hinzu, nicht nach arde erzogn worden (271,17ff.). Da die Figur des Rennewart mit diesem Vergleich vorgestellt wird, ist zu überlegen, ob er als Hinweis dafür aufzufassen ist, daß Rennewart vor der Folie Parzivals zu verstehen sei. Wenn man Figur und Handlung darauf hin abfragt, so ergeben sich bei allen Unterschieden immer wieder überraschende Entsprechungen. Das hat insbesondere Fritz Peter Knapps Rennewart-Studie sehr eindrucksvoll zu demonstrieren vermocht.8 Ich hebe nur das Wesentlichste heraus: Aus der zunächst unstandesgemäßen Erziehung ergibt sich für Rennewart wie für Parzival ein Mangel an Einsicht und Erfahrung, und das bedeutet zugleich einen Mangel an höfischer Form äußerer und innerer Art. Es fehlen oder versagen zuht und mäze. An ihrer Stelle steht der zorn, letztlich die Verhärtung der Uneinsichtigkeit im zwivel. Doch bei dieser grundsätzlichen Analogie sind die Differenzen zwischen den beiden Figuren nur um so augenfälliger. Parzival wächst in der Wildnis auf, er kennt das höfische Leben nicht. Er muß den Weg dahin erst finden. Er ist sich deshalb seines unangemessenen Verhaltens nicht bewußt. Es kostet Mühe, ihn schließlich dazu zu bringen, sein Narrenkleid abzulegen. Rennewart dagegen hat die höfische Welt vor Augen. Er wächst in der höfischen Gesellschaft unhöfisch auf. Er ist sich deshalb seiner Erniedrigung schmerzlich bewußt, und er schämt sich seines Zustandes. Parzival ist Christ, so mangelhaft auch der katechetische Unterricht, den er empfangen hat, gewesen sein mag. Er sagt sich in seinem zwivel von Gott los, um dann über eine innere Umkehr die göttliche Gnade zu erfahren. Rennewart ist Heide, aber er ist im Herzen dem Christentum zugeneigt. Er kann jedoch zunächst den entscheidenden Schritt, den Schritt zur Taufe, nicht tun. Er erscheint sozusagen als anima naturaliter christiana, die den Weg in die Kirche erst allmählich zu finden vermag. Beide, Rennewart wie Parzival, werden im Rahmen verwandtschaftlicher Bindungen geführt und gelenkt, wobei hier wie dort diese Bezüge den Betroffenen z. T. erst im Laufe der Handlung offenbar werden. Beide verstricken sich gegenüber ihren Verwandten in Schuld, doch der Kausalzusammenhang ist jeweils ein anderer. Der Konflikt Parzivals mit Gott wird im Zusammenspiel mit den sich wandelnden Sippenbeziehungen angestoßen und läuft in ihrem Rahmen ab; Parzival fühlt sich aufgrund der Verfluchung durch Cundrie von Gott verraten und verfällt deshalb dem zwivel. Rennewart dagegen glaubt sich unmittelbar von seiner Familie verraten, und nur aufgrund dieses Irrtums tritt er gegen die eigene Sippe an und gerät er in Schuld. Dabei weiß Parzival wiederum nicht, was er tut, er weiß nicht, daß sein Auszug zum Tod der Mutter führt, daß er im Roten Ritter einen Verwandten tötet, und er weiß nicht, was er auf der Gralsburg versäumt hat. Rennewart zieht im vollen Bewußtsein in den Kampf KNAPP 1970, passim, insbes. S. 69ff., 118ff., zusammenfassend S. 337ff.; im Ansatz schon bei WOLFF 1934/1966, S. 514ff., und MOHR 1951/52, S. 159; vgl. auch LOFMARK 1972, S. 114, 147ff. 532

gegen seine Familie; doch auch er wird unwissentlich einen Verwandten, seinen Bruder, erschlagen. Wenn Parzival schuldig wird, so hängt diese Schuld unmittelbar mit der Krise seines Glaubens zusammen. Die Gnade ist durch die Taufe vorgegeben, aber in der Krise wird sie erst eigentlich erfahren. Rennewarts zwivel betrifft die natürlichen Bindungen. Schuld entsteht aus Mangel an Einsicht im Zusammenhang natürlicher Gegebenheiten. Die erlösende Gnade müßte es aber letztlich möglich machen, über die Schranken, die in diesem Bereich bestehen, hinwegzukommen. Man geht wohl kaum fehl, wenn man annimmt, daß gerade die Einsicht in die Schuld Rennewart schließlich für die Taufe bereit machen sollte.9 Formelhaft vereinfacht könnte man sagen: bei Parzival kommt es zu einer Krise des Glaubens in der Erfahrung der Schuld, während bei Rennewart der Weg zum Glauben über die Schuld führt. Es wäre deshalb richtiger, in der Beziehung Rennewart-Parzival weniger die schlichte Parallelität als die auf ihr aufbauende antithetische Entsprechung hervorzuheben. All das bedeutet letztlich: bei Rennewart fällt, im Gegensatz zum >ParzivalWillehalmParzivalParzival< kennen, und sie wird im folgenden mit einer schematischen Familiengeschichte auf Sigune und ihren Freund Schionatulander hin weitergeführt. Zugleich gibt sich diese Genealogie aber als eine Aufreihung von Trauerfällen, als ein „Katarakt des Leides"14 - immer wieder freilich eigentümlich mit hyperbolischen Lobeshymnen untermischt. Schoysiane heiratet Kiot von Katelangen, sie stirbt bei der Geburt Sigunes, ihres ersten Kindes. Kiot gibt aus Trauer das Ritterleben auf, und sein Bruder Manfilot tut aus Mitleid dasselbe. Der zweite Bruder, Tampunteire, holt die kleine Sigune zu seiner Tochter Condwiramurs: als auch er stirbt, kommt Sigune zu ihrer Tante Herzeloyde, die ihren ersten Gatten, Kastis, verloren und Gahmuret geheiratet hat. Dann wird die männliche Hauptfigur, Schionatulander, eingeführt, dem selbstverständlich - wieder keiner an Ruhm gleichkommen wird. Sein Vater ist im Kampf um Schoye de la curt gefallen. Schionatulander wird am französischen Königshof auferzogen; dann kommt er als Knappe zu Gahmuret. Als dieser Herzeloyde gewinnt, begegnen sich Sigune und Schionatulander an deren Hof, und damit beginnt die Liebesgeschichte der beiden Kinder, d. h., sie beginnt mit des Dichters Klage über die Qualen, die die Minne den beiden Kindern bringt, die ihr nicht gewachsen sind. Gah13

WEHRLI 1974, S. 8.

14

Ebd., S. 24.

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muret wird dann im Orient fallen. Daß schließlich auch Herzeloyde stirbt, als Parzival sie verläßt, ist aus dem Gralsroman im Gedächtnis. Und im Fluchtpunkt steht das Bild von Sigune mit dem toten Schionatulander in den Armen, auf das in Strophe 78, also etwas nach der Mitte des ersten Fragmentes schon, Bezug genommen wird. Das ist, wie gesagt, dieselbe Familiengeschichte wie im >ParzivalTristan< analysiert werden soll. 12 Vv. 267ff.: ufgendiu jugent und vollez guot, / diu zwei diu vüerent übermuot. / vertragen, daz doch vil manic man / in michelem gewalte kan, / dar an gedahte er selten, vv. 291 ff.: dazn kam von archeite niht, / . . . / ez kam von dem geleite / siner kintheite. vv. 298ff.: daz geschuof sin spilendiu kintheit, / diu mit ir übermuote / in sinem herzen bluote. / er tet vil rehte als elliu kint, / diu selten vorbesihtic sint: / er nam vür sich niht sorgen war, / wan lebete und lebete und lebete et dar. 560

impulsiv aus dem Augenblick heraus lebt. Hierbei ist nicht nur bemerkenswert, wie dezidiert Gottfried den belastenden Begriff übermuot zurücknimmt und abschwächt, sondern auch, wie nachdrücklich er zugleich den eigentümlichen Zug Riwalins als etwas Allgemein-Jugendliches hinstellt und damit diesen Ansatz zu einer individuellen Charakterisierung doch wieder ins Typische zurücknimmt. Diese Position des übermuot, der so bewußt zwischen charakterlichem Vorbehalt und jugendbedingter Selbstverständlichkeit, zwischen einer persönlichen Eigenart und einem generellen Phänomen gehalten wird, ist um so bedeutsamer, als gerade hier die Handlung angesetzt wird. Gottfried veranschaulicht diesen Ansatzpunkt und den sich aus ihm entfaltenden Prozeß durch ein Bild. Er vergleicht Riwalins Verhalten aus seinem übermuot heraus mit der Kurzsichtigkeit, mit der ein Bär gegenüber dem Bärenhammer reagiert. Der Bärenhammer ist eine Jagdfalle: vor einem Bienenloch in einem Baum wird ein Knüppel beweglich aufgehängt. Wenn der Bär sich den Honig holen will, muß er den Knüppel beiseite stoßen. Da dieser aber stets wieder in seine Ausgangslage zurückfällt, schlägt ihn der Bär immer ungeduldiger und wütender vom Bienenloch weg. Die Hiebe des Knüppels werden entsprechend heftiger, bis das Tier schließlich betäubt vom Baum fällt und vom Jäger getötet werden kann (284).n Analog läuft das Geschehen ab, in das der junge Riwalin hineingezogen wird. Am Beginn steht eine unbedachte Handlung. So gering sie zunächst wiegen mag, sie wirkt zurück, Riwalin muß sich zur Wehr setzen, und so gehen Aktion und Reaktion sich steigernd hin und her, bis er den Gegenschlägen nicht mehr gewachsen ist. Konkret: Riwalin gerät in Konflikt mit seinem Lehnsherrn Morgan. Gottfried bemerkt ausdrücklich, daß er nicht sagen könne, wie es eigentlich dazu gekommen sei: weder ez do not ald übermuot geschüefe, des enweiz ich niht (342f.). Die Frage der Ursache und der Schuld bleibt also offen. Riwalin fällt in Morgans Land ein. Es kommt auf beiden Seiten zu großen Verlusten. Schließlich versteht man sich zu einem Waffenstillstand auf ein Jahr. Nach diesem Jahr wird Morgan den Kampf wieder aufnehmen und Riwalin dabei den Tod finden. Es ist bezeichnend, daß bei dieser Auseinandersetzung nicht nur der Anlaß im dunkeln bleibt, sondern daß auch mit keinem Wort erwähnt wird, worum es letztlich geht. Dazu kommt, daß Morgan kaum mehr als ein bloßer Name ist. Die Figur ist leer; sie geht offensichtlich so gut wie völlig in der Funktion des Bärenhammers auf, der zurückschlägt, wenn er einmal in Bewegung gesetzt ist. Der Kampf mit Morgan und das Gesetz der Handlung, das sich darin manifestiert, übergreifen als Rahmen bzw. Prinzip die Begegnung von Tristans Eltern: Riwalin benützt die Zeit des einjährigen Waffenstillstandes, um König Marke in Curnewal aufzusuchen und sich an dessen Hof in seinen ritterlichen Fähigkeiten weiter auszubilden. Er läßt sein Land in den Händen des getreuen Rual zurück, fährt übers Meer und wird von Marke gastlich empfangen. Im Mai findet wie jedes Jahr am cornischen Hof eine hohgezit statt. Gottfried beschreibt den Zauber der Frühlingslandschaft; sie steht mit ihren blühenden Wiesen und dem Gesang der Vögel im Einklang mit der Feststimmung des Hofes. Die Versatzstücke für dieses Zusammenspiel zwischen der Natur und der vröude der Gesellschaft sind konventioneller Art; es erscheinen die gewohnten Topoi: die schattigen Bäume an der Quelle, die Blumen und der Vogelsang, die lauen 13

RANKE 1948/49. Vgl. die umfangreiche Materialsammlung bei HÄMÄLÄINEN 1933-35.

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Lüfte und die sumerouwe, doch zeigt sich als besondere Nuance, daß die Entsprechung zwischen der Natur und der Gestimmtheit der Menschen als sich steigerndes Wechselspiel gestaltet wird: das Leuchten der Blumen und Blüten wird von den Augen aufgefangen und strahlt ins herze hinein, und die Augen lachen wiederum zurück. Das Locus-amoenus-Klischee wird damit spielerisch überzogen. Ob man dabei einen amüsiert ironischen Beiklang heraushören will oder nicht,14 es ist zumindest das Bewußtsein, daß es sich um ein Spiel mit topischen Versatzstücken handelt, in die preziöse Artistik der Darstellung mit eingegangen. Im Vergleich mit dem Artusroman bedeutet dies, daß die epische Szenerie hier nicht in schlichter Selbstverständlichkeit als Entsprechung zur Situation des Helden erscheint. Wenn trotzdem eine Entsprechung hergestellt wird, dann wird sie mit einem Index versehen, der sie aus jener Konzeption herauslöst, in der sie sich im Artusroman versteht, und der sie damit, jedenfalls ihrem eigentlichen Sinn nach, aufhebt. Markes Frühlingsfest ist ein Fest 'wie es im Buche steht', und es wird gerade dadurch als Element einer Welt gekennzeichnet, der gegenüber Gottfried sich distanziert verhält. Von der Beschreibung der Natur geht der Dichter zur Schilderung des höfischen Festes selbst über. Meisterlich ist das bunte Treiben skizziert. Aus dem farbigen Gemenge von Kleidern und Stoffen entsteht ein geradezu impressionistisches Bild des Turniers; Gesprächsfetzen von der Zuschauertribüne vermitteln dazu den Oberflächeneindruck einer schwatzhaft-albernen Damengesellschaft. Diese wirr-vagen Farbflecken und Geräuschelemente bilden den unbestimmten Hintergrund, aus dem sich drei Gesichter klar herausheben: Marke, der seine Schwester zu Beginn hereinführt, Riwalin, der unter den anonymen Rittern durch seine Tapferkeit hervorragt, und Blanscheflur, die in der Mitte schwätzender Damen schweigt, um den Ritter, dem die allgemeine Aufmerksamkeit gilt, Riwalin, um so inniger in ihr Herz zu schließen. Als das Kampfspiel zu Ende ist, reitet Riwalin an der Stelle der Tribüne vorbei, wo Blanscheflur sitzt. Es geschieht dies, wie Gottfried bemerkt, von aventiure (737): 'zufällig', und damit taucht dieser Begriff zum erstenmal in jener prägnanten Bedeutung auf, der das besondere Interesse dieser Untersuchung gilt. Wenn ich von aventiure hier wie üblich mit 'zufällig' wiedergebe, dann selbstverständlich nur, um zu der Frage anzusetzen, was 'Zufall' in Gottfrieds Welt bedeutet, welche Funktion er besitzt und in welcher Beziehung er zur Thematik des Werkes steht. Nachdem Riwalin Blanscheflur von aventiure erblickt hat und auf sie zugeritten ist, grüßt er: a, de vus saut, bele (743); und aus diesem Gruß entwickelt sich ein kurzes Gespräch. Blanscheflur wünscht ihm Gottes Beistand und Gnade, fügt aber verstohlen-schelmisch hinzu, daß das, was sie ihm vorzuhalten habe, davon nicht berührt werde. Riwalin muß verwundert fragen, was er ihr denn angetan habe; und sie antwortet, er habe ihr wegen ihres besten Freundes Kummer gemacht. Riwalin denkt zunächst, daß er einem ihrer Verwandten im Turnier unwissentlich Schaden zugefügt haben müsse, aber der Dichter beeilt sich, für den Zuhörer zu kommentieren, daß Blanscheflur mit diesem Freund ihr Herz gemeint habe. Riwalin erklärt sich bereit, sein Verfehlen gutzumachen, aber Blanscheflur entläßt ihn mit einem Seufzer: ach, vriunt lieber, got gesegen dich! (788f.).15 14

SO:BATTS 1962, S. 227.

15

Zu dieser Szene vorzügliche Beobachtungen bei WOLF, A. 1966 [b], S. 76ff.

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Diese erste Begegnung zwischen Riwalin und Blanscheflur ist mit sparsamen Pinselstrichen leicht und zart hingesetzt. Dabei entzückt nicht nur die präzis-bewußte Verwendung der darstellerischen Mittel, sondern es fällt auch die Technik der Handlungsführung auf, durch die vom ersten Ansatz her Ereignis und Reflexion sich verketten: ein Blickwechsel von aventiure löst eine Bewegung aus, die nicht mehr zur Ruhe kommen wird. Eine seltsame Anschuldigung, ein Seufzer und ein segnender Gruß: das nimmt Riwalin aus dieser ersten Begegnung mit. Aber es genügt als Anstoß, denn nun beginnt er zu überlegen, was das bedeuten könnte. Und als er schließlich auf den Gedanken kommt, daß sich in Blanscheflurs Worten eine Liebeserklärung verbergen müsse, beginnt auch seine Zuneigung zu erwachen. Ein verrätseltes Wort der Sympathie wird also zum Anstoß der Reflexion, und in ihr entzündet sich Gegenliebe, die wiederum der Unklarheit und Unsicherheit neue Nahrung gibt: aus der Hoffnung wächst die Sorge, sich getäuscht zu haben. Liebe und Zweifel an der Gegenliebe werden um so drängender und brennender, je weiter sie in der Reflexion hochgetrieben werden. Der Prozeß kann nicht mehr zur Ruhe kommen. Dies wird folgendermaßen ins Bild gebracht: 841

Der gedanchafte Riwalin der tet wol an im selben schin, daz der minnende muot reht alse der vrie vogel tuot, 845 der durch die vriheit, die er hat, uf daz gelimde zwi gestat: als er des limes danne entsebet und er sich uf ze vlühte hebet, so clebet er mit den vüezen an; 850 sus reget er vedern und wil dan, da mite genieret er daz zwi an keiner stat, swie kumez si, ezn binde in unde machin haß; so sieht er danne uz aller craft 855 dar unde dar und aber dar, unz er ze jungeste gar sich selben vehlend übersiget und gelimet an dem zwige liget. Der Vergleich des Liebenden mit einem Vogel, der, je mehr er sich wehrt, nur um so sicherer an der Leimrute kleben bleibt, ist eindrucksvoll, wenn auch nicht gerade schön.16 Die Leimrute stammt aus demselben Bereich wie der Bärenhammer. Hier wie dort handelt es sich um eine Jagdfalle; und die beiden Fallen sind sich ihrem Prinzip nach sehr ähnlich. Jedes Mal wehrt sich ein Tier gegen eine heimtückische Vorrichtung, die so angelegt ist, daß es sich gerade dadurch selbst fängt, daß es gegen sie angeht, unz er . .. sich selben vehtend übersiget: das könnte genausogut in bezug auf '' Zur älteren Diskussion um diesen unschönen Vergleich, die freilich an der Frage der Funktion vorbeiging, vgl. LEISTNER 1907, S. 67ff. Zur literarischen Tradition des Bildes ein Hinweis bei SINGER, S. 1912, S. 164.

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den Bärenhammer gesagt sein. Es ist eine Kleinigkeit, die den Vorgang in Bewegung setzt, dort ein wenig jugendliche Unbesonnenheit, hier ein Gruß und ein Seufzer. Es genügt eine flüchtige Berührung, und schon beginnt der Mechanismus der Falle zu spielen. Dabei macht Gottfried beim Leimrutengleichnis genauso wie beim Bild vom Bärenhammer deutlich, daß er nicht auf einen persönlichen, charakterbedingten Ansatz zielt. Er schildert auch in der Geburt der Liebe aus der Reflexion nicht einen individuellen, sondern einen allgemein-psychologischen Vorgang. Es ist also weder hier noch dort die Individualität, die die Motivation für das Geschehen liefert. Es kommt hinzu, daß in beiden Fällen der eigentliche Ausgangspunkt der Handlung kaum zu fassen ist. So wie Gottfried den Zuhörer im Ungewissen darüber ließ, welche sachliche Grundlage der Morgankampf hatte, so wird die Liebe zwischen Riwalin und Blanscheflur durch einen zufälligen Blickwechsel angestoßen. Das Wo und Wie ist von aventiure. In dieselbe Richtung weist auch das lange Selbstgespräch Blanscheflurs, in dem sie den Ursprung ihrer Zuneigung zu Riwalin zu ergründen sucht. Sie kommt zu dem eigentümlichen Ergebnis, daß es die bewundernden Reden der übrigen Damen auf der Tribüne waren, die ihre Liebe entzündet haben! Auch von ihr aus gesehen verliert sich also der Beginn der Liebe in etwas Äußerlich-Belanglosem. Im übrigen verstrickt sie sich dann genauso wie Riwalin durch die Reflexion in der Minne. Die Reflexion ist für beide die Leimrute, durch die sie sich fangen. Bärenhammer und Leimrute sind jedoch nicht nur analoge Bilder dafür, wie zwischenmenschliche Prozesse nach Gottfrieds Auffassung anlaufen und sich wechselseitig steigern, sondern die Bilder zeichnen zudem in eindeutiger Parallelität den Zielpunkt der Bewegung vor: beide Jagdfallen führen zum Tod; Verstrickung in Kampf und Liebe bedeutet Verstrickung in den Tod. Das Zusammenspiel von beidem findet in der nächsten Begegnung der Liebenden seinen Ausdruck: Riwalin zieht für Marke in den Kampf und kehrt auf den Tod verwundet zurück. Die verzweifelte Blanscheflur schleicht sich zu seinem Krankenlager und gibt sich ihm hin. Die Liebe findet damit ihre Erfüllung, zugleich aber empfängt Blanscheflur damit den Tod: sie wird bei der Geburt des Kindes, das sie in dieser Nacht empfängt, sterben. Riwalin vermag zwar noch von seinen Wunden zu genesen, aber nur um kurz darauf gegen Morgan zu fallen. Damit hat für beide die durch einen zufälligen Anstoß ausgelöste Mechanik ihr tödliches Ziel erreicht. Das Leben als Kampf und das Leben als Liebe werden also in paralleler Weise nach dem Bild der Jagdfalle verstanden, in der jeder, der von aventiure in sie hineingerät, unausweichlich zugrunde gehen muß. Es ist erschütternd zu sehen, wie hilflos Riwalin ihrer Mechanik ausgeliefert ist. Es gibt zwar in diesem tödlichen Ablauf den Augenblick des höchsten Glücks, den Augenblick des scheinbaren Enthobenseins von allen Zwängen, aber es ist gerade dieser Augenblick, der auch in höchstem Maße den Tod in sich trägt. Es ist nicht zu verkennen, daß die Vorgeschichte von Tristans Eltern damit präludierend das große Thema des Romans vorwegnimmt. Darin liegt neben der stofflichhandlungsmäßigen Vorbereitung der Haupthandlung der Sinn der Riwalin-Blanscheflur-Erzählung. Anderseits aber dürfte auch ein thematisches Präludium allein kaum ihre unverhältnismäßig breite Anlage rechtfertigen. Die Vorgeschichte besitzt zudem die Funktion, die Gesetzlichkeit der Welt zu demonstrieren, in der auch Tristan und Isold sich werden bewegen müssen, aber, und das ist der Grund der Vorwegnahme, 564

diese Gesetzlichkeit wird sich nur als eine allgemeine Basis erweisen, von der aus sich unter bestimmten Bedingungen neue Möglichkeiten eröffnen: Tristan wird ein Riwalin auf höherer Stufe sein.

II Nach dem Tod Riwalins und Blanscheflurs zieht der getreue Rual deren Kind, um es vor Morgan zu schützen, als sein eigenes auf. Es erhält im Blick auf das Leid, aus dem es geboren worden ist, den Namen Tristan, ein Name, der ihm, wie Gottfried hervorhebt, nicht nur angemessen ist, weil er aus dem Leid geboren worden ist, sondern auch, weil sein Leben und sein Tod trureclich sein werden (2003ff.). Nach sieben Jahren behutsamer Erziehung im Hause seiner Pflegeeltern wird Tristan einem Marschall übergeben, der mit ihm in fremde Länder reist, wo er sich Schulwissen, Sprachkenntnisse und standesgemäße Lebensart aneignet. Er lernt schnell und fleißig; bald darf er in allen höfischen Künsten und Fähigkeiten als Meister gelten. Als er mit vierzehn Jahren nach Parmenie zurückkehrt, erscheint er als Wunderkind. Nach dieser Vorbereitung setzt mit Vers 2149 die eigentliche Handlung ein: 2149

In den ziten unde do kam ez von aventiure also, daz von Norwcege über se ein koufschif unde dekeinez me in daz lant ze Parmenie kam und sin gelende da genam und uz gestiez ze Canoel vür daz selbe castel, da der marschalc ze State sin wesen ufe hcete und sin juncherre Tristan.

Der Ansatz der Handlung erfolgt entsprechend der in der Vorgeschichte beobachteten Technik: Die letzte Ursache wird mit dem Ausdruck von aventiure wiederum ins Unbestimmt-Ungewisse verwiesen. Irgendwo in der Ferne in Norwegen wird das Geschehen in Gang gesetzt: ein Schiff fährt aus, erreicht Parmenie und landet schließlich gerade vor Ruals Burg. Syntaktisch ist die Darstellung dieses Vorgangs so angelegt, daß er in einem Satz durchgezogen werden kann: am Anfang steht von aventiure, das letzte Wort ist Tristan, auf den das Geschehen zielt. Dieser Sprachgestus wiederholt sich im folgenden: die Kaufleute stellen ihre Waren zur Schau, man erfährt in der Burg davon, und schließlich erreicht die Nachricht auch Tristan. Die beiden Söhne Ruals wenden sich an ihn, er möge beim Vater die Erlaubnis zu einem Besuch im Hafen erwirken; und auf Tristans Bitte hin begibt man sich dann gemeinsam zum Schiff hinunter. Jetzt wird die Schilderung breiter; Gottfried verweilt bei den einzelnen Dingen, die angeboten werden, und er zeigt Tristan und seine Stiefbrüder beim Kauf von Jagdvögeln usw. Gerade aber als man wieder von Bord gehen will, erscheint erneut das charakteristische von aventiure: 565

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Nu man si do gewerte alles, des si wollen, und dannen keren sollen, von aventiure ez do geschach, daz Tristan in dem schiffe ersach ein schachzabel hangen, . . .

Dieser Blick auf das Schachbrett ist entscheidend für alles Weitere. Tristan fragt die Händler, ob sie Schach spielen könnten. Er spricht Norwegisch und zeigt in dem sich anschließenden Spiel nicht nur seine Schachkunst, sondern er singt auch noch dabei und brilliert überhaupt so sehr mit seinem Wissen und Können, daß die Händler sich entschließen, heimlich in See zu stechen und das Wunderkind zu entführen. - Rual und seine Söhne sind inzwischen an Land gegangen. Zweimal taucht hier in kurzem Abstand die Formel von aventiure auf. Zunächst im Zusammenhang der Ausfahrt des Kaufmannschiffes, als Einsatz des Geschehens, das die Situation stellt, und dann an jenem Punkt, an dem Tristan auf diese Situation anspricht. Man kann im Blick auf die Handlungstechnik der Vorgeschichte sagen: durch das erste von aventiure wird gleichsam die Falle hergerichtet, das zweite erscheint in dem Augenblick, wo sie von Tristan berührt wird und zuschlägt. Und so wie in der Vorgeschichte spielt auch hier der Zufall mit den subjektiven Bedingtheiten zusammen. Wenn dem Bärenhammer des Krieges die jugendliche Unbesonnenheit Riwalins zugeordnet ist und wenn bei Markes Frühlingsfest die Blicke des trefflichsten Ritters und der schönsten Dame sich zufällig finden, so ist es nun der Wunderkindcharakter Tristans, der über den zufälligen Blick auf das Schachbrett mit der äußeren Konstellation zusammenspielt. Und wieder handelt es sich bei diesem 'Charakter' nicht um wirkliche Individualität:Tristan besitzt nicht besondere Fähigkeiten, sondern er besitzt nur die allgemeinen höfischen Fähigkeiten in einem ungewöhnlichen Maße, zugleich freilich in einem Alter, in dem sie als verfrüht gelten müssen, in dem sie offenbar noch nicht wirklich in eine Gesamtpersönlichkeit integriert sein können. Jedenfalls geht Tristan weniger dadurch in die Falle, daß er eine ungewöhnliche Intelligenz besitzt, als vielmehr dadurch, daß er sich verführen läßt, sie zur Schau zu stellen. Damit liegt, wie bei Riwalin, eine Art jugendlicher Leichtsinn vor - hier in der besonderen Kombination von Frühreife und Unreife -, und wiederum genügt ein geringer Anstoß, um die Mechanik des Schicksals in Gang zu setzen. Das Geschehen von aventiure hat also im >Tristan< eine eigentümliche Position und Funktion. Es bezeichnet einen Handlungsansatz überhaupt oder einen entscheidenden Neueinsatz, der durch ein besonderes Zusammentreffen von Umständen zustandekommt. Das bedeutet nichts anderes, als daß von aventiure letztlich die Ursache eines Geschehens ersetzt oder besser: verdunkelt, ins Unfaßbare zurückspielt. Dies ist um so bemerkenswerter als, abgesehen von diesen Neueinsätzen, die Kausalität des Handlungsablaufs in einem für die Literatur zur Zeit Gottfrieds ungewöhnlichen Grade herausgearbeitet wird.17 Ja vermutlich ist Gottfried gerade über den Versuch, die Ereignisse logisch in ihrer linearen Abfolge zu verknüpfen, auf das Problem der letzten 17

Zur Gottfriedschen Erzähltechnik in ihrem Zusammenhang mit einer neuen Begrifflichkeit der Sprache vgl. SCHRÖDER, W. J. 1960/1978; zur Sprachproblematik insbes.: FROMM 1967, S. 338f., 348ff.

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Ursache gestoßen. Dann wäre der Zufall als Terminus für die Unfaßbarkeit der letzten Ursache komplementär zur Kausalität der Handlung zu verstehen. Damit ist die Technik der Handlungsführung aber erst zum Teil erfaßt. Wenn auf der einen Seite die Geringfügigkeit der ein Geschehen auslösenden Momente immer wieder pointiert herausgearbeitet wird, so scheint auf der andern Seite für den weiteren Ablauf ein Prinzip der wachsenden Dynamik Geltung zu haben, das aus einer kausallogischen Verknüpfung des Geschehens allein nicht zu begründen ist. Vor der Erörterung dieses Aspekts ist jedoch noch ein zusätzliches Element der Handlungsführung kurz zu besprechen und in den größeren Zusammenhang zu stellen, nämlich die Eingriffe aus der übermenschlichen Sphäre. Es geht dabei um die vieldiskutierte Frage nach der Funktion Gottes im >TristanTristan< keineswegs sparsam umgegangen wird. Es finden sich immer wieder die gängigen Formeln: weil got, durch got, semmir got, in gotes namen usw. Sie können, wie überall, einerseits zu bloßen Füllseln absinken, anderseits ist es möglich, daß sie in bestimmten Situationen zu echtem Leben erweckt werden und dann einen echten Wunsch, eine echte Hoffnung zum Ausdruck bringen. Gottfried nützt die Vielfalt der Spielarten. Es sei z. B. an das got gesegen dich Blanscheflurs erinnert, dessen Formelhaftigkeit es gerade erlaubt, ein echtes Gefühl zu äußern und es doch zugleich zu kaschieren. Die religiöse Relevanz ist in diesem Bereich verhältnismäßig gering. Doch führt ein nur kleiner Schritt vom mit Empfindung erfüllten oder gar ausdruckstarken Ausruf zur wirklichen Hinwendung zu Gott, zur Bitte und zum Gebet. Dabei öffnet sich theoretisch wiederum ein breiter Fächer von Möglichkeiten vom flachen schematischen Wunsch bis zum wirklich erfüllten Zwiegespräch. Hier setzt Gottfried jedoch seine Akzente sehr prägnant. Der weitere Verlauf der Entführungsgeschichte ist besonders aufschlußreich: Die räuberischen Kaufleute aus Norwegen können sich ihrer Beute nicht lange freuen. Sie geraten in einen Seesturm von solcher Gewalt, daß sie für ihr Leben fürchten müssen. Der Gedanke drängt sich ihnen auf, daß Gott sie für ihre Tat strafen wolle, und sie geloben, Tristan freizugeben. Sofort legen sich die Wellen, und Tristan wird an der ersten besten Küste an Land gesetzt.19 Gott hat hier offensichtlich sehr dezidiert zugunsten Tristans in das Geschehen eingegriffen. Wie dieser sich nun aber nach seiner Rettung verlassen in einer Wüstenei findet, beginnt er sogleich, ausgiebig um weitere Hilfe zu beten (2490-2532). Darauf wird geschildert, wie er aufbricht, wie er sehr bald Weg und Steg findet und schließlich eine Straße erreicht. Dort fängt er erneut an, zu weinen und Gott sein Unglück zu klagen. Er bittet auch, daß seinen 'Eltern' Nachricht über ihn zukommen möge. Auf dieses Gebet hin erscheinen zwei Pilger, gotes kint und knehte (2627, 2640). Sie sind bereit, Tristan mit sich zu nehmen; und später werden es diese beiden wallare sein, die auch für die Erfüllung der zweiten 18 19

Am besten - wobei allerdings der Stellenwert Gottes in Tristans Welt nicht berücksichtigt wird - : VAN STOCKUM 1963.

Der Seesturm als Strafe Gottes stammt - wie übrigens eine ganze Reihe von Erzählmotiven im >Tristan< - aus spätantiker Romantradition. Doch ist damit noch wenig gesagt, wenn nicht zugleich berücksichtigt wird, in welcher thematischen Perspektive das Motiv eingebaut worden ist und welchen spezifischen Sinn es von daher gewinnt. Dieser Vorbehalt trifft auch die in diesem Zusammenhang anzuführende Arbeit von SCHWANDNER 1944.

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Bitte sorgen, indem sie Rual von seiner Rettung berichten. Nachdem Gott offenbar Tristan aus den Händen der räuberischen Kaufleute befreit hat, ist er also auch bereit, ihm weiterzuhelfen - es hätte ja auch wenig Sinn gehabt, einen Seesturm zu bemühen, nur um Tristan dann in einer Einöde verschmachten zu lassen! Es zeigt sich darin freilich, daß Gott seine Rettungsaktion nicht sehr weit vorbedacht haben kann, ja Tristan muß ihn erst nachdrücklich darauf aufmerksam machen, daß er ihn von einem kleinen Übel in ein größeres gebracht habe und er sich nun weiter um ihn kümmern müsse. Tristan klagt und betet also, und Gott reagiert überraschend prompt. Man ist versucht, von einer Mechanik von Gebet und Erhörung zu sprechen; und in diesem Sinne wird das Gebet auch von den andern Figuren immer wieder als wirksames Hilfsmittel eingesetzt. Freilich bleibt der Bereich, in dem es funktioniert, eigentümlich beschränkt. Hinter der göttlichen Hilfe steht keine wirkliche Vorsorge, schon gar nicht ein übergreifender Plan. Die Aktionen Gottes sind augenblicksbezogen, gelegentlich geradezu kurzsichtig. Gott ist zu einem kleinen Nothelfer geworden, der sich, wie es sich später bei Isolds Gottesurteil zeigt, sogar formalistisch übertölpeln läßt. Von Fall zu Fall darf Gott also kurzfristig helfend eingreifen, der Gesamtzusammenhang und dessen Sinn liegen jenseits seines Horizontes. Dabei läßt der Dichter die Mechanik von Gebet und Erhörung oft so verblüffend prompt funktionieren, daß sie wohl letztlich von ihm nicht ganz ernst genommen worden sein kann. Man fragt sich, ob sich hinter dem Wunder nicht einfach der Zufall zugunsten des Helden, also der positive Zufall, verbirgt. Technisch gesehen ist die Parallelität von Zufall und Wunder jedenfalls nicht zu verkennen. Wenn der Zufall ein Ereignis ins Ursachlose verweist, so entrückt das Wunder die Ursache in einen rational ebenfalls nicht mehr faßbaren, übernatürlichen Bereich. Ein bedeutsamer Unterschied ergibt sich jedoch dadurch, daß die Mechanik von Gebet und Erhörung von den Figuren zielstrebig angestoßen und in hohem Maße in ihr Tun einkalkuliert werden kann. Das Wunder mag also objektiv gesehen als positiver Zufall erscheinen, in der Perspektive der agierenden Figuren ist Gottes Hilfsbereitschaft ein Mittel, für dessen Wirksamkeit, wenn man damit umzugehen versteht, durchaus eine gewisse Garantie gegeben ist. Auf der andern Seite aber bedeutet dieses Sich-Verlassen auf Gottes Hilfe gerade nicht ein Gottvertrauen als Grundbefindlichkeit der Gottfriedschen Figuren. Gott werden bestimmte Aufgaben zugeteilt, in bestimmten Situationen wird mit ihm gerechnet; im übrigen aber stehen je nach Sachlage eine Reihe von andern höchst menschlichen Mitteln zur Verfügung, d. h., Gott ist ein Mittel unter andern, und man scheut sich auch nicht, es in Kombination mit weiteren Möglichkeiten einzusetzen. So beansprucht denn Tristan nach seiner Aussetzung Gottes Hilfe sehr nachdrücklich; er nimmt aber, sobald dies möglich ist, sein Geschick in seine eigenen Hände. Bei der Begegnung mit den Pilgern, dann mit den Jägern und schließlich am königlichen Hof überbietet er sich in Kabinettstückchen diplomatischen Raffinements und hochgespielter Artistik. Als die Pilger sich nähern, erhebt er sich, legtrsetne schönen Hände vor die Brust, wartet, bis er angesprochen wird, und dann verneigt er sich und antwortet in der Sprache der Fremden. Die Pilger fragen ihn, woher er komme, und Tristan v/7 wol bedaht und sinnesam von sinen tagen erzählt ihnen vremdiu mare (2692ff.): er erklärt, daß er aus diesem Lande stamme, daß er bei der Jagd seine Leute verloren habe, daß sein Pferd ihm durchgegangen sei und er nicht mehr wisse, wo er sich befinde. Der Antwort der Pilger kann er entnehmen, daß er in Cornwall ausge568

setzt worden ist: Sie sind auf dem Weg nach der Königsstadt Tintajel, und beeindruckt von der Eleganz seiner Erscheinung und von seinem vollendet höfischen Gebaren, sind sie denn auch bereit, ihn dahin mitzunehmen. Tristan hat Glück bei diesem Spiel. Kurz darauf erscheinen Jäger und Hunde, die einen Hirsch zur Strecke bringen. Tristan beeilt sich, von den Pilgern Abschied zu nehmen, indem er behauptet, er habe nun seine Leute wiedergefunden. Und wie er die Pilger durch sein Betragen in Erstaunen setzte, so brilliert er nun vor den Jägern mit seinen waidmännischen Kenntnissen. Er zeigt ihnen, wie man einen Hirsch kunstgerecht zerlegt, und bringt es so weit, daß die Jäger sich in allem seinen Anweisungen fügen und der Einritt der Jagdgesellschaft in die Stadt sich zu einem Aufzug gestaltet, der an Theatralik nichts zu wünschen übrig läßt. Selbstverständlich, daß der ganze Hof mit König Marke an der Spitze herbeieilt, um das Wunderkind und seine fremden Künste zu bestaunen. Unterwegs hatte Tristan auf die unausweichliche Frage, wo er herkomme, eine neue Geschichte präsentiert: er sei der Sohn eines Kaufmanns aus Parmenie und habe seine Heimat verlassen, um fremde Länder kennenzulernen. Man will ihm das zwar nicht recht glauben,20 aber man dringt nicht weiter in ihn. Tristan hat erreicht, was er wollte: er hat sich mit Geheimnis umgeben, er wird als Wunder angestaunt, und Marke macht ihn zu seinem Jägermeister und schließlich zu seinem ständigen Begleiter. Auf die Demonstration seiner Jagdkünste folgt die Demonstration seiner musischen Fähigkeiten. Beim Vortrag eines walisischen Harfners lenkt er durch eine Bemerkung über das betreffende Lied die Aufmerksamkeit auf sich, und nachdem er zunächst absichtsvoll-bescheiden abgewehrt hat, übertrifft er den fremden Spielmann, der als der beste den man wiste (3512) gilt, in der Kunst des Saitenspiels. Tristan singt so bezaubernd, daß alle sich vergessen. Marke fragt schließlich, ob er noch andere Instrumente spiele. Tristan verneint, um auf eine nochmalige Frage zuzugeben, daß er sämtliche Instrumente beherrsche. Da Tristan in verschiedenen Sprachen singt, werden darauf seine Sprachkenntnisse geprüft, und er erweist sich unter allgemeinem Staunen auch hierbei als Meister.21 Die Bewunderung findet ihren Ausdruck in dem Ausruf: ein vierzehenjarec kint kan al die liste, die nu sint (3719f.).

III Man hat Tristan nicht zu Unrecht einen Spieler genannt.22 Er handhabt die Formen höfischer Selbstdarstellung mit einer spielerischen Virtuosität. Was ihn aber erst eigentlich zum Spieler macht, ist die Möglichkeit, diese Formen zu veräußerlichen, d. h. etwas, das seinen Sinn darin findet, daß es Ausdruck einer spezifischen Lebenshaltung 20

Vgl. die Bemerkung des Jägermeisters vv. 3283ff. Tristans Sprachkenntnisse und seine musikalischen Künste gehören zusammen, sie bedeuten die Beherrschung der logisch-rationalen Seite der Wirklichkeit. Die Musik insbesondere ist der mittelalterlichen, auf Boethius zurückgehenden Theorie nach Ausdruck der Harmonie aufgrund rationaler Proportionen. In der Vebindung von Musik und moraliteit schlägt Gottfried später (vv. 7963ff.) den Bogen von der in der Musik erfaßten universalen Ordnung zur Idealform gesellschaftlichen Daseins. Zur Funktion der Musik in Gottfrieds >TristanTristanTristan< dagegen steht diese Wirklichkeit nun frei zur Verfügung. Dies gilt nicht zuletzt auch für die Sprache. Gerade hier zeigt sich noch einmal in höchst charakteristischer Weise die Sondersituation des Werkes. Die Sprache hat mit dem Bereich des Äußeren ihre Bindung verloren. Sie vermag deshalb auch zweckgerichtet scheinhafte Wirklichkeiten zu setzen. In dem Maße aber, in dem Tristan die Sprache zu einem Bereich des Scheins und der Täuschung macht, in dem Vgl. LOT-BORODINE 1927, insbes. S. 35f.; VAN HAMEL 1904.

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Maße wirkt sie in ebendiesem Sinne auch auf ihn selbst zurück - man denke etwa an die Verwirrung, die allein schon der Name der zweiten Isold bei ihm auslöst. Als letzte Konsequenz zeichnet sich ab, daß die Liebenden gerade am Schein und an der Lüge zugrundegehen, in die sie die Welt übergeführt haben.33 All dies aber bedeutet auch - und damit scheint noch einmal mit aller Deutlichkeit die kritische literarhistorische Position dieses Werkes auf -, daß die Wirklichkeit in ihrer Gesamtheit als Medium für den Vollzug dessen ausfällt, was im >Tristan< als neue Erfahrung einbricht. Die neue Wahrheit hat nur einen einzigen Ort, wo sie sich aktualisieren kann, den Akt der Liebe selbst. Der Entscheidung, die Gottfried fordert, fehlt daher der Raum, in dem sie Gestalt werden könnte, es fehlt ihr die Welt, die sich durch sie verwandeln ließe, die Welt als Natur und Geschichte. Die Individualität ist als Prinzip erfaßt, aber ihre Welt ist nur die der höfischen Gesellschaft, d. h. eine Welt idealtypischer Formen, für die die Individualität etwas darstellt, das in ihr aufgehoben werden muß. Wenn man die Individualität dagegen über den Eros absolut setzt, so löst sich die werlt in bloße Form auf; sie wird als solche kalkulierbar und beherrschbar, jedenfalls bis zu jenem nicht weiter ableitbaren Punkt, von dem ein Geschehen seinen Ausgang nimmt. Dieser Punkt war so lange kein Problem, als eine intakte höfische Konzeption eine Handlung als ihren Spiegel fiktional schematisch entwerfen konnte. Die Kritik dieser Konzeption aber mußte gerade hier angreifen. Gottfried hat den unfaßbaren Ansatz der Handlung, den Ansatz von aventiure, konsequent mit dem nicht mehr integrierbaren innersten Kern des Geschehens, mit der Individualität, zusammengespannt, indem er den Zufall mit dem Individuationsprinzip im Liebestrank in eins setzte. Aber es blieb bei diesem prinzipiellen Bogenschlag, die Wirklichkeit dazwischen wurde nicht mitergriffen, eine Realisierung konnte deshalb immer nur punktuell erfolgen. Die Liebe war identisch mit ihrem aktuellen Vollzug, und dazwischen etablierte sich immer wieder die werlt als Schein, positiv als manipulierbare Bühne der Begegnung, negativ als Trennung und Täuschung. Und daraus ergibt sich schließlich auch das eigentümliche Verhältnis zwischen der konzeptionellen Problematik des Werkes und seiner besonderen Form des Tragischen, die sich einer eindeutigen Bestimmung immer wieder entzogen hat. Die Lösung, die sich aus unserer Analyse ergibt, müßte lauten: der innere Widerspruch einer solchen letztlich Welt-losen Individualität ist im Grunde identisch mit der spezifischen Tragik der Tristanliebe.

33

Zu diesem Aufbau einer kunsthaft-künstlichen Welt, die gegen die Wirklichkeit angeht: MOHR 1959, insbes. S. 166. Vgl. auch WOLF, A. 1966 [a], insbes. S. 403ff.

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Die Tristansage und das persische Epos >Wis und Rämin
Tristan< und dem persischen Epos von Wis und Rämin befaßte.1 Wenn es ihm dabei darum ging, einen orientalischen Ursprung des >TristanZur germanisch-deutschen Heldensagen der die Ansätze zu einer neuen, das Heuslersche Modell überwindenden Konzeption programmatisch zusammenzufassen suchte.3 Hauck hat Schröders Aufsatz über >Mythos und Heldensage< aus dem Jahre 1955 wieder abgedruckt4 und damit dessen Bemühen gewürdigt, das Literarische in seiner Rückbindung in eine geglaubte und gelebte Wirklichkeit zu verstehen. Schröders Abhandlung über die Tristansage und >Wis und Rämin< sprengt den gewohnten 1

SCHRÖDER, F. R.

1961.

2

Zu den in dieser Hinsicht wichtigsten Arbeiten gehören: SCHRÖDER, F. R. 1920; 1924 [b]; 1924 [a]; 1929; 1941; 1960; 1962.

3

HAUCK 1961.

"SCHRÖDER, F. R. 1955/1961.

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Horizont in anderer Richtung: hier wird an einem prägnanten Fall die Möglichkeit eines literarischen Zusammenspiels zwischen Orient und Okzident im Mittelalter vor Augen geführt. Aus der Distanz von einem Dutzend Jahren und von einer gewandelten Forschungslage her dürfte es sich rechtfertigen, auch diese Seite von Schröders literarhistorischem Oeuvre neu ins Blickfeld zu rücken und die am konkreten Fall aufgeworfenen Fragen nochmals durchzudenken.

I Die These eines unmittelbaren oder mittelbaren literarischen Zusammenhangs zwischen dem abendländischen Tristanroman und dem persischen Epos von Wis und Rämin datiert nicht erst von 1961. Schon fünfzig Jahre früher hatte Rudolf Zenker sie vorgetragen und begründet.5 Sie war damals jedoch ohne weitergehende Wirkung geblieben. So kam Schröders Vorstoß einer Neuentdeckung gleich. Es dürfte dafür nicht ohne Bedeutung gewesen sein, daß seit 1957 die erste deutsche Übersetzung des Romans, d. h. seiner georgischen Fassung, in der Manesse Bibliothek der Weltliteratur leicht zugänglich vorlag.6 Doch trotz dieser günstigen Vorbedingung war auch dem Versuch Schröders kein Erfolg beschieden. Während Zenker wenigstens durch Philipp-August Becker7 und Gertrude Schoepperle8 eine schroffe Ablehnung erfuhr, hat Schröders Aufsatz, soweit ich sehe, überhaupt kein Echo gefunden. Besaß die These also so wenig Überzeugungskraft, daß sie sich von selbst erledigte? Bevor man sie mit diesem Gedanken ad acta legt, empfiehlt es sich zu überprüfen, ob nicht sowohl 1911 als auch 1961 die Forschungssituation dafür verantwortlich sein könnte, daß sie auf so geringes Verständnis oder Interesse gestoßen ist. Zenkers Aufsatz ist zwei Jahre vor der epochemachenden >TristanTristanTristan< und >Wis und Rämin< aus der Diskussion ausgeschaltet und die keltische These weitgehend durchgesetzt. Daß Zenkers Argumentationsweise, die den Motivvergleich mit einer Kritik der Abhängigkeitsverhältnisse der >TristanTristan< hart und pointiert und provozierend gegenüber: die Erlösung, die im Sinnlichsten aufscheint, und Schuld und Tod, die ebenfalls gerade im Sinnlichen gegenwärtig sind: Isold ist Eva und Maria.6 Das wirft auch neues Licht auf die Doppelgesichtigkeit der Gesellschaft. Die Gesellschaft wird zunächst in einer langen Vorgeschichte als positive Ordnung aufgebaut, und gerade Tristan trägt zu ihrer Erhöhung bei: er führt den Markehof auf eine höhere Stufe höfischer Kultur, er demonstriert neue Jagdsitten, verfeinerte Verhaltensformen, Neues in Musik und Gesang; er nähert die cornische Hofgesellschaft dem Idealbild der arthurischen Tafelrunde an. Und doch ist alles anders als im Artusroman. Tristan gibt sich zwar wie Erec oder Iwein als Protagonist des Hofes. Wenn er gegen Morold aus Irland antritt, der von Marke Tribut fordert, so evoziert diese Episode die typische arthurische Provokationsszene, die die Artus-Helden zur äventiuren-¥ahr\. veranlaßt. Wie ein äventiure-R'Mer besiegt Tristan den Provokateur und zieht er aus, um einer Frau zu begegnen, die ihm hilft, die ihn heilt, analog zu Erec oder Iwein, für die die Begegnung mit Enide, mit Laudine die Wende, die Rettung bringt. Aber die Anlehnung an das arthurische Schema bleibt äußerlich, im Prinzip funktioniert es hier gerade nicht. Tristan ist nicht eine Figur, die funktional in einem übergreifenden Strukturgefüge aufginge. Der äventiu6

Wegweisend für ein neues Verständnis des Sündenfallmotivs im >TristanTristan< Schwierigkeiten - es gibt im Mittelalter harte Gesellschaftskritik, und es gibt harte Beispiele von Sanktionen gegen einzelne - Abaelard und Heloise sind der Musterfall -, was wirklich Schwierigkeiten macht, ist, daß Tristan und Isold diese Gesellschaft nicht nur akzeptieren, sondern sie mittragen und stützen. Es wäre für Tristan ein leichtes gewesen, mit Isold in sein eigenes Land zu fliehen; keiner der Höflinge hätte es gewagt, auch nur einen Finger zu rühren, um die Königin zurückzuholen. Man wende nicht ein, dann wäre dies nicht mehr die Geschichte von Tristan und Isold; es geht nicht um Stoffzwänge, sondern darum, daß Gottfried diesen Stoff, wenn vielleicht auch nicht selbst gewählt, so doch angenommen hat, um damit das zum Ausdruck zu bringen, was er über das Verhältnis von Liebe und Gesellschaft zu sagen hatte. Zu Tristan und Isold gehört der Hof Markes, und dies nicht nur als Negativfolie oder als Widerstand, gegenüber dem sich die Liebe artikuliert und steigert. Ich erinnere daran, daß die Versöhnung letztlich die Gesellschaft mit einschließt; sie ist in der erotischen Utopie der Minnegrotte allegorisch gegenwärtig: die drei Fenster in der Kuppel der Minnegrotte bedeuten güete, diemüete und zuht. güete ist die gebende zwischenmenschliche Zuneigung, diemüete der Gegenbegriff vom Empfangenden her; zuht bedeutet das durch Form geprägte soziale Verhalten. Die ere - das Licht, das durch die drei Fenster fällt - meint die gegenseitige Achtung als Basis jener gesellschaftlichen Relationen, die sich in güete, diemüete und zuht ausdrücken. Und auch in dem schon genannten großen Exkurs zwischen Minnegrotte und Entdeckungsszene geht es um den Ausgleich, die mäze, im Verhältnis von lip und ere, um die mäze zwischen einer Loslösung im sinnlichen Einssein und der Einbettung in die Gesellschaft. Diese Gesellschaftsidee scheint auch im korrupten Markehof auf, wenngleich sie nur als Schein aufrechterhalten wird. In allem Irdischen, auch in seiner tiefsten Korruption, steckt noch ein Abglanz dessen, was es idealiter sein könnte. So ist denn gerade auch Tristan bemüht, die positive Ordnung zu bewahren. Er tritt gegen alles an, was sie gefährdet: die Gewalt von außen, die Willkür, das Ordnungslose, das Irrationale, das Zufällige. Gottfried arbeitet pointiert dieses Irrational-Zufällige der Gegenwelt heraus; er zeigt, wie durch kleine Anstöße, durch Nichtigkeiten Ereignisse ins Rollen geraten: eine beiläufige Begegnung, ein unbedachtes Wort, eine mutwillige 606

Geste. Ein Kaufmannsschiff sticht im fernen Norwegen in See. Es landet zufällig vor der Burg, in der der junge Tristan bei seinen Pflegeeltern aufwächst. Man geht, um sich die Waren anzusehen, da fällt Tristans Blick auf ein Schachbrett; man fragt, ob er spielen könne, man setzt sich hin, und nun brilliert Tristan so sehr mit seinen Künsten, daß die Kaufleute beschließen, das Wunderkind zu entführen. Das zufällige Schiff aus Norwegen, das ist die letzte Ursache für alles, was dann folgt, denn der von den Kaufleuten entführte Tristan kommt an den Hof seines Onkels Marke, und damit ist die Situation für die sich anschließenden Verwicklungen gestellt. Nun ist es aber zunächst gerade Tristan, der diesem Irrational-Unfaßbaren der Ereignisse seine Ratio, sein Kalkül entgegensetzt. Er pariert das Zufällige mit einer ins Virtuose gesteigerten Taktik aus übermütigem Mut und präzisester Berechnung. Und doch wird er schließlich diesem Irrational-Zufälligen verfallen, denn der Eros ist nichts anderes als dessen höchste Form. Er ist als ein Durchbrechen jeder Bedingtheit das absolut Irrationale, in seinem Ursprung unkalkulierbar, in seiner Wirklichkeit relations- und damit ordnungslos, nur sich selbst genügend. Und Tristan verfällt ihm nicht nur, sondern er bekennt sich dazu. In dieser Wende vom Kampf gegen das IrrationalZufällige zum Bekenntnis zu dessen höchster Form liegt die narrative Logik, die die lange Vorgeschichte mit der eigentlichen Liebesgeschichte verknüpft. Und diese Wende ist es auch, die durch den Liebestrank in der Umbruchstelle zum Ausdruck gebracht wird. Der Liebestrank, dieses Ärgernis der >TristanTristan< hingegen wird die Gesellschaft in der epischen Handlung nicht utopisch, sondern konkret gefaßt. Das Nicht-Ideale, das Ordnungslose, der Zufall lädiert sie, und deshalb führt hier der Weg zur Utopie in ganz anderer Weise durch die Gegenwelt hindurch; sie scheint gerade im Antigesellschaftlichen auf, im Radikal-Zufälligen, in der Irrationalität des Eros. Das Zufällige erhält 607

einen paradoxen Charakter. Es zerstört und rettet zugleich. Das neue Paradigma des Zufalls ist die geschlechtliche Liebe in ihrer Paradoxie von Auflösung und Erlösung. Wie aber verhält sich dazu die göttliche Ordnung? Hier potenzieren sich die Probleme. Die Nagelprobe für jede >TristanTristanTristanTristan< jedenfalls gibt es sie nicht. Diese Behauptung mag überraschen, denn gerade Tristan steht uns doch als Figur in unverwechselbarer Einzigartigkeit vor Augen: das frühreife Kind, der brillante Schüler, der begierig lernt, schnell alle Sprachen spricht, alle Künste beherrscht, der glänzende Höfling, der Kämpfer, der Künstler und der Liebhaber, unüberbietbar, unwiderstehbar, aber auch der Va-banque-Spieler, der dadurch, daß er seine Möglichkeiten überreizt, sich tragisch verstrickt und zugrunde geht. Ist das nicht das Bild einer prägnanten Individualität? Das Bild täuscht. Tristan besitzt, genau besehen, keine individuellen Züge oder Fähigkeiten, sondern er besitzt nur die typischen Eigenschaften und Fertigkeiten des gebildeten Höflings, diese jedoch in einem höchsten, in einem übersteigerten Maße. Das verschafft ihm bestenfalls eine Quasi-Individualität. Und für Isold gilt im Prinzip dasselbe. Sie wird in Irland Tristans Schülerin; sie lernt von ihm in vollkommenster Weise alles, was höfische Bildung ausmacht. Sie wird darin Tristan ebenbürtig. Aber auch sie entfaltet nicht etwas Eigenes, sondern erfüllt unter Tristans Anleitung nur die allgemeine Norm im Übermaß. Es gibt bei Isold ebensowenig wie bei Tristan auch nur einen einzigen persönlichen Zug. Selbst nicht im Äußeren: sie verkörpert das Idealbild mittelalterlicher Schönheit, und das einzig Besondere, was angeführt wird, ist ihr blondes Haar - doch auch das gehört zum stereotypen höfischen Schönheitskatalog. Weder Tristan noch Isold sind also Individualitäten im modernen Sinne, und das heißt: sie entwickeln sich auch nicht. Sie lernen dazu, sie vervollkommnen ihre Künste und dann ihre Techniken der Täuschung. Doch das sind instrumenteile Fertigkeiten; sie stellen nicht ein Medium der Entfaltung der Persönlichkeit dar. Das gilt insbesondere für die Sprache, die immer nur der Verhüllung oder der Enthüllung dient, aber nicht zum Erfahrungsraum individueller Geschichte wird. Und deshalb sind Tristan und Isold auch unfähig, ihr Leben als etwas Eigenes zu ergreifen; sie reagieren immer nur auf das, was ihnen zustößt. Gewiß, sie machen Pläne und bringen sie mit kluger Vorsicht an ihr Ziel; aber das bleibt ihnen äußerlich wie die Zwecke, die sie damit verfolgen; sie gestalten damit nicht wirklich ihr persönliches Schicksal. Und so entwickelt sich denn auch ihre Liebe nicht. Sie wächst nicht in einem kontinuierlichen Prozeß mit Aufschwüngen, Wandlungen und Rückfällen; sie ist vielmehr mit dem Liebestrank unvermittelt da, und sie erfüllt sich immer wieder neu und absolut in jeder Vereinigung. Und wenn Tristan sich zu dieser Liebe bekennt, dann gerade nicht als zu einer sein Leben gestaltenden Kraft, sondern zu ihrer Augenblickshaftigkeit. Und so besteht denn auch die Handlung des Romans in einer sich steigernden Wiederholung der immer gleichen Situation. Die äußeren Schwierigkeiten werden dabei hochgeschraubt, bis zum Eklat, bis zur Flucht und Trennung, bis zum Tod. Der Sinn dieser Bewegung liegt deshalb allein in der Offenbarung dessen, was diese Form der Liebe impliziert: jene unauflösliche innere Paradoxie, ihre Freude im Leid, ihre Sinnlichkeit als Schuld und als Rettung, aber all dies - wohlgemerkt - niemals dyna609

misch im Sinne moderner Dialektik, sondern statisch als die immer neue Präsenz der im erotischen Sündenfall mitgesetzten Erlösung. Dieses entwicklungslose Neusetzen des Immer-Gleichen bedeutet aber auch, daß sich die Liebenden nur haben, wenn sie sich in den Armen liegen. Das Nichtkörperliche läuft immer über das Körperliche, und dies macht zugleich dessen Fatalität und Heiligkeit aus. Und daran hängt nun auch die ganze Problematik der vielberedeten Abschiedsszene. Das letzte Gespräch der Liebenden nach der Entdeckung im Baumgarten kreist um zwei Themen: um das Vergessen und die Bewahrung des Leibes. Isold nennt Tristan min lip und min leben. Und sie bezeichnet sich als Tristans lip, wobei sie ihm verspricht, daß sie um ihren Leib Sorge tragen werde, weil es der seine sei, und sie bittet ihn, seinen Leib, der der ihre ist, in derselben Weise zu bewahren. Diese Vertauschung ist topisch, aber sie erhält hier von der Bedeutung der sinnlichen Präsenz her eine neue Note. Während in der Moderne die Beziehung zum Andern als Element der eigenen Individualität die Trennung überdauern kann, ist im >Tristan< der Andere nur in seiner Gegenwärtigkeit gegeben. Deshalb die Angst vor dem Vergessen - eine berechtigte Angst, denn wenn man den Andern nicht mehr in den Armen hat, hat man nichts mehr. Ein Leben in und aus der Erinnerung setzt Individualität voraus; wenn Tristan und Isold sich beim Abschied Erinnerung versprechen, so kann sie sich an nichts halten, und so muß sie schließlich versagen. Es bleibt als individueller Haltepunkt nur der Name; doch Namen sind übertragbar: Tristan heiratet eine zweite Frau, nur weil sie auch Isold heißt. Und wenn er die Ehe mit ihr nicht vollzieht, dann nur, weil ein konkretes Erinnerungszeichen die blonde Isold im letzten Augenblick doch noch für ihn festhält: der Ring, den sie ihm beim Abschied gegeben hat. Die Welt des Mittelalters ist eine Welt der Zeichen; sie muß es sein, weil sie keine Geschichte im Sinne eines kontinuierlich-offenen Prozesses kennt, sondern immer neu auf den Augenblick, auf die immer wieder absolute Entscheidung ausgerichtet ist; Zeichen aber schaffen nur einen konstruierten - im höchsten Fall einen von Gott entworfenen Zusammenhang. Der Fehler fast aller >TristanTristanTristan< gegenüber besonders schwer. Doch dürfte es an der Zeit sein, auch hier alle Prämissen, die einem neuzeitlichen Denken und dessen ästhetischen Implikationen verpflichtet sind, fallen zu lassen. Individualität als positiver Wert, Entwicklung, subjektiver Lebensentwurf, Liebe als dialektischer Prozeß: all diese Begriffe sind dezidiert ad acta zu legen. Wir müßten heute, von einer postmodernen Position aus, dazu besser denn je in der Lage sein, denn uns sind ja gerade diese Begriffe inzwischen wieder fragwürdig geworden. Und falls es gelingen sollte, den Bogen von heute aus zurückzuschlagen, kann man der mittelalterlichen Literatur eine nie gekannte, wirklich echte Aktualität prophezeien. Denn sie könnte uns die Paradigmen der postmodernen Ästhetik sozusagen mit umgedrehten historischen Vorzeichen liefern. Dabei dürften sich die alten Kontroversen in einer Weise verwandeln, die ihre fruchtbare Vehemenz eher 610

erhöht als vermindert. Mehr kann man nicht wollen: denn jede sogenannte Problemlösung, zu der wir kommen, bedeutet ja im Grunde nur, daß wir einen weiteren Spiegel zu den vielen in jenem historischen Kabinett aufstellen, in denen sich die unlösbaren Kontroversen in zunehmend komplexer verschränkten Perspektiven brechen.

611

VI. DER R O M A N IN N A C H K L A S S I S C H E R ZEIT

613

Wolframs >WillehalmWillehalmWillehalmParzival< und die Kritik, die er erfahren hat. Ein drittes Ordnungsprinzip manifestiert sich in einer Dreigliederung, die sich an das trinitarische Schema anlehnt. Es ist jedoch so unaufdringlich, ja verhüllt herangezogen, daß Versuche, klare Zuordnungen und Abgrenzungen vorzunehmen, nur bedingt zu überzeugen vermögen. 1

OCHS 1968. Vgl. dazu NELLMANN 1969 - eine gute Würdigung mit einer Reihe von wichtigen Ergänzungen. 2 MEISSBURGER 1965; OCHS 1968, S. 106ff., vgl. insbes. die Übersicht S. HOff., der ich mich im folgenden anschließe.

615

Hinzu kommen schließlich viertens - als Überleitung zwischen dem ersten und dem zweiten trinitarischen Komplex - Elemente aus der Tradition der Vaterunser-Auslegung. Was für die Gliederung des Prologes gilt, das trifft im Prinzip auch für die Einzelelemente zu: auch hier zeigt sich als Hintergrund eine breite und vielfältige Überlieferung, und Wolfram scheint dabei wiederum nicht einem bestimmten Vorbild verpflichtet zu sein, sondern relativ frei über die Tradition zu verfügen. Es ist das besondere Verdienst von Ingrid Ochs, hierfür die einschlägige vulgärsprachliche Überlieferung kritisch ausgebreitet zu haben. 3 Die literarhistorische Analyse von Ordnungsprinzipien und Motivzusammenhängen hat grundsätzlich ihren guten Sinn. Sie bietet die Chance, daß über die spezifische Auswahl und Akzentuierung die individuellen Positionen der einzelnen Werke im Überlieferungsstrom sichtbar gemacht werden können. Im Falle des >WillehalmGuoten GerharK wird von drei kreften in einer kraft gesprochen; vgl. vv. 304ff. und 313ff.

620

man unter diesem Gesichtspunkt des trinitarischen Zusammenwirkens auf vv. 1-24 zurückblickt, so wird auffallen, daß gleich zu Beginn neben kraft Begriffe erscheinen, die über den spezifischen Aspekt der ersten Person hinausgehen. Zunächst kunst in v. 3. Was darunter zu verstehen ist, zeigt v. 7, wo der Begriff als höhiu kunst erneut, und zwar nun als Variation von wiser rät oder zumindest in enger Verbindung mit diesem, erscheint.21 Es soll damit offensichtlich auch die zweite Person als sapientia schon mit einbezogen werden. Die 24 ersten Verse des >BarlaamWillehalmGuote Gerhart< kann zur Bestätigung herangezogen werden; es wird dort neben den drei kreften auch von drei sinnen gesprochen und zur zweiten Person gesagt: Den andern sin heiz ich den rät, / der sich zuo dir (sc. zum ersten sin) geslozzen hat: / daz ist des sunes wisheit. (v v. 369ff.). 22 Ich bleibe hier gegen Ochs (und Paul und Leizmann) bei Lachmanns Interpunktion. Obschon der Anschluß von v. 9 an v. 8 die Bedeutung des Kindschaftsverhältnisses noch vertiefen würde, kann ich nicht an einen Bezug zu kint glauben. Die Gegenargumente aufgrund der Gott betreffenden Formel: excelsussuper. . . haben stärkeres Gewicht; vgl. den Kommentar Dieter Kartschokes zu der Stelle: LACHMANN/KARTSCHOKE 1968, S. 267, und NELLMANN 1969, S. 405.

621

Die folgenden Verse erinnern daran, in welcher Weise die Verwandtschaft zwischen Gott und Mensch gestiftet und besiegelt worden ist: 20

25

din mennischeit mir sippe git diner gotheit mich äne strit der päter noster nennet zeinem kinde erkennet. so git der touf mir einen tröst der mich zwivels hat erlöst: ich hän gelouphaften sin, daz ich din genanne bin: wisheit ob allen listen, du bist Krist, so bin ich kristen.

(Wh. 1,19-28)

Es ist die Menschwerdung Gottes im Sohn, die mir sippe git, die die Verwandtschaft mit mir hergestellt hat, und dies gibt Anlaß, über die Vaterunser-Auslegung auf die Taufe zu sprechen zu kommen, in der der Name des Gottessohnes auf den Christen übertragen wird. Es ist also die Inkarnation, in der der unendliche Abstand zwischen Gott und Mensch überbrückt worden ist. In der Taufe empfängt der Mensch dann die Gewißheit {tröst), daß er erlöst ist, d. h., diese Gewißheit beruht im Glauben an die über die Taufe auf Christus gestiftete Verwandtschaft. Der tröst, den die Taufe gibt, ist also im Grunde identisch mit dem Glauben an die Gotteskindschaft des Menschen.24 Im übrigen sei vermerkt, daß in diesem Zusammenhang ein zentrales Element der Christologie, die Passion, ausgespart bleibt.25 Es ist somit festzuhalten, daß Wolfram seine Thematik aus der Idee der stauen kraft, aus der alles Geschaffene tragenden potentia Gottes, entwickelt. Der trinitarische Ansatz bei der ersten Person zielt dann über den Gedanken der Gotteskindschaft des Menschen auf die Inkarnation, d. h. auf die zweite Person, die in besonderer Weise diese Verwandtschaft gestiftet und in der Taufe besiegelt hat. Ingrid Ochs interpretiert wohl richtig, wenn sie die Gotteskindschaft hier nicht vom Anfang der Explikation, also nicht von der Schöpfung, sondern vom Ende des Gedankenganges, von der Menschwerdung her begründet sieht.26 Das Kindschaftsverhältnis wird zwar unter dem Aspekt des Schöpfergottes angesetzt, aber von der Erfahrung göttlichen Erbarmens her 23

Zu arm und rieh in der Nuance zweifellos richtig: OCHS 1968, S. 48; grundlegend zur Bedeutungsgeschichte von arm bis zu Wolfram: SCHRÖDER, W. 1960, S. 521, wo für >Willehalm< v. 1,18 die Übersetzung „unwürdig" vorgeschlagen wird. 24 OCHS 1968, S. 51 f., formuliert: „Die Taufe verleiht Zuversicht der Sündenvergebung, um die der Dichter vv. l,10ff. gebeten hatte, und damit die Gewißheit der Gotteskindschaft." 25 Inwiefern sich hier ein Christusbild ausprägt, das für Wolfram von grundsätzlicher Bedeutung ist, wäre noch zu überprüfen. Jedenfalls ist es nur bedingt richtig, wenn OCHS 1968, S. 49, bemerkt, daß Wolfram - außer an dieser Stelle - von Christi menscheil immer in Verbindung mit dem Kreuzestod spreche. Sowohl die Christenlehre von Parzivals Mutter als auch diejenige Trevrizents bringen die Passion nicht - oder jedenfalls nicht direkt - ins Gespräch. 26 OCHS 1968, S. 37, setzt - zweifellos richtig - die Kindschaftsauffassung des Prologes von derjenigen der Gyburg-Rede ab: „Im Bereich der mhd. Dichtung scheint Wolfram zum ersten Male ganz ohne Einschränkung von allen Menschen - auch von Heiden und Sündern - nicht nur als von Gottes Geschöpfen, sondern als von seinen Kindern zu sprechen. Das geschieht noch nicht im Prolog, aber in Gyburgs großer Rede vor der zweiten Schlacht"; vgl. auch ebd., S. 50, wo festgestellt wird, daß die Menschwerdung das Vaterunser „bestätigt".

622

gefaßt. Mit dem sündigen Menschen im Erbarmen Gottes ist die unendliche Spannung zwischen Gott und Mensch thematisiert und zugleich die Erlösung durch Christus als Bezugspunkt mitgegeben, d. h., der Abschnitt versteht sich vom Schluß, von den Versen 1,19-28 her. Vergleicht man Rudolfs Umarbeitung, so zeigt sich ein völlig anderer Verlauf des Gedankengangs: nach seinem großen spekulativen Passus über die Ewigkeit Gottes lenkt er nicht in die Wolframsche Thematik des Kindschaftsverhältnisses zwischen Gott und Mensch ein, sondern fährt folgendermaßen fort: 25

dir sich biegent älliu knie ze himel und üf der erde hie biz durch der helle künde, vor dir daz abgründe bibent unde in vorhten swebet.

(Bari. 25-29)

Nachdem es Rudolf zunächst darauf ankam, die Erhabenheit Gottes in seiner Überzeitlichkeit darzustellen, zeigt er nun - folgerichtig - nicht den Menschen als Gotteskind, sondern die Schöpfung, bis hinunter zur Hölle, in Ehrfurcht vor dem künec Säbäöt: der Idee des übermächtigen Schöpfers entspricht in der unendlichen Distanz die Kreatur in Furcht und Zittern. Die christliche Paradoxie der innigen Verwandtschaft bei unendlicher Differenz, auf die es Wolfram entscheidend ankam, ist zugunsten der bloßen Differenz fallengelassen. Rudolf schließt dann eine knappe Bemerkung über die Wirkung des Heiligen Geistes an: 30

von dinem süezen geiste lebet swaz lebeliche sich verstät unde lebende sinne hat.

(Bari. 30-32)

Damit wird überraschend ein Thema vorgezogen, das bei Wolfram prononciert erst im Zielpunkt des ersten Prologteils erscheint. Bei Rudolf besitzt es an dieser Stelle kaum Eigengewicht, denn das Wirken des Heiligen Geistes tritt völlig in die Perspektive des skizzierten Gottesbildes: was Leben und Geist hat, wird in der schlichten Abhängigkeit vom göttlichen Geist gesehen. Die drei Zeilen machen den Eindruck eines den ersten Abschnitt dogmatisch rundenden Nachtrags: im Zusammenhang mit der göttlichen kraft war schon die Mitwirkung der zweiten Person angedeutet worden, während die dritte Person bisher nur über die Formel von v. 20 Berücksichtigung fand. Die in Frage stehenden Verse bringen die Ergänzung zum trinitarischen Gesamtbild.27 Bei beiden Dichtern folgt darauf der Schöpfungspreis. Bei Wolfram:

2,1

diner hcehe und diner breite, diner tiefen antreite wart nie gezilt anz ende, ouch louft in diner hende

Vgl. auch den >Guoten GerhartBarlaam< vv. 30-32 stehen: daz ist diu diemüete, / des heiligen geistes güete, / mit der daz lebeliche leben / lebeli chen ist gegeben, (vv. 381ff.). - Zur weiteren Differenzierung siehe unten Anm. 40. 623

der siben Sterne gähen, daz sin himel wider vähen. 5 luft wazzerfiur und erde wont gar in dinem werde. ze dime gebot ez allez stet, da wilt unt zam mit umbe gel. ouch hat din götlichiu mäht 10 den liehten tac, die trüeben naht gezilt und underscheiden mit der sunnen louft in beiden. niemer wirt, nie wart din ebenmäz. al der steine kraft, der würze wäz 15 hästu bekant unz an daz ort.

(Wh. 1,29-2,15)

Bei Rudolf:

35

40

45

50

55

60

624

Erde, viur, wazzer, luft, kelte, regen, hitze, tuft getempert hat din eines kraft in gotlicher meisterschaft. din eines vürdahtlich gewalt hat genennet unde gezalt der Sternen menege unde genant ir aller namen unde erkant ir umbelouf ir umbevart, und wie sie nach ir rehter art natürent aller dinge leben, den dii wilt lebende sinne geben. ouch muoz in sinem loufe gan, als ez din kraft hat angelän, daz firmament unz an daz zil, als ez gebot und als ez wil diu gotliche witze din. also hat sich der sunnen schin entliuhtet unde gerihtet; von nihte hat getihtet din wiser gotlicher list swaz sihtic unde unsihtic ist. din wort ist aller dinge slöz. den dunre und diu blicschöz von viurinem lüfte lät din kraft, diu sie getempert hat. dir ist niht verborgen vor, du sihst durch aller herzen tor in menschlicher sinne grünt; dirsint älliu herzen kunt.

(Bari. 33-62)

Ein Vergleich der beiden Textabschnitte ergibt, daß Rudolf zwar den Passus des >WillehalmWillehalmGuoten Gerhart < vv. 326ff. mit z. T. wiederum größerer Nähe zu Wolfram. Über die charakteristische Beziehung der sapientia zur Ordnung der Schöpfung vgl. OCHS 1968, S. 54. Im >Guoten GerharK werden klarer als im >Barlaam< der gewalt die kosmischen Bewegungen (Gestirne, Tag und Nacht, Zeit), der wisheit die Elemente zugeordnet, vv. 325ff. bzw. 371 ff.

625

Es läßt sich also festhalten: so wie im ersten Abschnitt zwar vor allem von Gottvater die Rede ist, dabei aber darauf geachtet wird, daß er zugleich im trinitarischen Zusammenwirken mit den anderen Personen erscheint, so wird auch die Schöpfung zunächst in der Perspektive der ersten Person dargestellt. Aber das Wirken der sapientia ist und das kommt auch formal durch die Zwischenstellung der betreffenden Begriffe zum Ausdruck - darin eingeschlossen, ja, es wird offenbar darüber hinaus wieder der gesamte trinitarische Wirkungszusammenhang im Auge behalten. Erst jetzt trägt Rudolf die Christologie nach, die bei Wolfram dem Schöpfungspreis vorausgegangen ist:

65

Got vater nach der gotheit,30 dines sunes name treit die menscheit, in der er leit den tot durch unser broedekeit, der megede schepfer unde ir kint, . . .

(Bari. 63-67)

Der Passus ist knapper als die entsprechende Stelle bei Wolfram (vv. 1,19-28). Rudolf hat die Vaterunser-Auslegung gestrichen. Dabei kommt es zugleich zu einer auffälligen Verschiebung der Akzente. Während es bei Wolfram um das Kindschaftsverhältnis des Menschen zu Gott ging und er seine Darstellung der zweiten Person deshalb auf die Taufe hin ausrichtete, spricht Rudolf nur davon, daß Gott in der zweiten Person (dines sunes name) menschliche Gestalt angenommen hat, um dann zu jenem Element der Christologie überzugehen, das Wolfram eigentümlicherweise ausgespart hat: Christi Passion. Das bedeutet zunächst formal, daß Rudolf den Schöpfungspreis und damit den Aspekt insbesondere der zweiten Person mit der nachgetragenen Christologie dezidiert abschließt und damit eine klare Zäsur schafft. Wolfram dagegen läßt den Schöpfungspreis auffällig nahtlos in die viel besprochene Darstellung der Wirkung des Heiligen Geistes im Menschengeist übergehen:

20

der rehten schrift dön unde wort din geist hat gesterket. min sin dich kreftec merket: swaz an den buochen stet geschriben, des bin ich künste/ös beliben. niht anders ich geleret bin: wan hän ich kunst die git mir sin.

(Wh. 2,16-22)

Die Interpretation von v. 2,16 macht Schwierigkeiten. Es ist eine Reihe von Deutungsversuchen vorgelegt worden, ohne daß man sich auf einen hätte einigen können. 31 Was immer aber im einzelnen mit der rehten schrift dön unde wort gemeint sein mag, zweifellos handelt es sich dabei um Ausdrucksformen des menschlichen Geistes, die von Wolfram mit dem Heiligen Geist in Beziehung gesetzt werden. In der rehten schrift dön unde wort offenbart sich Wahrheit, insofern der Heilige Geist die Darstellung 30

Das Komma nach gotheit bei Franz Pfeiffer steht vermutlich falsch, d. h., nach der gotheit dürfte zur zweiten Person zu ziehen sein. Es wäre dann gemeint, daß Gott nach der gotheit, also in zweiter Hinsicht - was man sowohl trinitarisch-systematisch als auch heilsgeschichtlich verstehen kann -, Mensch geworden ist (diese Korrektur verdanke ich Gisela Vollmann-Profe).

31

Vgl. OCHS 1968, S. 62ff.; LACHMANN/KARTSCHOKE 1968, S. 268; NELLMANN 1969, S. 406.

626

trägt, reht in v. 16 nimmt äne valsch, in v. 1,1 Epitheton des Schöpfergottes, wieder auf.32 Im Blick auf diese Möglichkeit zur Wahrheit wird die schöpferische Fähigkeit des Dichters als über den Heiligen Geist vermittelte Teilhabe an der göttlichen Schöpferkraft verstanden, min sin dich kreftec merket heißt also, daß auch Wolframs Dichtergeist sich von dieser schöpferischen kraft durchdrungen weiß und daraus die Gewißheit zieht, unmittelbar in der Wahrheit zu stehen. Dieser Wahrheit gegenüber wird alle bloße Buchgelehrsamkeit als bedeutungslos abgewertet. Und wenn Wolfram dann im folgenden die Bitte um Beistand für sein Werk anschließt, so ist sie in diesen Zusammenhang einbezogen, und zwar markiert dadurch, daß der Heilige Geist über den dritten Begriff der trinitarischen Formel güete angesprochen wird, der bisher noch ausstand und der somit den Passus, in dem er erscheint, nachdrücklich noch in die trinitarische Konzeption hineinbindet. In Rudolfs Prolog folgt auf den Schöpfungspreis ebenfalls ein Abschnitt über die Wirkung des Heiligen Geistes. Er setzt jedoch nicht nur ganz anders an, sondern er fällt auch sehr viel breiter und allgemeiner aus:

70

75

80

85

an dem die drie namen sint: vater, sun, heiliger geist, du hast in wiser volleist allen herzen gegeben sin, verstän, vernunftlich leben mit misliches teiles gunst. din geist berihtet al die kunst, die menschlichez leben treit: einem git er wisheit, bi witzen wislichiu wort; dem andern kunstrichen hört, der doch an im verborgen ist; dem dritten manegerhande list; er git dem bescheidenheit; gnuogen machet er bereit mit triuwen lügende riche site. er teilet ouch genuogen mite gesunden lip, vrwlichen muot. älliu leben hat behuot din vil heiliger geist nach ir sinne volleist.

(Bari. 68-88)

Nachdem Rudolf seinen Schöpfungspreis in eine knappe Christologie hat einmünden lassen, um damit diesen Abschnitt unter dem Aspekt der zweiten Person abzuschließen, greift er, mit v. 68 neu ansetzend, wieder auf den trinitarischen Rahmen zurück und handelt in ihm nun die dritte Person ab. Dabei wird gegenüber Wolfram, dem es allein um die Wirkung des göttlichen Geistes im Dichtergeist ging, die Manifestation des Heiligen Geistes breit ausgefächert: der Mensch hat in unterschiedlicher Weise und in verschiedenem Maße Anteil an den Gaben des Heiligen Geistes. Es wird ein 32

Zu reht = 'wahr' siehe OCHS 1968, S. 62. Über reht bei Rudolf vgl. unten Anm. 41.

627

Katalog dessen geboten, was an menschlichen Fähigkeiten und Eigenschaften von Gottes Geist und Gnade abhängig erscheint. Eine gewisse Hierarchie ist offenkundig: zunächst wisheit als die Fähigkeit, den Geist ins Wort umzusetzen, dann kunst als latenter Besitz von Wissen, list, hier wohl, wie allgemein, im Sinne von Kunstfertigkeit zu verstehen, bescheidenheit als praktischer Verstand, dann ethische Qualitäten und zuletzt auch Gesundheit und Fröhlichkeit. Dann schließt sich der Dank dafür an, daß Gott ihm, Rudolf, wenigstens in bescheidenem Maße Anteil an all dem gegeben hat: Swie kleine doch sin wiser rät der künste mir geteilet hat, Krist herre got, so sage ich dir lop der gnaden, daz du mir geruochtest sinnecliche geben gelouben unde kristen leben, 95 daz ich von sinnen mich verstän, waz ich gnaden von dir hän; daz din geloube mir git tröst; daz du mich armen hast erlöst von der eweclichen not, 100 und daz ich weiz, daz ich den tot niht vürhten sol der sele min ob ich bejage die hulde din. 90

(Bari. 89-102)

Der Dank Rudolfs zielt also nach der allgemeinen Anknüpfung an den Katalog der Geistesgaben auf die besondere Gnade, die Gott ihm durch den Glauben und durch die Erlösung hat zuteil werden lassen. Erst jetzt kehrt Rudolf wieder zu seiner Vorlage zurück, indem er sich wie Wolfram für das dichterische Werk, das er unternehmen will, Gottes Beistand erbittet. Bei Wolfram lautet die betreffende Stelle folgendermaßen: diu helfe diner güete sende in min gemüete 25 unlösen sin so wise, der in dtnem namen geprise einen riter der din nie vergaz.

(Wh. 2,23-27)

Mit dieser Bitte um göttlichen Beistand ist der Übergang zur Einführung in das Thema, zum prologus ante rem, vollzogen. Es folgen Hinweise zum Stoff, zur Vermittlung der Quelle, Bemerkungen zum Helden, und schließlich mündet der Prolog in ein Gebet an den heiligen Willehalm ein. Rudolf wandelt diesen Übergang in folgender Weise ab: durch die gnade bite ich dich, daz du geruochest hceren mich 105 und mir in mine sinne 33

Es ist nach OCHS 1968, S. 74, gegen LACHMANN 1926 dinem statt dinen zu lesen.

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des heilegen geistes minne ze lere geruochest senden, daz ich wol müge verenden, des ich mit kranken sinnen 110 alhie wil beginnen ze sprechenne von einem man, wie des lere dir gewan vil der heidenischen diet, wie er von ungelouben schiel 115 mit diner lere Hute, lant und den glouben tet erkant in dinem namen, süezer Krist.

(Bari. 103-117)

Nach nochmaliger Bitte um Beistand wendet sich dann auch Rudolf seinem Stoff, dem prologus ante rem, zu. Wolframs Bitte um göttliche Hilfe fließt, wie dargelegt, unmittelbar aus dem Bewußtsein vom Ursprung der dichterischen Fähigkeit im Heiligen Geist. Technisch stellt sich dies so dar, daß erst im Zusammenhang dieser Bitte der dritte Begriff der Trinitätsformel auftaucht. Damit wird auch der aktuelle poetische Prozeß ins trinitarische Geschehen zurückgebunden; der konventionelle Beistandstopos erscheint mit neuem Sinn erfüllt. Rudolf hat die Bitte um Beistand durch sein breites Dankgebet von der Darstellung der dritten göttlichen Person abgesetzt. Die Bitte ist nur noch Einleitung zu Stoff und Thema; sie fällt damit auf die Ebene literarischer Topik zurück. Es besteht kein enger Bezug mehr zur trinitarischen Konzeption des prologus praeter rem}4

II Wenn man auf das Ergebnis zurückblickt, das der Vergleich zwischen den einzelnen Abschnitten der Prologe Wolframs und Rudolfs erbracht hat, so wird man zunächst sagen dürfen, daß Rudolf sich in hohem Maße von Wolframs >WillehalmBarlaamDaniel von dem Blüenden TalSir Gawein and the Green KnighK zeigt ihn - freilich unter neuen Bedingungen - als äventiure-Rkler im Durchgang durch eine Krise; vgl. MARKUS 1974, S. 190f. 23 Vgl. dazu auch EBENBAUER 1977, der die >Crone< geradezu als Anti-Gralsroman zu interpretieren versucht. Gawein propagiere noch einmal die Idee der arthurischen Idealität zu einer Zeit, in der sich - zumindest in Frankreich - entweder die religiöse Lösung der arthurischen Problematik durchsetze oder aber das Artusreich zum Untergang verurteilt werde (S. 36ff.). Siehe auch Heimo Reinitzers Beobachtungen zum Verhältnis der >Crone< zum >ParzivalIwein< ins Absurde überzogen und die prekäre Iweinsche Witwenheirat zu einer grotesken Massenveranstaltung ausgeweitet, sondern es wird hier auch die traditionelle Ginoverentführung in eine Entführung des Königs Artus umgemodelt, der statt in eine Jenseitsfestung auf eine Felsspitze praktiziert wird: da könnte er nun einmal ernstlich hungern - eine amüsante Replik auf die Nahrungsverweigerungsmasche, mit der er jeweils zum Romanbeginn eine äventiure herbeizuzitieren pflegt! 25

Vgl. DE BOOR 1957/1964 und vor allem die Analyse bei KERN 1974 [b], die detailliert nachweist, in welchem Maße der Stricker insbesondere Motive aus Hartmanns >Iwein< abgewandelt hat.

661

Doch das literarische Spiel geht ins Grundsätzliche, es wird dabei nämlich das klassische arthurische Modell insgesamt aus den Angeln gehoben: der Artushof als statisch-idealer Ausgangs- und Bezugspunkt ist aufgegeben; der Hof zieht selber auf äventiure aus und engagiert sich in einer Massenschlacht. Im übrigen findet sich dann zwar noch ein zweiter Handlungsteil, ja sogar eine Art Krise - der Auftritt des Zauberers -, doch das bleibt ein prekär-komisches Intermezzo, das den Helden selbst nicht berührt, sondern ihm nur nochmals Gelegenheit gibt, als Retter in Aktion zu treten. Der Gewinn der Frau über die äventiure schließlich ist von solch oberflächlicher Mechanik und durch die Massenhochzeit derart verulkt, daß das nur noch als Persiflage wirken kann.26 Während sich das klassische Modell also beim Stricker weiter auflöst, wird an dem neuen Heldentypus um so entschiedener festgehalten: in Daniel erscheint, wenn auch mit veränderten Akzenten, wiederum der krisenlose arthurische Musterritter. Und damit ist auch hier zu fragen, wie sich die äventiuren-VJelt ihm gegenüber darstellt und in welcher Weise er ihr korrespondiert. Die Verwandlung der poetischen Wirklichkeit erfolgte offensichtlich unter anderen Vorzeichen als im >Wigalois< und in der >CroneWigalois< oder in der >Crone< begegnet. Deshalb wird hier auch nicht dem NegativIrrationalen etwas Positiv-Irrationales entgegengesetzt, d. h., es ist nicht die Begnadung durch Glück, die den äventiure-Ritter in erster Linie auszeichnet, sondern das Magisch-Irrationale findet sein Gegengewicht in der Rationalität als der besonderen Eigenschaft des Helden27: Daniel setzt dem Zauber seine Klugheit, seine raffinierte Schläue entgegen, wobei die grotesken Figuren sich trotz ihrer magischen Fähigkeiten letztlich doch als einwenig dumm erweisen. Daniel überlistet den Zwerg, indem er dessen Minneverblendung strategisch einkalkuliert, er überspielt das bauchlose Ungeheuer mit dem Spiegeltrick, und er reiht sich simulierend in die Schar der Wahnwitzigen ein, um den blutlüsternen Unhold zu erledigen. Die letztere Episode ist besonders aufschlußreich: der Wahnsinn, der im klassischen Artusroman die Selbstentfremdung des Helden in der Krise bedeutet, wird hier zum bloßen Kunstgriff. Nichts könnte deutlicher zeigen, wie weit wir damit von Chretien und Hartmann entfernt sind. 26

DE BOOR 1957 hat zwar die Komik im >Daniel< nicht übersehen (S. 72f.), jedoch nicht erkannt, welche prinzipielle Funktion sie in der Auseinandersetzung mit der klassischen Tradition besitzt. Ebenso SCHMIDT, W. 1979, S. 200f. - Wenn man demgegenüber den Weg Daniels zur Ehe sogar als Romanthema ansieht und ernst nimmt, muß man den persiflierenden Charakter der betreffenden Strickerschen Motivzitate überhaupt unterschlagen, so: MOELLEKEN 1974.

27

Zu list im >DanielDaniel< zurück: in dem Maße, in dem die neuen Ungeheuer der äventiuren-V/elt nur noch einfallslosgewalttätig sind, in dem Maße erscheint auch der Held als bloßer Muskelprotz - in genauer Analogie übrigens zum Verhältnis zwischen dem guten und dem schlechten Western. Statt jedoch ein ausgesprochen primitiv-billiges Beispiel dagegenzusetzen, möchte ich auf eine Variante eingehen, die für das literarische Bewußtsein um die Mitte des 13. Jahrhunderts von besonderem Interesse ist: des Pleiers >Garel von dem Blüenden TalDaniel< an, und zwar - darüber kann kein Zweifel bestehen - in der Absicht, den Strickerschen Roman nach dem klassischen Modell zu korrigieren.29 Er läßt deshalb nicht nur die Persiflage fallen, indem er alle ironisierenden Motivzitate - das brüllende Tier, die Witwenheirat, die Entführung des Königs - ausspart,30 sondern er nimmt auch all das zurück, was von dem abweicht, was seiner Meinung nach für den Typus des Artusromans konstitutiv ist. So macht er den Artushof wieder zu dem traditionell passiven Bezugspunkt, um die gesamte äventiuren-Reihe an den Protagonisten zurückzugeben. Wie im >Daniel< beginnt die Handlung mit einer Kampfansage durch einen riesischen Boten, aber es handelt sich hier um eine formvolle Kriegserklärung, die überdies durch eine Vorgeschichte begründet wird. Garel zieht darauf, wie der Strickersche Held, auf Erkundungsfahrt aus und hat nun eine Serie von fünf sich in ihrer Gefährlichkeit steigernden Einzelkämpfen zu bestehen. Zunächst sind es Hilfs- und Beheiungs-äventiure gegen menschliche Widersacher. Dann folgt der Kampf mit dem Riesen Puridan und dessen Weib - ein wildes Gehaue in einem Wald, bei dem Garel, sich hinter Bäumen deckend, den Schlägen ausweicht, bis es ihm gelingt, die beiden Unholde zu töten. Die Reihe gipfelt in der Auseinandersetzung mit dem Pferdemenschen Vulganus, der - wieder eine deutliche >DanielDaniel< entsprechend die Massenschlacht gegen den Herausforderer des Artushofes, auf die der Pleier offenbar nicht verzichten wollte. Aber sie wird nicht von einem arthurischen Heer bestritten, sondern von Hilfstruppen, die sich der Held bei den Kämpfen der ersten Handlungssequenz hat zusichern lassen. Erst nachdem dies erfolgreich abgeschlossen ist, taucht Artus mit seinen Rittern auf, allen voran natürlich Keie, WALZ 1892. Dies hat DE BOOR

1957, S. 74ff., gültig herausgearbeitet. Mit welch geradezu raffinierten Kunstgriffen der Pleier überdies Figuren und Handlung seines Romans in die arthurische Tradition, insbesondere in die fiktionale Welt Wolframs, hineingebunden und damit 'legitimiert' hat, wird von KERN 1981 in der überzeugendsten Weise demonstriert. Das brüllende Tier wird zwar übernommen, aber nur, damit es vorweg demonstrativ unschädlich gemacht werden kann. 663

und es kommt dann zu der traditionellen Begegnung des Helden mit dem Spötter, der bei dieser wie gewohnt den kürzeren zieht. Der Pleier stellt also im >Garel< das arthurische Modell, so wie er es verstanden hat, wieder her, d. h., er geht - gegen den Stricker - auf sein äußeres Schema zurück: so führt er die klare Zweiteilung der Handlung wieder durch und legt er die Hochzeit des Helden mit der Partnerin, die dieser auf dem ersten Weg gewonnen hat, in die Zäsur. Der Artushof fungiert modellgemäß als passiver Ausgangs- und Zielpunkt. Wie zu erwarten, fehlt aber die Krise: wenn der Held sich von Laudamie trennt, um in den zweiten Handlungsteil einzutreten, so ist dies für die Beziehung zwischen den Liebenden bedeutungslos, Garel hat lediglich noch die Hauptaufgabe zu bewältigen, um derentwillen er ausgezogen ist. Dem >Garel< fehlt die parodistische Fabulierlust, die den >Daniel< zu einer vergnüglichen Lektüre macht. Die Restitution der arthurischen Idealität, ohne daß zugleich entweder der Held oder die äventiuren-We\t problematisiert würden, läßt das Geschehen flach und die höfische Norm förmlich erscheinen. Von den neuen Möglichkeiten sind nur die Steigerung der äventiuren-Gegner ins Phantastisch-Groteske und die quantitative Hyperbolik der Massenschlacht geblieben. Doch ohne den Witz des Strickers und ohne das Abgründige des >Wigalois< vermag dies kaum zu fesseln. Der Held selbst besitzt zwar noch viel von der überlegenen Klugheit und dem unverdrossenen Mut Daniels, zugleich geht es jedoch, wo immer es möglich oder angebracht ist, um eine Demonstration stilvoller Verhaltensformen. Dadurch fällt die Romanwelt in einen höfisch-menschlichen Bereich, der auch die ritterlichen Gegner einschließt, und eine monströs-untermenschliche Sphäre auseinander, eine Dichotomie also, die quer zur traditionellen Spannung zwischen der Idealität des Artushofes und der äventiurenGegenwelt steht und damit einer Schematisierung Vorschub leistet, die trotz der äußeren Rückwendung zum klassischen Modell dieses von innen her aushöhlt.

III Anhand der Leitfiguren Gawein und Daniel ist ein großer Teil der spätarthurischen Konstellationen aufzuschließen und zu beschreiben. Sie decken jedoch das Spektrum der Hauptvarianten noch nicht völlig ab. Es ist eine dritte Möglichkeit zu berücksichtigen: diese wird im bedeutendsten Artusroman der nachklassischen Zeit, im Jüngeren Titurel< realisiert. Er gehört in die 60er und frühen 70er Jahre des 13. Jahrhunderts.31 Der Autor, Albrecht, hat die Wolframschen >TiturelParzival< hineinreicht: Sigune und Tschinotulander wachsen zusammen auf, und schon als Kinder beginnen sie sich zu lieben. Tschinotulander zieht dann mit Gahmuret auf jene verhängnisvolle Orientfahrt, die diesem den Tod bringt. Tschinotulander verpflichtet sich ge31

HAHN, K. A. 1842; WOLF, W. 1955, 1968. Vgl. HUSCHENBETT 1979 (Bibliographie, S. 271 ff.) und

Dietrich Huschenbett, „Albrecht, Dichter des >Jüngeren TiturelTristan< akzeptiert.39 Dieser 'naive' ästhetische Realismus in seiner für uns befremdlichen Unbedingtheit geht im 13. Jahrhundert verloren. Das Verhältnis von Wirklichkeit, Wahrheit und Sprache wird aus nominalistischer Perspektive neu gesehen, d. h., es wird problematisch. Im klassischen Roman war die Wahrheit etwas, was man nur über einen Prozeß erfahren konnte. Wolfram macht in seinem >ParzivalJüngeren Titurel< den Eingang des 38 39

Vgl. Str. 1505ff., 1869, 1875, 1928ff. Vgl. HAUG, W. 1975 [e], S. 84ff., 96ff. [in diesem Band, S. 638ff., 648ff.].

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>Parzival< interpretierend umformuliert und dabei explizit erklärt, daß hinter seiner Dichtung eine Lehre stünde.40 Er hat also Wolframs entscheidende Prologthese in ihr Gegenteil verkehrt! Dem entspricht, daß die Suche nach dem Brackenseil in der Verkündigung der Lehre gipfelt, die auf der Leine geschrieben steht. Die Wahrheit ist lehrbar geworden, d. h., sie ist nicht mehr eine existentielle Erfahrung, sondern sie meint eine Relation zwischen Erkenntnis und Wirklichkeit, die sich begrifflich definieren und sprachlich formulieren läßt. Damit aber ist die Sprache als Sphäre eigener Art zwischen Ich und Welt etabliert. Sie vermittelt einerseits über den Begriff, anderseits aber wird diese Vermittlung manipulierbar, oder literaturtheoretisch ausgedrückt: der Dichter hat nun in neuer Weise den pragmatischen Aspekt zu bedenken; die Wahrheit muß über die ästhetische Rampe gebracht werden, und zwar, ohne daß man eine Vorentscheidung fordern und sich auf diese stützen könnte, allein durch das Werk selbst. Damit kündigt sich der moderne, sich der Problematik seines Tuns bewußte Typ des Dichters an. Ich hoffe, mit dieser Ausweitung des Blicks nicht mißverstanden zu werden. Meine Interpretation zielt nicht darauf, den bis vor kurzem abschätzig behandelten und in vielem trotz allem immer wieder provinziellen späten deutschen Artusroman als epochales Ereignis zu präsentieren. Doch so viel wird man sagen dürfen: es läßt sich an diesem Genre - bei dem vieles zweifellos ohne Rang und Namen ist - das, was das 13. Jahrhundert an zukunftsträchtigen ästhetischen Neuansätzen bringt, nicht nur wie anderweitig auch ablesen, sondern es ist hier besonders eindrucksvoll darzustellen und aus seiner inneren Gesetzlichkeit heraus verständlich zu machen. Der Grund dafür liegt nicht zuletzt darin, daß sich die einzelnen Typen zwar in unterschiedlicher Weise, aber im Prinzip doch programmatisch in die Tradition stellen und damit die Vergleichsmöglichkeiten günstiger liegen, als wenn man die neuen Gattungen, etwa den Prosaroman, heranzieht. Es kann, was sich hier in Anknüpfung und Distanzierung an Veränderungen abzeichnet, beispielhaft für eine entscheidende geistesgeschichtliche Wende stehen, und damit dürfen insbesondere die Paradefälle, der >Wigalois< und die >CroneDaniel< und der >Jüngere TiturelTristan< aber auch geben, vom ästhetischen Prinzip her gesehen stehen sie auf dem gleichen Boden. Es geht hier wie dort um die Frage nach der Möglichkeit eines utopischen Entwurfs in Relation zu einer literarisch vollzogenen Erfahrung der Grenze, der Grenzen gegenüber dem Du und dem Tod, die die Utopie zugleich aufheben und ermöglichen. Das Problem ist dasselbe, allein die literarischen Lösungen sind einander entgegengesetzt.48 3. Der Tristan ist in drei Formen rezipiert worden: 1. als Kontrafaktur, 2. als Fortsetzung unter veränderter Perspektive und 3. als Reduktion auf ein exemplarisches Verhaltensmuster. 1. Rudolf von Ems schafft mit seinem Liebesroman von Wilhelm und Amelie eine kritische >TristanTristan< geraten war. Die Gesellschaft stellt den Liebenden zwar Hindernisse entgegen, aber diese sind nurmehr handlungstechnischer Art, sie fließen nicht aus einer Du-Beziehung, die das Gesellschaftliche problematisiert.49 47

Vgl. HAUG, W. 1979 [a], insbes. S. 153ff. [in diesem Band, S. 464-482, insbes. S. 474ff.], und 1981 [b] [in diesem Band, S. 513-528]. 48 Vgl. ebd., S. 17f. [in diesem Band, S. 524f.]. 49 Vgl. HAUG, W. 1975 [e] [in diesem Band, S. 637-650].

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2. Gleichzeitig mit Rudolf und für denselben Kreis, für Konrad von Winterstetten und den deutschen Stauferhof, hat Ulrich von Türheim den Gottfriedschen Torso zu Ende geführt. Das Zwiespältige der Tristanliebe wird dabei simplifiziert. Tristan erscheint als idealer Ritter. Es ist nur der unselige Trank, der ihn zur illegitimen Liebe zwingt und ihn daran hindert, das wahre Liebesglück in der Ehe mit Isold Weißhand zu finden.50 Ulrich geht also von dem wesentlich symbolisch verstandenen Liebestrank bei Gottfried auf die vorhöfische magische Auffassung des Aphrodisiakums zurück: die Tristanliebe ist unsin.5X Trotzdem zeigt sich der Dichter dann vom Liebestod am Ende so beeindruckt, daß er nicht anders kann, als Tristans und Isolds unverbrüchliche triuwe zu preisen und das Paar der Gnade des Himmels anzuempfehlen.52 Und damit stehen wir schon bei der 3. Möglichkeit, der Reduktion des zwischen Widersprüchen ausgespannten Prozesses auf den exemplarischen Schlußakt. Die Tristanliebe wird eingeengt auf die Treue bis zum Tod, die Treue im Tod. So versteht sich die Reihe der Kurzformen, die, im Blick auf Gottfried, ideale Liebende als Beispielfiguren bieten, z. B. die >FrauentreueHerzmaere< Konrads von Würzburg oder >Pyramus und ThisbeGoldenen TempelWisse die WegeVan sente Brandane< naar het Comburgsche en het Hulthemsche handschrift, Amsterdam 1894. DE BOOR, Helmut: Hat Siegfried gelebt?, PBB 63 (1939), S. 250-271, = in: HAUCK 1961, S. 31-51. Ders.: Die Grundauffassung von Gottfrieds >TristanDaniel< des Stricker und der >Garel< des Pleier, PBB (W) 79 (1957), S. 67-84, = in: DE BOOR 1964, S. 184-197.

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